Was ist Textkritik?: Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft (Innsbruck 2/04) 9783484970786, 9783484295285

Scholars concerned with editing text, principally Germanists and musicologists, have placed a central editorial concept,

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Was ist Textkritik?: Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft (Innsbruck 2/04)
 9783484970786, 9783484295285

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Vorwort
Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI
Zur Textkritik von Handschriften
Kritik am Text und Textkritik
Warum und wie sollen Literatenbriefwechsel des 17. Jahrhunderts kritisch ediert werden?
„schreibe nur wie du reden würdest …“
Warum und unter welchen Umständen ist eine textkritische Bearbeitung von Briefen sinnvoll?
Philologische Textkritik als Technik geistiger Überlieferung bei Johann Gottfried Herder
Möglichkeiten und Grenzen der Textkritik bei Incerta
Early Enlightenment or High Philology?
Franz Schuberts Deutsche Trauermesse (D 621) als Problem der Text- und Stilkritik
Textkritik und Marx-Engels-Edition
„Die Landschaft ist die Sprache.“
Textkritische Probleme der Edition von Ferdinand Raimunds Zauberspielen
„Von dem Verfasser selbst herausgegeben“
Textkritische Probleme bei der Edition von Grimmelshausens Simplicissimus
Textschichten
Textkritik und Interpretation bedingen einander
Synopse als Hilfsmittel und als Selbstzweck
Genetic textual editing: the end of an era
Textkritische Arbeit an einer Mischhandschrift des ausgehenden 16. Jahrhunderts
Textkonstitution und Interpretation
Popularität und Wissenschaftlichkeit
Zur Genese der neuen Studienausgabe der Werke Hugos von Montfort
Textkritik und Dekonstruktion
Emblem Book Digitisation: State of Affairs, Options and Challenges
Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe
Textkritik bei der Edition von Trakls Werk
Reise zu den Grenzen der Textkritik

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B E I H E F T E

Z U

Herausgegeben von Winfried Woesler

Band 28

Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft Herausgegeben von Gertraud Mitterauer, Ulrich Mller, Margarete Springeth und Verena Vitzthum in Zusammenarbeit mit Werner M Bauer und Sabine Hofer

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2009

n

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-29528-5

ISSN 0939-5946

 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhalt

Vorwort....................................................................................................................... 1 SPEZIELLE PROBLEME DER BRIEFEDITION Roland S. Kamzelak Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI.................................. 3 Klaus Gerlach Zur Textkritik von Handschriften. Ihre Notwendigkeit und hermeneutische Dimension, dargestellt am Beispiel des Briefwechsels zwischen Böttigers und Duvau ................................................................................................. 19 Jan Gielkens Kritik am Text und Textkritik. Die Geschichte des Briefwechsels zwischen Herman Gorter und Vladimir Il’iþ Lenin.................................................................. 29 Hartmut Laufhütte Warum und wie sollen Literatenbriefwechsel des 17. Jahrhunderts kritisch ediert werden? Ein Fallbeispiel und grundsätzliche Überlegungen .......................... 39 Elke Richter „schreibe nur wie du reden würdest …“. Probleme der Textkonstitution und Textdarbietung bei Briefausgaben, erläutert an Beispielen aus der historischkritischen Ausgabe von Goethes Briefen.................................................................. 49 Ursula A. Schneider / Annette Steinsiek Warum und unter welchen Umständen ist eine textkritische Bearbeitung von Briefen sinnvoll? Fragen und Antworten entlang der Arbeiten am Kommentierten Gesamtbriefwechsel Christine Lavants ........................................... 69

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Inhalt

HISTORISCHE PERSPEKTIVEN Günter Arnold Philologische Textkritik als Technik geistiger Überlieferung bei Johann Gottfried Herder ..................................................................................... 87 Reinmar Emans Möglichkeiten und Grenzen der Textkritik bei Incerta............................................. 103 Jan Bloemendal / Henk Nellen Early Enlightenment of High Philology? Biblical textual criticism by two famous alumni of Leiden University, Daniel Heinsius and Hugo Grotius ........ 113 Michael Kube Franz Schuberts Deutsche Trauermesse (D 621) als Problem der Text- und Stilkritik ............................................................................................. 129 Richard Sperl Textkritik und Marx-Engels-Edition ........................................................................ 141 FALLSTUDIEN I Michael Fisch „Die Landschaft ist die Sprache.“ Über Bedingungen und Möglichkeiten einer Ausgabe der Gesammelten Werke von Gerhard Rühm ................................... 153 Jürgen Hein Textkritische Probleme der Edition von Ferdinand Raimunds Zauberspielen.......... 161 Walter Hettche „Von dem Verfasser selbst herausgegeben“. Überlieferung und Textkritik der Fabeln Magnus Gottfried Lichtwers ................................................................... 171 Ferdinand van Ingen Textkritische Probleme bei der Edition von Grimmelshausens Simplicissimus ....... 183 Johannes John / Herwig Gottwald Textschichte. Ein Werkstattbericht zur Edition der späten Erzählungen Die Mappe meines Urgroßvaters (3. und 4. Fassung) und Der fromme Spruch 1.und 2. Fassung) innerhalb der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters ..................................................................................... 195

Inhalt

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THEORIE DER TEXTKRITIK Karl Konrad Polheim † Textkritik und Interpretation bedingen einander ...................................................... 209 Ursula Schulze Synopse als Hilfsmittel und als Selbstzweck. Probleme der Textkritik beim Geistlichen Spiel .............................................................................................. 221 Marita Mathijsen Genetic textual editing: the end of an era ................................................................. 233 Beatrix Cárdenas-Tarrillo Textkritische Arbeit an einer Mischhandschrift des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Zur Edition der Jaufener Handschrift (cod. ser. n. 3430)............. 241 Jens Stüben Textkonstitution und Interpretation. Über den editorischen Umgang mit nachgelassenen Gedichten Nikolaus Lenaus ............................................................ 247 STUDIEN-AUSGABEN: JA ODER NEIN? Gabriele Radecke Popularität und Wissenschaftlichkeit. Möglichkeiten, Probleme und Grenzen textkritischer Verfahrensweisen am Beispiel der Studienausgaben von Theodor Fontanes erzählerischem Werk................................................................................. 265 Wernfried Hofmeister Zur Genese der neuen Studienausgabe der Werke Hugos von Montfort. Ein Praxisbericht über ‚experimentelle‘ Textkritik für, mit und von Studierenden ........ 277 EDV-GESTÜTZTE TEXTKRITIK Wolfgang Wiesmüller Textkritik und Dekonstruktion. Überlegungen zu neuen textgenetischen Modellen anhand der Internet-Edition der Witiko-Handschriften von Adalbert Stifter ............ 283 Peter Boot Emblem Book Digitisation: State of Affairs, Options and Challenges..................... 291

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Inhalt

FALLSTUDIEN II Erwin Gartner / Klaus Kastberger Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe. Grundlagen und Maximen............................ 303 Eberhard Sauermann Textkritik bei der Edition von Trakls Werk.............................................................. 317 Martin J. Schubert Reise zu den Grenzen der Textkritik. Beobachtungen anhand des Passionals ......... 329

Die Reihenfolge der Beiträge entspricht derjenigen während der Tagung.

Vorwort

Die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Editionen hat, in Zusammenarbeit mit fachbezogenen Nachbardisziplinen, in der Zeit vom 25.–28. Februar 2004 zusammen mit dem Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck eine Tagung zu folgendem Thema veranstaltet: „Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswisenschaft“. In der Ausschreibung war dazu formuliert worden: „Die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition hält es für geboten, erneut einen Zentralbegriff der editorischen Tätigkeit in den Mittelpunkt einer Tagung zu stellen. Im Verlauf der vergangenen Jahr(zehnt)e hat sich in diesem Bereich eine vielfältige Entwicklung vollzogen, verbunden mit neuen Überlegungen und auch nachhaltigen Irritationen“. Vorbereitet, organisiert und geleitet wurde die Veranstaltung durch Werner M. Bauer (Universität Innsbruck), nachhaltig unterstützt durch Sabine Hofer (Universität Innsbruck). Mehrere Institutionen haben die Tagung durch Unterstützungen gefördert: Die Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, das Forschungsinstitut BrennerArchiv, das Kulturreferat des Landes Tirol, das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Wien), die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Bank Austria Creditanstalt sowie die Hypo Tirol Bank. Allen Genannten gilt der Dank der Arbeitsgemeinschaft und derjenigen, die an der erfolgreichen und harmonisch verlaufenen Tagung teilnahmen. Wie bei allen diesen Tagungen war es geplant, die Beiträge in verschiedenen Nummern der Zeitschrift „editio“ (Vorträge mit übergreifender Thematik) sowie in einem Beiheft derselben Zeitschrift (Vorträge mit spezieller Themenstellung und zu einzelnen Editionsprojekten) zu publizieren. Die Veranstalter in Innsbruck haben damit begonnen, die Publikation des Sonderheftes vorzubereiten, wurden dann aber durch gleich mehrfache schwere private Schicksalschläge daran gehindert, diese Arbeit fortzuführen. In Absprache mit dem Herausgeber der „editio“-Beihefte hat dann ein Team der Universität Salzburg (IZMS/Interdisziplinäres Zentrum für MittelalterStudien der Universität Salzburg; Ältere Abteilung des Fachbereichs Germanistik; MHDBDB/ Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank), zusammen mit Winfried Woesler, die Aufgabe übernommen, das sozusagen steckengebliebene Schiff wieder in Fahrt zu bringen und den Band, wenn auch mit Verzögerung, für die Publikation zu betreuen. Dankend erwähnen möchten wir hier, und dies gleichfalls im Namen von Winfried Woesler, die auch in dieser Phase gut funktionierende Absprache mit Werner M. Bauer und Sabine Hofer (Innsbruck), ferner die vom Forschungsinstitut Bren-

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Vorwort

nerarchiv (Johann Holzner) vermittelte Unterstützung durch das Kulturreferat des Landes Tirol sowie die Mithilfe der oben genannten Institutionen der Universität Salzburg. Schließlich gilt unser gemeinsamer Dank dem Max Niemeyer Verlag für eine höchst effektive Zusammenarbeit. Salzburg, im November 2008 Gertraud Mitterauer Ulrich Müller Margarete Springeth Verena Vitzthum

Roland S. Kamzelak

Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI

Vor Katastrophen wie dem schrecklichen Brand in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) in Weimar am 2. September 2004, der nicht nur kulturgeschichtlich bedeutsame Bücher unwiederbringlich vernichtete, sondern auch einen Teil des Denkmals, das die Bücher schützen sollte, ist man nie sicher, kann letztendlich nur das Möglichste tun: Brandschutzmaßnahmen und Katastrophenschutzpläne aufstellen und Übungen abhalten, um die Auswirkungen einer Katastrophe so gering wie möglich zu halten.1 Auch der Säurefraß in industriell gefertigten Papieren in der Zeit von circa 1850 bis heute ist eine schwere Katastrophe, denn die Massenneutralisation bindet über viele Jahre hinweg große personelle und finanzielle Ressourcen: Prioritätenlisten müssen erstellt und laufend aktualisiert werden, die Chargen müssen vorbereitet, für die Benutzung gesperrt, entsäuert und wieder eingestellt werden. Schließlich muß die erfolgreiche Neutralisation verzeichnet werden oder – was leider auch vorkommt – Schäden durch die Behandlung müssen repariert oder es muß für Ersatz gesorgt werden.2 Doch es ist sehr wichtig in diesem Zusammenhang herauszustellen, daß „der saure Tod im Bücherregal“ eine andere Art von Katastrophe als der Brand in der HAAB ist. Denn das Problem ‚Säurefraß‘ entstand durch direktes menschliches Einwirken – Säurestiftung sozusagen. Zu Gunsten größerer Mengen an Papier wurde und wird die Haltbarkeit vernachlässigt. Freilich wurde das Problem während der Entwicklung von der Verwendung von Seide, Seidenresten, Hadern und schließlich Holzschliff noch nicht erkannt. Moritz Illig hatte 1804 keine Kenntnis von den chemischen Prozessen innerhalb der Zellen beim Zusammentreffen der Holzfaseranteile im Papierbrei mit der Harz-Alaun-Leimung.3 Doch wir haben schon lange Kenntnis davon, blieben aber lange untätig und sind es bis heute: Die Nachhaltigkeit wurde und wird bereits bei der Produktion aus dem Blick genommen. Bei elektronischen Texten gibt es keine Säuren, die die Texte von innen her angreifen, nein, es ist noch viel schlimmer! Seit der industriellen Fertigung von Papier sind 150 Jahre vergangen. Auch wenn viele fragil geworden und gefährdet sind, zu Staub zerfallen sind bis heute wenige. Bei elektronischen Texten gibt es diesen schleichenden Verfall nicht. Entweder der elektronische Text ist intakt oder aber völlig unzugänglich.

––––––– 1 2

3

Vgl. http://www.anna-amalia-bibliothek.de (gesehen 12.12.2004). Roland S. Kamzelak: Schrift- und Kulturgut in Gefahr. Chancen und Risiken der Massenentsäuerung. In: Imprimatur. Jahrbuch für Bücherfreunde, Neue Folge XVII (2002), S. 261–279 Moritz Illig: Anleitung auf eine sichere einfach wohlfeile Art Papier in der Masse zu leimen. Als Beitrag zur Papiermacherkunst. Mit einem biographischen Vorwort von Armin Renker und einem Nachwort von Berthold Cornely. Nachdruck der Originalausgabe von 1807. Mainz 1959 [1807].

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Roland S. Kamzelak

Was kann mit elektronischen Texten passieren: 1. Das Speichermedium hat einen Defekt. Die Information ist nicht mehr auffindbar; ist verloren. 2. Das Zusammenspiel von Daten – dem elektronischen Text – und dem Anwenderprogramm stimmt nach einem Programmupdate nicht mehr. Die Daten sind „veraltet“. 3. Das Zusammenspiel von Anwenderprogramm und Betriebssystem stimmt nicht mehr. Das Programm ist „veraltet“. 4. Das Zusammenspiel von Anwenderprogramm und Betriebssystem funktioniert, aber nicht auf der vorhandenen Hardware, dem Prozessor. Die Langzeitverfügbarkeit elektronischer Dokumente hängt einerseits von dem Speichermedium ab wie beim Säurefraß, doch mehr noch hängt sie von der technischen Weiterentwicklung der Lese- und Verarbeitungsgeräte ab sowie der verwendeten Software: Hightech-Systeme veralten paradoxerweise besonders schnell. Um die Informationen dennoch verfügbar zu halten und zu archivieren, gibt es derzeit drei Ansätze: die Migration, die Emulation und die Konversion.

1. Migration Sie halten die Information ‚jung‘, indem Sie bei jedem Technik-Sprung das Format des Datenträgers anpassen, sprich von einer 5 ¼ Zoll-Diskette auf eine 3 ½ ZollDiskette umkopieren bzw. von einer CD-ROM auf eine DVD usw. Die Anwendersoftware zum Abspielen muß ebenfalls migrieren. Bei der Migration sichert man nur die reine Information in der Hoffnung auf kommende, technisch fortschrittlichere Generationen, die die „gesicherte“ Information wieder hervorholen können.

2. Emulation Bei der Emulation wird versucht, die System-Vergangenheit zu emulieren, d.h. die ursprüngliche Hardware- und Betriebssystem-Umgebung nachzuahmen, um die digitale Information in ihrer ursprünglichen Software-Umgebung zugänglich zu machen und zugänglich zu halten. Dabei werden die Datenträger mit der Information, dem Betriebssystem und der Anwendersoftware wie beschrieben migriert. Diese werden mit einer ausführlichen Dokumentation der Hardware, Software und Funktionalität sowie einer Beschreibung, wie alle diese Komponenten ineinandergreifen archiviert. Dies alles ist bereits viel Arbeit, doch es geht weiter: Diese Dokumentation wiederum muß durch eine Art Migration ‚jung‘ gehalten werden, angepaßt auf neuen Sprachgebrauch und neue Technologie, welche die Emulation vollführen soll.

Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI

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Hält man diese Emulation für unmöglich, muß man Hard- und Software in ihrem ursprünglichen Zustand im Lager vorhalten. Die Dokumentation, wie diese zu bedienen sind, muß dann trotzdem erstellt werden und migrieren. Dieses Technikmuseum – welches meines Wissens nur das Bundeskriminalamt so vorhält – bedingt einen großen logistischen und technischen Aufwand (Lagerraum, Ersatzteillager und qualifizierte Techniker, die gegebenenfalls Ersatzteile selbst fertigen können).

3. Konversion Die dritte Möglichkeit der Langzeitverfügbarkeit digitaler Informationen versucht, die Information auf analogen Trägern zu archivieren, d.h. auf Microfiches, Microfilm oder Papier. Die Funktionalität – falls vorhanden – geht vollständig verloren. Der hohe technische, finanzielle und zeitliche Aufwand der Emulation ist zu scheuen, besonders bei einer so unsicheren Erfolgschance, die sich auf kommende Technik verlassen muß. Die Migration ist vielfach bereits Praxis, um wenigstens die Daten irgendwie zu bewahren. Ein Szenario: Nika Bertram, Jahrgang 1970, Erstling 2001: der kahuna modus. Gleichzeitig mit dem Roman erschien ein MUD4 auf www.kohunamodus.de. Der Plot des MUD ist identisch mit dem des Romans. Aber eben doch nicht ganz. Die Story folgt den Gesetzen der Interaktivität, der Iteration, der Bildschirmpräsentation in der Länge von Einträgen und so weiter. Bertram schrieb den Plot des MUD nicht sukzessive, sondern ‚flächig‘, mit einer Flowchart. Wenn nun Nika Bertram sagen wir im Jahr 2040 ihren Vorlass an ein Archiv verkauft und ihre Kahuna Flowcharts des Programms Inspiration oder ähnliches abliefert, haben wir ein großes Problem. Liefert Sie dann auch das Programm Inspiration mit? Und die Beschreibung? Bewahrt Sie Ihren alten Computer ebenfalls auf, auf dem all diese Programme laufen? Autoren geben heute bereits Ataridisketten an Archive ab, die nur mühsam entziffert werden können. Vorausgesetzt das Archiv beschäftigt einen Mitarbeiter, der früher einmal einen Atari verwendet hat und noch Wissen darüber reaktivieren kann. Vielleicht gibt es viele Autoren wie Nika Bertram, die konventionelle Romane schreiben und gleichzeitig Text Adventures. Da wir nicht damit rechnen können, daß Autoren ihre Daten migrieren, emulieren, konvertieren, werden Archive zunehmend Material bekommen, das sie nicht handeln können. Bestandserhalter müssen die Migration und die Konversion völlig ausschließen, da sie die Werke nicht in ihrer ursprünglichen Form erhalten. Da die Emulation einen Teil migrieren muß, fällt auch diese Strategie aus, obwohl sie noch die beste wäre. Eine systemunabhängige Variante gibt es aber bereits mit der Standard Generalized Markup Language, SGML. SGML basiert vom verwendeten Zeichenmaterial her nur auf den 127 Zeichen des Basis-ASCII-Satzes. Dem kleinsten Nenner also, auf den sich alle Computersysteme bislang geeinigt haben. Alle Zeichen, die nicht darin enthalten sind – und das sind im wahrsten Sinne des Wortes eigentlich alle Zeichen –

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MUD = Multiple User Dungeon, vgl. http://www.mud.de (gesehen 12.12.2004).

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Roland S. Kamzelak

werden über eine eindeutige Zeichenliste codiert (UNICODE). Durch diese einfache Voraussetzung ist der Quelltext mit jedem x-beliebigen Programm auf einem xbeliebigem System – wenn es nur irgend Zeichen darstellen kann – lesbar. Die Konversion in Papierform ist ebenfalls möglich. Insofern ist das Gebot der Systemunabhängigkeit auf der Ebene der Zeichen gelöst. WYSIWYG, What you see is what you get, ist freilich damit verabschiedet. Alle Formatierungen müssen als Code in den Text eingebracht werden, als Markup, welche dann von anderen Programmen (Browsern, Formattern) in Druckformate übersetzt werden können. Um einen SGML-Text handhabbar zu machen, muß ihm eine Art Grammatik beigegeben werden. Diese Grammatik, genannt Document Type Definition oder kurz DTD, wird dem eigentlichen Text vorangestellt. Die Document Type Definition beschreibt neben Art und Weise, Sinn und Zweck, Verfasser, Datumsangaben usw., also einer Datei-Information, welche Auszeichnungen im Text verwendet wurden und was diese bedeuten. Auch diese DTD ist systemunabhängig lesbar und so ist es und bleibt möglich, den ‚intendierten’ Text über diese Grammatik zu erschließen. Das Markup liefert dabei nicht nur Formatinformation, sondern bringt hochwertige, auch interpretierende Informationen ein: Jetzt folgt ein Gedicht, eine Strophe, ein Vers, Kommentar usw. Bei WYSIWYG, also auch bei einer gedruckten Seite, müssen Sie interpretieren, was die Formatierung meint – sie folgt vielleicht Konventionen, die wir – jetzt noch – kennen. Überschriften sind vielleicht fett und abgerückt, Zitate sind kursiv und eingerückt usw. Kann diese Formatierung nicht mehr dargestellt werden – und ich habe dies bei elektronischen Texten schon oft erlebt –, ist die spezifische, interpretierende Information verloren. SGML hat sich nicht weit verbreitet, durch eine entscheidende erlaubte Regel, die omission rule. Sie besagt, daß tags nicht unbedingt geschlossen werden müssen. Diese Regel ist für Verarbeitungsprogramme schwer zu handhaben. Erst mit XML, die eben diese Regel nicht mehr enthält, findet die Auszeichnungssprache die Verbreitung, die sie verdient. XML wird häufig auch als Archivierungsformat bezeichnet. Es soll ein Abfallprodukt sein nach Beendigung der Arbeit an einer Edition. Für die Arbeit selbst und für den Druck nimmt man stattdessen lieber TUSTEP oder gar Word. Wer garantiert aber, daß die Layoutkonventionen verstehbar bleiben? Wie oft ist die Finanzierung bei Editionsprojekten weggebrochen, so daß die Edition liegenblieb. Die Daten veralten stillschweigend, denn ohne Projektabschluss kein Archivierungsformat und keine Ressourcen, um die Daten in einem vernünftigen Stadium zu sichern. Dies spricht für eine Bearbeitung in XML, mit einer international anerkannten und dokumentierten DTD, wie der der TEI. Nur so kann der Datenverfall verhindert werden. Die Text Encoding Initiative (TEI) ist ein Zusammenschluß von Wissenschaftlern, die mit elektronischen Texten arbeiten. Meist Editoren. Sie erarbeiten DTDs, also Grammatiken von Auszeichnungen für Texte und stellen diese wieder der Wissenschaft zu Verfügung. Die Weiterentwicklung wird aktiv von den Mitgliedern betrieben und gelenkt. XML ist eine Auszeichnungssprache, die wie die gesamte SGML-Familie (dazu gehört auch HTML) unabhängig ist vom verwendeten Computersystem und unabhän-

Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI

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gig von der verwendeten Software. Sie wird zur Archivierung, zur Verarbeitung und zum Austausch von elektronischen Texten verwendet. Es ist eine Untermenge von SGML, dem ISO 8879 Standard, und mit dieser Auszeichnungssprache kompatibel. XML entspricht den Regeln von SGML – der Umkehrschluß ist jedoch nicht zutreffend. Ebenso ist XML entwickelt worden, um mit HTML Austauschmöglichkeiten zu schaffen. Im Abstract der XML-Definition von Tim Bray, Jean Paoli, C. Michael Sperberg-McQueen und Eve Maler des W3C heißt es: The Extensible Markup Language (XML) is a subset of SGML that is completely described in this document. Its goal is to enable generic SGML to be served, received, and processed on the Web in the way that is now possible with HTML. XML has been designed for ease of implementation and for interoperability with both SGML and HTML.5

Markup, encoding oder Textauszeichnung – drei synonyme Begriffe – heißt in erster Linie, die Interpretation eines Textes in elektronischer Form explizit zu machen. Eine Textauszeichnungssprache ist eine Sammlung von Textauszeichnungskonventionen, um elektronische Texte gemeinsam benutzen zu können. Dafür muß die Textauszeichnungssprache angeben, welche Auszeichnungen erlaubt sind, welche unabdingbar sind, wie sich die Auszeichnungen vom Text selbst unterscheiden und schließlich, was die Auszeichnungen bedeuten. XML selbst beschreibt die ersten drei Punkte, während der vierte Punkt vom Benutzer geleistet werden muß.6 Gegenüber HTML besitzt XML einige wichtige Vorteile: a) XML ist erweiterbar (extensible); es besitzt keine begrenzte oder festgelegte Anzahl von tags. b) XML-Dokumente müssen wohlgeformt sein; sie müssen einer formalen Syntax gehorchen, die auch durch ein Programm validiert werden kann. c) XML legt den Schwerpunkt auf inhaltliche, strukturelle Auszeichnung, nicht auf grafische. In XML werden die Strukturmerkmale als elements bezeichnet. Der Benutzer kann Elemente zur Auszeichnung bestimmen, ohne semantische Rücksichten nehmen zu müssen. Elemente beginnen jedoch immer mit einer geöffneten spitzen Klammer < und enden mit einer geschlossenen spitzen Klammer > wie schon bei HTML. So könnte ein Element mit Namen 3PO definiert werden als . Dieses Gebilde nennt man einen tag. In XML – und hier ist ein wesentlicher Unterschied zu SGML –

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Vgl. http://www.w3.org/TR/REC-xml (gesehen 12.12.2004). XML-Einführungen neben der bereits genannten Spezifikation des W3C: A Gentle Introduction to XML. In: C. Michael Sperberg-McQueen and Lou Burnard (eds.): Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange, Providence 1995; Neil Bradley: The XML Companion. Harlow 1998; Manfred Knobloch und Matthias Koch: Web-Design mit XML. Webseiten erstellen mit XML, XSL und Cascading Style Sheets. Heidelberg 2001; Henning Behme und Stefan Mintert: XML in der Praxis. Professionelles Web-Publishing mit der Extensible Markup Language. Bonn 1998.

Roland S. Kamzelak

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muß es immer einen start-tag und einen end-tag geben.7 Der end-tag ist die Wiederholung des start-tag, mit Ausnahme eines slash / vor dem Elementnamen, also . Zu beachten ist auch, daß Elementnamen case sensitive sind, also 3PO und 3po oder 3pO nicht identisch sind. Ferner ist zu beachten, daß es dem Benutzer freisteht, verständliche Elementnamen zu vergeben. Es ist nur ratsam, inhaltslogische Namen zu vergeben. So erkennen wir in dem Satz »Die Aussage von Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut ist nicht eindeutig.«, daß es sich bei dem eingebetteten Satz um ein Zitat handelt – er ist als Zitat getagged. Freilich ist der tag für jemanden, der nicht Deutsch spricht, genauso unverständlich wie 3PO, und freilich könnte man diesen tag auch zur Auszeichnung von ‹unsinnigen Sätzen› verwenden. Dennoch ist die Verwendung verständlicher tags anzuraten und mehr noch, die Anwendung von international anerkannten tags, wie sie die TEI8 bereitstellt, ist zu bevorzugen. Das Gedicht „Weltende“ von Jacob von Hoddis kann beispielsweise so getagged werden:

Jakob von Hoddis WELTENDE

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei, Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Ein so ausgezeichneter Text wird als well-formed, wohlgeformt bezeichnet. Die Leerzeilen, Zeilenumbrüche und Leerzeichen (außer zwischen den Wörtern) sind nur der Übersichtlichkeit halber hinzugefügt. Whitespace in XML bedürfte einer gesonderten Betrachtung; hier soll der generelle Hinweis genügen, daß das Beispiel ebenso gut so aussehen könnte: Jakob von HoddisWELTENDE Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,[...]

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In SGML kann man sogenannte omission rules festlegen, die angeben, wann man auf das Schließen eines tags verzichten kann. Diese omission rules sind für Programme sehr schwer umzusetzen. Hier liegt ein entscheidender Vorteil von XML, wo das Schließen von tags grundsätzlich vorgeschrieben ist. Vgl. http://www.tei-c.org (gesehen 12.12.2004).

Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI

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Um wohlgeformt zu sein, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: 1. Es muß ein das gesamte Dokument umschließendes Element mit start- und endtag vorhanden sein. Im Beispiel ist das . Es wird als root element bezeichnet (Wurzelelement). 2. Jedes weitere Element oder einfacher Text muß vom Wurzelelement umschlossen sein oder von einem Element, das im Wurzelelement enthalten ist (z.B. ). Elemente dürfen sich nicht teilweise überlappen, können aber hierarchisch gegliedert sein. 3. Es muß immer ein start- und ein end-tag vorhanden sein. Elemente dürfen aber leer sein. 4. Das Dokument muß von einem XML-Prolog eingeleitet werden. Die vierte Bedingung wird vom obigen Beispiel nicht erfüllt. Durch Hinzufügen der Zeile , dem XML-Prolog, wird das Beispiel wohlgeformt. Ein Programm, das XML-Dokumente auf Gültigkeit prüfen kann, ein Parser, erkennt das Dokument als XML-Dokument an (valid), wenn zuvor beschrieben wird, was für diesen Dokumenttyp als gültig angesehen werden soll. Diese Beschreibung wird in einem zusätzlichen Dokument (DTD) angegeben. Sie ist bereits eine Interpretation des Textes, da es seine Regeln und Elemente definiert und explizit macht. Die DTD wird in einer speziellen, aber sehr einfachen Syntax geschrieben:



Dies ist die Beschreibung von fünf Elementen. Wie bei tags werden die Deklarationen durch eine spitze Klammer geöffnet, dann folgt ein Ausrufungszeichen und ein DTDSchlüsselwort, hier dem Wort ELEMENT. Nach einem Leerzeichen kommt der Name des Elements, der generic identifier (GI) und das sogenannte content model, das beschreibt, was zwischen den start- und end-tags dieses Elementes enthalten sein darf oder muß. Der Elementname (GI) muß mit einem Buchstaben beginnen, darf jedoch Buchstaben, Ziffern, Bindestriche oder Unterstriche und Punkte enthalten. Groß- und Kleinbuchstaben werden voneinander unterschieden (case sensitive). Das content model enthält entweder Text, #PCDATA (parsed character data), oder weitere Elemente. Mit sogenannten occurrence indicators bestimmt man, wie oft ein Element vorkommen darf oder muß. Das Pluszeichen (+) bedeutet, daß ein Element ein oder mehrmals vorkommen darf. Das Fragezeichen (?) heißt, daß ein Element vorkommen kann, aber nicht muß. Ein Asteriskus (*) bedeutet, daß ein Element einmal oder mehrmals enthalten sein darf, aber auch fehlen kann. Die vollständige Liste sieht so aus:

Roland S. Kamzelak

10 ANY (#PCDATA) EMPTY NDATA | , () ? + * (#PCDATA | )

Beliebiger Inhalt: Zeichenketten oder definiertes Markup. Beliebige Zeichen. Kein Inhalt. Binäre Daten. Keine XML-Daten. Trennzeichen für Auswahlliste = oder. Trennzeichen für eine Liste mit fester Reihenfolge. Gruppierungszeichen. Leerzeichen: Genau ein Vorkommen. Kein oder ein Vorkommen. Mindestens ein Vorkommen oder mehrere. Kein, eines oder mehrere Vorkommen. Mixed content: Zeichenketten oder spezifiziertes Markup.

Im Beispiel »« kann in einem Gedicht ein Autor vorkommen, muß aber nicht. Ebenso kann ein Titel vorhanden sein, doch auch ohne Titel handelt es sich um ein Gedicht, solange es mindestens eine Strophe besitzt. Die Strophe besteht aus einem oder mehreren Versen, die jeweils aus Text bestehen. Ebenfalls definiert ist die Reihenfolge der Elemente innerhalb des Elementes »gedicht«. Durch das Komma wird angezeigt, daß die Elemente in dieser Reihenfolge vorkommen. Das Komma gibt eine Sequenz an, während eine vertikale Linie Alternativen angibt. »autor | titel | strophe+« würde ein Gedicht ergeben, das entweder aus Autor, Titel oder Strophen besteht. Diese Angaben – Komma und vertikale Linie – nennt man connector. Ein Dokument, das mit dieser DTD ausgestattet ist, würde als gültig validiert werden, wenn es so ausgezeichnet wäre9:



]>

Jakob von Hoddis WELTENDE

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei, Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.

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Die Behandlung der Sonderzeichen (hier ü und ä) folgt an anderer Stelle. Ebenso ist an der Stelle noch nicht angegeben, wie die Elemente in einer bestimmten Ansicht (Bildschirm oder Druck) dargestellt werden sollen.

Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI

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Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

In der XML-declaration wurde die Angabe hinzugefügt, daß die DTD enthalten ist (standalone = „yes“), dann folgt die DTD für den Typ »gedicht«. Der Name der DTD entspricht in der Regel dem Wurzelelement. Die DTD kann auch in einer separaten Datei abgelegt werden, so daß sie für verschiedene Texte gleichen Typs verwendet werden kann.10 Dann ist das Dokument nicht mehr standalone, sondern benötigt die Angabe der DTD-Datei mit genauer Pfadangabe:

Mit dieser DTD wurde der Text als Baumstruktur beschrieben. Das Textmodell wird ordered hierarchy of content objects, kurz OHCO genannt.11 Das Gedicht könnte auch so dargestellt werden:

Abb. 1 OHCO des Gedichtes ‹Weltende› von Jakob von Hoddis.

Diese Repräsentation eines Textes scheint sehr vereinfacht zu sein, und in der Tat lassen sich weitere Zweige definieren und darstellen, doch ist die Beschreibung in mancher Hinsicht sehr klar und nützlich. Auf jeden Fall ist diese Darstellung der XML-

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Ein wohlgeformtes Dokument muß keine DTD enthalten. A. Reneard, E. Mylonas and D. Durand: Refining our Notion of What Text Really is: the problem of overlapping hierarchies. In: N. Ide and Susan Hockey (eds.): Research in Humanities Computing 4: Selected Papers from ALLC/ACH Conference. Oxford 1996.

Roland S. Kamzelak

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DTD zum Gedicht ‹Weltende› augenfällig aus einer Interpretation der Struktur des Textes abgeleitet. Natürlich sind Texte komplizierter als der oben abgebildete Baum es suggeriert. Zwischen Elementen des gleichen Namens gibt es Unterschiede. Diese Unterschiede können durch Attribute beschrieben werden, die wie die Elemente in der DTD definiert werden müssen. Bei der Beschreibung von Versen könnte man eine Versnummer festhalten und auch eine Art Reimschema:

Über das festgelegte Wort ATTLIST wird angegeben, daß für das Element ‹vers› Attribute angegeben werden (attribute list specification). Die Darstellung wird üblicherweise so wie oben als Tabelle gewählt, damit sie besser gelesen werden kann; XML verlangt aber ausschließlich whitespace (Leerzeichen, Leerzeile) zwischen den einzelnen Elementen der Liste. Jede Attribut-Spezifikation besteht aus drei Teilen: das Attribut, die Art des Wertes und der Standardwert. Das festgelegte Wort #IMPLIED bedeutet, daß der Wert auch entfallen kann. Als markup müßten die Spezifikationen so umgesetzt werden: Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei, Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.

Die Verse sind durch eine Nummer identifizierbar und das Reimschema A-B-B-A ist festgehalten worden. Durch die Angabe #IMPLIED hätten diese Angaben auch entfallen können. Wird #REQUIRED als Standard gesetzt, so muß eine Angabe gemacht werden, sonst ist das Dokument ungültig. In der DTD können dieselben Attributnamen für verschiedene Elemente verwendet werden. So kann beispielsweise jedes Element eine ID haben. Da Attribute immer an Elemente gekoppelt sind und im start-tag des Elementes angewendet werden, sind die Angaben eindeutig zugewiesen. Nun kann ein Formatierungsprogramm Verse des Schemas A blau unterlegen und die des Schemas B rot, oder ein anderes Programm kann alle Verse des Schemas A herauskopieren und zusammenstellen oder Ähnliches. Attribute sind nützliche Spezifizierungen, die sich individuell je nach Verarbeitungsprogramm verwenden lassen. Die Werte von Attributen können entweder festgelegte Schlüsselwörter (keywords) sein oder individuell bestimmt werden. Zu den Schlüsselwörtern gehören: CDATA NMTOKEN NMTOKENS

Beliebige Zeichen (character data), auch Leerstellen und Satzzeichen. Es sind nur Zeichen erlaubt, die bei Namen gültig sind. Der Wert muß ein oder mehrere NMTOKEN enthalten.

Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI

ID IDREF IDREFS ENTITY ENTITIES

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Der Wert muß ein einfaches Wort sein, das mit einem Buchstaben beginnt und im Gesamtkontext eindeutig ist. Der Wert muß eine ID eines anderen Elements enthalten. Der Wert muß eine oder mehrere IDs anderer Elemente enthalten. Der Wert muß ein NMTOKEN sein, das als Entität deklariert wurde (siehe unten). Der Wert muß eine oder mehrere Entitäten enthalten.

Werden die Werte individuell bestimmt (wie beim Attribut ‹schema›), dann kann ein Parser überprüfen, ob wirklich nur die angegebenen Werte verwendet wurden. Im Beispiel A, B, C oder D. Die Verwendung von E würde als exception bemerkt werden. Attribute sind also auch ein wichtiges Instrument, um ein Dokument auf Gültigkeit zu prüfen. Elemente und Attribute dienen zur Beschreibung der Struktur von Texten. Daneben gibt es eine Methode, um einen Teil des Dokumentes namentlich anzusprechen, die Entität oder entity. Entities besitzen einen Namen und einen Inhalt, also eine Zeichenkette oder sogar eine Datei. Entities werden in der DTD deklariert, so daß im Text darauf - sogar mehrmals – verwiesen werden kann (entity reference). Der Parser expandiert dann den Namen der Entität auf ihren Inhalt. Deklariert man beispielsweise:

in der DTD, so kann im Text verkürzt geschrieben werden &hvh;, Lebenslied

was vom Parser expandiert wird zu Hugo von Hofmannsthal, Lebenslied

In der DTD verwendet man die spitze Klammer, ein Ausrufungszeichen und das Schlüsselwort ENTITY. Danach folgt der Name der entity, dann der Inhalt in Anführungsstrichen (internal entity). Will man auf eine Datei verweisen, kommt ein weiteres Schlüsselwort hinzu

Wird im Text &hvhll; eingefügt, holt sich der Parser den Inhalt der Datei »hvh_ll.xml« und fügt sie an dieser Stelle ein. Diese Methode eignet sich sehr gut, um Teile eines größeren Dokumentes zusammenzuführen, z.B. Kapitel eines Buches. Entities werden auch benutzt, um Zeichen außerhalb des 7-bit-ASCII Zeichensatzes darzustellen. In HTML wird der sprechende Code ä (a Umlaut) als ä dargestellt. Als Unicode Zeichen muß der Hexadezimalcode 00E4 verwendet werden. Um zwischen dem sprechenden Namen und dem eher sperrigen Hexcode eine Verbindung herzustellen, werden character entities deklariert wie

Roland S. Kamzelak

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> > > > > > > > > > >

für die Zeichen á, Á, â, Â, à, À, å, Å, ã, Ã, ä, Ä. Mit externen entities kann man auch Daten einbetten, die keine XML-Daten sind, wie zum Beispiel Bilder. Dies muß jedoch durch das Schlüsselwort NDATA mitdeklariert werden:

Um entities in markup anzuwenden, muß vor den entity-Namen noch ein Prozentzeichen eingefügt werden. Solche Parameter entities werden hauptsächlich verwendet, um globale Attribute zu definieren. Das Attribut ID soll in jedem Element auf gleiche Weise möglich sein:

In der Attributliste genügt dann die verkürzte Angabe:

Im folgenden werden der Vollständigkeit halber kurz weitere Merkmale und Funktionen von XML angesprochen, ohne jedoch zu sehr ins Detail zu gehen: Möchte man in einer XML-Datei markup eingeben, das bei der Verarbeitung unberücksichtigt bleibt bzw. das als Text behandelt wird, muß diese Sequenz durch abgeschlossen werden. Man nennt eine so ausgezeichnete Stelle CDATA marked section. Analog zu CDATA marked sections, die im XML-Dokument selbst Anwendung finden, gibt es zwei conditional marked sections in einer DTD. Die Schlüsselwörter INCLUDE und IGNORE veranlassen oder schließen die Verarbeitung aus. So kann man Teile einer DTD, die für einen größeren Zusammenhang geschrieben wurde, für kleinere Texte verwenden:

Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI

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]]>

Processing instructions können dem markup hinzugefügt werden. Sie veranlassen einen Prozessor, an dieser Stelle etwas zu tun, etwa die Seite zu brechen. Mit wird dem Prozessor (hier TEX) dies mitgeteilt. Über das Konzept von namespaces ist es möglich, Elemente einer anderen DTD als der deklarierten in einem XML-Dokument zu verwenden.

Shall I compare thee to a summer ‚s day ?

In diesem Beispiel, das ich aus den TEI-Richtlinien übernommen habe, werden tags der Adresse http://www.gram.org12 verwendet. Das Schlüsselwort xmlns (als Attribut des Elementes line) wird gefolgt von einem Doppelpunkt, einem Namen und, nach dem Gleichheitszeichen, dem Fundort in Anführungszeichen. XML besitzt alle Eigenschaften, die die Wissenschaft zum Arbeiten benötigt. Die Freiheit gegenüber HTML, Auszeichnungselemente selbst zusammenzustellen nach den eigenen Bedürfnissen am bearbeiteten Text, macht die wissenschaftliche Interpretation der Struktur eines Textes erst möglich. Diese fast grenzenlose Freiheit hat jedoch auch Nachteile: Es gibt keine Anhaltspunkte, keine Muster, wie die Beschreibung aussehen könnte. Es gibt keinerlei Vorgaben, die einen auch auf Ideen bringen könnten, was man denn noch berücksichtigen könnte oder müsste. Und die vielen Auszeichnungsgrammatiken sind untereinander nicht unbedingt kompatibel. Sie sind für Außenstehende manchmal auch schwer zu entschlüsseln, da die Formulierung der Elemente nicht reglementiert ist, also auch in allen Sprachen abgefaßt sein können. Wünschenswert wäre deshalb doch eine gewisse normierte Verwendung der Auszeichnungssprache durch gemeinsame Absprachen und durch das Zusammentragen von Erfahrungen.

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Die angegebene URL ist für dieses Beispiel von den TEI-Autoren erfunden worden.

Roland S. Kamzelak

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Die Text Encoding Initiative (TEI) macht genau dieses für Editionsprojekte. Es ist eine Initiative von Wissenschaftlern für Wissenschaftler, die Erfahrungen in Empfehlungen umgewandelt hat.13 1990 wurden die ersten Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange veröffentlicht. Sie sind ein Vorschlag, wie wissenschaftliche Texte, meist Editionen, als DTD zu beschreiben sind. 1990 basierten die guidelines auf SGML als Auszeichnungssprache, heute gibt es sie parallel auch für XML. Durch Einigungen wie diese lassen sich Texte schneller verstehen und vor allem auch schneller austauschen.14 Die Initiative beschreibt ihr Ziel selbst so: The Text Encoding Initiative grew out of a planning conference sponsored by the Association for Computers and the Humanities (ACH) and funded by the U.S. National Endowment for the Humanities (NEH), which was held at Vassar College in November 1987. At this conference some thirty representatives of text archives, scholarly societies, and research projects met to discuss the feasibility of a standard encoding scheme and to make recommendations for its scope, structure, content, and drafting. During the conference, the Association for Computational Linguistics and the Association for Literary and Linguistic Computing agreed to join ACH as sponsors of a project to develop the Guidelines. The outcome of the conference was this set of principles, which determined the further course of the project. 1. The guidelines are intended to provide a standard format for data interchange in humanities research. 2. The guidelines are also intended to suggest principles for the encoding of texts in the same format. 3. The guidelines should 1. define a recommended syntax for the format, 2. define a metalanguage for the description of text-encoding schemes, 3. describe the new format and representative existing schemes both in that metalanguage and in prose. 4. The guidelines should propose sets of coding conventions suited for various applications. 5. The guidelines should include a minimal set of conventions for encoding new texts in the format. 6. The guidelines are to be drafted by committees on 1. text documentation 2. text representation 3. text interpretation and analysis 4. metalanguage definition and description of existing and proposed schemes, coordinated by a steering committee of representatives of the principal sponsoring organizations. 7. Compatibility with existing standards will be maintained as far as possible. 8. A number of large text archives have agreed in principle to support the guidelines in their function as an interchange format, and have (since the publication of the prior edi-

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14

Winfried Bader: Was ist die Text Encoding Initiative (TEI)? In: Computergestützte Text-Edition, S. 9– 20. Vgl. Fotis Jannidis: Wider das Altern elektronischer Texte: philologische Textauszeichnung mit TEI. In: editio 11 (1997), S. 152–177.

Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEI

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tion), actually done so. We continue to encourage funding agencies to support development of tools to facilitate this interchange. 9. Conversion of existing machine-readable texts to the new format involves the translation of their conventions into the syntax of the new format. No requirements will be made for the addition of information not already coded in the texts.15

Die TEI Richtlinien sind als Baukasten aufgebaut. Sperberg-McQueen beschreibt den Baukasten in seinen Kursen immer als Pizza und die Richtlinien als Chicago-pizzamodel, da die Idee anscheinend in einer Chicagoer Pizzeria entwickelt wurde. Dabei gibt es ein Grundelement (den Pizzateig mit Tomatensoße), das alle benötigen. Darin sind die Grundstruktur einer DTD enthalten wie head und body, aber auch Absätze, Überschriften und ähnlich grundlegende Elemente. Dann gibt es zusätzliche Module (toppings wie Käse, Oliven, Salami usw.) für die Auszeichnung von Lyrik, Drama, Prosa, gesprochener Sprache und so weiter, die man wahlweise hinzunehmen kann. Will man eine Edition des Butt von Günter Grass machen, benötigt man sowohl Prosa als auch Lyrik. Jedes TEI-konforme Dokument muß mit einem TEI-Header ausgestattet sein, das vier Elemente aufnimmt:

... ... ...

...

enthält die bibliographische Beschreibung der Datei dokumentiert das Verhältnis der Datei zur Quelle detaillierte Beschreibung nicht bibliographischer Aspekte des Textes, spezielle zur Sprache, den Herstellungsbedingungen, den Beteiligten usw. führt die Revisionsgeschichte der Dateiauf.

Dieser Kopf kann sehr umfangreich werden, doch ist er wichtig, um den genauen Status der Datei zu beschreiben. Da elektronische Texte leicht verbreitet werden können, können zwei scheinbar gleiche Dateien anhand des TEI-Headers geprüft werden. Nach dem header folgen dann die Textkodierungen mit XML nach der gewählten TEI-DTD wie bereits beschrieben. Die Vorteile dieser nur scheinbaren Einschränkung auf die TEI-Richtlinien fasse ich noch einmal zusammen: 1. In die TEI-Richtlinien sind langjährige Erfahrungen von Philologen eingeflossen. Es ist kein Projekt von Programmierern.

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C. Michael Sperberg-McQueen and Lou Burnard: Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange. In: http:\www.tei-c.org\P4X\index.html (gesehen 12.12.2004).

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Roland S. Kamzelak

2. Das Projekt ist als Mitgliederkonsortium konstituiert. Neue Erfahrungen können also jeder Zeit eingebracht werden. 3. Die Richtlinien geben jedem neuen Nutzer von XML eine fundierte Ausgangsbasis. Man muß nicht bei Null anfangen, sondern kann von den Erfahrungen anderer profitieren. 4. Durch die normierte DTD werden Texte schneller verstehbar und dadurch austauschbar. Es ist rascher oder überhaupt erst möglich, Kooperationsprojekte anzugehen. 5. Austauschbarkeit heißt auch, daß Transformationsregeln mit XSLT transportierbar werden. 6. Durch die normierte Notation bleiben die Texte letztlich auch archivierbar. Für Editionsphilologen, die elektronische Texte herstellen, gibt es auf die drei unzureichenden Archivierungsmethoden nur eine Antwort: diese Probleme müssen schon bei der Anlage eines Projektes vermieden werden. Editionsphilologen müssen systemunabhängig arbeiten. Als Produzent von elektronischen Texten darf keine Abhängigkeit von Hardware entstehen, nicht von Diskettenformaten oder Prozessorleistung. Hypertextautoren dürfen erst gar nicht in Abhängigkeit von Software gelangen, dürfen nicht in Abhängigkeit von Betriebssystemversionen oder neueren Entwicklungen der Lesesoftware (Browser) gelangen. Vorausgesetzt die eigene Leistung wird für erhaltenswürdig gehalten. Als Printautor wird ein Typoskript oder besser noch Disketten in einem festgelegten Format abgegeben in der Hoffnung, daß Verleger die Arbeit auf haltbarem, zu einem Buch gebundenem Papier drucken und verbreiten. Protestieren würde man, wenn sie mit abwaschbarer Tinte gedruckt, auf Wunderblöcken oder Papyrusrollen erschiene. So sollte man auch protestieren, wenn elektronische Texte nicht in Formaten verfaßt werden, die haltbar sind. Diese Nachhaltigkeit kann mit SGML oder XML in Verbindung mit den Richtlinien der TEI gewährleistet werden.

Klaus Gerlach

Zur Textkritik von Handschriften Ihre Notwendigkeit und hermeneutische Dimension, dargestellt am Beispiel des Briefwechsels zwischen Böttiger und Duvau1

Die philologische Kritik hat es zu thun mit der allmählichen Umgestaltung, die durch das Spiel zwischen Aufnehmen und Wiedergeben, Receptivität und Spontaneität entsteht. (Friedrich Schleiermacher)

Angesichts der Frage nach der Auswahl der zu edierenden Texte steht jeder Editor vor einem hermeneutischen Problem, noch bevor jede editorische Arbeit beginnt. Bereits die Entscheidung für einen Autor oder einen Text hinsichtlich einer Veröffentlichung ist eine Auslegung von Geschichte im weitesten Sinn. Die Entscheidung, welcher Autor bzw. welcher Text der Kulturgemeinschaft zur Rezeption überantwortet werden soll, beruht auf dem Verständnis der Herausgeber. Die Herausgabe der Ausgewählten Briefwechsel aus dem Nachlaß von Karl August Böttiger2 mit Auguste Duvau, Karl Ludwig von Knebel, Christian Gottlob Heyne, Désiré Raoul-Rochette und Georg Joachim Göschen zielt darauf ab, Böttigers Persönlichkeit in ihren verschiedenen Facetten vorzustellen. Dabei kann es aber nicht vordergründig um die Umbewertung der Persönlichkeit Böttigers gehen. Vielmehr will die teilweise editorische Aufarbeitung dieses großen Gelehrtennachlasses dazu beitragen, unser Wissen über die Epoche der Goethezeit, in der spätaufklärerische, klassische und romantische Konzepte konkurrierten, zu erweitern. Böttigers Wirkungskreis befand sich genau dort, wo sich diese Macht- und Interessenkämpfe ereigneten. Böttiger hatte es geschafft, „einen literarischen Briefwechsel anzuknüpfen, der im eigentlichsten Sinne alle Länder Europas umfaßte und über den Postenlauf hinausreichte“.3 Die Edition soll die Auffassung der Herausgeber umsetzen, daß Böttiger, der bei der Herausbildung der Archäologie und des modernen Journalismus eine Schlüsselposition innehatte, mit seiner Korrespondenz mit den bedeutendsten europäischen Gelehrten und Künstlern ein wichtiges Werk hinterlassen hat. Böttigers Briefwechsel soll als Dokument und Monument wahrgenommen werden.

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2

3

Karl August Böttiger: Briefwechsel mit Auguste Duvau. Mit einem Anhang der Briefe Auguste Duvaus an Karl Ludwig von Knebel. Hrsg. und kommentiert von Klaus Gerlach und René Sternke. Berlin 2004. Ausgewählte Briefwechsel aus dem Nachlaß von Karl August Böttiger. Hrsg. von Klaus Gerlach und René Sternke. Berlin 2004ff. Garlieb Merkel über Deutschland zur Schiller-Goethe Zeit (1797 bis 1806). Nach des Verfassers gedruckten und handschriftlichen Aufzeichnungen zusammengestellt und mit einer biographischen Einleitung von Julius Eckard. Berlin 1887, S. 116.

Klaus Gerlach

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Mit dem mehrere tausend Briefe umfassenden Nachlaß Böttigers in der Sächsischen Staats-, Landes- und Universitätsbibliothek Dresden und im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg besitzen wir einen der umfangreichsten Gelehrtennachlässe der Goethezeit. Die Überlieferungslage ist bei den einzelnen Briefwechseln ganz unterschiedlich. Während das Briefkorpus der Duvau-Korrespondenz verhältnismäßig klein und unvollständig überliefert ist, sind diejenigen von Heyne, Knebel, Raoul-Rochette und Göschen umfangreicher und vollständiger. Die Herausgabe all dieser Briefwechsel kann sich auf Originalhandschriften stützen. Beinahe allen Briefwechseln ist gemein, daß Böttigers Briefe in geringerer Zahl überliefert sind als diejenigen seiner Korrespondenten. Böttiger bewahrte die empfangenen Briefe sehr sorgfältig auf, und in vielen Fällen befinden sich auch die überlieferten Briefe Böttigers fast vollständig im Nachlaß. Das trifft für die Korrespondenz mit Duvau und Heyne zu. Der Briefwechsel Karl August Böttigers mit Auguste Duvau umspannt die Zeit von 1795 bis 1829. Auguste Duvau wurde 1771 in Tours geboren und sollte eigentlich Geistlicher werden. 1792 schloß sich Duvau der Emigrantenarmee des Prinzen von Condé an, die er aber bald verließ. Er hielt sich dann längere Zeit in Bocholt auf, um die deutsche Sprache zu erlernen. Im Frühjahr 1795 kam Duvau nach Weimar, wo er Böttiger, Wieland, Goethe, Knebel und andere kennenlernte. Nach seiner Niederlassung im Herbst begann er, deutsche Literatur ins Französische zu übersetzen, und unterrichtete später an Jean Joseph Mouniers Privatschule in Belvedere bei Weimar Latein und Französisch. Daneben lektorierte er die Romane des deutschen Schriftstellers August Heinrich Lafontaine. 1801 unternahm er eine Reise nach Italien und Frankreich. Aus diesem Zeitabschnitt sind besonders lange Reisebriefe überliefert. Anfang 1803 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er sich in Leipzig niederließ. Dort verkehrte er vor allem in den Kreisen von Johann Gottfried Seume, Christian Weiße und Georg Joachim Göschen. Ende 1805 kehrte Duvau endgültig in sein Heimatland zurück. In Frankreich betrieb er anfangs vor allem botanische und insektenkundliche Studien und schrieb für das 1824 bis 1831 in Paris vom Baron de Férussac herausgegebene Bulletin des sciences naturelles eine Vielzahl von Beiträgen. Ab 1825 arbeitete er für die angesehene Biographie universelle, die Joseph François Michaud in Paris herausgab. Unter anderem schrieb er die Artikel über Jacobi, Lessing, Salis-Sewis, Schiller, Seume und Wieland. Duvau starb 1831 in Paris. Der Briefwechsel stellt Böttiger und Duvau als zwei wichtige Vermittler im deutsch-französischen Kulturtransfer vor und zeigt, wie sich dieser Kulturtransfer in Folge der französischen Revolution veränderte. Aus dem über mehr als 30 Jahre geführten Briefwechsel sind 87 Briefe überliefert, weitere 17 Briefe konnten erschlossen werden. Vor Duvaus Briefen in der Dresdener Bibliothek liegt ein Zettel mit folgender Aufschrift von Böttigers Hand: „Chevalier de Vau, ein Emigrirter / lernte in Bucholt ohnweit Münster / musterhaft Deutsch. / d. 23ten April. 1795.“4 Offenbar hatte Böttiger nach seiner ersten Begegnung mit Duvau diese Notiz niedergeschrieben und eine

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SLUB Dresden, Signatur: Msc. Dresd., h 37,4º, Bd. 40.

Zur Textkritik von Handschriften

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Mappe angelegt, in die er fortan alle Briefe dieses Absenders ablegte. Es ist unklar, wie und aus welchem Grund Böttigers Briefe wieder an ihn zurückgelangt sind. In seinem Nachlaß befinden sich alle bekannten Briefe Böttigers an Duvau bis auf fünf, die aus dem Mounierschen Nachlaß nach Autun gelangt sind.5 Anhand der von Böttiger sorgfältig aufbewahrten und zusammengeführten Korrespondenz, der er offenbar – auch wenn sie nicht umfangreich war – eine große Bedeutung beimaß, soll gezeigt werden, daß Textkritik auch bei einer Edition, die sich auf Handschriften stützt, unerläßlich ist. Dabei ist Textkritik immer auch ein hermeneutisches Problem, weil sie ohne ein Verstehen des zu edierenden Textes nicht auszuüben ist. Das Verstehen des Textes durch den Textkritiker bedeutet aber, nicht nur Zeichen zu erkennen und akribisch wiederzugeben, sondern einen Text so herzustellen, daß die Intentionen des Schreibers für die Rezipienten nachvollziehbar werden. Ausgangspunkt ist der Begriff der ‚philologischen Kritik‘, wie ihn Friedrich Schleiermacher in seiner Schrift Hermeneutik und Kritik entwickelt hat. Schleiermacher sieht die philologische Kritik als einen Sonderfall der ‚historischen Kritik‘ an. Die ‚historische Kritik‘ hat aus den Relationen die ursprüngliche Tatsache zu ermitteln.6 Im Falle der ‚philologischen Kritik‘ identifiziert Schleiermacher diese ursprüngliche Tatsache mit der Urschrift, so daß man annehmen kann, Textkritik erübrige sich, wenn die Urschrift überliefert ist. Schon Schleiermacher, der das hermeneutische Problem am Beispiel des Sich-Versprechens entwickelt, bemerkt, daß die Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation auch im Falle der Überlieferung der Urschrift vorhanden sein kann, wenn sich nämlich der Urheber der Schrift verschrieben hat. Wer sich verspricht, sagt anderes als er denkt. So haben wir eine Differenz. Die Differenz kann oft im Augenblicke nicht gleich bemerkt werden, sondern erst hintennach. Man mag sie gleich bemerken, will aber nicht unterbrechen, um eine Erklärung zu fordern, und so sucht man selbst auszumitteln, was er hat sagen wollen. – Immer aber soll in solchen Fällen ausgemittelt werden, was der Redende wirklich hat sagen wollen, da, was er gesagt hat, ein anderes ist. Eben so tritt die Aufgabe ein bei den Schreibfehlern in Urschriften und Abschriften.7

Das bedeutet, daß die ursprüngliche Tatsache der Urschrift vorausgeht, in der Autorintention zu verorten, im Modus der Abwesenheit und erst textkritisch zu rekonstruieren ist. Hinzu kommt eine Reihe von Modifikationen, die die Briefmanuskripte während des Prozesses ihrer Überlieferung erfahren haben und die es ihrerseits notwendig machen, die Urschrift erst einmal zu rekonstruieren. Da der ursprüngliche Zusammenhang einer Korrespondenz in der Überlieferung immer gestört ist, ist es die wichtigste Aufgabe der Textkritik, diesen wieder herzustellen. Es ist also keineswegs so, daß bei der Edition neuerer Texte die Aufgabe der Rekonstruktion der Textgenese

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7

Société Eduenne, Musée Rollin Autun. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen. In: Sämmtliche Werke. Erste Abtheilung, Siebenter Band. Hrsg. von Friedrich Lücke. Berlin 1838, S. 272 und 275f. Schleiermacher 1838 (Anm. 6), S. 275.

Klaus Gerlach

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an die Stelle der Textkritik tritt. Die Bedeutung der Textkritik richtet sich meines Erachtens nicht danach, ob Handschriften oder Drucke von einem Autor überliefert sind, sondern nach der Geschlossenheit der Überlieferung eines Briefwechsels oder Werkes.8 Der Stellenwert der Textkritik ist nicht von der unterschiedlichen Überlieferungslage bei klassischen Autoren und neueren Autoren abhängig. Je fragmentarischer Briefwechsel oder Werke überliefert sind, um so größer ist die Bedeutung der Textkritik. Weil es sich bei einer Korrespondenz um ein Geflecht von einzelnen Texten handelt, die ineinandergreifen und aneinander anknüpfen, darf sich die Textkritik nicht nur auf den einzelnen Brief beschränken, sondern muß die gesamte Korrespondenz berücksichtigen. Der Gegenstand der Textkritik hängt somit nicht nur von der Überlieferungslage der zu edierenden Texte ab, sondern auch von der Textsorte. Insofern es sich bei der ‚philologischen Kritik‘ um einen Sonderfall der ‚historischen Kritik‘ handelt, besteht die Aufgabe des Editors einer Briefausgabe nicht darin, eine überlieferte Urschrift zu reproduzieren, sondern darin, die gesamte materialisierte Kommunikation zwischen den Briefpartnern zu rekonstruieren und historisch zu verorten. Dabei kommt neben der Zuschreibung an einen Verfasser und der Datierung (als den traditionellen Aufgaben der höheren Kritik) der Bestimmung des Adressaten besondere Bedeutsamkeit zu. Briefe, von denen wir nicht wissen, von wem sie stammen und an wen sie gerichtet sind, können bestenfalls in einem Briefsteller ihren Platz finden. Nur in bezug auf seinen Schreiber und seinen Empfänger konstituiert ein Brieftext einen Sinn. Urteile, Meinungen, Ansichten des Briefschreibers über einen Gegenstand – sei es eine dritte Person, ein Werk oder ein Ereignis – besitzen ihre Gültigkeit nur als private Äußerungen gegenüber einer ganz bestimmten Person. Ohne Rücksicht auf die Intention des Schreibers und ohne Kenntnis des Lebenszusammenhanges der beiden Korrespondenten lassen sich Briefe nicht sinnvoll rezipieren.9 Duvaus drastische Schilderungen über seine Begegnungen mit Madame de Staël sind für sich genommen interessant und das ausführlichste Dokument über den Aufenthalt der berühmten Schriftstellerin in Leipzig, verstanden werden können sie aber nur, wenn man berücksichtigt, daß sie für Böttiger geschrieben wurden, dessen positives Bild von dieser umstrittenen Persönlichkeit Duvau zu korrigieren beabsichtigte. Lösen wir einen Brief aus dem Zusammenhang zu seinem Absender und seinem Empfänger, verfälschen wir die Geschichte. Daß sich Textkritik bei einer Briefedition nicht auf einen Text beschränkt, sondern auf ein Korpus von Texten bezieht, hat Folgen für ihre Ausübung. Die ‚philologische Kritik‘, die wir an einer einzelnen Briefhandschrift üben, wirkt sich in den meisten Fällen auf das ganze Korpus der zu edierenden Briefe aus. Wie dynamisch das Briefkorpus bis zur Drucklegung eines Briefbandes sein kann, weiß jeder Editor. Diese

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Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. Hrsg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 1997, S. 13. Winfried Woesler: „Auch der Briefinhalt ist manchmal weniger von dem Bedürfnis, Tatsachen mitzuteilen, bestimmt, als von der beabsichtigten Wirkung auf den Empfänger.“ In: Winfried Woesler: Der Brief als Dokument. In: Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Schloss Tutzingen am Starnberger See, 8.–11. September 1975. Hrsg. von Wolfgang Frühwald u.a. Bonn 1977 (Kommission für Germanistische Forschung. 2), S. 49.

Zur Textkritik von Handschriften

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Dynamik widerspiegelt das Ineinanderwirken der verschiedenen textkritischen Problemfelder. Um die Aufgaben der Textkritik zu bestimmen, ist es sinnvoll, folgende Frage zu stellen: Wie kann im Falle überlieferter Briefhandschriften eine Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation entstanden sein? Um auf diese Frage eine Antwort zu geben, wollen wir uns den Verlauf einer Korrespondenz vergegenwärtigen: Innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes wechseln zwei Korrespondenten miteinander Briefe.10 Jeder der beiden weiß, wem er schreibt und in der Regel auch von wem ein Brief, den er empfängt, stammt. Der Empfänger weiß, selbst wenn der Brief, den er empfangen hat, kein Datum trägt, mehr oder weniger genau, wann dieser geschrieben wurde. In den Köpfen des Absenders und des Empfängers vereinen sich die eigenen und die Texte des anderen. Mit dem Tod der Briefpartner wird dieser Zusammenhang zerstört, und seine materielle Basis beginnt sich aufzulösen. Eine Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation kann demzufolge in bezug auf das zu edierende Briefkorpus (1.) und ebenso in bezug auf den einzelnen Brief (2.) entstanden sein. Deshalb ist es sinnvoll, beide zunächst isoliert zu betrachten. In Hinsicht auf das gesamte Korpus beschäftigt sich Textkritik mit Fragen der Zuschreibung (1.1), Fragen der Datierung (1.2) und Fragen der Textkonstitution (1.3). Auf den einzelnen Brief bezogen, widmet sie sich Problemen der Konstitution des Textes als Ganzes (2.1) und Schreibfehlern (2.2).

1. Textkritik in bezug auf das gesamte Briefkorpus 1.1 Fragen der Zuschreibung Da sich der Sinnzusammenhang einer Korrespondenz erst in bezug auf Schreiber und Empfänger erschließt, ist die Zuschreibung eines Briefes zu seinem Empfänger eine der wichtigsten Aufgaben der Textkritik. Bei der Edition eines Einzelbriefwechsels ist sie für die Konstitution des Korpus folgenreich, denn alle Briefe dieser Schreiber bzw. Empfänger, und nur diese, werden in eine Edition aufgenommen. Daß Textkritik und Hermeneutik sich gegenseitig beeinflussen, macht die Zuschreibung eines Briefes zu seinem Empfänger besonders deutlich, da ohne die Kenntnis des Lebenszusammenhanges von Schreiber und Empfänger dieses Problem gar nicht gelöst werden kann. So wurde bei der Kommentierungsarbeit ein Brief Böttigers vom 15. September 1803, der im Archiv bisher Georg Joachim Göschen zugeordnet war, neu zugeschrieben. Die Bezugnahme auf Duvaus Frankreichbuch und die Vorstellung, daß der

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An dieser Stelle soll es nicht um eine Definition der Textsorte Brief gehen. Für unsere Darlegung reicht es aus, wenn wir unter einem Brief eine schriftliche Mitteilung verstehen, die von einer Person an eine abwesende Person gerichtet ist. Zur Briefdefinition vgl. ausführlich Irmtraud Schmidt: Was ist ein Brief. Zur Begriffsbestimmung des Terminus „Brief“ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. In: (editio. 2) Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Hrsg. von Winfried Woesler. Tübingen 1988, S. 1–7; Uta Motschmann: Überlegungen zu einer textologischen Begriffsbestimmung des Briefes in Zusammenhang mit dessen editorischer Bearbeitung. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe, Berlin 1991, S. 183–194.

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Klaus Gerlach

Empfänger des Briefes einmal „an den Ufern der schönen Loire“ leben könnte, ließ keinen Zweifel daran, daß Duvau der Adressat des Schreibens war. 1.2 Fragen der Datierung Briefe sind im Idealfall datiert. Auf den meisten Briefen steht entweder am Anfang oder am Schluß ein Datum vom Absender, oder wir finden sogar eine Empfängerbemerkung. Jedoch gibt es nicht wenige Briefe, die kein Datum tragen oder deren Datierung angezweifelt werden muß, weil z.B. der Inhalt eindeutig gegen das vorhandene Datum spricht. Da Briefe in wissenschaftlichen Editionen immer chronologisch angeordnet werden, ist die Datierung wichtig, und sie ist in einem engen Zusammenhang mit der Zuschreibung zu sehen. Aus einer unrichtigen Datierung können falsche Rückschlüsse auf Leben und Werk eines Autors gezogen werden. Bei der Datierung wird ebenfalls sichtbar, wie eng Textkritik und Hermeneutik verbunden sind; denn ohne das inhaltliche Verstehen des zu datierenden Briefes und der Abfolge von Brieftexten, in die er eingeordnet werden soll, ist eine richtige Datierung unmöglich. Die Kenntnis des Lebenszusammenhangs der Briefpartner und des gesamten Briefkorpus ist Voraussetzung für die Datierung eines Briefes. Neben der Kenntnis des Lebenszusammenhangs spielt aber auch die Untersuchung der Materialität der Textzeugen (Papier, Faltung, Tinte, Siegel, Poststempel) eine wichtige Rolle. Die Handschrift eines Schreibers verändert sich im Laufe seines Lebens oft stark, so daß sie in ihrer Materialität, die ohne den Vollzug hermeneutischer Operationen nicht beurteilbar ist, ebenfalls Aufschlüsse für die Datierung geben kann. In den Ausgewählten Briefwechseln aus dem Nachlaß von Karl August Böttiger findet diese Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation ihre Darstellung unter der Rubrik Zur Datierung, wo auch der Vorschlag der Editoren zur Überwindung dieser Differenz begründet wird. Im Briefkorpus von Böttiger und Duvau stellten vor allem undatierte Stadtbillets, die aus der Zeit, da beide in Weimar wohnten bzw. Duvau im nahegelegenen Belvedere lebte, die Herausgeber vor Probleme. Die nur mit dem Wochentag datierten Briefe konnten mit Hilfe von Anspielungen auf Werke, die Duvau lektorierte oder übersetzte und die ihrerseits erst ermittelt werden mußten, sowie durch ihren Bezug aufeinander mehr oder weniger genau datiert werden. Die Überlieferungslage der völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Billets verdeutlicht, wie sehr Tatsache und Relation nach Jahrhunderten voneinander abweichen. Die Überwindung dieser Differenz ist die Aufgabe der Textkritik. Bei der Herstellung der ursprünglichen Tatsache können sowohl inhaltliche als auch materielle Gesichtspunkte eine Rolle spielen. 1.3 Fragen zur Textkonstitution (in bezug auf das zu edierende Briefkorpus) Das Problem der Textkonstitution des zu edierenden Briefkorpus ist nicht von dem Problem der Textkonstitution des einzelnen Briefes loszulösen; denn erst wenn wir wissen, welche Briefbogen oder -blätter zu einem bestimmten Brief gehören, läßt sich das gesamte Briefkorpus konstituieren. Das ist oftmals einfach, wenn nämlich der Brief nur aus einem Bogen oder Blatt besteht oder grammatikalische und logische Zu-

Zur Textkritik von Handschriften

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sammenhänge die Folge über das Blatt oder den Bogen hinaus eindeutig festlegen. Im günstigsten Fall ist ein Brief auf einem einzigen Blatt oder Bogen so überliefert, daß darauf der Anfang mit Anrede und das Ende mit Grußformel von der Hand des Schreibers niedergeschrieben wurden. Doch gibt es nicht wenige Briefe, deren Teile aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wurden oder sogar unvollständig überliefert sind. In diesem Fall beschränkt sich die Textkritik, wenn die Zuordnung zum Autor und Empfänger erst einmal geklärt ist, darauf, den Befund des Fragmentarischen zu bestätigen und innerhalb der Edition kenntlich zu machen. Sind die Briefteile allerdings nur voneinander getrennt und an verschiedene Aufbewahrungsorte gebracht worden, müssen die einzelnen Fragmente durch eine kritische Analyse in der richtigen Ordnung zusammengefügt werden. In solchen Fällen entscheidet die Textkritik nicht nur über die äußere Gestalt eines Briefes, sondern über die Gestaltung des ganzen Korpus. Wurde z.B. nicht erkannt, daß zwei Fragmente zusammengehören, so erscheinen sie fälschlicherweise als zwei Briefe mit unterschiedlichem Datum. Im Briefkorpus der Korrespondenz zwischen Böttiger und Duvau waren mehrere Briefe fragmentarisch überliefert. Der fragmentarische Charakter bezog sich letztendlich aber nur auf den Überlieferungsbefund, nach dessen Deutung sich ein ganz anderes Bild ergab: Tatsächlich sind nur zwei Briefe, bei denen Anfang oder Schluß fehlen, unvollständig. Bei den anderen Fragmenten stellte sich heraus, daß sie nur getrennt aufbewahrt worden sind. Der fragmentarische Charakter von Texten muß zunächst erkannt werden, wobei im günstigeren Fall eine defekte Briefstruktur (fehlende Anrede, fehlender Schluß) einen Verdacht, wie es Schleiermacher nennt,11 liefert. In dem Faszikel der Briefe Duvaus in der Dresdener Bibliothek waren diese zusammengehörenden Teile oft an weit voneinander entfernten Stellen eingebunden. Erschwert wurde die Rekonstruktion ihres Zusammenhangs dadurch, daß sie nicht als Fragmente angesehen worden waren. Die Archivare hatten diese Teile als verschiedene Briefe verzeichnet. Nun könnte man meinen, daß es mit Hilfe des Papier- und Tintenvergleichs sowie der Bogenfaltung relativ einfach gewesen wäre, die Briefe zusammenzufügen. Diese sonst hilfreichen Anhaltspunkte boten aber nur selten Hinweise. Es handelt sich bei diesen Briefen nämlich vor allem um lange Reisebriefe, an denen Duvau häufig über mehrere Wochen schrieb und die er erst abschickte, wenn sich ihm eine Gelegenheit der sicheren Übermittlung an den Empfänger bot. So benutzte er unterschiedliches Papier und verschiedene Tintensorten. Zusätzliche Verwirrung stiftete er, indem er bereits verschlossene Briefe wieder öffnete und auf einem extra Blatt eine Nachschrift hinzufügte. Eine besonders schwierige Überlieferungslage ergab sich bei einem Brief, den er in Wien im Zeitraum vom 22. Dezember 1801 bis 12. Januar 1802 niederschrieb und von dem einige Teile in der Dresdener Bibliothek, andere jedoch im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aufbewahrt werden. Es gehört zu den textkritischen Aufgaben eines jeden Herausgebers, der Briefteile, die in der Überlieferung getrennt aufbewahrt werden, zusammen abdruckt, über die Art und Weise

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„Wir können noch weiter zurückgehen und sagen, dasjenige wodurch alle Operation der Kritik bedingt ist, ist die Entstehung des Verdachts, daß etwas ist, was nicht sein soll.“. Siehe Schleiermacher 1838 (Anm. 6), S. 281.

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der Rekonstruktion in der Edition Rechenschaft abzulegen. Die Textkonstitution muß für den Benutzer einer wissenschaftlichen Ausgabe nachvollziehbar sein.12

2. Textkritik in bezug auf den einzelnen Brief 2.1 Fragen zur Textkonstitution (in bezug auf das zu edierende Briefkorpus) Dabei geht es um die Anordnung der Textteile (a), um die Entzifferung der Handschrift (b) und um die Verfahrensweise bei den unterschiedlichen Fällen von Textverlust (c), mit denen ein Herausgeber konfrontiert wird und der durch Siegelausriß, Tintenfraß, Papierausbruch, Wasserschäden, Verbleichung, Schwärzungen durch Dritte entstanden sein kann. a) Die Anordnung des Textes für den Druck gehört zu den Aufgaben des Textkritikers, weil die Abfolge der Texteinheiten nicht immer eindeutig ist, wenn z.B. Ergänzungen an den Rändern oder auf einem gesonderten Blatt in den Text eingefügt werden müssen, wenn die Strukturierung des Textes durch Absätze und Spatien nicht eindeutig ist oder dem gewöhnlichen Gebrauch nicht entsprechen. Ohne die Kenntnis der Gewohntheiten eines Schreibers wird der abgedruckte Text fehlerhaft und demjenigen der Handschrift nicht adäquat sein. b) Die Entzifferung einer Handschrift gehört zur Textkritik, weil sich das System der Schreibschrift nicht ohne Veränderungen in das System der Druckschrift überführen läßt. Die Differenzen zwischen Handschrift und Transkription können erheblich sein, wenn die Handschrift unkritisch abgebildet wird. Die Unvermeidlichkeit von Entscheidungen über die Wiedergabe von Groß- und Klein-, Zusammen- und Getrenntschreibung, der Dopplung von Konsonanten, der Abkürzungen und Zeichen, die alle von Schreiber zu Schreiber stark differieren und folglich mißverstanden werden können, macht deutlich, daß ohne Kenntnis der Gewohnheiten des Schreibers keine Handschrift ediert werden kann. c) Der Umgang mit Textverlusten hängt von deren Umfang ab. Ist es möglich, den intendierten Sinn wieder herzustellen, was bei geringem Textverlust oft den Anschein hat, so sollte das geschehen, aber durch die Wahl einer anderen Schriftart im Druckbild kenntlich gemacht werden. Größere Textverluste in der Handschrift sollten hingegen durch Auslassungszeichen gekennzeichnet werden. 2.2 Fragen der Schreibfehler Bei Schleiermacher heißt es im Kapitel über die mechanischen Fehler: „Niemand will etwas schreiben, was nicht einen geschlossenen Sinn giebt.“13 Die Aufgabe eines Herausgebers besteht also darin, einen sinnvollen Text abzudrucken. Für den Heraus-

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Bei Schleiermacher heißt es: „[…] um das kritische Urtheil des Herausgebers prüfen und seine Operation nachconstruiren zu können, muß ich alles das, was er vor sich hatte, auch vor mir haben“. Siehe Schleiermacher 1838 (Anm. 6), S. 298. Siehe Schleiermacher 1838 (Anm. 6), S. 284.

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geber von Briefen ist diese Aufgabe jedoch schwierig, weil sich Briefe von anderen Texten, die wir in Büchern abdrucken, insofern unterscheiden, als daß sie ursprünglich nicht dafür vorgesehen waren, auch wenn die Schreiber damit vielleicht rechnen konnten. Sie waren in der Mehrzahl private Mitteilungen einer Person an eine ganz bestimmte andere Person. In modernen Handschrifteneditionen bezieht sich die Emendation fehlerhafter Textstellen vor allem auf Korrekturen mutmaßlicher Versehen des Schreibers. In einem Briefmanuskript Duvaus, in dem er den Leipzigaufenthalt der Madame de Staël schildert, findet sich folgender syntaktisch fehlerhafter Satz: „Aber Platner! Was mochte sie wohl vom l’homme qui parle le mieux en public erwartete!“14 An dieser Stelle wurde emendiert. Der eigentliche Text, der an die Autorintention gebunden ist, wird nicht durch die Handschrift repräsentiert, sondern ist im Modus der Abwesenheit und auf Grundlage textkritischen Vorgehens in Form einer unter der Rubrik Textgrundlage nachzuweisenden Konjektur herzustellen. Dabei ist noch lange nicht jede grammatikalische oder morphologische Unkorrektheit zu korrigieren. So wurde in Duvaus erstem Brief an Böttiger die Form „die überaus schmeichelhaften Titeln“15 belassen, da sie Zeugnis der unvollkommenen Beherrschung der deutschen Sprache durch den Franzosen und außerdem ein (noch heute) häufiger Fehler ist. Die Möglichkeit, daß die schwache Deklination des Substantives „Titel“ eine sprachliche Variante bildet, ist nicht auszuschließen. In diesem Fall hat der Editor zu bedenken, daß seine Aufgabe nicht in der Umsetzung der Autorintention besteht – denn Duvau wollte nicht nur sinnvoll, sondern auch korrekt schreiben –, sondern daß der edierte Text in vielfacher Hinsicht ein historisches Dokument und Monument sein soll. Ein anderes Beispiel für einen unterlassenen Texteingriff bildet der Satz: „Und haben sie nicht nur durch seine Schuld gescheitert?“16 Hier liegt das französische ont échoué zugrunde. Solche Interferenzen von Fremd- und Muttersprache treten bei Briefpartnern, die in einer Fremdsprache schreiben, häufig auf. Die genaue Kenntnis des Lebenszusammenhangs ist hier für den Textkritiker unerläßlich, um unnötige Emendationen zu vermeiden. Ein anschauliches Beispiel bildet Duvaus Brief vom 30. April 1795 an Karl Ludwig von Knebel, in dem es in der Handschrift heißt: Weil Sie sich aber einen so vortheilhaften Begriff von meinem Charakter gemacht haben, so will ich hoffen, daß Sie den Eindruck, den so viel Höflichkeit, und Titel Freund, womit Sie mich beehrt haben, und den ich mich bemühen werde zu verdienen, machen sollten, besser fühlen werden, als ich es mit Worten ausdrücken könnte.17

Der fehlende Artikel vor „Titel“ wurde im Druck ergänzt, weil dieser Artikel im überlieferten handschriftlichen Entwurf (h) steht. Würde das aber geschehen sein, wenn dieser Entwurf nicht überliefert wäre? Vermutlich nicht, denn man hätte plausible Erklärungen für das Fehlen des Artikels finden können. Die Beispiele verdeutlichen, wie

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Duvau an Böttiger, Leipzig, 18.–20.3.1804. Siehe Anm. 1, dort Nr. 71, Z. 135f und S. 328 („Textgrundlage“). Duvau an Böttiger, Weimar, 24.4.1795. Siehe Anm. 1, dort Nr. 2, Z. 7. Duvau an Böttiger, Leipzig, 18.–20.3.1804. Siehe Anm. 1, dort Nr. 71, Z. 135f und S. 333 zu 316–317. Duvau an Knebel, Erfurt, 30.4.1795. Siehe Anm. 1, dort Anhang Nr. 2, Z. 3–8 und S. 240.

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schwierig es im einzelnen ist, die Differenz zwischen Relation und ursprünglicher Tatsache zu bestimmen, die eine Emendation rechtfertigt. Festzuhalten ist jedoch, daß in der Regel bereits die handschriftliche Quelle mit solchen Differenzen behaftet ist. Das zuletzt aufgeführte Beispiel zeigt, daß die Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation nicht immer mit einem Fehler gleichzusetzen ist, obgleich jeder Fehler beim Editor einen textkritischen Verdacht auslösen sollte. Das Beispiel belegt, daß der Editor, der sich zwar in jedem Fall bemühen muß, die Autorintention zu erkennen, jedoch nicht vor der Aufgabe steht, sie umzusetzen. Die ursprüngliche Tatsache ist nicht mit der Autorintention, mit der sie in engem Zusammenhang steht, gleichzusetzen. Eine solche Differenz ist nur vorhanden, wenn die Abweichung der Relation von der Autorintention auf einen mechanischen Fehler zurückzuführen ist. Die Beurteilung eines solchen Sachverhalts ist in jedem einzelnen Fall eine hermeneutische Operation. So ist Textkritik im Falle der Überlieferung der Originalhandschrift, zumal wenn daneben weiteres Material reichlich überliefert ist und ein umfangreiches historisches Wissen über die mit den zu edierenden Texten im Zusammenhang stehenden Personen, Werken und Ereignissen existiert, ein ebenso kompliziertes Problem, wie bei deren vollständigem Verlust. Ist die Originalhandschrift nicht überliefert, kann der verlorengegangene Text als ein makelloses Ideal imaginiert werden. Die auf handschriftlichen Quellen basierende Briefedition ist stets mit unvollkommenen materiellen Gebilden konfrontiert, deren Eigenart sie respektieren sollte. Wenn hervorgehoben wurde, daß die Rekonstruktion der Kommunikation durch die Briefpartner bei der Edition eines Briefwechsels im Mittelpunkt der textkritischen Arbeit stehen sollte, und dabei dem Problem des Verstehens eine zentrale Stellung zugewiesen wurde, so bedeutet das nicht, daß das Verstehen durch die Korrespondenten einen nicht zu überschreitenden Horizont darstellt. Folgende Bemerkung Böttigers mag belegen, daß das Textverständnis nicht immer gegeben war: „Ich habe mit lateinischen Lettern geschrieben, weil meine deutsche Handschrift so unleserlich ist. Thun Sie dasselbe. Denn noch kann ich an Ihren Briefen manches nicht entziffern.“18 Noch interessanter ist Duvaus Antwort: „Ich habe noch mit deutschen Lettern geschrieben: ich bedaure, wenn es Ihnen so viel Mühe macht; mir würde es eine gar schwere Arbeit seyn mit lateinischen zu schreiben.“19 Aus diesen Worten geht hervor, daß der Briefschreiber auf die Mitarbeit seines Lesers rechnete und dabei das Nichtverstehen in Kauf nahm. Das Verstehen, auf das der Herausgeber einer Briefedition den Text ausrichtet, ist jedoch nicht mit dem Verstehen im Sinn der Autorintention identisch. Es ist das Verstehen durch einen Dritten.

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Böttiger an Duvau, Dresden, 21. Juli 1805. Siehe Anm. 1, dort Nr. 88, Z. 96–98. Duvau an Böttiger, La Farinière, 30. April bis 15. Mai 1806. Siehe Anm. 1, dort Nr. 89, Z. 262–264.

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Kritik am Text und Textkritik Die Geschichte des Briefwechsels zwischen Herman Gorter und Vladimir Il’iþ Lenin

Da dieser Beitrag von ideologischen Differenzen und deren Folgen für die Überlieferung und die Edition von Quellen handelt, empfiehlt es sich, von einer undogmatischen Definition von ‚Textkritik‘ auszugehen. Ein mögliche – und zugegebenermaßen ungenaue – pragmatische Umschreibung wäre: ,Textkritik‘ ist die allgemeine Sensibilität für die Art und Weise, wie Quellen uns erreichen und wie wir in unseren Editionen damit umgehen. In meinem Beitrag geht es um politische Ideologie, nämlich um den Kontakt und den Briefwechsel zwischen zwei Sozialisten, Herman Gorter und Vladimir Il’iþ Lenin. Dieser Briefwechsel, wie interessant er auch war und ist, ist aus ideologischen Gründen bis heute nicht vollständig und zuverlässig veröffentlicht worden.1 Wer Vladimir Il’iþ Lenin (1870–1924) war, bedarf keiner näheren Erläuterung;2 zu Gorter könnten einige Daten jedoch hilfreich sein. Den Niederländer Herman Gorter (1864–1927) kennt das niederländische Publikum als Schriftsteller, als wichtigen Erneuerer der epischen und der lyrischen Poesie.3 Sein Debüt erschien 1889, es war das lange epische Gedicht Mei, das in der niederländischen Literatur als Anfang der modernen Poesie gilt. Mei wurde von Max Koblinsky vollständig ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.4 1897 schloß Gorter sich der Sociaal-Democratische ArbeidersPartij (SDAP) an, er wurde ein aktives Parteimitglied, schrieb für Parteizeitungen,

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Mein Beitrag ist das Nebenprodukt meiner Arbeit an einer geplanten Edition der Korrespondenz Herman Gorters. Eine neuere Lenin-Biographie stammt von Robert Service: Lenin. A biography. London 2000. Die erste umfassende Biographie erschien erst spät: Herman de Liagre Böhl: Met al mijn bloed heb ik voor u geleefd. Herman Gorter 1864–1927. Amsterdam 1996. Von De Liagre Böhl erschien davor schon: Herman Gorter. Zijn politieke aktiviteiten van 1909 tot 1920 in de opkomende kommunistische beweging in Nederland. Nimwegen 1973. Und: Herman Gorter en Lenin. In: Acht over Gorter. Een reeks beschouwingen over poëzie en politiek onder redactie van Garmt Stuiveling. Amsterdam 1978, S. 333–369. Herman Gorter: Mai. Ein Gedicht. Leipzig 1909. Beim selben Verlag (Maas & Van Suchtelen) erschien ebenfalls 1909 die Übersetzung von Gorters zweitem längeren epischen Gedicht: Ein kleines Heldengedicht (niederländisch: Een klein heldendicht, Amsterdam 1906, 2. Aufl. 1908), die auch von Koblinsky stammte. Fragmente aus Mei, sowohl in Koblinskys Übersetzung als in einer von Stefan George, waren schon 1894 in Georges Blättern für die Kunst (1896, S. 92–96) erschienen. Gorter korrespondierte 1896 kurz mit George; siehe dazu: Herman Gorter Documentatie 1864–1897. Hrsg. von Enno Endt. Amsterdam 2. Aufl. 1986, (siehe: Dokumente 96:31, 96:32, 96:33, 96:71). Ein Stefan George gewidmetes Exemplar der 2. Auflage von Mei (1893) befindet sich im George-Archiv in Stuttgart. – Nähere Daten zu Max Koblinsky fehlen.

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war Redaktionsmitglied des wissenschaftlichen Parteiorgans De Nieuwe Tijd 5, er übersetzte6 und trat als Parteiredner auf. Nach 1897 veröffentlichte er – nach eigener Bezeichnung – nur noch „sozialistische Dichtung“.7 Er schrieb zwar nach 1897 auch andere lyrische Natur- und Liebesgedichte, die er jedoch zu Lebzeiten nicht veröffentlichte. Gorter veröffentlichte keine Parteibelletristik, wie beispielsweise Kampflieder, er trat auch nur ganz selten mit literarischen Werken bei politischen Veranstaltungen auf. An zwei Fragmenten aus dem Band Verzen, einfach Verse aus dem Jahr 1903, erkennt man, daß es sich bei Gorters Gedichten nicht um Parteilyrik handelt, sondern um moderne lyrische Poesie mit engagiertem Inhalt: Die Arbeiterklasse tanzt einen großen Reigen am Ozean der Welt, wie Kinder, die man abends auf der Strandmauer beim Meer im gelben Licht der Laternen und im Licht der Sonne bei Musik hüpfen sieht. Ihre leichten, dünnen Figürchen tragen im Tanz Hoffnung und Gedanken über den Ozean, gen Himmel, in die Erde – so tanzt die Arbeiterklasse am Meer. […] Der Sozialismus kommt, die Wolken jauchzen es. Die Lüfte, die morgens durch die Straßen gehen, erzählen’s den Leuten, und die Jungen blicken empor und krönen mit ihrem Blick die Kunde. […]8

Noch als Sozialdemokrat publizierte Gorter auch viel im deutschen Sprachraum. Es erschien die Übersetzung seines Buchs Het historisch materialisme mit einem Vor-

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Zwischen 1896–1918 erschienen, gegründet nach dem Vorbild von Karl Kautskys Die Neue Zeit. Zur Geschichte dieser Zeitschrift: Henny Buiting: De Nieuwe Tijd. Sociaaldemokratisch Maandschrift. 1896–1921. Spiegel van socialisme en vroeg communisme in Nederland. Amsterdam 2003. Aus dem Lateinischen Spinozas Ethica (Den Haag 1895), aus dem Englischen William Morris’ John Ball en Andere Vertalingen (Amsterdam 1898), aus dem Deutschen Karl Marx’ Loonarbeid en Kapitaal (Amsterdam 1898), Karl Marx’ und Friedrich Engels Het Communistisch Manifest (Amsterdam 1904), Karl Kautskys Ethiek en materialistische geschiedenisbeproeving. Eene proeve (Rotterdam 1907), De weg naar de macht (Rotterdam 1909) und De oorsprong van het christendom (Amsterdam 1912), Joseph Dietzgens Het wezen van den menschelijken hoofdarbeid. Siehe auch die anonyme, vom Nederlands Letterkundig Museum in Den Haag und vom Archief en Museum voor het Vlaamse Cultuurleven in Antwerpen herausgegebene, auf DIN-A5-Karten gedruckte titellose Gorterbibliographie. Socialistische verzen nannte Gorter die dritte Abteilung der 1905 erschienenen stark veränderten 2. Auflage seines Lyrikbandes De school der poëzie (1897). Es handelt sich um Zitate aus dem ersten Zyklus von titellosen Gedichten in diesem Band, der nicht paginiert ist. Die Übersetzungen stammen von mir. Es gibt außer den beiden in Anm. 2 genannten Bänden kaum ins Deutsche übersetzte Lyrik von Gorter. ,Sozialistische Lyrik‘ wurde nicht ins Deutsche übersetzt. Einen programmatischen Text Über Poesie findet man in: Die Neue Zeit, Jahrgang 2, Bd. I (1903–1904), S. 395–398 (ursprünglich veröffentlicht in: De Nieuwe Tijd, Jahrgang 8 (1903), S. 33–37.

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wort von Karl Kautsky. Diese Übersetzung einer populärwissenschaftlichen Einführung in den Marxismus wurde in deutscher Sprache mindestens zwölfmal neu aufgelegt, und es erschienen Ausgaben in mindestens fünfzehn anderen Sprachen, darunter Lettisch, Lettgallisch, Griechisch, Chinesisch und Japanisch.10 1909 spaltete Gorter sich mit anderen Parteigenossen links von den Sozialdemokraten ab. In diesem Zusammenhang – bei Besprechungen über die Mitgliedschaft der neuen Partei, der Sociaal-Democratische Partij (S.D.P.) – , lernte er im Internationalen Sozialistischen Büro (I.S.B.; inoffiziell: die Sozialistische Internationale) im November 1909 Lenin in Brüssel kennen.11 Es gibt keine Dokumente über einen engeren Kontakt bis 1915. Als Antwort auf einen Brief von Gorter vom 8. Mai 1915 schrieb Lenin eine Woche später von Bern aus, wo er zwischen 1914 und 1917 im Exil lebte, seinen einzigen erhaltenen Brief an Gorter.12 Der nur in einer Abschrift von David Wijnkoop13 überlieferte Brief handelt von Plänen für eine gemeinsame internationale Zeitschrift. Lenin lobt Gorter wegen seiner 1914 erschienen Broschüre Het imperialisme, de wereldoorlog en de sociaal-democratie. Lenin hatte versucht diese Broschüre auf Holländisch zu lesen: „Radek sagt, Ihre Broschüre ist englisch erschienen. Freut mich sehr: jetzt werde ich alles lesen und verstehen. Holländisch verstand ich etwa 30– 40%: Ich gratuliere Ihnen wegen guter Angriffe gegen Opportunismus und Kautsky.“14 Ob die englische Übersetzung erschienen ist, ist unklar; Ende 1915 erschien jedoch eine deutsche Übersetzung, 1920 auch eine russische.15 In Briefen an Mitstreiter und in Artikeln ließ Lenin sich in dieser Zeit positiv über Gorter und seine Partei, die S. D. P., aus.16 Auch Gorter verbreitete seinen Enthusiasmus über Lenin in Artikeln. Nicht belegt, aber nicht unwahrscheinlich, sind Begegnungen zwischen Gorter und Lenin in der Schweiz. Gorter besuchte die Schweiz regelmäßig, er war jedenfalls im Oktober 1916 dort und hatte Kontakt zu russischen

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Hermann Gorter: Der historische Materialismus. Für Arbeiter erklärt. Stuttgart 1909 (aus dem Holländischen übersetzt von Anna Pannekoek, das Vorwort von Kautsky S. 5–12). Siehe die in Anm. 6 genannte (unvollständige) Bibliographie. Nach Henny Buiting: Richtingen – en partijstrijd in de SDAP. Het ontstaan van de SociaalDemocratische Partij in Nederland (SDP). Amsterdam 1989, S. 611 (Anm. 260). Es gibt keinen Nachlaß Gorters. Lenins Brief an Gorter war die Beilage eines Briefs mit demselben Datum an David Wijnkoop (siehe W. I. Lenin: Briefe. Band IV. August 1914–Oktober 1917. Berlin 1967, S. 70). Wijnkoop schrieb den Brief also wahrscheinlich ab, bevor er ihn Gorter übergab. Gorter und Wijnkoop (1876–1941) gingen bis etwa 1920 die gleichen politischen Wege, danach war Wijnkoop eher Lenin- und Moskautreu (siehe http://www.iisg.nl/bwsa/bios/wijnkoop.html; 6. Oktober 2008, 8.48 Uhr). Zitiert nach W. I. Lenin: Briefe. Band IV (Anm. 13), S. 71. Dort die Notiz: „Nach einer von D. Wijnkoop geschriebenen Kopie der deutschsprachigen Handschrift“. Die deutsche Ausgabe wurde von Gorters Partei, der S. D. P., verlegt: Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozial-Demokratie. Amsterdam 1915. Eine zweite Auflage erschien noch 1915, eine dritte beim Futurus-Verlag in München 1919. Die russische Übersetzung von I. Stepanov erschien 1920 in Moskau: Imperializm, mirovaja vojna i social-demokratija. – Von einer englischen und einer russischen Übersetzung ist schon die Rede in einem Brief Gorters an seine Freundin Ada Prins vom 19. April 1915, von einer – bis jetzt nicht dokumentierten – japanischen in einem Brief an Prins vom 16. Dezember 1917 (beide Briefe im Nederlands Letterkundig Museum en Documentatiecentrum, Den Haag). Beispielsweise in: De Liagre Böhl: Met al mijn bloed (Anm. 3), S. 361–262.

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Emigrantengruppen.17 Auf welche Begegnung sich Gorters Mitteilung an Lenin vom 26. Mai 1918 bezieht, ist unklar: „Ich freue mich schon auf den Tag daß wir uns dann [d. h. nach der gelungenen Revolution; JG] wiedersehen werden“. Nachdem Gorter Anfang November 1917 Lenin mit einem wohl nicht erhaltenen Telegramm zur Machtergreifung gratuliert hatte, wiederholte er diesen Glückwunsch in einem Brief vom 23. Dezember 1917. Es ist dies der Beginn zu einem 10 Briefe umfassenden Briefwechsel im Jahr 1918, von dem nur die sieben Briefe von Gorter an Lenin erhalten sind. Daß Lenin 1918 wenigstens drei Briefe an Gorter schrieb, ist aus dem Inhalt der erhaltenen Briefe zu erschließen. Die Briefe Gorters zeigen ihn als begeisterten Anhänger der russischen Revolution. Er bietet Lenin in einigen Briefen seine Hilfe an, die er vor allem in seinen Publikationen sieht. Vier seiner Broschüren schickte er am 12. Juni 1918 an Lenin: „Sie sind in klarer einfacher Sprache geschrieben und für jeden Arbeiter verständlich. Die letzten drei sind ziemlich kurz so dass ihr Preis gering und die Verbreitung massenhaft sein kann.“ Eine der gesandten Broschüren, De wereldrevolutie (1918), trug die gedruckte Widmung „Aan Lenin“.18 Bereits im ersten Brief aus dem Jahre 1918 begann aber schon die Diskussion mit Lenin über dessen Revolutionstaktik und -praxis: „Wenn ich Ost-Europäer wäre, würde ich ganz so gehandelt haben und handeln wie Sie. – In West-Europa muss ich aber anders handeln.“ Die Diskussionen über Revolution und Taktik hatten inzwischen auch in den Niederlanden zu erbitterten Auseinandersetzungen innerhalb der S.D.P geführt, die seit Mitte November 1918 Communistische Partij in Nederland (CPN) hieß.19 Im August 1919 trat Gorter aus der CPN aus. Er wurde später aktives Mitglied der kleinen, im April 1920 gegründeten rätekommunistischen Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands (KAPD) und deren niederländischer Schwesterpartei KAPN (Kommunistische Arbeiders-Partij in Nederland), die im September 1921 gegründet wurde. In einer Nachschrift zu seinem Brief vom 22. September 1918 an Lenin (Brief 9) teilte Gorter mit: „Ich hoffe nach einiger Zeit […] nach Moskau zu kommen. Ich möchte gerne etwas beitragen zur grossen Sache, und dazu einige Vorträge geben. Es wäre, glaube ich, gut, wenn ich eine förmliche Einladung (von der Regierung, oder von der Akademie) empfing. Das Bekommen eines Passes für die Hin- und Zurückreise würde dann leichter sein.“ Gorter arbeitete in dieser Zeit an der Übersetzung (aus dem Deutschen) von Lenins Text Gosudarstvo e revoljucija (Staat und Revolution), die 1919 erschien.20 Ende Oktober und Anfang November 1918 berichtete er

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Vgl. verschiedene Briefe Gorters aus dieser Periode. Gorters Brief an Lenin vom 24. Oktober 1918 wurde auf vorgedrucktem Briefpapier des Représentant plénipotentiaire de la République Socialiste Fédérative des Soviets de Russie en Suisse in Bern geschrieben. Die deutsche Übersetzung Die Weltrevolution erschien ebenfalls 1918 (verlegt von J.J. Bos in Amsterdam). Ausführliche Beschreibungen dieser Auseinandersetzungen und Diskussionen sind enthalten in: De Liagre Böhl: Herman Gorter. Zijn politieke aktiviteiten van 1909 tot 1920 (Anm. 3), und Buiting: De Nieuwe Tijd (Anm. 5). N. Lenin: Staat en revolutie. De leer van het marxisme over den staat en over de taak van het proletariaat in de revolutie. Amsterdam 1919 (2. Aufl. 1920).

Kritik am Text und Textkritik

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auch in Briefen an seine Freundin Ada Prins von seinen Plänen für eine Russlandreise,21 die aber zu dem Zeitpunkt scheiterten und erst Ende 1920 realisiert wurden. Am 1. Mai 1920, in seinem letzten Brief an Lenin vor seiner Rußlandreise, ging Gorter noch einmal ausführlich auf ihre taktischen Differenzen ein und faßte seine Meinung wie folgt zusammen: „Sie stellen sich wahrscheinlich die Lage zu sehr nach den russischen Verhältnissen vor.“ Gorter weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, daß Lenin im Begriff ist, seine Broschüre Der ‚Radikalismus‘ die Kinderkrankheit des Kommunismus zu veröffentlichen, die im Sommer 1920 in deutscher Sprache erscheint. Lenin nennt darin Gorter nicht mit Namen, spricht aber mehrmals von „die Holländer und die ‚Radikalen‘“ und nennt deren „Analyse […] äußerst mangelhaft“ (S. 37). In der offiziellen sowjetrussischen Historiographie werden diese ideologischen Auseinandersetzungen beispielsweise wie folgt zusammengefaßt (hier ohne Gorter zu erwähnen): Im April-Mai 1920 schrieb Lenin das geniale Buch Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Darin übte er allseitige Kritik an den Fehlern der ‚Linken‘ und stellte fest, daß der mit scheinrevolutionären Phrasen getarnte ‚linke Doktrinarismus‘ ein Abweichen von der Theorie und Praxis des Marxismus zum Anarchosyndikalismus sei und die kommunistischen Parteien auf den für sie verhängnisvollen Weg der Loslösung von den Arbeitermassen dränge.22

Gorter reagierte sofort auf Lenins Kinderkrankheit-Broschüre mit einem Offenen Brief an den Genossen Lenin, der Ende August 1920 in der Berliner Kommunistischen Arbeiter-Zeitung vorpubliziert wurde und noch im selben Jahr in zwei Auflagen als Broschüre erschien. Eine niederländische Fassung erschien Anfang 1921.23 In einem in der ersten deutschen Broschürenfassung mehr als 80 Seiten langen Text, der nicht nur dem Titel nach ein Brief ist, legt Gorter wiederum seine Anschauungen zur revolutionären Taktik dar. Die Broschüre fängt mit „Lieber Genosse Lenin!“ an und endet mit „Mit bruderlichem Gruß“. Zwischendurch erinnert Gorter immer wieder daran, daß er sich in der Form eines Briefes an seinen Kontrahenten wendet: „Haben Sie nicht bemerkt, Genosse Lenin […]“. Auch eine Ergänzung des Offenen Briefs, die im April/Mai 1921 erschien, argumentierte Gorter in Briefform.24 Zwischen dem Offenen Brief und der Ergänzung lag Gorters Rußlandreise, die von Anfang November bis Mitte Dezember 1920 dauerte und die er als Mitglied einer KAPD-Delegation unternahm. Gorter und seine drei deutschen Parteigenossen reisten in abenteuerlicher Weise über Stettin, Estland und Petrograd nach Moskau, wo sie

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Im Nederlands Letterkundig Museum en Documentatiecentrum, Den Haag. Petr Nikolaevig Pospelov, V. E. Evgrafov, V. Ja. Zevin u.a.: Vladimir Il’iþ Lenin. Biografija. Moskau 1963, hier zitiert nach der 2. Aufl. der deutschen Übersetzung: W.I. Lenin: Biographie. Berlin 1964, S. 618. Deutsch: Herman Gorter: Offener Brief an den Genossen Lenin. Eine Antwort auf Lenins Broschüre: „Der Radikalismus eine Kinderkrankheit des Kommunismus“. Berlin [1920]. Niederländisch: Herman Gorter: Open brief aan partijgenoot Lenin. Amsterdam 1921. Gorters Text erschien ab 1920 in vielen Sprachen und ist im Internet in vielen Sprachen abrufbar: http://www.left-dis.nl (6. Oktober 2008, 8.50 Uhr). Herman Gorter: Lehren der März-Aktion. Nachschrift zu dem Offenen Brief an Lenin von Hermann Gorter. In: Der Proletarier, Jahrgang 1 (1921), Nr. 5.

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mehrere Gespräche mit Lenin, Trotzki und anderen Politikern führten. Es stellte sich nach dem Reisebericht der KAPD-Delegation jedoch heraus, daß Lenin Gorters Offenen Brief nicht gelesen hatte. Die Gespräche führten, wie sich herausstellen sollte, nicht zu den aus der Sicht der Delegation und der KAPD gewünschten Erfolgen.25 In einem Brief an seine Freundin Jenne Clinge Doorenbos schrieb Gorter Mitte Dezember 1920 aus Berlin: „Endlich angekommen. Erschöpft, müde, mager und ausgezehrt. Aber das Ziel ist erreicht, meine Liebe. Ich kehre zurück als besserer, stärkerer und glücklicherer Mensch.“26 Neutraler und vielleicht von weniger „naivem Optimismus“27 zeugend, ist die Bemerkung Gorters in einem Brief an seinen KAPNParteigenossen Barend Luteraan: „Ich habe viel gesehen, gehört und gelernt.“28 Gorter versuchte noch einmal Lenin persönlich von seinen Ansichten zu überzeugen, und zwar in einem Brief vom 26. September 1921. Anlaß war der 3. Kongreß der Kommunistischen Internationale, der im Juli/August 1921 in Moskau stattfand. Dort hatte Karl Radek den ‚Philosophen‘ und ‚Dichter‘ Gorter einen ‚Sektaristen‘ genannt. Am Schluß des Briefs faßt Gorter ihn noch einmal zusammen: Sie sehen also, Genosse: I.

In Russland bin ich mit Ihnen einig.

II.

Ihre neue Taktik halte ich für die Revolution in Europa schädlich, aber in Russland für notwendig.

III.

Ihre west-europäische Taktik halte ich für schlecht.

Auch die Abschlußformel ist noch immer freundschaftlich: „Mit den herzlichsten Grüssen und den besten Wünschen für die Revolution“. Nach dem Tod Lenins äußerte Gorter sich noch einmal auf persönliche Weise und nicht öffentlich über den russischen Revolutionsführer in einem Gedicht mit dem Titel Lenin, das erst nach Gorters Tod veröffentlicht wurde (in einem Gedichtband mit dem Untertitel Aus Anlaß der Niederlage der Revolution). In Sonettform stellt Gorter fest, daß Lenins Revolution gescheitert sei, „Da Du verlassen / wurdest von den Arbeitern Europas, die Deine Liebe haßten“.29 Wenn man Anfang des 21. Jahrhunderts den Plan faßt, die Korrespondenz zwischen Gorter und Lenin in einer Gorter-Briefedition aufzunehmen, ist man sich der damit verbundenen Schwierigkeiten nicht bewußt. Das von Lenin Verfaßte ist gänzlich pub-

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Eine ausführliche Beschreibung der Reise gibt: De Liagre Böhl: Met al mijn bloed (Anm. 2), S. 427– 433. Von mir übersetzt und zitiert nach De Liagre Böhl (Anm. 25), S. 433. De Liagre Böhl (Anm. 25), S. 433. Herman Gorter: Brief vom 29. Dezember 1920. Nachlaß Luteraan. Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam. Herman Gorter: Liedjes. Aan de geest der muziek der nieuwe menschheid. Deel III. Bussum 1930, S. 14 (hier von mir übersetzt). Das vollständige Gedicht läßt den Schluß auf ein ausgezeichnetes Verhältnis zwischen Gorter und Lenin zu: Henny Buiting: Good-by Lenin. In: Onvoltooid verleden (2004), Heft 19, S. 45–66.

Kritik am Text und Textkritik

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liziert bzw. gut archiviert und registriert. Außerdem sind die Archive in der ehemaligen Sowjetunion zugänglich. Die Praxis ist aber wesentlich komplizierter. Zunächst wenden wir uns der Publikationsgeschichte der einzelnen Briefe zu. Aus mehreren Quellen kennen wir die Existenz oder den Text folgender zwölf Briefe: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Gorter an Lenin, 8. April 1915 Lenin an Gorter, 15. Mai 1915 Gorter an Lenin, 23. Dezember 1917 Gorter an Lenin, 7. Februar 1918 Gorter an Lenin, 26. Mai 1918 Gorter an Lenin, 12. Juni 1918 Gorter an Lenin, 4. Juli 1918 Gorter an Lenin, 4. Juli 1918 Gorter an Lenin, 22. September 1918 Gorter an Lenin, 24. Oktober 1918 Gorter an Lenin, 1. Mai 1920 Gorter an Lenin, 26. September 1921

Die Briefe 1 und 12 sind, soweit bekannt, bislang ungedruckt: Brief 12 befindet sich in einer Gorter betreffenden Personalakte im RGASPI30 in Moskau. Brief 1 wird in einer Fußnote zu einem Kapitel in einem in der Bundesrepublik 1980 erschienenen Buch des Niederländers Matthijs Wiessing (1906–1987) erwähnt, der ab 1930 in der Sowjetunion lebte.31 Ein anderes Kapitel in diesem Buch32 gibt die vollständigen Texte von sechs Briefen (5, 6, 7, 8, 9, und 11) wieder. Von diesen Briefen wurden nach Wiessing die Briefe 5 bis 8 in einer russischen Publikation veröffentlicht, die er jedoch bibliographisch nicht belegt hat und die bisher nicht festgestellt werden konnten. Die Briefe 3, 4, 9 und 10 waren 1967 vom niederländischen Literaturhistoriker und Gorter-Spezialisten Garmt Stuiveling (1907–1985)33 in einem Artikel in deutscher Originalsprache veröffentlicht worden.34 Stuiveling hatte Kopien dieser Briefe 1966 bei einem Besuch in Moskau erhalten, aber anscheinend die Originale nicht gesehen. Stuiveling hat, nach dem Titel seiner Publikation zu urteilen, wohl auch angenommen, es handele sich um alle erhaltenen Briefe.35 Brief 2, der einzige erhaltene Brief

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Rossiiskii gosudarstvennyi arkhiv sotsial’no-politicheskoi istorii, d. h. Russisches Staatsarchiv für Soziale und Politische Geschichte. Ich danke Irina Noviþenko (Moskau) für den Hinweis. Mathijs C. Wiessing: Lenin und die holländischen Tribunisten. In: Mathijs C. Wiessing: Die Holländische Schule des Marxismus – Die Tribunisten. Erinnerungen und Dokumente. Hamburg 1980, S. 24– 49, Anmerkung 17, S. 148. Mathijs C. Wiessing: Herman Gorter im Jahre 1918. In: Wiessing 1980 (Anm. 31), S. 69–87. Stuiveling gab Gorters literarisches Werk heraus: Garmt Stuiveling: Herman Gorter. Verzamelde werken. 8 Bde. Bussum/Amsterdam 1948–1952. Garmt Stuiveling: Gorters brieven an Lenin. In: Nieuw Vlaams Tijdschrift, Jahrgang 20 (1967), S. 822– 843, im selben Jahr in Garmt Stuiveling: Willens en wetens. Twaalf essays. Amsterdam 1967, S. 114– 138. Die Erinnerungen von Stuivelings Witwe deuten dies auch an: „Im September 1966 stiegen wir von der Flugzeugtreppe in Moskau runter. Aus einer Gruppe von Männern löste sich Vera [Morozova]; sie lief auf Garmt zu, über ihrem Kopf winkte sie wie mit einem Fächer Spielkarten: die Briefe Herman Gorters an Lenin!“ Mathilde Stuiveling-van Vierssen Trip: In de ban van Herman Gorter. Herinneringen aan

Jan Gielkens

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Lenins an Gorter, wurde 1960 auf Russisch erstveröffentlicht36 und dann ab 1967 in die deutschsprachige Lenin-Briefedition aufgenommen.37 Es existiert außerdem eine niederländischsprachige, in Moskau 1988 verlegte Publikation, in der die Briefe 2 bis 4 und 10 übersetzt abgedruckt wurden.38 Was sagen die Quellenangaben in diesen Publikationen über den Aufenthaltsort der Originale? Die genannten Abdrucke von Brief 2 (Lenin an Gorter) enthalten keinerlei Angaben darüber. Die Wiessing-Artikel von 1980 nennen zwei sowjetrussische Archivanstalten: das ZPA IML und das Staatsarchiv, beide in Moskau. Mit dem ZPA IML ist das Tsentral’nyi partiinyi arkhiv Instituta marksizma-leninizma pri TsK KPSS (Zentrales Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion), das von 1956 bis 1991 diesen Namen trug.39 Seit 1999 heißt dieses Institut RGASPI.40 Das von Wiessing genannte Staatsarchiv ist das jetzige Gosudarstvennyi arkhiv Rossiiskoi Federatsii (GARF), das Staatsarchiv der Russischen Föderation. Die Briefe 3, 4, 9, 10 und 11 liegen nach Wiessing im jetzigen RGASPI. Bei einem Besuch dort im November 2002 stellte sich heraus, daß diese Angaben, bis auf eine, nicht stimmen. Und diese eine Angabe ist nur bedingt korrekt: Von Brief 9 befindet sich unter der von Wiessing genannten Signatur eine maschinenschriftliche Abschrift des Originals. Da es sich bei vier dieser Briefe (3, 4, 9 und 10) um die Briefe handelt, die Stuiveling 1966 als Kopie erhielt und 1967 veröffentlichte, wird Stuivelings Angabe, die Kopien stammten aus dem Lenin-Archiev in Moskau, interessant. Nach der offiziellen Website des RGASPI41 befindet sich das Lenin-Archiv in dieser Institution. Bei meinem Aufenthalt dort legte man mir jedoch nur das Inventar eines kleinen Teilbestands vor, das keine Hinweise auf Briefe von oder an Gorter enthielt. Daß die vier anderen von Wiessing genannten Briefe (5 bis 8) sich in der Tat, wie dieser angibt, im jetztigen GARF befinden, bestätigt die am 6. Juli 2004 erhaltene, auf den 14. Mai 2004 datierte Antwort auf eine Anfrage vom Februar 2004. Für die Briefe 10 „u. a.“ verweist die Antwort auf das RGASPI. War die Situation vor dem anfangs schon erwähnten Ende des Sozialismus so, daß man eine offene wissenschaftliche Diskussion der ideologischen Differenzen zwischen Lenin und Gorter nicht erwarten konnte,42 so ist im Moment an die Stelle eines aktiven Desinteresses ein passives Desinteresse getreten,43 das die ideale Quellen-

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Jenne Clinge Doorenbos en Ada Prins. In: De Parelduiker, Jahrgang 8 (2003), Heft 1, S. 2–27, siehe S. 18 (übers. von mir). Voprosy Istorii KPSS, Jahrgang 1960, Heft 4. Siehe Anm. 13. Briefwisseling van V.I. Lenin met Hollandse communisten. Moskau 1988. Siehe http://www.iisg.nl/~abb (6. Oktober 2008, 8.55 Uhr). Siehe Anm. 30. http://www.rusarchives.ru/federal/rgaspi/character.shtml; Stand 2004, am 6. Oktober 2008, 9.02 Uhr nicht mehr gültig; siehe aber zu dem Zeitpunkt: http://www.iisg.nl/~abb/rep/B-12.tab1.php, wo „the archive of V. I. Lenin“ erwähnt wird. Siehe das oben Zitierte aus der Lenin-Biographie, siehe die unvollständige Information an Garmt Stuiveling. Siehe die wiederholt unvollständigen Informationen in und von Russischen Archivinstitutionen.

Kritik am Text und Textkritik

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situation für eine vernünftige Edition des Gorter-Lenin-Briefwechsels im Laufe von fast zwei Jahren kaum verbessert hat.44

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Inzwischen erschien: Jan Gielkens: Herman Gorter: Ein unbekannter Brief an Lenin. In: Die Vitrine. Fachblatt für Linke Bibliomanie, 2005, Heft 7, S. 7-15.

Hartmut Laufhütte

Warum und wie sollen Literatenbriefwechsel des 17. Jahrhunderts kritisch ediert werden? Ein Fallbeispiel und grundsätzliche Überlegungen

Natürlich ist die Formulierung der Frage im Titel, zumindest ihr erster Teil, rein rhetorisch; die Antwort, die ich geben will, erfolgt zu einem besonderen Fall, aber mit Verallgemeinerungsabsicht. Als dieser Text vorgetragen wurde, steckte ich in den Abschlußarbeiten – letzte Überprüfungen, darstellerische Vereinheitlichung, Erstellung von Registern, Einleitung – der Edition eines in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geführten Briefwechsels,1 der im Zusammenhang noch nie und von dem, was den einen Teilnehmer betrifft, nicht einmal zehn Briefe bisher veröffentlicht worden waren, und das ziemlich unzulänglich.2 Es handelt sich um die Korrespondenz des Nürnberger Autors Sigmund von Birken (1626–1681) und der niederösterreichischen Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694),3 die beide zu Unrecht und zum Schaden einer adäquaten Darstellung der Geschichte der Literatur des 17. Jahrhunderts wenig beachtet worden bzw. weithin unbekannt sind. Wie konnte es dazu kommen? Sigmund von Birken war nach Martin Opitz gewiß der wirkungsmächtigste Literatur- und Kulturmanager im deutschsprachigen Raum, dazu ein überaus produktiver gelehrter Poet, Literaturtheoretiker und Historiograph.4 Ihn – wie alle anderen Autoren des 17. Jahrhunderts – hat die Denk- und Geschmacksrevolution der Aufklärung aus dem Bewußtsein der literarischen und an Literatur interessierten Öffentlichkeit gestrichen. Da die Wiederentdeckung der Barockliteratur, richtiger wohl einiger Autoren jener versunkenen Epoche, durch die

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Sigmund von Birken: Werke und Korrespondenz. Hrsg. von Klaus Garber u.a. Bd. 12. Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg. In Zusammenarbeit mit Dietrich Jöns und Ralf Schuster. Hrsg. von Hartmut Laufhütte. Tübingen 2005. Teil I: Texte, Teil II: Apparate und Kommentare. Inzwischen ist auch der Doppelband 9 der Birken-Ausgabe erschienen: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz. Hrsg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Tübingen 2007. Teil I: Texte, Teil II: Apparate und Kommentare. Heimo Cerny: Catharina Regina von Greiffenberg, geb. Freiherrin von Seisenegg (1633–1694). Herkunft, Leben und Werk der größten deutschen Barockdichterin. Amstetten 1983, S. 72–91. Die von Frau von Greiffenberg an Sigmund von Birken gerichteten Briefe und die von von Birken selbst angefertigten Vor- und Abschriften bzw. Teilabschriften seiner Briefe an sie werden zusammen mit den anderen Manuskripten seines Nachlasses unter der Leitsigle PBlO im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aufbewahrt. S. Klaus Garber: Sigmund von Birken: Städtischer Ordenspräsident und höfischer Dichter. Historischsoziologischer Umriß seiner Gestalt. Analyse seines Nachlasses und Prolegomenon zur Edition seines Werkes. In: Sprachgesellschaften – Sozietäten – Dichtergruppen. Hrsg. von Martin Bircher und Ferdinand van Ingen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung. Bd. 7), S. 223–254.

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Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nach Kriterien erfolgte, die einen für seine Zeit so überaus typischen und repräsentativen Autor wie Birken nicht interessant erscheinen ließen, geriet er unter die poetae minores, und da sitzt er heute noch; denn die vor 200 Jahren erfolgte Kanonbildung wirkt, aller Neuorientierungen der Literaturwissenschaft unbeschadet, immer noch nach.5 Catharina Regina von Greiffenberg wird von einem ihrer Verehrer als „größte deutsche Barockdichterin“6 bezeichnet. Das Pathos einer solchen Reklamation stört; in der Sache aber hat er recht. Trotzdem und obwohl es seit über zwanzig Jahren eine Reprint-Ausgabe aller zu Lebzeiten der Dichterin gedruckten größeren Werke und der meisten gedruckten Gelegenheitsgedichte gibt,7 ist die Autorin so gut wie unbekannt.8 Das hat verschiedene Gründe. Sicher hat es mit der Nichtbeachtung dichtender Frauen in der männlich dominierten Literaturwissenschaft früherer Jahre zu tun, aber auch damit, daß ihr Werk, das lyrische und das prosaische, geistlich geprägt ist und sich die Erbauungsliteratur lange Zeit in der Literaturwissenschaft keines besonderen Interesses erfreute. Wie wenig genau man hingeschaut hat, zeigt die unausrottbare, nichtsdestoweniger falsche Bezeichnung der Frau von Greiffenberg als Mystikerin.9 Als die Literaturwissenschaft begann, sich als sozialhistorische, neuerdings gar ƍkulturwissenschaftlicheƍ, Disziplin zu entdecken, fehlte das theologiegeschichtliche Wissen, dessen es bedurft hätte, ein Werk wie das der Frau von Greiffenberg sinnvoll in eine so motivierte Betrachtung einzubeziehen. Auch die feministische Welle in der Literaturwissenschaft hat sie nicht wahrgenommen; kaum eine Geschichte der Literatur von Frauen oder Autorinnen-Anthologie, die Catharina Regina von Greiffenberg auch nur erwähnte. Hinzu kommt, daß für die überwiegend nationale Literaturgeschichtsschreibung Frau von Greiffenberg in Deutschland eine österreichische Autorin war, in Österreich aber eine Protestantin. Damit sind so ziemlich alle Zugangsbarrieren benannt, hinter denen Autorin und Werk allzu lange verschwunden blieben. Seit kurzem findet das Werk dieser bemerkenswerten Frau als Dokument des frühen Pietismus, als Konzentrat mehrerer europäischer Traditionslinien frömmigkeitsgeschichtlicher und literarhistorischer Qualität und als Ergebnis einer gewaltigen Sprach- und Bildkraft die Aufmerksamkeit vor allem junger Kolleginnen und Kolle-

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Siehe Sigmund von Birken: Werke Werke und Korrespondenz. Hrsg. von Klaus Garber u.a. Bd. XIV: Sigmund von Birken Prosapia / Biographia. Hrsg. von Dietrich Jöns und Hartmut Laufhütte. Tübingen 1988. S. VI–XII. Siehe Anm. 2 Catharina Regina von Greiffenberg: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Martin Bircher und Friedhelm Kemp. Millwood N. Y. 1983. Zur Biographie siehe Horst-Joachim Frank: Catharina Regina von Greiffenberg. Untersuchungen zu ihrer Persönlichkeit und Sonettdichtung. Diss. (masch.) Hamburg 1957. Teildruck: Catharina Regina von Greiffenberg. Leben und Werk der barocken Dichterin. Göttingen 1967; Cerny 1983 (wie Anm. 2), S. 29–60. Siehe z. B. Ruth Liwerski: Das Wörterwerk der Catharina Regina von Greiffenberg. Teil II. Deutung [Teil I. nicht erschienen]. Bern / Frankfurt a. M. / Las Vegas 1978 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I. Bd. 224).

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gen. Catharina Regina von Greiffenberg wird nicht mehr zu den ‚Unsichtbaren‘ Frauen gehören.11 Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg haben von 1662 an bis 1681, dem Todesjahr Birkens, einen sehr intensiven Briefwechsel geführt, sowohl aus der Distanz – sie lebte bis 1678 in Österreich – als auch aus größerer Nähe, bei den vielen längeren oder kürzeren Aufenthalten der Baronin in Nürnberg von 1663 an, wo sie sich 1679 endgültig niederließ. Natürlich gab es in diesen Zeiten außer dem brieflichen auch persönlichen Kontakt. Als Bearbeiter der Abteilung Autobiographica / Korrespondenz beschäftige ich mich im Rahmen einer derzeit entstehenden Edition mit dem Briefwechsel Birkens. Dabei werden alle zu Lebzeiten gedruckten und handschriftlich überlieferten Werke Birkens sowie die bei ihm eingelaufenen und von ihm versandten Briefe erfaßt. Der Plan zu dieser Ausgabe resultiert aus einem einzigartigen Überlieferungsfall. Birken hat große Teile seiner Bibliothek und alle seine Manuskripte und die Briefe testamentarisch dem Pegnesischen Blumenorden vermacht,12 einer der Dichterakademien des 17. Jahrhunderts, deren zweiter – nach Georg Philipp Harsdörffer – und bedeutendster Präses er war.13 Den Orden gibt es heute noch. Er hat sein kostbares Vermächtnis gehütet und im wesentlichen ungemindert über die Zeit gerettet. Seit vielen Jahren wird der Bestand vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg verwaltet. Hier kann nicht dargelegt werden, was alles Birkens Nachlaß enthält. Ich deute, bevor ich auf den Birken-Greiffenberg-Briefwechsel eingehe, nur an, was für die von mir zu betreuende Abteilung der Edition vorhanden ist, nämlich Tagebücher für die Jahre 1660–1679 (mit einigen Lücken), die meist auch Register empfangener und versandter Briefe enthalten,14 eine Autobiographie, die bis fast vor das Einsetzen der Tagebuchdokumentation heranreicht,15 die Briefe von einigen hundert Partnern, mit denen Birken oft über Jahrzehnte in Verbindung gestanden hat, Briefkonzeptbücher,

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Siehe z. B. Cristina M. Pumplun: „Begriff des Unbegreifflichen.“ Funktion und Bedeutung der Metaphorik in den Geburtsbetrachtungen der Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694). Diss. Amsterdam 1995. Seither sind zahlreiche Publikationen erschienen. Mit Unsichtbare Frauen ist ein Band mit drei Erzählungen betitelt, den die österreichische Autorin Evelyn Schlag 1995 in Salzburg und Wien herausgebracht hat. Eine der Erzählungen, Die lustwählende Schäferin, handelt von Catharina Regina von Greiffenberg. Das Testament Sigmund von Birkens kennen wir nicht. Tagebuchnotizen Birkens zeigen, daß er bis in seine letzten Lebensjahre an seinem letzten Willen gearbeitet und diesen immer wieder verändert hat. Eine Kopie von fremder Hand, die – bzw. deren verschollenes Original – den Tod von Birkens zweiter Frau (16.5.1679) voraussetzt, also der endgültigen Version, wenn es sich nicht um eben diese handelt, zumindest nahestehen muß, enthält Birkens Nachlaß: PBlO.C.24.39.25. Darin hat Birken die für seine Bibliothek gebundenen Exemplare eigener Werke und derjenigen seiner Mitschäfer sowie „alle meine manuscripta und Briefe, (was erudition betrifft) sambt des durchleuchtigen Sieg Brangenden“, dem Pegnesischen Blumenorden vermacht. Siehe [Johannes Herdegen:] Historische Nachricht von deß löblichen Hirten= und Blumen=Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang/ biß auf das durch Göttl. Güte erreichte Hunderste Jahr/ mit Kupfern gezieret, und verfassset von dem Mitglied dieser Gesellschafft Amarantes. Nürnberg 1744. S. 79–158. PBlO.B.2.1.3 (1660 / 61), B.2.1.4 (1664-1668), B.2.1.5 (1669), B.2.1.6 (1671), B.2.1.7 (1672), B.2.1.8 (1673), B.2.1.9 (1675), B.2.1.10 (1676), B.2.1.2 (1677-1679). Birkens Tagebücher sind – unzulänglich – publiziert: Die Tagebücher des Sigmund von Birken. Bearbeitet von Joachim Kröll. 2 Bde. Würzburg 1971 und 1974. von Birken 1988 (wie Anm. 5).

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in denen er mit unterschiedlicher Ausführlichkeit bis hin zur Anfertigung kompletter Abschriften seine eigenen Briefe dokumentiert hat.16 Dieser Quellenfundus ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Birken stand mit einem großen Teil der gelehrten und literarischen Welt seiner Zeit in Verbindung; entsprechend reiche Spuren hat das im Briefarchiv hinterlassen. Es gibt Briefe von Kollegen, Mäzenen, Auftraggebern, Verlegern, Kupferstechern und vielen anderen. Die Briefe und Briefkonzepte bieten nicht nur eine Fülle an biographischer und werkgeschichtlicher Information, nicht nur für Birken übrigens,17 sondern gewähren erstaunliche Einblicke in Denk- und Mentalitätsgeschichte; sie bilden einen einzigartigen Quellenfundus für die Erforschung der sozialen Geflechte, in denen im 17. Jahrhundert Literatur entstand, verbreitet wurde und wirkte. Birkens Briefwechsel mit Catharina Regina von Greiffenberg ist ein besonders interessanter Bestandteil des Corpus,18 weil er Auskünfte nicht nur in den soeben bezeichneten Feldern ermöglicht, sondern auch eine unermeßliche Quelle darstellt für die Subjektivierung lutherischer Religiosität in jener Zeit, für die Bedeutung und produktionsfördernde Wirksamkeit des protestantischen Kirchenlieds, für die Art der Rezeption damaliger ‚Gegenwartsliteratur‘, für die Bedeutung des Umgangs mit Literatur im täglichen Leben, für die Wirksamkeit von, das Arbeiten mit Traditionen, nicht zuletzt für die Situation adliger Protestanten in Österreich in den Jahrzehnten nach dem Westfälischen Frieden. Das ‚Ob‘ kann also nicht Gegenstand ernstgemeinter Fragen sein; beim ‚Wie‘ scheint es anders. Dabei sind die im engeren Sinne philologischen Probleme eher harmlos. Für keinen der zu publizierenden Texte gibt es Mehrfachüberlieferung. Die wenigen Drucke einzelner Greiffenberg-Briefe sind unzulänglich und können für die Textkonstitution vernachlässigt werden. Die Birkenschen Konzepte sind sämtlich unpubliziert. Die Handschrift beider gilt als schwer lesbar, dem ist aber nicht so. Die Probleme, die die Manuskripte dem Editor gleichwohl bereiten, bestehen in anderem als in der mehr oder minder leichten Lesbarkeit: Frau von Greiffenberg verwendet z. B. bestimmte Buchstaben nur (oder meist) in derjenigen Variante, die eigentlich den Großbuchstaben bezeichnet, auch im Anlaut von Nichtsubstantiven, auch mitten im Wort. Zur emphatischen Hervorhebung von Wörtern ist deren erster Buchstabe oft als überproportional groß ausgeführter Kleinbuchstabe gestaltet. Wie gibt man das wieder, ohne ein völlig absurdes Druckbild zu erzeugen? Ich gebe an entsprechen-

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Neben mehreren Konvoluten loser Blätter aus (wohl von Birken selbst) aufgelösten Konzeptbüchern gibt es drei umfangreiche gebundene: PBlO.B.2.1.24 (1648–1653), B.5.0.3 (1653–1657), B.5.0.41 (1658–1672). Die drei Bücher sind je verschiedenartig geführt, beim zweiten und dritten handelt es sich auch nicht um reine Briefdokumentationen. Die eingebürgerte Bezeichnung ,Briefkonzeptbücher‘ ist überdies irreführend: Die Bücher enthalten nicht Briefentwürfe, sondern (Teil-)Abschriften. Sie sind werkgeschichtliche Quellen – z. T. die einzigen – für eine Anzahl von Autoren, deren Werke Birken redigiert und / oder zum Druck gebracht hat. Außer für Catharina Regina von Greiffenberg gilt das z. B. für Johann Wilhelm Stubenberg, Henrich Kielmann von Kielmannseck, Gottlieb von Windischgrätz, Margaretha Maria von Buwinghausen und Wallmerode, Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg u. a. Die Briefe der Frau von Greiffenberg sind bis auf wenige Ausnahmen unter der Signatur PBlO.C.114 zusammengeführt; die Abschriften bzw. Teilabschriften der Gegenbriefe Birkens stehen fast alle im Konzeptbuch PBlO.B.5.0.41.

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den Stellen klein ausgeführte Großbuchstaben als Minuskeln wieder, besonders groß ausgeführte Kleinbuchstaben als Majuskeln. Daß da sehr häufig Entscheidungen zu treffen sind, versteht sich. Die Fälle sind viel zu häufig, als daß jeder dieser Eingriffe deklariert werden könnte. Ein pauschaler Hinweis darauf, wie verfahren wurde, muß genügen. Anstelle der ch-Ligatur verwendet Frau von Greiffenberg so gut wie immer das einfache hZeichen. Auch hier kann unmöglich jede Abweichung der Transkription vom graphischen Erscheinungsbild der Manuskripte deklariert werden; gewisse Unsicherheiten bleiben. Die Buchstaben h und s (der deutschen Schrift natürlich) sind bei ihr häufig so ausgeführt, daß man nicht sicher entscheiden kann, welcher von beiden gemeint ist. Das wird zum Problem bei einer der Varianten, in der die Schreibung des Namens Jesus bei ihr erscheint: schreibt sie „Jessus“ oder „Jehsus“? Ich habe mich für letztere Wiedergabe entschieden; auch das kann aufgrund der Häufigkeit der Fälle nur pauschal deklariert werden. Eine Quelle ständiger Irritationen ist die Tatsache, daß Frau von Greiffenberg die Buchstaben m und n wenig sorgfältig ausführt, was immer wieder Entscheidungen erforderlich macht, vor allem nach den Vokalen i und a, die einmal in der deutschen und einmal in der lateinischen Variante verwendet sind. Sehr oft ist nicht mit Sicherheit auszumachen, ob m, n oder gar Gemination des einen oder anderen Buchstabens vorliegt. Jeder einzelne dieser Fälle, die eine editorische Entscheidung verlangten, ist im philologischen Apparat, den es zu jedem aufgenommenen Text gibt, deklariert. Probleme bereitet ebenfalls die Auflösung des das/daß-Kürzels angesichts einer nicht normierten Orthographie, nach der ausgeschriebenes „daß“ als Artikel oder Pronomen, ausgeschriebenes „das“ jedoch als Konjunktion stehen kann. Jede Auflösung dieses Kürzels ist in den philologischen Apparaten deklariert. Birkens Orthographie bereitet vor allem dadurch gewisse Probleme, daß er in ungleich stärkerem Maße als seine Briefpartnerin Abkürzungen und Kürzel verwendet, deren korrekte Auflösung der Lesbarkeit der Texte wegen nötig, angesichts nicht normierter Orthographie, die häufig nicht dem Sinn, aber den Wortendungen nach unterschiedliche Schreibungen zuließe, problematisch ist. So kann die Dativ-Endung maskuliner und neutraler Nomina (Substantive, Pronomina, Adjektive) sowohl auf m als auf n ausgehen: Wie verfährt man, wenn der Wortausgang als Kürzel ausgeführt ist? Einzelfalldeklaration ist hier unmöglich; es kann nur eine Pauschalangabe zu dem Verfahren in solchen Fällen gemacht werden.

Die Zahl der Problempositionen ließe sich vermehren. Grundsätzlich aber gilt: Für jede Abkürzungs- und Kürzelauflösung, für jede aus der Handschrift übernommene Korrektur oder Ergänzung, für jede in der Handschrift durchgeführte Streichung, die der transkribierte Text natürlich nicht mehr enthält, gibt es ein Lemma im philologischen Apparat. Der Text, der dem Benutzer geboten wird, bleibt frei von allen kritischen Zeichen. Auch die sehr seltenen Eingriffe in die Interpunktion der Originale werden in jedem Fall in den Apparaten nachgewiesen. Solche Eingriffe sind gelegentlich notwendig, weil Frau von Greiffenberg von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Beistriche (Kommata) mehr verwendet, sondern Punkte, und das Fragezeichen sehr oft zur Emphasemarkierung benutzt hat. Würde man das in der Transkription beibe-

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halten, würde die adäquate Auffassung des Texts geradezu absurd erschwert. Doch sind die Apparate so angelegt, daß die originale Zeichenverwendung eines jeden Textes rekonstruiert werden kann ebenso wie ursprünglicher, später verworfener Wortlaut. Fazit: Die Umwandlung der Manuskripte in einen lesbaren Text kann nur durch textkritische Arbeit geleistet werden. Über das ‚Ob‘ kritischer Textgestaltung und entsprechender Rechenschaftslegung ist nicht zu diskutieren. Die Komponente ‚historisch‘ deutet die eigentliche und schwierige Arbeit des Editors an – im konkreten Fall wie auch generell. Diese Arbeit stellt sich als Rekonstruktion und Kommentierung dar. Zu beidem einige Andeutungen: Rekonstruktion heißt zunächst Rekonstruktion des Briefwechsels. Die Briefe der Frau von Greiffenberg liegen als von Birken aufbewahrte Originale vor. Es ist – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – die einzige Manuskriptüberlieferung, die wir von dieser Autorin besitzen.19 Für Birkens Anteile an dieser Korrespondenz liegen die Dinge anders und recht kompliziert: Von einem Teil seiner Briefe besitzen wir Vorschriften (zu solchen wurden Briefe, in die allzu viel hineinkorrigiert und ergänzt worden war, als daß sie sich noch hätten verschicken lassen) und dem Originalwortlaut nahe Ganz- oder Teilabschriften von Birkens Hand in einem seiner Konzeptbücher. Diese ca. 40 zum Teil sehr umfangreichen (Teil-)Abschriften gehören in die Zeitspanne von 1665 bis Anfang 1672. Daß sie nicht immer exakt datiert sind, wird dadurch ausgeglichen, daß Birken in den meisten Tagebüchern Briefeingangsund Briefausgangsregister geführt und auf den bei ihm eingelaufenen Briefen meist notiert hat, wann sie eingetroffen waren und wann er sie beantwortet hat. Hinzu kommen inhaltliche Entsprechungen. Von einem anderen Teil der Briefe Birkens, den nach Anfang 1672 versandten, gibt es keine Ganz- oder Teilabschriften mehr. Wir können dennoch durch reaktive Passagen in den Greiffenbergschen Briefen und / oder Birkens Tagebüchern seine Anteile den Daten und auch den Inhalten nach sicher rekonstruieren. Von einem dritten Teil der Birkenschen Briefe, den von 1678 an geschriebenen, gibt es weder Konzeptbucheintragungen, noch sind sie durch Beantwortungsnotizen auf den Originalen der Partnerbriefe und / oder Tagebucheintragungen repräsentiert. In den beiden letzten Jahrgängen seines Tagebuchs, 1678 und 1679, hat Birken nämlich keine Briefregister mehr geführt, in seinen beiden letzten Lebensjahren auch kein Tagebuch mehr. Dennoch können wir auch in dieser Gruppe Birkens Anteile von den Bezugnahmen in den Briefen der Frau von Greiffenberg, manchmal auch von Briefen anderer Partner her einigermaßen genau erfassen.

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Heimo Cerny hat vor einigen Jahren im ehemaligen Archiv des Schlosses Seisenegg bei Amstetten (NÖ), wo Frau von Greiffenberg bis Mitte 1678 gewohnt hat, eine stattliche Anzahl von GreiffenbergManuskripten gefunden, darunter auch einige Briefe von ihrer Hand; einiges davon ist veröffentlicht: Heimo Cerny: Neues zur Biographie der Catharina Regina von Greiffenberg. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 100/101 (1996/97; ersch. 1998), S. 111–198; zuvor in: Literatur in Bayern 38 (1994), S. 44–49.

Warum und wie sollen Literatenbriefwechsel des 17. Jahrhunderts kritisch ediert werden?

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Trotz der verschiedenartigen Dokumentationslage läßt sich Birkens Anteil an dieser Korrespondenz der Zahl der Stücke und Daten nach fast lückenlos, dem Wortlaut nach partiell, den behandelten Gegenständen und der Art ihrer Behandlung nach weitgehend rekonstruieren. Die Rekonstruktionsarbeit brachte es mit sich, daß eine große Anzahl von Briefbeilagen, vielfach Gedichte, ermittelt wurden und, soweit sie im Laufe der verschiedenen Neuordnungsprozesse, denen der Birkennachlaß im Laufe der Zeit unterworfen worden ist, von ihrer ursprünglichen Umgebung getrennt worden waren, wieder mit ihren ursprünglichen Trägern zusammengefügt werden konnten. Für Catharina Regina von Greiffenberg hat das zu einer Erweiterung unserer Werkkenntnis um 25 Gedichte geführt, die ihr zuvor auch deswegen nicht zugeschrieben werden konnten, weil sie zum Teil von einer fremden Hand niedergeschrieben worden sind. Erst die Rekonstruktionsarbeit, die auf das Briefcorpus angewandt wurde, machte die Zuordnung möglich. Die von einer historisch-kritischen Edition zu leistende Rekonstruktionsarbeit hat aber noch eine zweite Komponente, die der Kommentierung, die zusätzlich zur transkriptiven Textkonstituierung und der Herstellung der korrekten chronologischen Folge ebenfalls immer zu leisten ist. Denn der lesbar gemachte historische Text ist nicht ohne weiteres verständlich. Auch hierzu ein paar Andeutungen: Lesbarkeit von ca. 350 Jahre alten Texten muß auch insofern ermöglicht werden als ihr ‚Sitz im damaligen Leben‘ für den Benutzer der Edition faßbar wird. Das kann nur durch einen Kommentar geleistet werden, der nach meinem Verständnis des Terminus historisch-kritisch ein unabdingbarer Bestandteil einer mit ihm bezeichneten Ausgabe ist. Der Kommentar muß gegebenenfalls heute nicht mehr geläufige syntaktische Strukturen verständlich machen. Er muß uns nicht mehr geläufige Wortbedeutungen angeben, er muß uns nicht mehr vertraute sinnbildliche Fügungen erklären, an deren Verständnis oft genug das Verständnis des Ganzen hängt. Er muß Anspielungen auf Zitate aus älterer und damals zeitgenössischer Literatur erkennbar machen und die Quellen nachweisen; er muß ferner zu den in den Texten erwähnten Namen und Vorgängen Sacherklärungen liefern. Wer weiß schon, wer mit wem und warum in Südwestdeutschland und den Niederlanden in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts Krieg führte? Nicht selten wird der Kommentator auch erklären müssen, daß er etwas nicht erklären kann. Um es knapp zusammenzufassen: Der Kommentar muß dem Benutzer der Edition jene Materialien bereitstellen, die der Leser zum Verständnis der präsentierten Texte braucht. Das ist nicht immer ganz leicht. Als wichtige Quellen erweisen sich die noch ungeschriebene, aus ihren Werken und den Briefen selbst zu rekonstruierende Biographie und Werkgeschichte der beiden Autoren, die Bibel in Luthers Übersetzung, die Werke Vergils, Ovids, Horazens, Ciceros, die protestantischen Kirchenlieder des 16. und 17. Jahrhunderts,20 das Theatrum Europaeum,21 der Zedler22 und die alten biographischen

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Albert Fischer: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Vollendet und herausgegeben von W[ilhelm] Tümpel. 6. Bde. Gütersloh 1904–1916. Nachdruck Hildesheim 1964. Theatri Europaei Sechster und letzter Theil […] beschrieben / Durch Johannem Georgium Schlederum, Ratisponâ-Bavarum. Frankfurt a. M. 1663; Ireno-Polemographiae Continuatio III. […] Oder deß Theatri

Hartmut Laufhütte

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Lexika wie diejenigen von Jöcher,23 v. Wurzbach,24 Will,25 die Allgemeine und Neue deutsche Biographie,26 Henkel/Schönes Emblemlexikon,27 das Wörterbuch des Deutschen Aberglaubens von Bächtold/Stäubli,28 die Romane Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig-Lüneburg,29 die gesamte deutsche, italienische und französische Literatur der Zeit, die anderen Briefwechsel Birkens und vieles mehr. Nicht war es möglich, die Grenze zwischen Interpretation ermöglichendem Kommentar und Interpretation sauber einzuhalten. Dazu abschließend ein Beispiel: Im März 1677 reagiert Frau von Greiffenberg auf ein Schreiben Birkens, das eine poetische Beilage enthalten hatte: Das Schöne winter Schäfer Gedichte der Edlen Blumen-Schäffere An der Pegniz, zeiget von Jhren Schönen Geist, deren hize, die Blumen auch im winter über Natürlich hervorspriessen machet. Mann könnte zu Jhnen wie jener zu dem Seeligen herrn Risten sagen: und könnt Jhr hirthen auch bey diesen wetter dichten? geschiehet dieses in den dürren winnter, was will Erst in den grühnen Frühling werden? Jch werde durch dieses Schöne Blumen-Gebände, des Norischen Staats-Führers […] in Neue Schulden geführet, da Jch die vorigen noch nie Abführen können.30

Es war nicht allzu schwierig zu ermitteln, wovon die Rede ist bzw. was Birken in seinem uns unbekannten Brief mitgeschickt hatte; nämlich ein Gemeinschafts-Opus der Nürnberger Pegnitzschäfer, wie sich die Mitglieder des Blumenordens nannten, zum 65. Geburtstag – Anfang Januar – des damaligen Nürnbergischen Kirchenpflegers (des reichsstädtischen Kultusministers) Georg Sigmund Fürer von Haimendorf: Winter-SchäferSpiel/ dem Ehren-Ruhme des Norischen FOEBUS/ bey Eintritt des Neuen Christ-Jahrs/ Im JESUS-Monat/ gewidmet/ durch die Blumgenossen an der Pegnitz.

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Europaei Zehender Theil […] beschrieben von Wolffgang Jacob Geigern / der Rechten Beflissenem. Frankfurt a. M. 1677; Theatri Europaei Eilffter Theil […]. Frankfurt a. M. 1682. Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. und 4 Suppl. Bde. Halle/Leipzig 1732–1754; Nachdruck Graz 1961. Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon […]. 4 Bde. Leipzig 1750/51. Constantin von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich […]. 60. Bde. Wien 1856–1891; Nachdruck New York u. a. 1966-1973. Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexikon […]. 4 Bde. Nürnberg 1755–1758; Fortsetzung und Ergänzung durch Christian Conrad Nopitsch. 4 Bde. Nürnberg und Altdorf 1802–1808. Allgemeine Deutsche Biographie. Auf Veranlassung und mit Unterstützung Seiner Majestät des Königs von Bayern Maximilian II. hrsg. durch die Historische Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften. 56 Bde. Leipzig 1875–1912; Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; bisher 21 Bde. Berlin 1953–2003. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Taschenausgabe. Hrsg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Stuttgart 1996 [zuerst 1967]. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin/New York 1987 (Nachdruck der Ausgabe 1927–1942). Anton Ulrich, Herzog von Braunschweig-Lüneburg: Die durchleuchtige Syrerinn Aramena. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1669–1673. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Blake Lee Spahr. Bern/Frankfurt a. M. 1975–1983 (= Nachdrucke deutscher Literaturwerke des 17. Jahrhunderts. Bd. 4/I–V); Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg: Die Römische Octavia. In: Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Im Auftrag der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und in Verbindung mit Hans-Henrik Krummacher. Hrsg. von Rolf Tarot. Stuttgart 1982ff., hier Bd. III–VIII. Text Nr. 138 des Birken-Greiffenberg-Briefwechsels, PBlO.C.114.96.

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Nürnberg […] Anno MDLXXVII. Das war tatsächlich eine Winter-Schäferei, in welcher die Beiträger ihre Blumen – jedem Ordensmitglied war ja eine zugeordnet – kontrastiv gegen die reale und die fiktionale Jahreszeit ihrer Dichtung ausspielten. Frau von Greiffenberg aber spielt reagierend ebenfalls mit der Jahreszeitenthematik und mit der Semantik des Adressatennamens. Das alles ist leicht nachzuweisen, auch, daß sie mit dem „Seeligen herrn Risten“ den vor zehn Jahren verstorbenen norddeutschen Literaturpapst meinte, den Wedeler Pastor Johann Rist (1607–1667). Wer aber ist „jener“, dem der von ihr zitierte Staunen bekundende Alexandriner zugewiesen wird? Hier half wie so oft der Zufall.31 Zu einer der weniger bekannten, auch nicht in die irritierender Weise Sämtliche Werke genannte Rist-Ausgabe von Eberhard Mannack aufgenommenen Gedichte-Sammlung Rists von 1646 mit dem Titel Poetischer Schauplatz hat der Rostocker Professor Andreas Tscherning (1611–1654) ein Ehrengedicht beigetragen. Es enthält den Vers, dessen sich Frau von Greiffenberg, Kenntnis beim Briefpartner voraussetzend, variierend bedient: „Und kannst du auch, mein Rist, bei diesem Wetter tichten“. Die Variation betrifft aber nicht nur den Wortlaut, sondern auch den Kontext. Die originale Umgebung des Verses zeigt es deutlich. Während man im Brieftext ein scherzhaftes Spiel mit dem damals oft verwendeten Concetto sehen muß, im kalten Winter müßten den Pegnitzschäfern eigentlich Hirn und Tinte eingefroren sein, wodurch ihre Leistung kontrastiv gehoben und zur Prognose auf noch Besseres im inspirationsfördernden Frühling gemacht wird, hatte Tscherning das Wetter metaphorisch verwendet. Sein nächster Vers nämlich lautet: „Jetzt, da der Marspiter noch in dem Lande sitzt?“ Das ästhetische Spiel, das Frau von Greiffenberg durchführt, kann ganz nur würdigen, wer diese Zusammenhänge sieht. Birken sah sie spontan, für den Benutzer der Ausgabe von heute müssen wir sie auffinden und verfügbar machen. Das zu demonstrieren, dient dieses Beispiel. Ich fasse zusammen: Zu den Aufgaben einer Edition alter Texte gehört es, historisch-kritisch zu sein. Kritisch muß sie sein, weil sie einen sowohl verläßlichen wie lesbaren Text erstellen und über die Art der Erstellung Rechenschaft geben muß. Historisch muß sie sein, weil sie das lesbar Gemachte durch kommentierende Erschließung des damals Gegenwärtigen, dem modernen Benutzer verstehbar zu machen hat. Das kann aber nur eine Art der Kommentierung leisten, die, weil sie Interpretation ermöglichen soll, von Interpretation nicht immer scharf abzugrenzen ist. So erklärt sich, daß der Textband der Birken-Greiffenberg-Edition XXXVIII + 410, der Apparat- und Kommentarband XII + 581 Seiten Umfang haben wird.

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Auf die richtige Spur lenkte eine alte Dokumentation zu Leben und Werk Johann Rists: Theodor Hansen: Johann Rist und seine Zeit. Aus den Quellen dargestellt. Halle 1872. Nachdruck Leipzig 1973. Auf S. 46 weist Hansen Tschernings Gedicht nach und zitiert die einschlägige Passage.

Elke Richter

„schreibe nur wie du reden würdest …“1 Probleme der Textkonstitution und Textdarbietung bei Briefausgaben, erläutert an Beispielen aus der historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen2 Im achten Buch von Dichtung und Wahrheit beschreibt Goethe die Eindrücke beim Wiederlesen seiner frühen Leipziger Briefe: Der Vater hatte meine Briefe sowohl an ihn als an meine Schwester sorgfältig gesammlet und geheftet; ja er hatte sie sogar mit Aufmerksamkeit corrigirt und sowohl Schreib- als Sprachfehler verbessert. / Was mir zuerst an diesen Briefen auffiel, war das Aeußere; ich erschrak vor einer unglaublichen Vernachlässigung der Handschrift, die sich vom October 1765 bis in die Hälfte des folgenden Januars erstreckte. Dann erschien aber auf einmal in der Hälfte des Märzes eine ganz gefaßte, geordnete Hand, wie ich sie sonst bey Preisbewerbungen anzuwenden pflegte. 3

In dieser Schilderung werden bereits einige der Probleme erkennbar, mit denen sich der Editor von Briefausgaben konfrontiert sieht, dessen Aufgabe darin besteht, aus dem individualisierten Medium ‚Brief‘ einen ‚entindividualisierten‘ Druck-Text herzustellen. – Wie sich die Aufgabe in der Praxis einer Edition darstellt und wie sie gelöst werden könnte, sollen Beispiele aus dem ersten Band der in Vorbereitung befindlichen neuen historisch-kritischen Gesamtausgabe der Goethe-Briefe veranschaulichen.4 Ausgangspunkt soll jedoch – das Thema dieser Tagung abwandelnd – die Frage sein: Was bedeutet Textkritik für die Edition von Briefen? Obwohl die Zahl der in den letzten Jahrzehnten neu begonnenen wissenschaftlichen Briefeditionen beträchtlich ist und damit Briefe verstärkt zum Gegenstand editionswissenschaftlicher Betrachtung wurden, spielten textkritische Themen dabei eher eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt standen neben Versuchen der Definition und Abgrenzung des Genres und dem Bemühen, sich auf bestimmte Standardisierungen in der Anlage und formalen Gestaltung von Briefausgaben zu verständigen, vor

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Goethe an seine Schwester Cornelia; 6. – Dezember 1765; Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. IV: Goethes Briefe. Bd. 1. [1887], S. 22,14. – Fortan zitiert: WA IV Band, Seite. Dieser Beitrag wurde in leicht veränderter Fassung zuerst veröffentlicht in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2008, S. 93–108. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe bearbeitet von Siegfried Scheibe. Bd. 1: Text. Berlin 1970, S. 287, 29–37 (Akademie-Ausgabe). Vgl. Elke Richter: Zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Goethes Briefen. In: Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr – Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, 26. bis 27. August 1999. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 2002. (Beihefte zu editio. 16), S. 123–145.

Elke Richter

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allem Fragen der Kommentierung.5 Die Textkonstitution bei Briefen erschien dagegen weniger problematisch. Zum Ausdruck kommt dies etwa in der folgenden These von Jürgen Behrens: Ein wesentlicher Unterschied zwischen Werk- und Briefausgaben ist der, daß es bei Briefausgaben Probleme der Textkonstitution praktisch nicht gibt. Textgrundlage ist in der Regel die nur in einer Fassung existierende Handschrift des Briefes. Auf die für das Gesamtproblem irrelevante Tatsache, daß in wenigen Fällen mehrere Fassungen vorhanden sind, wurde hingewiesen: ihre Darbietung bietet im übrigen kein Problem. 6

Daß diese Meinung noch bis in die 1990er Jahre vorherrschend war, belegt z. B. eine ganz ähnlich lautende Einschätzung des Briefforschers Reinhard M. G. Nickisch, mit der er im Kapitel Editorische Probleme seiner Brief-Monologie den editionswissenschaftlichen Forschungsstand resümiert.7 Sicher besteht bei Editoren wissenschaftlicher Briefausgaben allgemeiner Konsens darüber, daß die Handschrift der Ausfertigung eines Briefes, falls sie überliefert ist, für die Konstituierung des Texts Priorität besitzt, ebenso daß an ihre Stelle ein handschriftlich überliefertes Konzept treten kann, sollte die Ausfertigung nicht mehr vorhanden oder deren Verbleib unbekannt sein.8 Auch der lakonischen Feststellung von

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Vgl. u. a. probleme der brief-edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schloß Tutzing am Starnberger See, 8.–11. 1975. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Hans-Joachim Mähl und Walter Müller-Seidel. Bonn-Bad Godesberg 1977, darin bes.: Norbert Oellers: Probleme der Briefkommentierung am Beispiel der Korrespondenz Schillers. Mit besonderer Berücksichtigung des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe, S. 105–123; editio 2 (1988), darin bes.: Irmtraut Schmid: Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus „Brief“ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung, S. 1–7 und Winfried Woesler: Vorschläge für eine Normierung von Briefeditionen, S. 8–18; Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991; Brigitte Leuschner: Kommentierende und kommentierte Briefe. Zur Kommentargestaltung bei Briefausgaben. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition 4. bis 7. März 1992. Autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (=Beihefte zu editio. 5), S. 182– 187; Wissenschaftliche Briefeditionen und ihre Probleme. Editionswissenschaftliches Symposium. In: Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. Bd. 2. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1998, darin bes.: Winfried Woesler: Richtlinien der Briefkommentierung, S. 87–96; „Ich an Dich“ /. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hrsg. von Werner M. Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 2001 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. Bd. 62.). Jürgen Behrens: Zur kommentierten Briefedition. In: Probleme der Kommentierung. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Frankfurt am Main, 12.–14. Oktober 1970 und 16.–18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter MüllerSeidel. Weinheim 1987, S. 188 (Nachdruck der 1. Auflage von 1975). „Mit einem anderen Problem der Text-Edition bei Briefen scheint man leichter zu Rande kommen zu können: Da bei Briefen, im Gegensatz zu poetischen Werken, fast immer nur eine Fassung existiert, entfallen in der Regel die Schwierigkeiten der Textkonstitution. Zurückzugreifen ist normalerweise, falls vorhanden und erreichbar, auf die Handschrift eines Briefes (notfalls auch auf ein Konzept dazu), sonst auf die frühesten Drucke. Sind diese unzuverlässig und gibt es Anhaltspunkte dafür, daß die handschriftliche Urfassung einigermaßen anders ausgesehen haben mag, ist es gleichwohl fast immer aussichtslos, den spontanen Charakter rekonstruieren zu wollen.“ Vgl. Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991 (Sammlung Metzler. Realien zur Literatur. Bd. 260), S. 230. In der Überlieferung der Goethe-Briefe begegnet dieser Fall vergleichsweise häufig, vor allen bei den nach 1807 entstandenen Briefen, für den im GSA 54 Hefte mit fast ausschließlich diktierten Konzepten überliefert sind.

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Jürgen Behrens, daß der Editor in allen übrigen Fällen, nämlich wenn die Handschriften der Ausfertigungen oder der Konzepte nicht überliefert sind, nehmen müsse, was er bekommt, ist zuzustimmen.9 Textgrundlage können gegebenenfalls also auch frühe, mitunter ungenaue, stark bearbeitete oder gar kompilierte Drucke sein. Allerdings sind mit diesem grundsätzlichen Konsens die ,Probleme der Textkonstitution‘ keineswegs geklärt, noch entfällt die textkritische Aufgabe des Editors. Ohne hier noch einmal die Grundsatzfrage „Was ist – in editorischer Hinsicht – ein Brief?“ aufwerfen zu wollen, erscheint es doch für das anstehende Thema unumgänglich, einige Aspekte der Bestimmung des Genres hervorzuheben. Seit Mitte der 1970er Jahre hat sich unter Editoren zunehmend durchgesetzt, Briefe als ‚persönliche Dokumente‘ zu behandeln, was nicht unwesentlich zur Aufwertung des Genres für die Editionsphilologie beigetragen hat.10 Gemeint sind hier die sogenannten ‚Privatbriefe‘, in der Terminologie der Briefforschung auch als ‚eigentliche‘ Briefe bezeichnet, d. h. Briefe in ihrer eigentlichen Verwendung als Medium der schriftlich fixierten Kommunikation, im Unterschied etwa zu literarisch-fiktiven, also ‚uneigentlichen‘ Briefen.11 Im Unterschied zu poetischen oder wissenschaftlichen Werken, die in der Regel durch den Druck vermittelt an die Öffentlichkeit gelangen, sind Briefe nicht von vornherein für die Veröffentlichung vorgesehen, sondern an einen oder an mehrere bestimmte Adressaten gerichtet: Die Eigenart dieser sogenannten Lebenszeugnisse besteht also darin, daß ihre Texte jeweils in der äußeren graphischen und materialen Gestalt rezipiert werden, in der sie vom Schreiber geschrieben wurden. Die Wahrnehmungsweise des Autors ist zugleich die des von ihm bestimmten Lesers. Auf diese kann der Autor als Schreiber durch Wahl und Zurichtung des Textträgers, durch die Art des Schreibens, die Ausführung des Schriftbildes u. ä. unmittelbar einwirken. 12

Dennoch ist auch die Edition von Briefen eine Edition von Texten, was zunächst bedeutet, zwischen dem Text des Briefes und dessen materiellem Träger, also z. B. dem Papier, auf dem sich die Handschrift einer Ausfertigung befindet, zu unterscheiden.13 Diesen Unterschied besonders hervorzuheben, ist deshalb angebracht, weil mit der Bezeichnung ‚Brief‘ ja eigentlich immer beides gemeint ist, der materielle Textträger und der Text selbst. Die Aufgabe des Editors besteht darin, zu entscheiden, was für den ‚Text‘ des Briefes Signifikanz besitzt und daher bei dessen Konstituierung in der Edition berücksichtigt werden muß. Wenn Hans Zeller auch zuzustimmen ist, daß „die nichtsprachlichen Elemente in einem Brief ungleich wichtiger“ sind, „als in einem Werkentwurf, weil sie in der brief-

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Vgl. Behrens 1975/1987 (Anm. 5), S. 188. Vgl. u. a. Heinz Becker: Die Briefausgabe als Dokumentenbiographie. In: probleme der brief-edition 1977 (Anm. 4), S. 11–25; Winfried Woesler: Der Brief als Dokument. In: Ebd., S. 41–59. Vgl. Nickisch 1991 (Anm. 6), S. 19–22. Klaus Hurlebusch: Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuch- und Briefedition. In: editio 9 (1995), S. 22. Vgl. Jürgen Gregolin: Briefe als Texte. Die Briefedition. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 64. Jg. (1990), S. 756–771.

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lichen Kommunikation unvermeidbar zu Zeichen werden, d. h. weil sich damit Bedeutung verbindet“,14 so sind sie doch für die Konstituierung des Textes unterschiedlich zu bewerten, nicht nur weil ihrer typographischen Transkription im Druck von vorneherein Grenzen gesetzt sind. Selbst in einer Faksimileedition ist es unmöglich, sämtliche bedeutungstragenden nonverbalen Elemente zu reproduzieren, von der Frage einmal ganz abgesehen, wie sinnvoll dieser Versuch überhaupt wäre. Dies betrifft die Beschaffenheit des Textträgers ebenso wie die Art und Weise seiner Beschriftung, die Schrift selbst und auch das Schreibmaterial. Der Text eines Briefs kann auf einem Foliobogen von grobem Konzeptpapier stehen, der nur zur Hälfte beschrieben wurde, auf feinem randlos beschriebenen Briefpapier im Oktavformat oder auf einem schmalen Papierstreifen, der von einem größeren Blatt abgerissen wurde. Es kann ein umrändertes Zierblättchen benutzt worden sein oder ein Briefbogen mit Trauerrand; ein Brief kann gleichmäßig oder flüchtig, mit Tinte oder Bleistift geschrieben sein. So sind z. B. die ersten beiden überlieferten Briefe des knapp fünfzehnjährigen Goethe auffallend gleichmäßig geschrieben, sie weisen keinerlei Korrekturen auf und entsprechen auch in der äußeren Form den Vorgaben zeitgenössischer Briefsteller. Gerichtet waren sie an den nur zwei Jahre älteren Ludwig Ysenburg von Buri. Goethe bat darin um Aufnahme in die Arcadische Gesellschaft zu Phylandria, einen nach dem Vorbild geheimer Gesellschaften organisierten literarisch-geselligen Kreis von jungen Leuten aus dem hessischen Adel und gehobenen Bürgertum. Die Briefe an Buri unterscheiden sich allein von ihrem Äußeren ganz erheblich von anderen frühen Briefen Goethes wie z. B. denen an die Schwester Cornelia, bei deren Anblick Goethe später, wie eingangs zitiert, schon vor der „unglaublichen Vernachlässigung der Handschrift“ erschrak. (Abb. 1 und 2, Seite 60 und 61) All dies signalisiert noch vor dem Entziffern des Textes eine bestimmte Botschaft und ist somit bedeutungstragend, muß also in der Edition mitgeteilt werden. In die Konstituierung des Textes jedoch können diese hier beschriebenen äußeren Merkmale des Briefs keinen Eingang finden. Sie sind statt dessen Gegenstand der Kommentierung, das heißt, über sie muß im Abschnitt Überlieferung des Kommentarteils präzise Auskunft gegeben werden. Anders zu verfahren ist mit der Wiedergabe der räumlichen Verteilung des Geschriebenen auf dem Textträger. Im Text eines Briefs können zur gedanklichen Gliederung sowohl Einrückungen am Zeilenanfang, Leerzeilen und Spatien vorkommen. Es ist unmöglich, sicher zu entscheiden, ob ein Spatium zwischen zwei Sätzen adäquat dieselbe Funktion der gedanklichen Gliederung des Textes besitzt, die im Druck mit einem Absatz wiederzugeben wäre. Ein Leerraum innerhalb einer Zeile könnte z. B. auch eine Lesepause evozieren, die die Aufmerksamkeit des Rezipienten stärker auf das nachfolgend Geschriebene lenkt, selbst wenn dies der Inhalt nicht unbedingt zu erfordern scheint. An anderen Stellen setzt der Autor hier möglicherweise einen Gedankenstrich. Spatien einmal als Absätze wiederzugeben oder sie an anderer Stelle,

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Hans Zeller: Authentizität in der Briefedition. Integrale Darstellung nichtsprachlicher Informationen des Originals. In: editio 16 (2002), S. 37; vgl. auch Hurlebusch 1995 (Anm. 11), S. 22.

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wo vom Inhalt her scheinbar kein Absatz angebracht ist, einfach wegzulassen, käme einem Eingriff des Editors in die Struktur des Textes gleich, die keineswegs nur der „bedeutungslose Niederschlag der Entstehungsbedingungen“ 15 sein muß. Sicher ist auch hier eine ‚urkundliche‘ oder ‚diplomatische‘ Nachbildung durch den Druck weder möglich noch anzustreben, wohl aber eine ‚strukturelle‘ Entsprechung. Analog sind Einrückungen und Leerzeilen am Briefanfang und -schluß zu behandeln, deren vielfältige Variationen vom Schreiber eingesetzt wurden, um eine zwar nonverbale, immerhin aber graphisch ausgedrückte Botschaft zu vermitteln. Sie sind demnach konstituierende Elemente der Bedeutung, was ihre ‚strukturelle‘, nicht ‚diplomatische‘ Wiedergabe in der Edition erfordert. So signalisiert z. B. im Schluß des Briefs an Buri der vergleichsweise große Abstand zwischen Briefende und Grußformel den – ironisch übertriebenen – Respekt des ‚Bittstellers‘ Goethe gegenüber dem ‚Argon‘ der ‚Arcadischen Gesellschaft‘. Daß sich der Brief an Buri in der Staffelung und dem räumlichen Abstand seiner Devotionsformel an das Schema zeitgenössischer Briefsteller hält, spricht nicht gegen deren ‚strukturelle‘ Nachbildung in der Edition. Die Wiedergabe des Textes dagegen sollte diplomatisch, also buchstaben- und satzzeichengetreu, erfolgen. Das bedeutet, auf Eingriffe in Lautstand, Orthographie und Interpunktion zu verzichten, fehlende Wörter, Buchstaben oder Satzzeichen nicht zu ergänzen und Konjekturen nur in den Erläuterungen vorzunehmen. Was auf den ersten Blick ein ‚belangloses‘ oder ‚offenkundiges‘ Schreibversehen zu sein scheint, erweist sich vielleicht bei näherer Prüfung und bei besserer Kenntnis als mundartliche Variante oder als individuelle Eigenart. Zum Beispiel erwähnt Goethe in seinen Briefen an Johann Christian Kestner zweimal Lottes „Blaugestrieften Nachtjack“ (Briefe vom 27. Oktober 1772 und vom 12. Juni 1773). In beiden Fällen ‚verbessert‘ die Weimarer Ausgabe zu „blaugestreiften“,16 obgleich die Textgrundlage die Handschriften der Ausfertigungen waren. Zur Textkonstitution heißt es in den Lesarten zu Band 1 der Briefabteilung der Weimarer Ausgabe: „Der Abdruck ist ein buchstäblich treuer […]“, der sich allerdings „von einem blossen Rohdruck durch die Verbesserung belangloser Schreibfehler und störender Nachlässigkeiten“ unterscheide.17 Tatsächlich handelt es sich hier aber nicht etwa um einen Flüchtigkeitsfehler, sondern um die mundartlich eingefärbte Wortform „gestrieft“ für „gestreift“, von „Striefe“, d. h. „Streifen“.18 Analoges gilt für die Formen: „eimal“, „eigedrückte“, „eifach“ oder „eistweilen“ in Goethes frühen Briefen an Buri, an die Schwester Cornelia oder an Johann Jacob Riese. Alle diese für das Frankfurter Deutsch des ‚jungen Goethe‘ charakteristischen Formen sind z. B. in der Weimarer Ausgabe, die nach den Handschriften druckt, ‚verbessert‘.19 Aber auch Schreibversehen oder Fehler berechtigen nicht zu einer ‚Verbesserung‘ im edierten Text. Anzuführen wäre hier z. B. die

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Gregolin 1990 (Anm. 12), S. 760. Vgl. WA IV 2 (1887), S. 92,10 f., Nr 157 und S. 32,23, Nr 103. WA IV 1 (1887), S. 265. Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. 4. Bd. Leipzig 1801, S. 450. Vgl. WA IV 1 (1887), S. 2,10 und S. 2,23, Nr 1; S. 21,77, Nr 8; S. 80,17, Nr 21; S. 108,20, Nr 28.

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uneinheitliche und nicht nur aus heutiger Sicht absolut unübliche Groß- und Kleinschreibung von Substantiven und Eigennamen in Goethes frühen Briefen oder die orthographische und grammatische Fehlerhaftigkeit fremdsprachiger Texte. Nach der Handschrift ediert lautet z. B. eine Stelle in Goethes Brief an Kestner vom 25. April 1773: „In 14 tagen sind wir all auseinander, […] / Ich hab hansens brief kriegt und euer Nachschreiben.“,20 die Weimarer Ausgabe ‚korrigiert‘ zu „In 14 Tagen“ und „Hansens Brief“.21 Goethes Französisch oder Englisch in den Briefen an Cornelia oder an Behrisch zu korrigieren, würde heute vermutlich keinem Editor in den Sinn kommen, weshalb also sollten ‚Verbesserungen‘ in den deutschsprachigen Texten vorgenommen werden? Die Schreibweise des ‚jungen Goethe‘ zeichnet sich durch eine – wie es Albrecht Schöne mit Bezug auf die frühe Fassung des Faust charakterisierte – „geradezu ‚genialische‘ Regellosigkeit“ aus, die „kaum nur als belanglose Äußerlichkeit zu verstehen ist“.22 Eine wie auch immer begründete Vereinheitlichung oder ‚Verbesserung‘ des Textes würde dessen Authentizität beeinträchtigen. Als eher untergeordnetes Problem, auf das hier aber doch kurz eingegangen werden soll, erscheint die typographische Nachbildung des Wechsels zwischen lateinischer und deutscher Schrift. Für deren Wiedergabe spricht zunächst, daß nicht sicher zu entscheiden ist, ob es sich z. B. bei Eigennamen nur um eine sogenannte ‚Schreibkonvention‘ oder um eine Hervorhebung handelt. In den weitaus meisten Fällen aber wird durch den Wechsel zur lateinischen Schrift signalisiert, daß der Schreiber lateinisch geschriebene Wörter noch als ‚fremdsprachlich‘ empfand. Auch dies kann als Information für den Rezipienten einer Briefedition durchaus von Bedeutung sein und sollte daher nicht unterschlagen werden. Streichungen und Korrekturen gehören bei Briefen unmittelbar zum Text. Der ‚interne Status‘ der Brieftexte, die in der Regel nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen waren, spricht dafür, die Varianten im ‚edierten Text‘ und nicht etwa in einem gesonderten Variantenapparat im Kommentar mitzuteilen, was suggerieren würde, daß es – wie bei einem Werk – eine ‚letzte Fassung‘ des Briefes gäbe, die vom Autor für die Veröffentlichung ‚bestimmt‘ war. Die geschichtlich existierende Form von (unveröffentlichten) Brieftexten erlaubt innerhalb der Edition keine Trennung in Texte und Varianten: die Varianten des Brieftextes sind Negationen seiner Intention; als deren Kontraste im Text sind sie Elemente der Struktur als der Simultanität von Fassungen. Und vertritt das Konzept den fertigen Brief, ist die strukturelle Äquivalenz der Entwicklungsstufen ohnedies die überlieferte Form.23 Damit ist zugleich auf den funktionalen Unterschied der Variantendarstellung in einer Briefedition im Vergleich zur genetischen Textdarbietung in einer Werkedition verwiesen. Eine Hierarchisierung der Varianten in ‚bedeutungstragend‘ und ‚belanglos‘ ist dabei aus genau denselben Gründen abzulehnen, die Eingriffe in Orthographie oder In-

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H: GSA 29/264 I, 2, 31 f. WA IV 2 (1887), 83,14 und 83,22. Albrecht Schöne, Faust. Frühe Fassung (FA I 7/2, 83). Gregolin 1990 (Anm. 12), S. 768.

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terpunktion sowie jede Art von ‚Verbesserungen‘ oder gar Konjekturen im edierten Text verbieten. Die Bewertung der Varianten sollte letztlich die Angelegenheit des Rezipienten sein, nicht die des Editors. Wie verschiedene Beispiele aus dem ersten Band der Goethe-Briefe zeigen, ist die Differenzierung zwischen eigenhändigen Korrekturen oder Streichungen und Eingriffen von fremder Hand mitunter schwierig. So weist die Handschrift des Briefes an Johann Christian Kestner vom 14. April 177324 auf der Rückseite eine sich über 6 Zeilen erstreckende Streichung mit breit gedrückter Feder auf.25 (Abb.3, Seite 62) Im Erstdruck von 1854 fehlt der gestrichene Text wie auch ein Hinweis auf die Streichung.26 Die Weimarer Ausgabe druckt in diesem Fall nach dem Erstdruck, da die Handschrift in der damals bei den Nachkommen Kestners aufbewahrten Sammlung fehlte.27 Bisher konnte nur vermutet werden, daß die Streichung mit breitgedrückter Feder von fremder Hand vorgenommen wurde, so zum Beispiel in der dritten Auflage des Jungen Goethe.28 Dem widersprach 1970 Hans Böhm: Zunächst aber zeigt ein Vergleich der Handschriften der Briefe Goethes an Kestner mit den Erstdrucken bei anderen, sogenannten ‚anstößigenǥ Stellen – wie z. B. ‚Der Scheiskerl in Giessen‘ im Brief vom 25. Dezember 1772 oder ‚Die Zugaben tähtet ihr wohl den Arsch dran zu wischen‘ im Brief vom 11. April 1773 –, die August Kestner milderte in ‚Der …kerl in Giessen‘ bzw. ‚Die Zugabe braucht wie es euch beliebt‘, daß er keine Eingriffe in die Handschriften vorgenommen hat […].29

Außerdem führt Böhm noch weitere Streichungen in zwei anderen Briefen Goethes30 an, die äußerlich der im Brief an Kestner vom 14. April 1773 gleichen.31 Die hier auf-

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Bisher 15. April 1773. – Die Datierung folgt Kestners Empfangsvermerk (vgl. Anm. 24) in Verbindung mit dem Inhalt: Der Brief wurde am Abend geschrieben, konnte also erst am Morgen des folgenden Tages befördert werden. Kestner hatte ihn laut Empfangsvermerk am 16. April 1773 erhalten, d. h. er war am 15. abgeschickt und am Abend des 14. April geschrieben worden. H: GSA 29/264,I,2, Bl. 28. 1 Bl. 19 u 23,3 (–23,5) cm, zweiseitig beschrieben, eigenhändig, Tinte; Papier am linken Seitenrand restauriert; Vorderseite oben links Empfangsvermerk von Kestners Hand, Tinte: „acc. W. 16. Apr. 73. von Frckfurt“. Vgl. Goethe und Werther. Briefe Goethe’s, meistens aus seiner Jugendzeit, mit erläuternden Documenten. Hrsg. von A[ugust] Kestner. Stuttgart und Tübingen 1854, S. 159–161, Nr. 68. – Der Brief wurde unverändert auch in der zweiten Auflage von 1855 gedruckt (S. 157–159, Nr. 66). Vgl. WA IV 2 (1887), 80–82, Nr. 144, Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 (1912), 207; unvollständig nach dem Erstdruck von 1854. – Die gestrichene Stelle wurde zuerst von Otto Günther in Bd. 14 des Goethe-Jahrbuchs von 1893 (S. 161) gedruckt. Im Zusammenhang mit dem Brieftext erschien sie vollständig zuerst in dem von Eduard Berend herausgegebenen Briefwechsel Goethes mit Charlotte und Johann Christian Kestner; vgl. Goethe, Kestner und Lotte. Briefwechsel und Äußerungen. München 1914, S. 43–45, Nr. 45, hier allerdings ohne Hinweis auf die Streichung. Vgl. Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Berlin 1966–1974, Bd. 3, S. 418, zu Nr. 153. Vgl. Hans Böhm: Aus der Arbeit der Neuen Weimarer Ausgabe der Briefe und Tagebücher Goethes. In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft. Bd. 32 (1970), S. 315; vgl. insgesamt S. 314–316. Goethe an Elisabeth Jacobi, ; bisherige Datierung: ; vgl. WA IV 2 (1887), S. 144–146, Nr. 206; Goethe an Johann Christian Kestner; 2. Mai 1783; vgl. WA IV 6 (1890), S. 156 f., Nr 1727.

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geführten Argumente erschienen bislang durchaus überzeugend. Aufgrund einer Untersuchung der Tinten des Brieftextes und der Streichung mit Hilfe der Röntgenfluoreszenzanalyse, die Oliver Hahn 2003 im Goethe- und Schiller-Archiv vorgenommen hat, kann nunmehr als gesichert gelten, daß die Streichung im Brief an Kestner aus einer späteren Zeit stammt.32 Sie kann frühestens etwa vierzig Jahre nach der Niederschrift des Briefes erfolgt sein. Wie die Analyse ergab, enthält die Tinte, mit der die Streichung ausgeführt wurde, große Mengen an Chrom. Chrom wurde als Element erst 1797 entdeckt und aufgrund seiner farbgebenden Eigenschaften erst ab etwa 1809 für die Herstellung von Farbpigmenten verwandt. Es ist daher anzunehmen, daß die Streichung 1854 von August Kestner, dem ersten Herausgeber des vorliegenden Briefes, vorgenommen wurde. Für die Textkonstitution in der neuen Ausgabe bedeutet dies, den Brieftext mit der gestrichenen, allerdings noch lesbaren Stelle abzudrucken. Auf die Streichung wird im Kommentar verwiesen. Allerdings sind für Goethes Briefe – wie für die anderer Autoren auch – oftmals authentische Texte nicht überliefert. Vielfach muß auf Drucke zurückgegriffen werden, deren Texte ‚nicht autorisiert‘ sind, die also vom Autor weder ausdrücklich noch stillschweigend gebilligt wurden. Sind mehrere Drucke vorhanden, müssen deren Texte selbstverständlich kritisch geprüft werden, um den Text mit dem höchsten Grad an Authentizität zu ermitteln. Auf die Unzulänglichkeiten der gedruckten Überlieferung von Goethes Briefen wies Ende des 19. Jahrhunderts bereits Friedrich Strehlke hin.33 Am Beispiel der 1837 erschienenen ersten Gesamtausgabe von „Goethe’s Briefen“ des „vielgenannten Kompilators“ Heinrich Döring34 beschreibt Strehlke die textkritischen Mängel der frühen Drucke: Der Text wird bisweilen willkürlich geändert, mehrere Briefe sind in einen zusammengezogen, gelegentlich gegebene Notizen sind unzuverlässig […]. Als besondere Eigenthümlichkeit verdient aber hervorgehoben zu werden, daß Döring sich bisweilen nicht scheut, eigene Zusätze zu machen. 35

Dennoch sahen sich die Mitarbeiter der Briefabteilung der Weimarer Ausgabe gezwungen, darunter auch Friedrich Strehlke selbst, bei ca. einem Drittel aller mitgeteilten Texte auf einen dieser frühen Drucke zurückzugehen. Gerade in diesem Bereich ist die durch die historisch-kritische Neuausgabe zu erwartende Textrevision erheb-

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„Die drei einander sehr gleichenden Tilgungen, die mit breitgedrückter Feder und – soweit feststellbar

– auch mit der gleichen Tinte erfolgten, die für den Text benutzt wurde, sind von niemand anderem als von Goethe selbst noch vor dem Absenden der Briefe vorgenommen worden.“; siehe Böhm 1970 (Anm. 26), S. 315. Zur Untersuchungsmethode vgl. Oliver Hahn, Wolfgang Malzer, Birgit Kanngießer und Burkhard Beckhoff: Characterization of Iron Gall Inks in Historical Manuscripts using X-Ray Fluorescence Spectrometry. In: X-Ray Spectrometry (2004) Vol. 33. Vgl. Goethe’s Briefe. Verzeichniß unter Angabe von Quelle, Ort, Datum und Anfangsworten. – Darstellung der Beziehungen zu den Empfängern. – Inhaltsangaben. – Mittheilung von vielen bisher ungedruckten Briefen. Hrsg. von Friedrich Strehlke. 3 Bde. Berlin 1882–1884. Vgl. Goethe’s Briefe in den Jahren 1768 bis 1832. Hrsg. von Dr. Heinrich Döring. Ein Supplementband zu des Dichters sämmtlichen Werken. Leipzig 1837. Strehlke 1882 (Anm. 32), Bd. 1, S. 5 f.

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lich, da seit dem Erscheinen der Briefabteilung weit mehr als tausend Ausfertigungen zu Briefen ausfindig gemacht werden konnten, die in der Weimarer Ausgabe nach früheren Drucken wiedergegeben werden mußten.36 – Doch auch in der neuen Ausgabe der Goethe-Briefe müssen Texte nach nicht autorisierten Drucken ediert werden, im ersten Band wird dies allerdings die Ausnahme sein. Der Text der Vorlage ist auch in diesen Fällen im Prinzip diplomatisch wiederzugeben, allerdings mit der Ausnahme, dass offensichtliche Druckfehler vom Typ ‚nnd‘ für ‚und‘ emendiert werden. Die Textgrundlage wird im Briefkopf des Editors mitgeteilt. Kompilationen verschiedener Druckfassungen wie auch Restitutionen durch den Editor sind abzulehnen, sind doch alle […] Versuche, die wahrscheinlich ursprüngliche Textform zu rekonstruieren, […] vergleichsweise ebenso hoffnungslos wie solche, mit Hilfe des Goethe-Wörterbuchs und unter Beobachtung Goethescher Interpunktionsgewohnheiten noch einige ‚Divan‘-Gedichte zu produzieren. Spontaneität ist nicht rekonstruierbar, nicht zuletzt wegen der im 18. und 19. Jahrhundert noch wohltuend unreglemtierten Rechtschreibung und Zeichensetzung […].37

Wie die dargestellten Probleme der Textkonstitution in der editorischen Praxis gelöst werden könnten, soll abschließend an einem konkreten Beispiel aus der in Vorbereitung befindlichen historisch-kritischen Goethe-Briefausgabe gezeigt werden. Der erste Band wird die Briefe Goethes aus den Jahren 1764 bis Ende Oktober 1775 enthalten, darunter die Briefe an die Schwester Cornelia. Insgesamt sind nur dreizehn Briefe Goethes an Cornelia überliefert. Bis auf den ersten stammen alle aus der Leipziger Studentenzeit. Daß sie nicht verloren gingen, ist nach Goethes eingangs zitierter Auskunft in Dichtung und Wahrheit wohl vor allem Johann Caspar Goethe zu danken, der sie nicht nur „sorgfältig gesammlet und geheftet“, sondern der darin auch stilistische und orthographische Korrekturen und sogar Ergänzungen vorgenommen hatte.38 Offenbar noch in der vom Vater vorgenommenen Ordnung muß das Konvolut der Briefe an Cornelia aus dem Nachlaß Catharina Elisabeth Goethes in den Besitz des Dichters nach Weimar gelangt sein.39 (Abb. 4 – 6, Seite 63 – 66)

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37 38 39

Vgl. dazu die Angaben zur Handschriften- und Drucküberlieferung in: Goethe-Briefe: Johann Wolfgang Goethe: Repertorium sämtlicher Briefe 1764–1832. Hrsg. von der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen/Goethe- und Schiller-Archiv. Bearbeitet von Elke Richter unter Mitarbeit von Andrea Ehlert, Susanne Fenske, Eike Küstner und Katharina Mittendorf. Begründet von Paul Raabe an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Gefördert von der Alfried Krupp von Bohlen und HalbachStiftung, mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (http://www.klassik-stiftung.de/forschung/online-datenbanken.html). Behrens 1975/1987 (Anm. 5), S. 188 f. Vgl. Anm. 2. Die Genauigkeit, mit der Goethe den Inhalt und das Äußere der Briefe beschreibt, läßt darauf schließen, daß sie ihm 1812 bei Abfassung des zweiten Teils seiner Autobiographie vorlagen. Die Antworten Cornelias wie auch ihre späteren Briefe an den Bruder sind nicht überliefert. Möglicherweise fielen die aus der Zeit von 1765 bis zur Rückkehr Goethes nach Frankfurt Ende August 1768 stammenden Briefe schon dem „großen Haupt-Autodafé“ vom Frühjahr 1770 zum Opfer, über das Goethe im Achten Buch von Dichtung und Wahrheit berichtet: „Mehrere angefangene Stücke […], nebst vielen andern Gedichten, Briefen und Papieren wurden dem Feuer übergeben, und kaum blieb etwas verschont außer dem Manuskript von Behrisch, die Laune des Verliebten und die Mitschuldigen […].“ Siehe Anm. 2, Bd. 1, S. 291,9–14.

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Die Handschrift des Goethe-Briefes an Cornelia und Johann Caspar Goethe vom 12. und 13. Oktober 1765 weist nicht nur die oben schon beschriebene „geradezu ‚genialische‘ Regellosigkeit“ in Orthographie und Interpunktion auf, sie ist auch zunehmend flüchtig geschrieben und gegen Ende vielfach korrigiert. Zudem trägt sie Zusätze von fremder Hand, bei denen es sich wahrscheinlich um Ergänzungen Johann Caspar Goethes handelt, z. B. wurde auf der ersten und der dritten Seite der Absendeort hinzugefügt, ebenso auf S. 3 das Jahr. Auch in diesen Fällen konnte mit Hilfe der Röntgenfluoreszenzanalyse nachgewiesen werden, daß die Zusammensetzung der Tinten, mit denen der Brief und die genannten Zusätze geschrieben wurden, unterschiedlich sind. Im Abdruck des Briefes in der Weimarer Ausgabe40 wurde aus der stark korrigierten, ungleichmäßigen Handschrift ein glatter Drucktext: Scheinbar „belanglose Schreibfehler und störende Nachlässigkeiten“ wurden ‚verbessert‘ oder vereinheitlicht. Lateinische Schrift der Vorlage wird im Druck durch Antiqua wiedergegeben. Handschriftliche Ergänzungen, die wahrscheinlich von Johann Caspar Goethe stammen, wurden ebenso ausgeschieden wie die Ergänzungen des Ortes. Ausgewählte Varianten werden in den sogenannten Lesarten mitgeteilt, gleichfalls einige der ‚Verbesserungen‘ nachgewiesen.41 Der Abdruck in der dritten Auflage des Jungen Goethe von Hanna Fischer-Lamberg42 gilt gegenüber der Weimarer Ausgabe als ‚authentischer‘. Er wurde daher unverändert von neueren Studienausgaben übernommen.43 Entsprechend den Editionsprinzipien der Ausgabe, die nicht den Anspruch erhebt, historisch-kritisch zu edieren, werden bei Fischer-Lamberg Varianten generell nicht mitgeteilt, d. h. auch in den Anmerkungen erfolgt kein Hinweis auf Korrekturen oder Streichungen. Ohne Varianten erscheinen z. B. auch die lateinischen Textstellen in Goethes Brief an Cornelia und den Vater, die in der Handschrift viele Verbesserungen aufweisen, was auf die sprachliche Unsicherheit des sechzehnjährigen Studenten schließen läßt. Die Zusätze Johann Caspar Goethes sind erkannt und ausgeschieden. Lateinische Schrift der Vorlage wird im Druck nicht kenntlich gemacht. Gegenüber den bisherigen Ausgaben wird sich die Textkonstitution in der neuen Ausgabe in mehrfacher Hinsicht unterscheiden. Die Beschreibung der Handschrift, d. h. Angaben zum Textträger, zur Art der Beschriftung und zum Schreibmaterial, erfolgt im Abschnitt Überlieferung des Kommentars:

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Vgl. WA IV 1 (1887), S. 8–11, Nr 4. Vgl. WA IV 1 (1887), S. 268. Vgl. Fischer-Lamberg 1 1963 (Anm. 27), S. 81–83, Nr 5. Vgl. u. a. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Karl Eibl u. a. Bd. 1: Von Frankfurt nach Weimar. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 bis 30. Oktober 1775. Hrsg. von Wilhelm Große. Frankfurt/Main 1997, S. 15–17, Nr. 5 (Frankfurter Ausgabe. Bd. 28).

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5. An Cornelia und Johann Caspar Goethe , 12. und 13. Oktober 1765o ÜBERLIEFERUNG H: GSA Weimar, Sign.: 37/VIII,17, Bl. 1 und 3–5. – 2 Doppelblätter 17,6 (–18,1) u 20,8 (– 21,1) cm, ineinandergelegt, restauriert, S. 1 egh. Adresse: Madmoiselle / Madmmoiselle Goethe, Tinte, rote Siegelreste, S. 3–6 ganzseitig beschr., egh., Tinte, teilweise sehr flüchtig geschrieben; S. 7 u. 8 jeweils 2/3 beschr.; Ergänzungen von Johann Caspar Goethe, Tinte: 1,1 vor dem Datum „Leipzig“, 1,30 vor dem Datum „Leipzig“. – In einem Konvolut mit Beschriftung von Kräuters Hd (auf der ersten S. des Briefes Nr 5 über der Adresse): „Goethe’s Briefe von der Akademie Leipzig an seine Schwester v. d. J. 1765–67.“, rechts oben von Kräuters Hd: „25.a.“ (Zählung in Kräuters Repertorium, Rubrik „Correspondenz“); bis zur Restaurierung 1995 waren die Briefe geheftet und mit einem Einband versehen; die Foliierung vermutlich nach der Anordnung der Briefe durch Johann Caspar Goethe. E: Ludwig Geiger: Fünfzehn Briefe Goethes an seine Schwester. 21. Juni 1765 bis 14. Oktober 1767. In: GJb VII (1886), 5–8., Nr 2. WA IV 1 (1887), 8–11, Nr 4.

Auf ‚Verbesserungen‘ im Text wird generell verzichtet, lateinische Schrift der Vorlage wird in Groteskschrift wiedergegeben, Ergänzungen von fremder Hand werden ausgeschieden. Die auffallendste Veränderung im Vergleich zu bisherigen Ausgaben besteht sicher darin, daß Varianten im Textteil erscheinen, und zwar in einer Form, wie sie ähnlich z. B. auch Hans Zeller für Briefausgaben vorschlägt:44 Streichungen werden als Streichungen wiedergegeben, Einfügungen durch Zeichen kenntlich gemacht, ebenso die Position, an der eingefügt wurde, Überschreibungen werden durch Petit- und Fettdruck gekennzeichnet. Die Varianten werden nicht in den Text integriert, sondern unterhalb des Textes mitgeteilt. Die hier vorgestellte Art der Textkonstitution ist der Versuch eines Kompromisses, der sowohl editionswissenschaftlichen Ansprüchen genügt als auch der Tatsache Rechnung trägt, daß es sich bei der Edition von Goethes Briefen um eine Ausgabe handeln wird, die nach Möglichkeit ähnlich große Verbreitung finden soll wie die Weimarer Ausgabe, sich also nicht auf einen wissenschaftlichen Benutzerkreis beschränkt. (Abb. 7 und 8, Seite 66 und 67)

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Vgl. Zeller 2002 (Anm. 13), S. 40–42.

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Abb. 1: Goethe an Ludwig Ysenburg von Buri; Frankfurt am Main, 2. Juni 1764, S. 1 H: Universitätsbibliothek Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 2, Bl. 32–33.

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Abb. 2: Goethe an Ludwig Ysenburg von Buri; Frankfurt am Main, 2. Juni 1764, S. 3 H: Universitätsbibliothek Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 2, Bl. 32–33.

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Abb. 3: Goethe an Johann Christian Kestner, Frankfurt a. M., 14. April 1773, Rückseite – H: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 28.

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Abb. 4: Goethe an Cornelia und Johann Caspar Goethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765, S. 1 – H: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign.: 37/VIII,17, Bl. 1–4.

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Abb. 5: Goethe an Cornelia und Johann Caspar Goethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765, S. 3 – H: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign.: 37/VIII,17, Bl. 1–4.

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Abb. 6: Goethe an Cornelia und Johann Caspar Goethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765, S. 4 – H: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign.: 37/VIII,17, Bl. 1–4.

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Abb. 7: Goethe an Cornelia und Johann Caspar Goethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765 (Ausschnitt) – Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Band 1 I. Berlin 2008, S. 16 (mit freundlicher Genehmigung des Akademie Verlages Berlin).

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Abb. 8: Goethe an Cornelia und Johann Caspar Goethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765 (Ausschnitt) – Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Band 1 I. Berlin 2008, S. 17 (mit freundlicher Genehmigung des Akademie Verlages Berlin).

Ursula A. Schneider / Annette Steinsiek

Warum und unter welchen Umständen ist eine textkritische Bearbeitung von Briefen sinnvoll? Fragen und Antworten entlang der Arbeiten am Kommentierten Gesamtbriefwechsel Christine Lavants

Vorbemerkungen Briefe haben mehr als zwei Seiten auf einem Blatt. Sie sind biographische und kulturelle Dokumente, und manchmal gehen sie – selbst wenn sie nicht als Kunstgattung auftreten – in der poetischen Absicht und der sprachlichen Formung so weit, daß sie als literarisches Schaffen gelten können (selbst wenn dies nur für Abschnitte gilt). In der ‚Werkähnlichkeit‘ findet die editorische Frage nach der textkritischen Bearbeitung von Briefen ein erstes starkes Argument, denn ein kreativer Prozeß kann nur mit einer textkritischen Ebene anschaulich gemacht werden. Briefe sind im Hinblick auf die Textkritik zumeist wenig spektakulär, da sie für die EmpfängerInnen ohne Mühe lesbar und ästhetisch ansprechend sein sollten – es gibt also keine komplexen Streichungs- und Überschreibungsvorgänge. Eine Frage ist aber: Brachte die Autorin, der Autor, wenn auch mit einigen Verschreibungen, den Brief direkt auf das Papier – oder hat es Streichungs- und Überschreibungsvorgänge, hat es Entwürfe zu den Briefen gegeben, und sollten diese in eine Edition aufgenommen werden? Doch auch die abgesandten Briefe offenbaren mehr, als man auf Anhieb meinen würde. So lassen sich nicht nur vom Schriftbild, sondern vom ‚Verschreibungsfaktor‘ und ‚Korrekturfaktor‘ her Rückschlüsse auf den inneren Zustand und die äußere Situation der schreibenden Person ziehen, ebenso auf ihre Einschätzung der EmpfängerInnen. Die Intensität des Korrekturvorgangs – penibel oder gar nicht ausgeführt – gibt Hinweise auf die Art des Kontaktes. Man sieht in der textkritischen Darstellung ja nicht nur, was korrigiert, sondern ebenso, was belassen wurde. Vor allem im Vergleich von Briefen an verschiedene KorrespondenzpartnerInnen erschließt sich diese Ebene. Damit werden biographische Informationen bereitgestellt. Werden Werk, Briefe und ‚Lebensdaten‘ (Biographie) in einem hermeneutischen Zusammenhang verstanden, so wirkt dies in der Forschung synergetisch. Textkritik bei Briefen lohnt sich immer dann, wenn es um die langfristige wissenschaftliche Beschäftigung mit Werk und Leben der schreibenden Person geht. Diese Langfristigkeit bezieht sich gleichermaßen auf die investierte Forschungszeit wie auf die Brauchbarkeit der Arbeiten für die Zukunft. Ob die ‚Berühmtheit‘ einer Autorin, eines Autors

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den Aufwand lohnt, ist nur vordergründig interessant, entscheidend ist eher – natürlich nach fachlicher Einschätzung des Potentials – die innere Bereitschaft zur Beschäftigung. Für uns war es durchaus ein Wagnis, uns auf den Kommentierten Gesamtbriefwechsel Christine Lavants (KGCL) einzulassen, hieß das doch, sich bei nicht fester Anstellung der Dynamik eines Projektes mit zu Beginn unabsehbarer und im Verlauf veränderlicher Materialbasis zu stellen (vgl. 3.) und auf unabsehbare Zeit mit der Autorin verbunden zu sein. Daß der Brief eine für Christine Lavant bedeutsame Gattung darstellt, war unsere Ausgangsthese; wir sahen, mit welcher Intensität und sprachlichen Ambition sie ihre Briefe formulierte. Die Kenntnis ihrer Lebensumstände (vgl. 7.) sowie die Wahrnehmung, daß die Autorin in Briefen häufig ihre Schreibhemmung thematisiert, unterstützten die Vermutung, daß der Brief bei ihr in besonderer Weise literarisch angelegt sein könnte (vgl. 8., 9., 11.) – die Suche wurde aufgenommen.1 Zu Beginn der Arbeiten 1997 lagen nur wenige Briefkonvolute veröffentlicht vor (Gerhard Deesen, Hilde Domin, Ludwig Ficker [Auswahl], Ingeborg Teuffenbach). Nicht immer konnten wir bei der Suche auf ein zuverlässiges Verzeichnis zurückgreifen wie auf das von Ingrid Kussmaul für das Deutsche Literaturarchiv in Marbach erstellte. Die in Nachlässen enthaltenen Lavant-Briefe sind nicht in allen Archiven verzeichnet, geschweige denn die Verzeichnisse ins Netz gestellt gewesen, so daß die Nachlässe der bekannten oder im Laufe der Forschung wahrscheinlich oder auch nur möglich gewordenen KorrespondenzpartnerInnen genauer zu untersuchen waren. In anderen Fällen waren Briefe zwar verzeichnet, sie lagen aber in ungeordneten Nachlässen und mußten erst ausgehoben werden. Außerdem gab es die Briefe in privaten Institutionen, die nur bedingt der Forschung offen stehen (z.B. Stiftung BrücknerKühner, Wiener Diözesanarchiv, Verlagsarchive). Den weitaus größten Teil machen Briefe in Privatbesitz aus. Immer wieder gingen potentielle BesitzerInnen oder deren Nachkommen, mit Schriftproben ausgerüstet, auf die Pirsch in ihrem Revier. Manche umfangreichen und ungeordneten Nachlässe sahen wir Blatt für Blatt durch. Kurz: Zählen wir die oben erwähnten schlummernden Bestände in Archiven mit, waren 85% der Briefe von Christine Lavant vor Beginn unserer Arbeit nicht bekannt.2 Die Ausforschung und Zusammenführung der Briefe in einer Datenbank (v.a. Transkription, archivalische Beschreibung, Datierung) verschlang Zeit und Energie, an eine sinnvolle Kommentierung war erst nach einer überblicksartigen Ordnung des Materials zu denken. Umso beeindruckender war es dann auch für uns selbst, als nach fünf Jahren der ökonomische Wendepunkt zu spüren war: Die Briefe erhellten sich gegenseitig, fehlende Datierungen waren leichter zu ermitteln, der Aufwand des Kommentierens sank. Ein Portrait Christine Lavants trat immer deutlicher hervor, und Kontaktkreise, literar- und kulturhistorische Hintergründe wurden klarer. Die Mitteilung dieser Erfahrung von Ökonomie darf als wissenschaftspolitisches Statement aufgefaßt werden.

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Dem Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF danken wir für die umfassende Förderung: Im Oktober 2004 genehmigte er die Finanzierung einer dritten Projektphase. Wir danken an dieser Stelle allen Personen, die den Gesamtbriefwechsel durch ihre Mithilfe erst möglich machen.

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Derselbe ‚panoramische Prozeß‘ galt auch für die Brief-Texte, die wir, unabhängig von ihrer Mitteilung, zunehmend auch in ihrer Erscheinung mit ihren vielfältigen Elementen lesen lernten. Manche Verschreibungen ließen erkennen, daß der Brief vorgeschrieben worden war; bestimmte Korrekturen verrieten literarische Ambition. Schon oben erwähnten wir den Zusammenhang der Korrekturen mit einem inneren Zustand oder dem AdressatInnenbezug. Weitere Hinweise dazu finden sich in den folgenden Ausführungen. Der Erkenntnisgewinn scheint uns den Aufwand für die textkritische Ebene (Ausarbeitung der Editionsrichtlinien, entsprechend aufwendige Darstellung aller Briefe von Christine Lavant sowie ein höherer Aufwand beim Kollationieren) zu rechtfertigen. Natürlich würde nicht jedes Schreiben eine textkritische Behandlung verdienen. Der KGCL, der sich aus dokumentarischem und biographischem Interesse um jeden Brief bemüht, mag deshalb manchmal überzogen wirken. Doch sind gerade bei Christine Lavant die ‚offiziellen‘ Briefe auch von einer Entschiedenheit der Formulierung und Sprache getragen, daß sie diese Aufmerksamkeit verdienen. Die Frage nach der ‚Werkähnlichkeit‘ hat Relevanz auch in bezug auf die rechtliche Situation: Wird Textkritik mit der ‚Werkähnlichkeit‘ begründet, so wird sie zur wissenschaftlichen Expertise dafür, Briefe rechtlich wie Werke zu behandeln. Unsere Beobachtungen und Erfahrungen bei der Arbeit am KGCL möchten wir hier systematisiert anhand von Fragen wiedergeben.3 Wir hoffen, damit anderen HerausgeberInnen von Briefen Anregungen und Entscheidungshilfen anbieten zu können. Die Überlegungen beziehen sich dabei auf das elektronische Medium.4 Im Druck werden zwei Auswahlbände mit verknapptem Apparat erscheinen. Die Briefe von Christine Lavant werden textkritisch wie folgt dargestellt: In den hergestellten Text (blau und Book Antiqua für handschriftliche und kurrent geschriebene Briefe, blau und Arial für handschriftliche Briefe in lateinischer Schrift,5 schwarz und Arial für maschinengeschriebene Briefe) kann auf Wunsch die textkritische Ebene (grau) eingeblendet werden. Der hergestellte Text wird die Druckvorlage für die Auswahlbände bilden. Die Suche nach der bestmöglichen Wiedergabe des Originals im hergestellten Text ging einher mit der Suche nach der möglichst genauen Repräsentation des Originals auf der textkritischen Ebene, die textgenetische Prozesse sowie Emendationen der Herausgeberinnen transparent macht. Die textkritische Ebene unterscheidet zwischen Spät- und Sofortkorrekturen, sie stellt Einfügungen, Um-

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In „Poststempel: St. Stefan, Lavanttal. Die Briefe Christine Lavants“ (in: „Ich an Dich“. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hg. v. Werner M. Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 2001 [= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe Bd. 62], S. 247-263) wurde der KGCL vorgestellt und wurden seine inhaltlichen Aspekte ausgeführt, wobei bereits „Der Vorteil des ‚Gesamten‘“ bzw. einer „gewissen Menge von Material“ argumentativ zugrunde lag. Der vorliegende Aufsatz versteht sich als Vertiefung des dort lapidaren Satzes: „Die Betrachtung der Briefe auch als Werk begründet den textkritischen Ansatz der Ausgabe.“ (S. 258) – Alle nicht nachgewiesenen Zitate sind unveröffentlicht und stammen aus dem KGCL. Alle Briefe von Christine Lavant werden abgebildet; Ziel ist ein ‚virtuelles Archiv‘. – Weitere Informationen siehe Der KGCL in Stichworten. In: Homepage: http://www.uibk.ac.at/brenner-archiv (unter „Projekte“, „Arbeitsstelle Christine Lavant“, „Gesamtbriefwechsel“). Auf die Wiedergabe der Farbe und der Schrifttypen muß hier verzichtet werden.

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stellungen und Alternativvarianten dar. Die editorischen Richtlinien können hier nicht wiedergegeben werden, aber die im vorliegenden Aufsatz verwendeten diakritischen Zeichen seien kurz vorgestellt:6 #...# Tilgung (#...#handschr. handschr. Tilgung) \.../ Einfügung (\.../handschr. handschr. Einfügung) {{…}} HerausgeberInnenklammer // Abbruch wegen Blattrand {{x}} unleserliches Zeichen Œ Seitenumbruch Eine Sofortkorrektur wird als Tilgung ohne Einfügung dargestellt. Die ersten beiden Fragen (1. und 2.) betreffen den Werkcharakter der Briefe und ihren Zusammenhang mit dem „Werk“.7

1. Haben die Briefe Werkcharakter? Schon während der Fahrt zu Euch, ist mir die Verzauberung geschehen u. in der ersten Nacht dann hat man mir ja das Herz vertauscht. (#Sie# Ihr müßt meine Gedichte viel weniger als Gedichte denn als Wirklichkeiten betrachten!) – Ich die ich hier bin, bin ein ein#e# durch Eure Ausstrahlungen beeinflußtes beeinflußte\s/ hervorgerufenes Neues das immer um Euch sein wird. Ich kann es ja auch gar nicht mitnehmen irgendwo hin. Aus Eurem #{{x}}#\E/ure#n#\m/ Strahlungskreis herausgetan würde es vergehen u. auslöschen. {{.}} Wenn Ihr unter Euch Seid #s#\S/eid wundert Ihr Euch vielleicht über mein Benehmen das so wenig von Scheu u. Fremdheit weiß. Wo aber sollte ich Beides hernehmen? Bin ich doch wie ich bin aus Euch heraus entstanden wie man aus einer Heimat heraus entsteht heraus##//entsteht oder aus dem Mütterlichen. Das was von Euch gehen wird ist eine Fremde. Diese Fremde ist i#{{x}}s#\st/ mehr oder weniger zu bedauern. Sie wird in große Einsamkeiten eingehen. Aber da ist ihr nicht zu helfen. Sie wird so tun u. sich so gebärden als wüßte sie von Euch u. als bestünde von ihr zu Œ Euch ein Weg der nur begangen werden brauchte. Ja so wird sie vielleicht handeln. Oder: ? – ? – Wird sie Einsicht haben diese Fremde? – Und den starken Willen zur Wahrhaftigkeit. Und – – – Einen Stolz nichts anderes sein zu wollen als sie ist –: Eine Fremde! – Wenn sie das hätte u. es bis zu Ende durchführte so sehr durchführte, daß sie als letzte Folge sich schweigsam zu Euch verhielte wie es sich für eine Fremde geziemt. Wenn sie das vollbrächte die etwas eigentümliche ungewisse Frau Chr. H. – – – –. Dann, dann müßte ich ihr meine Achtung u. meine Freundschaft zur Gänze zuwenden. […] am 26.I.46. in. Klgf.

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Die editorischen Richtlinien wurden gemeinsam mit Wolfgang Wiesmüller erarbeitet, der den KGCL als FWF-Projektleiter in den Jahren 2000 bis 2003 mit fachlichem und freundlichem Einsatz betreute; ihm danken wir auch für die kritische Lektüre des vorliegenden Aufsatzes! Briefentwürfe und das Vorschreiben von Briefen können sowohl dem ästhetischen wie dem außerästhetischen Fragenkomplex zugeordnet werden. Bei Christine Lavant haben wir keine Hinweise auf einen diesbezüglichen ästhetischen Zusammenhang gefunden und behandeln das Thema deshalb an anderer Stelle (12.).

Warum und unter welchen Umständen ist eine textkritische Bearbeitung von Briefen sinnvoll?

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Betrachten wir diesen Ausschnitt aus dem Brief an Adolf Purtscher, Paula Purtscher und Gertrud Purtscher-Kallab vom 26.1.1946, so ergeben sich folgende Beobachtungen: Die Sprache ist durchaus manieriert und zeigt einen geradezu hypertrophen Gebrauch der Satzzeichen, die Christine Lavant ansonsten eher spärlich verwendet. Es wird außerdem eine fiktionale Kontaktebene aufgebaut: Der Brief duzt (Euch, Ihr), obwohl Christine Lavant die einzelnen Personen siezte (wie die anderen vorliegenden Briefe an diese Personen zeigen). Das „Euch“ und „Ihr“ ist als Plural auch bei Siez-Verhältnissen in der Umgangssprache möglich, doch im Schriftlichen nicht opportun: Christine Lavant kreiert damit eine Mischung aus familiärem Ton und pluralis majestatis, die an sich literarisch zu nennen ist. In diesem Sinne wird das „Sie“ mit „Ihr“ überschrieben, aber auch das „seid“ mit „Seid“. Christine Lavant literarisiert sich selbst, indem sie von sich in der dritten Person redet („Frau Chr. H.“ ist Frau Christine Habernig, ihr Ehename – zu dem Zeitpunkt hatte sie ihren Künstlerinnennamen noch nicht angenommen.) Datum und Ort stehen am Briefende – eine Angabe des Ortes ist bei ihren Briefen absolut außergewöhnlich, ebenso diese Plazierung des Datums. Der Brief steht inhaltlich in direkter Verbindung mit dem Gedicht Man hat mir heute Nacht mein Herz vertauscht. …8 (unveröffentlicht), auf das sie im Brief selbst verweist. Dieses ist von ihr datiert mit „23.1.46“ und wurde also drei Tage vor dem Brief geschrieben. Der Brief, geschrieben noch im Hause der Purtschers, kreist um diesen Aufenthalt, während dessen auch das genannte Gedicht entstanden ist. In gewisser Hinsicht liegt damit eine Selbsteinschätzung des Briefes als Werk vor: Sie schafft um sich und die Purtschers eine ‚literarische Zone‘, die das Werk und den Brief gleichermaßen generierte – und auch die ‚Dichterin‘ selbst, die sich in diesem Brief den Mythos ihrer Schöpfung schreibt!9 Im Nachlaß Christine Lavants gibt es zwei unveröffentlichte und undatierte Erzählungen mit dem Motiv der ‚Herzvertauschung‘. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie im selben Zeitraum entstanden (doch noch genauer zu prüfen) – vgl. dazu auch 2. Für die Charakterisierung des Sprachstils, nicht untypisch auch in anderen Korrespondenzen dieser Jahre, bietet ein Drittbrief einen treffenden, wenngleich etwas mißgünstigen Kommentar: Gertrud Kubczak, die Frau von Christine Lavants erstem Verleger, schreibt am 12.3.1947 an die Schriftstellerin Paula Grogger (in ihrem Haus haben sich Viktor Kubczak und Christine Lavant kennengelernt): „Ich kann zwar nicht solche Gedichte von Briefen schreiben wie meine Nebenbuhlerin Christine, aber ich will nur ein wenig mit Dir plaudern.“ Leider sind die sicher auch im Hinblick auf die Karriere Christine Lavants aufschlußreichen Briefe an den Verleger nicht erhalten.

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Die Gedichte werden zitiert mit Incipit (erkennbar an drei Fortsetzungspunkten und der Kursivierung) samt Satzzeichen. Christine Lavant verwendete kaum Titel, und wenn, dann nicht konsequent für alle Abschriften oder Fassungen eines Gedichtes. Die meisten vorhandenen Titel sind auf Redaktionen, Verlage und die Rezeption zurückzuführen. Wir entschieden uns gegen die Praxis, aus ästhetischen Gründen oder aus Gewohnheit Titel zu vergeben. Nicht ohne Rückbezug auf Vorbilder, wie an anderer Stelle zu zeigen ist.

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2. Gibt es einen inhaltlichen und sprachlichen Bezug zwischen Brief und Werk (etwa als Vorstufe, als Kommentar, als Konkretisierung, als Intertextualität)? Das folgende Beispiel – ein Brief an Tuvia Rübner vom 8.9.1956 (es ist der erste von rund 30 Briefen an den israelischen Schriftsteller) – ist von der Sprachebene her ebenfalls unzweifelhaft als werkähnlich einzustufen. St. Stefan am 8.9.56. Tobias Rübner! Seien Sie nicht entsetzt über diese Ausruf-Anrede, mir geht manchmal das sinnlos-Ubliche gar nicht vom Herzen. Sie haben mir einen so guten Brief geschrieben der mir sicher noch oft ein wenig helfen wird, wenn ich sehr traurig bin. Nicht das, dass Sie meine Gedichte loben tut mir am meisten wohl sondern vielmehr noch Ihr Mit-Leid. Ja ich kann schon seit Jahren nur mehr mit Schlafpulvern schlafen und das Schlimmste dabei ist, dass ich das Einnehmen solcher Mittel für eine Sünde wider den Geist halte weil dadurch die Qualität des Bewusstseins mehr und mehr herabgemindert wird. Aber vielleicht zählt “Gott“ eben schon die Seelen jener die meiner mitleidend gedenken und bringt die nötige Zahl zusammen und errettet mich um ihretwillen. ihretwillen//{{.}} Auch Gnade ist wahrscheinlich eine Rechnung die ganz genau aufgehen auf#gehen#=//gehen muss. Aber nun zu Ihnen: Wo sind Sie denn daheim gewesen? Ihr Gedicht enthält schöne sanfte Bilder und sein Rythmus {{Rhythmus}} erinnert – glaube ich – an slowenische oder kroatische #K#\k/roatische Volkslieder, was ich sehr gern mag. Ist das “Heilge {{Heilige}} Land“ für Sie mit Stärkung begabt? L e b e n Sie darin oder lebt es in Ihnen ist es für Sie das Zelt der Vergegenwärtigung oder blos {{bloß}} der Zuflucht? Auch ich möchte Ihrer gedenken können in der genauen und hilfreichen Richtung. Die ganze “Bettlerschale“ kann ich Ihnen vorläufig nicht schicken (ich hatte nur fünf Freiexemplare bekommen) aber einen Auszug derselben. Bitte Seien Sie deswegen nicht traurig oder gekränkt, vielleicht schicke ich es Ihnen später einmal. Ich lebe in einer winzigen Dachstube mitten im Industriegebiet aber mein Fenster ist so klein und so hoch angebracht dass man nur nu//{{r}} ein Stück Himmel und die Krone eines alten Birnbaumes sehen kann. Es ist wie eine Mönchszelle Möchnszelle. Vom Nachbar-dach her schreit jetzt immer eine Türken-Taube Türken-#{{x}}#\T/aube: Bin duurstig duu#u#rstig! Bin duurstig! Wenn man das hört sinkt man zurück in die Wiege der Welt. Manchmal erreicht man das auch durch eine besondere Art zu gehen, nachts, unter den hilfreichen Sternbildern, denn sie s i n d hilfreich alle und die Erde #Erde#handschr. //Erde ist es auch und der Mond und die Sonne, alles gibt ab und nährt #nährt#handschr. //nährt den der durstig oder hungrig ist aber das Brot, \,/handschr. dessen wir am meisten bedürfen, \,/handschr. können wir freilich nur von einander erhalten. Und Ihr Brief war für mich Brot. Ich danke Ihnen dafür! Seien Sie vom Herzen gegrüsst, Tobias Rübner – von Christine Lavant.

Die Intertextualität zu einem Gedicht der Autorin muß erst ausgemacht werden, doch läßt sich dann eindringlich die enge Verbindung zwischen Brief und Werk, die poetische Zusammengehörigkeit, zeigen. Das folgende Gedicht steht, was Formulierungen,

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Bilder, Vorstellungen anbelangt, in eindeutiger Beziehung zu dem Brief, es scheint den Brief lyrisch zu transformieren (oder transformiert der Brief das Gedicht?): Ich suche die Wiege der Welt. Ein Knochen im Rückenmark weiß den Weg und das Lied und den Preis und das Sternbild, das alles verstellt. Noch ist da ein Makel im Schritt. Es richtet sich alles erst ein, auch der Atem muß gründlicher sein, dann bringt er die Muttermilch mit. Wie vertraut jeder Vogel jetzt schreit, denn mein Herz horcht im Eigelb der Brut und gleichzeitig drängt sich mein Blut durch das Kernhaus im Apfel der Zeit. Nur die Stirne bleibt einsam und hier, sie zerbröselt ihr Denken im Wind und hofft so, die Wiege samt Kind auf dem Rückweg zu finden bei dir. 10

Der Ausdruck „Wiege der Welt“ fällt als intertextueller Bezug direkt ins Auge, aber diese Formulierung wird semantisch oder konnotativ in beiden Texten ausgeweitet: So läßt etwa die im Gedicht verwendete Kombination der Begriffe „Wiege“ / „Weg“ / „Sternbild“ / „Wiege samt Kind [...] finden“ an das Ereignis und das Land der Geburt Jesu denken, an das „Heilige Land“, in dem Tuvia Rübner lebt. Der Ausdruck „Wiege der Welt“ verbände sich dann mit Israel als religiös-kultureller Ursprungsstätte. Auf das Wort „Wiege“ verweisen auch die im Brief erwähnten „sanfte[n] Bilder“ und der „Rythmus“ der slowenischen und kroatischen Volkslieder11. Im Brief fragt Christine Lavant Tuvia Rübner, ob er im „Heiligen Land“ wirklich lebt, es als Heimat erlebt. Beide Texte sind von der Idee geprägt, daß sich etwas wie Heimat als Erfahrung manifestiert und nicht durch rationale Begründungen entsteht – vgl. im Brief „Stärkung“ / „L e b e n“ / „Zelt der Vergegenwärtigung“ oder „bloss [...] Zuflucht“, im Gedicht vor allem die erste und die letzte Strophe, in denen der wissende „Knochen im Rückenmark“ und die einsame „Stirne“ einander gegenübergesetzt sind; die „Stirne“ „zerbröselt“ jedoch letztlich „ihr Denken im Wind“, um die „Wiege samt Kind“ und das Du finden zu können. Das vertraute Schreien des Vogels (Strophe 3) erinnert an das im Brief zitierte, der Briefschreiberin vertraute Schreien der „Türken-Taube“. Die eingeblendete textkriti-

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Der Brief an T. Rübner wurde 2004 veröffentlicht als „Faksimile aus dem Brenner Archiv (3)“. Das Gedicht in: Christine Lavant: Spindel im Mond. Salzburg: Otto Müller Verlag, 5. Aufl. 1995, S. 115. Wir danken dem Rechtsinhaber, Herrn Arno Kleibel, Otto Müller Verlag Salzburg, für die Erlaubnis zum Abdruck und zur Veröffentlichung der Lavant-Texte. Christine Lavant wußte es nicht: Tuvia Rübner stammt aus der Stadt Bratislava / Preßburg (heute Hauptstadt der Slowakei).

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sche Ebene gibt hier einen wichtigen Hinweis auf bewußte Formung: Ein vom Rhythmus her überzähliges „u“ in „duuurstig“ wird gestrichen – die Laute der Taube sollen den Rhythmus für das Wiegen herstellen. In unmittelbarer Umgebung des Vogels / der Taube finden sich im Gedicht ein „Kernhaus im Apfel“ und im Brief „die Krone eines alten Birnbaumes“. Ein Bezug auf „Sternbild/er“ findet sich da wie dort, auch wenn die Konnotation verschieden, ja entgegengesetzt ist: im Brief sind sie „hilfreich“, im Gedicht gibt es ein „Sternbild, das alles verstellt“. Markant ist auch folgender Zusammenhang: Im Brief wird „eine besondere Art zu gehen“ imaginiert, und auch das Gedicht ist ein ‚Gangbild‘ („Noch ist da ein Makel im Schritt“). Das Gedicht ist undatiert – doch hilft die Intertextualität, die Entstehungszeit in etwa einzugrenzen. Dafür spräche auch folgender Umstand: Eine handschriftliche Fassung des Gedichtes befand sich in einem (undatierten) Heft (die Seite wurde bis auf den inneren linken Rand aus dem Heft geschnitten), in dem sich auch mehrere Neuansätze eines anderen Gedichtes, Hole von allen Gedächtnisstätten ..., finden. Die Entstehung dieses Gedichtes ist im KGCL erwähnt: In einem Brief an Christine Brückner vom 28.10.1957 datiert Christine Lavant selbst es vorsichtig („glaube ich“) auf „Frühjahr 1957“. Für das im selben Heft niedergeschriebene Gedicht Ich suche die Wiege der Welt. … kann eine ähnliche Entstehungszeit angenommen werden. Die für Ich suche die Wiege der Welt. … erschlossene Datierung deckt sich mit dem Zeitraum, in dem auch der Brief an Tuvia Rübner geschrieben wurde. Abgesehen von den erwähnten Übereinstimmungen ist eine Datierung des Gedichtes um Weihnachten 1956 / Dreikönig 1957 möglich. Weihnachten bzw. Dreikönig liegen im Gedicht als Thema indirekt vor („Sternbild“, „Wiege samt Kind“). Zu Weihnachten 1956 hatte Christine Lavant von Tuvia Rübner eine kleine Karawane aus Olivenholz und einen Granatapfel geschenkt bekommen, mit denen sie eine kleine Krippe gestaltete. Im Brief an Tuvia Rübner vom 23.12.1956 schreibt sie vom „Wunder-Granatapfel“ und daß sie ihn niemals essen könne, selbst wenn sie „davon das ewige Leben bekäme“: ein Zusammenhang im Sinne einer Opposition zwischen dem Granatapfel, der im alten Ägypten den Toten mit ins Grab gegeben wurde, bzw. dem Granatapfelbaum, der den Kopten als Symbol der Auferstehung galt, und dem „Apfel der Zeit“ im Gedicht liegt nahe. Doch der Zeitraum muß weiter gefaßt werden: Die „Wiege der Welt“ ist bereits in einem Brief an Ludwig Ficker erwähnt, der bald nach dem 10.07.1956 geschrieben wurde, weil er auf eine Briefkarte Fickers mit diesem Datum bezug nimmt. In diesem Brief gibt Christine Lavant selbst folgenden Schlüssel zu dem Bild: „Mir wäre freilich lieber die Wiege der Welt und darin das Kind, das lebendige Wort.“ Anspielungen auf den christlichen Kontext sind offensichtlich: „Denn lebendig ist das Wort Gottes“ (Brief an die Hebräer, 4, 12) und „Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh. 1, 14). Doch widerspricht diese ganz andere Verbindung nicht oben Ausgeführtem – sie ist möglicherweise nur ein Hinweis auf einen AdressatInnenbezug! Jedenfalls: Das Motiv, mit seinem semantischen und poetischen Potential, mit seiner hier dargestellten ‚Dehnbarkeit‘, ging ihr nicht aus dem Kopf. Es lassen sich eindeutig zeitliche Zusammenhänge zwischen Briefen und Werken herstellen, die bei der Datierung undatierter Werke hilfreich sein können. Dabei geht

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es nicht um die Datierung als Ergebnis – auch wenn das, je länger man sich um sie bemüht hat, so scheinen will –, sondern als neues Werkzeug: Letztlich dient sie dazu, auch den kreativen Lebenslauf besser zu verstehen. Untersuchungen zur Intertextualität brauchen deshalb genaue Texte! Jede Wortschreibung sollte in Evidenz gehalten werden. Gerade mit markanten Fehlschreibungen oder orthographischen Eigentümlichkeiten kann man sich zu zeitlichen Einordnungen vorarbeiten (etwa durch vom Dialekt her kommende Formen wie „Eckel“, „Schemmel“). Da Briefe datiert sind (oder, jedenfalls in den meisten Fällen, leichter datiert werden können), bieten ihre Wortlisten eine gute Vergleichsbasis. Im KGCL werden orthographische Fehler nicht korrigiert; für entsprechende Suchvorgänge wird aber die korrekte Schreibung auf der versteckten Ebene angeboten. Die bereits zitierte Fehlschreibung „Rythmus“ (vgl. Brief an Tuvia Rübner, 8.9.1956) gibt diesbezüglich übrigens nichts her: Christine Lavant schreibt Rhythmus ihr Leben lang ohne das erste „h“. Ergiebiger in bezug auf eine zeitliche Einordnung ist etwa die Schreibung „erschrack“. Sie orientiert sich an den Verbformen „erschrecken, erschrocken“; das Imperfekt wird in der österreichischen Umgangssprache praktisch nicht verwendet. „Erschrack“ bzw. den Konjunktiv „erschräcke“ findet man in Christine Lavants Briefen nur bis 1950 (3 Treffer: 1946, 1947, 1950), danach wird das Imperfekt nicht mehr verwendet, sondern nur noch das Perfekt „bin / war erschrocken“ (4 Treffer: 1949, 1953, 1956, [1963]). In den vorliegenden Prosa-Manuskripten und -Typoskripten12 findet sich 23 mal „erschrack“ bzw. „erschracken“ und nur 4 mal „erschrak“ / „erschraken“. Die Schreibung „darin“ ist die Regel (147 Treffer in Christine Lavants Briefen, zwischen 1935 und 1972). Die Abweichung „darinn“ kommt vor allem in den 1940er Jahren vor (1 x 1945, 4 x 1946, 2 x 1947, 1 x 1957, 1 x [1959]). In den ProsaManuskripten und -Typoskripten finden sich diese Varianten in auffälliger Weise: Es gibt Texte, in denen die Schreibung wechselt, beide Schreibungen vermischt werden bzw. eine Schreibung bevorzugt wird. Eine genauere Analyse im Hinblick auf Datierungsversuche steht an. Doch etwas scheint man schon sagen zu können: „darinn“ mutete Christine Lavant literarischer an. Wenn Christine Lavant „Bibliotheck“ schreibt, könnte man das wiederum für eine Eigentümlichkeit halten; nur über die textkritische Darstellung (und die Möglichkeit, damit eine Wortliste zu generieren) läßt sich feststellen, daß es sich nicht um eine typische Fehlschreibung handelt, sondern das Wort ansonsten richtig geschrieben wird: Dies kann für das Erstellen des Lesetextes der Werke relevant sein. Durch stillschweigende Eingriffe oder Normalisierungen würden diese vielfältigen Möglichkeiten der Textkritik verlorengehen. Die folgenden Fragen 3. – 12. beziehen sich auf außerästhetische Kriterien für eine textkritische Darstellung; dabei betrifft die erste Fragengruppe das Material, seine edi-

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Die Prosa-Manuskripte Christine Lavants sind nur in seltenen Fällen datiert.

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torische Bearbeitung und die Pragmatik der Veröffentlichung (3. – 6.), die zweite Fragengruppe die Autorin, den Autor und die Gattung (7. – 12.).

3. Welches Textkorpus liegt zur Edition vor? Geht es um ein Briefkonvolut (ohne Gegenbriefe), einen Briefwechsel mit einer Person, eine umfassendere Auswahl (z.B. Briefe „von – bis“), einen Gesamtbriefwechsel? In welchem zahlenmäßigen, biographischen, literarischen, inhaltlichen Verhältnis steht das Textkorpus zu einer, wenn auch hochgerechneten oder nur erwogenen, Gesamtheit der Briefe? Kann die AdressatInnenbezogenheit eingeschätzt werden und was bedeutet sie für den Text? Zu Lebzeiten Christine Lavants ist kein Brief veröffentlicht worden. Es gab bisher keine „Edition der Briefe“, keinen Sockel, auf dem aufzubauen gewesen wäre. Es gab Publikationen von Einzelkonvoluten (ohne Gegenbriefe) in qualitativ unterschiedlicher Ausführung. Die Lektüre der ersten veröffentlichten Briefe (1974, an G. Deesen)13 kann nicht mehr wirklich empfohlen werden, da bis hin zu ungekennzeichneten Streichungen und Wortänderungen markant in den Text eingegriffen wurde. Doch diese Veröffentlichung verdient Nachsicht: Sie stand am Anfang der Beschäftigung mit den Briefen und der Person, die diese schrieb. Mit Herz auf dem Sprung14 wurden Briefe von Christine Lavant erstmals in das wissenschaftliche Interesse gerückt, was Kommentierung und Textdarstellung betraf (in diesem Falle gab es keine Gegenbriefe). Die Kommentierung hatte schon zur Erhebung und Einbeziehung weiterer Briefe geführt, und die Edition nahm einen Gesamtbriefwechsel bereits in Aussicht („Eine umfassende, kommentierte Briefausgabe, ohne die sich auch eine sinnvolle Biographie schwerer wird schreiben lassen, steht aus“15). Doch ist noch ein Einzelkonvolut herausgegeben worden,16 als schon bekannt war, daß am KGCL gearbeitet wird. Wissenschaftlich gesehen handelt es sich dabei um einen Rückschritt (der auch ökonomisch nicht zu vertreten ist). Es wird betont, daß „kein geringerer als Thomas Bernhard“ die Bekanntschaft zwischen Maja und Gerhard Lampersberg und Christine Lavant gestiftet habe – aber Zeitpunkt und Umstände bleiben unbekannt. Es gibt jedoch einen Brief von Christine Lavant an Erentraud Müller, die Verlegerin und Freundin, der – am nächsten Tag, am 26.7.1957, geschrieben – den Besuch der drei Genannten bei ihr zu Hause schildert (vgl. KGCL…). Bei einem einzeln veröffentlichten Briefkonvolut kann die AdressatInnenbezogenheit von den LeserInnen bzw. BenutzerInnen nicht eingeschätzt werden. Wenn sich die Personen im Alltag nahestehen, stehen die Briefe im Kontext eines pragmatischen Zusammenhanges, der im Kommentar als Hintergrund jedenfalls mit zu repräsentie-

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Christine Lavant: Briefe. In: ensemble, Heft 5, 1974, S. 133-157. Christine Lavant: Herz auf dem Sprung. Die Briefe an Ingeborg Teuffenbach. Im Auftrag des BrennerArchivs (Innsbruck) hg. u. m. Erläuterungen u. e. Nachwort versehen von Annette Steinsiek. Salzburg 1997. Ebd., S. 196. Christine Lavant: Briefe an Maja und Gerhard Lampersberg. Im Auftrag des Robert-Musil-Instituts für Literaturforschung der Universität Klagenfurt / Kärntner Literaturarchiv hg. v. Fabjan Hafner u. Arno Rußegger. Salzburg 2003.

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ren wäre. Doch der Kommentar ist mager, kaum mehr als ein Glossar. Die auffällige Verwendung umgangssprachlicher und mundartlicher Ausdrücke in den Briefen wäre als Hinweis auf betonte Originalität zu erwägen – wenn man nur die Briefe mit denen an andere KorrespondenzpartnerInnen vergleichen könnte. Die isolierte Korrespondenz führt einmal mehr zur Festschreibung bestimmter Vorstellungen von einer Autorin, statt sie in ihrer Vielstimmigkeit vernehmbar werden zu lassen. Man hat unter Hinweis auf die Faksimiles einmal mehr „stillschweigend korrigiert“, unterschiedliche Schreibungen „vereinheitlicht“, die Interpunktion „normalisiert“.17 Von Textkritik fehlt jede Spur – deshalb gehen auch Hinweise darauf verloren, daß einige Briefe vorgeschrieben worden sein könnten. Einzelkonvolute oder Briefwechsel zu veröffentlichen kann sinnvoll sein, wenn sie auf einen größeren Zusammenhang zurückgreifen können oder auf diesen abzielen. Ohne diesen Zusammenhang herausgegeben, womöglich von unterschiedlichen Personen, bleibt es bei einer Präsentation der Eingangstüre statt einer Führung durch das Haus, bei Addition statt Edition. Nun wird ein „Gesamtbriefwechsel“ immer ein schöner Traum sein. Sicher werden nach Abschluß der Arbeiten weitere Konvolute auftauchen. Dem wird die Internet-Edition Rechnung tragen. Für den KGCL zählten wir im April 2004 insgesamt 1900 Briefe von und an Christine Lavant, davon etwa 1200 Briefe von Christine Lavant und etwa 700 an sie.18 Dazu kommen etwa 100 Drittbriefe. Zum gleichen Zeitpunkt zählten wir 210 KorrespondenzpartnerInnen (darunter aber auch einige, von denen es nur eine Postkarte an Christine Lavant gibt).

4. Welches Medium wird gewählt? Ob ein größerer Briefbestand oder gar ein Gesamtbriefwechsel textkritisch in Buchform veröffentlicht werden soll, hängt vor allem von der Entscheidung und Kalkulation des Verlages ab. Der Aufwand der Darstellung im Druck ist ungleich höher als im elektronischen Medium. Auch sollte in jedem Fall für die wissenschaftliche Arbeit (und dazu zählt bereits die Arbeit an der Edition!) die Suchbarkeit und Handhabbarkeit gewährleistet sein. Neben der kostengünstigen und praktischen Möglichkeit, eine große Menge an Material zu verwalten und zu veröffentlichen, sprechen die gestalterischen (nicht nur ästhetische, sondern auch Einteilungen oder Darstellungen unterstützende) Möglichkeiten für eine elektronische Veröffentlichung.19

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Alle Zitate ebd., S. 162. Die Korrespondenz mit Werner Berg (aus dem Zeitraum ihrer engeren Beziehung von 1950-1955) wird nicht veröffentlicht werden und ist also hier nicht mitgezählt: Die Briefe von Werner Berg an Christine Lavant (ca. 280) wurden vom Nachlaßverwalter beim Verkauf (bis 2014) gesperrt, die Briefe von Christine Lavant an Werner Berg (ca. 500), die wir 2002 als erste Forschende in den Händen hielten, sind uns derzeit nicht zugänglich, da der von der Stadt Klagenfurt als Berater herangezogene Leiter des regionalen Kärntner Literaturarchivs deren Sperrung für die Benutzung von außerhalb betrieb. Derzeit bleibt nur die Hoffnung auf die korrekte Verwaltung öffentlichen Eigentums durch die Stadt Klagenfurt und damit auf die sekundäre Auswertung für KGCL und Biographie (betr. Datierungen, Kommentierungen, Hinweise auf weitere KorrespondenzpartnerInnen, biographische Hintergründe). Vgl. dazu den Aufsatz von Ulrike Landfester: „Aus einem unendlichen Vorrath von Briefen…“. Zum Nutzen einer elektronischen Edition von Rahel Levin Varnhagens Werk. In: „Ich an Dich“, S. 95-114

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5. Geht es auch um die Sicherung von Quellen? In unserem Falle war ein wichtiges Ziel auch die Sammlung und Erhaltung der Quellen. Die meisten der Briefe von Christine Lavant wären ohne diese Arbeit unbekannt geblieben – und einige davon wären inzwischen schon verloren gegangen. Christine Lavants Generation lebt gerade noch oder lebt schon nicht mehr. Das intensive Recherchieren ist also ein Gebot der Stunde. Zwei Drittel der Briefe eruierten wir in Privatbesitz. Dorthin gingen sie nach Kopieren, Scannen und archivalischer Beschreibung auch wieder zurück.20 Das heißt: Manche Originale werden vielleicht nicht wieder in öffentliche und / oder wissenschaftliche Hände gelangen. Sie sollten deshalb sorgfältig ausgewertet und repräsentiert werden – auch mit Hilfe der textkritischen Ebene, denn manche Korrekturvorgänge lassen sich an Faksimiles bzw. Scans nicht oder nicht eindeutig erkennen.

6. Liegen bereits editorische Richtlinien für das Werk der Autorin/des Autors vor, bzw. können die für die Briefe erarbeiteten Richtlinien umgekehrt für eine Werkedition verwendet werden? Parallel zum Beginn der Briefedition (1997) wurden uns die diakritischen Zeichen bekannt gemacht, die für die damals geplante Kritische Ausgabe der Werke verwendet werden sollten. Der Nachlaß war bereits mit diesen Zeichen transkribiert worden. Man hatte dafür die diakritischen Zeichen der CD-Rom des Nachlasses von Robert Musil21 übernommen, was nicht überzeugte. Aus pragmatischen (ökonomischen wie rezeptionsorientierten) Gründen jedoch wurden für die Briefedition einige dieser Zeichen verwendet, wobei wir Differenzierungen und Ergänzungen vornahmen. In bezug auf die Neukonzeption der Kritischen Edition der Werke ist es nun sinnvoll zu prüfen, inwieweit die editorischen Richtlinien des KGCL verwendet werden können.

7. Kann man von den Lebensumständen der Autorin/des Autors auf den Stellenwert des Briefes als Medium der Mitteilung schließen? Zunächst muß, auch für die folgenden Fragen, geprüft werden, ob ein Materialbestand vorliegt, der eine Antwort auf diese Frage erlaubt. Wenn Dokumente oder Aussagen

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(s. Fn. 3), zu den Möglichkeiten der elektronischen Darstellung v.a. S. 108-112. U. Landfester plädiert in ihrem Aufsatz ebenfalls für ein „objektivierbares philologisches Wahrnehmungsraster, das die Lektüre und damit ultimativ auch die Edition von Briefwechseln aus der Grauzone supplementär zum ‚eigentlichen‘ Werk verlaufender Lektüren herausholen und den Briefwechsel selbst als Kunstform handhabbar machen könnte“ (S. 96), wobei sie auf ein zitierbares „auktoriales Selbstverständnis“ Varnhagens verweisen kann (S. 99). Auch sie beschreibt die Nachteile, die die „Herauslösung einzelner Korrespondenzen“ mit sich bringt (S. 107). Gerade etwas als „Netz“ Gedachtes fordere die elektronische Edition, die neben „sequentiellen“ auch „nichtsequentielle Lektüren zuläßt“ (S. 108). Einige Konvolute durfte das Forschungsinstitut Brenner-Archiv als Schenkungen in seine Bestände aufnehmen. Vgl. Robert Musil: Der literarische Nachlaß. Hg. v. Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt 1992.

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darauf hinweisen, daß die Autorin/der Autor gerne ausführlich telefonierte, so muß ein Teil der Kommunikation verloren gegeben werden. Christine Lavant wohnte im Hause ihrer Freundin Gertrud Lintschnig, die einen Gemischtwarenladen betrieb und über ein Telefon verfügte. Sie wählte diese Verständigungsart jedoch selten, „weil ich so schwerhörig bin, daß ich meist kein einziges Wort verstehe u. das ist so peinlich u. mühselig“ (an Klara Berg, [1962]). Schwerhörigkeit und Schwersichtigkeit, ein labiler Gesundheitszustand, aber auch ihre Lebensumstände (sie fühlte sich ihrem Mann gegenüber verpflichtet) schränkten ihre Mobilität ein – der Brief bot die Möglichkeit, Entfernungen zu überbrücken. Darüber hinaus setzte sie, die immer wieder in depressive Stimmungen und Zustände fiel, der kontrollierbare Briefkontakt nicht so unter Druck wie eine persönliche Begegnung oder Verabredung.

8. Welchen Stellenwert hat der Brief in der Schreibkultur der Autorin/des Autors? Es kann in diesem Beitrag nicht in der gebührlichen Ausführlichkeit von Christine Lavants Briefpoetik gesprochen werden, die aus einzelnen verstreuten Äußerungen in den Briefen zusammengeführt werden muß und die natürlich im Laufe der Jahre diversen Änderungen unterworfen war. In manchen Briefen tritt das ästhetische Element, in anderen das soziale stärker hervor. Es gibt Äußerungen, die darauf hinweisen, daß Briefe und Werke aus einer ähnlichen Energie heraus und mit einem ähnlichen Bedürfnis nach Ausdruck entstanden sind: Den Zustand in welchem Sie (man) solche soclhe schöne und für sich selbst oft nicht ganz klare Briefe Bri\e/fe schreiben, den kenne ich wohl. So schreibt unsereins auch die Geschichten und Gedichte, nichtwahr. Aber ich glaube der Zustand ist ein Kapital das sehr leicht aufgezehrt werden kann. Und wir greifen es immer wieder an auch wo es oft gar nicht not wär. Ich möchte nicht, dass Sie für mich Ihr Kapital angreifen, verstehen Sie mich? Wenn Sie mir weiterhin schreiben wollen - ich habe viel davon! - dann genügen die schlichtesten und ungeschicktesten ungeschicktetsten Worte solche die man auch hat wenn man den Dämon nicht bemüht. Freilich, meist hat man dann überhaupt nichts, ach ich kenn das. (an Rudolf Stibill, [1954])

Äußerungen über Briefe können sich dabei, wie hier, an die Klage über eine Schreibhemmung anschließen oder der Entschuldigung für vorhandene oder vermeintliche stilistische Mängel des vorliegenden Briefes dienen. Dies zeigt etwa folgender Brief

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auszug, der etwas überfrachtet wirkt, weil er die Rhetorik des „ersten Briefes“ eines neu begonnenen Kontaktes tragen muß (aber gerade deshalb Aufmerksamkeit verdient): Bitte sehen Sie es mir nach, wenn der Stil dieses Briefes Sie etwa “geschraubt“ anmutet, - es sind nicht alle Tage, alle Stunden gleich, und was gestern vielleicht noch locker und natürlich #von# wie wie wie Laub vom Munde gefallen wäre, das starrt und rauscht heute, trotz aller Mühe wie ein obskurer Büschel papierner #P#\p/apierner Rosen. Morgen wär‘s vielleicht wieder eine Wiesenflocke oder ein Halm blonden Schilfes. Ich weiss nicht, sind Sie Dichterin? - wenn ja, dann verstünden Sie es sicher, aber auch so halte ich es für nicht ausgeschlossen. (an Gertrude Rakovsky, 18.10.1950)

Dabei wird „dichten“ als ‚energieverbrauchender‘ eingestuft als „Briefe schreiben“: „natürlich kann ich auch nichts dichten, denn wenn ich das könnte, könnte ich auch nebenher noch Briefe schreiben noch und noch!“ (in einem Brief an Linus Kefer [Frühjahr 1957], in dem sich Christine Lavant entschuldigt, daß sie so selten schreibt).

9. Ist festzustellen, daß das Schreiben von Briefen phasenweise das Schreiben literarischer Werke ersetzt hat? Briefe waren für Christine Lavant ein eigener und besonderer Weg zum Ausdruck, als solche stehen sie dem Werk zur Seite. Manchmal könnten sie in der Hoffnung entstanden sein, damit in den „Zustand“ zu kommen, den Lavant als Voraussetzung für die Produktion ihrer literarischen Texte bezeichnete. In Zeiten gehemmter literarischer Produktion könnten sie dazu gedient haben, etwas ‚in Schwung‘ zu bringen – eine Art zu denken, ein Wortfeld, einen Rhythmus. Dichten ist für sie ein „unnatürliche[r] Zustand“ (an Linus Kefer, [nach dem 21.12.1956]), ein Zustand der „Besessenheit“, in dem man dem absoluten Bewußtsein nahe ist (an Tuvia Rübner, 25.11.1956). Man kann diesen „Zustand“ auch künstlich herbeiführen, etwa durch „Pulver“ (= Medikamente) oder durch äußere Veränderungen wie eine Reise. Diese Möglichkeiten verdächtigt Christine Lavant allerdings selbst als Verzweiflungstaten – ein Brief wäre eine legitimere Näherung an das Schreiben gewesen. Bei Christine Lavant hat das Schreiben von Briefen das Schreiben von literarischen Werken etwa in folgendem Sinne ersetzt: wenn sie Briefe schreibt, um in den „Zustand“ zu gelangen, dies aber nicht gelingt. Dann sind von diesem Versuch ‚nur‘ die Briefe geblieben.

10. Spielt der Brief im Werk eine Rolle? Es gibt Gedichte und Erzählungen, in denen Christine Lavant das Briefeschreiben thematisiert. Der Brief als poetisches Motiv darf als Signal für ihre besondere Affinität zu dieser Gattung gelten. Das folgende Gedicht kommt dabei zu einer Briefpoetologie:

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Hundert Briefe in einer Nacht. O Gott wie bin ich gehorchsam dem Mond! Hundertmal Anfang und Ende und dazwischen fast ewig. Drei und Dreissig Briefe in Rot herzwarm noch alle und mutig anmutig, o Gott, ja gerecht ganz einfach so rot gewachsen wie Klee oder Nelken. Drei und Dreissig schon aufgescheucht braune Rebhuhnkette zerrissen -; von Angst gejagt und verstreut winzige Vogelrufe und alle noch hungrig. Drei und Dreissig in Bilderschrift listig gefügt kaum verständlich -; ein Kreuz eine Rose ein Schwert das Herz in den Mondstationen, - bloss aus dem Gedächtnis! Einen in klarer Maschinenschrift der niemand anmerkt die Zitterhand -; Aber zwei Seiten zu lang auch der Zeilenabstand zu eng und am Rand doch ein Herz und ein Kreuz in der Ecke ein Vogel. Dieser Eine für Alle holt nach und zurück! Diesen einen - während die Mondrute sinkt - frisst zum frühen Frühstück in wilder Gier und vor meinen nüchternen Augen, mein Herd, samt dem Durchschlag. O Gott im brennenden Morgenrot wie wird mich die Mondrute strafen? (Typoskript, unveröff., Lesefassung)

In Christine Lavants Prosa gibt es eine Gattung, in der Elemente von Brief und Erzählung verbunden sind, die ‚Briefprosa‘. Christine Lavant wendet sich damit an Personen, zu denen sie sich eine engere Bindung wünscht. Diese Gattung entspricht in der Prosa vermutlich am ehesten ihrem Begriff von „Wahrhaftigkeit“, weil sie bewußt entlang der persönlichen Erfahrung in Richtung Absicht und Hoffnung geht, aber sich

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der Fiktionalität auch als Schutz bedienen kann. Es gibt zwei Texte dieser Art, einer davon veröffentlicht als Die Schöne im Mohnkleid.22

11. Lassen sich Hinweise ausmachen, ob und wenn ja, ab wann die Briefschreiberin / der Briefschreiber gewußt haben könnte, daß von ihr/ihm einmal eine Briefedition veranstaltet wird? Christine Lavant kannte die Briefe Rilkes, wie ein Brief aus dem Jahr 1949 belegt. 1957 bittet sie den Otto Müller Verlag, ihr einen Band Werke und Briefe von Else Lasker-Schüler zu schicken. Sie wußte also, daß von Dichterinnen und Dichtern auch Briefe von öffentlichem Interesse sein können. Sie selbst äußert sich dazu nicht, weder im Sinne einer Möglichkeit, noch eines Wunsches, noch einer Befürchtung. An sie adressierte Briefe hat sie jedenfalls nicht aufbewahrt. Sie schreibt an Hilde Domin [1965], daß sie „alle Briefe früher oder später verbrenne um keinen indiskreten Nachlaß zu hinterlassen“. Um eines offenen und wahrhaftigen Kontaktes willen sicherte sie ihren BriefpartnerInnen zu, deren Briefe zu vernichten – wieweit sie dabei davon ausging, daß man mit ihren Briefen gleich verfuhr, ist damit nicht beantwortet. Postkarten hat sie wohl wegen der Bildmotive aufgehoben. Manchmal haben andere Personen, die während längerer Krankheitsphasen Sekretariatsarbeiten für sie erledigten, Briefe an sie aufbewahrt. Durchschläge von Briefen gibt es in ihrem Nachlaß nur bei Verlags- oder bei anderer offizieller Korrespondenz. Einen Hinweis auf einen Durchschlag in der Privatkorrespondenz gibt nur das oben zitierte Gedicht – aber das ist Literatur…

12. Liegen Briefentwürfe vor, und wie verhalten diese sich zu abgesendeten Fassungen? Signale für das Vorschreiben von Briefen – spiegele sich darin nun die Suche nach der optimalen (vielleicht auch literarischen) Formulierung oder nur besondere Sorgfalt, Rücksicht oder Vorsicht – werden auf der textkritischen Ebene erkennbar. Es gibt Fehler, die auf das Abschreiben einer Vorlage zurückzuführen sind. So wurden z.B. in einem Brief an Otto Scrinzi vom 23.6.[1969] mehrfach Worte doppelt geschrieben und dann gestrichen: Eine fragende Bitte: würden Sie mir die Möglichkeit geben, eine finden, Œ daß ich Ihnen, wenn ich es gar sehr brauche (mißbrauchen werde ich es nie) schreiben kann, ohne mich ängstigen zu müssen, daß daß #daß# außer auß\er/ Ihnen Jemand #j#\J/emand meine Briefe zu lesen bekommt.? – Ohne innerste Notwendigkeit werde ich es nie tun. Ich bin in #an#\in/ Einsamkeit und Verlassenheit geübt. Aber manchmal übersteigt es die ertragbare Stufe. Hier mögen mich Alle gern. Mein Zimmer ist eine Frei- und Zufluchtstätte. Bei Lintschnig wird das totale Alleinsein einsetzen; allerdings gemildert durch den gewohnten Ort die mir zu Herzen gehende

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Christine Lavant: Die Schöne im Mohnkleid. Im Auftrag des Brenner-Archivs (Innsbruck) hg. u. m. e. Nachwort versehen von Annette Steinsiek. Otto Müller Verlag, 2. Aufl. Salzburg 2004.

Warum und unter welchen Umständen ist eine textkritische Bearbeitung von Briefen sinnvoll?

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Landschaft. Ich werde wieder Abendspaziergänge gehen wieder Mond u. Sterne sehen wieder die Neandertaler-Laute hören. O wohl, es wird viel gut #{{w}}# werden. Aber zum täglichen Brot (auf der Gefühlsbasis) gehört eben auch ein Ohr das in der das in #das in# \der/ alleräußersten alleräußester Not sich einem zuwendet zuwenden#d#\t/et.

Offenbar war der Abschreibevorgang mit Fortschreiten des Schreibens nicht mehr so sehr auf den Inhalt konzentriert, als vielmehr auf die Form. Dieser Brief, geschrieben im Pflegeheim Wolfsberg, ist von Lavants Bemühung getragen, leserlich und schön zu schreiben, auch wenn man ihm letztlich doch eher die körperliche Mühe des Schreibens ansieht. Beim Abschreiben klingen die Worte schon im Ohr, bevor man sie niederschreibt. Daher kommt es zu den oben gezeigten Verdopplungen oder auch zu Verschleifungen, wie etwa in folgendem Falle: Von meinem ganzem Herzen Herzen. (es ist so sg gut als möglich tatsächlich wieder ganz) wünsche ich Euch Allen Freude […] (an Trude und Otto Scrinzi [1964])

In anderen Briefen finden sich Fehler, die nur als Abschreibefehler gedeutet werden können. So schreibt Christine Lavant am 18.2.1957 an Erentraud Müller: „Heute ist der 14. Todestag meiner Mutter.“ Anna Thonhauser starb am 18.2.1938, es war also der 19. Todestag. In Christine Lavants Handschrift sehen sich die Ziffern „9“ und „4“ ähnlich (sie schrieb auch die „4“ in einer Linie, ohne abzusetzen) – und zwar so ähnlich, daß sie selbst sich im Schwunge des Abschreibens verlesen hat. Es gibt lediglich acht Textzeugen, die als Briefentwürfe eingestuft werden können. Zwei abgebrochene Briefentwürfe (in einem Heft mit Gedichtentwürfen) weisen Kurzschrift auf – ein eindeutiges Zeichen für das Vorschreiben, denn in keinem abgesandten Brief wurde Kurzschrift verwendet. Nun konnte Christine Lavant diese Entwürfe nicht vernichten, denn auf der Rückseite befand sich die Endfassung eines Gedichtes. Die uns aus dem Nachlaß Ludwig v. Fickers wohlbekannten vielfach überarbeiteten, ausgeklügelten Briefentwürfe gibt es bei Christine Lavant nicht. Es gibt keinen einzigen Briefentwurf, der mit einem uns bekannten abgesandten Brief in Zusammenhang steht! Erhalten ist ein „Blatt II“ (das noch keinem Brief eindeutig zugeordnet werden konnte), in dem der verräterische Satz steht: „Obwohl ich mit meinem Brief v. gestern gar nicht zufrieden bin möchte ich ihn doch nicht wie #v# so viele andere – verbrennen. Ich halte sie für gütig und klug genug mir auch Fehlreaktionen zu verzeihen.“ (an Otto Scrinzi, o.D.) Alles, was wir bisher über die Schreibpraxis von Christine Lavant wissen, läßt darauf schließen, daß das Verbrennen von Briefen bzw. Briefentwürfen mit zum Vorgang des Briefeschreibens gehört hat. Eine textkritische Bearbeitung ist hoher Aufwand, der wissenschaftlich und ökonomisch vertreten werden muß. Die vorgestellten Fragen mögen dazu dienen zu überprüfen, ob die Erkenntnisse, die sich ergeben könnten, diese Mühe lohnen. In jedem Fall wird eine entsprechende Prüfung die Entscheidung wissenschaftlich begründen können.

Günter Arnold

Philologische Textkritik als Technik geistiger Überlieferung bei Johann Gottfried Herder

Für meine liebe Tochter Runhild Zwar hat Herder selbst keine Edition geschaffen, auf die der Begriff ,Textkritik‘ im strengen Sinn anwendbar wäre, aber er hat ständig Editionen großer Philologen benutzt, er kannte ihre Probleme und konnte die Bedeutung ihres Tuns für die Übermittlung geistiger Traditionen bestens einschätzen. Seine philologische Textkritik ist eine wesentliche Komponente eines umfassenderen Begriffs von Kritik, den er selbst in seiner geschichtlichen Veränderung betrachtet hat – vor allem in Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente, im 105. und 106. der Briefe zu Beförderung der Humanität, im zweiten Teil der Kalligone und im 9. Stück der Zeitschrift Adrastea. Die hauptsächliche Bedeutung von ,Kritik‘ ist hier die „Kunst der Beurteilung“ von Wissenschaft, Kunst und Literatur (Literatur im umfassenden Sinn), „Kunstrichterei“, Rezensionswesen.1 Traditionell verbindet sich Textkritik bei Herder mit Werken der älteren Literatur, deren authentische Überlieferung strittig ist, und weniger mit neuzeitlichen und zeitgenössischen Werken. Als Kulturhistoriker erörtert er den Einfluß von Schrift und Buchdruck auf die geistige Entwicklung der Menschheit, den Abbruch von Traditionen und Kulturtransfer, Verfall, Verlust, Veränderung und Umarbeitung von Texten im geschichtlichen Wandel: Die Zeit verändert alles. Herders Auseinandersetzung mit diesen Problemen stellt deren geistesgeschichtliche Bedeutung in den Mittelpunkt, nicht ihre philologisch-technische Seite. Dominierend ist bei ihm die Kritik des Geistes, nicht die des Buchstabens; er unterscheidet höhere und niedere Kritik, Real- und Verbalkritik, d. h. Sachen- und Wortkritik. „In welche Zeiten und welchem Verfasser ein Buch gehöre? ob es ganz und richtig zu uns gekommen? wie seine Schreibfehler zu verbessern? welche der Lesarten zu wählen?“2 Die höhere historisch-philologische Kritik betrifft die Echtheit der Quellen und ihre Verifizierung als Ganzes, ihre Zuschreibung zu einem Autor; die niedere die Beurteilung von Lesarten und die Wiederherstellung verdorbener oder verfälschter Stellen durch Konjekturen und Emenda-

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Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877–1913 (im folgenden zitiert: SWS). Hier: Bd. 24, S. 181; Johann Gottfried Herder: Werke in zehn [elf] Bänden. Hrsg. von Günter Arnold u. a. Frankfurt a. M. 1985–2000 (im folgenden zitiert: FHA). Hier: Bd. 10, S. 724, 1029 zu 70,13f. SWS, Bd. 24, S. 181; FHA, Bd. 10, S. 724.

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tionen.3 Letztlich dient der philologische Befund der Einfühlung des Lesers oder Hörers in eine vergangene geistige Welt und ihrer Rekonstruktion. Es soll im folgenden ein Überblick hergestellt werden über die in Herders Schaffen und aus seiner Perspektive besonders relevanten Philologen und ihre Editionen: I. Klassische Philologie, II. Bibel-Kritik. Dazu liegen in vielen Fällen Urteile und mehr oder weniger detaillierte Bemerkungen Herders vor, die seine Stellung zur Philologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich werden lassen.

I. In Wielands Staatsroman, Gesellschaftssatire und Fürstenspiegel Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte (1772) entsteht ein Religionskrieg zwischen den Anhängern des Feuerfarbenen Affen und des Blauen Affen, eines auf verschiedene Weise interpretierten Götzen. Ausgelöst wird der Streit der Priester durch „Dissertazionen“ des Altertumsforschers Gorgorix, die aus „seinem in vielen Jahren mühsam gesammelten Vorrath von Kollektaneen, Lesarten, Verbesserungen, Ergänzungen, Muthmaßungen, Zeitrechnungen, etymologischen Untersuchungen, und dergleichen“4 entstanden sind. Wir haben in dieser Aufzählung den ganzen Problemkatalog textphilologischer Arbeitsmethoden vor uns, der im Kontext des Romans in satirischer Zuspitzung und Übertreibung der Folgen lächerlich gemacht wird. Bei Herder findet sich im 93. Humanitätsbrief (1796) eine Stelle, die eine ähnliche Situation beschreibt: Wenn unter dem Text eines alten Autors sich in den Noten oft über Nichts ein schreckliches Gezänk erhebt: so laßet uns vom blutigen Spiel dieser Gladiatoren, die sich zu Ehren des Verstorbenen neben seinem Grabe würgen, hinwegsehn und sie für das halten, was sie sind, Sklaven. Die Worte des Autors werden uns werther, wenn wir uns über die Wasser der Sündfluth, die unten den Text überschwemmet hat, zum Gipfel emporheben und den friedlichen Oelzweig finden.

Die Schriften der Alten sollen einer „wahren Philosophie und Richtung des Lebens“ dienen; zuerst aber mußten sie „gefunden, vervielfältiget, erklärt, erläutert, von Fehlern gereinigt, verstanden werden“.5 Herder zählt die in Wielands Roman ironisch betrachteten textologischen Methoden sachlich auf als notwendige Arbeitsschritte und Voraussetzungen für die Anwendung dieser Texte zum höheren Zweck der Geistesbildung. Er würdigt die „Kritik der Sylben und Worte“ als „eine unentbehrliche, nützliche Kunst“, die „Genie, Tact, und vor andern viel Känntnisse, Fleiß und Uebung“ erfordert, „aber die Känntniß der Alten noch nicht sei“.6

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Vgl. Brockhaus` Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. Leipzig 1819. Bd. 5, S. 516f. C. M. Wielands sämmtliche Werke. 53 Bde., 1818-1828. Hrsg. von J. G. Gruber. Bd. 16. Der goldne Spiegel, Teil 2, Leipzig 1824, S. 243f. SWS, Bd. 18, S. 82; FHA, Bd. 7, S. 521. SWS, Bd. 18, S. 80; FHA, Bd. 7, S. 519.

Philologische Textkritik als Technik geistiger Überlieferung bei Johann Gottfried Herder

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In der umgearbeiteten zweiten Ausgabe der ersten Sammlung der Fragmente (1768) spricht Herder von der Geschichte als von „einem Zauberlande des Zufalls, wo nichts nach Grundsätzen geschieht, … wo alles, das Meiste und Kostbarste dem Gott des Ungefährs in die Hände fällt.“7 Dieses allgemeine Urteil wird durch die Überlieferungsgeschichte der griechischen und römischen Literatur besonders bekräftigt. In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit beklagt Herder im 5. Kapitel des 13. Buches, Wissenschaftliche Uebungen der Griechen, gestützt auf Angaben aus dem byzantinischen Konversationslexikon Suda (damals für einen Autor „Suidas“ gehalten) wie auf Nachrichten, Bruchstücke und Auszüge in antiken Quellen, die immensen Verluste klassischer Werke. Die Naturgeschichte von Aristoteles sei nur im Auszug überliefert (tatsächlich sind von 50 Büchern SHUL ]ZZQ LVWRULD9 10 erhalten), seine historischen Werke (vermutlich SROLWHLDL gemeint) seien untergegangen. Wo sind Homers Amazonia und seine Thebais und Iresione, seine Jamben, sein Margites? Wo sind die vielen verlohrnen Stücke Archilochus, Simonides, Alcäus, Pindars, die drei und achtzig Trauerspiele Aeschylus, die hundert und achtzehn des Sophokles und die unzählichen andern verlohrnen Stücke der Tragiker, Komiker, Lyriker, der größesten Weltweisen, der unentbehrlichsten Geschichtschreiber, der merkwürdigsten Mathematiker, Physiker u. f.? 8

In bezug auf Homer wartet mit dem Problem der fälschlichen Zuschreibung von Werken eine Aufgabe für die höhere Kritik: Amazonia, das ist $L-LRSL9, und Thebais gehörten zum epischen Kyklos des trojanischen Sagenkreises, (LUHVLZQK ist ein pseudohomerisches Erntelied, Jamben waren in das Homer fälschlich zugeschriebene komische Epos 0DUJLWK9 eingefügt. Verlorengegangen sind nach Herders Ausführungen im gleichen Kapitel ferner Werke von Demokrit, Theophrast, Polybius (35 von 40 Büchern der LVWRULD NRLQK), Euklid, Aristophanes, Philemon, Menander, Alcäus, Sappho. Das Schicksal rechne nicht „auf die Unsterblichkeit einzelner menschlicher Werke in Wissenschaft oder in Kunst“; „vielmehr ist zu verwundern, daß wir derselben noch so viel haben“.9 Aristoteles ward in Einem Exemplar unter der Erde, andre Schriften als verworfne Pergamente in Kellern und Kisten, der Spötter Aristophanes unter dem Kopfkissen des H. Chrysostomus erhalten, damit dieser aus ihm predigen lernte und so sind die verworfensten kleinsten Wege gerade diejenigen gewesen, von denen unsre ganze Aufklärung abhing. 10

Herder zählt viele Namen römischer Geschichtsschreiber, Redner und Dichter auf, deren Schriften nicht erhalten sind. Besonders bedauert er „den Verlust der hundert und dreissig Stücke des Plautus und die untergegangene Schifsladung von hundert und acht Lustspielen des Terenz“, ferner den Verlust der Gedichte des Ennius, der Schriften Varros und der „zweitausend Bücher aus denen Plinius [Naturalis historia ] zu-

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SWS, Bd. 2, S. 65; FHA, Bd. 1, S. 605. SWS, Bd. 14, S. 129, 133; FHA, Bd. 6, S. 552, 556f. Vgl. SWS, Bd. 32, S. 143. SWS, Bd. 14, S. 133; FHA, Bd. 6, S. S. 557. SWS, Bd. 14, S. 147; FHA, Bd. 6, S. 570.

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sammenschrieb“.11 In dem von der Veröffentlichung zurückgehaltenen 5. Kapitel des 17. Buches der Ideen lastet Herder dem Fanatismus „eifriger Christen“ die Vernichtung und Verfälschung heidnisch-antiker Wissenschaften und Künste, insbesondere die Verbrennung der großen Bibliotheken, an. „Nur einzelne Halmen blieben übrig, die ganze reiche Ernte des Alterthums ging durch blinden Eifer oder durch heilige Oscitanz verlohren.“12 Die philosophischen und naturwissenschaftlichen Schriften von Aristoteles, Euklid, Ptolemäus, Galen und Dioskorides wurden von den Arabern aufbewahrt, zum Teil auch verfälscht, und gelangten später an die christlichen Universitäten. Sie bildeten die Grundlage für die Entstehung der scholastischen Wissenschaften. Als einen glücklichen Umstand bewertet Herder die Überlieferung der Schriften von Horaz und Boethius, anhand derer die Mönche Latein lernten, und der Schriften von Vergil, den sie – wohl wegen Ecloga IV – „als einen rechtgläubigen Dichter aufbewahrten.“13 Mit der Wiederentdeckung verschollener antiker Autoren und ihrer inhaltlichen Erschließung durch kritische Studien der überlieferten Texte bildete sich in der Renaissance die moderne Philologie heraus, zuerst in Italien im 14. und 15. Jahrhundert, im 16. in Deutschland und Frankreich, im 17. Jahrhundert in Holland und England. Der „Geschmack der Alten“ wurde durch „Ausgaben, Uebersetzungen, Commentare, Nachahmungen“ gefördert.14 In der Einleitung seiner Aufsatzfolge Bemühungen des vergangnen Jahrhunderts in der Kritik im 9. Stück der Adrastea erinnert Herder an „die Schule jener alten Kritik […] bei der wieder erwachenden Liebe zu den Alten und bei Wiederfindung ihrer Schriften, zu Erasmus, Ficins und Poggius Zeiten“, als man bestrebt war, „im Geist eines Autors zu wohnen“ und sich „seine Sprachweise“ anzueignen.15 Diesen noch lebendigen echten Geist der Kritik würdigt er – in polemischer Abgrenzung vom neu aufgekommenen Begriff der kritischen Philosophie Kants – an den Leistungen von Gelehrten des 18. Jahrhunderts, die sich durch Editionen, Übersetzungen, Kommentare und Textkritik um die antiken Klassiker verdient gemacht haben. Richard Bentley (1662–1742), der „gelehrteste seiner Zeit“,16 wies in seiner Dissertation on the Epistles of Themistocles, Socrates, Euripides, Phalaris, the Fables of Aesopus etc. (1699)17 durch Real- und Verbalkritik des Textes nach, daß die von Sir William Temple, Charles Boyle und Jonathan Swift für echt erklärten Briefe des Tyrannen von Agrigent im 6. Jahrhundert v. Chr., Phalaris, eine Fälschung des 2. Jahrhunderts nach Christus waren. 1710 kritisierte er in Emendationes in Menandri et Philemonis reliquias18 Jean Le Clercs Edition dieser Autoren vernichtend. Er selbst gab Kallimachus, Terenz und Phädrus heraus19 und 1711 eine Gesamtausgabe von

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SWS, Bd. 14, S. 190ff., 193f., 195; FHA, Bd. 6, S. 613ff., 616, 618. SWS, Bd. 14, S. 562; FHA, Bd. 6, S. 1105. SWS, Bd. 14, S. 194; FHA, Bd. 6, S. 617. SWS, Bd. 18, S. 75; FHA, Bd. 7, S. 514. SWS, Bd. 24, S. 182; FHA, Bd. 10, S. 724. SWS, Bd. 24, S. 185; FHA, Bd. 10, S. 728. SWS, Bd. 24, S. 184; FHA, Bd. 10, S. 727. SWS, Bd. 24, S. 184f.; FHA, Bd. 10, S. 727. SWS, Bd. 24, S. 185; FHA, Bd. 10, S. 728.

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Horaz mit Emendationen, die noch in der Philologie des 19. Jahrhunderts als epochemachend galten. Um Bentleys Überlegenheit als princeps criticorum zu illustrieren, führt Herder aus David Ruhnkens Elogium21 auf Tiberius Hemsterhuis – beide waren berühmte klassische Philologen in Leiden, die Herder sehr schätzte – eine Episode an, wie Hemsterhuis seinen Hörern erzählte, daß er „das Studium griechischer Kritik ganz aufzugeben im Begriff war, und Monate lang kein griechisches Buch berührte“22, als Bentley ihm in einem Brief einige Verbesserungen mitgeteilt hatte.23 Herder bedauert, daß er wegen des vor allem in Deutschland langen Gebrauchs von Q. Horatii Flacci eclogae (1701) von William Baxter (1650–1723), eine in Johann Albert Fabricius` Bibliotheca Latina (1721) als Leseausgabe empfohlene Edition anführen muß, von deren zum Teil törichten Anmerkungen Herder sich schon im Ersten Kritischen Wäldchen distanziert hat.24 Schließlich rühmt er im 9. Stück der Adrastea noch die 1695 bzw. 1796/97 erschienenen Ausgaben von Lukrez De rerum natura von Thomas Creech (1659–1700) und Gilbert Wakefield (1756–1801) und Samuel Clarkes Homeri Opera omnia (1729–1740) als unvergeßliche editorische Leistungen.25 Als Kuriosum seien die im Zweiten Kritischen Wäldchen bestrittenen paradoxen „Heillosen Behauptungen“ des Jesuiten Jean Hardouin (1646–1729) in Prolusio chronologica de nummis Herodiadum (1693) erwähnt, daß alle Schriften der Alten – außer denen von Cicero, Plinius` Naturalis historia, Vergils Georgica und Horaz` Sermones und Epistolae – im 13. Jahrhundert entstandene Fälschungen seien – für Herder „gelehrte Narrheiten […] Jesuiterei […] keiner Antwort werth.“26 Seit 1772 stand Herder in freundschaftlichem Briefwechsel mit dem klassischen Philologen und Archäologen Christian Gottlob Heyne (1729–1812), dem Erneuerer der humanistischen Altertumswissenschaften in Deutschland. Im Februar dieses Jahres hatte Herder Quellenstudien für die Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts in der Göttinger Universitätsbibliothek betrieben und mit der Familie Heyne Freundschaft geschlossen. Für die Urkunde benutzte er dankbar die neue kommentierte Vergil-Ausgabe des Freundes (1767–1775),27 die er bereits 1769 im Zweiten Kritischen Wäldchen gerühmt hatte: […] die Heinische Ausgabe Virgils die Erste in ihrer Art [...] einen Schriftsteller des Alterthums in dem eigenen Geschmacke desselben, jedes Wort und jede Note an ihrer Stelle, neu und unentbehrlich, ohne den Dunst unendlicher Parallelstellen und unbrauchbarer Citationen, mit dem stillen, Fleiße, und dem ruhigen Gefühle der Schönheit [...].28

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SWS, Bd. 24, S. 185; FHA, Bd. 10, S. 727f. Elogium Hemsterhusii, Leiden 1768; vgl. SWS, Bd. 5, S. 465f. SWS, Bd. 24, S. 188; FHA, Bd. 10, S. 730. SWS, Bd. 24, S. 187f.; FHA, Bd. 10, S. 730. SWS, Bd. 24, S. 198; FHA, Bd. 10, S. 740; SWS, Bd. 3, S. 95ff.; FHA, Bd. 2, S. 152ff., 921ff. SWS, Bd. 24, S. 223, 225; FHA, Bd. 10, S. 765f., 767. SWS, Bd. 3, S. 320f., 320–327, 491. Vgl. FHA, Bd. 9/1, S. 1027f. P. Virgilii Maronis opera, 4 Bde., Leipzig. SWS, Bd. 3, S. 320; vgl. Bd. 6, S. 408; Herder an Heyne, Juni 1772. Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar/Stiftung Weimarer Klassik. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter

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1773 rezensierte Herder im Wandsbecker Bothen Heynes Edition Pindari carmina, die als dringend notwendige Leseausgabe für Göttinger Studenten, die sich eine Vorlesung über Pindar gewünscht hatten, entstanden war. Herder lobte die verdienstvolle Textkritik, kritisierte jedoch das Fehlen von eigentlichen „Real-Erläuterungen“ der zahlreichen Allusionen.29 Heyne habe ursprünglich nur die Oxforder Ausgabe abdrukken wollen, aber alle nötigen Editionen benutzt – Handschriften gebe es nur wenige aus dem 14.–16. Jahrhundert – und „jede nur irgend merkwürdige Variante“ verglichen. Die meisten Lesarten seien „sehr langweilig und unnütz. Sie betreffen größtentheils nur das Sylbenmaaß und den Dialect“, aber „die Dürre der Critik“ sei „durch angenehme exegetische Erläuterungen unterbrochen“, die von Heynes tiefer Kenntnis der griechischen Sprache zeugen. So habe er „durch die Hinwegräumung, oder Veränderung, oder Hinzusetzung der Unterscheidungszeichen“, der Kommata, viele Stellen besser erklärt. 30 Ob man denn der gelehrten Mikrologie, und den Berichtigungen des Textes, in Stellen und Wörtern, wo nicht ganz der Sinn verdorben wird, soviel Zeit und Mühe widmen sollte, wenn ganz andre Sachen zu thun sind? Das verlange ich nicht zu entscheiden.31

Nach Herders mehr geistesgeschichtlichem als philologischem Interesse wäre ein Kommentator Pindars wünschenswert, der „in den Geist eindränge, nicht allein aus Glossariengelehrsamkeit und als Scholiast, sondern mit anschauendem, warmen Dichtergefühl ihn erklärend“.32 Heyne ist mit seinen Homeri carmina. Homeri Ilias (1802) in Bezug auf Homers „Sprache, die Geschichte seiner Werke, die Critik seines Textes, seine Mythologie, seine Erdkunde, seine Heldenwelt, die Oeconomie seiner Gedichte, ihren poetischen Werth“ und Detailerklärungen „der einzige der neuern Erklärer, der es auch nur versucht hat, dieß Alles zu umfassen.“33 Robert Woods Essay on the original Genius of Homer (1769),34 die Erklärung Homers auf Basis von Reiseerfahrungen im Orient (ebenso wie die gleichzeitigen Reisen Carsten Niebuhrs und anderer in ihrer Bedeutung für die Bibelexegese) machte eine „Revolution in Heyne’s Ansicht und Studium des griechischen Alterthums“.35 Durch dieses Werk wurde er inspiriert, die Völkerund Länderkunde auf die Erklärung antiker Dichtung anzuwenden. Seit 1787 arbeitete er an der Textkritik und Interpretation „aus alten Grammatikern, Scholiasten und

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Arnold. 12 Bde., Weimar 1977–2005 (im folgenden zitiert: DA), hier Bd. 9: Nachträge und Ergänzungen, S. 147,79–82. SWS, Bd. 33, S. 206–215. Ebd., S. 208ff. Ebd., S. 213. Ebd., S. 214. – Zu Herders Pindar-Rezeption und ihren Voraussetzungen vgl. DA (Anm. 28), Bd. 11, S. 188 zu Zeile 65ff.; Ralph Häfner: Synoptik und Stilentwicklung. Die Pindar-Editionen von Zwingli/Ceporin, Erasmus Schmid und Alessandro Adimari. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow (Frühe Neuzeit. Bd. 64). Tübingen 2001, S. 97–121. Christian Gottlob Heyne. Biographisch dargestellt von Arn[old] Herm[ann] Lud[wig] Heeren. Göttingen 1813, S. 208f. Ebd., S. 210. Ebd., S. 212.

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Commentatoren“. Im 9. Stück der Adrastea würdigte Herder die Edition des Freundes als „Frucht der Mühe und des kritischen Fleißes eines halben Jahrhunderts“, als „ein daurendes Ehrendenkmal“ des Herausgebers.37 Etwa gleichzeitig erschien in 16 Nummern der Allgemeinen Literatur-Zeitung in Jena im Mai 180338 eine vernichtende Rezension dieser Ausgabe von Johann Heinrich Voß, Friedrich August Wolf und Heinrich Karl Abraham Eichstädt, die Heyne viele Fehler in Textkonstitution, Wortund Sacherklärungen nachwiesen und ihm Leichtfertigkeit, Mangel an kritischem Scharfsinn und Divinationsgabe vorwarfen, so daß er auf die Herausgabe der Odyssee verzichtete. Damit war „eine zu ihrer Zeit wirkungsreiche, aber veraltende wissenschaftliche Richtung zu Grabe getragen“.39 Heynes wissenschaftliche Verdienste in seiner Zeit bestanden darin, daß er als erster die Altertumskunde als Ganzes betrachtete, die Realphilologie aufgrund seiner umfassenden kulturgeschichtlichen Kenntnisse begründete, in Deutschland nach Johann Matthias Gesner die Gräzistik am wirksamsten förderte (wie die strengeren Textkritiker Hemsterhuis, Lodewyk Kaspar Valckenaer und Ruhnken in Holland) und die Werke der Dichter nach ästhetischen Gesichtspunkten interpretierte. Hingegen vernachlässigte er die philologische Kritik. Seinen Arbeiten fehlte es „an grammatischer, metrischer, kritischer und stilistischer Sicherheit, selbst an diplomatischer Genauigkeit in der Textbehandlung.“40 Mit dem damals bedeutendsten Vertreter der textkritischen Altphilologie, Friedrich August Wolf (1759–1824), geriet Herder durch seinen Horen-Aufsatz Homer, ein Günstling der Zeit (1795)41 in einen häßlichen Konflikt über die Priorität der Erkenntnis, daß es sich bei den Homerischen Epen um die Sammlung von einzelnen Liedern verschiedener Verfasser handle. Wolf warf Herder diesbezüglich im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung ein Plagiat an seinen Prolegomena ad Homerum vor.42 Unmittelbar nach Erscheinen dieser Einleitungsschrift hatte Herder an Heyne geschrieben, daß seit Thomas Blackwells Enquiry into the Life and Writings of Homer (1735)43 und seit Wood (1769)44 an der von Wolf als neu ausgegebenen Theorie „beinahe niemand gezweifelt“ habe. Nun komme es darauf an festzustellen, was eingeschoben sei, „in einzelnen Versen sowohl als in ganzen Rhapsodien“.45 Herders Homer-Aufsatz ist zwar nach Wolfs Schrift entstanden und wahrscheinlich von dieser angeregt worden, aber die Rhapsodentheorie hatte er bereits in seinen

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Ebd., S. 214. SWS, Bd. 24, S. 225; FHA, Bd. 10, S. 767. Nr. 123-141, 2.-13.5.1803 über „Homeri Carmina“. Wilhelm Herbst: Johann Heinrich Voß. Bd. 2, 2. Abt., Leipzig 1876, S. 46–50, hier S. 50. Ebd., Bd. 1, Leipzig 1872, S. 69–73, 72. – Vgl. zu Heyne ferner: Valerio Verra, Mito, rivelazione e filosofia in J. G. Herder e nel suo tempo. Mailand 1966 (Studi sul pensiero filosofico e religioso dei secoli XIX e XX. Bd. 2); Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995, passim. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 19). SWS, Bd. 18, S. 420-446; FHA, Bd. 8, S. 89-115. Intelligenzblatt Nr. 122, 24.10.1795. 1776 war in Leipzig Voß`Übersetzung „Untersuchung über Homers Leben und Schriften“ erschienen. 1773 in Frankfurt die Übersetzung von Michaelis, „Versuch über das Originalgenie des Homer“. Herder an Heyne, 13. Mai 1795. In: DA (Anm. 28), Bd. 9, S. 584.

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Fragmenten46 und Kritischen Wäldern47 berührt und sich explizit im Briefwechsel mit Rudolf Raspe 1771/72 zu dieser Auffassung bekannt. Am 4. August 1771 hatte Raspe über Homer und Ossian geschrieben, sie seien „stückweise durch Rhapsodisten erhalten und nach verschiedenen Jahrhunderten zu verschiedenen Malen und auf verschiedene Weise zusammengesetzt worden.“ Die Beschreibung des Palasts des Phäakenkönigs Alkinoos (Odyssee, VII. Gesang, Vers 81–135), die nicht in die einfachen heroischen Zeiten paßte, führte er als Beispiel für eine spätere Interpolation an.48 In seiner Antwort vom 25. August 1772 fragte Herder nach der Verknüpfung einzelner Rhapsodien durch die Kommentatoren und bezweifelte, „daß so ein ganzer Homer und Oßian sich bis auf die kleinste Junktur so unverfälscht habe erhalten können“.49 Schon vor einem Menschenalter hatte man also eine ständige Veränderung der Gesänge durch das Extemporieren der Rhapsoden angenommen.50 Wolfs Plagiatsvorwurf 1795 war auch deswegen unberechtigt, weil Herder, wie Karoline am 16. Mai 1796 an Gleim schrieb, unter geschichtsphilosophischem und ästhetischem Aspekt „von der innern Composition des Homers“ und „vom innern Sinn der Epopee“ handelte, der Philologe Wolf aber „ein Kriticker des Texts“ war.51 In Entwürfen zu einer Antwort an Wolf, die schließlich unterblieb, wollte Herder als dessen Vorläufer in der Homer-Kritik unter anderem Bentley, den Abbé d’Aubignac und Rousseau anführen, was jedoch Wolf selbst in den Prolegomena getan hatte.52 Während nach Prolegomena, Kapitel 12, zu Homers Zeit die Buchstabenschrift und Schreibkunst noch zu neu gewesen sei, als daß so große Werke hätten niedergeschrieben werden können, nahm Herder in der ältesten Fassung des Homer-Aufsatzes und in dem Entwurf Mnemosyne eine gleichzeitige Überlieferung durch Rhapsoden und Schrift an. Dies ist auch die Auffassung der modernen Homer-Forschung: Die Konzeption der beiden Großepen setzte Schriftlichkeit voraus, und Solons, Peisistratus’ oder Hipparchos’ Einteilung der Rhapsodien an die Sänger zu den Panathenäen konnte nur auf der Grundlage schriftlicher Fixierung und nach einem schriftlichen Exemplar erfolgen.53 Nur durch Schrift, durch Zusammenhaltung vieler Rhapsodentexte (und zwar in sehr späten Zeiten) endlich durch mancherlei Verschmelzungen und Coagmentationen ward ein eigentlicher Homerischer Text möglich.54 - Rhapsoden dauerten fort, da gewiß schon Schrift dawar, sodann unterstützte die Schrift den Gesang.55

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Über die neuere Deutsche Litteratur, Riga 1767. Erstes Wäldchen. Herrn Leßings Laokoon gewidmet, Riga 1769. Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß. Hrsg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder. 3 Bde., 1861/62,. hier Bd. 3, Leipzig 1862, S. 286. DA (Anm. 28), Bd. 2, S. 216,32ff. Vgl. FHA, Bd. 10, S. 1364. SWS, Bd. 18, S. 425ff., 434f.; FHA, Bd. 8, S. 94f., 102ff. DA (Anm. 28), Bd. 7, S. 457, 37–40. Herder an Schiller, 30. Oktober 1795. DA (Anm. 28), Bd. 7, S. 195,48-54; SWS, Bd. 32, S. 522. SWS, Bd. 18, S. 442f., 463, 596; FHA, Bd. 8, S. 110f.; SWS, Bd. 32, S. 521. Vgl. Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur. München 1993, S. 54–58, 95f. „Homer und Oßian, Söhne der Zeit“, älteste Niederschrift; Herder-Nachlaß der Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz (im folgenden zitiert: HN), Kapsel X, Handschrift 45; vgl. SWS, Bd. 18, S. 596. Mnemosyne (1795; vgl. SWS, Bd. 18, S. 599f.); SWS, Bd. 32, S. 521.

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In einem Entwurf aus den 1790er Jahren Vom Einfluß der Schreibekunst ins Reich der menschlichen Gedanken56 wird trotz der Schwächung der Gedächtnisleistungen und dem Verfall der epischen Poesie die kommunikative und traditionsbewahrende Funktion der Schrift für den Kulturfortschritt höher bewertet als ihre Nachteile.57 Doch auch die Schriftlichkeit konnte die Homerischen Gesänge nicht vor Veränderungen durch den lebendigen Vortrag der Rhapsoden schützen, der dann wieder in die Gestalt des Texts einging. In dem Horen-Aufsatz Homer und Ossian58 wird hinsichtlich der Veröffentlichungen von James Macpherson die Untersuchung des folgenden textkritischen Fragenkatalogs gefordert: Ist alles, wie es gedruckt, gefunden? Ists aus lebendigen Gesängen genommen oder aus Handschriften? Stimmen die Handschriften unter einander? stimmt jede derselben mit dem lebendigen Gesange? Aus welcher Zeit ist die Diktion des Gesanges und der Handschriften?59

In bezug auf Homer bedauerte Herder, daß der große Bentley sich nicht gründlich mit ihm befaßt hatte; denn „er hätte Einschiebsel, Zusätze, Lücken bemerkt, und die Sagen selbst ernst geschieden.“60 Der Homer-Text ist in der überlieferten Gestalt „mit Obelisken und Asterisken geschmückt“ und von den alexandrinischen Grammatikern und Scholiasten des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr., Zenodotos, Aristophanes und Aristarchos, gesichert worden.61 Hinsichtlich der inhaltlichen Deutung beanspruchte Herder das Recht auf ein „eignes Urtheil über Homer“, in dem er am ehesten der Auffassung Blackwells von einer „Erscheinung der Vorwelt“ gefolgt ist.62 Wie die alexandrinischen Chorizonten Xenon und Hellanikos (nach der Ilias-Edition Villoisons, Cod. Marcianus A aus dem 10. Jahrhundert, Venedig 1788) hielt er aufgrund der schon von Pseudo-Longinos thematisierten großen Unterschiede zwischen Ilias und Odyssee diese für die Werke von zwei verschiedenen Dichtern. Trotz der Rhapsodentheorie hielt er – ebenso wie die Dichter Goethe, Schiller und Johann Heinrich Voß – an der historischen Persönlichkeit Homers und an der Einheit seiner Epen als

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SWS, Bd. 32, S. 517f. Vgl. dagegen SWS, Bd. 18, S. 425. SWS, Bd. 18, S. 446-462; FHA, Bd. 8, S. 71-87. SWS, Bd. 18, S. 451. SWS, Bd. 24, S. 227; FHA, Bd. 10, S. 769. SWS, Bd. 18, S. 445; FHA, Bd. 8, S. 113; SWS, Bd. 24, S. 228; FHA, Bd. 10, S. 770. – Vgl. Albrecht Dihle: Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit. Von Augustus bis Justinian. München 1989, S. 156: „Die Grammatiker verdienen den Ehrenplatz im Abschnitt über griechisch-römische Fachliteratur, ist es doch ihrer unermüdlichen Tätigkeit zu danken, daß überhaupt Texte antiker Dichtung und Kunstprosa trotz aller Widrigkeiten im Gang der Geschichte auch ohne den Schutz des Wortlautes durch den Buchdruck in weithin verständlicher Textgestalt den Weg in unsere Gegenwart gefunden haben. Daß Wahrung, Wiedergewinnung oder doch wenigstens Annäherung an den Wortlaut, den der Autor seinem Werk gegeben hat, die ursprüngliche und vornehmste Aufgabe aller Philologie war und letztlich ihre interpretatorischen Anstrengungen rechtfertigte, ist bei uns durch die Gewöhnung an gedruckte und damit im wesentlichen fixierte Texte weithin in Vergessenheit geraten.“ SWS, Bd. 24, S. 228; FHA, Bd. 10, S. 770.

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künstlerische Ganze fest. Beide unitarische Auffassungen dominieren auch den gegenwärtigen Forschungsstand zu Homer.63

II. Im Homer-Essay des 9. Stücks der Adrastea (1803) erwähnt Herder anläßlich von Fragen der textkritischen Untersuchung die „Kritik der hebräischen Schriften des alten Testaments“, die „nach Ort und Zeit also scheidend und läuternd“ verfahren ist.64 Spinoza und Richard Simon werden hier ohne weitere Erklärung als Begründer der Bibelkritik genannt.65 Spinozas freidenkerisches Werk, Tractatus theologico-politicus (1670), in Herders Studienbuch um 1770 exzerpiert,66 kommt explizit nur als Quellennachweis in den Marginalien des Schaffhauser Manuskripts Ueber die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. einige Anmerkungen (1768) vor,67 war aber nach den quellenkundlichen Forschungen von Wolfgang Proß für die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ein wichtiger grundierender Text, besonders für die Kritik der Organisationsformen der menschlichen Gesellschaft (Regierungen und Religion) im zweiten Teil des Werks.68 Den französischen katholischen Theologen Richard Simon (1638–1712) hat Herder im 1. Theologischen Brief (1780) wegen seiner Histoire critique du Vieux Testament (1678) und Histoire critique du texte du Nouveau Testament (1689) als „Vater der Kritik A. und N. T. in den neuern Zeiten“ bezeichnet.69 Im 5. der erst in der Werkausgabe 1808 veröffentlichten Briefe an Theophron (1781) führte er als Nachfolger Simons den Schweizer Bibelphilologen Johann Jakob Wetstein (1693–1754) und die deutschen Neologen Johann August Ernesti (1707–1781), Johann David Michaelis (1717–1791), Johann Salomo Semler (1725–1791) und Johann Wilhelm Friedrich Hezel (1754–1824) an.70 Der Aufsatz Morgenländische Literatur im 11. Stück der Adrastea (1804) würdigt insbesondere die Verdienste des mit Herder befreundeten Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) um die Bibelkritik und die biblische Einleitungswissenschaft. Gewürdigt wird ferner die Entdeckung des Poetischen in der Heiligen Schrift durch die Oxforder Vorlesun-

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SWS, Bd. 18, S. 427, 463; FHA, Bd. 8, S. 96; SWS, Bd. 32, S. 522f. Vgl. Lesky (Anm. 53), S. 50–59, 97; Der Kleine Pauly. Bd. 2. München 1979, Sp. 1202–1207. SWS, Bd. 24, S. 227; FHA, Bd. 10, S. 769. Ebd. HN (Anm. 54), Kapsel XXVIII, Handschrift 11, Blatt 23, 25–28. FHA, Bd. 5, S. 9–178. Vgl. SWS, Bd. 6, S. 109, Fußnote. Die z. T. umfangreichen Marginalien sind noch ungedruckt. Vgl. Günter Arnold: Das Schaffhauser Urmanuskript der „Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts“ und sein Verhältnis zur Druckfassung. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Hrsg. von Brigitte Poschmann. Rinteln 1989, S. 62. Johann Gottfried Herder: Werke. Hrsg. von Wolfgang Proß. 3 Bde., 1984, 1987, 2002; Bd. III/2 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Kommentar, München 2002, S. 454ff., 531–534, 735f., 808f. SWS, Bd. 10, S. 11; FHA, Bd. 9/1, S. 149. SWS, Bd. 11, S. 199. – Nach Auffassung Ralph Häfners (Tübingen) ist Herders Bibelkritik entscheidend von der zeitgeschichtlichen Exegese des Helmstedter Philologen Hermann von der Hardt (1660– 1746) beeinflußt. Vgl. Häfner: Tempelritus und Textkommentar. Hermann von der Hardts „Morgenröthe über die Stadt Chebron“ und die Eigenart des literaturkritischen Kommentars im frühen 18. Jahrhundert. In: Scientia Poetica 3 ( 1999), S. 70f.

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gen des späteren Lordbischofs von London, Robert Lowth (1710–1787), De sacra poesi Hebraeorum (1753), die Herder zu seinem berühmten Werk Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) angeregt hatten, und die Bemühungen des Arabisten Johann Jakob Reiske (1716–1774) und seines niederländischen Kollegen Albert Schultens (1686–1750) um die Bibelexegese: die Erläuterung der Schriften einer ausgestorbenen Sprache aus „einer lebendigen Schwestersprache“.71 „Lernen Sie Sprachen, verwandte Sprachen“, fordert Herder den fiktiven Kandidaten der Theologie auf, an den die Briefe, das Studium der Theologie betreffend adressiert sind.72 Die Pionierleistung von Jean Astruc (1684–1766) in der Begründung der Genesisquellenscheidungshypothese aufgrund unterschiedlicher Gottesnamen zwischen einem Jahwisten und einem Elohisten in den Conjectures sur les mémoires originaux dont il paroît, que Moyse s’est servi pour composer le livre de Genèse (1753) erkannte Herder offenbar nicht als solche an; im ersten Band der Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774) tat er sie als unbewiesenes „Geschwätz“ ab, obwohl er Astrucs Werk bei seinem Aufenthalt in Nantes im August 1769 benutzt hatte. Vermutlich bedauerte er, daß er mit der Entdeckung im Entwurf Das Lied von der Schöpfung der Dinge (1768), daß Moses Kapitel 2 eine spätere Einschaltung sei, zu spät kam.73 Ohne den Autor zu nennen, gab er jedoch im 3. Theologischen Brief dessen Theorie wieder, „daß Moses [...] aus ältern Traditionen oder Urkunden geschöpft, und mit einer Genauigkeit zusammengeordnet habe, die dem ältesten Geschichtschreiber menschlicher Dinge so wohl ansteht.“74 Wenig Sympathie empfand Herder auch für das Großprojekt des Oxforder Bibliothekars Benjamin Kennicott (1718–1783), der von vielen Mitarbeitern in Bibliotheken Spaniens, Italiens und Deutschlands mehr als 600 hebräische Manuskripte und über 50 hebräische Bibeldrucke für sein Vetus Testamentum Hebraicum, cum variis lectionibus (1776, 1780) kollationieren ließ. Immerhin schätzte Herder Kennicotts Arbeit im 12. Theologischen Brief (1780) als „ersten unvollkommenen, leider gar unsichern, indeß immer doch nützlichen Anfang“ einer „vollständigen, richtigen, kritischen Ausgabe einzelner Bücher“ des Alten Testaments ein, einer Ausgabe, die auf jeder Seite vier Kolumnen enthalten sollte: 1. den Masorethischen Text (mit kritisch-exegetischen Bemerkungen und Vokalzeichen von jüdischen Schriftgelehrten des 2./1. Jahrhunderts v. Chr.), 2. Lesarten anderer Exemplare, 3. alte Übersetzungen mit der Anzeige und Begründung ihrer Abweichungen und 4. Konjekturen und neuere bzw. eigene Übersetzungen.75 Andere Vorarbeiten zu einer solchen Bibel fand Herder in Eichhorns Repertorium für biblische und morgenländische Litteratur (1777–1786), in desselben Einleitung ins Alte Testament (1780–1783) und in Johann Georg Meintels Probe einer critischen Polyglottenbibel zu den ersten drei

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SWS, Bd. 24, S. 351; FHA, Bd. 10, S. 857. Vgl. SWS, Bd. 10, S. 13; FHA, Bd. 9/1, S. 150f. SWS, Bd. 10, S. 10; FHA, Bd. 9/1, S. 148. SWS, Bd. 6, S. 331; FHA, Bd. 5, S. 311. Vgl. Herder an Hartknoch, August 1769. DA (Anm. 28), Bd. 1, S. 156, 49f.; Bd. 11, S. 62 zu Zeile 38f.; SWS, Bd. 32, S. 165f.; FHA, Bd. 5, S. 25,14–17 (vor der Kenntnis Astrucs). – Vgl. John Rogerson: Old Testament Criticism in the Nineteenth Century. England and Germany. London 1984, S. 19f.; Ralph Häfner: Die Weisheit des Ursprungs. Zur Überlieferung des Wissens in Herders Geschichtsphilosophie. In: Herder Jahrbuch 2, 1994, S. 78. SWS, Bd. 10, S. 32; FHA, Bd. 9/1, S. 167. SWS, Bd. 10, S. 150; FHA, Bd. 9/1, S. 263.

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Kapiteln Mose (1765, 1769/70).76 Verehrungsvoll erwähnt Herder schließlich in den Ideen den Kirchenvater Origenes (185–251), der als Schöpfer der ([DSOD und als Bibelexeget „mehr gethan hat, als zehntausend Bischöfe und Patriarchen“; denn ohne „den gelehrten kritischen Fleiß, den er auf die Urkunden des Christenthums wandte“ wäre dessen Entstehungsgeschichte zu einem Märchen geworden.77 Im 12. Theologischen Brief untersucht Herder, wie sich die alttestamentlichen Schriften, die er für „die ältesten Nachrichten der Welt“ in „der ältesten Schrift […] aus dem Abgrund der Zeiten“ hält, erhalten haben und „nicht verdorben, verstümmelt und verlohren auf uns gekommen“ sind. „Gott sorgte für sie, wie ein Autor für sein Buch […] durch natürliche Mittel und Wege.“78 Die hebräische Sprache veränderte sich, und ihr lebendiger Gebrauch hörte auf. Hilfsmittel, um die Authentizität der Schriften zu prüfen, sind nach Herder der „Samaritanische Codex, die alten Uebersetzungen und Paraphrasen, endlich der spätere Zaun des Gesetzes, die Masora“ (Überlieferung). Der Samaritaner ist eine Überlieferung des Pentateuch, die Übersetzungen sind griechische, lateinische, syrische, arabische, die Paraphrasen aramäische. Nichts ging verloren, weil durch die Masoreten „Buchstaben, Punkte, Schreibezeichen als Heiligthümer und Kleinode gleichsam aufgefädelt worden“ sind. Schließlich kamen die jüdischen Handschriften durch den Buchdruck zur wissenschaftlichen Erschließung „in die Hände der Christen“.79 Auf eine Anfrage Hamanns zu einer Bemerkung Herders in einer Fußnote auf S. 83 des ersten Teils der Theologischen Briefe, warum er eine Punktierung (Vokalzeichen) „für besser und auch für hebräischer halte“,80 antwortete Herder Mitte November 1780, er sei bei der Übersetzung der Schriftstelle 1. Mose 49,22 „vom Hebräischen abgegangen und […] den Septuaginta und dem Araber [nach der Polyglottenbibel] gefolgt“.81 Moses Mendelssohn habe „eben so übersetzt, der doch immer dem Masorethischen Text hat treubleiben müßen.“82 Herder ersetzt die Lesart „banot saadah“ durch „bene se iri“ und übersetzt: „Der Zweig einer fruchtbarn (Mutter) ist Joseph,/Der Zweig einer Fruchtbarn über der Quelle,/Seine jungen Sprossen schiessen die Mauer hinauf.“83 In Mendelssohns Übersetzung Die fünf Bücher Mose. Wege des Friedens (1780) heißt die Stelle: „Josef ist ein grünes Reis, ein grünes Reis am Quell. Sprößlinge schreiten über die Mauer.“ Zum Vergleich die Luther-Bibel: „Joseph wird wachsen, er wird wachsen wie ein Baum an der Quelle, daß die Zweige emporsteigen über die Mauer.“ Im gleichen 6. Theologischen Brief über den Jakobssegen werden auch bei vielen anderen Schriftstellen Lesarten angeführt.

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SWS, Bd. 10, S. 151; FHA, Bd. 9/1, S. 263, 1030. SWS, Bd. 14, S. 320; FHA, Bd. 6, S. 734f. SWS, Bd. 10, S. 152, 149, 148; FHA, Bd. 9/1, S. 264, 261, 260. SWS, Bd. 10, S.148f.; FHA, Bd. 9/1, S. 260ff., 1029. Hamann an Herder, 25. Oktober 1780. Johann Georg Hamann. Briefwechsel. Hrsg. von Walther Ziesemer/Arthur Henkel, 7 Bde., Wiesbaden/Frankfurt a. M. 1955-1979. Bd. 4: 1778–1782. Hrsg. von Arthur Henkel. Wiesbaden 1959, S. 228. Vgl. SWS, Bd. 10, S. 62, Fußnote; FHA, Bd. 9/1, S. 192. DA (Anm. 28), Bd. 9, S. 291, 55ff. DA (Anm. 28), Bd. 9, S. 292, 58ff. SWS, Bd. 10, S. 61 („meistens mit dem Samaritaner und Araber zu lesen“); FHA, Bd. 9/1, S. 192, 1013 (nach Christoph Bultmann ist die Übersetzung „jedoch grammatisch nicht sicher“). Für die Überprüfung dieser Stelle im Hebräischen danke ich Herrn Professor Dr. John Rogerson, Sheffield.

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Im 16. Theologischen Brief erklärt Herder die Gleichnisreden Jesu als „gewöhnliche Einkleidung der alten Jüdischen Lehrer, die wir in ihren Büchern und Commentaren häufig […] finden.“84 Als wichtige Hilfsmittel zur neutestamentlichen Exegese empfiehlt er deshalb Standardwerke der hebräisch-rabbinischen Philologie, unter anderen Johann Christian Schöttgens Horae Hebraicae et Talmudicae in universum Novum Testamentum (1733, 1742), John Lightfoots Werk gleichen Titels (1675), Johann Gerhard Meuschens Novum Testamentum ex Talmude et antiquitatibus Hebraeorum illustratum (1736), aus den Schriften von Flavius Josephus und Philon von Alexandria zusammengestellte Kommentare zum Neuen Testament und vor allem Wetsteins Novum Testamentum Graecum (1751/52), zusammen mit Hugo Grotius’ Annotationes in Novum Testamentum (1641, 1650) „an kritischem Apparat […] das beste“, dazu Johann Jakob Griesbachs Novum Testamentum Graece (1774/75), Johann Benjamin Koppes Novum Testamentum graece perpetua annotatione illustratum (1778–1783) und William Bowyers Conjecturen über das Neue Testament (1774/75). Eine Ausgabe des Neuen Testaments nach Herders Vorstellung sollte Wetstein, Griesbach, Bowyer und „die Varianten der merkwürdigsten alten Uebersetzungen“ in vier Kolumnen vereinigen. Am meisten bedauerte er, daß die von Bentley angekündigte Edition des Neuen Testaments nicht zustande gekommen ist; „sie wäre der Kritik äußerst nutzbar worden“.85 Im 2. Brief an Theophron (1781) warnt Herder den fiktiven Adressaten, der ein Theologiestudium absolviert hat, aber noch nicht im geistlichen Amt steht (beim Schreiben hatte Herder seinen jungen Freund Johann Georg Müller im Sinn), vor der „kritischen Gelehrsamkeit“ bei der Lektüre der Bibel, besonders des Neuen Testaments; „der kritische Gesichtspunkt bei den Büchern deßelben mache sie beinah zu kahlen Stoppeln und Ueberbleibseln der Ernte von falschen Evangelien“. Es komme aber darauf an, in ihnen „Wahrheit, Empfindung, Einfalt“ zu suchen, „die Sprache des menschlichen Herzens“.86 In diesem Zusammenhang erwähnt Herder auch seinen Plan einer eigenen Bibelübersetzung „als Sammlung alter Schriften“, in der „jedes Buch und jedes Stück eines Buchs ohne Kapitel- und Versabtheilung in sein ursprüngliches Licht gesetzt, Poesie und Geschichte […] richtig unterschieden“ wären.87 Man müsse „jede Schrift dieser Sammlung natürlich, d. i. Ort- und Zeitmäßig“ betrachten, „insonderheit die für uns gehörigen schönsten Theile derselben reinmenschlich und natürlich, nach Ort und Zeit begreiflich“ hinstellen.88 Nach Abschluß von Griesbachs neuer Ausgabe seines Novum Testamentum Graece (1803–1807) wollte er damit beginnen; er hatte aber in verschiedenen Lebensabschnitten und Schriften schon einzelne Texte der Bibel übersetzt.89 Nach einer Gesprächsnotiz Karl August Böttigers vom 16. November 1794 waren „Herders Beschäftigung in Bücke-

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SWS, Bd. 10, S. 182; FHA, Bd. 9/1, S. 294. SWS, Bd. 10, S. 182ff., 184; FHA, Bd. 9/1, S. 295ff.; SWS, Bd. 24, S. 185; FHA, Bd. 10, S. 728. SWS, Bd. 11, S. 165ff. Ebd., S. 170f. SWS, Bd. 20, S. 58. SWS, Bd. 19, S. 138; FHA, Bd. 9/1, S. 611f. – Vgl. Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder. Gesammelt und beschrieben von Maria Carolina von Herder, geb. Flachsland. Hrsg. durch Johann Georg Müller. 2. Teil. Tübingen 1820, S. 212f.

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burg nicht lange nach seiner Verheirathung die Kritik des Neuen Testaments, Wetstein, Griesbach und die Varianten.“ Daher hege Karoline Herder tiefe Abneigung gegen Varianten und habe sich über eine Persiflage auf das Studium der biblischen Kritik in Heinrich Philipp Konrad Henkes Archiv für die neueste Kirchengeschichte, 1. Jahrgang, 4. Stück, S. 188–192 (1794), gefreut, wo unter anderem die Preisfrage gestellt war, „ob Wetstein wirklich 760 Varianten allein aus dem Codice Cantabrigiensi Bezae [griechische und lateinische Handschrift des Neuen Testaments in Cambridge, vor dem 6. Jahrhundert; herausgegeben von Theodor Beza, 1519–1605, französischer reformierter Theologe] teils erdichtet, teils falsch oder verändert angezeigt habe“.90 Zu den textkritischen Arbeiten Herders in jener Zeit zählt die Probe nichtiger Conjekturen übers N. T. gezeigt an den Briefen Jakobus und Judas und an den zwei ersten Kapiteln Matthäus, der Anhang der Schrift Briefe zweener Brüder Jesu in unserm Kanon (1775), worin er einige Konjekturen William Bowyers (1699–1777) am griechischen Text prüft und die meisten als unnützen „Eigensinn exegetischer Hypothesenköpfe“ oder „Anfangs-Versuch der Kritik“ verwirft.91Eingangs beschäftigt er sich mit der Terminologie und trifft eine Unterscheidung zwischen Konjektur und Lesart: Konjektur, heute verstanden als mutmaßliche Berichtigung einer verderbten Lesart, ist willkürlich und kann „nicht sorgsam und bescheiden gnug“ ausgeführt werden, „ein Hirngespinst, […] dem wir erst, Trotz aller Texte, Lesarten und Abschriften Exsistenz geben. Lesart ist ein bestimmter, gegebener Fall“, vielleicht ein „Fehler des Abschreibers“.92 Richtig wird damit die Lesart als Überlieferungsvariante definiert, die nicht vom Autor des Textes herrührt. Am ausführlichsten geht Herder auf textkritische Fragen zum Neuen Testament in der Schrift Vom Erlöser der Menschen. Nach unsern drei ersten Evangelien (1796) ein, in der er in vergleichender Betrachtung Verschiedenheit und Ähnlichkeit in den synoptischen Evangelien feststellt und daraus ihre Entstehungsgeschichte entwickelt, die er explizit als Regel der Zusammenstimmung unsrer Evangelien, aus ihrer Entstehung und Ordnung der folgenden Schrift, Von Gottes Sohn, der Welt Heiland. Nach Johannes Evangelium (1797), anhängt. Es handelt sich dabei vornehmlich um Probleme der höheren Kritik, wie die Zuschreibung, die vermutete gemeinsame Quelle, die Ursachen für die Verschiedenheit, die relative Datierung der Evangelien und ihren Entstehungsort, die Wahl der Schriften des neutestamentlichen Kanons durch die Kirchenväter Ende des 4. Jahrhunderts und Eusebius’ Unterscheidung von „allgemein angenommenen, zweifelhaften und völlig unächten Schriften“.93 „Seit Wiedererweckung der Wißenschaften“ (Renaissance) habe man – „von Erasmus bis Griesbach“ – die Evangelien wie andere alte Quellen erforscht, Handschriften gesucht und mit großer Gelehrsamkeit und Vorsicht beurteilt, mit großem Aufwand an Kosten und Mühe Lesarten gesammelt. „Auf keine Schrift des gesammten Alterthums sei so viel

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Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl Aug. Böttiger’s handschriftlichem Nachlasse. Hrsg. von K. W. Böttiger. 2 Bde., Leipzig 1838, Bd. 1, S. 109; Neuausgabe. Hrsg. von Klaus Gerlach und René Sternke. Berlin 1998, S. 100, 449f. SWS, Bd. 7, S. 545; vgl. S. 544-560. SWS, Bd. 7, S. 545. SWS, Bd. 19, S. 144, 140–147; FHA, Bd. 9/1, S. 618, 615–621.

Philologische Textkritik als Technik geistiger Überlieferung bei Johann Gottfried Herder

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Fleiß gewandt, als auf diese. Fast alle Nationen Europa’s haben dazu beigetragen.“ Zweifel an der Glaubwürdigkeit der „Urkunden des Christenthums“ als einem „Gebilde unkritischer Jahrhunderte“ weist Herder mit der Bemerkung zurück, daß „die Evangelien, die in so vielen, zum Theil sehr alten Handschriften daliegen, literarisch gewiß Aufmerksamkeit und keine Verachtung verdienen“. Außer den Handschriften habe man alle Übersetzungen gesammelt, „bis nach Abessinien, Persien, Armenien, bis zu den Gothen hin hat man sie aufgesucht […] und ist in einigen bis zum zweiten, dritten Jahrhundert gelanget.“94 Zeugnisse über die Bekanntheit und Verbreitung der Evangelien, über des Syrers Tatian Versuch einer Evangelienharmonie (um 180), über Verfälschungen durch Gnostiker (Marcion, um 85–160) und Häretiker enthält des Eusebius (um 265–339) (NNOKVLDVWLNK LVWRULD. Die Evangelien erweisen sich nach dem „ganzen Zusammenhang der christlichen Geschichte“ als „echte Schriften einiger aus dem Judenthum entsproßenen Christen; Früchte der letzten Hälfte des ersten christlichen Jahrhunderts.“95 Dafür sprechen auch die Äußerungen heidnischer römischer Schriftsteller über das Christentum; als wichtigsten Garanten der Echtheit aber sieht Herder den „kirchlichen Glauben, durch Tradition, Glaubensbekenntniße und Evangelien fortgepflanzt, aufs Wort und Zeugniß der Apostel angenommen und uns überliefert“.96 Nicht zuletzt kann die Dichte der Überlieferung in einer Vielzahl von „selbst geschriebenen Evangelien“ – palästinensischen, syrischen, ägyptischen, griechischen und lateinischen – aufgrund der schnellen Ausbreitung der christlichen Lehre als Authentizitätsbeweis dienen, wie er z. B. geführt worden ist in Des Herrn Isaac le Beausobre Abhandlung, worinnen gezeigt wird, daß die apokryphischen Schriften aus den ersten christlichen Jahrhunderten die Gewißheit der christlichen Religion nicht schwächen, sondern bestätigen (in Johann Andreas Cramers Beyträgen zu Beförderung theologischer Känntniße, 2. Teil, 1777).97 Wie Herder die Apokryphen des Alten Testaments „als Brücke des Uebergangs vom A. zum N. T. […] sowohl der Sprache als Denkart nach“ und als seinerzeit nützliche, volksmäßige „menschliche Bücher“ und wichtige Quellen für die Kenntnis des Spätjudentums gegen ihre zeitgenössische Mißachtung aufgewertet hat, 98 so zieht er zur Erläuterung der kanonischen Evangelien in seinen Schriften auch oft die neutestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen heran. „Der große Bibliothekar Deutschlands“,99 Johann Albert Fabricius (1668–1736),100 hat beide ediert im Codex pseudepigraphus Veteris Testamenti (1713, 2. Aufl. 1722) und Codex apocryphus Novi Testamenti (1719, 1743). Aus letzterem werden im einzelnen das apokryphische Evangelium von der Kindheit Jesu (Kindheitsevangelium des Thomas, um 160) er-

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SWS, Bd. 19, S. 145, 144, 145; FHA, Bd. 9/1, S. 620, 619, 620. SWS, Bd. 19, S. 147; FHA, Bd. 9/1, S. 621. SWS, Bd. 19, S. 247; FHA, Bd. 9/1, S. 720. SWS, Bd. 19, S. 207f.; FHA, Bd. 9/1, S. 680f., 1132. SWS, Bd. 11, S. 188ff. Ebd., S. 190. Vgl. Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736). Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. Bd. 80), S. XVIIf., XXIIIff., XXVIII, 425–430, 460-464, 494f., 497f., 502–507, 514–550, 561–567.

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Günter Arnold

wähnt,101 ferner das Hebräer-Evangelium,102 das Nazaräer-Evangelium (auch Nazarener-Evangelium),103 das Ebioniten-Evangelium,104 das Ägypter-Evangelium105 (alle bisher genannten um 140) und Zusätze zum Matthäus-Evangelium.106 Herder nimmt, Lessings Neuer Hypothese über die Evangelisten als blos menschliche Geschichtschreiber betrachtet (1778, in G. E. Leßings theologischem Nachlaß, 1784) folgend,107 ein gemeinschaftliches hebräisches Ur-Evangelium an (später: syrochaldäisch, zum mündlichen Vortrag), das den drei Synoptikern zugrunde gelegen habe.108 Die entstehungsgeschichtliche Abfolge der kanonischen Evangelien sieht er unter stilistischen und kompositionellen Gründen so: Auf das Evangelium der Hebräer folgten die griechischen Evangelien von 1. Markus, 2. Lukas, 3. Matthäus, 4. Johannes.109 Herder wendet sich entschieden gegen die künstliche Zusammenordnung in eine Evangelienharmonie: „Vier Evangelisten sind, und jedem bleibe sein Zweck, seine Gesichtsfarbe, seine Zeit, sein Ort“110 – ganz wie es Herders historischgenetischer und individualisierender Exegese entspricht: Die Kritik des Textes und seines Inhalts könnte sich bei diesen historischen Schriften nicht anders, als bei jeder andern historischen Schrift erzeigen, unpartheiisch, unterscheidend, sondernd.111

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SWS, Bd. 19, S. 222, 312, 385; FHA, Bd. 9/1, S. 694. SWS, Bd. 19, S.312, 325, 399, 407. Ebd., S. 206, 235, 401; FHA, Bd. 9/1, S. 678, 707; SWS, Bd. 7, S. 519f. SWS, Bd. 19, S. 401; SWS, Bd. 7, S. 519f. SWS, Bd. 19, S. 220; FHA, Bd. 9/1, S. 693; SWS, Bd. 7, S. 543f. SWS, Bd. 19, S. 385. Vgl. Rudolf Haym: Herder. Bd. 2. Berlin 1954, S. 583–592. SWS, Bd. 19, S. 141, 205, 211, 417ff., 423; FHA, Bd. 9/1, S. 615, 678, 683f. SWS, Bd. 19, S. 423f., vgl. S. 416–424. Ebd., S. 416, Fußnote. Ebd., S. 424.

Reinmar Emans

Möglichkeiten und Grenzen der Textkritik bei Incerta

Immer noch wird bei der Echtheitsdiskussion musikalischer Werke der Stilkritik eine größere Bedeutung beigemessen als der in vielerlei Hinsicht nachprüfbareren und damit objektiveren Textkritik. Dies zeigt sich unter anderem auch darin, daß in dem von Klaus Hofmann und Yoshitake Kobayashi für das Mainzer Kolloquium Echtheitsfragen als Problem musikwissenschaftlicher Gesamtausgaben gemeinsam verfaßten Beitrag Bach oder nicht Bach? die Textkritik mit etwa acht Seiten gegenüber 27 der Stilkritik gewidmeten Seiten einigermaßen unterrepräsentiert ist.1 Gleiches gilt etwa für die Arbeit von Rolf Dietrich Claus Zur Echtheit von Toccata und Fuge dmoll BWV 565.2 Bei einem Gesamtumfang von knapp 100 Seiten werden nur zwölf der textkritischen Seite des Problems gewidmet. Immer noch, und das obgleich die Grenzen der Stilkritik bei Zuschreibungsproblemen schon durch vergleichbare Arbeiten in Nachbardisziplinen deutlich geworden sein müßten, wird lieber stilkritisch geurteilt, als daß versucht würde, alle durch die textkritische Methodik zur Verfügung gestellten Möglichkeiten zur Bestimmung des Autors wirklich zu nutzen. Auch wenn dieses Potential nur bei wenigen Werküberlieferungen in der Weise nutzbringend angewendet werden kann, daß nachher der Autor definitiv feststehen dürfte, liegt doch hier eine nicht zu vernachlässigende Chance bei der Einschätzung der Autorschaft. Meine nachfolgenden Ausführungen beschränken sich im wesentlichen auf Echtheitsprobleme bei Johann Sebastian Bach. Daß vielleicht weniger die Möglichkeiten der Textkritik – hier folge ich im wesentlichen Georg Feders Definition3 – erörtert werden als deren Grenzen, ergibt sich aus der in diesem Zusammenhang erfolgten Überprüfung der für die Echtheits-/Unechtheitsbestimmung angewandten Kriterien. In der Vergangenheit haben papierkundliche Fragestellungen zweifellos zu dem einen oder anderen Erfolg bei der Zuschreibung geführt. Beispielsweise konnte für eine Abschrift der in der Echtheit bezweifelten Fuge d-Moll BWV 948 aufgrund ihres Wasserzeichens, das auch in Bachschen Originalkompositionen nachweisbar ist, zumindest wahrscheinlich gemacht werden, daß die Abschrift in unmittelbarer Umgebung Bachs entstand.4 Naturgemäß sind derartige positive Ergebnisse aber ohnehin

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Vgl. hierzu Yoshitake Kobayashi: Bach oder nicht Bach? In: Opera incerta. Echtheitsfragen als Problem musikwissenschaftlicher Gesamtausgaben. Hrsg. von Hanspeter Bennwitz, Gabriele Buschmeier, Georg Feder, Klaus Hofmann und Wolfgang Plath. Mainz 1991, S. 30–38. Rolf Dietrich Claus: Zur Echtheit von Toccata und Fuge d-moll BWV 565. Rheinkassel 1995. Georg Feder: Musikphilologie. Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Editionstechnik. Darmstadt 1987. Kobayashi: 1991 (Anm. 1), S. 32.

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nur bei Quellen zu erwarten, die noch zu Lebzeiten Bachs geschrieben wurden. Da jedoch das überwiegende Gros der Handschriften mit Bach zugeschriebenen Werken, die in ihrer Echtheit bezweifelt werden, erst deutlich nach Bachs Tod entstand, wird die Papierforschung bei Fragen der Autorschaft nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ähnlich deutlich treten im übrigen die Erkenntnisgrenzen bei Schriftuntersuchungen zutage. Die Argumentationsstruktur basiert meist auf der These, daß Handschriften mit wenigen Korrekturen Abschriften sind, solche mit vielen Korrekturen, insbesondere wenn sie die Werksubstanz betreffen, aber Kompositionsniederschriften. Wegen einer Reihe von Korrekturen wurde etwa das in einer Handschrift von Johann Ludwig Krebs überlieferte Sanctus F-Dur BWV Anh. 27 als eine Komposition dieses Bachschülers identifiziert und rückte aufgrund dieser Erkenntnisse im Bach-WerkeVerzeichnis von Anhang II (Zweifelhafte Werke) in den Anhang III (Johann Sebastian Bach fälschlich zugeschriebene Werke).5 Die von Kobayashi angegebenen Notenkorrekturen sind als Beweis für die These, hier handle es sich um eine Kompositionspartitur von Krebs, allerdings nur sehr bedingt tauglich; schließlich könnte Krebs diese Korrekturen auch beim Kopieren oder als redaktionelle Maßnahme ausgeführt haben. Die im Faksimile6 erkennbaren Probleme bei der Textunterlegung sprechen genauso wenig für Krebs als Autor. Schwierigkeiten bei der Textunterlegung können auch daraus resultieren, daß in der Vorlage nur eine Stimme sporadisch textiert war und nun vervollständigt werden mußte – ein Verfahren, das bei Bachschen Chorsätzen nur allzuoft anzutreffen ist und das bei den Kopisten häufig zu Irritationen geführt hat. So plausibel derartige Neuzuschreibungen im einzelnen auf den ersten Blick sein mögen, so problematisch bleibt ihre Prämisse. Denn das, was als Kompositionskorrektur bezeichnet wird, ist sowohl terminologisch als auch inhaltlich nicht deutlich genug von Bearbeitungskorrekturen zu unterscheiden. Dies hängt damit zusammen, daß zahlreiche Werke bereits bei der Abschriftnahme für die jeweiligen Bedürfnisse eingerichtet wurden. Dann aber stellen die hieraus erwachsenen Korrekturen lediglich Bearbeitungskorrekturen dar, nicht aber Kompositionskorrekturen. Eine eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Typologien lassen die meisten Korrekturen auch bei noch so genauer Analyse nicht zu; vor allem, wenn die Vorlage einer Bearbeitung unbekannt geblieben ist, sind die Chancen für eine richtige Einschätzung schlecht. Ohne Kenntnis der Vorlage würde man etwa die Teilabschrift des Cembalokonzerts d-Moll BWV 1052 durch Christoph Nichelmann, einem Bach-Schüler und späteren Musikerkollegen von Carl Philipp Emanuel Bach in Berlin, als Kompositionspartitur bewerten müssen. Nichelmanns Abschrift geht zunächst auf einen Stimmensatz von C. P. E. Bach zurück; doch überarbeitete er später die Cembalo-Stimme, indem er die Spätfassung des Werks, wie sie in einem Autograph J. S. Bachs überliefert ist, hineinkorrigierte. Mithin finden sich hier jede Menge Korrekturen, die sich der Kategorie Kompositionskorrektur – oder wohl treffender: Überarbeitungskorrektur – zuordnen

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Ebd., S. 35, sowie Ders.: Neuerkenntnisse zu einigen Bach-Quellen. In: Bach-Jahrbuch (1978) S. 43– 60, besonders S. 46ff. Bach-Jahrbuch (1978), S. 48.

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ließen; und doch erlauben diese für sich genommen noch keine Aussage über den wirklichen Autor des Werks.7 Zu einer etwas anderen Kategorie scheint das kleine Präludium C-Dur BWV 567 zu gehören, das in einer Brüsseler Quelle von der Hand von Johann Ludwig Krebs überliefert ist. Neben einer kleinen Korrektur im Titel (Praeludio wird zu Praeludium) finden sich hier an fünf Stellen Korrekturen, die von Yoshitake Kobayashi als Kompositionskorrekturen gewertet wurden.8 Bedenklich stimmt hier allerdings, daß bei allen fünf Stellen lediglich Viertelnoten zu Halben geändert wurden. Die Gleichartigkeit der Korrekturen läßt viel eher die These zu, daß bei der Abschriftnahme eine geringfügige Bearbeitung vorgenommen wurde. Außerdem muß wohl auch in Betracht gezogen werden, daß beim Abschreiben eines Stücks, das zumeist geschwärzte Notenköpfe enthält, versehentlich rhythmische Fehler ausgesprochen rasch unterlaufen können.9 Wird hier aufgrund der Bewertung von möglicherweise ganz banalen Schreibversehen als Kompositionskorrekturen ein sicherlich eher schwaches Stück Bach nun endgültig abgesprochen und in Anhang III des Bach-Werke-Verzeichnisses verbannt, so wertete man ganz ähnliche Korrekturen in einem anderen Fall als Indizien für die Autorschaft J. S. Bachs. Das nur fragmentarisch überlieferte Choralvorspiel Wie schön leuchtet der Morgenstern BWV 764 galt lange Zeit als unecht und wurde deshalb nicht in die Hauptbände der Neuen Bach-Ausgabe aufgenommen. Schließlich weist dieses Stück keine Autorenangabe auf; allerdings steht es zusammen mit BWV 739 über die gleiche Choralmelodie auf einem Bogen. Und BWV 739 ist eindeutig Bach zugewiesen, obwohl die Autorenangabe JSB längere Zeit wohl als 152 fehlgelesen wurde. Nachdem Schriftuntersuchungen eindeutig belegen konnten, daß es sich bei diesen Stücken um sehr frühe Autographe Johann Sebastian Bachs handelt, die deswegen lange nicht als solche erkannt wurden, galten beide Stücke auf einmal als eindeutig echt. Daß dabei ein Faktum etwas beiseite geschoben wurde, das sonst für die Einschätzung als ausgesprochen wichtig erachtet wird, sei immerhin erwähnt: Beide Stücke sind hier nämlich in Reinschrift überliefert, weswegen die Autorschaft Bachs trotz der autographen Quelle nicht beweisbar ist. Beweisbar ist lediglich, daß Bach die Kopie eines Stücks angefertigt hat, nicht aber, daß er beide Stücke auch komponiert hat. Unser Fragment allerdings enthält immerhin einige Korrekturen, die nun – vielleicht auch wieder etwas vorschnell – sofort als Kompositionskorrekturen bewertet wurden. Doch handelt es sich auch hier wieder lediglich um Korrekturen, die die Notenwerte betreffen.

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Vgl. hierzu Hans-Joachim Schulze: Der Schreiber „Anonymus 400“. In: Bach-Jahrbuch (1972), S. 116. Kobayashi 1978 (Anm. 5) S. 46. Hierfür spricht vor allem der Umstand, daß in keinem Korrekturfall eine überzählige Note getilgt werden mußte, obwohl der Sachverhalt in zwei Takten identisch ist. Wäre die erste Korrektur eine Kompositionskorrektur gewesen, hätte die zweite Stelle eigentlich bereits die Lesart post correcturam des parallelen Taktes enthalten müssen. Wären aber beide Korrekturen erst nachträglich vorgenommen worden, müßte man davon ausgehen, daß eine nach der Korrektur überzählige Note zu tilgen gewesen wäre – es sei denn, beide Takte wären zuvor unvollständig notiert gewesen. Der Schriftduktus weist zusätzlich auf ein reines Versehen hin; Krebs brachte das Stück nämlich mit derart großem Schwung und entsprechend wohl auch zügig zu Papier, daß Flüchtigkeitsfehler vorprogrammiert scheinen.

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BWV 764 von der Hand Johann Sebastian Bachs. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Signatur Mus. Ms. Bach P 488

Unter der nicht unplausiblen Annahme, in Bachs Vorlage hätte das Stück in doppelten Notenwerten gestanden, die Bach – wie auch in anderen Fällen nachweisbar – bei der Abschrift reduzierte, würde es sich freilich lediglich um Bearbeitungskorrekturen handeln. Allenfalls der getilgte Haltebogen vom vorletzten zum letzten Takt könnte bei dieser Argumentation Probleme bereiten. Die Frage der Autorschaft jedenfalls ist

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aufgrund dieser wenigen und zudem einheitlichen Korrekturen wohl kaum zu klären.10 In allen hier angeführten Fällen entsteht ohnehin eher der Eindruck, als sei eine vorangegangene Einschätzung maßgeblicher für die Bewertung der Korrekturen gewesen als die Korrekturen selbst. Da hier offenkundig eher der Wunsch, mit eindeutigen Ergebnissen aufzuwarten, als der (durchaus mehrdeutige) Sachverhalt an sich der Vater der Gedanken ist, muß die methodische Eignung der hier zugrundegelegten Prämissen noch einmal kritisch überdacht werden.11 Als ähnlich problematisch erweist sich die Einschätzung, daß allein schon aufgrund des Konzeptschriftcharakters einer Handschrift eine Zuschreibung hinreichend gesichert sei. Das mag zwar wiederum im Einzelfall seine Berechtigung haben wie etwa bei dem in Mus. ms. 30098 überlieferten Magnificat A-Dur, das von den Bibliothekaren erst Johann Ludwig Krebs, dann Antonio Giannettini zugeschrieben wurde. Durch die Identifikation des Schreibers mit Johann Adolph Scheibe scheint der Fall geklärt.12 Fatalerweise gibt es aber auch manche Schreiber, deren Abschriften nicht nur dem Duktus nach, sondern auch aufgrund zahlreicher Korrekturen fälschlicherweise den Eindruck einer Kompositionspartitur erwecken.

BWV 42, 1. Satz, geschrieben von Christoph Nichelmann. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Signatur: Am. B. 32

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Siehe hierzu Reinmar Emans: Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie IV, Bd. 10. Kritischer Bericht, Kassel etc. 2008, S. 42–44 Kobayashi 1991 (Anm. 1), S. 35, mahnt ebenfalls Vorsicht an. Als Beispiel führt er das Sanctus BWV 241 an, das im Autograph Bachs überliefert ist und zudem deutliche Korrekturen aufweist, die lange als Kompositionskorrekturen bewertet wurden, in Wirklichkeit aber Bearbeitungskorrekturen darstellen. Diese Mahnung zur Vorsicht steht jedoch in merkwürdiger Diskrepanz zu den eher unvorsichtigen Zubzw. Abschreibungen, denen eine ausgesprochen subjektive Einschätzung zugrunde liegt. Kobayashi 1978 (Anm. 5), S. 50.

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So wurden lange Zeit Abschriften von Christoph Nichelmann aufgrund der flüchtigen und ausgesprochen impulsiv wirkenden Gestaltung nicht als Abschriften, sondern als Kompositionsautographe bewertet, was nun wiederum auch Konsequenzen in Bezug auf die Einschätzung von nichtbachschen Werken hatte, die von Nichelmann kopiert wurden. Zu diesem Fehlurteil gelangten im übrigen nicht etwa schriftkundliche Laien, sondern – was Handschriftendiplomatik betrifft – Autoritäten ihrer Zeit.13 Hier ist also trotz einiger Erfolge zumindest eine gewisse Vorsicht bei der Einschätzung angesagt – auch zu Zeiten, in der die Forschung glaubt, fast alle Schreiber aus dem Umkreis Bachs eindeutig zuordnen zu können und kaum ein Jahrgang des Bach-Jahrbuchs erscheint, in dem nicht ein bislang anonymer Kopist namhaft gemacht werden kann. Inwieweit freilich derartige Zuweisungen aufgrund der Unterschiedlichkeit der Handschriften – etwa auf der einen Seite (lateinisch geschriebene) Aktenvermerke, auf der anderen aber Noten mit nur wenigen und dann deutschen Schriftproben – wirklich immer so eindeutig ausfallen, wie dem Leser glauben gemacht wird, sollte dabei stets bedacht sein. Wie die herangezogenen Beispiele gezeigt haben dürften, ist auch Textkritik nicht frei von apriorischen Wertungen, Vorurteilen und biographischen Konstruktionen,14 durch die die scheinbare Zuverlässigkeit der Methode in Frage gestellt wird. Dabei war bislang nur von Quellen die Rede, deren Entstehung zu Lebzeiten Bachs gewisse Rückschlüsse auf den wahren Autor ermöglichen. Das Gros der sogenannten Incerta aber ist – wie bereits angedeutet – in Sammelhandschriften überliefert, die meist erst deutlich nach Bachs Tod entstanden sind. Häufig stammen sie sogar erst aus dem 19. Jahrhundert und wurden von Sammlern – wie etwa Mendelssohn, Hauser oder VoßBuch – geschrieben oder in Auftrag gegeben. Es bedarf gewiß keiner Erklärung, daß bei derartigen Quellen eine primär diplomatische Textkritik keine Ergebnisse zeitigen dürfte. Dennoch werden solche von einzelnen Forschern auch bei dieser Handschriftengruppe angestrebt. Abzulehnen bleibt hierbei eine immer wieder in der Diskussion verwendete Denkfigur, die in engem Zusammenhang mit der Quellenbewertung steht. Demnach sei eine sogenannte „periphere“ Überlieferung auch hinsichtlich der Autorenzuweisungen problematischer als eine „zentrale“, und ebenso sei eine späte Überlieferung weniger beweiskräftig als eine frühe. Das mag zwar generell richtig sein, hat aber für das einzelne Stück überhaupt keine Relevanz. Daß einer derartigen, auf unzulässigen Verallgemeinerungen basierenden Bewertung von Überlieferungskreisen keine wirkliche Beweiskraft zukommt, hat Klaus Hofmann 1988 zu Recht deutlich gemacht.15 Häufig basieren derartige Echtheitsdiskussionen auf ausgesprochen sub-

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Derartige „Mißverständnisse“ sind dargelegt bei Schulze 1972 (Anm. 7), S. 106. Vgl. hierzu auch Reinmar Emans: Vom überstrapazierten Autor. Biographische Konstruktionen bei Echtheitskritik. In: Musik und Biographie. Festschrift für Rainer Cadenbach. Hrsg. von Cordula Heymann-Wentzel und Johannes Laas. Würzburg 2004, S. 17–29 und ders.: Der konstruierte Autor. Fiktion versus Wirklichkeitsabbildung. In: Bericht über das 5. Dortmunder Bach-Symposion 2004, hrsg. von Reinmar Emans und Martin Geck, Dortmund 2008, S. 157–168. „Ich glaube, ,peripher‘ und ,zentral‘, ,früh‘ und ,spät‘ und auch der Hinweis darauf, daß ein bestimmter Überlieferer das eine oder andere Mal ein bestimmtes Werk unter falschem Komponistennamen weitergegeben habe, besagt im Einzelfalle nichts und darf auch nicht als ,belastende Aussage‘ in die ,Urteilsfindung‘ eingehen; es ist ein statistisches, kein individuelles Moment.“ Siehe Klaus Hofmann: Bach oder nicht Bach? In: Opera incerta. 1991 (Anm. 1), S. 18.

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jektiven Einschätzungen der Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit eines Schreibers; daß dabei zumeist nicht berücksichtigt wird, daß Schreibern umfangreicherer Sammelhandschriften oder Konvolute mit Sicherheit sehr unterschiedliche Vorlagen zur Verfügung standen und ihnen selbstverschuldete Unzuverlässigkeiten mithin wohl seltener anzulasten wären, als es vielleicht zunächst den Anschein hat, gehört mit zu den nur schwer überprüfbaren Prämissen. Wie beispielsweise die Diskussion um die Echtheit der berühmten Toccata und Fuge d-moll BWV 565 gezeigt hat, können daher die Einschätzungen der Schreiberzuverlässigkeit diametral entgegenlaufen. So gelten Rolf Dietrich Claus die Kopisten-Qualitäten von Johannes Ringk, dem Schreiber der ältesten überlieferten Quelle, als ausgesprochen problematisch: „Beider Reputation [Kellner und Ringk] als Kopisten ist – ihrer vielen Schreibversehen wegen – nicht sehr groß.“16 Christoph Wolff hingegen scheint Ringk als Schreiber ausgesprochen zuverlässig, da „sich bei keiner der siebzehn weiteren Bach-Abschriften Ringks die Zuschreibung an Bach als falsch“ erweist17 – wohingegen Claus eine dieser Abschriften (BWV 551) als durchaus zweifelhaft einordnet. Beiden dient die jeweilige Schreibereinschätzung als wesentliches textkritisches Argument für die Echtheitsfrage der Toccata und Fuge; da beide Entgegengesetztes wollen, driften auch die methodisch bedingten Interpretationen stark auseinander. Mit unzulässigen Verallgemeinerungen und spekulativen Konstruktionen aber ist wohl niemandem geholfen. Ohne überzogene Erwartungen evozieren zu wollen, bleibt als Hauptgebiet der Textkritik die Quellenbewertung durch Kollationierung. Sonja Gerlach hat anhand der auch Joseph Haydn zugeschriebenen Kindersinfonie, die in den Quellen unterschiedlichen Autoren zugewiesen wird, gezeigt, wie und daß aus der Textkritik gewonnene Stemmata durchaus Licht ins Dunkel der widersprüchlichen Autorenzuweisungen bringen können.18 Insofern scheint ein gewisser Optimismus gerechtfertigt. Immerhin läßt ein Stemma mitunter unmittelbar erkennen, daß in einer der Handschriften die Autorenzuweisung geändert wurde und diese sich mithin als Trennfehler erweist. Aber auch hier sind methodologische Probleme erkennbar. Die stemmatische Erfassung der Quellen von Allein zu dir, Herr Jesu Christ (Emans Nr. 27)19 mag vor allem in Blick auf die Einordnung von Quelle D hypothetisch bleiben, was hinsichtlich der Autorschaftsfrage verschiedene Möglichkeiten zuläßt. Die Quellen B, C und D benennen Bach als Autor, Handschrift A hingegen ist anonym überliefert. Wenn D wirklich auf die Mater zurückgeht, muß das Stück nicht

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Claus 1995 (Anm. 2), S. 46. Christoph Wolff: Zum norddeutschen Kontext der Orgelmusik des jugendlichen Bach. Das Scheinproblem der Toccata d-Moll BWV 565. In: Bach, Lübeck und die norddeutsche Musiktradition. Bericht über das Internationale Symposion der Musikhochschule Lübeck April 2000. Hrsg. von Wolfgang Sandberger. Kassel 2002, S. 222. Sonja Gerlach: Textkritische Untersuchungen zur Autorschaft der „Kindersinfonie“ Hoboken II:47. In: Opera Incerta. 1991 (Anm. 1), S. 153–188. Wie emotional die Echtheitsdiskussion gleichwohl verlaufen kann, zeigte sich in der nachfolgenden Diskussion (S. 189ff.), bei der trotz der mit größter Wahrscheinlichkeit gerechtfertigten Abschreibung überlegt wurde, die Kindersinfonie dennoch im SupplementBand der Haydn-Gesamtausgabe zu veröffentlichen. Die Numerierung bezieht sich auf: Johann Sebastian Bach. Orgelchoräle zweifelhafter Echtheit. Thematischer Katalog. Zusammengestellt von Reinmar Emans unter Mitarbeit von Michael Meyer-Frerichs. Göttingen 1997.

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nur in der verschollenen Quelle Y, sondern auch in X bereits Bach zugeschrieben gewesen sein. A hätte dann die Autorenangabe nicht übernommen.

Wer aber könnte garantieren, daß es zwischen X und Y nicht noch eine weitere, heute verschollene Quelle gegeben hat, die D als Vorlage gedient haben könnte:

Dann freilich hätte X anonym gewesen sein können. Bach als Autor wäre erstmals in der Vorlagequelle von D ins Spiel gebracht worden. Noch problematischer hinsichtlich der Autorenangabe stellt sich das Stemma der Handschriften zu Wir glauben all an einen Gott dar.20 Unter dem Namen Bachs ist das Stück in einer Drucksammlung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts von Gotthilf Wilhelm Körner überliefert. Es bietet offenkundig die früheste Werkfassung, die hier noch frei von Verzierungen geboten wird und einige wenige offenkundig ältere Lesarten enthält. Möglicherweise von der gleichen Vorlagequelle kopierte der Schreiber der ältesten Quelle, Johann Gottfried Walther; allerdings übertrug er keine Autorenangabe.21 Ein weiteres Mal schrieb Walther das Stück in der sogenannten Frankenbergerschen Handschrift. Nun allerdings bezeichnete er sich selber als Komponisten des Stücks. Da er jede Menge Verzierungen hinzufügte und einige Stellen konsequent veränderte, wobei zum Glück die Lesarten ante correcturam erkennen lassen, daß er zunächst mutmaßlich seine eigene, anonyme Handschrift (P 802) ohne Veränderungen übertragen hatte, handelt es sich eindeutig nicht um Kompositions-, sondern Bearbeitungskorrekturen. Dennoch kann man unterstellen, daß dies für Walther ausgereicht haben mag, um die Komposition als seine anzusehen. Dabei läßt die Filiation den Schluß zu, daß die verschollene Vorlagequelle für den Körnerschen Druck und für die erste Walther-Abschrift entweder anonym überliefert war – dann hätte Körner eigenmächtig Bach zum Autor gemacht – oder aber unter dem Namen Bachs – dann hätte Walther die Autorenangabe nicht übertragen.

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Siehe hierzu auch Emans 2008 (Anm. 10) S. 516–518. Mus. ms. Bach P 802, S. 251–252.

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Frei von mitunter auch subjektiven Bewertungen sind weder die Stemmata noch die aus ihnen zu ziehenden Schlüsse. Umso wichtiger scheint auch hier eine möglichst neutrale Herangehensweise, die nicht bereits zuvor über Wert und Unwert der Kompositionen geurteilt hat. Schließlich läßt sich nie ausschließen, daß derartige Urteile in die stemmatische Wertung mit einfließen. Dies würde zwar der Erwartung an die Bandherausgeber entsprechen, „eindeutige“ Ergebnisse vorzulegen, zugleich wäre aber die Aussagekraft der anwendbaren Methodik vollkommen überbewertet. Solide Ergebnisse lassen sich auf dem Gebiet der Echtheitskritik nicht erzwingen. Ein Urteil über Echtheit oder Unechtheit zu fällen, ist allenfalls dann leicht, wenn wir unreflektiert unser jeweiliges Autorbild als Urteilsinstanz anerkennen. Daß dies aber zu kurz greift und den meist komplexen Sachverhalt überhaupt nicht gerecht werden kann, zeigen textkritische Untersuchungen immer wieder auf. Die kritische Reflexion der methodischen Möglichkeiten und Grenzen bietet allerdings die Chance zu der notwendigen Erkenntnis, daß die Frage nach dem wirklichen Autor weniger wichtig ist als die Frage nach der wirklichen Werkgestalt.

Jan Bloemendal / Henk Nellen

Early Enlightenment or High Philology? Biblical textual criticism and exegesis by two famous alumni of Leiden University, Daniel Heinsius and Hugo Grotius

Summary Daniel Heinsius (1580–1655) and Hugo Grotius (1583–1645), two well-known alumni of Leiden University, were locked in a lifelong rivalry. They both made important contributions to classical scholarship and Neo-Latin poetry. The second half of their intellectual careers was mainly devoted to the explanation of the Bible. Heinsius stayed in Leiden, where he worked as a professor at the artes faculty, Grotius had settled as an exile in France. Although they adhered to sound philological methods, the differences in their life situation led to remarkable divergences. A characterization of their exegetical methods is given; their work is compared and set against the background of early modern exegesis.

Introduction Any exegete who emends, translates or annotates the Bible has a thorny path to tread. The transmission of the text is an extremely complicated process and there are many devoted readers who attribute a sacrosanct status to the text. Furthermore, the exegete has his hands tied by the enormous store of opinions and explanations built up over the centuries by the Church Fathers and other commentators. To the historically interested believer, however, close reading reveals many inconsistencies which call for a solution. In early modern times the same challenges prevailed, as the philological approach to which most humanists adhered brought an increased interest in the transmission of the text of the Bible. For example, scholars were now more inclined to take into consideration traditionally accepted translations such as the Vetus Latina, the Vulgate, the Septuagint and the Syrian version. The humanists, from Erasmus on, were well aware of the indignation their critical attitude was likely to arouse.1 They approached the sacred text armed with the philol-

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Much has been written on Erasmus and the Bible. A reliable introduction is provided by Hamilton, esp. 109–112. See also Bentley, 112–193, and Krans. Augustinus, De doctrina Christiana 2.14.21 (Migne, Patrologia Latina 34, coll. 45–46), makes clear that the Church Fathers were also prepared to subject the Bible and its translations to textual criticism: “Plurimum hic quoque iuvat interpretum numerositas, collatis codicibus inspecta atque discussa. Tantum absit falsitas, nam codicibus emendandis primitus debet invigilare solertia eorum qui Scripturas divinas nosse desiderant, ut emendatis non emendati ce-

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ogical skills they had acquired in editing the pagan Greek and Latin authors. The same is true of the philologists who worked at the University of Leiden. Much has been written about the “founding fathers” of humanist philology, Valla, Erasmus and Scaliger, but how was biblical textual criticism and exegesis practised by alumni of Leiden University? In this paper we seek to describe and compare the methods of two well-known representatives of the Leiden Academy: Daniel Heinsius and Hugo Grotius. We will also examine the impact of their exegetical efforts on the history of ideas. We will begin, however, by describing the intellectual atmosphere of their University.

Philological research at Leiden University Right from its foundation in 1575, Leiden University strove to establish a curriculum that would offer students a sound philological education. Like all fully-fledged universities, it had faculties of arts, theology, medicine and law. However, great attention was paid to preparatory studies and the further curriculum of the “artes” – in fact, the literary part of the educational programme. When famous scholars from abroad were appointed to posts, they were often philologists like Justus Lipsius from Louvain (1547–1606), who was known for his edition of Tacitus (1574), or the erudite French scholar Josephus Justus Scaliger (1540–1609).2 The latter attracted a particular following and his most celebrated pupils – Daniel Heinsius (1580–1655) and his younger friend Hugo Grotius (1583–1645) – soon became famous themselves.3 In this way, Leiden University created a dynamic philological tradition which made itself felt in a number of fields, but of course first and foremost in literature. In their editions, the Leiden scholars strove to offer texts that were free from corruptions, collating manuscripts and suggesting emendations on the basis of their astounding mastery of languages.4 Over the decades around 1600, a flood of editions, translations, commentaries, grammars and other reference works saw the light of day.5 As a prominent representative of this tradition, Heinsius became renowned as the editor of a host of classical and patristic sources.6 In the course of these scholarly studies, his close relationship with the Leiden printing firm of Elzevier served him particularly well.7 Driven by a productive rivalry, Grotius was also extremely prolific.8 In the light

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dant, ex uno duntaxat interpretationis genere venientes.” Partly quoted (as far as falsitas) by Daniel Heinsius in the “Prolegomena” of his Exercitationes sacrae, Leiden 1639, (5).41–43. Justus Lipsius was resident in Leiden from 1578 to 1591, Josephus Scaliger from 1593 until his death in 1609. See Grotius, 1928–2001, esp. vol. XVII, 314. Scaliger considered Heinsius and Grotius his most talented pupils. See also Grafton, 2003, 26–27, and Grafton, 1983 and 1993. On Scaliger’s textual criticism of the New Testament, see De Jonge, 1996. It should be noted that nowadays “emendatio” is often used as denoting only “conjectural emendation” (that is, an emendation not attested by one of the extant manuscripts) but that in the sixteenth century emendatio simply meant the correction of a vulgate text, the editio princeps or the textus receptus. See Krans, 4. Van Dam. For a list of Leiden editions in the 1590–1600 period, see ibidem, 85. “Short-Title Checklist” in Sellin, 224–242. De Jonge, 1975, esp. 91.

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of their philological activities, it is no wonder that both scholars excelled as NeoLatin poets. They also composed Latin tragedies in the vein of Seneca.9 In 1601, Grotius published his tragedy on the fall of man, Adamus exul (Adam Exiled), and one year later Heinsius excelled in a drama on the assassination of William of Orange, Auriacus, sive Libertas saucia (Orange, or the Wounding of Liberty). By creating such new literary works, the humanists refined their literary style and deepened their knowledge of the traditional genres.10 Philology also enhanced civic life and politics. Through their philological research, the humanists familiarized themselves with non-Christian moral values, such as those of Stoical philosophy. They felt that Stoicism offered their fellow-citizens valuable moral guidance in troubled times, such as those the young Dutch Republic was then experiencing. They studied works of moral philosophy by writers like Seneca and extracted useful moral precepts from them.11 On a more practical level, philology contributed greatly to research in mathematics, physics and astronomy by providing reliable editions of ancient works in these fields. Encouraged by Scaliger, who focused on chronology, Grotius published Martianus Capella’s Satyricon (1599), a lengthy allegory on the seven liberal arts, and Aratea (1600), a didactic poem on astronomy.12 On the basis of Martianus Capella’s work, new cosmological systems were developed as alternatives to the traditional Aristotelian-Ptolemaic view, encouraging the intellectual circles around Scaliger to introduce heliocentric cosmology and even create a fertile seedbed for the future acceptance of anti-Aristotelian Cartesianism.13 Needless to say, the Leiden philological tradition manifested itself in many other disciplines, such as the study of law and (political) history. In this paper, however, we intend to focus on the positive influence of the tradition on biblical criticism, a field in which Leiden University gained great renown. Scaliger has already been mentioned in this respect. He left many exegetical annotations in letters, the margins of his books etc. Their essential message is that the Bible should be treated in the same way as a profane text; in his view, biblical texts were as corrupted as many texts from Classical Antiquity. To present the Scriptures in their pristine form, philological research was necessary.14 But where his emendations and conjectures were concerned, Scaliger

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TMD, esp. nos. 411–540. They were also involved in the preparation of many editions by colleagues. For example, Grotius composed an introductory Latin poem for Thomas Farnaby’s edition of Seneca’s tragedies (London 1624); see TMD no. 288. Heinsius began his career by editing five of Seneca’s philosophical tracts. Although he never got round to an edition of the tragedies, he did write animadversiones and notae. See Sellin, no. 289, and nos. 290, 292 and 293. See also Gelderblom. Lipsius wrote a broad overview of the Stoa in his Manuductio ad Stoicam philosophiam (1604). Twenty years before, he had already published an introductory essay, De constantia (1584). In 1601 Heinsius edited five moral essays by Seneca in his L. Annaei Senecae philosophi divini libelli quinque. TMD nos. 411–412 and 413–422 respectively. See Vermij and Jorink. This reveals the limitations of the humanist approach, dominated as it is by the question of the original text, the authenticity of the text and the judgment of the relative genuineness of a work; its strength is that it does not minimise or explain away the historical problems, but takes them seriously. See De Jonge, 1996, 178 and 192.

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preferred to rely on his esprit, rather than on the manuscripts themselves.15 Realizing that, as a philologist, he had to remain within the dogmatic limits set by orthodoxy, he did not dare to publish his ideas for fear of a conflict with the mighty theologians, who preferred teaching to being taught.16 In the eyes of the philologists, it was not dogma that should determine the interpretation of a text, but the way in which the original aspects of the text could be explained in their historical context. Although these scholars were not employed by the Faculty of Theology, which had its own particular criteria, but by the faculty of the liberal arts, they had to reckon with the keen supervision of the theologians. Nevertheless, philologists were allowed to practise their profession fairly independently. Despite serious opposition from the dogmatists, academic research thrived under the liberty traditionally prevailing at Leiden University. In this respect, the origins of the institution were an important factor. Its motto was Haec Libertatis ergo (For the sake of liberty), an aspiration born of aversion to the Spanish inquisition and its atrocities. This certainly holds for the three-man curatorium of the Academy, a group of laymen who unfailingly cooperated with the city fathers of Leiden.17 It is also important to bear in mind that the Northern Netherlands had no officially established church inextricably intertwined with the state, but a public Reformed Church which enjoyed certain privileges but was nevertheless subject to the secular authorities. The Leiden Academy had, therefore, a more secular atmosphere than most other European universities of the time. To explore this aspect of Dutch intellectual life, we will compare the annotations of Heinsius and Grotius.18 Both men opted for annotationes, loosely assembled philological and historical remarks on the text. This form of commentary had the advantage that dogmatically sensitive passages could be skipped. This exegetical procedure is the opposite of the dissertationes and running commentaries, in which theologians dwelled on the biblical text in order to find support for their dogmatic convictions.

Daniel Heinsius and his Exercitationes sacrae Daniel Heinsius (1580–1655) held a chair at the Leiden artes faculty. He was a member of the orthodox Calvinist community. After the Synod of Dordrecht (1618–1619), where he served as secretary to the lay commissioners of the States-General, he focused on religion and biblical criticism. The result was a commentary on Nonnus’ fourth-century metrical paraphrase of the Gospel according to St John, whose work was also commented on extensively. The commentary, entitled Aristarchus sacer, ap-

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On Scaliger’s method, see De Jonge, 1975, 82–87, esp. 83 and De Jonge, 1996. By creating a word hitherto unattested, Scaliger proposed a brilliant conjectural emendation to Philippians 2.30. It was later to be confirmed by newly discovered manuscripts. As Scaliger said, there were more scholars “qui docere quam qui discere malunt”. See De Jonge, 1975, 77. Otterspeer, 75–76. The exegetical methods of Heinsius and Grotius are described in greater detail by De Jonge, 1971, 1975, 1980 and 1984. See also De Lang; Van Rooden, too, offers much material for a comparison of the two philologists.

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peared in 1627. One of its peculiarities is that Heinsius drew much attention to the language of the New Testament. He called this language lingua hellenistica and traced it back to the Septuagint. He was severely criticized for this by his colleague Claudius Salmasius, who settled in Leiden in 1632.20 Heinsius was also involved, albeit in a rather impenetrable way, in the Elzevier edition of the Greek New Testament. Published in Leiden in 1624, and reprinted in 1633 and 1641, this text was soon accepted as an international standard, the textus receptus.21 Aristarchus sacer was reprinted together with Exercitationes sacrae ad Novum Testamentum, Heinsius’ magnum opus, published by the Leiden Elzeviers in 1639. Work on Exercitationes sacrae had taken twelve years. Heinsius considered this as his life work, as is confirmed by its luxurious design. The book is a philological rather than theological commentary on the New Testament and consists of loosely connected annotations on passages which called for historical and linguistic explanation. Heinsius made frequent use of translations, such as the Syrian version and the Greek Septuagint; he adduced passages from the Church Fathers as additional evidence and noted textual variants. Extensive indexes give access to the information spread over more than a thousand lavishly printed folio pages.22 They show clearly that Heinsius was loath to go into the dogmatic implications of his work, as they rarely refer to terms used in a dogmatic context. In the “Prolegomena” of Excercitationes sacrae, Heinsius explained his ideas on textual criticism. He started from the principle that the text should not be changed without cause (temere) or on the basis of mere insight (ex ingenio).23 Furthermore, he stated that it was permissible for the editor to collate manuscripts and note the variants, provided that he did not rely too heavily on one or two sources. He assumed, however, that most of the relevant manuscripts had already been explored and that textual criticism would not yield any further spectacular results.24 For this reason, he stuck to the textus receptus, which had proved to be reliable. This demonstrated his aversion to textual changes, “which are always to be avoided, unless necessity com-

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After Aristarchus of Samothrace (c. 216–144 BC), head of the Alexandrian library and a sharp-witted grammatical, etymological, orthographical, literary and textual critic; he was called ć ȖȡĮμμĮIJȚțȫIJĮIJȠȢ (extremely critical). Heinsius felt indebted to J.J. Scaliger for this term, but he was mistaken: Scaliger had described the writers of the books of the New Testament as hellenistae, i.e. Jews who had to read the Old Testament in the version of the Septuagint, because they did not know any Hebrew, see, e.g., De Jonge, 1975, 96 and De Jonge, 1980, 32. De Jonge, 1975, 89–93; De Jonge, 1971. The editor, who might be Heinsius, took Stephanus’ third edition as his point of departure, but used Beza’s editions for its emendation in a number of places, see Krans, 197– 198 and n. 9. Exercitationes is nearly 700 pages long, Aristarchus 330. In the early modern period, a distinction was drawn between emendatio codicum ope, “emendation by means of manuscripts” and emendatio ingenii ope, “emendation by means of reasoning”, Krans, 4. Scaliger was noted for relying on his own judgment, so it has to be concluded that Heinsius in some way resisted his intellectual father. Heinsius, “Prolegomena in Exercitationes sacrae”, (5).25–(6).6; we quote (6).1–6: “Hac lege, sedulo ut caveatur, ne vel uni codici, vel pluribus, plus aequo tribuatur aut quod iam receptum facile immutetur, ante omnia, ne quisquam ex ingenio id sibi sumat et hanc histrioniam exerceat, ut propriam editionem nobis donet. Ne iam dicam, etiam aetate nostra optimos atque antiquissimos iam pridem codices collatos.”

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pels us or the manuscripts lead us that way.”25 Like other humanists such as Erasmus, he did not go into the question of the recensio, the evaluation and classification of manuscripts and families of manuscripts.26 Heinsius was well aware of the intricacies of the interpretation of Holy Writ, as we can infer from the “Prolegomena” to Exercitationes sacrae, where he attributes the origin of the Bible to the inspiration of the Holy Ghost.27 He argued that, if it was a crime to alter royal decrees, it was all the more so in the case of the Bible, in which the King of Kings showed mankind the way to salvation.28 Furthermore, he started from the a priori assumption that variants resulting from the complicated process of the transmission of the text did not detract from the essential doctrines in the Bible. Of course, as a professor at Leiden University, Heinsius would not have been permitted to question Holy Inspiration, even if he had wanted to. Unconditional respect for the textus receptus did not, however, sit well with the harsh reality of philological practice. Although Heinsius adhered reasonably closely to his basic principles, he took considerable liberties every now and then. An example of a serious adaptation of the text is given in the commentary to Matthew 21:40–44. 40 Now when the owner of the vineyard comes, what will he do to those tenants? 41 They said to him, “He will put those wretches to a miserable death, and lease out the vineyard to other tenants who will give him the fruit at the harvest time.” 42 Jesus said to them, “Have you never read in the scriptures: “The stone that the builders rejected has become the cornerstone; this was the Lord’s doing and it is amazing in our eyes.” 43 Therefore I tell you, the kingdom of God will be taken away from you and given to a people that produces the fruits of the kingdom. 44 The one who falls on this stone will be broken to pieces; and it will crush anyone on whom it falls.”

This passage, taken from the parable of the wicked tenants, presents two problems. The first arises when the passage is compared with the versions of the parable in Mark (12:1–12) and Luke (20:9–19). The words ascribed by Matthew to the high priests and the elders of the people were spoken by Jesus in the versions provided by the other evangelists. Heinsius refers to this contradiction (67.19–20). A second and related problem is the sequence of the verses. Verse 42 contains a quotation from the Old Testament on “the stone that the builders rejected” which had nevertheless “become the cornerstone.”29 In verse 44 Jesus says that whoever falls on this stone will be broken to pieces. The intervening passage, verse 43, is illogical and Heinsius there-

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Heinsius, Exercitationes sacrae, 459.19–20: “quo nunquam nisi cum urget necessitas aut codices praeeunt, deveniendum.” Krans, 16 and n. 23 and 24. Heinsius, Exercitationes sacrae, (5).20ff. Heinsius, Exercitationes sacrae, (5).31–36: “Quod si in Decretis Principum aut Regum immutare aliquid a Maiestatis crimine non abit, quid de scriptis his, in quibus Deus ipse (ut cum Augustino [Augustinus, Liber exhortationis 9; Migne, Patrologia Latina 40, col. 1050] loquar) piae voluntatis demonstrat affectum, in quibus de coelorum coelo Rex Regum, dominus dominantium, imo salus nostra loquitur, iudicandum est?” Psalms 118: 22. See also Isaiah 28:16; 8:14–15.

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fore feels justified in adapting the text: “The words “They said to Him” have been added by the same person who corrupted and transposed the subsequent verses.”30 He then proposes deleting the phrase “They said to Him” and swapping verses 42 and 43. This editorial adaptation has a twofold advantage: the words are put into Jesus’ mouth and the line of reasoning becomes more persuasive.31 Realizing that he might have gone too far in the eyes of orthodox theologians, Heinsius claims the authority of the veteres and the patres. Firstly, however, he writes, “Recently, an exegete collated the manuscripts at his disposal and showed convincingly that some codices contain things that are missing in others. This is the case in some places, however, more than I would like. Our exegete proceeds in this way a few times, reluctantly and seriously. Nowhere do we have a stronger argument for this than here.”32 By this “recent exegete” Heinsius probably meant the French Calvinist theologian Theodorus Beza (Théodore de Bèze, 1519–1605).33 Even Heinsius’ contemporaries noticed that Beza’s name is hardly mentioned.34 After proposing his textual adaptations, Heinsius hastens to conclude that the exegete suggesting such emendations “has no wish to change anything. Certainly not. His only aim is to shed light on the meaning.”35 It is surprising that this reasonable emendation did not find its way into the interpretational history and exegesis of this passage.36 Repeatedly, Heinsius approved of editorial adaptations, for example in Acts 26:2. Here a recens interpres suggested a transposition of words prompting Heinsius to remark: “I do not consider it a sin if somebody prudently changes the sequence of words in order to achieve transparency. Whoever acts in this way has performed the

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‘Ea autem verba, ȜȑȖȠȣıȚȞ ĮČIJų ab eodem inserta, qui sequentes versus turbavit ac transposuit”, Exercitationes sacrae, 67.31–32. In his annotations on this locus, Grotius abstains from observations on the constitution of the text, and only comments on the differences with the version of the parable given by other evangelists, see Grotius, Opera omnia theologica, in tres tomos divisa …, Amsterdam 1679 (= 1972), II.1, 199 (ad Matth. 21:41). Heinsius, Exercitationes sacrae, 67.31–34. In all probability Heinsius took the idea of swapping the verses from Louis Cappel in his Spicilegium (Geneva 1632), cf. Critici sacri, sive Annotata doctissimorum virorum in Vetus ac Novum Testamentum …, Amsterdam and Utrecht 1698, vol. 6, col. 728 [University Library Leiden 512 A 1]. Ibidem, 67.15–19: “Paucis locis, quanquam pluribus quam vellem, in nonnullis codicibus legi quaedam, quae in aliis desiderentur, ex collatione eorum, vel recentior interpres evincit. Qui graviter nonnunquam et serio hoc agit. Cuius rei nusquam argumentum, quam hic extat certius.” Beza was daring in discussing conjectural emendations, although he also repeatedly and strongly expressed his reluctance to alter the text itself on the basis of these emendations, unlike, e.g., Erasmus; see Krans, 195–332, esp. 319–321. In his annotations on the New Testament, and on Matthew 21 in particular, Beza constantly referred to Greek variants in the codices at his disposal. He skipped, however, the problem of “ȜȑȖȠȣıȚȞ ĮČIJų” (vs 41); Testamentum Novum sive Novum Foedus Iesu Christi, D.N., cuius Graeco contextui respondent interpretationes duae, una vetus, altera Theodori Bezae, nunc quarto diligenter ab eo recognita ([Geneva] 1588 [University Library Leiden 525 A 4]), 97–102; esp. 101. Grotius, 1928–2001, X, 614 (Willem de Groot to his brother Hugo, 19 September 1639): “Indignantur enim quidam Bezae nomen nunquam fere exprimi et hic illic aliqua inveniunt, quae non usque quaque cum placitis suis conveniant.” Ibidem, 68.8–9: “Non ut quicquam mutet. Absit. Sed ut sententiam suam ostendat.” It is not mentioned, e.g., in Snodgrass, nor in commentaries on the Bible such as Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament or The International Critical Commentary on the Holy Scriptures of the Old and New Testaments, so even if Heinsius’ emendation survived, it did not enter mainstream New Testament studies.

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main part of his exegetical tasks.”37 The flexibility of the annotationes form provided a scholar like Heinsius with great freedom. Just as he was permitted to skip passages, so he could expatiate on others. In this light, it is quite understandable that, at one place in his book, he jumped at the chance to show that he was also a gifted NeoLatin poet. His commentary on 1 Corinthians 7:29 “Let even those who have wives be as though they had none” contains a long elegy on his wife, who had passed away some years before, in 1633 (383–385). During the printing of the Exercitationes, Heinsius called on the services of Constantin L’Empereur (1591–1648), Professor of Hebrew at the University of Leiden.38 L’Empereur acted as a censor by reading the proofs Heinsius submitted to him. Heinsius accepted many practical corrections but stuck to his autonomy as a philologist on many other points. He was, for example, prepared to admit interpretations other than just those of the orthodox Calvinists. Although he subscribed to the sacrosanct status of the Bible, he felt that the exegete should be largely free to solve historical and linguistic problems by applying the tools of philological meticulousness and historical analysis. The believer was best served by clarity and comprehensibility. Heinsius’ aversion to the dictates of orthodoxy also shows in his critical attitude towards Beza, time and again referred to as a recens interpres.39 Although L’Empereur disapproved of these critical remarks, Heinsius stood firm. He also quoted Erasmus’ exegetical work on the New Testament in a positive light, especially his Paraphrases and Annotationes.40 Although Erasmus had remained loyal to the Roman Catholic Church, Heinsius considered him an important authority in this field, since – in his eyes – Erasmus was first and foremost a humanist. As far as Heinsius is concerned, the following conclusions can be drawn. Taking an autonomous position as a scholar, he had a keen eye for the deficient transmission of the text and the related problems. He was used to comparing the generally accepted text of the Bible with other sources (translations in particular). He noted and evaluated variants in the text but was loath to alter it. Every now and then he adapted the text, but not without appealing to inevitable necessity. As a representative of the Leiden school, he was bent on giving historical, not theological, explanations. Nevertheless he had to reckon with the theologians, who acted as the self-appointed guardians of orthodoxy.

Hugo Grotius In spite of marked differences in their confessional positions, Heinsius and Grotius published annotations which show great similarities.41 As an alumnus of Leiden University, Hugo Grotius (1583–1645) adhered to sound philological procedures. He may

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Ibidem, 338.47–49: “Nec peccare eum arbitror, qui mutato leviter verborum ordine, perspicuitati operam impendit. Quod qui praestat, magna ex parte munus interpretis implevit.” For the following, see Van Rooden, 135–142. On the proofs, see also Grotius, 1928–2001, IX, 21. Heinsius followed Scaliger in this respect; cf. De Jonge, 1975, 77–78. For example, Exercitationes sacrae, 361.24. On Grotius, see Nellen, 2007, esp. 498–518 and Nellen, 2008, 808–817.

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therefore be compared with Heinsius, even though in the course of his exile he slowly but surely evolved into a latitudinarian, unorthodox theologian. After 1634, when he served as Sweden’s ambassador to France, he behaved as if his diplomatic activities did not interfere with his exegetical work. Paris was his asylum, a port of refuge, enabling him to carry out his wide-ranging scholarly activities in considerable freedom.42 The work we are referring to was a philological study, the Annotationes in Novum Testamentum, which he had solemnly pledged to complete during his captivity in Loevestein castle (1619–1621).43 The commentary on which Grotius embarked was meant to be added to the polyglot New Testament then being prepared by the Leiden orientalist Thomas Erpenius (1584–1624). Due to the latter’s premature death, however, this edition never materialized. Eventually, the annotations on the whole Bible appeared over the 1641–1650 period in four volumes, the first in Amsterdam and the other three in Paris.44 Grotius was afraid that the more rigorous theologians of the Sorbonne would repudiate his work. Nor did he count on a favourable reception of his work in his native country. Nevertheless he published his Annotationes via sympathetic printers without making any substantial concessions.45 The printing of the first volume started after Grotius had perused a copy of Heinsius’ Exercitationes.46 Grotius agreed with many of Heinsius’ observations but, as he explicitly said, this did not mean to say that his rival had taken the wind out of his sails.47 Grotius’ attitude towards Heinsius’ exegetical research was a mixture of admiration, criticism and jealousy. Over the years, the two scholars (once close friends) had fallen out after taking opposing sides in the bitter controversies on predestination that split the Reformed Church during the Truce (1609–1621).48 Grotius entrusted the first part of his exegetical work, the Annotationes in libros Evangeliorum,49 to the Amsterdam printer Johan Blaeu. The geographical distance between author and printer and the speed with which Blaeu’s presses delivered the proofs led to a string of misunderstandings and blunders. In the end, numerous printing errors had to be rectified in a long list of errata. Furthermore, Grotius was dissatisfied with the index, because it did not accurately reflect the thrust of his exegetical work. On top of everything, Blaeu included the author’s portrait in the preliminary work without consulting him. Beneath the portrait, he even added an old laudatory poem by Daniel Heinsius, dating back to 1614. In two distichs, Heinsius extolled “maximus Hugo” as a deposit entrusted by heaven, of whom mother Batavia was terrified; she could not believe that she had given birth to a child that looked human, but

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Grotius, 1928–2001, XI, 205 and 290. Ibidem XV, 597. For a reliable text, see: Grotius, Opera omnia theologica (TMD no. 919), vol. I (annotations on the Old Testament) and vols. II.1 and II.2 (New Testament). Van Unnik, esp. 9. See, for example, Grotius, 1928–2001, X, 540. Grotius, 1928–2001, X, 771 and 789; XI, 63. See Meter and Heering. H. Grotius, Annotationes in libros Evangeliorum, Amsterdam, “apud Joh. et Cornelium Blaeu,” 1641 (TMD no. 1135).

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otherwise resembled God.50 Needless to say, the learned exegete considered such an exalted poem by his former friend out of place in a work intended to inspire Christian humility. In a fit of rage, “vehementer commotus”, he ordered his brother Willem de Groot to remove the portrait from the entire issue.51 The difficulties of the collaboration with Blaeu made Grotius decide to look for another printer, this time in Paris. In 1644 Sébastien Cramoisy published the Annotata ad Vetus Testamentum. According to the title page, however, part of the issue was offered for sale by Blaeu at his Amsterdam office.52 The remainder of Grotius’ annotations on the New Testament were published posthumously in Paris, in 1646 and 1650.53 As said, the approaches of the two exegetes show striking similarities. However, Grotius went further than Heinsius on at least four points.54 In the first place, he placed greater emphasis on the complicated and deficient transmission of the text. Like Heinsius, he meticulously weighed variants from different manuscript traditions but, unlike his former friend, he openly accepted that the original version could no longer be reconstructed in detail. He felt that the exegete had a duty to resolve textual contradictions and anomalies, and this obligation made it easier for him to revise the text.55 Critical reactions from orthodox Calvinists did not seem to worry him very much. In his Preface to the Annotationes in libros Evangeliorum, Grotius acknowledges his indebtedness to predecessors working in the same field. As a rule, he says, he has refrained from mentioning their names, since he is aware that, in a factional age, such openness would only serve to confuse public opinion instead of clarifying it. He explains that he started these annotations in prison, completed the work as a private person in exile, and is now publishing it in his capacity of ambassador. In previous years, however, he has constantly sought to assist all Christians, rather than just one of the splinter groups into which Christianity, to the great detriment of the age, is now divided. His intention is to advance knowledge of Evangelical truth, as well as the kind of piety that all Christians should strive to attain, if they wished to be worthy of the name.56

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The poem (and a translation) in Gellinek, 74–75: Depositum caeli, quod iure Batavia mater / Horret, et haud credit se peperisse sibi, / Talem oculis, talem ore tulit se maximus Hugo. / Instar crede hominis, caetera crede Dei. The portrait with the poem (dated “anno 1614”) is on the verso of the notice to the Christian reader (p. A2v). See Grotius, 1928–2001, XII, no. 5429, to W. de Groot, 20 October 1641; XIII, no. 5534, to W. de Groot, 4 January 1642, and XVII, no. 4992A, “Lectori christiano H. Grotius”, [1641]. Cf. Van Beresteyn, Engraving no. 11c, 22–23, 79 and 82. Paris 1644 (TMD no. 1137). The imprint reads: “Lutetiae Parisiorum, sumptibus Sebastiani Cramoisy, regis et reginae architypographi, et Gabrielis Cramoisy, via Jacobaea, sub ciconiis 1644. Prostant Amsterdami, apud Johannem Blaeu.” TMD nos. 1138 (‘apud viduam Gulielmi Pelé’) and 1141 (‘typis viduae Theod. Pepingué et Steph. Maucroy’). Grotius provides us with a clear overall insight into his view of the Bible in the polemics he conducted with the orthodox minister André Rivet. See Grotius, Opera omnia theologica III, 627–628, 647–649, 672–674 and 722–725, as well as the studies by De Jonge. See, e.g., De Jonge, 1975, 96. Grotius, Opera omnia theologica I and Grotius, 1928–2001, XVII, no. 4992A, Lectori christiano: “Mihi autem, cum ista annotarem captivus, cum perficerem privatus, cum ederem in aliquo iam honore constitutus, propositum semper fuit non alicui earum servire partium in quas ingenti saeculi nostri malo divisi sumus christiani, sed christianis plane omnibus, meaque dirigere ad notitiam evangelicae veritatis et in-

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In the second place, Grotius tried to explain the Bible much more systematically against the background of the times in which it had been written. He therefore compared the text with a rich assortment of contemporary sources from pagan and Christian Antiquity. Referring to authors like Theocritus, Horace and Catullus, for instance, he argued that the Song of Songs was first and foremost a love poem with a host of erotic implications which had to be understood in the context of literary history. Only in the second place was it to be read as an allegory of the love of God or of Christ for his people and church.57 Time and again, Grotius stressed the relationship between the “sensus sublimior”, “abstrusior” or “mysticus” and the first, literal or historical meaning of the biblical text. In his introductory commentary on Isaiah 40, for example, he ends a passage on the remarkable predictions of the prophet by pointing out that while God’s mercies always foreshadowed Christ, this was particularly true of Isaiah: God had directed his words in such a way that they referred simply and clearly to Christ, even more than to the events to which Isaiah was primarily alluding.58 As a rule, however, Grotius focused on the literal, historical meaning of the text. He rejected the idea that the Old Testament prophecies were fulfilled only in a way that would be meaningless to their original audience. In his opinion, there was a splendid coherence between the prophecies and the events which had taken place not so long after them. In this way, Grotius stayed within the domain of the history of Israel and loosened the ties between the two Testaments.59 He preferred to treat the Old Testament as a document sui generis, arguing that it was only in the second instance that it foreshadowed the New Testament. This exegetical method made him vulnerable to the accusation of favouring the Jews (Grotius Judaizans). In the third place, Grotius undermined the significance of the Bible by stressing the importance of Tradition as laid down in the works of the Church Fathers and other Christian sources. Like any true-blue Roman Catholic, he assumed that Scripture and Tradition complemented each other. Of course, Grotius had to admit that penetrating the mysteries of Tradition was a laborious task. Although the Protestants discarded Tradition and claimed to abide by the literal meaning of Scripture, they often broke this exegetical rule, excusing themselves by arguing that the consequences of the literal meaning had to be taken into account too. Since all believers claimed the authority of their personal convictions, this freedom had resulted in many unremitting bitter

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crementum pietatis eius, ad quam omni studio debemus contendere, si ex tanto nomine censeri volumus.” Grotius, Opera omnia theologica I, 267 A 40–B 40. Grotius, Opera omnia theologica I, 308 A 42–48: “Cum autem omnia Dei beneficia umbram in se contineant eorum quae Christus praestitit, tum praecipue ista omnia quae deinceps ab Esaia praenuntiabuntur, verbis saepissime a Deo sic directis, ut simplicius limpidiusque in res Christi quam in illas quas primo significare Esaias voluit, convenirent.” See the Lectori, in the Annotata ad Vetus Testamentum (Opera omnia theologica I, [3*4r]): “In Prophetiis plurimum posui operae, ut singulas ad respondentes ipsis historias referrem … In hac parte locos nonnullos, quos veteres ad Christum et Evangelii tempora retulere, retuli ad historias aevo Prophetarum propiores, sed quae tamen involutam habent Christi et Evangelicorum temporum figuram. Feci autem hoc, quod ni id fieret, viderem male cohaerere verborum rerumque apud Prophetas seriem, quae caeteroqui pulcherrima est. Et talia quidem loca nobis Christianis Dei consilium patefaciunt, qui non per verba tantum, sed et per res nobis Messiam et beneficia per ipsum exhibenda adumbraverit.”

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quarrels and schisms. The Roman Catholics, by contrast, fully and overtly accepted those consequences, so far as the primitive church had endorsed them on the basis of an ancient and universal consensus. He then continues: “And in this way every word is confirmed by two witnesses, Scripture and Tradition, mutually corroborating each other.”60 When explaining the Bible, one had to honour Tradition, especially since in the early decades of the Church the Christian doctrine had been spread by preaching alone. The contents of the Bible had been determined by the historical situation and the needs of the moment. By making this remarkable claim concerning the value of Tradition, Grotius brought down a torrent of opprobrium on his head. Besides Judaizans he was also Papizans. In the fourth place, Grotius imposed limits on the dogma of Holy Inspiration. He argued that the Bible could not be seen as divinely inspired from cover to cover. That special status only applied to the directly reported sayings of Christ and the Old Testament Prophets; the remaining parts were historical material. The essential Christian doctrines, enabling all sincere believers to enter the hereafter, were to be found in the New Testament, and in particular in the Gospels according to Luke and John.61 For a thorough understanding of the remaining parts of the Bible, the exegete needed to acquire an extensive knowledge of the original languages and devote himself to the painstaking collation of texts and assiduous study. But it was by no means certain that the exact meaning of passages on less important doctrines and rites could be described in a way that would be acceptable to believers of all kinds.62 On the basis of these four aspects of his method, Grotius assembled a limited number of historically determined and morally inspired articles of faith, to be endorsed by all believers. In this way, he hoped – unlike Heinsius, who aimed at a better understanding of the text for its own sake – to make a helpful contribution to the union of the churches and peace among Christians.63 He felt that, by going back to the earliest Christian communities and reconstructing their way of life, the exegete might be able to trace the essentials of the Christian creed and present them anew in order to enable all believers to achieve salvation. Grotius’ exegetical method is therefore diametri-

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Grotius, Opera omnia theologica III, 628 A 4–33: “Apostoli non scripto tantum, sed et ore docuere … et prius ore quam scripto; sicut et religio primorum saeculorum sola traditione propagata fuit, et Iesus Christus ipse nec scripsit nec scribendi praeceptum dedit, sed praedicandi … Non est autem dubium, quin parem auctoritatem habere debeant quae apostoli scripsere et quae dixere … Recte quoque dicitur Scripturae paratior auctoritas, quia traditionum probatio interdum est difficilior et laboriosior. Caeterum etiam Protestantes quae tuentur, ea non sunt omnia … ad verbum in Sacris Literis. Dicunt admittendas consequentias. At ipsi consequentias saepe admittunt ex privato cuiusque ingenio; unde tot et tam gravia inter ipsos dissidia et quotidiana divortia. Catholici vero eas admittunt consequentias, quas admisit vetus ecclesia antiquo et universali consensu. Atque ita stat omne verbum in duobus testibus, in Scriptura et in Traditione, quae mutuo facem sibi allucent.” See also ibidem, 723 B 41–43: “Utilia ergo fuere scripta, non ita necessaria ut sine eis fides et ecclesiae esse non possent.” Grotius explained this distinction concerning the divine inspiration of passages in the Bible in his commentary on 2 Timothy 3:16–17: “All scripture is given by inspiration of God …” Grotius, Opera omnia theologica II, 2, 992 A. See also ibidem III, 722 B–723 A. Grotius, Opera omnia theologica III, 673 A 57–62: “In scriptis varietates sunt innumerae, quod experiuntur qui codices conferunt; particulae non paucae in aliis codicibus apparent, in aliis non apparent. In vocibus tum singulis, tum coniunctis, magna diversitas. Quid in his verum sit discernere, ingens labor, nec semper felix.” Van Unnik, 14–16.

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cally opposed to that of most of his seventeenth-century colleagues, who worked the other way round: they read and studied the Bible in the hope of confirming dogmatic views which had already been established in the course of confessional controversies. Each of these two famous Leiden alumni had his own method of dealing with biblical texts. They worked under differing constraints, as an employee of Leiden Academy on the one hand and as a free scholar in Paris on the other, but both continued in the tradition of Erasmus and Scaliger, treating the Bible as a historical source to be dealt with in the same way as other texts from Antiquity.

Final remarks Until some decades ago, the rise of humanism was considered to be a turning point in history, entailing a radical break with medieval scholarship. Nowadays, the continuity between the Middle Ages and Renaissance humanism is stressed.64 Although there was, indeed, almost no knowledge of Greek in the medieval Western world, Latin was widely used and classical authors were subjected to some sort of primitive textual criticism as early as the Carolingian era.65 The humanists soon regained mastery of Greek and deepened their knowledge of Latin; they also refined the techniques of textual criticism. However, they did not generally apply them to the Bible. In the Roman Catholic Church the Vulgate kept its sacrosanct status, so textual criticism on the Bible had to be performed very carefully. Controversy flared up when Erasmus published a new translation of the Greek New Testament. Erasmus broke with tradition by approaching the Bible in the same way as any other classical text.66 His biblical criticism was based on two assumptions that would soon prevail in all humanist biblical scholarship. Firstly, the humanists were convinced that a thorough knowledge of the original languages – Hebrew, Aramaic and Greek – was essential to a correct understanding of the Bible. Secondly, they realised that this heterogeneous collection of documents called for a careful examination against the background of their individual geneses and historical contexts. With great faith and perseverance, Theodorus Beza strove to tread a path between the exigencies of humanist textual criticism and orthodox theology. By contrast, Heinsius and Grotius followed more closely in the footsteps of Erasmus, treating the Bible like an ordinary classical text. This reveals a gap between medieval scholarship and humanism. However, it is not a very wide gap, since the emendations that the exegetes suggested were in most cases not adopted into the text itself, but remained hidden away in their commentaries and letters. This was also true of the exegetical and critical notes of Heinsius and Grotius. Another question is whether humanism paved the way for the Enlightenment; in other words, to what extent were the two intellectual movements part of the same more or less continuous process. It would be wrong to present Heinsius and Grotius as exponents of the Enlightenment. They must be seen as late humanist researchers cau-

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See, e.g., Walther Rüegg, “Epilogue. The Rise of Humanism”, in Rüegg, 1992, 442–468; Ullmann, 14– 29. On classical scholarship in the Middle Ages, see Sandys, 441–678. Sandys, 471–501. Reynolds and Wilson, 70–107. Krans, 332.

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tiously trying to advance exegetical research in the face of the limits set by orthodoxy. They subjected Holy Scripture to the current methods of textual criticism. Although the University of Leiden was a fairly liberal institution, certain limitations prevailed and Heinsius had to some extent to comply with them. As an exile and theologian sui iuris, Grotius could venture much further; yet even he refrained from taking philological method to extremes. Held back by tradition, he refused to reduce the Bible to a purely profane text and remained therefore relatively intent on harmonizing and ironing out contradictions. Nevertheless, both Heinsius and Grotius can be seen as scholars whose philological methods greatly influenced the gradual process of the desacralization of Holy Scripture.

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Michael Kube

Franz Schuberts Deutsche Trauermesse (D 621) als Problem der Text- und Stilkritik

Bekanntlich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis philologischer Textkritik und stilkritischer Analyse immer dann, wenn die tradierte oder neu zugeschriebene Autorschaft einer Komposition aufgrund einer mangelhaften Quellenüberlieferung oder aufgrund der musikalischen Gestalt des Werkes selbst zweifelhaft erscheint. Zwei besonders heikle Fälle lassen sich beschreiben: Zum einen Jugendwerke eines Komponisten, die nur in abschriftlicher Form auf uns gekommen sind (hinsichtlich der Stilkritik stellt sich hier zumeist das Problem des Fehlens von charakteristischen Merkmalen, die erst in der späteren schöpferischen Entwicklung des Autors ausgeformt werden), zum anderen bisher vollständig unbekannte oder allenfalls aufgrund eines überlieferten Titels nachweisbare Werke, deren Medienpräsenz allzuoft im direkten Gegensatz zu ihrer zweifelhaften Herkunft steht. Gezielt werden dabei von den ,Tätern‘ Lücken im Werkverzeichnis genützt – wie im Fall von Franz Schubert die sogenannte Gmunden-Gasteiner-Sinfonie (D 849) und das Lied An Gott (D 863).1 Die notwendigen Umstände, überhaupt eine Fälschung in die Öffentlichkeit einzuführen, scheinen auf geradezu ,klassische‘ Weise bei diesem Lied gegeben: Die Komposition ist nur durch den Hinweis „Musik von Franz Schubert“ belegt, der sich zum Titel und Abdruck des Gedichtes eines gewissen Hohlfeld in dem Textband Lieder für Blinde und von Blinden. Gesammelt und herausgegeben von Johann Wilhelm Kein, Direktor des k. k. Blinden-Instituts in Wien (Wien 1827, S. 9) findet.2 Die auf diesem Text basierende, erstmals im Schubert-Jahr 1997 zur Diskussion gestellte (jedoch erst 1998 öffentlich aufgeführte und 1999 im Druck erschienene) Komposition für Tenor-Solo, 3- bis 4stimmigen Frauenchor, Horn in Es und Klavier ist allerdings nur in einer Abschrift obskurer Herkunft überliefert.3 Auch das Titelblatt der Quelle

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Einen bemerkenswerten, allerdings weithin schon vergessenen Fall bildet die am 1. April [!] 1997 vom WDR-Fernsehen ausgestrahlte Uraufführung einer Schubert zugeschriebenen Messe in C-Dur (Konzertmitschnitt vom 19. Februar 1997). Es handelte sich indes um ein bereits am 2. April öffentlich gemachtes „erkenntnistheoretisches Experiment, mitten im Schubertjahr, in dem es von Devotionalien nur so wimmelt“ – so die entsprechende Pressemitteilung: Wer‘s glaubte, war selig. Wer’s nicht glaubte, – auch. Die unbekannte Schubert-Messe war die Komposition von WDR-Redakteur Ulrich Harbecke. Vermutlich handelt es sich um Christoph Christian Hohlfeld (1776–1849). Otto Erich Deutsch hält ihn für einen gewissen Ch. Ch. Hohlfeld aus Böhmen, gibt jedoch keinen Nachweis an, vgl. Otto Erich Deutsch: Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Kassel 1964 (Neue Schubert-Ausgabe VIII/1), S. 439. Vgl. dazu Otto Brüggemann: Ein verschollenes Schubert-Lied? An Gott D 863. In: Schubert durch die Brille 20 (Januar 1998), S. 75–93 (der Text schließt auch ein 16 Druckseiten umfassendes Faksimile

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verweist auf einen kaum mehr dokumentarisch rekonstruierbaren historischen Kontext: „Für meine tapferen Kameraden – im Marineabschnitt Brunsbüttelkoog. Kriegsweihnachten 1943. Kapitän Vierengel, Miltenberg.“ Die Widmung will freilich bei genauer Betrachtung gar nicht so recht zu der angegebenen Besetzung passen (Frauenchor!), die Besetzung wiederum nicht zu einer Blindeninstitution des Wiener Biedermeier, die Musik selbst und ihre unzulängliche Textur nicht zum späten Schubert.4 Auch bei der 1973 erstmals aufgetauchten Stimmenabschrift einer Komposition, die man als die verschollene Gmunden-Gasteiner-Sinfonie glaubhaft machen wollte (die Existenz des Werkes wurde durch den Eintrag in das von Otto Erich Deutsch zusammengestellte Werkverzeichnis sanktioniert),5 gaben von Anfang an Unstimmigkeiten Anlass zu Zweifeln. Obwohl text- und stilkritische Untersuchungen erhebliche Fragezeichen hinter die Zuschreibung setzten, blieb das mit Erfolg mehrfach aufgeführte und auch auf CD eingespielte Werk erstaunlich lange in der Diskussion. Zu einem endgültigen Aus kam es erst zwölf Jahre später durch eine Laboranalyse der Bundesanstalt für Materialprüfung. Hierbei stellte sich heraus, daß für die angeblich auf einer seit spätestens 1945 verschollenen Partitur basierende Stimmenabschrift jüngeres Papier mit optischen Aufhellern benutzt wurde; ferner konnte eine weiße Korrektursubstanz aufgrund ihrer chemischen Zusammensetzung als eine solche identifiziert werden, die erst 1970 in Gebrauch kam.6 Abgesehen von diesen offensichtlichen Fälschungen, mit denen sich auch immer die Hoffnung auf das Interesse einer sensationshungrigen Öffentlichkeit verbindet (das sich in proportionaler Abhängigkeit zum Gewicht der bedachten Gattung befindet), stehen im Rahmen der Neuen Schubert-Ausgabe nahezu ausschließlich Incerta zur Diskussion (zum größten Teil aus dem kirchenmusikalischen Bereich), deren Quellen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überliefert und somit als zeitgenössisch zu bezeichnen sind.7 Da die zur Disposition stehenden Werke zumeist nur in einer Quelle überliefert sind, wird es vor allem auf die Ergebnisse stilkritischer Untersuchungen ankommen, ob man sie mit einiger Wahrscheinlichkeit wirklich Franz Schubert zuschreiben kann oder ob sie doch nur im Supplement zum Abdruck gelan-

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der Abschrift ein) und später das Vorwort sowie Zur Quelle der Abschrift der gedruckten Ausgabe in der edition mf: Offenbach 1999. Hohlfelds Dichtung gelangte mit dem Zusatz „Schuberts Musik ist verlorengegangen“ zum Wiederabdruck in Franz Schubert. Die Texte seiner einstimmig komponierten Lieder und ihre Dichter. Hrsg. von Maximilian und Lilly Schochow. Bd. 1. Hildesheim 1974, S. 195. Otto Erich Deutsch: Schubert. Thematic Catalogue of all His Works in Chronological Order. London 1951, S. 412. Dass es sich bei der Gmunden-Gasteiner-Sinfonie indes um die Sinfonie C-Dur (D 944) handelt, hat Werner Aderhold unter Zuziehung aller Argumente und Ergebnisse deutlich gemacht im Vorwort zu Franz Schubert. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von Werner Aderhold. Bd. V/4: Sinfonie Nr. 8 in C. Teil a. Kassel 2003, S. IX–XV. Vgl. zunächst Franz Schubert. Sinfonie in E-Dur 1825. Materialien – Werk und Geschichte – Partitur. Stuttgart 1982 sowie Werner Maser: Armer Schubert! Fälschungen und Manipulationen. Marginalien zu Franz Schuberts Sinfonie von 1825. Stuttgart 1985, sodann (in Auswahl): W. Dürr, W. Griebenow, B. Werthmann und M. Ziegler: Zur Altersbestimmung von Papier, dargestellt an Schuberts ,Unechter‘ in E-Dur – ein musikalisches Märchen. In: Das Papier 41 (1987), 7. Heft, S. 321–331 sowie Walther Dürr: Die gefälschte Schubert-Sinfonie. In: Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik. Hrsg. von Karl Corino. Nördlingen 1988, S. 410–416. Vgl. auch die auf die Quellensammlung der Neuen Schubert-Ausgabe sich stützende Übersicht bei Werner Bodendorff: Die kleineren Kirchenwerke Franz Schuberts. Augsburg 1997, S. 161–163.

Franz Schuberts Deutsche Trauermesse (D 621) als Problem der Text- und Stilkritik

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gen werden. Zu bedenken wäre jedenfalls auch, dass schon im Jahre 1817 der Verlag Breitkopf & Härtel das an ihn von Wien aus zur Prüfung eingesandte Manuskript des Erlkönigs (D 328) irrtümlicherweise an den in Dresden ansässigen Kirchenmusikkomponisten Franz Anton Schubert (1768–1824) retournierte,8 der sich prompt über den Mißbrauch seines Namens erboste.9 Einen in jeder Hinsicht bemerkenswerten entstehungs- und überlieferungsgeschichtlichen Sonderfall stellt Franz Schuberts Deutsche Trauermesse (D 621) dar. Denn die insgesamt zehn, teilweise nur wenige Takte umfassenden Sätze, die erstmals im Jahre 1826 unter dem Namen von Ferdinand Schubert (1794–1859), dem älteren Bruder Franz Schuberts, veröffentlicht wurden, fordern nicht nur zur Sensibilität gegenüber den zur Verfügung stehenden Quellen und dem musikalischen Detail heraus, sondern berühren auch die Frage nach Autorschaft und Authentizität. Bereits Otto Erich Deutsch (1883–1967), Nestor der modernen Schubert-Forschung, machte im Vorwort seiner pünktlich zum 100. Todestag erschienenen Neuausgabe der vierstimmigen Fassung des Werkes aufgrund einer Indizienkette deutlich, daß als eigentlicher Urheber der Komposition Franz Schubert zu gelten habe.10 Deutschs fraglos schlüssige Argumentation stützt sich, da keine Notenmanuskripte von der Hand Franz Schuberts vorliegen, vor allem auf den Briefwechsel der Brüder aus dem Spätsommer des Jahres 1818 – eine Zeit, die Franz als Musiklehrer auf dem ungarischen Schloß des Grafen Johann Karl Esterházy in Zseliz verbrachte. Ausgangspunkt ist der Beginn eines spät am Abend des 24. August von Franz aufgesetzten Schreibens: Lieber Bruder Ferdinand! Es ist Nachts halb 12 Uhr, und fertig ist Deine Trauermesse. Traurig machte sie mich, glaub mir, denn ich sang sie aus voller Seele. Was daran fehlt, ergänze, d. i. schiebe [schreibe?] den Text drunter u. die Zeichen drüber. Willst Du manches repetiren, so thue es, ohne mich in Zeliz darum zu fragen.11

Der Mitte Oktober von Ferdinand aus Wien abgeschickte Gegenbrief, in dem der ältere Bruder von seiner Verwendung der Komposition berichtet haben wird, ist wohl aus eben diesem Grunde nur unvollständig überliefert. Schon in der Quelle, die dem Schubert-Biographen Heinrich Kreißle Mitte des 19. Jahrhunderts zur Verfügung

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Zu Franz Anton Schubert, vgl. den entsprechenden Artikel in: Musikalisches Conversations-Lexikon. Bd. 9. Hrsg. von Hermann Mendel und August Reissmann. Berlin 1878, S. 165. – Von dessen Sohn Franz Schubert (1808–1878) stammt das einige Zeit dem Wiener Franz Schubert zugeschriebene Lied Mein Frieden, vgl. dazu Jurij Chochlow, ,Mein Frieden‘ – ein Lied vom Wiener oder vom Dresdener Schubert? In: Schubert durch die Brille 15 (Juni 1995), S. 107–112. Vgl. den Brief von Franz Schubert (Dresden) an den Verlag Breitkopf & Härtel vom 18. April 1817 – abgedruckt in Deutsch 1964 (Anm. 2), S. 51f.: „[…] zu meinem größten Erstaunen melde ich, daß diese Kantate [!] niemals von mir komponiert worden; ich werde selbige in meiner Verwahrung behalten, um etwan zu erfahren, wer dergleichen Machwerk an Ihnen auf so eine unhöfliche Art übersendet hat, und um auch diesen Padron zu entdecken, der meinen Namen so gemißbraucht.“ Vgl. hierzu das Vorwort zu: Deutsche Trauermesse für gemischten Chor und Orgel von Franz Schubert (bisher Ferdinand Schubert zugeschrieben), herausgegeben von Otto Erich Deutsch. [Wien 1928] (Schubert-Erstdrucke II). Brief von Franz Schubert an Ferdinand Schubert vom 24. August 1818. In: Deutsch 1964 (Anm. 2), S. 63f.

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stand, scheint der entsprechende Abschnitt gefehlt zu haben – zumindest war er unleserlich gemacht worden. Denn in Kreißles Abdruck folgen der Anrede „Lieber Bruder Franz!“ unmittelbar drei untereinander stehende Querstriche, die als Auslassungszeichen zu deuten sind.12 Der Inhalt dieser vermutlich unkenntlich gemachten Passage kann allerdings aufgrund der am 29. Oktober 1818 folgenden Antwort von Franz Schubert mit einiger Sicherheit erschlossen werden: Lieber Bruder Ferdinand! Die Sünde der Zueignung war Dir schon im ersten Brief verziehen, Du hattest also keine Ursache, so lange mit Deinem Schreiben zu säumen, als höchstens Dein zartes Gewissen. Die Trauermesse gefiel Dir, Du weintest dabey und vielleicht bey dem nähmlichen Wort, wo ich weinte; lieber Bruder, das ist mir der schönste Lohn für dieses Geschenk, laß ja von keinem andern was hören.13

Offenbar hatte Ferdinand die von seinem Bruder erbetene Komposition bereits zu diesem Zeitpunkt unter seinem Namen aufgeführt oder angekündigt – vielleicht im Zusammenhang mit einer an ihn herangetragenen Bitte um ein Werk für die von den Zöglingen des Wiener Waisenhauses musikalisch gestaltete Messe am Tage Allerseelen (2. November), die Ferdinand in seiner autobiographischen Skizze jedoch auf das Jahr 1819 datiert (siehe dazu weiter unten). Eine Aufführung des Werkes lässt sich allerdings erst in Zusammenhang mit jener Prüfung nachweisen, die Ferdinand Schubert Ende 1819 bei Joseph Drechsler, Kapellmeister und öffentlicher Lehrer der Harmonie zu St. Anna, ablegte. Hierzu heißt es im Zeugnis vom 23. Dezember: Zur strengen öffentlichen Prüfung ließ ich [Drechsler] ihn [Ferdinand Schubert] heute mit einer selbst komponierten deutschen Trauermesse hier in St. Anna auftreten, dieselbe dirigieren und zugleich dabei die Orgel spielen. Sein reiner Satz und sein bündiges Orgelspiel im Kirchenstile, dann seine umfassende Leitung des Ganzen rechtfertigen mein gefälltes, lobwürdiges Urteil vollkommen.14

1826 veröffentlichte Ferdinand Schubert das Werk schließlich in einer Ausgabe für vierstimmigen gemischten Chor mit Orgelbegleitung als sein eigenes op. 2 im Verlag von Anton Diabelli und widmete es Johann Georg Fallstich, seit 1816 Vizedirektor des k. k. Waisenhauses (Quelle B1).15 Wegen der Verwendung der Trauermesse als Prüfungsstück hatte Ferdinand Schubert späterhin offensichtlich kaum mehr ein Interesse daran, die wahren Umstände der Entstehung aufzuklären. Vielmehr scheint er erfolgreich um das Werk eine Legende gestrickt zu haben – für den jüngeren Bruder stellte es ohnehin wohl nur eine Art „Handgelenksübung“ dar, vergleichbar den 6 Antiphonen zum Palmsonntag (D 696), die am 28. März 1820 angeblich „in nicht mehr

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Brief von Ferdinand Schubert an Franz Schubert von [Mitte Oktober 1818], zitiert nach Deutsch 1964 (Anm. 2), S. 72–74; zu den Querstrichen vgl. auch die Bemerkung von Otto Erich Deutsch in seinem Vorwort zur Deutschen Tauermesse (Anm. 10), S. 1. Brief von Franz Schubert an Ferdinand Schubert vom 29. Oktober 1818. In: Deutsch 1964 (Anm. 2), S. 74. Zitiert nach dem Vorwort von Otto Erich Deutsch zur Deutschen Tauermesse (Anm. 10), S. 3. Vgl. auch Alexander Weinmann: Ferdinand Schubert. Wien 1986 (Beiträge zur Geschichte des AltWiener Musikverlages Reihe 1, Folge 4), S. 16ff.

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als 30 Minuten“ entstanden. So bezeichnet sich Ferdinand Schubert in einem Schreiben an den Abt Schultes des Wiener Schottenstifts als Verfasser der Trauermesse,17 und in der von August Schmidt am 5. Februar 1842 in der Wiener allgemeinen Musik-Zeitung veröffentlichten Biographie heißt es: „Sein erstes größeres Werk war eine auf Verlangen des damaligen Vizedirectors Fallstich componirte Trauermesse für vier Singstimmen mit Orgelbegleitung, welche Diabelli verlegte und die noch jetzt im Waisenhause und in der Normalhauptschule executirt wird.“18 Schon zuvor wurde die Deutsche Trauermesse in Gustav Schillings Encyclopädie der musikalischen Wissenschaften unter Ferdinand Schuberts Kompositionen aufgelistet (als „1 deutsche Seelenmesse“) – das summarische Werkverzeichnis schließt mit dem allgemeinen Zusatz: „In der Komposition war Bruder Franz sein treuer Führer […]“.19 Daß die Deutsche Trauermesse nicht nur für eine Prüfung gedacht war, sondern darüber hinaus dem eigentlichen Sinne nach auch ein Auftragswerk für die kirchenmusikalische Praxis am Wiener Waisenhaus darstellt, geht aus Ferdinand Schuberts autobiographischer Skizze aus dem Jahre 1841/42 hervor: Im J. 1819 wurde Schubert [ich] von dem hochwürdigen Herrn Joh. Geo. Fallstich, damals Vice-Direktor des k. k. Waisenhauses, ersucht, eine Trauermesse in Musik zu setzen. Zu dieser Aufforderung bewog den würdigen Geistlichen der Umstand, daß die Zöglinge des Waisenhauses am Aller-Seelentage das nähmliche Lied sangen, welches auch am Allerheiligen Tage, zum Oster-, Pfingst- und Weihnachtsfeste gesungen wurde. Diese dem religiösen Sinne sehr im Weg stehende Gewohnheit wurde nun von Sr. Hochwürden, dem Herrn Dir. Fallstich abgeschafft, und das aus einem Gebethbuche des Domherrn Schmid entnommene und von Ferd. Sch. in Musik gesetzte Trauer-Meßlied dafür eingeführt. Dieses deutsche Requiem, für 4 Singstimmen mit Begleitung der Orgel eingerichtet, ist bey H. Diabelli […] aufgelegt, und wird nun nicht nur von den Zöglingen des k. k. Waisenhauses am AllerSeelentage und bey allen übrigen (sogenannten) schwarzen Messen, sondern auch von den Schülern der k. k. Normal-Hauptschule gesungen.20

Der liturgische Gebrauch des Werkes spiegelt sich sowohl in weiteren Fassungen als auch in den Titeln der entsprechenden Druckausgaben wider. Neben der bereits erwähnten, am 14. Januar 1826 in der Wiener Zeitung angezeigten Diabelli-Ausgabe „für vier Singstimmen mit Beglg. der Orgel“ existiert eine weitere Fassung der Sätze (ohne die Nr. 3 Zum Evangelium) als Trauer-Meßlied in der von Ferdinand Schubert herausgegebenen Sammlung Meßgesänge und Kirchenlieder, dreistimmig „zum

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Ferdinand Schubert: Aus Franz Schuberts Leben, zitiert nach Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde. Hrsg. von Otto Erich Deutsch. 2. Aufl. Leipzig 1966, S. 45. Vgl. Weinmann 1986 (Anm. 15), S. 23. [August Schmidt]: Gallerie jetzt lebender, um die Tonkunst verdienter Schulmänner und Chorregenten. Ferdinand Schubert. In: Wiener allgemeine Musik-Zeitung 2 (1842), S. 61. „–d.“: Schubert, Ferdinand. In: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-Lexicon der Tonkunst. Hrsg. von Gustav Schilling. Bd. 6. Stuttgart 1838, S. 270. Zitiert nach Ernst Hilmar: Ferdinand Schuberts Skizze zu einer Autobiographie. In: Schubert-Studien. Hrsg. von Franz Grasberger und Othmar Wessely. Wien 1978 (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung 19), S. 95f.

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Gebrauche für Schulkinder eingerichtet“,21 die leicht verändert noch in zwei weiteren Auflagen 1853 und 1857 erschien (Quelle C1, C2 und C3). Es handelt sich dabei um eine Fassung für zwei Knabenstimmen (Sopran und Alt) und Tasteninstrument, wobei die Gesangsstimmen von der rechten Hand gestützt werden. Offenbar um die aufführungspraktischen Möglichkeiten zu erweitern, wurde in der dritten Auflage die vormals instrumentale Basslinie (Haltetöne) durch eine dem Text entsprechende Rhythmisierung für Vokalbass ersetzt. – Ohne Noten erfolgte außerdem der Abdruck der leicht modifizierten Dichtung (nun jedoch mit der Nr. 3) in dem 1855 veröffentlichten Textbuch Gesänge und Gebete für die Zöglinge des k. k. Waisenhauses in Wien als Gesang bei dem Amte der heil. Messe für Abgestorbene. Ferner existiert eine von Ferdinand Schubert auf den 20. Februar 1855 datierte Fassung des nach b-Moll transponierten Werkes für vierstimmigen Männerchor (Quelle D).22 Der von Ferdinand Schubert in seiner autobiographischen Skizze gegebene Hinweis auf ein als Textvorlage dienendes Gebethbuche des Domherrn Schmid führte die Schubert-Forschung bisher in die Irre – als Dichter glaubte man den in Wien als Armen- und Krankenseelsorger sowie als Autor zahlreicher Gebet- und Erbauungsbücher zu seiner Zeit weithin bekannten Franz Seraphicus Schmid (1764–1843) identifizieren zu können.23 Offenkundig handelt es sich bei dieser Zuschreibung jedoch um eine Verwechslung. So konnten Texte zu drei Sätzen in dem erstmals 1807 in Dillingen erschienenen Band Christliche Gesänge zur öffentlichen Gottesverehrung24 unter dem Titel Traueramt nachgewiesen werden (weitere Auflagen des Gesangbuches folgten 1811 und 1833). Dichter dieser Verse ist der als Theologe und Pädagoge wirkende Christoph von Schmid (1768–1854), dessen erbauliche Schriften, vor allem aber seine Kinder- und Jugenderzählungen, im 19. Jahrhundert weite Verbreitung fanden. Von ihm stammt übrigens auch der Text des bekannten Weihnachtsliedes Ihr Kinderlein, kommet.25 – Diese Texte gelangten ohne Angabe des Autors im Abschnitt III. Gesänge zur Todtenfeyer des von Kaspar A. von Mastiaux 1810 in München herausgegebenen Katholischen Gesangbuchs zum allgemeinen Gebrauche bei öffentli-

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Weinmann 1986 (Anm. 15), S. 62, gibt das Erscheinungsdatum mit „April 1830“ an, die zu dem Exemplar der Österreichischen Nationalbibliothek (Signatur: SA. 79. F. 51) gehörige Karteikarte mit 1838. Genaue Angaben zu den genannten und im Stemma angeführten Quellen sowie zu jenem Material, das erst später entstand und derzeit im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien, nicht zugänglich ist, können den Quellenbeschreibungen entnommen werden: Michael Kube: Kritischer Bericht. Franz Schubert. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. I/6: „Deutsche Messe“ / Deutsche Trauermesse. Tübingen 2002, S. 50–59. Hilmar 1978 (Anm. 20), S. 95. Ein entsprechender Hinweis findet sich bereits bei Ignaz Weinmann: Franz Schuberts Beziehungen zu Zseliz. Wien 1975 (mschr.), S. 77. Zur Biographie von Franz Seraphicus Schmid vgl. Angela Stöckelle: Schmid, Franz Ser. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Bd. 10. Wien 1994, S. 256. Nr. 272 in der Bibliographie von Wilhelm Bäumker. Das katholische deutsche Kirchenlied. Hrsg. von Joseph Gotzen. Bd. 4. Freiburg im Breisgau 1911, S. 28–287. Zu Christoph von Schmids Biographie und Wirken vgl. Christoph von Schmid. Erinnerungen und Briefe. Hrsg. von Hans Pörnbacher. München 1968 (Lebensläufe. Biographien, Erinnerungen, Briefe 13); Christoph von Schmid und seine Zeit. Hrsg. von Hans Pörnbacher. o.O. 1868; Uto J. Meier: Christoph von Schmid. Katechese zwischen Aufklärung und Biedermeier. St. Ottilien 1991 (Studien zur Praktischen Theologie 37).

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chen Gottesverehrungen. Erster Band zum Wiederabdruck; auch finden sich hier zwei weitere der vertonten Texte. Der Nachweis einer der Deutschen Trauermesse unmittelbar zugrunde liegenden Textvorlage konnte allerdings nicht erbracht werden.27 So schlüssig die bereits von Otto Erich Deutsch aus den Briefen und anderen Dokumenten gewonnene Argumentation hinsichtlich der Autorschaft der 1826 bei Diabelli herausgebrachten Fassung für vier Singstimmen und Orgel auch ist (alle weiteren Drucke und Manuskripte nennen wie diese Ferdinand Schubert als Autor), so fallen einem bei näherer Betrachtung der Stimmführung, Faktur und Harmonik dieser Ausgabe doch Passagen ins Auge, die man einem in handwerklichen Dingen beständig souverän agierenden Komponisten selbst unter ungünstigsten Umständen nicht recht zutrauen mag. Zwar ist Deutsch beizupflichten, der eine Zuschreibung der Komposition an Franz Schubert nach stilistischen Kriterien für kaum möglich hält, da „diese Trauermesse […] kein charakteristisches Werk ist.“28 Die vorhandenen satztechnischen Desiderata lassen bei Betrachtung des Details jedoch weiterreichende Schlüsse zu, die nicht nur die Frage der Zuschreibung berühren, sondern auch jedem der Arrangements den Status einer selbstständigen Fassung verleihen. Das früheste erhaltene Stadium der Deutschen Trauermesse gibt offensichtlich die von Ferdinand Schubert geschriebene Orgelstimme (Quelle A1) wieder, die zur Zeit allerdings nur in einer Kopistenabschrift zur Verfügung steht (Quelle A2) – dazugehörige Vokalstimmen haben sich nicht erhalten.29 Neben einigen fragwürdigen Lesarten (bei denen nicht sicher ist, ob sie ein Versehen des Kopisten darstellen) fallen im Vergleich zu allen weiteren Fassungen sofort erhebliche Differenzen in zwei Nummern auf (Nr. 8 Zum Agnus Dei und Nr. 10 Am Ende der Messe). Sie betreffen im einen Fall das Taktmetrum, im anderen die Basslinie und Harmonik.30 Außerdem bringt diese erste Fassung noch den Satz Nr. 3 Zum Evangelium, der in der dritten und vierten Fassung (Quellen C1–C3 und D) jedoch fehlt und erst wieder im Textbuch von 1855 erscheint. Dass diese handschriftliche Orgelstimme (Quelle A) der zweiten Fassung (Quelle B1) vorausging, legen die Takte 12–13 aus Nr. 7 Zum Memento für die Abgestorbenen nahe. Die satztechnisch fragwürdigen Terzparallelen in der linken Hand kehren unkorrigiert im Druck wieder. Dass die 1826 erschienene Druckausgabe für vierstimmigen Chor und Orgelbegleitung keine Originalkomposition wiedergibt, verdeutlichen schwerwiegende satztechnische Unzulänglichkeiten, bei denen es sich nicht bloß um gelegentliche Versehen bei der Fortschreitung der Stimmführung und bei der Harmoniefolge handelt, sondern – bedenkt man ihre erstaunliche Häufung – offensichtlich um das wenig be-

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Nr. 296 in der Bibliographie von Gotzen 1911 (Anm. 24). Zu den genauen Nachweisen vgl. Kube 2002 (Anm. 22), S. 60–65. So Otto Erich Deutsch im Vorwort zu Deutsche Trauermesse (Anm. 10), S. 4. Bereits Otto Erich Deutsch, dem die Stimme im Original vorlag, bemerkte in seinen Notizen zur Handschrift das frühe Stadium: „Nr. VIII steht in der Orgelstimme im 6/8 Takt[.] Auch Nr[.] X steht etwas anders. Sonst nur geringe Abweichungen vom Druck, der offenbar später ist“, s. hierzu auch die Angaben in: Kube 2002 (Anm. 22), S. 50–51. Für weitere Details vgl. das Vorwort zu Franz Schubert. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von Michael Kube. Bd. I/6: „Deutsche Messe“ / Deutsche Trauermesse. Kassel 2001, S. XIX.

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friedigende Ergebnis eines systematischen Umarbeitungsverfahrens von einem dreistimmigen hin zu einem vierstimmigen Satz. Am deutlichsten zeigt sich dies in Nr. 4 Zum Offertorium. Die Terzparallelen der beiden Oberstimmen (Takt 3–5) werden von Tenor und Singbass im Oktavabstand verdoppelt, der in der ersten Fassung vorhandene Orgelpunkt b wird nur von der Instrumentalbegleitung aufgenommen (die Stelle erscheint in der 3. und 4. Fassung hingegen ,normalisiert‘). In anderen Fällen gewinnt man den Eindruck, der Tenor sei über weite Strecken einfach als akkordfüllende Stimme in einen dreistimmigen Satz hineingestellt worden, wie etwa in Nr. 10 Am Ende der Messe. Hier überschreitet der Tenor gleich zu Beginn den wörtlich aus einer früheren Fassung übernommenen Alt; im weiteren Verlauf wird das ungewöhnliche Sprungverhalten der Stimme jeden Sänger irritieren (besonders Takt 5–10) – vgl. dazu den synoptischen Abdruck der zweiten, dritten und vierten Fassung (Quellen B, C1 und D) auf S. 138–139. Gegenüber der vierstimmigen Fassung repräsentiert die dreistimmig angelegte, erstmals 1830 im Druck erschienene dritte Fassung (Quelle C1) einen in jeder Hinsicht ausgeglicheneren Satz. Dass aber auch sie einiger Verbesserungen bedurfte, belegen die beiden folgenden Auflagen (Quelle C2 und C3), in denen nicht nur einige Druckfehler, sondern auch Ungleichmäßigkeiten berichtigt wurden, wie etwa der schon in der ersten Fassung vorhandene Sextakkord auf der IV. Stufe am Ende des vorletzten Taktes von Nr. 9 Zur Kommunion. Bereits diese wenigen Beispiele legen die Vermutung nahe, Franz Schubert habe seinem Bruder ursprünglich ein in weiten Teilen nicht vollständig ausgeführtes Manuskript zukommen lassen, das erst noch auszuarbeiten war. Auf den provisorischen Charakter dieses verlorenen Autographs verweist er selbst: „Was daran fehlt, ergänze, d. i. schiebe [schreibe?] den Text drunter u. die Zeichen drüber. Willst Du manches repetiren, so thue es, ohne mich in Zeliz darum zu fragen.“31 Möglicherweise notierte Schubert gar nur einen bezifferten Gerüstsatz, wahrscheinlich aber führte er die einzelnen Nummern für Sopran, Alt (also Knabenstimmen) und (Orgel-)Bass aus – mithin einen über weite Strecken dreistimmig geführten Satz, der später die Grundlage für die 1830 im Druck erschienene „Bearbeitung“ Ferdinands gebildet haben könnte. Es sei an die Vorbemerkung des von diesem im Jahre 1853 herausgegebenen Bändchens Der kleine Sänger erinnert, im dem es aufschlussreich heißt: Diese Lieder sind ursprünglich nur für den zweistimmigen Knaben- oder Mädchengesang bestimmt gewesen, wozu blos die Zeilen mit dem Violinschlüssel gehören; da jedoch hie und da der Wunsch laut wurde, diesen Gesängen auch einen Baß unterzulegen, oder eine leichte Klavierbegleitung beizugeben, so habe ich mich dieser geringfügigen Arbeit mit Vergnügen unterzogen […]32

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Wie Anm. 11. Der kleine Sänger. Eine Sammlung von zweistimmigen Liedern und Baßbegleitung für Knaben und Mädchen in Schulen und Erziehungsanstalten. In Musik gesetzt […] von Ferdinand Schubert. Wien 1853.

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Bearbeitet wurden dabei freilich auch Klavierlieder Franz Schuberts. Ferdinand Schubert, zwischen 1816 und 1820 als wirklicher Lehrer am Wiener Waisenhaus tätig, muss dem ihm übersandten, vermutlich dreistimmigen Rahmensatz der Deutschen Trauermesse schon bald (für den 2. November 1818?) und offenbar mehr schlecht als recht den Tenor als weitere Mittelstimme hinzufügt haben, der dann auch in die Druckausgabe bei Diabelli einging. Bedenkt man die 1819 bei Drechsler abgelegte Prüfung, in deren Zusammenhang wohl spätestens die in Ferdinands Handschrift überlieferte Orgelstimme (Quelle A1) entstanden sein dürfte, so wäre der ältere Bruder als Urheber dieser Erweiterungen und Ergänzungen auszumachen. Die vierstimmige Fassung (Quelle B1) wäre mit ihren Ungeschicklichkeiten demnach ein Dokument einer noch nicht vollständig abgeschlossenen Aneignung satztechnischer Fähigkeiten. (Das von Drechsler ausgestellte Zeugnis gibt außer dem Hinweis auf einen ,reinen Satz‘ keinen Aufschluß darüber, ob für die Prüfungsaufführung wirklich vier Singstimmen vorgesehen waren.) Die von Eusebius Mandyczewski, dem von Johannes Brahms empfohlenen Mitherausgeber der 1897 abgeschlossenen Alten Gesamtausgabe, überlieferte Bemerkung, Ferdinand Schuberts Arbeiten seien „immer technisch gediegen“,34 wäre eher auf spätere Werke zu beziehen: das zwischen 1820 und 1824 entstandene,35 am 3. November 1828 zu Allerseelen aufgeführte und 1831 bei Diabelli als op. 9 mit der Widmung „dem Angedenken des verblichenen Tonsetzers Franz Schubert geweiht von seinem Bruder“ erschienene lateinische Requiem gMoll,36 die 1820 komponierte, 1830 revidierte und im folgenden Jahr ebenfalls bei Diabelli gedruckte Messe in F op. 1037 – wie auch das als vierte Fassung der Deutschen Trauermesse zu wertende späte Arrangement für Männerstimmen (Quelle D).

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Vgl. Weinmann 1986 (Anm. 15), S. 92; Reinhard van Hoorickx: Franz und Ferdinand Schubert. In: Music Review 52 (1991), S. 96; Franz Schubert. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von Walther Dürr. Bd. IV/4: Lieder 14. Kassel 1988, S. XXV–XXVI. So Otto Erich Deutsch im Vorwort zu Deutsche Trauermesse (Anm. 10), S. 5. Vgl. Hilmar 1978 (Anm. 20), S. 101. Siehe zu diesem Werk die von Otto Biba besorgte Neuausgabe (Altötting 1978) sowie die Erläuterungen von Gottfried Scholz: Zu Ferdinand Schuberts „Requiem“ – „dem Angedenken des verblichenen Tonsetzers Franz Schubert geweiht von seinem Bruder“. In: Schubert und seine Freunde. Hrsg. von Eva Badura-Skoda, Gerold W. Gruber, Walburga Litschauer und Carmen Ottner. Wien 1999, S. 331– 340. Siehe hierzu das Vorwort und den Kritischen Bericht der von Michael Kube besorgten Neuausgabe des Werkes (Sankt Augustin 2003).

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Beispiel 1 Franz Schubert. Deutsche Trauermesse (D 621), Nr. 10 Am Ende der Messe Synoptischer Abdruck der 2., 3. und 4. Fassung (Quellen B, C1 und D)

Michael Kube

Franz Schuberts Deutsche Trauermesse (D 621) als Problem der Text- und Stilkritik

Beispiel 1 Franz Schubert. Deutsche Trauermesse (D 621), Nr. 10 Am Ende der Messe Synoptischer Abdruck der 2., 3. und 4. Fassung (Quellen B, C1 und D)

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[x] [y] A1 A2 B1 B2 C1 C2 C3 D

das von Franz Schubert aus Zseliz im Oktober 1818 übersandte Manuskript Manuskript mit den von Ferdinand Schubert vorgenommenen Ergänzungen Orgelstimme der ersten Fassung von Ferdinand Schubert (Manuskript) Kopistenabschrift von A1 aus dem Nachlass Otto Erich Deutsch Erstausgabe der zweiten Fassung, vierstimmig (Wien 1826) Neuausgabe von B1 (Wien 1928) Erstausgabe der dritten Fassung, dreistimmig (Wien 1830) 2. Auflage von C1 (Wien 1853) 3. Auflage von C1 (Wien 1857) Partitur der vierten Fassung von Ferdinand Schubert, Männerstimmen (Manuskript, 1852)

Richard Sperl

Textkritik und Marx-Engels-Edition

Textkritik ist die Grundlage aller Herausgabe von Schriftdenkmälern. Die Herstellung eines zuverlässigen Wortlauts, der allen Ausgaben zugrunde liegen kann und muß, ist die wichtigste Aufgabe des Herausgebers. Georg Witkowski 1924

Seit diesen unbestreitbaren Feststellungen sind achtzig Jahre vergangen. In dieser Zeit wurde deutlich, daß zwar weitgehende Übereinstimmung darüber herrscht, daß die Darbietung eines zuverlässigen Textes die zentrale Aufgabe einer kritischen Edition ist, die Verwirklichung dieses Zieles sich jedoch keineswegs einfach gestaltet, sondern die Lösung einer Vielzahl von Problemen erfordert, die in der Geschichte der neugermanistischen Edition verschieden gesehen, gestellt und gelöst worden sind und bis heute eifrig und kontrovers diskutiert werden. Dies fand auch in der Geschichte der Marx-Engels-Edition ihre Widerspiegelung. Dazu möchte ich aus meiner nun fast 50jährigen Tätigkeit auf diesem Gebiet einige Erfahrungen und Erkenntnisse beisteuern. Es stellt sich des öfteren die Frage, mit welchem Beruf die textkritische Arbeit eines Editors vergleichbar ist: Sicherlich kaum mit dem eines Schönheitschirurgen, der Fältchen glättet, hier etwas wegnimmt und dort etwas hinzufügt, also das natürlich Gewordene zu ‚verbessern‘ meint; eher schon mit einem Restaurator, der mit Akribie und Einfühlungsvermögen das Kunstwerk in seiner ursprünglichen Gestalt und Schönheit wiedererstehen läßt. Denn Malerei und Dichtung haben vieles gemeinsam. Ein Restaurator käme wohl kaum auf die Idee, diese oder jene Zeit- oder Ortsunstimmigkeit auf Gemälden zu korrigieren: sei es nun den Pistolenhalfter des reitenden Pilatus bei Dürer, die Nürnberger Wohnstube, in der er Maria Geburt geschehen läßt oder das Altarbild zu Soest, auf dem statt des Osterlamms ein heimischer westfälischer Schinken in der Schüssel liegt. Unweit unseres Tagungsortes, so wurde mir berichtet, befindet sich in der Kartause zu Schnals (Südtirol) ein Fresko, auf dem Abraham dargestellt ist, wie er gerade Isaak durch einen Gewehrschuß töten will. In den Wolken darüber schwebt ein Engel und darunter steht der Vers: Abraham – s’ist alles umsunst, Weil dir der Engel auf d’Zündpfannen prunst.

Hier begegnet sich naive Zeitschnitzerei in Bild und Wort. Doch auch in den Werken der Dichter gibt es mancherlei Ungereimtheiten. So läßt Shakespeare im Winter-

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märchen seine Sizilianer an der Küste Böhmens Schiffbruch erleiden und im Epos Lucretia die altrömische Titelheldin nach „Tinte, Feder und Papier“1 verlangen. In Goethes Faust, im ausgehenden 15. Jahrhundert angesiedelt, wird in Auerbachs Keller „recht moussierender Champagnerwein“2 verlangt, obwohl dieser doch erst 1670 zu schäumen anfing. Und beim Osterspaziergang bekennt ein Scholar: „Ein starkes Bier, ein beizender Toback/ Und eine Magd im Putz, das ist nun mein Geschmack“3. Zumindest der Hang nach Tobak hätte damals nicht gestillt werden können; er wurde in Deutschland erst im Dreißigjährigen Krieg Mode. Und Schiller läßt im Fiesco den Mohren „eine brennende Lunte in den Jesuiterdom werfen“,4 der um jene Zeit noch nicht einmal gebaut war. Doch stört das den Dichter? Natürlich nicht. Ihm ist die Fülle, die Wirkung des poetischen Bildes wichtig, nicht, woher das, was der Anschauung dient, genommen und dahergekommen war. Und mit Recht verwandelt Shakespeare seine Römer zu typischen Engländern, sonst hätten ihn seine Landsleute kaum verstanden. Also rät uns Goethe: Überall sollen wir es mit dem Pinselstriche eines Malers, oder dem Worte eines Dichters nicht so genau und kleinlich nehmen; vielmehr sollen wir ein Kunstwerk, das mit kühnem und freiem Geist gemacht worden, auch womöglich mit ebensolchen Geiste wieder anschauen und genießen. […] Wenn durch die Phantasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel.5

Also wird der gut beratene Editor bei solcherlei – gewollten oder ungewollten – Schnitzern keinesfalls in den Text eingreifen und sich in der Regel auch verkneifen, im textkritischen Apparat dazu belehrend oder mißbilligend den Finger zu erheben. So weit, so gut. Aber Goethe ergänzt: Dies ist es, wodurch sich die Poesie von der Prosa unterscheidet, bei welcher der Verstand immer zu Hause ist und sein mag und soll.6

Dies zielt offenbar vor allem auf Sachtexte, insbesondere auf solche, die einen wissenschaftlichen Anspruch erheben, wie es bei Marx und Engels vorwiegend der Fall ist. Was also tun, wenn man hier auf Unstimmigkeiten oder Verwechslungen bei Zeit-, Ort- und Personenangaben oder Ereignissen stößt? Da der Leser davon ausgeht, hier historische, soziale, ökonomische, biographische, bibliographische und sonstige Tatsachen vermittelt zu bekommen, ist eine gewissenhafte Überprüfung der Texte auf die Stimmigkeit der faktologischen Aussagen unerläßlich, wobei neben äußerlichen Kriterien auch inhaltlich-semantische, also interpretatorische Kriterien stets mit her-

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William Shakespeare: Lucretia. In: Sämtliche Werke in 4 Bdn. Bd. 2. Berlin 1975, S. 756. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Auerbachs Keller in Leipzig. Vers 2268f. Ebd. Vor dem Tor. Vers 830f. Friedrich von Schiller: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. 5. Aufzug. 10. Auftritt. Gespräche mit Eckermann, 18. April und 5. Juli 1827. In: Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Neu hrsg. von Flodoard Frhr. von Biedermann. 3. Bd.: Vom letzten böhmischen Aufenthalt bis zum Tode Karl Augusts. Leipzig 1910, S. 379 und 408. Ebd., S. 408.

Textkritik und Marx-Engels-Edition

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anzuziehen sind. Denn nicht selten tritt der Fall auf, „wo der Text sinnvoll scheint und trotzdem fehlerhaft ist“.7 Jedoch darf dabei in keinem Fall der zur Zeit der Niederschrift des Textes erreichte theoretische Erkenntnisstand des Autors bzw. des jeweiligen Wissenschaftszweiges aufgrund späterer Erkenntnisse weitergeführt oder korrigiert werden. Ein ästhetisches Kriterium allerdings ist bei solcherart Texten kaum anwendbar.

Die Handhabung von Textkritik in der Geschichte der Marx-Engels-Edition Sowohl die erste Marx-Engels-Gesamtausgabe (1927–1935),8 die für die literarische Hinterlassenschaft der beiden Autoren die Tradition historisch-kritischer Edition begründete, als auch die 43bändige Marx-Engels-Studienausgabe (1956–1990),9 die der Traditionslinie parteipolitisch gebundener Editionstätigkeit verpflichtet war, konzentrierten sich vorwiegend auf die Beseitigung offensichtlicher Druckfehler und Schreibversehen. Diese Eingriffe in den Text wurden stillschweigend vorgenommen, nur in einigen, nicht eindeutig erscheinenden Fällen wurden sie in Fußnoten nachgewiesen.10 Als in den 60er Jahren mit den Vorbereitungen für eine neue historisch-kritische Gesamtausgabe begonnen wurde, wurde erstmalig der allgemeine Erkenntnisstand der Editionswissenschaft sorgfältig analysiert und in die konzeptionellen Überlegungen einbezogen. Entscheidende Anregungen konnten vor allem aus den Beiträgen im Sammelband Texte und Varianten11 und dem Buch von Gerhard Seidel12 gewonnen werden. Die ältere, eigentlich schon überwundene Editionslehre, daß nicht nur die Ausgabe letzter Hand, sondern auch der dort gebotene Text weitgehend sakrosankt seien, spielte bei der Konzipierung der neuen Gesamtausgabe (MEGA/2) insofern eine besondere Rolle, da seitens der in der DDR einflußreichen Weimarer Schule vehement auf eine ‚Denkmaledition‘ gedrängt wurde.13 Auch die für die MEGA/2 zuständigen Moskauer Parteiinstanzen waren gegenüber Begriffen wie ‚Textkritik‘ bzw. ‚Textrevision‘ recht

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Winfried Woesler: Entstehung und Emendation von Textfehlern. In: editio 5 (1991), S. 55–75, hier S: 58. Karl Marx, Friedrich Engels: Historisch-krititsche Gesamtausgabe. Werke, Schriften, Briefe. Im Auftrage des Marx-Engels(-Lenin)-Instituts Moskau. Hrsg. von D. Rjazanov, ab 1931 von V. Adoratski. Frankfurt a.M. 1927; Berlin 1929–1932; Moskau-Leningrad 1933–1935 (im folgenden als MEGA/1 zitiert). Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bde 1–39, Erg.-Bde 40–43; Registerband. Berlin 1956–1990 (im folgenden als MEW zitiert). Siehe Rolf Hecker: Rjazanovs Editionsprinzipien der ersten MEGA. In: Davis Borisovic Rjazanov und die erste MEGA. Berlin/Hamburg 1977 (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Neue Folge, Sonderband 1), S. 7–27, hier 19ff. Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. Müchen 1971. Gerhard Seidel: Die Funktions- und Gegenstandsbedingheit der Edition. Untersucht an poetischen Werken Bertolt Brechts. Berlin 1970. Neu erschienen unter dem Titel: Bertolt Brecht – Arbeitsweise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß. Stuttgart 1977. Siehe dazu: Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren Literatur. In: Forschen und Bilden 1 (1966), S. 2–22.

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allergisch. Man argwöhnte dahinter eine Kritik an der Marxschen Theorie bzw. eine Abart des ‚Revisionismus‘. So wurden die 1972 im Probeband vorgestellten Methoden der Text- und Variantendarbietung als Ausdruck von Akademismus, Formalismus und Pedanterie zunächst heftig abgelehnt, und fast wäre es zu einer eklatanten Fehlentscheidung gekommen. Es bedurfte langwieriger Erklärungen des eigentlichen Gehalts dieser editorischen Begriffe, bis dies, auch dank nachdrücklicher Unterstützung namhafter Philologen, glücklicherweise abgewendet werden konnte.14 Aber auch mit einer anderen Auffassung von Textkritik konnten sich die MEGA/2Editoren nicht anfreunden, die von Ernst Grumach folgendermaßen charakterisiert wurde: Die Aufgabe des kritischen Editors kann nur sein, den besten Text herzustellen […] unter Berücksichtigung aller vorhandenen Zeugen eines Textes und aller seine Geschichte bestimmenden Faktoren, der den Intentionen des Autors den adäquatesten Ausdruck verleiht.15

Waren wir doch inzwischen davon überzeugt, daß ein organisch gewachsener, historischer Text in jedem Fall qualitativ höher zu bewerten ist als ein vom Herausgeber nach formalen oder sprachlich-ästhetischen Gesichtspunkten geglätteter Text. Mischtexte aus verschiedenen Fassungen, die als solche nie existiert haben, wurden von vornherein aus unseren textkritischen Überlegungen verbannt. Auch die Modifikation dieser Auffassung, daß der beste Text eines Werkes derjenige der besten Textfassung sei, die werkindividuell gefunden werden müsse, hob das Problem nicht auf, sondern nur auf eine andere Ebene. Also verabschiedeten wir uns von den Begriffen ‚bester Text‘ und ‚beste Fassung‘ und schlossen uns nachdrücklich Hans Zellers Fazit an: Wir nehmen lieber den autorisierten, historischen und damit einen ab und zu vielleicht „schlechteren“ Text in Kauf, als mit der „Herstellung des besten Textes“ den historischen Boden unter den Füßen zu verlieren.16

Damit war die Entscheidung zugunsten des historischen, authentischen Textes gefallen. Selbstverständlich stellte sich auch bei der MEGA/2 die Aufgabe, die gesamte – d.h. im wesentlichen die autorisierte – Überlieferung zu mustern, jedoch nicht, um die beste Fassung herauszufinden und sich dafür zu entscheiden. Vielmehr legten wir uns für den in toto zu edierenden Text generell auf das Prinzip ‚frühe Hand‘ (also Erstdruck oder Schlußfassung des Manuskripts) fest und gingen dabei zugleich von der Gleichwertigkeit aller vom Autor stammenden Fassungen aus. Ihre textlichen Unter-

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Siehe Rolf Dlubek: Die Entstehung der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe im Spannungsfeld von legitimatorischem Auftrag und editorischer Sorgfalt. In: MEGA-Studien 1 (1994), S. 60–106, hier S. 89f. Ernst Grumach: Prologomena zu einer Goethe-Ausgabe. In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuches der Goethe-Gesellschaft 12 (1950), S. 64. Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten 1971 (Anm. 7), S. 45–89, hier S. 73.

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schiede werden als Varianten dargeboten. Bei der textkritischen Analyse können diese verschiedenen Fassungen bei der Auffindung von Textverderbnissen ebenfalls hilfreich sein.

‚Höhere‘ und ‚niedere‘ Textkritik Wenn uns auch bewußt geworden war, daß Textkritik nicht ausschließlich bei der Beseitigung eindeutig auf der Hand liegender Textverderbnisse stehen bleiben kann und darf, bereitete dennoch die verschiedenartig definierte Unterscheidung zwischen ‚höherer‘ und ‚niederer‘ Kritik gewisse Schwierigkeiten. Textkritik sahen wir als Einheit von Examinatio und Emendatio. Beide Bereiche lassen sich nicht exakt trennen (es wäre deshalb vorzuziehen, von ‚weiterer‘ und ‚engerer‘ Fassung des Begriffs Textkritik zu sprechen) und bei der Emendation handelt es sich keineswegs um eine zweitrangige Angelegenheit, die eine „Kapitulation vor entscheidenden Fragen der Textkritik“ 18 darstellt. Zur Textkonstitution gehören zweifellos auch kritische Untersuchungen allgemeinerer Fragen wie z.B. das Grundanliegen, die Gesamtkonzeption, die Struktur eines Werks, sein Kontext, sein Entstehungsprozeß oder die Beziehungen einzelner Teile zueinander. Jeden Text als ein Ganzes zu begreifen, ist Ausgangspunkt für jede Entscheidung zu einzelnen Textstellen. Dies macht sich besonders nötig bei unvollendet bzw. ungedruckt gebliebenen Werken, für die verschiedene Vorarbeiten vorliegen. In der Geschichte der Marx-Engels-Edition (sowohl in der MEGA/1 als auch in den MEW) wurde bei solchen Manuskripten seitens der Herausgeber häufig versucht, Unvollendetes gewissermaßen zu vollenden, durch entsprechende Textumstellungen, Einfügung von Überschriften usw. eine Art abgeschlossenen, fertigen Text zu konstituieren. Die MEGA/2 lehnt solche Eingriffe grundsätzlich ab und bietet die Manuskripte in ihrer überlieferten Form und in ihrer zeitlichen Entstehungsfolge. Um die Zustimmung der sowjetischen Partner zu einer solchen, der Tradition widersprechenden philologisch-kritischen Dekonstruktion zu erlangen, wurde insofern ein Kompromiß eingegangen, indem z.B. die Marxschen Ökonomisch-philosophischen Manuskripte und Engels’ Dialektik der Natur in zwei Wiedergabeformen ediert wurden: zum einen in der getreuen Wiedergabe der überlieferten Manuskripte in ihrer chronologischen Entstehungsfolge, zum anderen umgestellt nach inhaltlich-logischen Gesichtpunkten und mit redaktionellen Zwischentiteln versehen.19 Bei der bevorstehenden Veröffentlichung der Handschriften und Teildrucke zu dem geplanten Werk Die deutsche Ideologie (Bd. I/5) wird nunmehr auf eine solche zusätzliche ‚Werkkonstitution‘ verzichtet und jedes überlieferte Manuskript und jeder Teildruck als selbständiger Textzeuge wiedergegeben und nach ihrer Entstehungszeit chronologisch einge-

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Siehe auch Richard Sperl: Die Wiedergabe der autorisierten Textentwicklung in den Werken von Marx und Engels im Variantenappparat der MEGA. In: Marx-Engels-Jahrbuch 5 (1982), S. 157–214. Karl Konrad Polheim: Ist die Textkritik noch kritisch? In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. Berlin 1985, S. 324–336, hier S. 325. Siehe MEGA/2, I/2, S. 187–322 und 323–438 sowie I/26, S. 5–292 und S. 293–553.

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ordnet. Es gibt also nicht mehr, wie in früheren Editionen, ein geschlossenes Kapitel I. Feuerbach, sondern sieben verschiedene Manuskripte, die Teile bzw. Teilentwürfe für ein solches Kapitel darstellen.20

Autorfehler und Fremdfehler Die von Editionswissenschaftern herausgearbeitete Unterscheidung von Autorfehler und Fremdfehler21 erwies sich auch in der Marx-Engels-Edition als sinnvoll und praktikabel, sobald man daran nicht die Forderung knüpft, auf die Korrektur von Autorfehlern zu verzichten. Da der überlieferte literarische Nachlaß von Marx/Engels zu fast 70 Prozent aus zu Lebzeiten unveröffentlichten Handschriften besteht, spielen Autorfehler die überwiegende Rolle. Man kann bei diesen Manuskripten jedoch weder auf kritische Prüfung der Texte verzichten, noch darf man unbekümmert jedes Versehen, jede sprachliche Unzulänglichkeit in den Niederschriften, vor allem solcher, die allein für die persönliche Nutzung bestimmt waren, korrigieren. In den autorisierten Drucken ist eine textkritische Sichtung selbstverständlich unverzichtbar. Eine besondere Schwierigkeit liegt dabei in der Eigenheit der Überlieferung begründet, daß ein recht großer Anteil nur in einer einzigen Druckfassung vorliegt und auch kein Manuskript (Entwurf oder Druckvorlage) dafür existiert. So gibt es von den mehr als 2000 Pressebeiträgen höchstens für ein Dutzend Druckvorlagen, für alle anderen allein den Abdruck. Wie schwierig es hier für den Editor ist, Autorund Fremdfehler zu erkennen bzw. auseinanderzuhalten, kann hier nicht weiter ausgeführt werden, ich verweise jedoch auf meine entsprechenden Darlegungen auf der Aachener Tagung.22 Es treten also bei Drucken genügend Probleme auf hinsichtlich Eingriffen der Verleger, Redakteure oder Korrektoren, Veränderungen durch Druckereireglements bzw. Setzergewohnheiten usw. Marx und Engels hatten nicht immer einen so verständnisvollen Partner wie Heine in seinem Verleger Campe, der ihm am 3. Juli 1840 mitteilte: Die Korrektur lese ich selbst; halte mich genau an das Manuskript, schreibe, wo Sie Prädiger schreiben Prädiger und wo Sie dasselbe mit einem e geben ebenfalls mit einem e usw.23

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Inzwischen ist eine Vorabpublikation folgender für den MEGA/2-Bd. I/5 vorbereiteter Materialien erschienen: Karl Marx, Friedrich Engels, Joseph Weydemeyer: Die deutsche Ideologie. Artikel, Druckvorlagen, Entwürfe, Reinschriftenfragmente und Notizen zu I. Feuerbach und II. Sankt Bruno. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2003, S. 3–144. Siehe Konrad Polheim: Der Textfehler. Begriff und Problem. In: editio 5 (1991), S. 38–54, hier S. 47f. Siehe Richard Sperl: Probleme der Autorschaft, Autorisation und Authentizität bei der historischkritischen Edition der publizistischen Texte von Karl Marx und Friedrich Engels. In: editio 16 (2002), S. 86–104. Julius Campe an Heine: 3. Juli 1840. (Säkularausgabe, Bd. 25, S. 262f.)

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Modernisierung und Normalisierung der Texte Die Modernisierung bzw. Normalisierung von Orthographie und Interpunktion gehört zu den häufigsten Eingriffen der Herausgeber in überlieferte Texte. Auch bei der MEGA/1 und den MEW wurde, wie damals überwiegend üblich, „unter Wahrung des Lautstandes behutsam“ modernisiert und vereinheitlicht.24 Dies ließ sich relativ einfach bewerkstelligen; jedoch war dieses Vorgehen zugleich wechselnden zeitgebundenen und auch subjektiven Ermessen besonders unterwerfen. Bei der Vorbereitung der MEGA/2 orientierten sich die Berliner Editoren von Beginn an auf die konsequente Beibehaltung der originalen orthographischen, grammatikalischen und interpunktionellen Sprachformen sowie auf unterschiedliche Schreibweisen, um ein spezifisch historisches Verständnis klassischer Texte zu fördern. Dies stieß zunächst auf heftigen Widerstand der Moskauer Seite, die Unverständlichkeit und damit die Gefährdung der Lektürebereitschaft prophezeite, und der letztlich nur durch das Argument gebrochen werden konnte, daß eine Rechtschreibreform bevorstehe, bei deren Umsetzung die vorgelegten Texte schließlich weder original noch modern sein würden. In der Tat sind alle deutschsprachigen Editionen, deren Textkonstitution auf den alten Dudenregeln beruht, mit der Reform von 1998, die die Geschichtlichkeit von Sprachregelungen so drastisch vor Augen geführt hat, in dieser Hinsicht veraltet. Herausgeber, Verleger und Leser mußten sich wieder an konkurrierende Rechtschreibungen gewöhnen, so daß sie der Bewahrung historischer Orthographie und Interpunktion zukünftig vielleicht aufgeschlossener gegenüberstehen dürften. Eine historischkritische Edition kann nicht zwecks leichterer Lesbarkeit zum Mittel der Modernisierung greifen, ohne damit ihren spezifischen historischen Charakter aufzugeben. Das gilt sowohl für die Orthographie als auch in noch stärkerem Maße für die Interpunktion. Letztere gehört zu dem Bereich schriftlicher Äußerungen eines Autors, der sich am längsten der logisch-abstrakten Regelgebung entzogen hat und bis in die Gegenwart hinein ein auf den Sinn bezogenes, also im allgemeinen (irrigen) Sprachgebrauch ein subjektives Moment aufweist. Unregelmäßigkeit wiederum gehört zu den Formen, in denen sich Texterzeugung vollzieht. Die Schreibgewohnheiten eines Autors ändern sich während seines Lebens zum Teil erheblich. In der Schaffenszeit von Marx und Engels gab es wenig feste Schreibregeln, und ihre allmähliche Veränderung wurde von ihnen teilweise mitvollzogen, teilweise blieb sie auch unbeachtet. Unterschiedliche Schreibweisen oder grammatische Formen usw. finden sich so nicht nur in den verschiedenen Werken und Fassungen, sondern sogar innerhalb eines Textes. Daran wird nicht gerührt, und bis jetzt hat sich auch noch kein Nutzer darüber beklagt. Hier greift auch nicht das Argument, daß die ‚Reinigung‘ solcher Texte im Sinne eines „oberflächlich verstandenen Harmoniebegriffs“25 als eine von der Pietät gegenüber dem Autor geforderte Pflicht

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Siehe Richard Sperl: Marx-Engels-Editionen. In: Edition als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nuth-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005, S. 329–360, hier S. 347 und 350. – Vgl. auch Vorwort. In: MEW Bd. 1, 16. Aufl. Berlin 2006, S. XXII. Manfred Windfuhr: Die neugermanistischen Editionen. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben. In: Euphorion 51 (1957), S. 425–442, hier S. 437.

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anzusehen sei, wie es vor allem von Vertretern älterer Editionslehren ins Feld geführt wurde.26 Aber Klassiker, auch Marx und Engels, können das Recht und das Verständnis für sich beanspruchen, in ihren Schriften, vor allem in den für den eigenen Gebrauch bestimmten Aufzeichnungen Fehler, Irrtümer und Nachlässigkeiten zu begehen. Bei den Editoren der MEGA/2 setzte sich deshalb, auch wenn manche Funktionäre ob dieser Rufschädigung erschauerten, die Auffassung durch, daß eine nachträgliche Modernisierung und Glättung der Texte einer Verfälschung gleichkommen kann27, während die Bewahrung alter, fremder und verschiedenartiger Schreibweisen das spezifisch historische Verständnis klassischer Texte wesentlich zu fördern imstande ist.28 Zudem hatten die MEGA/1 und die MEW drastisch vor Augen geführt, daß das Streben nach Normierungen „nicht ohne erstarrenden Zwang und nicht ohne Ausnahmen, die sich in Regeln nur nothdürftig und nirgends restlos einfangen lassen, geschehen kann“.29

Schwinden der Textkritik in der neugermanistischen Edition? Bei der kritischen Konstitution eines Textes wird heute verstärkt die Einheit von äußerer sprachlicher Gestalt und innerem Gehalt gefordert, was Editoren veranlaßt, ein Werk auch in der äußeren Gestalt darzubieten, die der Autor ihm gegeben hat (im Druck) oder geben wollte (Handschrift), als er schöpferisch bildend mit ihm verbunden war.30 Wenn man rückblickend die bisher erschienenen Bände der MEGA/2 analysiert, kann man feststellen, daß die Zahl der direkten Eingriffe in die überlieferte authentische Textgestalt immer geringer, textkritische Erörterungen im Apparat immer zahlreicher werden. Hier stimmen wir völlig mit Gunter Martens überein, wenn er feststellt, daß es nicht die Zahl der editorischen Eingriffe in den Text ist, die von der Qualität der Textkritik Zeugnis ablegt.31 Sorgfältiges Abwägen und Prüfen verlangt mehr Nachdenken und Aufwand als schnelle Korrekturen. Insofern betrachten wir diese Tendenz keineswegs als ein „Schwinden der Textkritik“32, sondern als ihre Zu-

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Als Beispiel für eine solche Betrachtungsweise gilt Heinrich Düntzers Besprechung von: Goethes Werke. Weimar 1887/1888: „Eine ihres Zweckes sich bewußte Kritik muß der Nachlässigkeit des Schreibenden abhelfen […] die Ehre des Dichters fordert entschieden, daß wir sie nicht fortpflanzen.“ Siehe ZfdPh 23 (1890), S. 249–349, hier S. 336. Als solch ein Fall editorischer Unzulänglichkeit kann die von Max Brod veranstaltete Ausgabe von Werken Franz Kafkas angesehen werden. Siehe dazu Friedrich Beißner: Der Erzähler Franz Kafka. Ein Vortrag. Stuttgart 1952, S. 44–48. Andererseits erscheint, wenn nur spätere Drucke vorhanden, eine Zurückversetzung des Textes in die mutmaßliche ursprüngliche sprachliche und orthographische Form durchaus fehl am Platze, wie dies z.B. bei Briefen in der Schiller-Nationalausgabe und in der Hölderlin-Ausgabe geschehen ist. Bernhard Seuffert: Prologomena zu einer Wieland-Ausgabe. III/IV. Berlin 1905, S. 52f. Pestalozzi gestand, daß seine Werke bewußt „ungekämmt und ungewaschen ins Publikum getreten seien“. Siehe Johann Heinrich Pestalozzi: Sämtliche Werke. Hrsg. von Artur Buchenau. Berlin, Zürich. 1927ff., hier Bd. 1, S. V. Siehe Gunter Martens: Vom kritischen Geschäft des Editionsphilologen. Thesen zu einem weiter gefaßten Begriff der Textkritik. In: editio 19 (2005), S. 10–22, hier S. 11f. Siehe Rüdiger Nutt-Kofoth: Vom Schwinden der neugermanistischen Textkritik. In: editio 18 (2004), S. 38–55.

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rückführung auf ein Maß, das der Verantwortung des Editors gegenüber dem historischen, authentischen Text gerecht wird. Jeder Editor muß auch seinem Tun gegenüber kritisch sein, auch andere Möglichkeiten und Schlußfolgerungen aus dem Befund erwägen bzw. zulassen, seine editorische Entscheidung überprüfbar machen, auch wenn er davon überzeugt sein mag, nur „zweifelsfrei erkannte“ Fehler beseitigt zu haben. Diese Zurückhaltung bei Texteingriffen und die Erörterung möglicher „kranker“ Stellen im Apparat geben dem Leser die Gelegenheit, eigene Überlegungen in die Deutung des Befundes einzubringen. Der Editor hat aber auch eine weitere Verantwortung gegenüber den Lesern. So sehr Martens Ausgangsthese zuzustimmen ist, so überdenkenswert ist seine Schlußfolgerung, keine, auch noch so eindeutigen Fehler (Buchstabendreher, versehentlich weggelassene oder verdoppelte Buchstaben usw.) mehr im edierten Text zu korrigieren, sondern auch dies im Apparat darzulegen. Es hat den Anschein, als würde er hier wieder in ein anderes Extrem verfallen: Wenn bisher zuviel im Text korrigiert wurde, soll also nunmehr überhaupt nicht mehr in den Text eingegriffen werden. Hier hat die MEGA/2 unter Beachtung des wissenschaftlichen Charakters der Werke, der speziellen Überlieferungslage von Texten der neueren Literatur und eines notwendigen Maßes an Rücksicht auf den vielfältigen Nutzerkreis dieser Edition einen etwas anderen Weg gewählt: Eindeutige Druck- und Schreibfehler werden, mit Nachweis des Eingriffes im Apparat, direkt im edierten Text korrigiert, alle anderen „verdächtigen“ Stellen bleiben im edierten Text bestehen und werden im Apparat besprochen.33

Grundsätze der textkritischen Arbeit in der MEGA/2 Die Regelungen, nach denen sich die praktische textkritische Arbeit an der MEGA/2 vollzieht, möchte ich abschließend in folgenden ‚zehn Geboten‘ knapp zusammenfassen: 1. Die Textkritik als die Konstitution eines zuverlässigen Textes wird – ganz im Sinne von Georg Witkowski – als die wichtigste Aufgabe des Herausgebers betrachtet und steht im Zentrum der editorischen Arbeit. Sie findet gleichermaßen an gedruckten und an handschriftlichen Texten statt. Letztere stellen den überwiegenden Teil des literarischen Nachlasses von Marx und Engels dar, dominieren also auch in der textkritischen Arbeit. 2. Die Textkonstitution zielt auf eine weitestgehende Originaltreue bei der Wiedergabe des Autortextes.34 Eingriffe in die überlieferten Texte bleiben unter Beachtung seines spezifischen Charakters – Skizzen, Notizen, Exzerpte z.B. bedürfen eines anderen Herangehens als veröffentlichte bzw. für die Veröffentlichung ge-

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Siehe auch Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktions- und rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Texte und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 164–202. Eine diplomatische Wiedergabe wird allerdings nicht angestrebt, da es sich erwiesen hat, dass eine damit versuchte adäquate Übertragung des Bildes der Handschrift in das Druckbild nicht realisierbar ist. Darum wird immer häufiger auf Faksimile-Editionen zurückgegriffen.

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dachte Texte – auf das für das Textverständnis Unverzichtbare begrenzt. Es wird nicht davon ausgegangen, ob ein Texteingriff möglich oder angebracht wäre, sondern immer zuerst danach gefragt, ob die betreffende Textstelle in der Tat ‚unmöglich‘ ist oder ob sie vielleicht doch einen zunächst verborgenen Sinn oder Zusammenhang erkennen lassen könnte. 3. Es findet weder eine Modernisierung der Orthographie und Interpunktion noch eine Normierung von Unterschiedlichkeiten statt. Alle alten und fremden Schreibweisen sowie alle verständlichen Abkürzungen bleiben erhalten. 4. Allein Eindeutigkeit der Fehlerhaftigkeit berechtigt zu direkten Eingriffen des Editors in den Text, die nach festen Kriterien – hier war und ist uns Siegfried Scheibes Fehlerdefinition35 eine wertvolle Orientierung – und auf der Basis verläßlicher Indizien zu vollziehen und nachzuweisen sind. Bei Mehrdeutigkeit und anderen Zweifelsfällen bleibt die Textgestalt des zugrundeliegenden Zeugen erhalten, wird nicht korrigiert, sondern die Darlegung des Befundes erfolgt im textkritischen Apparat.36 Das gilt vor allem für sachliche Irrtümer, Verwechslungen und auch für Textfehler, deren Korrektur Konsequenzen für die Aussage bzw. für den weiteren Textverlauf nach sich zieht.37 5. Bei Texteingriffen, die im edierten Text selbst als solche kenntlich gemacht werden, wie beispielsweise Ergänzungen ungebräuchlicher Abkürzungen, fehlender Worte usw., wird ein Vielerlei an typographischen Auszeichnungen und Schriftarten, an Zeichen und Markierungen vermieden, um ihn benutzerfreundlich und auch typographisch ansprechend darzubieten. Ungebräuchliche Abkürzungen

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Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Edition. In: Texte und Varianten 1971 (Anm. 8), S. 1–44, hier S. 43. Hierzu bedarf es teilweise ausführlicher Erläuterungen. Dafür ein Beispiel aus Bd. II/14 (Manuskripte zum dritten Band des Kapitals), S. 218. Engels als Herausgeber notierte sich hier die Frage, ob der erste Report der Untersuchungskommission zur Kinderarbeit in Bergwerken auf 1829 (wie in Marx’ Manuskript) oder 1841 (wie in Marx’ Exzerpten) zu datieren sei. Dazu gibt es folgende Erläuterung (S. 806): Marx hat S. 77 den „First Report of the Children’s Employment commissioners…“ (1842) mit 21. April 1829 datiert. Die zitierte Textpassage hatte er dem Manuskript 1861–1863 entnommen, dort allerdings nach Exzerpten (siehe MEGA/2 IV/9, S. 59/60 und Korrektur 59.4) den Bericht auf das Jahr 1841 datiert. (Siehe MEGA/2 II/3.6. S. 2213.21.) Engels, der sich mit dem Bericht ausführlich in der Lage der arbeitenden Klasse in England beschäftigt hatte, war anscheinend bewußt, daß die Untersuchungskommission zur Kinderarbeit in Bergwerken 1839 einberufen worden war, also Marx’ Angabe 1829 für ihren ersten Bericht nicht stimmen konnte. Er selbst hatte den Bericht auf 1841 datiert. – Engels beließ es in der Druckfassung bei 1829. (Siehe MEGA/2 II/15, S. 88.18.). Erstmals wurde 1933 in der Volksausgabe des dritten Bandes auf die falsche Datierung des Berichts durch Marx aufmerksam gemacht (S. 11*): In der Soþinenija (Bd. 25, S. 100) wurde 1841 angegeben, während man in MEW (Bd. 25) im Text 1829 beibehielt, dafür im Literaturregister 1841 angab (S. 98 und 955). In MEGA/2 II.4.2 ist 1829 unter Berufung auf Bd. IV/9 in 1842 korrigiert worden (MEGA/2 II/4.2, Korrektur 124.28 und Erl. 124.4–18, 27–28). In seinen Arbeitsmanuskripten zum Kapital sind Marx mehrfach Rechenfehler unterlaufen, deren Richtigstellung im Text schon deshalb nicht opportun sein kann, weil er mit dem fehlerhaften Ergebnis seiner Berechnungen weiter operiert. Es wären dann viele Folgekorrekturen im weiteren Textverlauf notwendig, die dem Kontext nicht mehr kongruent sind. Also bleiben die Rechenfehler im Text, und alles Notwendige wird im Zeilenkommentar mitgeteilt, und zwar in der Form: „Hier liegt ein Rechenfehler vor, es müsste heißen […] und auch die folgenden Rechnungen müssten entsprechend korrigiert werden. Marx bemerkte später seinen Irrtum und trug den richtigen Wert in die Gleichung III ein, verbesserte aber die vorangegangenen Berechnungen nicht mehr.“

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werden mit gleicher Schrift ausgeschrieben, wobei die ergänzten Buchstaben unterpunktet werden. 6. Auch aufgrund mangelnder Eindeutigkeit bzw. Stichhaltigkeit unemendiert gebliebene Textstellen, wozu es im Apparat entsprechende Hinweise gibt, werden im edierten Text nicht markiert. Solche Markierungen gehören nicht zum überlieferten Text, damit würde in der Regel „nur Unwichtiges […] optisch hervorgehoben, gar noch die Fehler“.38 Entgegen dem Bonmot: Ein Klassiker ist ein Autor, der noch zitiert, aber nicht mehr gelesen wird, soll die Art und Weise unserer Edition dazu anregen, die Texte wieder zusammenhängend, fortlaufend zu studieren und zu begreifen und nicht nur als Steinbruch für Zitate zu benutzen. 7. Alle Eingriffe der Editoren im edierten Text, die dort nicht kenntlich gemacht werden können, werden in einem von der vollständigen Verzeichnung der Autorvarianten, die keine Textfehler darstellen und in keinem Fall als solche eliminiert werden dürfen, getrennten Korrekturenverzeichnis ausgewiesen. Es gibt keine stillschweigend vorgenommenen redaktionellen Textkorrekturen mehr, auch nicht von eindeutigen Druck- und Schreibfehlern, wie noch bis 1990 zugelassen war. Die einzige Ausnahme bildet die stillschweigende Ergänzung der zahlreichen Abbreviaturen, also Buchstabenverschleifungen und andere Schreibverkürzungen wie z.B. die Auslassung von Vokalen, die in den Arbeitsmanuskripten gehäuft auftreten.39 8. Im Korrekturenverzeichnis werden die durchgeführten Korrekturen nicht nur angemerkt, sondern es wird zusätzlich in textkritischen Bemerkungen eine Begründung dafür gegeben bzw. wird auf erkennbare Ursachen des Fehlers hingewiesen wie z.B.: „Fehler der Quelle“; „Korrigiert nach der Quelle“; „Korrigiert nach dem Druckfehlerverzeichnis“; „Korrigiert nach der 3. Auflage“; „Versehentlich gestrichen, siehe Variantenverzeichnis“. 9. In den textkritischen Bemerkungen im Korrekturenverzeichnis werden auch Textstellen aufgeführt, die nicht eindeutig als Fehler oder Versehen auszumachen sind, aber Fehler/Versehen vermuten lassen. Sie bleiben im edierten Text unverändert, jedoch werden Korrekturmöglichkeiten unterbreitet, wie z.B.: „Müsste heißen …“; „Sollte heißen …“. Weiterhin finden sich Hinweise auf mögliche andere als im edierten Text getroffene Deutungen schwerlesbarer Passagen und nicht unzweifelhaft zu ergänzender Abbreviaturen: „Könnte auch heißen …“. 10. Zur Mitteilung textkritischer Befunde wird darüber hinaus der Kommentar als Ganzes genutzt, vor allem die Textgeschichten, die Zeugenbeschreibungen und der Zeilenkommentar, d.h. der Erläuterungsapparat. Dabei wird, wenn nützlich, aufeinander verwiesen.

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Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S. 47. In solchen Manuskripten sind die Worte in der Minderzahl, in denen alle Buchstaben korrekt ausgeschrieben sind – bis hin zu einer individuellen Art von Kurzschrift bei Engels. Dies alles einfach unverändert wiederzugeben, würde die Lesbarkeit und Verständlichkeit des gebotenen Textes unzulässig erschweren.

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Schließen möchte ich mit einer Feststellung von Michael Bernays, die, vor fast 150 Jahren getroffen, bis heute kaum an Gültigkeit eingebüßt hat: Denn was will die Kritik? Was darf sie wollen? – Will sie in gewissenlos keckem Selbstvertrauen dem Dichter etwas entziehen, was er als sein Eigenthum mit seinem Stempel bezeichnet hat? Oder treibt ein anmaßlicher Dünkel sie gar so weit, dass sie dem Dichter aus eigenen unzulänglichen Mitteln etwas aufdringen will, was er von sich gewiesen hat? Will sie nach wechselnder ästhetischer Laune, nach dem engen Gesetz einer starren Doctrin das Wort des Dichters ummodeln, oder es gar dem grillenhaften Geschmacke der Zeit gefällig anbequemen? – Nein, die ächte Kritik weiß nichts von solcher Vermessenheit und Selbstüberhebung; ihr genügt an einer bescheideneren Rolle: sie will, wie eine sorgsam thätige Dienerin, nur Hab und Gut ihres Herrn, des Autors, treulich zusammenhalten, dass es unverringert und unverkümmert bleibe; ist es verschleudert und beschädigt worden, so sucht sie es wieder zu gewinnen und wieder herzustellen. Gerade diese Unterordnung gewährt der Kritik eine sichere Selbständigkeit.40

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Michael Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866, S. 5f.

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„Die Landschaft ist die Sprache.“ Über Bedingungen und Möglichkeiten einer Ausgabe der Gesammelten Werke von Gerhard Rühm

Gerhard Rühm ist einer der bedeutendsten Künstler dieses Jahrhunderts. Hoher künstlerischer Ernst, Unbeirrbarkeit, Konsequenz, Ideenreichtum und Humor zeichnen ihn seit seinen Anfängen aus. Sein Anspruch als Künstler ist stets der höchste, und er wird ihm in glänzender Weise in jedem Werk gerecht. Kompromisse kennt er nicht.1

Autor und Werk Gerhard Rühm wurde am 12. Februar 1930 in Wien geboren und wuchs als Sohn des Philharmonikers Otto Rühm in einem überaus musikalischen Elternhaus auf. Er studierte Klavier und Komposition an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst und erhielt parallel dazu Privatunterricht bei Josef Matthias Hauer. Der Stil der Hauerschen Zwölftonspiele, ihr lockerer Duktus und ihre seltsame Ausdruckslosigkeit haben Gerhard Rühm tief beeinflußt. Aus expressiven und unmittelbar bedeutsamen Botschaften macht Rühm sich nichts, eher hält er es mit nahezu minimalistischen Strategien, wobei er den Zufall neben der Ordnung bestehen läßt. Die expressionistische Musiksprache der Schönberg-Schule interessiert ihn doch, denn Reihen-Schemata spielen in seinem (literarischen) Werk eine bedeutende Rolle. Von 1954 bis 1964 lebte Gerhard Rühm in Wien, wo er als ‚radikaler Komponist‘ in den Wiener Kunst-Kulturzirkeln bald bekannt wurde. Hier lernte er die Dichter Hans Carl Artmann und Konrad Bayer, den Jazzmusiker Oswald Wiener und den Architekten Friedrich Achleitner als gleichgesinnte Protagonisten des künstlerischen Aufbruchs kennen. Die Zusammenarbeit dieses Kreises, der späteren Wiener Gruppe, dauerte von 1952 bis 1964. Die Wiener Gruppe grenzte sich mit interdisziplinären Text-, Bild- und Darstellungs-Experimenten gegen das konservative Klima ab. Mit spektakulären Happenings, den sogenannten literarischen cabarets (1958/59), sowie der kinderoper (1964) wurde die Wiener Gruppe einer größeren Öffentlichkeit bekannt, verlor allerdings nach dem Selbstmord von Konrad Bayer am 10. Oktober 1964 an Zusammenhang und vor allem an Zusammenhalt. Gerhard Rühm übersiedelte nach West-Berlin, wo er von 1964 bis 1977 lebte. Hier publizierte er einerseits textuelle und bildnerische Arbeiten bei Kleinverlagen und

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Ernst Jandl. In: http://polyglot.lss.wisc.edu/german/austria/ruehm.html [18.10.2004 um 16.00 Uhr].

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Kunsteditionen und engagierte sich andererseits als Chronist der jüngsten österreichischen Avantgarde durch die Herausgabe der Anthologie Die Wiener Gruppe2. Nachdem Rühm in Deutschland mit seinen Collagen, Montagen und visuellen Texten erfolgreich als bildender Künstler wahrgenommen wurde, übernahm er 1972 die Professur für freie Grafik an der Staatlichen Kunsthochschule Hamburg, die er bis zu seiner Emeritierung 1995 innehatte. Nach seiner Emeritierung arbeitete er als Dichter, Hörspielautor, Bildschöpfer und (szenischer) Komponist in Köln und Wien. Seit 1977 lebt Rühm in Köln. Die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts erwiesen mit zahlreichen Ausstellungen dem Bildautor Gerhard Rühm Reverenz, bedeutende Institutionen (Rupertinum Salzburg 1987, Kunstverein Frankfurt am Main 1989, Kunsthalle Hamburg 1995, steirischer herbst Graz 2001) zeigten Retrospektiven und groß angelegte Einzelausstellungen. Die Auswahl der Wiener Gruppe für den österreichischen Auftritt bei der Biennale Venedig 1997 sowie die im Folgejahr in der Wiener Kunsthalle eingerichtete gleichnamige Ausstellung führte dazu, daß das einstige Bürgerschreck-Kollektiv und dessen Arbeit in den österreichischen Kanon aufgenommen wurden. Neben den bildnerischen Arbeiten entstanden, zunächst im Kontakt mit Klaus Schöning, dem Leiter des neu aufgebauten WDR 3 Hörspielstudios in Köln, unzählige Hörstücke. Was mit der Ursendung von Konrad Bayers und Gerhard Rühms sie werden mir zum rätsel, mein vater (WDR 1968) begann, fand mit der Zuerkennung des Karl-Szuka-Preises 1977 für das Hörstück wintermärchen sowie mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden 1983 für wald, ein deutsches requiem ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Anerkennung der Republik Österreich wurde ihm erst spät zuteil: Von der Stadt Wien erhielt er 1991 die Ehrenmedaille in Gold und von der Republik Österreich den Großen Staatspreis für Literatur. Gerhard Rühm ist nicht nur Komponist und Pianist, Zeichner und Collagist, sondern auch einzigartig in der medialen Darstellung seiner Texte. Als Vortragender seines eigenen Werks, das aus Sprechtexten und Lautgedichten, aus musikalischen und literarischen Partituren besteht, ist er weltweit bekannt. Gemeinsam mit seiner Frau Monika Lichtenfeld, mit der er die meisten seiner Sprechtexte im Studio realisiert, ist er für die konkrete und akustische Realisation seiner literarischen Texte selbst verantwortlich. Gerhard Rühm ist der sprachexperimentelle Dichter par excellence, wobei er den Begriff des Experiments selbst nicht gelten läßt. Damit ist er der letzte noch lebende Vertreter einer literarischen Avantgarde, die in den Bereichen ästhetischer Kommunikation zuhause ist und sich Grenzüberschreitungen zum Prinzip gemacht hat. Ihn zeichnet in seiner literarischen Praxis besonders die intermediale Verknüpfung verschiedener künstlerischer Ausdrucksmittel und Ausdrucksformen aus. Ausgangspunkt

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Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Gerhard Rühm. Reinbek (Rowohlt) 1967.

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seiner Arbeit ist „das Wort als abstrakter Begriff“ und „das Wort als akustische Realität“.3 Gerhard Rühm negiert alle herkömmlichen literarischen Konventionen. Er ist davon überzeugt, daß alle traditionellen Gattungen und überhaupt alle episch-narrativen, lyrischen und dramatischen Schreibweisen, alle Formen literarischer Fiktion veraltet und überflüssig sind. Rühm erarbeitet neue poetische Verfahrensweisen, mit denen die Räume sprachlicher und generell ästhetischer Kommunikation erweitert und die dabei angewandten Mittel mitreflektiert werden. Sein Werk ist im Kern autochthonen Ursprungs. Seine Quellen sind höchstens noch die Sturm-Expressionisten und Dadaisten, wie Franz Richard Behrens4, August Stramm und Kurt Schwitters, wobei ein direkter Einfluß allerdings kaum nachweisbar ist. Dichtung ist nach Rühm nämlich nicht deskriptiv, sondern sie schafft selbst Wirklichkeiten und ist somit eine eigene Wirklichkeit. Das gilt für ihn selbst in besonderem Maße. Die Quellenlage erschwert einen genaueren Überblick über sein Gesamtwerk, was eine Ausgabe der Gesammelten Werke notwendig macht. Viele Werke sind vergriffen und auch nicht in Bibliotheken auffindbar. Die Sammelbände botschaft an die zukunft (1988), geschlechterdings (1999) und sämtliche wiener dialektdichtungen (1993) sind lieferbar und geben einen ersten Einblick in sein Werk. Ebenso wie die Bände reisefieber (1989) und textall (1993). Eine Bibliographie verzeichnet über 100 Einzelveröffentlichungen von Gerhard Rühm.5

Auditive Poesie Die sich bei einigen Autoren des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Kontexten zum Teil analog ausdifferenzierenden sprachradikalisierenden Impulse können als eine Art kollektiver Reflex auf die zivilisatorische Krise der Moderne verstanden werden. So schreibt beispielsweise der Schriftsteller Franz Mon in seinem Essay Literatur zwischen den Stühlen: Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass mit der krisenhaften Kumulation der modernen Zivilisation in unserem Jahrhundert Autoren auftreten, die ihre Beziehung zur Sprache radikalisieren.6

Vor diesem Hintergrund legitimierte sich eine neue literarische Erscheinungsform, in der eine radikalisierte Sprachverwendung und ein materialästhetisch reflektiertes und beschleunigtes Sprachbewußtsein zum Ausdruck kommt, nämlich die Lautpoesie nach 1945. Michael Lentz formuliert es folgendermaßen:

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Gerhard Rühm: Text – Bild – Musik. Ein Schau- und Lesebuch. Herausgegeben von Gerhard Jaschke. Wien: (Freibord) 1984, S. 37. Gerhard Rühm ediert die dreibändige Werkausgabe von Franz Richard Behrens, deren erste beiden Bände 1979 und 1995 erschienen sind. Michael Fisch: Gerhard Rühm: Ein Leben im Werk 1954–2004. Ein chronologisches Verzeichnis der Veröffentlichungen. Bielefeld 2005. Franz Mon: Gesammelte Texte 1: Essays. Berlin 1994, S. 314.

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dass nämlich die Lautpoesie motivationsästhetisch ein emanzipatorischer Affront gegen das weiße Rauschen medialer Sprachverwaltung und gegen den triadischen topos des „Schönen“, „Guten“ und „Wahren“ fungiere7

Die Lautpoesie ist damit ein Affront gegen die immer stärkere Abnutzung der Sprache im endlosen Kommunikationsgemurmel der Mediengesellschaft. In dieser neuen literarischen Erscheinungsform innerhalb der akustischen Kunst wurden Autoren wie Carlfriedrich Claus, Franz Mon und eben Gerhard Rühm hörbar. Im Kontext einer Definitionsgeschichte zur Lautpoesie tauchten Begrifflichkeiten auf wie „Hörtexte“ (Ferdinand Kriwet), „Lautkomposition“ (Ernst Jandl) und „auditive poesie“ (Gerhard Rühm). 1977 führte Gerhard Rühm in Analogie zum Begriff der visuellen poesie den übergeordneten Sammelbegriff der „auditiven poesie“8 als neuen Gattungsbegriff ein. Mit auditiver poesie meint Gerhard Rühm einerseits eine akustisch zu realisierende Poesie durch akustische Medien, wobei die Rezeption ausschließlich auditiv erfolgt. Andererseits kann darunter ein bewußtes Mitkomponieren von Sprachklang und Artikulation verstanden werden. Schließlich beinhaltet der Begriff nach Rühm die ästhetische Funktionalisierung emotionaler und sozialer StimmMerkmale und Ausdrucksgesten (Lautstärke, Klangfarbe, Tonhöhe und Tempo).9

atemgedicht In Gerhard Rühms strophisch strukturiertem atemgedicht (1954) wird zunächst in einem sehr ruhigen, in der zeitlichen Abfolge proportional gestalteten Wechsel der komplementären Bewegungen von Ein- und Ausatmen die zugleich lebensnotwendige wie für die Lautbildung physiologisch initiatorische Tätigkeit des Atmens demonstriert. Die auch visuell zu vermittelnde modellhaft-didaktische Dramaturgie des Atemvorgangs kulminiert in einem sich betont reinigenden und lösenden sprichwörtlichen Atemstillstand.10 Gerhard Rühms akustische Realisation des atemgedichts benötigt 45 Sekunden. Es geht ihm beim Ein- und Ausatmen nicht um körperlich ausgelotete Grenzerfahrungen oder um eine technische Verarbeitung und klangfarbliche Modulation, sondern um die neutrale Demonstration des Themas Atmen. Und das, ohne dabei in den Atemprozeß verändernd oder spontan einzugreifen. Im ästhetischen Kontext erfährt diese didaktische Demonstration des Atmens eine naturalistisch-stilisierte Inszenierung.

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Michael Lentz: Lautpoesie der Reduktion. Wechselseitige Bedingtheit von Stimme und Schrift in Gerhard Rühms „auditiver poesie“. In: Dossier 15: Gerhard Rühm. Hrsg. von Kurt Bartsch und Stefan Schwaar. Graz 1999, S. 37 f. Vgl. Gerhard Rühm: zu meinen auditiven Texten. In: Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche. Hrsg. von Klaus Schöning. Frankfurt a. M. 1970, S. 46–57. Vgl. Gerhard Rühm: über auditive poesie. In: Ders.: botschaft an die zukunft. Gesammelte sprechtexte. Reinbeck 1988, S. 7–9. Vgl. Michael Lentz: Lautpoesie der Reduktion. Wechselseitige Bedingtheit von Stimme und Schrift in Gerhard Rühms „auditiver poesie“. In: Ders., Lautpoesie/-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme. Wien 2000, S. 771.

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h (einatmen) h (ausatmen) h (einatmen) h (ausatmen) h (einatmen) h (ausatmen) h (einatmen) h (ausatmen) h (einatmen und den atem gespannt halten) h (erlöst ausatmen)11

Elf Jahre später holt den Autor sein Thema wieder ein. In den konzept- und aktionsstücken findet sich atmen. ein stück für rund 2,7 milliarden menschen mit der Spielanweisung: „von rund 2,7 milliarden menschen atmet jeder so lange er kann“.12

Voraussetzungen für eine Edition Es gibt zwei Zugänge zum atemgedicht von Gerhard Rühm: den visuellen und den auditiven. Das bedeutet, daß einerseits der reine Abdruck des Textes den Leser neugierig machen kann, andererseits die reine Hörerfahrung den Hörer interessiert zurückläßt. Im optimalen Fall ergänzen sich Textabdruck und Hörerfahrung: „ich meine, ein auditiver text muss über den mitkomponierten sprachklang hinaus eine information vermitteln, die überhaupt erst durch die akustische realisation des textes, sofern man hier nicht schon von einer partitur sprechen will, rezipierbar wird“.13 Darum muß eine textkritische Edition des Werks von Gerhard Rühm immer auch die akustische Edition berücksichtigen. An dieser Stelle sei erinnert an seine Dialektdichtungen, Chansons und Romanzen, an die Laut- und Sprechgedichte, die synthetischen Texte (Tonträger), an seine Hörspiele und Hörstücke. Eine weitere Dimension bei der Edition des Gesamtwerks von Gerhard Rühm eröffnet sich im kreativen Abdruck der Texte. Hier muß die Edition von einem erweiterten Textbegriff ausgehen und von einem Druckverfahren, das alle kreativen Möglichkeiten mit einschließt. Zu nennen sind hier Rühms automatische Zeichnungen, Schriftzeichnungen, Hand- und Körperzeichnungen, seine Fotomontagen, Collagen, Scherenschnitte, Textobjekte, Bildgedichte. Die Arbeiten zur Musik brauchen eine spezielle Form der Edition, die neben dem photomechanischen Abdruck handschriftlicher Partituren und gesetzter Texte auch die Musik ‚zum Klingen‘ bringen sollte. In diese Kategorie fallen Rühms visuelle

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Rühm 1988 (Anm. 9), S. 36. Gerhard Rühm: ophelia und die wörter. gesammelte theaterstücke 1954–1971. Neuwied und Darmstadt 1972, S. 189. Rühm 1988 (Anm. 9), S. 7.

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Musik, seine Melogramme und Melodramen, die Programmnotizen zu Musikstücken, die Wiener Lieder und Tondichtungen. Berücksichtigt werden müssen auch die fünf Autorenfilme von Gerhard Rühm: Selbstbeobachtung, Witz, Die Schwester, Ophelia und die Wörter und Drei kinematographische Texte, die in einer DVD-Edition publiziert werden. Die theoretischen Schriften mit ihren Manifesten, Reden, Ansprachen, Essays und Aufsätzen sind nach gängigen Prinzipien zu edieren.14

Warum diese Edition? Für diesen Werkstattbericht und für die mögliche Gesamtausgabe der Werke von Gerhard Rühm gibt es mehrere Motive. Zum einen ist in den öffentlichen (auch wissenschaftlichen) Bibliotheken ein Großteil der Publikationen nicht greifbar, das betrifft vor allem die bildnerischen und musikalischen Arbeiten, aber auch die Arbeiten jüngeren Datums. Eine solche Ausgabe bietet weiters die Chance, den Autor in seiner Vielfalt, Bandbreite und Schaffenskraft zu präsentieren und zugleich die Handschriften photomechanisch oder im Satz zu sichern. Schließlich eröffnet die Edition auch die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Rühms Gesamtwerk. Außerdem kann diese Edition gemeinsam mit dem Autor erstellt werden. Dies war auch der Fall bei der Ausgabe der Sämtlichen Werke von Ernst Jünger oder der Ausgabe der Werke von Christa Wolf. Eine solche Ausgabe hat aber auch ihre Grenzen, spätestens mit dem Veto des Autors. Darum kann diese Ausgabe nicht historischkritisch sein. Es wird eine knapp kommentierte Werkausgabe angestrebt. Gerhard Rühm, der neben einer umfangreichen Sammlung zum Expressionismus (kompletter Nachlaß von Franz Richard Behrens, Original-Handschriften und -Briefe vieler Expressionisten) seinen Vorlaß in den privaten Wohnsitzen in Köln, Wien und im Semmering aufbewahrt, hat nun entschieden, daß sein Vorlaß an die Österreichische Nationalbibliothek in Wien übergeht.15 Einige Originale, von denen keine Kopien existieren, wurden an private Sammler verkauft und sind nur noch schwer zu ermitteln. Oftmals entsteht die Idee zu einer solchen Werk-Edition aufgrund eines subjektiven Interesses und der emphatischen Begeisterung eines Lesers. Auch mich faszinierte das Werk von Gerhard Rühm von Beginn an. Der intensive Kontakt zum Autor, vor allem bei gemeinsamen Veranstaltungen16, verhalf der Idee zum Durchbruch. Von Anfang an war die Edition allerdings mit mehreren Problemen konfrontiert: Nicht institutsgebunden und darum nicht öffentlich gefördert, war die Suche nach einem Verleger, der das Risiko einer solchen Veröffentlichung eingeht, einer Veröffentlichung, die Arbeit und Personal bindet, die schwer zu kalkulieren und finanziell nicht gesichert ist, die den Verlag darüber hinaus über mehrere Jahre

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Vgl. Gerhard Rühm: Text – Bild – Musik. Ein Schau- und Lesebuch. Wien 1984 - (Anm. 3). Gerhard Rühm in einem Gespräch mit Michael Fisch am 30. Januar 2004 in Köln. ExplosivLaute – Die lange Nacht der Poesie. ZDF-Fernsehsendung vom 12. April 2000. Weltklang – Nacht der Poesie. Open Air-Veranstaltung in Berlin am 15. Juli 2000. Konkrete Poesie. literaturWERKstatt berlin am 23. April 2001 Expressiv! Vom literarischen Expressionismus zur auditiven Poesie. Literaturhaus Basel am 2. Juni 2003.

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gesichert ist, die den Verlag darüber hinaus über mehrere Jahre festlegt, eine erste große Hürde. Ein weiteres Problem lag in der finanziellen Förderung des Projekts. Ein erster Band dieser Ausgabe soll Gedichte und Nachdichtungen enthalten. Dies deshalb, weil in Bezug auf Rechte und Druckvorlagen am ehesten klare Verhältnisse vorliegen. Weiters soll der Band etwa zur Hälfte bislang Unveröffentlichtes enthalten und damit Neugierde wecken und zugleich die Ausgabe legitimieren. Zeitgleich könnte ein Band mit Theaterstücken aus denselben Gründen publiziert werden. Für die Finanzierung gibt es mehrere Möglichkeiten: Gewinnung von privaten Förderern, die die Ausgabe subskribieren, Beantragung von Druckkostenzuschüssen, Teilmengenabnahmen durch die Wirtschaft sowie entsprechende Abnahmen durch Bibliotheken im In- und Ausland. Außerdem sollen begleitende Publikationen (Materialien- und Einzelbände) das Interesse der Öffentlichkeit wecken.17 Auch Präsentationen und Veranstaltungen gemeinsam mit dem Autor fördern die Wahrnehmung.

Definition der Gesamtausgabe Gemeinsam mit dem Autor wurde in einer zweitägigen Arbeitsphase (vom 29.–30. Januar 2004) und in ergänzender Korrespondenz (10.3.2004)18 ein vorläufiger Editionsplan entwickelt, der zunächst die Ausstattung der Ausgabe und schließlich die Bandaufteilung definierte. Das Projekt erhält folgenden Titel: Gerhard Rühm: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Michael Fisch.

Ausstattung der Ausgabe Format: DIN A 5 (bei den literarischen und theoretischen Schriften) und DIN A 4 (beim bildnerischen und musikalischen Werk); Einband: gelbes Leinen (geprägte schwarze Schrift); Layout: reine typographische Lösung; Schutzumschlag: nur bei verkaufsstarken Bänden; Seitengestaltung: grundsätzlich großzügig (jedes Gedicht beginnt auf einer neuen Seite); knappe Kommentierung im Anhang eines jeden Bandes; Satzspiegel: chamois (weißer Rand); Textabdruck mit CD und/oder DVD (Filme).

Editorische Grenzen der Ausgabe Diese Ausgabe enthält keine Gemeinschaftsarbeiten (Wiener Gruppe und Berliner Kreis) und keine Objekte (Sandpapier, Spiegel, Parfümierung). Sie ist nicht historischkritisch und auch nicht letzter Hand, sondern eine ungekürzte Ausgabe der Gesammelten Werke. Die Kommentierung bietet Anmerkungen, Sachinformationen und Erläuterungen mit einer Beschränkung auf das Wesentliche. Ein textkritischer Apparat informiert über die Quellenlage, die Entstehung und den Abdruck.

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Leider hat die Redaktion von text und kritik einen zunächst zugesagten Band zu Gerhard Rühm für das Jahr 2005 in einer E-mail an mich vom 21. Januar 2004 abgesagt. Diesem Gespräch ging ein erster Editions-Entwurf von Michael Fisch an Gerhard Rühm vom 27. November 2003 voraus, der eine wesentliche Grundlage für dieses Arbeitstreffen bot.

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Die Ausgabe der gesammelten Werke wird insgesamt 10 Bände umfassen. Sie wird ab 2005 im Parthas Verlag Berlin erscheinen.

Jürgen Hein

Textkritische Probleme der Edition von Ferdinand Raimunds Zauberspielen

Verschiedentlich ist in den letzten Jahren auf die Notwendigkeit einer Neuausgabe der Werke Ferdinand Raimunds in ihrer vom Autor intendierten Gestalt hingewiesen worden.1 Wenn Textkritik die „editorische Überprüfung der Überlieferung von Texten hinsichtlich ihrer Authentizität“ bedeutet,2 ist angesichts der komplizierten Editionsgeschichte und der Mängel bisheriger Werkausgaben sowie des heutigen Forschungsstands eine von Grund auf neue Herausgabe der Texte in allen ihren Stufen und Fassungen sinnvoll und notwendig. Dabei geht es u.a. um die nachvollziehbare Wiedergabe des Gestrichenen aus den Urfassungen, die beweisen können, wie Raimund um ästhetische Vervollkommnung und Vermeiden von ,Gemeinheiten‘ der Volkstheater-Tradition bemüht war.3 Allerdings ist die Annahme, daß er ständig an einer ‚Besserung‘ seiner Texte gearbeitet habe, schwer zu überprüfen. Auch die von Raimund geübte Selbstzensur wird nur durch eine entsprechende editorische Aufarbeitung der Handschriften und Theatermanuskripte erkennbar. Daß der Bedeutung der Korrekturen für Textkritik und Rekonstruktion des Produktionsprozesses nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde, darauf hat zuletzt Rüdiger Nutt-Kofoth aufmerksam gemacht.4 Es geht darum, die Genese des jeweiligen Theatertextes zu rekonstruieren und die Unterschiede zwischen authentischen und autorisierten Texten nachvollziehbar zu machen. Die aus dem Besitz von Raimunds Lebensgefährtin Antonie Wagner stammenden Autographe, von den Editoren als „Erster Entwurf“ oder „Konzept“ bezeichnet, sind in der vorliegenden Form nicht auf die Bühne gekommen. Die Frage, welchen Grad an Autorisation die Abschriften und Theatermanuskripte haben, welche

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Vgl. Jürgen Hein: Ferdinand Raimund. Stuttgart 1970, S. 1–3; ders.: Das Wiener Volkstheater. 3. Aufl. Darmstadt 1997, S. 118 f.; Gerhard Renner: Eduard Castle. Sein Beitrag zur Erforschung der österreichischen Literaturgeschichte. Wien 1995 (Katalog der 229. Wechselausstellung im Wiener Rathaus), S. 33–42; ders.: Ferdinand Raimund. Edition aus Bühnenmanuskripten. In: Von der ersten zur letzten Hand. Theorie und Praxis der literarischen Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz und Klaus Kastberger. Wien /Bozen 2000, S. 16–22. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 140. Zur Glättung mundartlicher Eigenheiten vgl. Ferdinand Raimund: Sämtliche Werke. Hrsg. von Eduard Castle Leipzig 1903, S. CXXIIIf. [= Castle 1903]. Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zur Terminologie und Editionspraxis in der Neugermanistik. In: Perspectives of Scholarly Editing. Perspektiven der Textedition. Hrsg. von Bodo Plachta und H.T.M. van Vliet. Berlin 2002, S. 29–45.

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„externen Bedingungen (Zensur, Inszenierungsökonomie, Aufführungsdauer)“5 den Premierentext mitgeformt haben, in welchem Verhältnis die verschiedenen Theatermanuskripte zum eigenhändigen Manuskript stehen, ob man von Fassungen sprechen kann, wird jeweils zu diskutieren und zu klären sein. Als Konstrukt erweist sich jedenfalls die Vorstellung eines Textes „letzter Hand“ auf der Basis „jene[r] Manuskripte, welche der Dichter in den letzten Jahren bei seinen Gastspielen in Deutschland benutzt hatte“.6 Auch diese Manuskripte können nur als Manifestationen eines dynamischen Schaffensprozesses angesehen werden, in den neben dem Autorwillen die wechselnden Theatererfordernisse hineinspielen. Für das editorische Konzept ist die Theatralität szenischer und dramatischer Texte, sind die performativen Aspekte stärker zu berücksichtigen, auch im Blick auf Autorisation und Authentizität als Kriterien sowie im Kontext der Probleme der DramenEdition.7 Die Aufführungspraxis und die andere ‚Notation‘ von Bühnentexten spielt in die Edition hinein. Bei der textkritischen Aufarbeitung kann im Prinzip auf das Know-how der historisch-kritischen Nestroy-Edition (1977–2004) und deren Ziel zurückgegriffen werden, den für die Uraufführung bestimmten Text in ‚lesbarer‘ und spielbarer Form zu rekonstruieren. Zunächst gebe ich eine Übersicht über die Textgrundlagen:8 Johann Nepomuk Vogl gibt 1837 Raimunds Gastspielmanuskripte heraus; diese gelangten 1836 an den Verlag Rohrmann und Schweigerd in Wien, 1884 dann in den Besitz der Hofbibliothek [später: Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB)].9 – Carl Glossy und August Sauer stützen sich 1881 auf Raimunds „erste Niederschriften“ (SW: „Konzepte“ [= H]) unter Berücksichtigung der Souffleurbücher des Theaters an der Wien und des Theaters in der Leopoldstadt; Raimunds eigenhändige Entwürfe gingen 1879 an Anton Einsle und im selben Jahr in den Besitz der Städtischen Sammlungen (später: Wiener Stadt- und Landesbibliothek (St. B. Wien)].10 – Eduard Castle folgt 1903 in seiner Edition Vogl und verwendet „jene Manuskripte, welche der Dichter in den letzten Jahren bei seinen Gastspielen in Deutschland benutzt hatte“.11 – Rudolf Fürst folgt 1908 ebenfalls Vogl, verglichen mit GS und „Revision nach der Rich-

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Vgl. Johann Nestroy: Sämtliche Werke (HKA). Hrsg. von Hugo Aust. Stücke 4: Die Zauberreise in die Ritterzeit. Wien 1999, S. 329. Castle 1903 (Anm. 3), S. CXXII. Vgl. die in editio und in den Beiheften zu editio dokumentierten Ergebnisse der Tagungen der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Editionen in Aachen 2002 und Berlin 1988. Vgl. die tabellarische Übersicht der Textgrundlagen in SW. Bd. 1, nach S. XXIV, und die textkritischen Bemerkungen bei Castle 1903 (Anm. 3), S. CXXII–CXXIV sowie in SW. Bd. 1, S. XII–XXXV (Margarethe Castle und Eduard Castle: Zur Textgeschichte von Raimunds Dramen); zur Editionsgeschichte vgl. zusammenfassend Gerhard Renner (Anm. 1). Ferdinand Raimund’s sämmtliche Werke. Hrsg. von Johann Nepomuk Vogl. 9 Bändchen. Wien 1837; vgl. SW. Bd. 1, S. XIXf. Sämmtliche Werke. Nach den Original- und Theatermanuscripten. Hrsg. von Carl Glossy und August Sauer. 3 Bde. Wien 1881; vgl. SW. Bd. 1, S.XXIIIf. Castle 1903 (Anm. 3), S. CXIII und CXXII; vgl. auch Anm. 26.

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tung der Volkstümlichkeit“. – Fritz Brukner und Eduard Castle bieten in der Historisch-kritischen Säkularausgabe [SW; 1924–1934] einen Text, den sie als „die für die Öffentlichkeit bestimmte Fassung“ bezeichnen und „der dem der durchgesehenen Urabschrift entspricht“; die Bühnenabschriften haben freilich verschiedene Stadien durchlaufen und seien „in beständigem Fluß“ gewesen.13 Aus wirtschaftlichen Gründen mußte der kritische Apparat auf ein Minimum beschränkt werden, und die Herausgeber geben zu, daß das „Zustandegebrachte [...] durchaus nicht die kritische Ausgabe [ist], wie sie ihnen vorschwebte.14 – Franz Hadamowsky legt seiner Edition die jeweils „erste Abschrift“ der Stücke zugrunde.15 Bei der Zusammenstellung des gesamten zu edierenden Materials (Dramen, Gedichte, Briefe, Tagebücher,16 Rezeptionsdokumente17) und bei der Überprüfung der Überlieferung hoffen die Herausgeber, bislang unbekannte oder verschollene Texte und Dokumente zu finden. Aufschlußreich für den Zusammenhang von Schauspieler und Autor ist auch eine Zusammenstellung der Rollenbilder. Für die Edition biographischer Texte könnte eine Ergänzung weiterer ikonographischer Zeugnisse sinnvoll sein. Nach einem kritischen Vergleich der bisherigen (wissenschaftlichen) WerkAusgaben (Vogl, Glossy/Sauer, Brukner/Castle, Hadamowsky) – insbesondere im Blick auf eigenhändige Fassungen und autorisierte Abschriften für konkrete Aufführungen – sind das editorische Konzept und die Richtlinien festzulegen. Die Möglichkeit textgenetischer Darstellung ist zu diskutieren. Ein besonderes Problem der Textkritik stellt die Einbeziehung der musikalischen Texte dar, zumal Raimund in einigen Fällen zumindest als Mit-Komponist zu gelten hat.18 In Anlehnung an die historisch-kritische Nestroy-Edition (HKA) sind folgende Aspekte der Edition der Dramen zu bedenken: Diskussion des Textstatus: Originalhandschrift [„Konzept“]; [erste] Bühnenfassung [„erste Abschrift“], von Raimund autorisiert und von der Zensur bewilligt; [spätere] Bühnenfassung(en), z.T. von Raimund autorisiert, z.B. bei Gastspielen. Mögliche Vorgehensweise: Wiedergabe der Originalhandschrift und (evtl. synoptisch) Wiedergabe der autorisierten Bühnenfassung (Prinzip: Text in der für die Premiere von Raimund intendierten Gestalt). Abweichende und spätere Fassungen sowie die Lesarten und Varianten werden im Apparat dokumentiert.

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Raimunds Werke. Hrsg. von Rudolf Fürst. Berlin u.a. 1907, Dritter Teil, S. 265; vgl. die Besprechung von Gustav Wilhelm: Eine neuere Raimund-Ausgabe. In: Zeitschrift für österreichische Gymnasien 65 (1914), S. 1055–1077. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Säkularausgabe. Hrsg. von Fritz Brukner und Eduard Castle. 6 Bde. Wien 1924–1934 [Nachdruck 1974], SW. Bd. 1, S. XXXV und XVII; zum Verhältnis der „Urabschrift“ zur „ersten Abschrift“ vgl. SW. Bd. 1, S. XXI und XXVf. SW. Bd. 1, S. VII. Raimunds Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Franz Hadamowsky. 2 Bde. Salzburg, Stuttgart, Zürich 1971. Vgl. z.B.: „ … den 13. war ich bey ihm“. Das Raimund-Tagebuch der Toni Wagner 1825/26. Hrsg. von Reinhard Urbach. Salzburg, Wien 1992. Die von Hadamowsky in SW. Bd. 5/I und 5/II gebotenen Auszüge aus Kritiken bedürfen der Überprüfung und Ergänzung. Vgl. Die Gesänge der Märchendramen in den ursprünglichen Vertonungen. Hrsg. von Alfred Orel. SW. Bd. 6. Wien 1924.

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Der Apparat soll ferner den Abdruck der Theaterkritiken bis zu Raimunds Tod (1836) enthalten, um Hinweise zur späteren Aufführungsgeschichte und um einen Abschnitt Zur Interpretation evtl. ergänzt.19 Für den Kommentar (Erläuterungen) kann der in elektronischer Form zur Verfügung stehende Datenbestand der Erläuterungen der Nestroy-Edition (HKA) verwendet werden, ferner der von Richard Reutner zusammengestellte Dialektwortschatz von Raimunds Vorgängern und Zeitgenossen Adolf Bäuerle, Franz Xaver Gewey, Josef Alois Gleich, Ferdinand Kringsteiner.20 Zur Edition der musikalischen Texte, der Gedichte und Stammbuchblätter sowie der Briefe müssen eigene Überlegungen angestellt werden. Daß es Raimund mit einem von ihm autorisierten Text ernst war, bezeugen Briefe und „Anzeigen“. Wiederholt wehrt er sich gegen den illegalen Handel mit seinen Stücken und unerlaubte Aufführungen.21 Die Wahrung seiner Autorintention dokumentiert sich ferner in Hinweisen für Inszenierung und Aufführung.22 Auch bei Aufführungen im Ausland betont er seine Autor-„Ehre“ und wünscht „eine ordentliche richtige Übersetzung“; im Falle einer Aufführung in Paris will er den Namen des Übersetzers wissen: „Die ist meine geistige Sorge für das Wohl meiner Erzeugnisse, die mir sehr am Herzen liegt“.23 Ein Brief an den Prager Theaterdirektor Johann Nepomuk StƟpanek vom 7. Dezember 1826 veranschaulicht diesen Willen, wobei auch Raimunds Verhältnis zur Zensur deutlich wird:24 Wohlgeborner Herr! Verehrter Freund! Ihrer gütigen Aufforderung zufolge, empfangen Sie das Manuscript meines Feenmädchens. Ich hoffe daß die Vorsicht welche ich in meinen Stücken gegen die Wiener Censur beobachte, mir auch das Vertrauen der v. Prager erwerben wird, denn meine Stüke kommen beynahe so unverändert aus den Händen der Censur, wie sie eingesendet werden. Das Honorar dieses Zauberspieles ist samt Partitur 100 [fl.] Conventions Münze. Nur an feststehenden Bühnen habe ich beschlossen meine Stücke zu verkaufen; damit sie erstens nicht zum Nachtheil meiner Ehre, verstrichen und verstümmelt aufgeführt werden, und damit ich mich vor dem gemeinen Schleichhandel bewahre, der, wie mich die Erfahrung belehrt, mit beliebten Theaterstücken betrieben wird [...] Ferdinand Raimund Regisseur des Theaters d. Leopoldstadt

Ein Beispiel für solche widerrechtlich angefertigten, häufig verstümmelten Abschriften überliefert der Nürnberger Theaterdirektor Franz Eduard Hysel, der Buch und Par-

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Den aktuellen Forschungsstand bieten Jürgen Hein / Claudia Meyer: Ferdinand Raimund, der Theatermacher an der Wien. Ein Führer durch seine Zauberspiele. Wien 2004. Vgl. Richard Reutner: Lexikalische Studien zum Dialekt im Wiener Volksstück vor Nestroy. Mit einer Edition von Bäuerles Die Fremden in Wien. Bern u.a. 1998 sowie weitere hier nicht näher aufgeführte Einzelbeiträge Reutners. SW. Bd. 4, S. 367, 380, 392, 454, 458, 461, 463. Ebd.. Bd. 4, S. 371–373, 380, 389. Ebd. Bd. 4, S. 379 und 390. Ebd. Bd. 4, S. 353f.

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titur von Der Verschwender bezogen hatte und dann feststellen mußte, daß weder Text noch Musik komplett waren; der gerade zu einem Gastspiel weilende Burgschauspieler Karl Ludwig Costenoble konnte den Irrtum aufklären und ließ Hysel eine für Hamburg bestimmte, komplette Kopie abschreiben.25 Aufgrund der sorgfältig auf den ‚echten‘ Text bedachten Haltung Raimunds, lag es nahe, sein Werk nicht als das eines Stückeschreibers und Theatermachers, sondern als das eines ‚Dichters‘ zu edieren. Das beginnt bereits ein Jahr nach Raimunds Tode bei Johann Nepomuk Vogl (1837), der mundartliche Eigenheiten glättet, worauf Castle (1903) hinweist; der Wert der Ausgabe Vogls ist umstritten.26 Die Herausgeber der SW, Fritz Brukner und Eduard Castle, konstatieren im Blick auf Nachlaßfunde, daß „die erhaltenen Einlagen nunmehr doch ein gerundeteres Bild [geben], welches erkennen läßt, wie der geniale Schauspieler zum genialen Dichter ward.“27 Für Carl Glossy und August Sauer zeigen Raimunds eigenhändige Entwürfe die Texte „rein und unverfälscht“, wie sie „für die Bühne geflossen sind“.28 Ihre Edition ist nach Renner die erste Ausgabe, die „vollständig auf Handschriften zurückzugreifen gezwungen war und sich nicht wie so viele andere mit den Varianten in der Überlieferung eines Werkes auseinandersetzte“; diese „Pionierleistung“ wurde nicht anerkannt.29 In den Augen Erich Schmidts hatte ein Komiker freilich keine philologische Ausgabe verdient:30 So hat denn der Komiker der Leopoldstadt nun seine regelrechte historisch-kritische Gesammt-Ausgabe [...]. Eine solche Auferstehung hättest du dir nicht träumen lassen, armer Raimund!

Die von Vogl verwendeten Manuskripte waren zwar bereits seit 1884 im Besitz der Hofbibliothek, wurden aber erst für SW eingesehen, deren Herausgeber sich für den „Wortlaut der ersten Aufführung“ entschieden, den sie in der „Urabschrift“ zu finden meinten; dabei handelt sich keinesfalls um einen „Idealtext“, wie ihnen vorgeworfen wurde.31 Eduard Castle formulierte, wie Renner meint, ein für die zwanziger Jahre ungemein modernes Konzept: „[…] in den poetischen Schaffensprozeß einzudringen“; er erkannte übrigens auch die Grenzen eines konventionellen Lesartenapparates, der das „Nach-, Durch- und Ineinander der Lesarten“ nicht zureichend wiederzugeben vermag, und schlug eine faksimilierte Wiedergabe der Handschrift vor.32

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26 27 28 29 30 31 32

Vgl. Franz Eduard Hysel: Das Theater in Nürnberg von 1612 bis 1863, nebst einem Anhang über das Theater in Fürth. Nürnberg 1863, S. 291f. Vgl. Castle 1903 (Anm. 3), S. CXXIIIf., SW. Bd. 1, S. XVIII–XXI und Renner 2000 (Anm. 1), S. 17. SW. Bd. 3, S. V. Glossy/Sauer (Anm. 10), Bd. 1, S. IVf. Renner 2000 (Anm. 1), S. 17. Erich Schmidt: Charakteristiken. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 1902, S. 363-383, Zitat S. 382. SW. Bd. 1, S. XXXV; vgl. Renner 2000 (Anm. 1), S. 18. Vgl. SW. Bd. 1, S. XXIX und XXXIII; vgl. Anm. 13.

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Für sechs der acht Stücke haben sich die von Raimund autorisierten Theatermanuskripte („erste Abschrift“) erhalten; diese macht Franz Hadamowsky zur Grundlage seiner Ausgabe:33 Raimund hat von allen seinen Stücken eigenhändige Konzepte hinterlassen […], doch keine einzige eigenhändige Niederschrift der letzten und endgültigen Fassung eines Dramas. Diese wurden nach seinen Anweisungen von Kopisten hergestellt. Sie dienten dann als Zensurund Soufflierbücher bei der ersten Aufführung, von denen Kopisten weitere Abschriften für den Verkauf herstellten, den Raimund streng kontrollierte.

Für Der Barometermacher auf der Zauberinsel und Der Diamant des Geisterkönigs wählt Hadamowsky die der Erstaufführung am nächsten stehenden Theatermanuskripte als Textgrundlage.34 Dabei verzichtet er auf die Originalschreibung, „doch im Wort und in der Zeichensetzung (wegen ihrer Bedeutung für die Satzmelodie) entspricht der Text genau den zugrunde liegenden Theaterhandschriften.“ 35 Für die hier nur kurz angerissene Problematik der Rekonstruktion des von Raimund intendierten Textes gebe ich zwei Beispiele. Das eigenhändige Manuskript („Konzept“, „K“ = H) zu Raimunds zweitem Stück Der Diamant des Geisterkönigs (1824: St. B. Wien I.N. 11.228) ist vielleicht deshalb so wenig beachtet worden, weil es auf einer Katalogkarte nur als „Epilog zum: Diamant des Geisterkönigs“ bezeichnet wird. Der Epilog gehört aber zum vollständig erhaltenen Manuskript mit dem Entwurftitel Der Zauberschatz. 36 Fritz Brukner und Eduard Castle stützen sich in SW auf die „authentische Abschrift“ („B3“) aus dem Jahre 1830 (Zensurexemplar für das Gastspiel Raimunds am Theater an der Wien und Vogls Druckvorlage), erwähnen aber, daß sie „einzelne Worte und Phrasen“ aus H übernommen und zudem das „Wienerische“ wiederhergestellt hätten.37 Mangels Lesartenapparats sind die einzelnen Entscheidungen, H zu folgen, nicht nachvollziehbar, man kann dazu allerdings in einigen Fällen die ältere Ausgabe von Glossy/Sauer heranziehen. Als eine der interessantesten Varianten ist die von SW überhaupt nicht erwähnte Namensgebung und Charakterisierung jenes Landes, in dem Amine gefunden wird: Es heißt in H „Reich der Sittsamkeit“ und nicht „Reich der Wahrheit und der strengen Sitten“, und sein Herrscher ist „Modestius“ und nicht „Veritatius“, dessen Tochter heißt „Sidi“ statt „Modestina“. Raimunds Änderung fand offenbar schon auf dem Weg von H zur Bühnenfassung statt, wie der Theaterzettel ausweist; das entsprechende Zensurmanuskript hat sich leider nicht erhalten. Die neue Fassung ist insofern für Raimund untypisch, weil durch die Umbenennung des Inselreiches der Topos des „locus intactus“ gebrochen wird: Das Publikum kann sich durch Florians Reaktion sehr schnell davon überzeugen, daß es dort keine „wahre Wahrheit“ gibt. Der Analogieschluß, daß es dann auch keine „wahre Sitte“ gäbe, liegt auf der Hand. H geht über eine solch einfache Persiflage hinaus,

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37

Hadamowsky (Anm.15), Bd. 2, S. 524. Ebd. Ebd., S. 525. Für die folgenden Ausführungen bin ich brieflich mitgeteilten Notizen von Dr. Elisabeth Kató (1984) dankbar verpflichtet. SW. Bd. 1, S. 453 und 457 f.

Textkritische Probleme der Edition von Ferdinand Raimunds Zauberspielen

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da dort die Analogie von Name und Charakter des Landes ohne alle Ironie und Heuchelei stimmig ist. Der Herrscher gibt nicht vor, ein „Veritatius“ zu sein, sondern er ist ein „Modestius“, ein Maßhaltender, an seinen Untertanen ebenso wie an sich selbst. In seinem Reich wird der Maßstab der Sittlichkeit nicht nur zum Schein, sondern wirklich angelegt. Was Raimund in H intendiert, sind also nicht die Zustände in einem Reich, in dem die Bewohner vorgeben, sittlich und wahrhaftig zu sein, sondern die Unmenschlichkeit und Grausamkeit eines Reiches, in dem alle Bewohner tatsächlich sittsam sind. Dies nimmt sich gegenüber dem Sittenkodex der Biedermeierzeit und den realen Zuständen provokant aus. Vermutlich wurde deshalb eine Abschwächung vorgenommen, zumal Raimund, als geschiedener Mann in einer wilden Ehe lebend, mit einem Publikum rechnen mußte, das hinsichtlich der Sittlichkeit des Schauspielers übersensibilisiert war und das ihm eine Abrechnung mit der Sittlichkeit im allgemeinen nicht verziehen hätte. In diesem Kontext wird auch die Kürzung der in H entfalteten Aladin-Szene in der Bühnenfassung verständlich, in der die Sitten des Landes beschrieben werden (s.u.). Nach Reinhard Urbach übt Raimund hier Kritik an der verlogenen Moral seiner Zeit; die Herausgeber von SW hätten die Augen „vor Brüchen und Kühnheiten in Raimunds Konzepten“ verschlossen.38 Daß Raimund „Zweideutigkeiten“ gemieden habe, erwähnen allerdings auch die Herausgeber von SW.39 Eine andere Änderung zielt in die gleiche Richtung: Florian und Mariandel sind in H verheiratet und haben ihre „Ehe verheimlicht, weil der alte Herr keine Dienstbothen hat nehmen wollen, die verheurath sind“.40 Diese deutliche Anspielung auf die heimliche Ehe ist allerdings schon in H getilgt. Eine Fülle weiterer Details zeigt die Glättung gegenüber H. So erscheint Eduard als arbeitsscheues „Hausherrnsöhnl“, was in SW deshalb nicht so wiedergegeben wird, weil, wie die Herausgeber meinen, seine „in einem witzelnden Tone gehalten[e]“ Rede zu dem „weiterhin durchaus als edlen Liebhaber gestalteten Charakter Eduards später nicht mehr passen wollte“.41 Ein synoptischer Überblick eines Ausschnitts der 10. Szene des II. Aktes in H und SW macht die Tendenz der Kürzung der Aladin-Szene deutlich:42

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Urbach (Anm. 35), S. IV. SW. Bd. 1, S. 460. Vgl. die bei Glossy/Sauer (Anm. 10), Bd. 1, S. 331, überlieferte Lesart. SW. Bd. 1, S. 456. SW. Bd. 1, S. 147-149. Bei der Transkription werden Streichungen mit (x x), Hinzufügungen mit (+ +), rückgängig gemachte Sreichungen mit (+x x+) markiert; Geminationen (m, n) wurden aufgelöst.

168 H: [...] Aladin: Du befindest dich im Lande der (x Sittlichkeit x) (+ Sittsamkeit +) [...] Alles wird mit großer Vorsicht unternommen zu voreilig handelt man im Lande der (x Sittlichkeit x) (+ Sittsamkeit +) nicht. [...] In ihrem zwanzigsten Jahre werden unsere Mädchen verheyrathet, ohne daß sie ihren Bräutigam zu Gesichte bekommen haben. Als Frauen dürfen sie keinen Schritt mehr aus dem Hause machen. Florian: Das ist gut, wenn eine Geld im Sack hat, kanns wenigstens keins verlieren auf der Gassen. Aladin: Nur bey öffentlichen Versammlungen (x dürfen x) (+ müßen +) sie erscheinen. (+ übrigens +) darf (x kein x) (K)kein (x Frauenzimmer x) (x darf x) (+ Mädchen +) allein ausgehen, wenigstens 4. wo eine die andere beobachtet, denn es darf sich keine umsehen. Florian: (x Dürfen niemand über die Achsel ansehen x) (+ Das heißt sie +) (+ Da bliebens bey uns auch zu Haus wenns das nicht dürften +) Aladin: Und gehen (x nur x) (+ immer +) in Begleitung von 2 (x Mohren x) (+ Mohren +) Eduard / f.s. /: Himmel welch ein qualvolles Leben. Aladin: Wenn ein Mann ein Frauenzimmer auf der Straße sieht, muß er sein Haupt zur Erde beugen, und darf sie nicht ansehen. Sonst ist er des Todes. Florian: Wenn das bey uns der Brauch wär, da schauten manche junge Herren den Frauenzimmern nicht so unter die Hüte. Eduard: Ist das beym Fremden auch der Fall.? Aladin: (x Wir x) (+ Es +) kommen (x kein x) (x nie x) (+ selten +) Fremde zu uns, doch (x werden x) (+ sind +) sie (x wohl von x) diesen Gebräuchen ausgeschlossen, (x seyn x), so weit es der Anstand (x erlaubt x) (+ gestattet +) und [von Seite unten eingefügt:] (+ es ist ihnen erlaubt ehrerbietig (x die x) (+

Jürgen Hein

ihre +) Hand zu küssen. +) Selten vergißt ein Frauenzimmer ihren Stolz. Wenn aber ein unwürdiges Betragen von einer den andern zu Ohren kommt, so empört sich auch ihr Gefühl so sehr, daß sie in großen Tadel über die Unwürdige ausbrechen. Eduard: Das ist aber kein (x großer x) sicherer Beweis von eigener Unverdorbenheit des Herzens. Florian: Ah, das ist der Neid – mit mir reden. Eduard: Ich danke dir für deine Auskunft [...]

SW: [...] Aladin: Du befindest dich in dem Lande der Wahrheit und der strengen Sitte [...] Mit großer Strenge wird bei uns die Lüge bestraft; je nachdem sie nachteilige Folgen verursacht, doch ist man gegen Weiber nachsichtiger als gegen Männer. Verleumdung kennen wir nur dem Namen nach auf der Insel der Wahrheit und Sittsamkeit [...] In ihrem zwanzigsten Jahr werden unsere Mädchen verheiratet.

Aladin: Keine darf allein ausgehen, wenigstens vier, auch darf sich keine umsehen Florian: Das heißt, sie dürfen niemand über die Achsel ansehen. Aladin: Und gehen immer in Begleitung von zwei Mohren.

Eduard: Ich danke dir für deine Auskunft [...]

Textkritische Probleme der Edition von Ferdinand Raimunds Zauberspielen

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An diesem Ausschnitt wird die Notwendigkeit einer textkritischen Edition deutlich, die Raimunds Arbeitsweise ebenso sichtbar macht wie das Werden des für die Aufführung intendierten Bühnentextes. Als weiteres Beispiel für textkritische Probleme wähle ich die Überlieferung zweier Verse des „Hobellieds“ (III,10) aus Der Verschwender (1836) und deren editorische Behandlung: H („Konzept“; St. B. Wien, I.N. 11.228, S. 40): Das ist der Aller Ärmste Mann Der andre viel zu reich T1 (Theater in der Leopoldstadt 1834; St. B. Wien Ia 38.611, S. 136): Da(x s x) ist der allerärmste Mann De(x r x) (+ m +) And(x re x) (+ern +) oft (x sehr x) (+ zu +) (+x viel zu +x) reich T2 („Urabschrift“; St. B. Wien, Ia 38.582, S. 86 v): Da(x s x) ist der allerärmste Mann De(x r x) (+ n +) And(x re x) (+ ern +) (x viel zu reich x) (x oft sehr x) (+ viel zu reich +) Partitur (P1) [M]: Da ist der allerärmste Mann / Der Andre viel zu reich Autographer Klavierauszug von Konradin Kreutzer (P2) (St. B. Wien, MH 4098/c; SW. Bd. 2, S. 515-517): Da ist der allerärmste Mann, / der andre viel zu reich Vogl (2. Bändchen, S. 75): Das ist der allerärmste Mann / Der Andre viel zu reich GS (Bd. 3, S. 276): Das ist der allerärmste Mann / Der Andre viel zu reich Castle 1903 (S. 510): Das ist der allerärmste Mann / Der Andre zu reich Hadamowsky (Bd. 2, S. 171): Das ist der allerärmste Mann / Der Andre viel zu reich

Die Herausgeber der historisch-kritischen Säkularausgabe (SW) entscheiden sich für folgende Lesart (SW. Bd. 2, S. 434): Da ist der allerärmste Mann / Dem andern viel zu reich Ihr Kommentar dazu lautet:43 Unser Wortlaut von 451.2 geht auf eine augenscheinlich eh Änderung Raimunds in B1[= T1] zurück, die wohl mit Absicht der Wechselbeziehung in 43429 Der eine heißt den andern dumm eine zweite Wechselbeziehung Da ist der allerärmste Mann / Dem andern viel zu reich gegenüberstellt, so wie auch 43430 und 43534 miteinander korrespondieren.

Die Entscheidung für diese Lesart aus eher stilistischen Gründen bedeutet wohl mehr als nur eine „Wechselbeziehung“, sondern die Editoren unterlegen mit der Polarisierung in der Gegenüberstellung dem Text einen implizit sozialkritischen Akzent. Angesichts der eigenhändigen Reinschrift des Liedes kann mit Recht bezweifelt werden, ob die Änderung von Raimund autorisiert ist.

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SW. Bd. 2, S. 511f.

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Im Blick auf die Bemerkungen zu Anfang und auf die Beispiele ist es textkritisch sinnvoll, Autorisation durch den Verfasser und Bühnenautorisation durch mehrere Urheber, von denen der Autor der wichtigste ist, voneinander zu unterscheiden und mit zwei Weisen von Authentizität zu arbeiten. Daraus kann man den Vorschlag ableiten, Raimunds eigenhändige erste Fassung und die von ihm autorisierte erste Bühnenfassung als gleichberechtigte Textstufen zu edieren, eventuell im synoptischen Abdruck.

Walter Hettche

„Von dem Verfasser selbst herausgegeben“ Überlieferung und Textkritik der Fabeln Magnus Gottfried Lichtwers

I Magnus Gottfried Lichtwers Fabeln gehören zu den populärsten Beispielen ihrer Gattung. Zeitgenossen standen nicht an, sie höher zu bewerten als die Fabeln Hagedorns oder Gellerts, und bis in unsere Tage findet man Lichtwers Texte in Lesebüchern und Anthologien. Selbst wer mit dem Dichter wenig vertraut ist, kennt wenigstens die Verse von der Wassermaus und der Kröte, die eines Abends späte einen steilen Berg hinankrochen, und das bekannteste Zitat aus seiner Feder könnte auch am Anfang jeder editorischen Arbeit stehen: „Blinder Eifer schadet nur!“1 Um die Edition dieser Fabeln steht es indessen nicht zum besten. Auf dem Buchmarkt ist derzeit keine philologisch solide Lichtwer-Gesamtausgabe zu finden; die letzte, die Lichtwers schmales dichterisches Gesamtwerk enthielt, ist 1969 im Leipziger Reclam-Verlag erschienen.2 Die 2003 vorgelegte Edition des Briefwechsels zwischen Lichtwer und Gottsched bringt wenigstens eine Auswahl der Fabeln.3 Die zu Lichtwers Lebzeiten veröffentlichten Originalausgaben der Fabeln4 gehören zu den Seltenheiten auf dem Antiquariatsmarkt; selbst für die zahlreichen Nachdrucke werden hohe Preise verlangt. Es gibt zwei Ausgaben gesammelter Werke Lichtwers, die neben den Fabeln noch sein Lehrgedicht Das Recht der Vernunft von 1758 und einige kleinere Gedichte enthalten. Beide sind postum erschienen; 1793 die Poetische[n] Schriften in Schrämbls „Sammlung der vorzüglichsten Werke deutscher Dichter und Prosaisten“, Jahrzehnte später die Gesamtedition: Magnus Gottfried

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Die Katzen und der Hausherr. In: Magnus Gottfried Lichtwer: Fabeln in vier Büchern. Von dem Verfasser selbst herausgegeben. Berlin 1762, S. 35. Magnus Gottfried Lichtwer: Blinder Eifer schadet nur! Fabeln, Lehrgedicht. Nachwort von Hans Petzsch, Textbearbeitung und Anmerkungen von Heidi Ruddigkeit. Leipzig 1969, 31989. Lichtwer und Gottsched: Briefwechsel, Fabeln, Rezensionen. Hrsg. von Walter Hettche. Bielefeld 2003. Es sind die folgenden: A1 Vier Bücher Aesopischer Fabeln in gebundener Schreib-Art. Leipzig: Deer 1748 A2 Vier Bücher Aesopischer Fabeln von M. G. Lichtwern [...], nebst einem Anhange von Oden und Liedern. Berlin: Lange 1758 a3 Herrn M. G. Lichtwers [...] auserlesene, verbesserte Fabeln und Erzählungen in zweyen Büchern. Greifswald/Leipzig: Weitbrecht 1761 B1 M. G. Lichtwers [...] Fabeln in vier Büchern, von dem Verfasser selbst herausgegeben. Berlin: Lange 1762 B2 M. G. Lichtwers [...] Fabeln in vier Büchern, von dem Verfasser selbst herausgegeben. Berlin/Stralsund: Lange 1775

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Walter Hettche

Lichtwer’s Schriften. Herausgegeben von seinem Enkel Ernst Ludwig Magnus von Pott. Mit einer Vorrede und Biographie Lichtwer’s, von Friedrich Cramer. Halberstadt: Brüggemann 1828. Betrachtet man die Überlieferung der Fabeln Lichtwers genauer, muß man feststellen, daß dieser Zustand unbefriedigend und dem Rang des Dichters unangemessen ist. Alle Sammelausgaben und das Gros der Abdrucke in Anthologien beruhen nämlich – dem Prinzip letzter Hand folgend – auf dem Textstand der letzten von Lichtwer besorgten Ausgabe seiner Fabeln und ignorieren damit einen wichtigen Überlieferungsstrang, nämlich genau jene Fassungen, die Lichtwers Ruhm als Fabeldichter allererst begründet haben. Diese frühen Versionen wieder vollständig verfügbar zu machen, ist ein wesentliches Anliegen einer geplanten kritischen Edition von Lichtwers Fabeln. Die Fabeln sind ausschließlich gedruckt überliefert; es gibt keine handschriftlichen Textzeugen. Die kritische Edition muß sich also allein auf die textkritisch relevanten Ausgaben der Fabeln Lichtwers stützen. Die erste Ausgabe der Vier Bücher Aesopischer Fabeln in gebundener Schreib-Art (A1) erschien 1748 anonym bei dem Leipziger Buchhändler Deer, einem offenbar eher halbseidenen Unternehmer, von dem Gottsched mitteilt, er sei „kein Buchhändler von Profession, sondern ein Bedienter des Raths“ in Leipzig gewesen, „den also die andern Buchhändler nur als einen Pfuscher betrachteten.“5 So nimmt es nicht wunder, daß die Fabeln lange unbeachtet blieben, bis Gottsched in seiner Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1751 eine lobende Besprechung brachte.6 Mit dieser Rezension setzt die eigentliche Wirkungsgeschichte der Fabeln Lichtwers ein. Erst sieben Jahre später publizierte Lichtwer eine neue Ausgabe, diesmal mit der Nennung seines Namens und bei einem angeseheneren Buchhändler: Vier Bücher Aesopischer Fabeln, nebst einem Anhange von Oden und Liedern. Berlin: Lange 1758 (A2). Gegenüber der ersten Ausgabe ist diese Sammlung nur geringfügig verändert; Lichtwer hat die Fabel Die Biene und Fliege aus A1 entfernt und dafür Der Fuchs und Adler eingesetzt, und er hat am Schluß des Bandes eine neue Fabel mit dem Titel Der Springer hinzugefügt. Während die Vier Bücher Aesopischer Fabeln von 1748 je 25 Fabeln enthielten, waren in A2 101 Fabeln versammelt, insgesamt war der Textbestand auf 102 Fabeln angewachsen. Zusätzlich veröffentlichte Lichtwer in einem „Anhang“ zu A2 acht „Oden und Lieder“, von denen Moses Mendelssohn in einer Besprechung maliziös anmerkte, sie bewiesen alle, „daß der Herr Verfasser zum Fabeldichter gebohren sey“.7 Lichtwer hat sich das zu Herzen genommen und in den späteren Ausgaben seiner Fabeln den Anhang weggelassen. Allein an den veränderten Formulierungen der Titel von A1 und A2 läßt sich der Wandel im Selbstverständnis des Autors ablesen. Die erste Auflage bewies allein

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Antwort auf das fünfte Stück der Nachrichten zur Litteratur, als eine Beylage der Magdeburgischen Zeitung, vom 13. Febr. 1762. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Lenzmond 1762, S. 216– 222. Wiederabdruck in: Lichtwer und Gottsched (Anm. 3), S. 111-114, hier S. 112. Wiederabdruck in: Lichtwer und Gottsched (Anm. 3), S. 99 f. Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Dritten Bandes erstes Stück. Leipzig 1758, S. 57–73. Wiederabdruck in: Lichtwer und Gottsched (Anm. 3), S. 117-125, hier S. 125.

„Von dem Verfasser selbst herausgegeben“

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durch den Hinweis, es handle sich um „Aesopische Fabeln in gebundener SchreibArt“, ihre Abhängigkeit von der Regelpoetik Gottscheds, der in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst eben diese Begriffe verwendet und definiert. Unter der aesopischen Fabel versteht Gottsched den auch heute noch gültigen Gattungsbegriff der kurzen Erzählung, „darinnen man allegorische Personen dichtet, oder solchen Dingen ein Wesen und Leben giebt, die entweder ganz leblos sind, oder doch nur den Gedanken der Menschen ihr Daseyn zu danken haben.“8 Sie sind „ernsthaft [...] ihrer Absicht und Einrichtung nach“,9 und wenn auch Aesop seine Fabeln „nur in ungebundener Schreibart geschrieben, so haben doch alle seine Nachfolger sich um die Wette bestrebet, sie theils in Verse zu bringen, theils darinnen nachzuahmen.“10 Das Verschweigen des Autornamens läßt die in der ersten Ausgabe von Lichtwers Fabeln versammelten Texte als ebensolche Bearbeitungen und Nachahmungen alter Vorbilder erscheinen, was sie in Wirklichkeit nicht sind. In der zweiten Auflage wird zwar noch die Klassifikation als „äsopische Fabeln“ beibehalten, aber der Autor nennt nun seinen Namen.

II In dem Zeitraum zwischen der ersten Publikation von Lichtwers Fabeln und der zweiten Auflage von 1758 werden tiefgreifende Veränderungen an der Textgestalt der Fabeln vorgenommen – parallel zu Lichtwers eigener Überarbeitung seiner Texte, aber dem Einfluß des Autors gänzlich entzogen. Neben Gottsched war Karl Wilhelm Ramler einer der frühesten Ästhetiker, die sich mit den Fabeln Lichtwers beschäftigten. Seine erste Begegnung mit Lichtwers Fabeln liegt in einem etwas mysteriösen Dunkel. Gleim schreibt am 18. Mai 1749 an Ramler, die Vier Bücher Aesopischer Fabeln seien, „wie sie wißen, einmahl, ehe sie gedruckt worden, in meiner [also Gleims] Correctur gewesen“.11 Allerdings existiert kein einziges anderes Zeugnis, das von einer solchen Korrekturarbeit Gleims berichtet, und zu dieser Zeit gibt es weder eine dokumentierte Verbindung zwischen ihm und Lichtwer noch einen nachweisbaren Kontakt mit dem Leipziger Verleger Deer. Allenfalls wäre denkbar, daß Lichtwers Cousin Hecht in Berlin, den er um Vermittlung eines Verlegers für die Fabeln gebeten hatte, die Verbindung mit Gleim und Ramler gestiftet hat, aber aus Lichtwers Brief an Hecht geht noch nicht einmal hervor, ob diesem überhaupt das Manuskript der Fabeln vorlag: Mein liebes Vetterchen! Könnten sie mir wohl einen Verleger zu meinen Fabeln verschaffen? Es käme darauf an, daß Dieselben die Gütigkeit hätten und etwan mit einem der bemitteltsten Buchführer daselbst sprächen. Das Werckchen wird Ein Alphabet betragen;

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Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert [...]. Vierte sehr vermehrte Auflage. Leipzig: Breitkopf 1751, S. 436. Ebd., S. 443. Ebd., S. 442. Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler. Hrsg. und erläutert von Carl Schüddekopf. 1. Band: 17451752. Tübingen 1906 (= Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart. 242), S. 170.

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besteht aus vier Büchern, davon jedes fünf und zwanzig Fabeln enthält. Die Bedingungen beständen bloß darinnen, daß sie auf hübsch Papier gedruckt und mir dreißig Exemplaria gratis überlassen würden. Meinen Namen bitte ich aus gewissen Ursachen zu verschweigen.12

Vollends rätselhaft wird es, wenn Ramler ins Spiel kommt, denn der erkundigt sich am 4. Juli 1753 bei Gleim: „Wer ist Verfaßer von den vier Büchern äsopischer Fabeln gedruckt in Leipzig bey N. Deer 1748. Ich halte sie für die besten, die wir haben, Hagedorn und Gellert mögen dazu so sauer sehen, wie sie wollen.“13 Irritiert antwortet Gleim am 10. August 1753: „Haben sie denn ganz vergeßen, daß es die [Fabeln Lichtwers] sind, die wir [...], ehe sie gedruckt waren, in der Correctur hatten? und daß wir damals urtheilten, daß der Verfaßer ein gutes Genie zeigte, aber den beßern Geschmack vermißte. Ich erinnere mich, daß wir ohngefehr die Helfte der Verbeßerung wehrt hielten.“14 Ramler erwidert, er habe das alles wohl vergessen,15 was Gleim wiederum kaum glauben kann: „Ich habe ihnen ganz gewiß gesagt, daß er [Lichtwer] hier RegierungsRath und Canonicus ist, und daß er noch immer auf mich böse ist, weil ihm Rüdiger16 gesagt hat, daß wir es gewesen sind, die seine Fabeln corrigirt haben, und daß er deshalb meinen Umgang vermeidet.“17 Wie dem auch sei: Ramler beginnt im Herbst 1754, Lichtwers Fabeln nach eigenem Ermessen umzudichten, durchaus schon im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung. Er bittet Gleim, bei Lichtwer anzufragen, „ob er die Veränderungen billigt“, und er fordert ihn auf: „helfen sie ihm seine Fabeln theils wegwerfen, theils umschmeltzen, und rathen ihm, lieber nichts neues zu schreiben, als etwas mittelmäßiges.“18 Gleim weist dieses Ansinnen von sich; er spreche Lichtwer überhaupt nicht, und überdies könne Ramler damit rechnen, „Herr Lichtwehr werde sich durch die gemachten Verbeßerungen für höchstbeleidiget halten.“19 Doch Ramler ist mit seinen „Verbesserungen“ trotz der Warnungen Gleims an die Öffentlichkeit getreten, nicht etwa, um Lichtwer bewußt zu ärgern, sondern im guten Glauben, er tue dem Fabeldichter damit einen Gefallen. Öffentlich äußert sich Ramler über Lichtwer zum ersten Mal in seiner Einleitung in die Schönen Wissenschaften: Man findet in diesen vier Büchern äsopischer Fabeln mehrentheils eine nachdrückliche Kürtze, eine vortrefliche und mannigfaltige Moral, schöne und nicht geborgte Erfindungen, viel Phädrische Zierlichkeit und La-Fontänische Lustigkeit. Indessen ist nicht zu läugnen, daß man auch sehr leicht gantz entgegengesetzte Auszüge aus ihnen machen könnte. Scha-

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Magnus Gottfried Lichtwer’s Schriften. Hrsg. von seinem Enkel Ernst Ludwig Magnus von Pott. Mit einer Vorrede und Biographie Lichtwer’s, von Friedrich Cramer. Halberstadt 1828, S. *14 f. Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler. Hrsg. und erläutert von Carl Schüddekopf. 2. Band: 17531759. Tübingen 1907 (= Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart. 244), S. 39. Briefwechsel Gleim-Ramler 1907 (Anm. 13), S. 53. Ramler an Gleim, 26. August 1753. Briefwechsel Gleim-Ramler 1907 (Anm. 13), S. 55 f. Wohl der Korrektor von Lichtwers Fabeln. Es handelt sich nicht, wie Gerlinde Wappler annimmt, um Johann Andreas Rüdiger, der schon 1731 verstorben ist. Gerlinde Wappler: „Leben Sie wohl, geliebter Vater“. Menschen um Gleim II. Oschersleben 2000, S. 10 und S. 317. Gleim an Ramler, 31. August 1753. Briefwechsel Gleim-Ramler 1907, S. 61. Ebd., S. 168. Ebd., S. 175.

„Von dem Verfasser selbst herausgegeben“

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de, daß dieser Dichter nicht in einer Residentzstadt lebt, oder keine poetischen Freunde hat! Wie leicht wäre es, einen großen Theil dieser Fabeln zu Meisterstücken zu machen, wenn gewiße Touren und Ausdrücke erhöhet und veredelt würden, die jetzt einen Dichter in die Vergessenheit zu bringen drohen, der es noch in seiner Gewalt hat, der beßte Fabeldichter seines Volcks zu werden.20

Die Beispiele aus Lichtwers Fabeln zitiert Ramler nach der bis dahin einzigen Ausgabe von 1748, nimmt sich aber auch hier schon die Freiheit, in die Texte einzugreifen. Fünf Jahre später, 1761, erscheinen dann Herrn M. G. Lichtwers [...] auserlesene, verbesserte Fabeln und Erzählungen in zweyen Büchern (Greifswald/Leipzig: Weitbrecht 1761), ohne Nennung eines Herausgebers. Ramler selbst hat in einem erst 2003 erstmals teilweise gedruckten Brief an Gleim vom 5. März 1763 abgestritten, diese Ausgabe veranstaltet zu haben: Auf andere Sachen zu antworten, [...] so scheint es, daß man auch in Halberstadt das Gerücht ausgesprengt hat, als ob ich der Verbesserer der Lichtwerischen Fabeln wäre. Dieses bin ich nun wohl nicht! Solche erschreckliche Arbeit gehört nur für einen Herkules. Indessen ist es mir lieb, daß man durch dieses Vorgeben dem Buche zu helfen denkt. Ich werde mich bald brüsten. Einige wenige Stellen ausgenommen, möchte ich wohl dieser Verbesserer gewesen seyn; wenigstens möchte ich die Vorrede gern gemacht haben, die ich keinem zuzuschreiben wüßte, als Ihnen, oder Uzen, oder Eberten oder Klopstocken.21

Dennoch hielt (und hält sich bis heute) hartnäckig die Auffassung, Ramler sei der Bearbeiter der Ausgabe von 1761. Im Berlinischen Musenalmanach auf das Jahr 1791 schreibt Karl Heinrich Jördens in seiner Kurze[n] Nachricht von Karl Wilhelm Ramlers Leben und Schriften: „Ein Ungenannter hatte diese Wahl unternommen, und Ramler hatte einigen Antheil daran.“22 Schon 1784 hatte Friedrich Wilhelm Eichholz in seiner Lichtwer-Biographie vermutet, „es sollen außer Herrn Rammler, auch Halberstädtsche Gelehrte an dieser Ausgabe Theil genommen haben“,23 so daß Friedrich Cramer in der biographischen Einleitung zur Lichtwer-Ausgabe von 1828 aus diesen beiden Informationen folgert, bei dem „Ungenannten“ habe es sich um „Herr[n] G.“24 gehandelt, also wohl um Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Noch in Anett Lüttekens „Verzeichnis der zeitgenössischen Drucke Karl Wilhelm Ramlers“ wird die Ausgabe ohne Einschränkung Ramler zugeschrieben.25 In die Ausgabe von 1761 wurden nur 65 von 102 bekannten Fabeln Lichtwers aufgenommen und zum Teil radikal umgeschrieben. Lichtwer war über diese Sammlung empört und hat öffentlich sehr heftig reagiert. In mehrere Zeitungen hat er eine Nach-

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Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vemehret von C. W. Ramler. Erster Band. Leipzig 1756, S. 314 f. Zitiert nach Hans-Joachim Kertscher: Karl Wilhelm Ramler als Herausgeber. In: Laurenz Lütteken, Ute Pott, Carsten Zelle (Hrsg.): Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2003, S. 95–128, hier S. 114f. Berlinischer Musenalmanach für 1791. Hrsg. von Karl Heinrich Jördens, S. 161-176, hier S. 168. Magnus Gottfried Lichtwers, Königl. Regierungsraths im Fürstenthum Halberstadt etc. Leben und Verdienste; nebst einigen Beilagen. Ans Licht gestellt von Friedr. Wilh. Eichholz. Halberstadt 1784, S. 88. Lichtwer 1828 (Anm. 12), S. *31. Anett Lütteken: Verzeichnis der zeitgenössischen Drucke Karl Wilhelm Ramlers. In: Lütteken/Pott/ Zelle (Anm. 21), S. 435–507, hier S. 476.

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richt eingerückt, in der er schimpft, der unberufene Verbesserer seiner Fabeln habe sich „nicht entblödet, meine Fabeln auf eine unverantwortliche Art zu verstümmeln, falsche Gedanken und ungeschickte Verse einzuflicken, und seine fehlerhafte Ausdrücke statt der meinigen, auf eine recht unverschämte Art einzuschieben. Daß ein solches Betragen wider die natürlichen und bürgerlichen Gesetze laufe, wird ein jeder Vernünftig-Denkender einsehen.“26 Am Schluß dieser Nachricht kündigt Lichtwer an, „eine von mir selbst übersehene Ausgabe meiner Fabeln zu besorgen“, die dann auch 1762 erscheint: Fabeln in vier Büchern, von dem Verfasser selbst herausgegeben. Berlin: Lange 1762 (B1). Lichtwer eröffnet sie mit einer Vorrede, in der er den Bearbeiter nochmals zurechtweist, ohne einen Namen zu nennen. Der Streit zog weite Kreise; er ist ein frühes Zeugnis für die Debatte um das Urheberrecht. Moses Mendelssohn schreibt im Juni 1761 an Lessing: „Es hat Jemand die Lichtwer’schen Fabeln verbessert herausgegeben. Man vermuthet, daß sich Herr Ramler diese Freiheit genommen, und ist sehr begierig, zu sehen, wie Lichtwer diese Freiheit aufnehmen wird. So stille als Logau und Kleist wird doch der noch athmende Lichtwer gewiß nicht herhalten.“27 Die Diskussion wird dann in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend fortgeführt, wobei sich Lessing und Mendelssohn eher auf die Seite ihres gemeinsamen Freundes Ramler schlagen, den auch sie für den Herausgeber halten.28

III Die Ausgabe B1 von 1762 eröffnet den zweiten Überlieferungsstrang der Fabeln Lichtwers. Sie zeugt vom mittlerweile gewonnenen Selbstbewußtsein Lichtwers, der im Titel sowohl als Verfasser wie auch als Herausgeber firmiert. Das ist eine deutliche Stellungnahme im Streit um das Eigentumsrecht des Dichters an seinen Werken: Lichtwer deklariert die Fabeln durch den Genitivus auctoris als sein geistiges Eigentum, und er betont damit gleichzeitig, daß allein diesem die editorische Bearbeitung der Texte gestattet sei: „von dem Verfasser selbst herausgegeben“. Die editorische Arbeit des Autors hinterläßt verschiedene Spuren in den Texten. Der Umfang von Lichtwers Revisionen reicht von punktuellen Veränderungen einzelner Wörter bis hin zur völligen Umgestaltung ganzer Fabeln, zum Beispiel im Falle der Zwo Bettelweiber: Die zwo Bettelweiber. Nach Eilfen, in der Geister-Stunde, Kam eine Frau des Nachts zu einem Grunde. Ein andres Bettel-Weib kam in dem Grund’ heran, Die Thoren scheuten sich, als sie einander sahn,

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Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, Nr. 132, Freitag, 21. August 1761. Lessing’s Werke. Zwanzigster Theil. Zweite Abtheilung. Briefe an Lessing. Hrsg. und mit Anmerkungen begleitet von Carl Christian Redlich. Berlin o. J., S. 167. Zu dieser Diskussion vgl. die grundlegenden Ausführungen von Carsten Zelle: Barrieren der RamlerRezeption in der Neugermanistik. In: Lütteken/Pott/Zelle (Anm. 21), S. 153–172, hier S. 169–171.

„Von dem Verfasser selbst herausgegeben“

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Der Schrecken ist gleich groß, sie bleiben beyde stehen, Becreutzen sich mit gröstem Fleiß, Es traut sich keine fortzugehen, Wenn eine Schauer fühlt, so wird der andern heiß, Wenn jene seufzt, so zittert diese, Als würd es ihr den Halß umdrehn, Die glaubt, die weiße Frau zu sehn, Der scheint die andre wie ein Riese. Das währte bis zur Demmerung, Bey der die Affen sich erkannten, Und fluchend aus einander rannten. Des Menschen meiste Noth gebiehrt die Einbildung.29

Die zwo alten Weiber. Die Uhr that in der Nacht eilf Schläge, Da gieng ein altes Weib in einem hohlen Wege, Ein andres altes Weib kam in dem Weg’ heran, Die Thoren sahen sich für zwey Gespenster an, Und stunden starre da, als ob sie Säulen wären, Sie stunden, bis der Morgen kam, Da jede brummend Abschied nahm. *** Wir hindern in der Welt einander mit Chimeren.30

Eine kritische Edition der Fabeln Lichtwers muß beide Überlieferungsstränge dokumentieren. Weil hier der Fabeldichter Lichtwer zum ersten Mal an die Öffentlichkeit tritt, ist die erste Ausgabe A1 vollständig abzudrucken, trotz der Klage, die Lichtwer in einem Brief vom 6. März 1747 an seinen Vetter Hecht über die verlegerischen Texteingriffe führt: Ich muß recht unglücklich seyn, daß ich mit meinen Fabeln unter die ungewaschnen Hände des Pietisten Rüdigers31 gerathen bin. – Es ist etwas unerhörtes [...] eines Verfassers Arbeit, ohne sein Wissen und Willen, zu ändern. Ich glaube, daß dieser Schimpf Niemanden wiederfahren ist, seit die Welt steht. Wer auch nur der verwünschte Nachrichter gewesen, der meine Fabeln durch sein ungeschliffenes Messer in einen so erbarmenswürdigen Stand gesetzt, der muß von Gott und aller Vernunft entfernt gewesen seyn, daß er sich unterstehen dürfen, ohne des Schriftstellers Urlaub seine elenden Grillen fremder Arbeit anzuhängen und zu glauben, daß der Autor solches leiden würde. Ich müßte der verächtlichste Mensch unter der Sonne seyn, wenn ich es erdultete. Eine Peitsche ist nicht genug, die Thorheit des

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A1, S. 56 f. B1, S. 50. Vgl. Anm. 16.

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dummen Correctoris zu züchtigen. Ich bitte Sie, allerliebster Herr Vetter! lassen Sie sich doch den Augenblick die annoch rückständigen Fabeln zurückgeben, ehe sie unter der Hand dieses vermaledeieten Verse-Henkers ein gleiches Schicksal, wie ihre Brüder haben. Sollte ich meine Fabeln, wenn ich sie wieder geheilet, einmal herausgeben, so werde ich mich in einer besondern Vorrede über dies unverantwortliche Beginnen eines pfäffischen Buchführers und des viehischen Correctoris (ich kann vor Grimm nicht schlimm genug mich ausdrücken) vor den Ohren der ganzen gelehrten Welt beschweren. Ich kann vor Aerger nichts hinzusetzen [...].32

Trotz der Empörung Lichtwers über die fremden Eingriffe ist seine Ausgabe von 1758 gegenüber A1 nur an wenigen Stellen verändert; Cramer vermutet – wohl zu Recht –, daß in den zehn Jahren zwischen dem Erscheinen der Erstausgabe und der zweiten Auflage „das Feuer des Zornes niedergebrannt“ war.33 – Die Gruppe B ist in die kritische Edition ebenfalls aufzunehmen, weil allein sie eine breite Rezeption erfahren hat, und zwar vor allem über die zahlreichen Wiener Nachdrucke von Schrämbl, Trattner, Armbruster und Baumeister. Für die editorische Präsentation der beiden Überlieferungen bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. Denkbar wäre zum Beispiel, allein die erste Ausgabe von 1748 als Grundlage für den edierten Text zu wählen und alle späteren Fassungen im Apparat auf diesen zu beziehen. Dieses Verfahren würde allerdings sehr bald an seine Grenzen stoßen, wenn die Texte sehr stark verändert worden sind. Die Form des Paralleldrucks von A1 und B1 scheint für die Edition die bessere Lösung, und zwar nicht nur aus pragmatischen, sondern auch aus poetologischen Gründen. Lichtwer hat mit seinen Fabeln nämlich eine durchdachte und ausgewogene Sammlung komponiert. Das zeigt sich etwa an der Gliederung in vier Bücher zu je 25 Fabeln, in den ,poetologischen‘ Einleitungen zu jedem Buch, in dem programmatischen Gedicht Die beraubte Fabel, mit der die Sammlung eröffnet wird, und schließlich in dem Envoi, mit dem Lichtwer den Leser am Ende entläßt. O Leser! also hat die Muse mir erzählet, Die ich mir dieses mal, zur Führerinn erwehlet, Dis ist es, was der Mund der stummen Wesen sprach, Sie wiederholt’ es mir: ich schrieb es treulich nach. Vielleicht war ich zu schwach, der Muse Sinn zu fassen, Vielleicht hab ich verhört, und manches ausgelassen, Der Wille war doch gut, und dem gebührt ein Lob, Ein jeder höret nicht so leise wie Aesop.34

Diese kompositorischen Elemente strukturieren nicht nur die erste Ausgabe, sondern auch B1 und B2, auch wenn dort das vierte Buch 30 Fabeln umfaßt und somit etwas aus dem Rahmen fällt.35 Um auch die Ordnung der Ausgabe B1 von 1762 sichtbar werden zu lassen und eine kontinuierliche Lektüre aller darin enthaltenen Fabeln zu

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Lichtwer 1828 (Anm. 12), S. *17. Ebd. A1, S. 174. B2 enthält nur eine neue Fabel, Der Herr von Krehn.

„Von dem Verfasser selbst herausgegeben“

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ermöglichen, sollten selbst diejenigen Fabeln im Paralledruck A1/B1 präsentiert werden, die sich nur in wenigen Versen voneinander unterscheiden. Wollte man nur die substantiell varianten Verse aus B1 abdrucken, würde man eine völlige Identität der nicht gesetzten Verse zwischen A1 und B1 suggerieren, obwohl sie sich in Orthographie und Interpunktion unterscheiden. Der Benutzer der Ausgabe, der sich den Text von B1 aus dieser Darbietung rekonstruieren möchte, wäre gezwungen, Mischfassungen herzustellen. Zudem gingen bei einer so verkürzten Textdarbietung einige typographische Eigenheiten verloren, auf die es Lichtwer angekommen ist. Das betrifft vor allem die Einrückungen der Verse, die auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, für Lichtwer aber ganz offensichtlich eine wichtige textgliedernde Funktion haben. Das läßt sich aus erhaltenen Handschriften Lichtwers belegen, zwar nicht für die Fabeln, die ja allein in Drucken überliefert sind, wohl aber für einige Passagen aus dem Lehrgedicht Das Recht der Vernunft, die Lichtwer seinem Brief an Gottsched vom 29. Juli 1757 beigelegt hat.36 Eine kritische Ausgabe der Fabeln müßte jedenfalls die typographische Anordnung der Verse möglichst genau abbilden, um eine immerhin mögliche Semantik dieser Formalia nicht zu verdecken. Die Varianten zwischen A1 und A2 beziehungsweise zwischen B1 und B2 sollen in einem Fußnotenapparat verzeichnet werden. Hier wäre allerdings eine Variantenauswahl angezeigt, die nur lexikalisch relevante Abweichungen anführt, bloße Differenzen in Orthographie und Interpunktion also ausschließt – dies vor allem deshalb, weil die akzidentiellen Varianten die substantiellen bei weitem überwiegen, so daß man sich die wirklich aussagekräftige Varianz mühsam aus einem Wust von unbedeutenden Kleinigkeiten heraussuchen müßte.

IV Obwohl die Ausgabe a3 einen unautorisierten und nicht authentischen Text bietet, sollten auch die Varianten aus dieser Sammlung erfaßt werden, und zwar wegen ihrer katalysatorischen Wirkung auf die spätere autorisierte und authentische Überlieferung der Fabeln Lichtwers. Es steht nämlich außer Zweifel, daß Lichtwer zuallererst durch Ramlers Ausgabe zur Umarbeitung seiner Fabeln angeregt worden ist. Das zeigt sich vor allem in der Behandlung der 37 Fabeln, die Ramler in seiner Auswahl nicht gedruckt hat: Lichtwer hat sie entweder auch aus seiner Ausgabe getilgt, oder er hat sie besonders gründlich umgearbeitet, wie an dem Beispiel der Zwo Bettelweiber gezeigt wurde. Aber auch punktuelle Änderungen sind offenkundig durch a3 induziert. Ein Beispiel dafür findet sich in der Fabel Der Diamant und Bergkristall. In A1 und A2 lauten die Eingangsverse:

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Handschriften- und Raritäten-Abteilung der Universitätsbibliothek Tartu (Estland), Nachlaß Karl Morgenstern. Mrg. CCCLIVa, Morg. Ep. phil. III.

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180 Ein heller Bergcrystall und roher Diamant Die ein beschnittner Dieb verloren, Geriethen auf ein Häufchen Sand Und warteten, für wen das Schicksal sie erkoren.37

In a3 ist die latent antisemitische Formulierung vom „beschnittnen Dieb“ verändert: „Ein heller Bergkrystall und roher Diamant, / Von einem Reisenden verloren“.38 In B1 und B2 behält Lichtwer zwar den „Dieb“ bei, aber jetzt ist es ein „verfolgter“; ob er beschnitten ist oder nicht, ist für die Sache schließlich auch irrelevant. Hier zeigt sich auch, wie sorgfältig Lichtwer darauf achtet, möglichst keine der Änderungen aus a3 zu übernehmen, also die Spuren der ungewollten ,Verbesserungen‘ zu tilgen. Das geht so weit, daß er an zwei Stellen, an denen es so scheinen könnte, als habe er Versionen aus der Sammlung von 1761 übernommen, Fußnoten anbringt, die den Leser darauf hinweisen, daß es eben nicht so ist. Grundlage für die Erarbeitung der Ausgabe a3 war die Erstausgabe von 1748 (A1), während dem Lesepublikum eher die zweite Auflage von 1758 (A2) bekannt gewesen ist. Wenn also Lichtwer in A2 an zwei Stellen Veränderungen gegenüber A1 vorgenommen hat, in B1 aber wieder zu den Lesarten aus A1 zurückgekehrt ist, könnte der Eindruck entstehen, er habe sich die Formulierungen aus a3 zu eigen gemacht: Phyllis und der Vogel, 5. Strophe, Vers 4: A1

Ach! sagte sie, du armer Dieb!

A2

Ach! sagte sie, du armes Thier!

a3

Ach! sagte sie, du armer Dieb!

B1

Ach! sagte sie, du armer Dieb,

Die Nachtigall und der Gimpel, 9. Strophe, Vers 3 f.: A1

So mehrt des Cörpers schlechtes Kleid, Erhabner Geister Treflichkeit;

A2

Ein schwacher Leib, oft ungestalt, Wird großer Geister Aufenthalt,

a3

So mehrt des Körpers schlechtes Kleid Erhabner Geister Trefflichkeit;

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A1, S. 38; A2, S. 35. a3, S. 24.

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B1

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So mehrt des Körpers schlechtes Kleid Erhabner Geister Trefflichkeit,

In beiden Fällen fügt Lichtwer eine Fußnote an, in der er den Leser einlädt: „Siehe die erste Ausgabe vom Jahr 1748.“39 Damit ist ohne Nennung des Bearbeiters eine dezente Begründung für die Fassungen in B1 gegeben. In einem anderen Fall betreibt Lichtwer sogar Textkritik aus dem Geiste der Naturwissenschaft. In A1/A2 findet sich eine Fabel mit dem Titel Der Crocodil und der Stör, aus der in B1/B2 Das Krokodil und das Meerpferd geworden ist. Lichtwer erklärt auch, warum sich der Stör inzwischen in ein Meerpferd verwandelt hat: „Ich habe das Meerpferd, Hippopotamus genannt, statt des Stören erwählt, weil jenes, aber nicht dieser in dem Nil gefunden wird.“40 Mit all dem gibt sich Lichtwer als textkritisch denkender Herausgeber seines eigenen Werkes zu erkennen, setzt aber auch beim Leser ein entsprechend geschultes Interesse und die Bereitschaft zu aktiver Mitarbeit voraus. Ähnlich verhält es sich mit den Quellenangaben, die Lichtwer gelegentlich mitteilt, zum Beispiel in der Fabel Der Fuchs. Dort liest der Fuchs in der „weltberühmten Vulpiade / Sonst Reinecke der Fuchs genannt“. Als er an die Stelle kommt, wo er hingerichtet werden soll – „Der Kater Hinz hielt einen Strick, / Und hieß ihn auf die Leiter treten, / Der Bär hub an mit ihm zu beten“ – schreibt Lichtwer in einer Anmerkung: „In der Rostocker Ausgabe von 1662. pag. 151. steht der Bär in Holzschnitt gestochen, und hat ein grosses Buch in den Pfoten, der Fuchs aber begehrt zu beichten.“41 In den späteren Ausgaben B1/B2 heißt es nur noch knapp: „Siehe die Rostocker Ausgabe vom Jahr 1662. S. 151.“42 Hier wie schon bei den textkritischen Noten rechnet Lichtwer bereits mit einem mündigen Leser, der den Hinweisen des Herausgebers Lichtwer nachzugehen imstande ist. Diese paratextuellen Elemente sind integrale Bestandteile der „von dem Verfasser selbst herausgegebenen“ Fabelsammlung, und selbstverständlich dürfen sie in einer kritischen Edition nicht unterschlagen werden (in der Reclam-Ausgabe von 1969 sind sie alle weggelassen). Die projektierte Ausgabe soll nämlich gerade nicht eine Edition einzelner Fabeln sein, sie soll vielmehr eine bewußt komponierte Sammlung in ihrer Integrität und ihrem historischen Wandel erkennbar werden lassen.

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B1, S. 7 und S. 159. B1, S. 96. A1, S. 17. B1, S. 11.

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Textkritische Probleme bei der Edition von Grimmelshausens Simplicissimus

Wer das Fehlen einer konsistenten Editionsphilogie im Fall des SimplicissimusAutors beklagt, befindet sich in guter Gesellschaft. Günther Weydt sprach 1971 von der „fast beispiellos verworrenen Geschichte der Grimmelshausen-Philologie, die sich […] auf die Frage nach Authentizität und Stellenwert der Simplicissimus-Ausgaben zu Lebzeiten konzentrierte“, Rolf Tarot, der Herausgeber des Simplicissimus in der Werkausgabe des Niemeyer-Verlags, äußert sich unmißverständlich: „Die Geschichte der Grimmelshausen-Forschung ist gekennzeichnet durch Irrwege und Umwege, Hypothesen und Fehlschlüsse, insbesondere im Bereich der Überlieferungsgeschichte.“1 Zu den wenigen Sicherheiten gehört, daß es vom Simplicissimus sechs zu Lebzeiten des Autors erschienene Ausgaben gibt, von denen die editio princeps (E1) mit Vordatierung auf 1669 im Jahr 1668 bei Felßecker in Nürnberg verlegt worden ist. Ihr folgte die weniger sorgfältig gestaltete Neudruckausgabe 1668 im gleichen Verlag (E2), ihre Textgestalt weicht kaum von der Erstauflage ab, sie brachte als VI. Buch die Continuatio. Probleme entstehen erst bei der dritten Ausgabe (E3a), der 1669 herausgebrachten Konkurrenzausgabe, mit der sich der Frankfurter Verleger Georg Müller geschickt am Romanerfolg beteiligen wollte. Er hat den mundartlich gefärbten GrimmelshausenText nach den Richtlinien der Fruchtbringenden Gesellschaft (Gueintz) gereinigt und modernisiert. Sie wird nach Jan Hendrik Scholte als Schulmeister-Simplicissimus bezeichnet. Die frühere Forschung ging davon aus, daß der ‚Bauernpoet‘ Grimmelshausen die Müllersche, gereinigte Ausgabe veranlaßt habe. Rudolf Kögel legte sie seiner Neuausgabe (1880) zugrunde.2 Er postulierte eine verlorengegangene Urausgabe und gab die von ihm veröffentlichte Fassung als die älteste, wenn auch nicht authentische Ausgabe aus. Scholte spricht in der Einleitung zu seiner Simplicissimus-Ausgabe, die 1938 (Hallesche Neudrucke 302 – 309) die Kögels ersetzen sollte, von einem „Fehlgriff“ in dem „Dickicht philologischer Verwirrung.“3 Die Kögelsche Ausgabe hat tatsächlich viel Verwirrung gestiftet, man sprach lange von einem Raubdruck; aber dennoch wurde Grimmelshausens Mitarbeit in irgendeiner Form nicht ganz ausgeschlossen. – Kögels Herausgeberentscheidung entspricht einem aus der Denk- und

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G.Weydt: Hans Jacob Christoffel von Grimelshausen. Stuttgart 1971. S. 19. (Sammlung Metzler 99); Grimmelshausen: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi. Hrsg. von Rolf Tarot. Tübingen 1967. Anfang der Einleitung, S. VII. Halle 1880, NDL Nr. 19–25. J.H. Scholte: Simplicissimus-Ausgabe, Halle/S. 1938 (Neudrucke deutscher Literaturwerke 302–309), S. XI bzw. VII.

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Ferdinand van Ingen

Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts heraus zu verstehenden Dichterbild. Der urwüchsige talentierte Dichter sei als der ungehobelte Bauer, der schrieb, wie ihm der Schnabel gewachsen war, natürlich am Volkes Mund interessiert gewesen und hätte – wie weiland Martin Luther – „dem Volk aufs Maul“ geschaut. Ihm wäre eine „Reinigung“ seines volktümlichen Textes wahrscheinlich nicht unwillkommen gewesen: Es war die Zeit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins (1885) – so etwas färbt auf germanistische Arbeit ab. Tarot kommentiert: „Die Geschichte der philologischen Irrtümer um diese Ausgabe hat wohl keine Parallele in der literarhistorischen Forschung. Noch lange glaubte man, daß Grimmelshausen mit dieser Redaktion von fremder Hand – wenn vielleicht auch widerwillig – des Umsatzes wegen einverstanden war.“4 Auch Scholte war zur Zeit seiner Simpicissimus-Edition der Ansicht, die Ausgabe sei „sicher nicht ohne Mitwissen des Verfassers“ zustande gekommen.5 Heute spricht man allgemein von einem verstümmelten Text, obwohl Scholte ihn dennoch als „eine fachmännische Überarbeitung“6 charakterisierte, die für die Textgeschichte nicht belanglos sei: „Die sorgfältige Überarbeitung des sprachgewandten Korrektors eines manchmal schwierigen und zuweilen rätselhaften Textes“ ist „in ihren zahllosen fein nuancierten Abweichungen eine noch keineswegs vollständig ausgeschöpfte Quelle für sprachliche Beobachtung.“7 Diese Ausgabe dürfe aber nicht zum „Stammbaum Grimmelshausenscher Texte“ gezählt werden, denn der Dichter beklagt, daß man „mit meiner Lebens=Beschreibung wie mit einem Vatterlosen Wäisen/ oder wie die Katz mit der Mauß umgangen / gleichsam als ob ich nimmermehr wiederüm zu Land kommen würde.“8 Deshalb ist nach Scholte die Ausgabe E3a „vom Standpunkt der Textgeschichte als Fremdkörper zu betrachten, vor dessen Einfluß man den Grimmelshausenschen Wortlaut nach Möglichkeit in Schutz zu nehmen habe.“9 Neuerdings wurde die Bezeichnung Raubdruck abgelehnt. Die Ausgabe brachte tatsächlich Verbesserungen, die üblicherweise nicht „in einen herkömmlichen Raubdruck einfließen.“10 Mit dem Nachweis der Unrechtmäßigkeit dieses Druckes war die Geschichte jedoch nicht zu Ende und das Problem nicht aus der Welt: Die späteren Ausgaben E5 und E6, die wieder bei Felßecker herauskamen, basierten textlich nämlich wiederum auf Müllers Ausgabe. Felßecker hatte diese schon mit einer revidierten Ausgabe 1669 ersetzen wollen und kündigte deswegen im „reklamehaften“ Titel einen „ewig währenden und wunderbaren Calender“ sowie einige „Neben-Historien“ an. Die Textfassung ist die von E2, neu waren nur das Kupfer mit den Medaillons der simplicianischen Familie, die Autorvorrede und geringfügige Texterweiterungen, die wahr-

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Tarot 1967 (Anm. 1), S. XVII. Halle (Niemeyer) 1938, NDL Nr. 302–309. Die Einzelausgabe der Continuatio: ebd., 1939, Nr.310– 314. Der Neudruck von 1938 wurde mit der Continuatio von 1939 von Tarot übernommen. J.H.Scholte: Simplicissimus-Ausgabe, S. VII. Scholte, Grimmelshausens Simpliciana in Auswahl. Halle/S. 1943, S. 215. (Neudrucke 315–321). In der Simplicissimus-Vorrede, „Datum Rheinnec/ den 7. Septembris. Anno 1669.“ Zit. nach Scholte, Simpliciana 1943, S. 220 Scholte, Simpliciana 1943, S. 215. Stefan Trappen hat dazu auch damalige Verlegergewohnheiten herangezogen: Edition und Interpretation von Grimmelshausens „Simplicissimus“. Zur ausstehenden Edition der zweiten Fassung von 1671. In: Germanisch-Romanische Monatschrift 70 (1989), 403–423; hier S. 411.

Textkritische Probleme bei der Edition von Grimmelshausens Simplicissimus

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scheinlich vom Autor selber stammen; weder vom „Calender“ noch von den „Neben-Historien“ findet man jedoch eine Spur. Der „Calender“ wurde dann zur Ostermesse 1670 selbständig angekündigt, der Simplicissimus erscheint hier im Titel als „gantz neu umbgegossen“. Tarot nennt diese Ausgabe (E4) Felßeckers „erste Antwortausgabe“,12 Scholte hat ihn als „Calender-Simplicissimus“ bezeichnet. Er spricht von einem Konkurrenzkampf „bis aufs Blut“, die Mittel wären „damit in Übereinstimmung.“13 Erst mit der Ausgabe E5 vom Jahr 1671, dem sog. Barock-Simplicissimus (Scholte), erreichte Felßecker den ersehnten Buchhandelserfolg. Die Vorrede spricht verächtlich über den „recht verwegnen Nachdrucker“, der sich unterstanden habe, dem rechtmäßigen Verleger das Buch „aus den Händen zu reissen / und gantz unrechtmässig ihme selbst zuzueignen“.14 Sie brachte 20 Kupfer und (über das VI. Buch, die Continuatio hinaus) weitere drei Continuationen; sie lag im Herbst 1671 vor. Anders als E4 orientierte sich die Ausgabe E5 textlich an der Fassung des SchulmeisterSimplicissimus, E3a. Das ist, wenn man die Distanzierung in der Vorrede bedenkt, mehr als erstaunlich. Scholte hat den verwirrenden Tatbestand folgendermaßen kommentiert: „Diese erstaunliche Tatsache ist nicht bloß das große Rätsel der Druckgeschichte, sie ist die nicht mehr auszurottende Erkrankung der Textgeschichte. Es entstand ein Mischmasch aus Grimmelshausenscher Wortkunst in schulmeisterlicher Korrektur mit neuem Schmuck aus der Feder des Dichters.“ Es sei ein „Kuriosum, das mehr den Zeitgeist als den Dichter kennzeichnet. […] Das dichterische Genie Grimmelshausens und die sprachliche Virtuosität des Korrektors kreuzen sich darin, ohne daß sich die Komponenten reinlich trennen lassen.“15 Tarot folgte ihm darin: „Die Tatsache, daß diese ‘Prachtausgabe’ Felßeckers sprachlich dem Text des unrechtmäßigen Nachdrucks (E3a) folgt, hat die Grimmelshausen-Philologie vor ein schwieriges, bis heute diskutiertes Problem gestellt.“16 Warum hat Grimmelshausen diesmal einem Text zugestimmt, den er kurz zuvor abgelehnt hatte. Und warum hat er selber Textveränderungen und -erweiterungen für diese Neuausgabe vorgenommen, sie sogar mit drei Continuationen und der „Artzt-Zugab“ aus den WundergeschichtenKalendern versehen, für deren Verfasser man Grimmelshausen hielt?17 Schließlich verknüpft das Phönix-Kupfer diese mit den drei vorausgegangenen (rechtmäßigen) Ausgaben. Vom Textproblem abgesehen, könnte man in der Tat zur Annahme eines autorisierten oder zumindest vom Autor gutgeheißenen Drucks neigen. Grimmelshausen habe – so Scholte – jedenfalls die Überarbeitung „insoweit anerkannt, als ihr

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Tarot (wie Anm.1), S. XXI. Tarot, ebd. J.H. Scholte, Grimmelshausen und die Texte seines Simplicissimus. In: German Life and Letters. N.S.6 (1952), S.50–57, hier 52. Verweist auf den Umstand, daß Felßecker 1666 Müller den erfolgreichen „Frauen-Zimmer Spiegel“ weggenommen habe (Frankfurt 1660), weswegen Müller ihm mit gleicher Münze habe zurückzahlen wollen. Abgedruckt in Breuers Edition des Simplicissimus Teutsch. Frankfurt am Main 1989. S. 742, „Wolgemeinte Vorerinnerung“. Scholte, Simpliciana 1943, 270. Tarot (wie Anm. 1), S. XXVI. Über die Texterweiterungen insgesamt verliert Koschlig in seinem Aufsatz: „Der Wahn betreügt“. Zur Entstehung des Barock-Simplicissimus. In: Neophilologus 50 (1966), S. 324–343, kein Wort.

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Sprachstand für die stattlichere, reich illustrierte Ausgabe […] beibehalten wurde.“18 Textqualität und glanzvolle Aufmachung sowie der erweiterte Umfang mit drei Continuationen haben wohl mit das positive Urteil bedingt. Sogar Scholte hat sich zur Begeisterung hinreißen lassen, als er 1938 festellte: „Hatte Georg Müller zum ,urwüchsigen‘ Simplicissimus aus Gründen des Absatzes den ‘Schulmeister’-Simplicissimus geschaffen bzw. schaffen lassen, der Renchener Schultheiß schenkte dem Nürnberger Verleger und durch ihn der Leserwelt den ,Barock‘-Simplicissimus.“19 Es dürfte kein Zufall sein, daß gerade in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts der Simplicissimus, namentlich in der Ausgabe 1671, zu so hohem Ansehen gelangte: die „Prachtausgabe“ als „Ausgabe letzter Hand“. Hier wirkte ohne Zweifel das optimistische Konzept des Bildungs- und Entwicklungsromans nach, das im Zentrum des literaturhistorischen Interesses stand.20 Mit Bezug auf den Simplicissimus wird darauf immer wieder rekurriert.21 Auf jeden Fall hat Scholte die „organische Form“ des fünfbuchigen Romans zum Angelpunkt seiner editorischen und darstellerischen Arbeit gemacht. In solcher Struktur möchte er (mit Verweis auf Jung) den Bau des klassischen Dramas erkennen. Die Folgerungen sind zwar kühn, aber sie bringen wieder den Bildungsroman ins Spiel: „Grimmelshausen muß […] bewußt in seinem ,Simplicissimus Teutsch‘ die Gesetze der klassischen Dramaturgie befolgt haben.22 Obgleich zum größten Teil Autodidakt und in seiner Schriftstellerei auf Volkskunst eingestellt, war er offenbar so renaissancistisch geschult, daß er souverän für seinen selbsterlebten Bildungsroman eine klassische Struktur wählte.“23 Dann war auch die angebliche Erlebnisnähe des Romans von Bedeutung. Sie hat in der Entwicklung damaliger Denkmuster insofern eine Parallele, als allerorten über die historische Distanz hinweg die tiefschneidenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zum Dreißigjährigen Krieg in Beziehung gesetzt wurden (Verwandtschaftsgefühle des Expressionismus mit dem Barock!). Man lobte Grimmelshausens Gestaltungswillen als „Zeugnis jener unverwüstlichen deutschen Volkskraft, die wie eine unaufhaltsame Naturgewalt über alle Stürze und Brüche unserer Geschichte hinwegtrug zu einem neuen Gestaltungswillen, dessen politische Macht wir nun erst ganz zu verstehen und zu verspüren vermögen.“24 Man hatte in der Literatur- und Kulturwissenschaft Sinn für kühne zusammenfassende Entwürfe und großartige geistige Konstruktionen, deren Tiefe vorzugs-

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Scholte, Simplicissimus-Ausgabe, S. VII. J.H. Scholte, Grimmelshausen und das Barock. In: Internationale Forschungen zur deutschen Literaturgeschichte. Festschrift für Julius Petersen. Leipzig 1938, 69ff. Zit. b. Manfred Koschlig, Das Ingenium Grimmelshausens und das „Kollektiv“. Studien zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes. München 1977. S. 211. Melitta Gerhards Buch: Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes „Wilhelm Meister“ (Halle 1926) hat lange Zeit die Diskussion beherrscht. Vgl. Lothar Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman (1968). Stuttgart 1969. Dagegen Günter Rohrbach, Figur und Charakter. Strukturuntersuchungen an Grimmelshausens Simplicissimus. Bonn 1959, S. 7ff. Vgl. Trappen, Edition S. 414 und Anm. 78. Gemeint ist „in den drei Hauptbüchern“: Exposition („erste Berührung mit der Welt“), Höhepunkt („Jäger von Soest“), Katastrophe (Rückzug aus der Welt) eine „dramatische“ Abfolge. Scholte, Aufsatz „Der Simplicissimus Teutsch“ (erstmals 1941), in: Der Simplicissimus und sein Dichter. Tübingen 1950. S. 1–14, hier 13. Johannes Alt, Grimmelshausen und der Simplicissimus. München 1936, S. 11

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weise in der einheitlichen Verklammerung von Gegensätzlichkeiten gesehen wurde.25 Die Widersprüche zwischen verschiedenen Weltkonzeptionen wie Weltbejahung und Weltverneinung, die sich aus verschiedenartigen Perspektiven der Weltdeutung ergeben, können auch im Fall des Simplicissimus nicht eingeebnet werden: Sie sind grundsätzlicher Art und widersetzen sich einer einlinigen Deutung.26 Im Zuge des nationalistischen Interpretationsmusters versuchte man Grimmelshausens ,echtdeutschen Volksroman‘ in die postulierte Traditionslinie Parzival – Simplicissimus – Faust einzuordnen. Volker Meid hat dafür auf Arthur Moeller van den Bruck (1876– 1925) verwiesen,27 es hätte auch Friedrich Gundolf sein können. Nach wie vor ist Goethe, der in „Vollendung oder Verschmelzung“ deutsche und italienischklassisches Erbe verschmilzt, Norm und Vergleichsfigur: „Im 17. Jahrhundert war Grimmelshausen ein solcher Verschmelzer.“28 Dahinter steckt die bekannte vergleichende kulturgeschichtliche Reihung, die vom Mittelalter hinauf zu Goethes „Wandern und Werden“ läuft: Gemeinsam ist allen dreien […] die dumpfe Wanderschaft im dunklen Drang zum Heil […]. Eine Grundeigenschaft, ein Urschicksal der deutschen Seele prägt der ,Wilhelm Meister‘ wie der ,Simplicissmus‘ in den jeweiligen Zeitstoff: das Ringen des ewig werdenden deutschen Jünglings mit der Erscheinung der Welt. (Der ,Faust‘ gibt das Ringen um den Sinn der Welt). […] Die christliche Färbung darf uns nicht täuschen über das eigentliche Wesen der deutschen Seele, die sich hier bezeugt in Gleichnissen des dreißigjährigen Kriegs: es ist das germanische Fahren und Schweifen, das Grauen, die trunkene Weltangst, das bild- und blickflüchtige, untergangssüchtige, untergangsscheue, untergangsselige Alleinsein mitten im Wirbel der Welt, das Erlöschen nicht in der Ruhe, sondern in der Bewegung, in der sausenden Zeit selbst. […] Wie alle Bücher vom deutschen Wandern und Werden, wie ,Parzival‘, ,Faust‘, ,Wilhelm Meister‘, schließt auch der ,Simplicissimus‘ ohne Vollendung, mit Verzicht … auch dies Buch scheint über seinen Abschluß hinaus weiter zu fordern und beliebiger Fortsetzungen fähig, seinem Keim nach mit Unendlichkeit, mit dem Nichtendenkönnen behaftet.Was sich im ,Parzival‘ als Gralsuche, im ,Wilhelm Meister‘ als Bildungsstreben, im ,Simplicissimus‘ als Gottverworrenheit verkörpert, ist immer wieder das alte odinshafte Weltwallen, zugleich Wallen der Welt und Wallen durch die Welt.29

Für Gundolf ist der Simplicissimus, anders als Faust und Wilhelm Meister, „nach Wesen und Weg ein reindeutsches“, nicht ein „europäisch-deutsches Werk, darum auch nicht von europäischer Strahlung.“30

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Man denke an die Beschreibung der ‘barocken Weltanschauung’ bei Emil Ermatinger: „Eben dies […], das Sich-Emporringen der Weltlust und Diesseitstüchtigkeit gegen den schweren Druck des Weltleidens und der Jenseitsbereitschaft, und umgekehrt, die gewaltsame Hemmung der Weltbejahung durch die Diesseitsverneinung in einer letzten höchsten Steigerung, ist Sinn und Inhalt des Begriffes Barock.“ (Barock und Rokoko in der deutschen Dichtung. Leipzig und Berlin, 2. Auflage 1928, S.28) Vgl. Volker Meid, Grimmelshausen: Epoche – Werk – Wirkung. München 1984, Seite 121 f. (Beck’sche Elementarbücher) Meid, Grimmelshausen, 230ff. Friedrich Gundolf, Grimmelshausen und der Simplicissimus. (1923) Interpretationen. Hg. v. Jost Schillemeit. Bd. 3: Deutsche Romane von Grimmelshausen bis Musil. S. 11–29, hier 19. (Fischer Bücherei Bd. 716, 1966) Gundolf, Grimmelshausen, S. 21f. und 27f. Gundolf, S. 28.

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Scholte vertrat die Auffassung eines mit der Zeit sich ändernden Schreibstils, der als „Barockisierung“ zu kennzeichnen sei. So sei die Ausgabe E5 nichts weiter als eine dem Zeitgeschmack entsprechende Ausgabe gewesen: Die Überarbeitungstendenz ist ohne weiteres klar. Grimmelshausen arbeitete in Renchen nach einem kontrollierbaren Prinzip. Er kam dem Geschmack seiner Leser entgegen durch Zugeständnisse an den Stil der Zeit. Es sind die Schnörkel des Barock, durch die der Volksschriftsteller seinen Volksroman zu verschönern suchte. So entstand der „Barock-Simplicissimus.“31

Auch Manfred Koschlig hatte anfänglich, trotz der problematischen Textgestaltung, die Echtheit der Ausgabe E5 verteidigt,32 war aber dann zu einem ganz anderen Urteil gekommen. Koschligs Ansichten gestalteten sich immer kühner. Die in seiner Dissertation Grimmelshausen und seine Verleger (1939) aufgestellte Hypothese eines Bruchs zwischen Grimmelshausen und dem Verleger Felßecker wurde in Aufsätzen zwischen 1966 und 1977 erweitert, bis hin zur Annahme eines Korrektors im Auftrag Felßeckers. Diesen hat Koschlig ausfindig gemacht und als Johann Christoph Beer (1638–1712) identifiziert. Die „Bruch-Hypothese“ sollte durch Beers „simplicianische Arbeit“ (Koschlig) untermauert werden. Koschlig war von der Richtigkeit seines Konstrukts fest überzeugt. So referiert ihn Stefan Trappen: „Er sei es, der für alle an dem Roman vorgenommenen Veränderungen die Verantwortung trage. Echt sei nur die Erstausgabe des Romans (E1) sowie deren minimal abweichender Nachdruck (E2).“33 Trappen hat Koschligs abenteuerliche Thesen grundlegend kritisiert, z.T. an Tarot anknüpfend.34 Ferner sollte die angebliche Korrektorarbeit natürlich als eine „Poetadizee“ betrachtet werden: „sie entlastet den Dichter von der Verantwortung für den verderblichen Verlauf der Textgeschichte seines Romans.“35 Scholte basierte sich in seiner Simplicissimus-Edition von 1938 auf der ,editio princeps‘36 und wurde damit auch für die Ausgabe in den Gesammelten Werken (1967, Niemeyer Verlag) maßgebend. Der neue Herausgeber Tarot hat im Einvernehmen mit dem Verlag (aus Kostengründen) den Drucksatz von Scholte übernommen, sowohl für den Simplicissimus Teutsch wie für die Continuatio. Bekanntlich hatte dieser beide Werke getrennt herausgegeben, weil das 6. Buch die „wohlabgewogene Fünfgliedrigkeit des in sich geschlossenen Aufbaus“ zerstöre.37 Tarots Ausgabe vereint sie und bringt gesondert ein Verzeichnis der Berichtigungen und der aufgelösten Abkürzungen (zum Simplicissimus: Seite L bis LIV) bzw bei der Continuatio jeweils pro Seite (unter dem Strich). – Scholte hat seine Meinung im Lauf der

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Scholte, Grimmelshausen und das Barock, zit. nach Der Simplicissimus und sein Dichter. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1950. S. 216. Manfred Koschlig, Grimmelshausen und seine Verleger. Leipzig 1939. S. 202ff. (Palaestra 218) Trappen, Edition 408, mit Verweis auf Koschlig, Ingenium 265ff., 454ff., 482ff. und pass. Trappen, insbes. S. 407–409. Tarot (Notwendigkeit, 1970) S.83f. und 100. Trappen, Edition 409. Das Titelblatt dieser Ausgabe hat programmatische Bedeutung: Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. Abdruck der editio princeps (1669) mit der stark mundartlich gefärbten, nicht von einem berufsmäßigen Korrektor überarbeiteten Originalsprache des Verfassers. J. Petersen, zit. nach Tarot in seiner Einleitung, Seite XXXIX.

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Jahre ebenfalls revidiert. Er nahm1942 in einem Aufsatz die Bezeichnung „Ausgabe letzter Hand“ aufgrund überzeugender Argumente zurück,38 bis er in seiner letzten Grimmelshausen-Arbeit endgültig von der Ausgabe E5 als „Geschenk des Dichters“ Abstand nahm:39 Der größte Irrtum der Grimmelshausenforschung war, im Barock-Simplicissimus eine „Ausgabe letzter Hand“ im Goetheschen Sinne zu erblicken: sie ist im Gegenteil ein Ungeheuer, das nur ein blutiger Konkurrenzkampf, ein unliterarisches Zusammenarbeiten zwischen einem Verleger und einem Kalendermacher hervorbringen konnte. Um den begabten Erzähler Grimmelshausen zu retten und die jetzige Leserwelt die ungetrübte Schönheit seiner Schöpfungen genießen zu lassen, ist es nötig, alles rückgängig zu machen, worin der Geschäftsmann den Künstler unterdrückte.

Freilich ging Scholte noch davon aus, daß mit dem Geschäftsmann und Kalendermacher der Autor zu identifizieren wäre, der mit dem Nürnberger Verleger die „gemeinsame Verstümmelung seines Lebenswerks“ um des schnöden Mammons willen unternommen hätte.40 Statt von einer Ausgabe letzter Hand (inklusive des damit verbundenen Nimbus) hätten wir es also mit einem „Ungeheuer“ und „Kuriosum“ zu tun. Das ist ein großer Schritt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Hermann Kurz und Felix Bobertag – 1863 der eine, 1882ff. der andere – die Ausgabe E5 zur Grundlage ihrer wissenschaftlichen Ausgaben gemacht hatten (wobei Bobertag die Textgestalt von Kurz übernahm), wohlüberlegt und nach Maßgabe ihrer Zeit wohlinformiert. Damit nicht genug: 1970 verkündete Tarot, der Barock-Simplicissimus sei eine autorisierte Ausgabe. Er schreibt: „Die Ausgabe E5 ist […] weiterhin unter die echten Ausgaben zu rechnen[…]. Es ist zugleich deutlich geworden, daß nicht nur die Ausgabe E5, sondern auch die ersten sechs Jahrgänge des Wundergeschichten-Kalenders in einer vollständigen Ausgabe vorzulegen wären, weil wir sie weiterhin […] unter die echten Werke Grimmelshausens zu rechnen haben. Eine solche Ausgabe habe ich geplant und hoffe, sie in absehbarer Zeit vorlegen zu können.“41 Dieser Vorsatz wurde, soweit ich sehe, bisher nicht verwirklicht. Bezeichnend ist vielleicht, daß er zustimmend Koschligs Satz zitiert: „Und woher wissen wir mit Sicherheit, daß W.E. Felßecker die fünfte Simplicissimus-Ausgabe bezüglich Textgestalt und Umfang tatsächlich mit voller Zustimmung Grimmelshausens hinausgehen ließ?“42 Interessanterweise haben die postumen Gesamtausgaben der Jahre 1683/84, 1685-99 und 1713

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Scholte, Vorschlag zur Güte. Zu Grimmelshausens „Simplicissimus“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 30 (1942), S. 58–64. Grimmelshausen und die Texte seines Simplicissimus. In: German Life and Letters 1952, S. 57. Grimmelshausen und seine Verleger, S. 206. Tarot, Notwendigkeit und Grenzen der Hypothese in der Grimmelshausen-Forschung. Zur Echtheitsfrage des Barock-Simplicissimus. In: Fs. f. Erik Lunding. Orbis Litterarum 25, Nr.1–2 (1970), S. 71–101, hier S. 99. Der Aufsatze ist gegen Koschligs Argumente gerichtet. Auch zit. b. Koschlig, Das Ingenium, 213f. In seiner Simplicissimusausgabe ist die feste Überzeugung einer nüchternen Einschätzung gewichen und wird nur der Vorsatz mitgeteilt: „Zu gegebener Zeit soll ein Abdruck der Ausgabe E5 mit den Lesarten der Ausgaben E3a und E6 folgen.“ (S. XL) Koschlig, Ingenium. S. 177. Volker Meid hat in seiner Besprechung der Editionsprobleme diesen Satz ebenfalls zitiert: Grimmelshausen. (1984) S.101 (im Abschnitt „Textgeschichte“, S.99–101).

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die drei Continuationen ebenfalls nicht aufgenommen, nach der Vermutung Scholtes und Koschligs aus Gründen der Unechtheit. Dazu noch einmal Koschlig: So bleibt die Frage, ob etwa auch die drei Continuationen, die aus den ersten Wundergeschichten-Kalendern in den Barock-Simplicissimus aufgenommen wurden, samt der Zugab, dem Flugblatt Abbildung der wunderbarlichen Werckstatt des Weltstreichenden Artzts Simplicissimi, nicht von Grimmelshausen stammende, sondern von Felßecker anderwärts in Auftrag gegebene Abwehrprodukte gegenüber dem Nachdrucker und damit Elemente eines skrupellosen Geschäftseifers waren, die mit unserem Dichter nichts zu tun haben. […] Und dann; wie platt liest sich das alles, die drei Continuationen, die Kalendergespräche, die Schertz-Reden. Wer Grimmelshausen im Ohr hat, legt diese Sachen bald enttäuscht weg.43

Koschlig hat die Subjektivität seines Urteils zwar erkannt, aber die Continuationen dennoch nicht Grimmelshausen zuschreiben wollen. Scholte hat davon aber nichts wissen wollen, er hat in der Edition der Simpliciana seinen Standpunkt dargelegt: „Es geht nicht […] an, die Continuationen, so abträglich sie der religiösen Wirkung des auf Gott gestellten Abschlusses der Lebensbeichte des insularischen Einsiedlers sind, endgültig vom Simplicissimus zu trennen […]; der Dichter selbst […] hat sie nun einmal im Barock-Simplicissimus als Fortsetzungen seines Romans anerkannt.“44 Wohl mit Recht meinte Koschlig, das sei nun aber umgekehrt argumentiert, damit sei jedenfalls der Echtheitsbeweis nicht zu führen. Günther Weydt ging behutsamer vor und postulierte, daß Grimmelshausen an den Continuationen „sicher nicht mit derselben Hingabe gearbeitet“ habe wie „am Hauptroman“. Man dürfe aber nicht so weit gehen, „Grimmelshausen jeglichen Anteil an diesen vielfach interessanten Stücken abzusprechen.“45 Alles in allem kann man folgern, daß die Authentizität nur für die beiden Erstdrucke feststeht, über alles andere und über alle weiteren Drucke zu Lebzeiten kann man nur spekulieren und Vermutungen äußern, aber sie bringen keine letztgültige Sicherheit und somit keine Lösung der editorischen Probleme. Hier setzt Trappen mit einem bemerkenswerten Vorschlag an. Er wirft der Forschung vor, die Editionsarbeit bleibe trotz aller Kritik an Scholte und vor allem Koschlig im 20. Jahrhundert und bis heute auf die Erstauflage des Simplicissimus beschränkt, diese gelte nach wie vor als selbstverständlicher Ausgangspunkt aller Editionen.46 Neben dem sicheren Echtheitsargument hat man die Textänderungen der zweiten Fassung von 1671 ins Feld geführt, die seit Scholte als ästhetisch zweitrangig und zwar als „barocke“ Überformungen gelten. Das sei, wie Trappen an Beispielen erläutert, nach den Ergebnissen der neueren Rhetorikforschung unhaltbar und ohnehin eine irrige Ansicht, weil die Textänderungen

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Koschlig, Ingenium. S. 176f. Auch Breuer ist der Ansicht, die Continuationen seien nicht von Grimmelshausen: „[…] vermutlich das Werk eines Lektors, der Grimmelshausens Erzählstil mehr schlecht als recht nachgeahmt hat.“ Und über die Texterweiterungen von 1671: „Auch die übrigen textlichen Ergänzungen erwecken nicht den Eindruck, daß sie von Grimmelshausen stammen, eher von einem Lektor des Verlagshauses Felßecker.“ Grimmelshausen-Handbuch. München 1999, S.47. J.H. Scholte (Hg.), Grimmelshausens Simpliciana in Auswahl. Weitere Continuationen des abentheurlichen Simplicissimi. Halle 1943, S. 226. (NDL Nr. 315–421) Weydt, Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, 47f. Trappen, S.409.

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allesamt im Zeichen der Intensivierung und Steigerung stehen und somit nur Stiltendenzen der ,editio princeps‘ fortsetzen: „Denn wo immer in der zweiten Fassung geändert oder erweitert wurde, läßt sich zeigen, daß bereits in der Erstfassung kräftig entwickelte Anlagen und Gestaltungsprinzipien aufgegriffen und intensiviert wurden.“47 Dieter Breuer ist in seiner Grimmelshausen-Edition (1989) bei der Textgestaltung des Simplicissimus andere Wege gegangen. Nach seiner Ansicht hätten die Vermutungen über Echtheit und Unechtheit „den Nachteil, daß sie sich auf keinerlei historische Quellen stützen können.“48 Welche Folgerungen wären daraus für die Editionsphilologie im Fall des Simplicissimus zu ziehen, und wie wurde das Problem in dieser jüngsten Edition angegangen? Da er sich für die Textgestaltung an Scholte und Tarot anschließt und auch die Ausgabe von 1671 berücksichtigt, wäre an eine Weiterentwicklung in pragmatischem Sinn zu denken gewesen. Die Dinge lagen aber grundsätzlich anders. Für Scholte lagen die Fragen alle auf der Ebene des Dichtergenies, das es zu „retten“ galt. Seine Editionsarbeit hat er als eine „Restaurierung“ verstanden, sie sei der Versuch, „alles Grimmelshausensche in möglichst authentischer Form zu bringen und alles Pseudogrimmelshausensche auszuschließen.“49 Das müßte in der Edition dazu führen, „durch Trennung des S.T. [=Simplicissimus Teutsch] von der Cont. und wiederum von den ‘Continuationen’ den unvergänglichen Dichterruhm von den zeitbedingten Flecken seiner Tagesschriftstellerei zu reinigen“ und „den genialen Erzähler vor den ebenso zeitbedingten Konzessionen zu beschützen, die er in der Unsicherheit des Autodidakten bedauerlicherweise einer schulmeisterlichen Vollkommenheit machte. […] Wer zum Dichter will, der hat in der Arbeit des Korrektors einen fremden und schädlichen Eingriff zu sehen, dessen Einfluß beseitigt werden muß.“50 Scholte hat sich als Hüter des Dichters verstanden,51 der sich mit Textänderungen am eigenen Werk „versündigt“ habe; davon wäre das Werk zu befreien. Man weiß, wie das in der Edition der Simpliciana aussieht, ein kompliziertes Verfahren, das die Texterweiterungen mit ihrem zugehörigen Kontext verzeichnet, in Scholtes Worten: „eine Trennung in selbständigere, umfangreichere und untergeordnete, kleine. Diesem mehr oder weniger subjektiven Teilungsprinzip durfte aber nicht die Zusammengehörigkeit des Ganzen geopfert werden […]“.52 Das bedeutet: „über dem Strich diejenigen Erweiterungen, die literarische Beachtung verdienen, unter dem Strich die weiteren Zusätze, die philologisch nun einmal unentbehrlich sind.“53

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Trappen, S. 412ff., Zitat 415. Grimmelshausen, Werke I,1. Simplicissimus Teutsch. Frankfurt am Main 1989. S. 731. Vgl. seinen Aufsatz Restaurierung des Simplicissimus. [Urspr.1944] In: Günther Weydt (Hg.), Der Simplicissimusdichter und sein Werk. Darmstadt 1969, S. 422–437. Das Zitat entstammt dem Nachwort zum Aufsatz Grimmelshausens Reise nach Nürnberg [1940], in: J.H. Scholte, Der Simplicissmus und sein Dichter, (Anm. 31) S.184. Scholte, Simpliciana 1943, S. 271. Vgl. Scholtes Aufsatz über die Restaurierung des Simplicissimus (erstmals 1944), in: Der Simplicissimusdichter und sein Werk, hg. v. Günther Weydt. Darmstadt 1969, S. 422–437. Scholte, ebd. 232. Scholte, ebd.

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Grundsätzliche Kritik ist dort angebracht, wo von einem längst überholten Dichterbild ausgegangen wird; zweitens wird die Subjektivität des Urteils sowohl von Scholte wie Koschlig erkannt, führt dennoch aber nicht zu editorischen Konsequenzen in der Textherstellung. Im Grunde ist man nicht über Adelbert von Keller hinausgelangt, der zu den Texterweiterungen bemerkt hat: Sie seien dem Dichter „nur äußerlich aufgedrängt“ und können „nur selten als verbeßerungen gelten“, es seien „meist unnöthige, störende, oft geschmacklose überhäufungen“ beziehungsweise „ganz überflüßige erweiterungen, die der buchhändler einschieben konnte, nur um sagen zu können, er habe etwas neues.“54 Man beachte, wie dieses abqualifizierende Urteil sich von dem Scholtes unterscheidet! Rolf Tarot hat die methodische Grundlage aller jener Probleme in der bisherigen textphilologischen Tradition gesehen, die den Autorwillen zum Ausgangspunkt wählt.55 Für die frühe Neuzeit sollte man beim Fehlen von Handschriften und dergleichen, die solchen Autorwillen ausdrücklich wiedergeben, den flexiblen Begriff ,Autorisation‘ anwenden: „Fehlende Authentizität der Sprache und Aufnahme autorfremder Textteile schließen im 17. Jahrhundert die Autorisation nicht aus.“56Tatsächlich wäre aus anderen Quellen eine Autorisation zu rekonstruieren. Aber dennoch möchte man im Falle Grimmelshausens aus dem editorischen Rechenschaftsbericht erfahren, wie sich die verschiedenen Ausgaben verhalten und auch die Abweichungen zuverlässig verbucht sehen. Breuer hat seiner Edition die Varianten zur Erstausgabe beigegeben und außerdem – neben den Vorreden der Ausgaben E4 (1669) und E5 (1671) – gesondert Texterweiterungen von E5, sowie in Auswahl Textpartien aus der ersten barocken Gesamtausgabe von 1683/84. Damit ersparte er sich gleichsam eine Stellungnahme zur umstrittenen Ausgabe E5, aber diese erhält dennoch unverkennbar eine Sonderstellung. Konsequenter wäre eine andere Entscheidung gewesen, die ebenfalls Breuers bedenkenswerter Erwägung hinsichtlich der bisher kaum reflektierten Unterschiede zwischen den Autor-Verleger-Beziehungen des 17. Jahrhunderts und der Neuzeit Rechnung trägt.57 Wichtiger ist ein weiterer Punkt, der im Weiterführen von Scholtes Darbietungsprinzip der Texterweiterungen zu sehen ist. Breuer verspricht zwar die Erweiterungen zum Barock-Simplicissimus, aber führt lediglich umfangreichere Stellen auf, die Scholte von „literarischer Bedeutung“ erachtet hatte, während weitere, das heißt zahllose kleinere, aber sogar bei Scholtes eingestandener Subjektivität des Urteils alles andere als unwichtige Satzpartien überhaupt nicht verzeichnet werden und in der Regel auch im Variantenapparat fehlen. Man mag über die ästhetische Qualität der Erweiterungen der Ausgabe E5 schließlich denken, was man will, man sollte das Urteil dem Leser/Benutzer freistellen und ihm nicht die Informationsmöglichkeit nehmen oder ihn (wie hier) irreführen, indem man stillschweigend ausgiebig – und

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Adalbert von Keller, Der abentheurliche Simplicissimus, 1854, 1862. II. Band, 1177 bzw. 1178. Tarot, Zum Problem der „Echtheit“ barocker Texte: Grimmelshausen und Anton Ulrich. In: Chloe, Band 4. ‘Monarchus Poeta’. Hg. Jean-Marie Valentin. Amsterdam 1983, S. 31–45. Tarot, ebd., 44. Breuer, S. 732.

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subjektiv – selektiert. Breuers schöne und reichlich kommentierte Edition bedeutet hinsichtlich der Textkritik einen Schritt hinter Scholte zurück.58 Es sei noch einmal die Frage aufgeworfen, ob das Autor- und Werkverständnis der Frühen Neuzeit, das im Verhältnis zu späteren Jahrhunderten um einiges unproblematischer war, dagegen aber von einer stärkeren Verlegerabhängigkeit gekennzeichnet wurde, nicht einen anderen Umgang mit Barocktexten und deren Edition erfordert. Mit Beziehung auf den Simplicissimus würde das bedeuten, daß nach Feststellung der Textgrundlage und Bestimmung der Druckverhältnisse grundsätzlich alle Textvarianten, Streichungen und Erweiterungen sämtlicher Ausgaben zu Lebzeiten des Autors verzeichnet werden, ohne im Apparat eine unterschiedliche Behandlung zu erfahren. Man hätte alles Wissenswerte auf einen Blick beisammen, von E1 zu E5 und E6. Offenbar geistert noch die „reine“ Erstausgabe herum. Schließlich wären dann auch die Texterweiterungen der postumen Gesamtausgaben zu berücksichtigen, die bis ins 19. Jahrhundert das Grimmelshausenbild bestimmt haben.59 Es dürfte nicht allzu schwer sein, dafür eine geeignete Darstellungsform zu entwerfen.60 Die Grimmelshausenphilologie wäre damit von einer Last befreit.

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Auch offensichtliche Fehler wurden nicht berichtigt, wie etwa in der Cont., Kap. 26 (Breuer 693,4f.): Der ratlose Leser muß auf S.1002 nachschlagen. Ein anderes Beispiel findet sich im V. Buch (Breuer 547,3), wo die Variante übelriechend für („der Athem schmeckend“) fehlt und der Stellenkommentar auch keinen Aufschluß gibt. Es sei auch auf die kurzgefaßte Darstellung der barocken Gesamtausgaben bei Volker Meid verwiesen, a.a.O. S. 203–208, insbes. auf die Beispiele bei Peter Heßelmann, Simplicius Redivivus. Eine kommentierte Dokumentation der Rezeptionsgeschichte Grimmelshausens im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992, S. 64ff. Hier auch eine ausführliche Beschreibung und Darstellung aller Gesamtausgaben (S. 72ff.), deren eminente Bedeutung für die Lesersteuerung in Richtung auf eine protestantische Erbauung und Moralisation sichtbar gemacht wird. Wie wichtig auch hier ein Variantenvergleich ist, lehrt die Stelle bei Breuer, Simplicissimus S.790: („daß der Wolff nit kom und Scha da dan“, wo Keller S.34,16 bringt: „Schada dau“, was leicht als mundartlich für ‘Schaden tue’ zu verstehen ist.

Johannes John / Herwig Gottwald

Textschichten Ein Werkstattbericht zur Edition der späten Erzählungen Die Mappe meines Urgroßvaters (3. und 4. Fassung) und Der fromme Spruch (1. und 2. Fassung) innerhalb der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters

I. Das Editionsmodell zu Adalbert Stifters letzter Erzählung Der fromme Spruch, das Walter Hettche und Johannes John auf einem Sektionsvortrag der Internationalen Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition im Februar 2002 in Aachen vorgelegt haben, und das nicht nur im dortigen Kreis der Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer, sondern anschließend auch auf der alljährlichen Arbeitskonferenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Historisch-Kritischen StifterAusgabe im Oktober 2002 Billigung fand, läßt sich mittlerweile im Tagungsband Autor – Autorisation – Authentizität nachlesen.1 Dennoch sei an dieser Stelle die Ausgangslage in aller Kürze nochmals rekapituliert: Diese letzte, zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Erzählung Stifters liegt in zwei Fassungen aus dem Jahr 1867 vor, die sich beide im Stifter-Archiv des Prager Clementinums befinden.2 Die erste Fassung H1 bildet eine eigenhändige, 36 Seiten umfassende Reinschrift Stifters, in der sich die Überarbeitungen gemessen an seiner sonstigen Praxis als gering erweisen: Größere Revisionen oder Streichungen fehlen, wiewohl auch diese Handschrift in editionsphilologischer Hinsicht einige Tücken aufweist.3 Die editorischen Hauptprobleme liegen vielmehr in der Textkonstitution des Zeugen H2: Dabei handelt es sich um eine 189 Seiten umfassende Abschrift von unbekannter Hand, die gegenüber der Vorlage H1 rund 780 Differenzen aufweist, die sich

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Walter Hettche und Johannes John: Adalbert Stifters Erzählung „Der fromme Spruch“. Überlegungen zur Edition mehrfach autorisierter Fassungen eines Nachlaßtextes. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung. Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21), S. 287– 291. Im dortigen Stifter-Archiv unter den Inventar-Nummern StA 229/230. Für die wiederholte Bereitwilligkeit, die Handschriften dort eingehend einsehen zu können, sowie die kollegiale Hilfsbereitschaft sei an dieser Stelle nochmals PhDr. Kamil Boldan und Mgr. Miloš Dostal (Prag) sehr herzlich gedankt. Der Dank gilt der Handschriftenabteilung des Prager Clementinums ebenso für die Erlaubnis, hier vier Seiten aus H2 abbilden zu können. Zur Problematik des letzten Satzes vgl. Johannes John: „Sagt“ oder „sagte“? – Editionsphilologische Überlegungen zum letzten Satz von Adalbert Stifters Erzählung Der Fromme Spruch. In: Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert. Biographie – Wissenschaft – Poetik. Hrsg. von Alfred Doppler, Johannes John, Johann Lachinger und Hartmut Laufhütte. Tübingen 2007, S. 295–306.

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nicht auf Interpunktion und Orthographie beschränken, sondern oft auch von substantieller, d. h. sinnverändernder oder gar sinnentstellender Art sind, wenn dort etwa aus einer „Sonnenlage“ nunmehr „Sommertage“, „Zofen“ zu „Zafen“ oder „Rappenfüllen“ zu „Roggenfüllen“ werden – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. In dieser Abschrift hat nicht nur Stifter zum Teil umfangreiche Korrekturen und Revisionen vorgenommen; darüber hinaus hat sein Nachlaßverwalter Johann Aprent für die erstmalige Edition des Frommen Spruchs in den von ihm herausgegebenen nachgelassenen Erzählungen4 (1869) in Form umfänglicher Überarbeitungen selbst massiv in den Text eingegriffen, sodaß in H2 drei Textschichten unterschiedlicher Autorisations- und Authentizitätsgrade unterschieden werden müssen: 1. authentischer und autorisierter Text, nämlich Passagen in Stifters Hand; 2. autorisierter, aber nicht authentischer Text, nämlich derjenigen des Abschreibers; 3. weder authentischer noch autorisierter Text, nämlich die postumen Eingriffe Aprents. Bisherige Editionen entschieden sich, jeweils einer der beiden Fassungen den Vorzug zu geben: So wurde innerhalb der Prag-Reichenberger Ausgabe in Band 13.2 lediglich die 2. Fassung, und diese ohne jeglichen kritischen Apparat, abgedruckt. 1961 legte dann Kurt Gerhard Fischer in einem Separatdruck (s)eine Edition der 1. Fassung vor, die 1970 in einem zur Gänze dem Frommen Spruch gewidmeten Heft der Vierteljahrsschrift des Adalbert-Stifter Instituts einer kritischen Sichtung unterzogen wurde.5 Nicht nur weil sich Fischers verdienstvolle Edition gegenüber der Transkription, wie sie die Herausgeber der 3. Abteilung der Historisch-Kritischen Stifter-Ausgabe erstellten, an rund 865 Stellen unterschied, was auch hier über Modernisierung und Normalisierung hinaus Lesungen von z. T. gravierend abweichender Art betraf, sondern vor allem, weil H1 und H2 – analog zur ,3. und 4.‘ Mappe meines Urgroßvaters – zwei selbständige Fassungen des Frommen Spruchs repräsentierten, stand der Entschluß von Beginn an fest, innerhalb der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters auch beide Fassungen zu präsentieren. Was im Februar 2002 lediglich als Konzept vorgestellt wurde, liegt mittlerweile abgeschlossen vor. Ende 2003 erschien, herausgegeben von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff, der 2. Band der 3. Abteilung, die alle Erzählungen versammelt, die nicht in den Studien oder den Bunten Steinen publiziert wurden.6 Diesen Band 3,2 be-

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Erzählungen von Adalbert Stifter. Gesammelt und dem Nachlasse entnommen. Hrsg. von Johann Aprent. 2 Bde. Leipzig 1869; dort im 2. Band, S. 121–217. Adalbert Stifter: Sämtliche Werke. Begründet und hrsg. von August Sauer. Fortgeführt von Franz Hüller, Gustav Wilhelm u. a. Prag 1904ff., Reichenberg 1925ff., Graz 1958ff. 25 Bde. Reprint: Hildesheim 1972 (= PRA). Dort PRA 13.2, S. 389–480; Adalbert Stifter: Der fromme Spruch. Erzählung. In der ersten Fassung zum ersten Mal hrsg. von K. G. Fischer. Frankfurt/Main 1962.; VASILO 19 (1970), Folge 1/2. Vgl. hierzu Hettche/John 2004 (Anm. 1), S. 289. Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Neuere deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. von Alfred Doppler u. Hartmut Laufhütte. Stuttgart, Berlin, Köln 1978ff. (künftig abgekürzt als HKG). Dort: HKG 3,2. Erzählungen. 2. Band. Hrsg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. 2003. Der fromme Spruch dort auf den S. 176–361.

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schließt ein Paralleldruck der beiden Fassungen des Frommen Spruchs, was den daran interessierten Benutzerinnen und Benutzern einen übersichtlichen, eindrücklichen und zugleich komfortablen Fassungsvergleich ermöglicht. Die Textkonstitution von H2 orientierte sich dabei an dem in Aachen erstmals öffentlich vorgestellten Modell und traf somit Entscheidungen prinzipieller Art, da sie sowohl Aprents postume Eingriffe als auch sämtliche Abschreiberfehler – ob sinnentstellend oder, sinnvoll‘ – schlicht ignorierte. Relevant blieb somit allein Stifters vollständig vorliegender, allerdings auf zwei Zeugen verteilter Text und in H2 ausschließlich diejenigen Um- und Überarbeitungen, die dieser dort eigenhändig vorgenommen hatte. Daß damit partiell ein Text konstituiert wurde, der in einzelnen Segmenten Worte oder Passagen aus H1 in H2 übernahm, war den Editoren dabei bewußt.7 Eine solche zweifellos rigorose Vorgehensweise erschien deswegen geboten, weil – von der Problematik passiver Autorisation ganz abgesehen8 – die Alternativen dazu gewesen wären, entweder die Resultate der eingeschränkten Lesefähigkeit eines uns unbekannten Abschreibers zu kanonisieren, die Stifter selbst ja in zweifellos systematischer Absicht punktuell korrigiert hat, oder aber in der eigenmächtigen Entscheidung zwischen zu belassenden oder aber zu emendierenden Fehllesungen einen Mischtext zu erstellen, der sich von H2 noch weiter entfernt hätte. Wobei die fast 800 im Rahmen der Transkriptionsarbeiten penibel aufgelisteten Fehlleistungen des Schreibers natürlich en détail dokumentiert wurden und an geeigneter Stelle – entweder im Apparatband oder aber im Internet – eingesehen und studiert werden können. Als wesentlich problematischer erwies sich hingegen in einigen Passagen die Trennung und eindeutige Zuordnung unterschiedlicher Textschichten: eine Problematik, mit der sich innerhalb der Historisch-Kritischen Ausgabe zuvor schon insbesondere die Herausgeber der 6. Abteilung, die mit der Edition der 3. und 4. Fassung der Mappe meines Urgroßvaters befaßt waren, konfrontiert gesehen hatten.

II. Die beiden letzten Fassungen der Mappe meines Urgroßvaters liegen in zwei Handschriften vor, die ebenfalls in der Prager Staatsbibliothek Clementinum aufbewahrt werden.9 Deren Besonderheit besteht darin, daß sie auf den ersten 62 Manuskriptseiten in ineinander geschriebener Form beide Werkfassungen enthalten; erst ab Seite 63 werden diese auf getrennten Blättern fortgeführt und brechen beide zufällig jeweils auf Seite 164 mitten im Text ab. Stifter hat 1864 die dritte Fassung seines Lieblings-

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So blieb in beiden Fassungen (HKG 3,2, S. 292,15 / 293,15) „Um fünf Uhr des Morgens“ stehen, obwohl es in H2 „Um 5 Uhr des Morgens“ heißt; problematischer schon die Entscheidung, wenn in H2 statt „Gewöhne dir nur nicht die frevlen Reden an, die dein Oheim hat“ (S. 226,10f.) von Schreiberhand „Gewöhne dir nur nicht die frevlen Reden an“ steht. Da Stifter diese Abschrift nach „Reden“ jedoch durch die Einfügung „deines Oheims“ ergänzt, steht sie in dieser autorisierten Form dann auch in der 2. Fassung (S. 227,10f.) Vgl. hierzu Hettche/John 2004 (Anm. 1), S. 290f. Vgl. den Kommentar von Alois Hofman zu seiner Faksimile-Ausgabe und Transkription der Handschrift: Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. Faksimileausgabe der Dritten Fassung. Leipzig 1987 (= Manu scripta 3, hrsg. v. Karl-Heinz Hahn), S. 34f.

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stoffs begonnen, mußte die Arbeit nach wenigen Monaten unterbrechen und begann 1867 mit einer neuerlichen Überarbeitung des Fragments, die sich schließlich zu einer weiteren (vierten) Fassung entwickelte.10 Es gibt keine vom Autor autorisierten Fassungen, Stifter war bekanntlich bis zuletzt um permanentes Überarbeiten und Korrigieren bemüht. Die von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche und Johannes John erarbeitete Edition bietet zum einen in Form eines integralen Apparates die komplizierte Textgenese dieser beiden Fassungen bis zu ihrer Trennung.11 Dabei wurde versucht, sämtliche Textstufen voneinander abzuheben und in ihren Beziehungen zueinander darzustellen sowie alle Arbeitsanweisungen, Bleistift-, Rötelstift-, Tintenkorrekturen, Marginalien, Emendationen und Besonderheiten der Varianten zu verzeichnen. Mit Hilfe dieses Integralapparates wurden die Lesetexte der beiden Fassungen rekonstruiert, die in zwei getrennten Bänden ediert sind.12 Diese bieten natürlich auch die restlichen Teile der dritten und der vierten Fassung als Lesetexte mit Werkstellenapparaten, die (in Form von Anmerkungen) die Aufgaben des Integralapparates übernehmen. Bei der Abhebung der einzelnen Textschichten und deren Zuordnung zu einer Textfassung tauchten mehrere Probleme auf. Editorisches Prinzip bei der Erstellung des Lesetextes war die Zuordnung der jeweils letzten Korrekturschicht zu einer Fassung. Tinten-, Rötel- oder Bleistiftkorrekturen wurden dabei gleich behandelt. Die folgenden Beispiele zeigen auch, daß es sich bei beiden Textfassungen um von den Editoren konstituierte Texte handelt. Beispiel I (Hs. S. 21)13 Im Integralapparat wird diese Stelle folgendermaßen präsentiert: Ich muß das wissen, ich habe mit tausenden gesprochen, du mit keiner. F3 >Mit dem, w@as innerhalb (1) ihre>r@ schönen >Hülle@ (2) ihreªsº schönen ª>lokigen Hauptes@º (3) ihreªrº >schönen@ ªStirneº >ist, geben sie sich nicht ab, sie@ ergründen F4 ªWºas innerhalb ihrer Stirne ªist, mit demº ergründen ªsieº nichts, nur mit den Augen, die außerhalb sind, langen F3 sie

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Zur Textgenese vgl. Herwig Gottwald: Beobachtungen zu Stifters Weg von der dritten zur vierten Fassung der „Mappe meines Urgroßvaters“. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 1997, Bd. 4 (2000), S. 16–35. HKG 6,3: Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. und 4. Fassung. Integraler Apparat. Hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche. 1999. HKG 6,1: Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. Fassung, Lesetext. Hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche. 1998. HKG 6,2: Die Mappe meines Urgroßvaters. 4. Fassung. Lesetext. Hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Johannes John. 2004. Vgl. das Faksimile in der Ausgabe von Hofman (s. Anm.9).

Textschichten

F4

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sie ªumherº und kleben etwa an einem Lappen oder an schönen Loken oder braunen Wangen.14

Drei Textschichten können der dritten Fassung von 1864 zugeordnet werden, eine der letzten Bearbeitungsstufe. Zuordnungskriterien sind dabei die Tintenstärke (blassere Tinte; dünnere Korrekturstriche weisen auf die frühe, kräftigere Tinte auf die späte Hand hin), die Einfügungszeichen sowie die Art der Korrekturzeichen („geringelte“ Zeichen signalisieren frühe, einfache und dicke Striche späte Bearbeitungen). Ein Vergleich dieser schwierigen Stelle mit den Korrekturzeichen und Tintenstärken der selbständig geführten Handschriften ab Seite 63 ergibt, daß Stifter dort die gleichen Korrekturzeichen verwendet hat, sodaß die Unterscheidungskriterien zwischen früher und später Hand dadurch empirisch begründet werden können. Auf den Lesetext wirken sich die editorischen Entscheidungen über die Textgenese wie folgt aus: Dritte Fassung Ich muß das wissen, ich habe mit tausenden gesprochen, du mit keiner. Mit dem, was innerhalb ihrer schönen Stirne ist, geben sie sich nicht ab, sie ergründen nichts, nur mit den Augen, die außerhalb sind, langen sie und kleben etwa an einem Lappen oder an schönen Loken oder braunen Wangen.15

Vierte Fassung Ich muß das wissen, ich habe mit tausenden gesprochen, du mit keiner. Was innerhalb ihrer Stirne ist, mit dem ergründen sie nichts, nur mit den Augen, die außerhalb sind, langen sie umher und kleben etwa an einem Lappen oder an schönen Loken oder braunen Wangen.16

Stellen, die nicht eindeutig einer Fassung zuzuordnen waren, wurden mit einem Asterisk (*) gekennzeichnet, z.B. im folgenden Beispiel: Beispiel II (Ms. 4) F3

F4

*(1) >Der@ Doctor >war der@ Urgroßvater >von uns Kindern@ gewesen. (2) ªDa wir heranwuchsen, erzählte uns die Mutter, daß derº >Doctor ªunserº Urgroßvater gewesen ªistº.@ >Er war unser vornehmster und reichster Ahn. Er war in einem großen Kreise ein weitberühmter Heilkünstler, sonst, wie man meinte, ein eulenspiegliger Herr, und, wie sie sagen, in manchen Dingen ein Kezer.@ Da wir heran wuchsen, erzählte uns die Mutter, daß der ªDoctor unser Urgroßvater gewesen ist. Er heilte viele Meilen in der Runde, und war sonst ein fröhlicher Herr.º17

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HKG 6,3, S. 62f. HKG 6,1, S. 35. HKG 6,2, S. 30. HKG 6,3, S. 17f.

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Johannes John / Herwig Gottwald

Im Manuskript sind drei Textschichten erkennbar, die Zuordnung der Korrekturen zur letzten Stufe der dritten (F3,2) oder zur vierten Fassung (F4,1) ist nicht möglich, da die Kriterien der Tintenstärke hier versagen. Eindeutig erkennbar ist nur die Grundschicht (F3,1). Die Einfügung am linken Rand ist mit stärkerer Tinte begonnen als ihre Fortführung, die Trennung zwischen früher oder später Hand ist daher nicht eindeutig. Der Lesetext der dritten Fassung ist daher folgendermaßen gestaltet: Da wir heranwuchsen, erzählte uns die Mutter, daß der Doctor unser Urgroßvater gewesen ist. Er war unser vornehmster und reichster Ahn. Er war in einem großen Kreise ein weitberühmter Heilkünstler, sonst, wie man meinte, ein eulenspiegliger Herr, und, wie sie sagen, in manchen Dingen ein Kezer.18

Die alternative Möglichkeit wäre die Edition der Grundschicht gewesen: „Der Doctor war der Urgroßvater von uns Kindern gewesen.“ Sämtliche Korrekturschichten wären dann der letzten Fassung zuzuordnen gewesen (eine Entscheidung, die nur die dritte Fassung betrifft). Eine Seitenkonkordanz im Band des Integralapparates19 hilft beim Auffinden der Parallelstellen in den Lesetextbänden, eine solche gibt es natürlich auch in Band 6,2.20 Der Nachlaßverwalter Stifters, Johann Aprent, hat mehrmals versucht, die Mappen-Fragmente herauszugeben, und sie dabei sowohl mit Bleistift als auch mit Tinte bearbeitet. Hier wurde entschieden, alle Spuren der Eingriffe Aprents zu tilgen und diese auch nicht mehr separat zu verzeichnen.

III. Eben diese Entscheidung – Johann Aprents Eingriffe vollständig rückgängig zu machen – galt auch für die Edition der 2. Fassung des Frommen Spruchs, was die Problematik dort allerdings um eine neue, so nicht erwartete Dimension erweiterte. Während in der Mappe die jeweils zu identifizierenden Textschichten wenigstens noch aus einer, nämlich Stifters Hand stammten, handelt es sich im Frommen Spruch wie oben skizziert um deren drei, was sich hinsichtlich ihres jeweiligen Problempotentials nochmals differenzieren läßt. Waren nämlich die Verschreibungen, Entstellungen oder aber eigenmächtigen Veränderungen von Abschreiberhand auch unter Stifters Streichungen fast durchwegs eindeutig zu identifizieren gewesen, ließ sich dies von Aprents ,Redaktion‘ – die über alle philologische Behutsamkeit hinaus expressis verbis die „größeren Fehler der Arbeit“ zu korrigieren, und „von dem Gegebenen die Mängel zu heben“21 suchte – keineswegs behaupten, und so nachvollziehbar die Absicht der Herausgeber sein sollte, diese Spuren in toto zu eliminieren, so diffizil erwies sich deren Umsetzung gelegentlich in der editorischen Detailarbeit – was Aprent selbst nicht nur bewußt einkalkuliert, sondern nach Kräften befördert hatte.

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HKG 6,1, S. 11. HKG 6,3, S. 199f. HKG 6,2, S. 266f. Zitiert nach Moriz Enziger: Zu Johann Aprents Ausgabe von Stifters „Frommem Spruch“. In: M. E.: Gesammelte Aufsätze zu Adalbert Stifter. Wien 1967, S. 23–33, die Zitate auf den S. 26f.

Textschichten

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„Jetzt ist nicht mehr zu unterscheiden, ob der Strich von Stifter oder von mir herrührt,“22 vermeldet er nämlich in einem Brief vom 26. Juli 1868 an Stifters Budapester Verleger Gustav Heckenast, und was den postumen Herausgeber mit unüberhörbarem Stolz erfüllt, muß jedem Editor den Angstschweiß auf die Stirne treiben – vor allem, wenn er das Manuskript – das sich im übrigen in keinem guten Zustand befindet und etwa an den vertikalen Knickstellen, die in der Mitte eines Blattes die linke, Stifters Korrekturen und Revisionen vorbehaltene Hälfte vom Text der Abschrift auf der jeweils rechten trennt, bereits an vielen Stellen brüchig geworden ist – dann vor sich hat und mit mehr oder weniger stiller Verzweiflung konstatieren muß, daß Aprent gemessen an seiner Absicht in der Tat ganze Arbeit geleistet hat. Wobei er mit dem Stichwort Strich die spezifische editorische Krux auch präzise bezeichnet hat. So liegt die Schwierigkeit der Dechiffrierung und Differenzierung der verschiedenen Eingriffe nicht bei Aprents Handschrift, die sich mit wenigen Ausnahmen doch eindeutig von der Stifters unterscheiden läßt: vielmehr sind es die Striche, und hier in Sonderheit die horizontalen Streichungen, deren Zuordnung meist von Einzelfall zu Einfall zu prüfen und zu klären war – wenn sie sich denn zweifelsfrei überhaupt klären ließ, was exemplarisch an den beiden Manuskriptseiten 52 und 53 von H2 (Abb. 1, S. 205) veranschaulicht werden soll. Wer etwa nach eigener Transkription und nachfolgender Konsultation vorliegender Editionen und einschlägiger Sekundärliteratur diese Passagen untersucht, wird sich wundern, mit welcher Sicherheit die Vorgänger, von denen einige eingestandenermaßen gar nicht am Original arbeiten konnten, die jeweiligen Striche Stifter bzw. Aprent zuordnen konnten. Nicht nur, daß sich die Hoffnung, an der Handschrift des Frommen Spruchs verschiedene Farben der Tinte ausmachen und so problemlose Zuordnungen vornehmen zu können, generell als frommer Wunsch erwies: Hier war es beispielsweise mit bloßem Auge nicht möglich, die horizontalen Streichungen auf Seite 52 eindeutig voneinander zu unterscheiden, ja am ehesten hätte der Augenschein die erste und dritte Streichung einer Hand zugeordnet.23 Nun lassen sich – mit gewissermaßen ,externen‘ Argumenten – die letzte Streichung auf Seite 52 sowie die Streichungen im letzten Abschnitt der 53. Seite Aprent zuweisen, der nicht nur die vom Oheim wiederholt benutzten Koseformen – so eben „Hanns Hasenfuß“ am Ende des 2. Abschnitts auf Seite 52 – wie auch sämtliche aus seiner Sicht unschicklichen emotionalen oder affektiven Heftigkeiten (insbesondere bei Kußwechseln) rigoros streicht, sondern auch das Mobilar auf das seiner Meinung nach unbedingt Notwendige zu reduzieren pflegt, so daß aus dem „Palisanderkästchen“ in der siebtletzten Zeile auf Seite 53 nunmehr ein schlichtes „Kästchen“ wird.

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Ebd., S. 26. In diesem Zusammenhang kommt den Editoren der PRA und ihren Detailentscheidungen eine höhere Autorität zu als späteren Bearbeitern, da es sich nicht ausschließen läßt, ja sogar sehr wahrscheinlich ist, daß (auch nur minimale) Unterschiede der jeweiligen Tinten sich in den Bearbeitungszeiträumen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch deutlicher ausmachen ließen und erst im Lauf der Zeit (weiter) verblaßten.

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Ungleich kniffliger die Streichung des Dankes „für die Wünsche, die du gegen mich ausgesprochen hast“ (in der Mitte von Seite 52), die Stifter dann auf Seite 53 am Ende als Schlußformel in die Rede des Oheims (wieder)einfügt:24 [„Das wird gut sein, und] ª„Undº im Übrigen danke ich dir ªauchº auch noch einmal von ganzem Herzen [,“ sprach der Oheim.] ªfür deine Wünsche.”º

Beide Optionen – Stifter oder Aprent – lassen sich plausibel begründen. Die einfachste: Stifter könnte die Plazierung dieser Danksagung als Schlußformel ans Ende seiner Rede schlicht passender erschienen sein: also strich er die erste. Wenn dem nicht so gewesen sein sollte, könnte es sein, daß Aprent diese offensichtliche Doppelung auffiel, die wiederum sein Stilgefühl so nachhaltig störte, daß er eine Danksagung für völlig ausreichend hielt. So hatte er ja in seinem oben zitierten Schreiben vom 26. Juli 1868 Heckenast bereits einleitend die Absicht mitgeteilt, sein „Augenmerk“ auch darauf zu richten, „dem Dialog, der mitunter, nur an Worte sich klammernd, sich in die Länge dehnt, ohne doch von der Stelle zu rücken, durch Wegschneiden der letzten Ausläufer, mehr Kraft zu geben.“25 Welche Stichhaltigkeit aber haben Argumente wie Doppelung und Wiederholung in einer Erzählung, in der, um Theodor Storm zu zitieren, auf „über hundert Seiten“ eigentlich nichts anderes passiere, „als daß der eine sagt: ,Liebe Schwester, ich grüße dich sehr‘, und die andre erwidert: ,Lieber Bruder, ich grüße dich auch sehr‘“? Dessen auffälligstes Stilprinzip also zumal in den ausgreifenden Dialogen eine oft ritualisierte Redundanz bildet? Eine Redundanz im übrigen, die 1867 wesentlich zur Ablehnung eines Abdrucks des Frommen Spruchs in Leo Tepe van Heemstedes Zeitschrift Die katholische Welt beigetragen hatte.26 Was nun wiederum eher für einen Eingriff Aprents spricht, der hier doch als der wahrscheinlichere erscheint. Allerdings gründete die editorische Entscheidung letztlich nicht auf diesen Überlegungen, die aus Kenntnis und Interpretation der gesamten Erzählung vom Textganzen aufs Detail geschlossen und dieses dann – in einem wohl bekannten hermeneutischen Zirkel – wieder in jenes als ,sinnvoll‘ gedeutetes Ganzes eingebunden hätte. Vielmehr gab an dieser Stelle allein der graphische Befund den Ausschlag, da sich die Ränder der beiden unteren Streichungen auf Seite 52 – freilich nur mittels starker Lupe – als relativ glatt und einheitlich erweisen, während der Rand der oberen Streichung unregelmäßiger verläuft und deutliche Zacken und Einkerbungen aufweist. Mindestens ebenso diffizil dann wenige Seiten später (H2/S. 57) eine andere Stelle, in der es darum geht, zwei Einfügungsmarken (Abb. 2, S. 206) in Verbindung mit einer vertikalen Streichung zu interpretieren, wobei die Herausgeber in Band 3,2 der Historisch-Kritischen Ausgabe hier zu einer anderen Entscheidung kamen als ihre Vorgänger, die Editoren der Prag-Reichenberger-Ausgabe. Diese ordneten diesen senkrechten Strich, wie auch zwei weitere analoge, d. h. von links oben nach rechts unten ausgeführte Streichungen auf den beiden folgenden Seiten 58/59 (Abb.3,

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In HKG 3,2 auf den S. 228/229, Z. 3–6. Zitiert nach Enziger (Anm. 21), S. 26. Vgl. hierzu Hettche/John 2004 (Anm. 1), S. 287f.

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S. 207), Aprent zu und übernahmen die vier Absätze des von Stifter auf dem linken Rand eingefügten Dialogs auf Seite 57 in toto in den von ihnen konstituierten Text. Wenn dieser Strich tatsächlich von Aprent stammt, was auch durchaus plausibel erscheint, bleibt immer noch der unaufgelöste Rest zweier konkurrierender Einfügungsmarken. Diese stammen, so die Autopsie der Handschrift, wohl beide von Stifters Hand, was sich zum einen aus Farbnuancen der Tinte, zum anderen aus dem Befund schließen ließ, daß Aprent bei aller eingestandenen Tendenz zur Mimikry nicht so weit ging, auch Einfügungszeichen Stifters zu imitieren. Dies ließ – so die Deutung dieses Befundes, wie er sich dann in Band 3,2 studieren läßt27 – aber nur die chronologische Rekonstruktion zu, daß Stifter zunächst auf dem linken Rand mittels Einfügungsmarke parallel zur ersten Zeile der gestrichenen Abschrift einen 13 Zeilen umfassenden geschlossenen Textblock von Rede und Gegenrede niederschrieb, innerhalb diesem dann aber durch ein erneutes Einfügungszeichen wiederum eine Substitution vornahm und damit exakt markierte, von wo ab er seinen neuen Text in die 2. Fassung integriert wissen wollte. Von der textkritischen Vorgehensweise her war also eine doppelte Gewichtung vorzunehmen: zum einen galt es, die Präferenz der beiden Einfügungsmarken zu klären, und zum anderen die Frage zu erörtern, warum Stifter die unserer Meinung zu tilgenden Passagen nicht zusätzlich gestrichen hat. Hierfür kommen drei Optionen in Betracht: 1. Stifter hat diese Streichung schlicht vergessen. 2. Er hielt sie für nicht nötig, da ihm die Markierung durch das neue Einfügungszeichen eindeutig genug schien. Denkbar aber auch, daß die der neuen Einfügungsmarke folgenden drei Zeilen, mit welchem zeitlichen Abstand auch immer, jedenfalls in einer zweiten Schreibphase entstanden und Stifter diese Schreibbewegung direkt auf die nächste Seite führte, weshalb eine nachträgliche ,ordentliche‘ Streichung des damit zu eliminierenden Textkontingents unterblieb. Natürlich bliebe es ebenso ungenügend wie unbefriedigend, textkritische Arbeit nur bei einer Auflistung solcher Einzelfälle28 zu belassen: mit jeder Detaildiskussion nimmt der Wunsch nach reflektierender Abstraktion, in Sonderheit nach Systematisierung zu. Während die Benutzer einer Historisch-Kritischen Ausgabe jedoch zurecht an den Resultaten editionsphilologischer Bemühungen interessiert sind, ist es die Pflicht der Herausgeber, sich während des Prozesses der editorischen Entscheidungsfindung zum einen die von ihnen ins Feld geführten Argumente offen zu legen und sich im theoretischen Teil ihrer Arbeit über deren Gewichtung zu verständigen, was

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HKG 3,2, S. 233. Ein weiteres Detailproblem – nämlich die Entscheidung zwischen zwei konkurrierenden Einfügungsmarken auf S. 57 von H2 – wurde im Rahmen eines Werkstattberichts aus der Stifter-Ausgabe, den Walter Hettche und Johannes John anläßlich des Internationalen Kongresses Jeremias Gotthelf – Wege zu einer neuen Ausgabe (4. bis 6. November 2004) in der Universität Bern gaben, vorgestellt und diskutiert: Johannes John und Walter Hettche: Werke, Schriften, Briefe. Editorische Probleme und Verfahren in der historisch-kritischen Stifter-Ausgabe. In: Jeremias Gotthelf – Wege zu einer neuen Ausgabe. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer und Christian von Zimmermann. Tübingen 2006 (Beihefte zu editio. 24), S. 147–155.

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im besten Falle im permanenten kollegialen Erfahrungsaustausch – gerade auch über den Kreis des jeweiligen Editionsprojekts hinaus – geschieht. Dies beträfe im eben geschilderten Problemfall etwa Kriterien der internen Hierarchisierung: so sollte es außer Frage stehen, daß einem eindeutigen graphischen Befund in jedem Falle der Vorzug vor wie auch immer gezogenen Kontextbefunden zu geben ist. Wenn jedoch analoge Stellen als Vergleichsargumente herangezogen werden oder konsultiert werden müssen, so erwiese sich deren Plazierung im Text als relevant. Dabei wäre zu untersuchen, ob es sich – etwa bei der formalen Ausführung der eben apostrophierten Streichungen – um einen Präzedenzfall handelt oder ob dieser Strich einen oder gar mehrere vorgängige Parallelen hatte. Auffällige Wechsel der Strich-Praxis wiederum könnten Pausen oder Unterbrechungen des Schreibprozesses signalisieren und so – über mögliche Andeutungen oder gar intensive Reflexionen in Briefen, überlieferten Gesprächen, Notiz- oder Tagebüchern hinaus – zusätzliche Hinweise zur (Mikro-)Chronologisierung einzelner Arbeitsphasen geben. Daß ein solcher Kriterienkatalog freilich nicht alle offenen Fragen befriedigend oder gar definitiv lösen kann, weiß wohl jeder, der sich auf diese Form der Grundlagenforschung, die wissenschaftliches Edieren ,buchstäblich‘ darstellt, eingelassen hat. Ob etwa in der Spaziergangsszene der 2. Fassung (H2/S. 94) Stifter oder Aprent den bestimmten Artikel vor der Zeitangabe „gegen den Mittag“ gestrichen hat (Abb. 4, S. 20829), ließe sich wohl nur mittels einer kriminaltechnischen Analyse eindeutig entscheiden. Weshalb es auch immer einen ,unaufgelösten‘ Rest von Zweifelsfällen geben wird, zu dem sich die Herausgeber der hier vorgestellten Bände – im Apparat unserer Historisch-Kritischen Ausgabe oder eben im Rahmen eines solchen Beitrags – freimütig bekennen.

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In der linken Spalte am Ende der 10. Zeile von unten.

Abb. 1: Seiten 52 und 53 aus der 2. Fassung (H2) der Erzählung Der fromme Spruch (StA 230; vgl. hierzu Anm. 2)

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Abb. 2: Seite 58 aus der 2. Fassung (H2) der Erzählung Der fromme Spruch (StA 230)

Abb. 3: Seiten 58 und 59 aus der 2. Fassung (H2) der Erzählung Der fromme Spruch (StA 230)

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Abb. 4: Seite 94 aus der 2. Fassung (H2) der Erzählung Der fromme Spruch (StA 230)

Karl Konrad Polheim †

Textkritik und Interpretation bedingen einander

In der Ausschreibung zu der Tagung „Was ist Textkritik?“ wurden alle möglichen Themenbereiche und Arbeitskreise vorgeschlagen. Den Begriff „Interpretation“ suchte man jedoch vergeblich. So sei mir gestattet, auch diesen Begriff einzubeziehen, zumal es ja sozusagen mein Credo ist, daß Textkritik und Interpretation einander bedingen. Daher habe ich als Titel meines Referates1 nicht nur die Aufzählung der beiden Begriffe gewählt, sondern sie sogleich miteinander verbunden, hoffentlich untrennbar. Auf die wissenschaftliche Literatur über dieses Thema2 – also die heutige Forschungslage, die bisherige Diskussion, das theoretische Für und Wider usw. – brauche ich nicht einzugehen, weil mein Freund und Schüler Jens Stüben, Mitherausgeber der kritischen Ferdinand-von-Saar-Ausgabe, bereits darüber einen ausführlichen, gründlichen und erschöpfenden Aufsatz mit dem Titel „Edition und Interpretation“, erschienen 2000, vorgelegt hat.3 So darf ich mich hier auf die Erörterung und Begründung meines Standpunktes beschränken. Die Formulierung „Textkritik und Interpretation bedingen einander“ bekundet von vornherein, daß beide Disziplinen sich exakt auf demselben Gebiet bewegen, nämlich den Bemühungen um den dichterischen Text, daß beide aufeinander angewiesen sind, ja ineinander übergehen. Daß dabei – von welcher Seite man es betrachtet – der hermeneutische Zirkel wirksam ist, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Man kann sich von beiden Seiten dem Problem nähern. Lassen wir hier als Textkritiker dem Interpreten den Vortritt. Wer ein sprachliches Kunstwerk interpretieren will, sollte sich den bestmöglichen Text dazu aussuchen, das heißt denjenigen publizierten Text, der die Authentizität am

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Anm. d. Red.: Den vorliegenden Beitrag wollte der Verfasser am 27. Februar 2004 in Innsbruck vortragen. Aufgrund einer schweren Erkrankung war er nicht in der Lage, sein Referat auf der Tagung zu halten. Karl Konrad Polheim erlag seinem Leiden am 16. März 2004. – Grundlage des vorliegenden Beitrags ist das Vortragsmanuskript. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Die im Manuskript vorhandenen, teils bereits weitgehend ausgeführten Anmerkungen wurden vervollständigt. Edition und Interpretation / Edition et Interprétation des Manuscrits Littéraires. Akten des mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Centre National de la Recherche Scientifique veranstalteten deutsch-französischen Editorenkolloquiums Berlin 1979. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern u. a. 1981 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A. 11). Jens Stüben: Edition und Interpretation. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet, Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 263– 302.

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Karl Konrad Polheim

meisten gewährleistet. Sonst kann es ihm passieren wie jenem Vortragenden auf dem internationalen Germanistenkongreß in Rom 1955, der seine ganze Interpretation von Büchners Leonce und Lena auf der Schlußwendung aufbaute: „wir [...] bitten Gott um [...] eine kommende Religion“, bis ein Diskussionsteilnehmer darauf hinwies, daß der richtige Text „eine kommode Religion“ lautete.4 Der Interpret muß sich also für seine Untersuchung den besten Text wählen, aber er schlägt sich zumeist nicht mit früheren Fassungen oder Varianten herum. Das braucht er auch nicht, denn er will ja das sprachliche Kunstwerk in dieser einen Gestalt erfassen, verstehen. Das schließt freilich nicht aus, daß er sich auch um andere Stufen der Genese kümmert. Hat er solche Ambitionen, so können diese einerseits förderlich, andererseits fragwürdig sein: Förderlich, denn frühere Varianten können eine Signalwirkung entfalten, auf Schaltstellen des Werkes hinweisen. Der Autor hat es für nötig befunden, die Textstelle für die spätere, maßgebliche Fassung zu ändern. Seinen Grund zu erkennen, ist oft mit einem Mehrgewinn an Interpretation verbunden. Ich nenne hier nur – aus meinen eigenen Erfahrungen – Schillers Charakterisierung des Karlos und des Posa in den verschiedenen Fassungen, Stifters Bemühungen um Vertiefung des Gemeinten oder umgekehrt Ferdinand von Saars Tilgungen allzu deutlicher Aussagen.5 Fragwürdig aber wird es, wenn solche früheren Varianten oder Fassungen unmittelbar für die Interpretation der maßgeblichen Fassung verwertet werden. Das wäre eine Vermischung der Fassungen. Das Verdikt über die Kontamination, von der Textkritik längst ausgesprochen, gilt ebenso für die Interpretation, obwohl es hier noch lange nicht Allgemeingut geworden ist. Auch hier ist Schillers Don Karlos anzuführen, denn man hat die Fassungen für die Interpretation und die Charakteristik der Figuren vermischt und ist demgemäß zu schiefen Ergebnissen gekommen.6 Eine ähn-

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5

6

Vgl. Georg Büchner: Gesammelte Werke nebst einer Auswahl seiner Briefe. Eingeleitet von Wilhelm Hausenstein. Leipzig [1915], S. 133: „eine kommende Religion“; Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Mit Kommentar hrsg. von Werner R. Lehmann. Bd. 1: Dichtungen und Übersetzungen. Mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. 2. Aufl. München 1974, S. 134: „eine kommode Religion“; Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. München, Wien 1988, S. 189: „eine [kommde] Religion“ (Klammern im Original); Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hrsg. von Henri Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker. 84), S. 129: „eine kommde Religion“. Apparat, S. 673: „kommde] N: ‚kommende‘ (wohl auf Einwirkung des Setzers beruhend)“; Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hrsg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. Bd. 6: Leonce und Lena. Hrsg. von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Arnd Beise und Eva-Maria Vering. Text bearb. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2003, S. 96, 124: „eine kommde Religion“, S. 154: „eine kommode Religion“. Apparat, S. 96: „kommde] kommende d3“. Kommentar, S. 270: „eine Abschreibvariante, die auf o/e- und e/enAmbiguitäten zurückgehen kann“. Vgl. Karl Konrad Polheim: Von der Einheit des Don Karlos. In: Ders.: Kleine Schriften zur Textkritik und Interpretation. Bern u. a. 1992, S. 125–161, bes. S. 152f.; Ders.: Adalbert Stifters Erzählung Der Waldgänger. In: ebd., S. 219–243, bes. S. 232; Ders.: Ferdinand von Saars Erzählkunst. Am Beispiel des Brauer von Habrovan. In: ebd., S. 321–367, bes. S. 365. Paul Böckmann: Schillers Don Karlos. Edition der ursprünglichen Fassung und entstehungsgeschichtlicher Kommentar. Stuttgart 1974 (Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft. 30).

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liche Behandlung erfuhr Goethes Iphigenie, bei der man die erste, die Prosafassung, heranzog und übertrug, um die letzte, die Versfassung, als „Drama der Autonomie“ zu deuten, was auch hier immer wieder zu irrigen Schlußfolgerungen führte.7 Abgesehen von solchen positiv oder negativ zu bewertenden Rückgriffen auf die Textgenese, pflegt aber der Interpret sein Augenmerk allein auf eine Fassung zu richten, zumeist die reifste, letzte. Sie ist seine Grundlage, und sie ist auch diejenige, die in der historisch-kritischen Ausgabe den leitenden Text bietet.8 Und auf diesen muß sich der Interpret verlassen können. Der kritische Herausgeber, der ihn vorlegte, hat damit eine große Verantwortung für die weiteren Folgen und Folgerungen übernommen. Textkritik ist ja kein Selbstzweck. Aber was ist Textkritik? Wenn eine solche Frage über unserer Tagung schwebt und als Generalthema gestellt ist, verlangt sie nach einer Antwort – auch wenn es unterschiedliche geben wird, je nach der Überzeugung des einzelnen Textkritikers. Doch man darf sich nicht scheuen, eine Antwort zu formulieren, weil ja dadurch das Ziel sichtbar wird, das der einzelne sich vorstellt, und damit auch sein weiteres methodisches Vorgehen. Ich wage also eine – radikal verkürzte – Antwort: Textkritik ist die Wissenschaft, die bemüht ist, den authentischen Text eines Autors zu erarbeiten. Authentisch ist ein Text, wenn er dem Willen, der Intention des Autors entspricht. Diesen Willen zu ergründen und adäquat darzustellen, ist also die Aufgabe des Textkritikers. Das ist freilich leicht gesagt, aber – wie wir alle wissen – ein schwieriges Unterfangen, bei dem alle vorhandenen Mittel und Möglichkeiten eingesetzt werden müssen und das doch nie ganz abgesichert ist. Der Textkritiker bewegt sich da auf einem schmalen Grat, er kann leicht abstürzen, und es hat mehrere solcher Abstürze gegeben. Damit sage ich natürlich gar nichts Neues, aber ich muß einen kurzen Rückblick in mein Thema einpassen. Irrwege ergaben sich, weil der Textkritiker gescheiter sein wollte als der Autor. Das ist auf zwei gegensätzliche Arten geschehen. Einmal überstrapazierten Textkritiker den Willen des Autors, das andere Mal übergingen sie ihn. Im ersten Fall taten sie des Guten zuviel an Interpretation – man könnte es Extrapretation nennen –, sie ließen ihren Phantasien freien Lauf und verbesserten den Autor. Im anderen Fall schalteten sie den Autor einfach aus, indem sie ihn für tot erklärten, womit eine Interpretation des Willens des Autors wegfiel. Im Gegenzug zum ersten Fall, dem selbstherrlichen Textkritiker, und als Ersatz im zweiten Fall, dem abgeschafften Willen des Autors,

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Wolfdietrich Rasch: Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘ als Drama der Autonomie. München 1979. – Ganz anders behandelt W. Woesler die erste Fassung. Winfried Woesler: Goethes „Iphigenie“ 1779–1787. In: Edition und Interpretation 1981 (Anm. 2), S. 97–110. Man hat definiert, daß alle Fassungen den Text eines Werkes bildeten. So Siegfried Scheibe: Zum editorischen Problem des Textes. In: Probleme neugermanistischer Edition. Besorgt von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1982 (Zeitschrift für deutsche Philologie. 101, Sonderheft), S. 12–29, hier S. 28. Das ist rein abstrakt gedacht und birgt die Gefahr, nun alle Fassungen in einen Text zu kontaminieren. Natürlich kann man aber nur den Text jeweils einer Fassung lesen und interpretieren (auch wenn man andere Fassungen heranzieht).

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zog man sich, um jegliche Subjektivität zu vermeiden, auf normierte, mechanisch begründete Bestimmungen zurück, wann textliche Eingriffe gestattet seien und wann nicht. Aber Textkritik ist eben kein mechanisches Geschäft, das nach starren Regeln betrieben werden kann. Die Texte sind je nach Intention und Struktur verschieden. Immer ist es notwendig, sich speziell mit ihnen und ihren Eigentümlichkeiten auseinanderzusetzen, um sie zu verstehen. Verstehen (oder zumindest Verstehen-Wollen) ist aber immer schon Interpretation, womit wir wieder bei unserem einen Leitbegriff angelangt sind. Freilich ist Interpretation von Subjektivität nicht zu trennen. Aber auch die Textkritik ist wie jede geisteswissenschaftliche Tätigkeit letzten Endes nur subjektiv zu vollziehen. Ja gerade indem der Textkritiker seine ihm eigenen interpretatorischen Überlegungen transparent und nachprüfbar macht, erreicht er den höchsten Grad der Sachlichkeit. Der Begriff ‚Interpretation‘ ist hier allerdings ganz weit zu fassen. Er reicht von der Erklärung eines einzelnen Wortes bis zum Erkennen von tiefgründigen und weitreichenden Zusammenhängen, er bezieht sich auf eine einzelne Variante wie auf eine ganze Fassung. Bei den Bemühungen um einen kritischen Text kommt natürlich nicht die – so verstandene – Interpretation allein ins Spiel. Sie liefert ein Kriterium, man kann es das ästhetische oder sinnhafte nennen. Dazu treten zwei weitere, wie ich es im Vortrag auf der Aachener Tagung auszuführen versuchte: das biographische und das kodikologische Kriterium, und erst alle drei zusammenstimmend ergeben die Rechtfertigung für eine Emendation.9 In diesem Referat aber liegt das Hauptgewicht auf dem ästhetischen oder sinnhaften Kriterium, das auf der Interpretation beruht. Als das umstrittenste, vernachlässigtste, subtilste der drei Kriterien verdient es wohl, wieder und wieder behandelt und in seiner Bedeutung hervorgehoben zu werden. Das Ineinandergreifen von Textkritik und Interpretation sei jetzt aufgezeigt an einigen Beispielen, die von der kleinsten bis zur größten Texteinheit reichen, von einzelnen Satzzeichen bis zur vollen Fassung. Die Bedeutung von Satzzeichen dokumentieren etwa zwei Fälle aus der frühen Neuzeit, und sie stammen von keinem Geringeren als Hans Sachs, der sich für unser Thema auch deshalb besonders eignet, weil er an seinen Texten stets arbeitete und feilte und seine Ausgaben sorgfältig redigierte. Hans Sachs hat ein Passionsspiel geschrieben – erstaunlicherweise, muß man hinzufügen, denn er als überzeugter Anhänger Luthers hat sich damit gegen dessen Diktum gestellt, das Leiden Christi nicht auf die Bühne zu bringen. Dieses Passionsspiel, Tragedia. Mit 31. Personen / Der gantz Passio nach dem Text der vier Euangelisten

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Vgl. Karl Konrad Polheim: Die scheinbare Autorisation oder Der Schutz des Autors vor sich selbst. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21), S. 65–72, hier S. 66.

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vor einer Christlichen Versamlung zu spielen / vnnd hat X. Actus, ist in einer Handschrift und mehreren gedruckten Fassungen überliefert; die maßgebende Fassung befindet sich im dritten Band der Folioausgabe A von 1561. Für das letzte Abendmahl beauftragt Jesus die zwei Jünger: Nun gehet hin ein in die Stadt [...] Denn saget dem Haußherren schier Der Meyster der lest sagen dir Wo sol er essen das Osterlamb Mit seinen Jüngern allensamb10

In der Handschrift sowie in der Folioausgabe A gibt es am Schluß der Verse keine Satzzeichen. Daher kann die Frage „Wo sol er essen“ ohne weiteres als indirekte Frage aufgefaßt werden, und daß auch die Zeitgenossen dies so verstanden, beweist das Admonter Passionsspiel, das von Sachs viel Text übernahm und hier umstellte: „Wo er Essen soll“.11 In der großen, auch heute noch gültigen Sachs-Ausgabe von Keller und Goetze (26 Bände, 1870–1908) werden aber ohne Rücksicht auf den dichterischen Text Satzzeichen eingeführt, und zwar gemäß der Lutherübersetzung von 1545, wo es bei Markus 14,14 heißt: „Der Meister lesset dir sagen / Wo ist das Gasthaus / darinne ich das Osterlamb esse mit meinen Jüngern?“ Von da aus wird das Fragezeichen am Schluß auf den Sachs-Text übertragen und als Voraussetzung ein Doppelpunkt eingefügt: Der meyster der lest sagen dir: Wo sol er essen das Osterlamb Mit seinen jüngern allensamb?12

Dabei ist aber übersehen, daß im Evangelium die aufgetragene Frage in direkter Rede in der ersten Person steht („darinne ich das Osterlamb esse“) und das Fragezeichen dementsprechend berechtigt ist. Aus dem Sachs-Text, der die dritte Person gebraucht, ist nun in der Ausgabe eine irreführende Vermischung von direkter und indirekter Rede entstanden, die eine vollkommen schiefe Beurteilung – Interpretation, wenn man will – der Grammatik und des Stiles des Hans Sachs hervorrufen muß. Ein zweites Beispiel – ebenfalls aus dem Abendmahl – bezieht sich auf eine Änderung der Interpunktion innerhalb des Verses. Jesus spricht: Secht vnter euch / so ist warlich Einer der wirt verraten mich

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Zitiert nach Karl Konrad Polheim: Das Admonter Passionsspiel. Textausgabe, Faksimileausgabe, Untersuchungen. Bd. 3: Untersuchungen zur Passionshandlung, Aufführung und Eigenart. Nebst Studien zu Hans Sachs und einer kritischen Ausgabe seines Passionsspieles. Paderborn u. a. 1980, S. 298f. Karl Konrad Polheim: Das Admonter Passionsspiel. Textausgabe, Faksimileausgabe, Untersuchungen. Bd. 1: Textausgabe, Faksimileausgabe. München u. a. 1972, S. 19. Hans Sachs: Werke. [Hrsg. von Adelbert von Keller und Edmund Goetze.] Bd. 11. Hrsg. von Adelbert von Keller. Hildesheim 1964. Reprograf. Nachdruck der Ausg. Stuttgart 1878 (Bibliothek des Literarischen Vereins. 136), S. 258.

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Der zwölff einer der zu Tisch sitzt Mit mir daucht in die Schüssel jetzt13

In der Folioausgabe A ist eine Virgel eingesetzt: „Secht vnter euch /“. Es ist also, bühnenwirksam geschickt, das „vnter euch“ mit aller Deutlichkeit auf „Secht“ bezogen, aber die Ausgabe von Keller/Goetze hat es mit Rücksicht auf den biblischen Text dennoch getrennt. Dieser (Matthäus 26,21) lautet bei Luther: „Warlich ich sage euch / Einer vnter euch wird mich verrhaten“. Und so drucken Keller/Goetze: Seht! unter euch so ist warlich Einer, der wirt verraten mich, Der zwölff einer, der zu tisch sitzt,14

Die unterschiedliche Trennung – Rufzeichen nach „Seht“ hier, Virgel nach „vnter euch“ bei Sachs – wirkt sich noch weiter aus. Sachsens Fortsetzung „Der zwölff einer“, nach Matthäus 26,20 und Markus 14,20 geformt, bedeutet nach der Intention seiner eigenen Zeichensetzung eine sinnvolle Einschränkung des bereits gegebenen Subjektes „Einer“. Nach der aufgezwungenen Interpunktion von Keller/Goetze hat das Subjekt „Einer“ bereits eine solche Einschränkung durch die Wendung „unter euch“ erfahren, so daß jetzt die neuerliche Bestimmung „Der zwölff einer“ plump und ungeschickt wirkt. Der dem Interpreten von den Herausgebern zur Verfügung gestellte Text bietet hier ein gänzlich falsches und entstellendes Bild von der Sprachkunst des Hans Sachs. Nun zur nächsten Stufe: der Lesart. Als Beispiel sei ein Fall aufgenommen, der schon einmal behandelt wurde, nun aber unter einen anderen Aspekt zu stellen ist, dies um so mehr, als er gerade in den neuesten Editionen wieder aufscheint. Es geht um eine Stelle in Dichtung und Wahrheit. Am Schluß des zweiten Buches berichtet Goethe von der Begeisterung des Knaben und seiner Schwester für Klopstocks Messias. Dort, im Messias, wird zweimal ausdrücklich gesagt, daß Satan und Adramelech ins „todte Meer“ gestürzt würden (VIII. Gesang, Vers 154; X. Gesang, Vers 86),15 und auch sonst wird oft genug das „todte Meer“ geographisch wie symbolisch beschworen. In den von Goethe autorisierten Ausgaben aber ist zu lesen, daß Satan und Adramelech ins „rothe Meer“ gestürzt worden seien. Die späteren Herausgeber haben sich verschieden verhalten, wie eine Auswahl zeigt. Die Weimarer Sophien-Ausgabe druckt „in’s todte Meer“ mit der Bemerkung, daß sämtliche Ausgaben, auf die sie sich stützt, „rothe Meer“ hätten.16 Kürschners National-Litteratur ist ihr darin gefolgt, ebenso weitere Ausgaben und zuletzt (ohne jeden Kommentar) die Artemis-Aus-

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Zitiert nach Polheim 1980 (Anm. 10), S. 312. Sachs: Werke, Bd. 11 (Anm. 12), S. 263. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begr. von Adolf Beck, Karl Ludwig Schneider und Hermann Tiemann. Hrsg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth HöpkerHerberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch. Abt. Werke. Bd. IV, 1: Der Messias, Text. Hrsg. von Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin, New York 1974, S. 166, 202. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 26. Bearb. von Jakob Baechtold. Red. Gustav von Loeper. Weimar 1889, S. 124. Dazu Anm. S. 371: „todte Meer] sämmtliche Ausgaben lesen rothe Meer“.

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gabe. Dagegen drucken „ins Rote Meer“ die Cottasche Jubiläumsausgabe, die Hamburger Ausgabe, die Berliner Ausgabe und die Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages, allerdings sie alle mit dem Hinweis, daß dies eine „Verwechslung“ sei oder daß dies „irrtümlich“ statt „ins Tote Meer“ stehe.18 Freilich wird die entscheidende Frage, von wem denn diese Verwechslung, dieser Irrtum stamme, nicht einmal gestellt. Das tut zwar die historisch-kritische Ausgabe der Berliner Akademie. Sie druckt im Haupttext „in’s rothe Meer“, verweist im Kommentar auf die Weimarer Ausgabe und den Messias und setzt hinzu: „Wahrscheinlich Versehen Goethes oder Hörfehler?“19 Aber sie gibt keine Antwort auf diese folgenschwere Frage. Folgenschwer: denn ein „Versehen Goethes“ wäre ein Autorfehler, und dieser darf nicht angetastet werden. Ein „Hörfehler“ oder Druckfehler aber wäre ein Fremdfehler und daher auszumerzen (es sei denn, der Autor hätte ihn nachträglich anerkannt, aber das führt auf ein anderes Gebiet). Der Herausgeber hat eine Lösung des Problems gar nicht versucht, aber später seine Entscheidung für das „rothe Meer“ mit der Begründung verteidigt, daß diese Lesart ein „sinntragender Bestandteil des Textes“ sei.20

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Goethes Werke. Tl. 17: Wahrheit und Dichtung, Erster Teil. Hrsg. von H[einrich] Düntzer. Stuttgart o. J. (Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausgabe. 98), S. 105: „tote Meer“. Dazu Anm. ebd.: „Den Druckfehler rote hat erst v. Loeper beseitigt.“; Goethes Werke. Unter Mitwirkung mehrerer Fachgelehrter hrsg. von Karl Heinemann. Krit. durchges. und erläut. Ausgabe. Bd. 12. Leipzig, Wien o. J. (Meyers Klassiker-Ausgaben), S. 96: „Tote Meer“; Goethes Werke. Vollständige Ausgabe in vierzig Teilen. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu hrsg. von Karl Alt. Tl. 23: Dichtung und Wahrheit. Erstes bis zehntes Buch. Hrsg. von Karl Alt. Berlin u. a. o. J., S. 66: „Tote Meer“. Dazu Anm. in: Anmerkungen zu Tl. 23 und 24. Von Karl Alt, S. 38: „Goethe schrieb irrtümlich: ins Rote Meer; und so heißt es daher in den älteren Drucken.“; Johann Wolfgang Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. 28. August 1949 [Artemis-Ausgabe]. Hrsg. von Ernst Beutler. Bd. 10: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Zürich 1948, S. 92: „tote Meer“. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. In Verbindung mit Konrad Burdach u. a. hrsg. von Eduard von der Hellen. Bd. 22: Dichtung und Wahrheit, Tl. 1. Mit Einl. und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Stuttgart, Berlin o. J., S. 93: „Rote Meer“. Dazu Anm. S. 271: „Verwechslung des ‚Roten‘ Meeres mit dem ‚Toten‘“; Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 9: Autobiographische Schriften I. Textkritisch durchges. von Lieselotte Blumenthal. Kommentiert von Erich Trunz. 12., durchges. Aufl. München 1994, S. 81: „Rote Meer“. Dazu Anm. S. 860: „Rote Meer] tote Meer W“; Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke. Bd. 13: Autobiographische Schriften I. Bearb. von Hans-Heinrich Reuter, Annemarie Noelle und Gerhard Seidel. 3. Aufl. Berlin, Weimar 1971, S. 89: „Rote Meer“. Dazu Anm. S. 956: „Rotes Meer – Irrtümlich für: Totes Meer“; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Dieter Borchmeyer u. a. I. Abt., Bd. 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker. 15), S. 91: „rote Meer“. Dazu Anm. S. 1098: „rote Meer] Irrtümlich für ‚Totes Meer‘ (so bei Klopstock)“. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe. Bearb. von Siegfried Scheibe. Bd. 1: Text. Berlin 1970, S. 71. Bd. 2: Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena. Berlin 1974, S. 276: „rothe Meer] todte Meer W, da im 9. und 10. Gesang des „Messias“ vom todten Meer berichtet wird. Wahrscheinlich Versehen Goethes oder Hörfehler?“. – Ebenso die Münchner Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Bd. 16: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Peter Sprengel. München 1985, S. 87: „rote Meer“. Dazu Anm. S. 938: „rote Meer: Versehen G[oethe]s oder Hörfehler seines Schreibers; bei Klopstock ist vom Toten Meer die Rede.“ Scheibe 1982 (Anm. 8), S. 26: „Der Editor ist auf das angewiesen, was sich von den Meinungen des Autors materialisiert hat; das nur Gedachte ist nicht mehr zu rekonstruieren.“ Daher müsse auch diese

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Statt eines solchen mechanistischen (oder materialistischen) Prinzips, das sich nur auf ein Wort oder einen Satz bezieht, wäre hier Interpretation einzusetzen, die die Lesart im Zusammenhang mit ihrem Kontext zu verstehen bemüht ist. Dann zeigt sich, daß Goethe nicht nur die Begeisterung der Kinder für den Messias beschreibt, sondern diese auch wörtlich Verse daraus (X. Gesang, Verse 136–142) rezitieren läßt, so genau, daß man sogar die zugrundeliegende Fassung bestimmen kann, ja er spart den dort in der direkten Rede vorhandenen erzählenden Einschub präzise aus und verwendet ihn für den eigenen Bericht.21 Er bekundet also die genaueste Kenntnis und ist um unbedingte Übereinstimmung mit seiner Quelle bemüht. Es ist dergestalt unmöglich, daß Goethe selbst sich geirrt hätte, daß ihm eine „Verwechslung“, ein „Versehen“ unterlaufen wäre oder auch daß er den Fehler später autorisiert hätte. Also müssen andere Faktoren dafür verantwortlich sein. Und da kommen nun, neben dem ästhetischen oder sinnhaften Kriterium, das uns die Interpretation geliefert hat, die beiden anderen Kriterien zum Tragen. Einmal das biographische Kriterium, das besagt, daß Goethe mit seinen gedruckten (oder auch nur diktierten) Werken äußerst sorglos umging. Sie scheinen ihm fremd geworden zu sein. Er kümmerte sich nicht mehr darum und überließ anderen Personen die Kontrolle. Zum andern das kodikologische Kriterium. Denn hier trat doch offensichtlich jene gewöhnliche Art der Setzerfehler ein, die stets ins Allgemeine, Bekannte, Platte tendiert und in diesem Sinne verändert. Und es ist keine Frage, daß das „rothe Meer“ wesentlich vertrauter war als das „todte Meer“. Der Zusammenhang von Textkritik und Interpretation ist aber nun nicht nur von der Seite des Textkritikers, sondern auch von der Seite des Interpreten her zu sehen. Dieser findet also in der neuesten historisch-kritischen Ausgabe die Lesart „in’s rothe Meer“. Falls er sich auf sie verläßt, könnte er folgern, daß Goethe neben der christlichen Welt des Messias, in Palästina spielend, damit schon eine andere Dimension eröffnen wollte, nämlich die islamische Welt, denn das Rote Meer liegt ja bekanntlich zwischen Ägypten und Arabien. Hatte Goethe bereits eine Verbindung im Sinne des West-östlichen Diwan ins Auge gefaßt? In dieser Richtung könnte der Interpret weiter spekulieren. Natürlich wären solche Überlegungen, wie man zu sagen pflegt, höherer Blödsinn. Aber sie machen doch die Verantwortung des Editors deutlich. Die Lesart „in’s rothe Meer“ ist ein eindeutiger Sachfehler, der dem Autor Goethe – wie die Interpretation lehrt – in keiner Weise zuzutrauen und daher zu tilgen ist. Ein anderes Beispiel mag den gegenteiligen Fall zeigen, daß nämlich ein Sachfehler dem Autor – wiederum auf Grund von Interpretation – durchaus angerechnet werden muß und deshalb beizubehalten ist. Allerdings verlasse ich dabei – wenn man es mir er

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Lesart „als sinntragender Bestandteil des Textes, der durch sie weder in seiner Struktur noch in seiner Aussage beschädigt ist, erhalten bleiben“. Goethe: Dichtung und Wahrheit, Bd. 1 (Anm. 19), S. 71. Vgl. Klopstock: Werke, Bd. IV, 1 (Anm. 15), S. 203; dazu Klopstock: Werke (Anm. 15), Bd. IV, 5.1: Der Messias, Apparat. Hrsg. von Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin, New York 1986, S. 254f.

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laubt – die hohen Gefilde der Literatur und steige etwas tiefer hinab. Aber Textkritik und Interpretation gelten für alle Qualitäten der Literatur. Und so komme ich zu niemand anderem als – Karl May. Im dritten Band des Winnetou nimmt der Ich-Erzähler Old Shatterhand die Verfolgung von Banditen auf, die einen Eisenbahnzug überfallen haben. Bei der Spurensuche findet er „vier Mähnenhaare von brauner Farbe“ und „zwei schwarze Schwanzhaare“. Er schließt daraus, daß das eine Pferd „ein Brauner“, das andere „ein Rappe“ sein müsse. So steht es in allen autorisierten Fassungen.22 Aber Old Shatterhand, der große Pferdekenner und Reiter, irrt hier gewaltig. Denn „Brauner“ heißt in der deutschen Sprache ein Pferd mit braunen Deckhaaren, aber schwarzen Mähnen- und Schweifhaaren, während ein Pferd, dessen Mähne und Schweif ebenfalls braun sind, den Namen „Fuchs“ trägt. Die Mähnenhaare von brauner Farbe, die Old Shatterhand findet, müssen einem Fuchs, die schwarzen Schweifhaare einem Rappen oder Braunen gehören. Im Text steht hier also ein gravierender sachlicher Fehler. Ist er zu korrigieren? Niemand wird bezweifeln, daß es die Intention des Autors war, keinen Fehler zu begehen. Soll aber der Editor dieser Intention folgen? Hat der Schutz des Autors vor sich selber hier einzutreten?23 Für die Antwort muß wieder die Interpretation die Entscheidung des Textkritikers bestimmen. Eine Untersuchung des Kontextes zeigt, daß es sich hier nicht um einen Einzelfall handelt, sondern daß es bei Karl May gar manche Stelle über Pferde und Reiter gibt, über die der Fachmann nur den Kopf schütteln kann; etwa wenn ein Reiter das ungehorsame Pferd so sehr mit den Schenkeln preßt, daß es stöhnend zusammenbricht. Eine öfter wiederkehrende Szene, aber eine anatomische Unmöglichkeit. Die in Frage stehende Stelle über die Pferdehaare ist gemeinsam mit den anderen für den Autor signifikant: Sie beweist, daß Karl May nichts von Pferden verstanden hat. Sie ist natürlich beizubehalten, nämlich in einer historisch-kritischen Ausgabe. Eine solche ist tatsächlich im Entstehen, aber sie scheint ganz dilettantisch zu werden. Der dritte Band des Winnetou ist noch nicht erschienen. Wie aber sieht es bei den anderen Ausgaben aus? Wohl alle kennen die grünen Bände des Karl-May-Verlages. Sie sind jedoch umstritten, denn sie stellen Bearbeitungen (in verschiedenen Graden) dar, das wäre ein Kapitel für sich. In unserem Fall zeigt die bis 1945 erschienene sogenannte Radebeuler Ausgabe den originalen, also sachlich falschen Text. Die Bamberger Ausgabe, nach und seit dem Krieg, hat eingegriffen und auf die sachliche Richtigkeit hin korrigiert.24 Warum sie dies tat, sei am Rande noch erwähnt. In den vierziger Jahren hatte nämlich ein kleiner Schüler, der ein begeisterter Karl-May-Leser und Reiter war, den Verlag auf die falsche Aussage

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Karl May: Gesammelte Werke. Bd. 9: Winnetou III. Radebeul o. J., S. 374. Vgl. Polheim 2004 (Anm. 9). Karl May: Gesammelte Werke. Bd. 9: Winnetou III. Hrsg. von E[uchar] A[lbrecht] Schmid. Bamberg 1951, S. 347.

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Old Shatterhands aufmerksam gemacht. Das war seine erste textkritische Tat, freilich in der gegenteiligen Richtung. Der kleine Schüler hat dies später wieder gutgemacht ...25 Nach diesem etwas scherzhaften, aber doch erkenntnisreichen Ausflug wieder zurück zur höheren Literatur. Wir schreiten von der Lesart zur Fassung vor. Wie entscheidet der kritische Herausgeber, welche Fassung er für den ‚edierten Text‘, seinen Leittext, bestimmt? Nachdem das Prinzip der ‚Ausgabe letzter Hand‘ gestürzt und das zugunsten der Frühfassungen gegenteilig ausschlagende Pendel wieder zurückgeschwungen ist, bewegt sich der Editor in einem erfreulich vorurteilslosen Raum, was freilich die Last seiner Beweisführung nur erhöht. In dieser wird auf alle Fälle das Werturteil eine wesentliche Rolle spielen, und das heißt nichts anderes als das Ergebnis einer wie immer gearteten Interpretation, die sich auf einzelne Stellen wie auf größere Zusammenhänge beziehen kann. Wie nun der Textkritiker diese ‚beste‘ Fassung zu ermitteln vermag, soll jetzt nicht durch komplizierte theoretische Erwägungen, sondern an einem praktischen Beispiel gezeigt werden, das besonders heikel ist, weil die zwei vorhandenen Fassungen dasselbe Erscheinungsjahr aufweisen. Gemeint ist Eichendorffs Novelle Die Glücksritter, erschienen im Rheinischen Jahrbuch, 1841, und in der (ersten und zu Eichendorffs Zeiten einzigen) Gesamtausgabe, 1841. Eine zeitliche Differenz gibt es aber trotzdem, denn es ist nachzuweisen, daß das Jahrbuch wie üblich vordatiert und bereits zur Herbstmesse 1840 erschienen war. Moderne Ausgaben verhalten sich unterschiedlich. Die Winkler-Ausgabe, 1978, gibt wie bei allen Romanen und Erzählungen der Gesamtausgabe den Vorzug. Die Reclam-Ausgabe, 1990, und der Deutsche Klassiker Verlag, 1993, drucken nach dem Rheinischen Jahrbuch, denn man war von der Gesamtausgabe abgerückt, im allgemeinen aus guten Gründen. Im Verlagsvertrag dazu hatte nämlich der Verleger Simion festgelegt, daß der Dichter bei „bereits erschienenen Werken“ von einer Korrektur – und das hieß natürlich: vom Honorar – ausgeschlossen sei,26 weshalb diese Werke mit Recht als nicht autorisiert gelten. Die Glücksritter hat man stillschweigend einbezogen, obwohl im Vertrag unter den „noch ungedruckten Schriften“, die der Dichter korrigieren konnte, ohne Titel „eine Novelle“ – und das sind ohne Zweifel die Glücksritter – genannt ist. Juristisch muß also die Novelle als autorisiert gelten, editorisch aber nur, wenn Eichendorff sie als einzige in der Gesamtausgabe tatsächlich korrigiert hätte. Ob er dies getan hat, kann nur ein Vergleich der beiden Fassungen auf Grund von Interpretation lehren, und das ist um so schwieriger, als beide Druckvorlagen fehlen. Der Jahrbuch-Druck kann übrigens unmöglich die Druckvorlage für die

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Vgl. Karl Konrad Polheim: In den Schluchten der Texte. Das Problem einer historisch-kritischen KarlMay-Ausgabe. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 18 (1988), S. 38–65. Wieder in: Polheim 1992 (Anm. 5), S. 89–124, hier S. 89f. Verlagsvertrag. In: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begr. von Wilhelm Kosch und August Sauer, fortgef. und hrsg. von Hermann Kunisch † und Helmut Koopmann. Bd. 5/2: Erzählungen, Erster Teil, Kommentar. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen 2000, S. XIII.

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Werke sein, da Simion die Novelle sonst unter die „bereits erschienenen“ aufgenommen hätte. Während bei allen anderen Novellen die früheren Fassungen ungewöhnliche Wörter und Formen verwenden, die mit Eichendorffs Stil im Einklang stehen, und die Fassungen in den Werken nach charakteristischem Setzerverhalten davon abweichen, verhält es sich bei den Glücksrittern umgekehrt. Das kann an vielen Fällen nachgewiesen werden. Zwei davon seien herausgegriffen. Die Glücksritter Suppius und Klarinett sitzen des Nachts in der Kutsche, sehen nichts und sind nur auf ihr Gehör angewiesen. Die Jahrbuch-Fassung schreibt: „gieng der Knecht an den Brunnen im Hofe, pumpte Wasser in den Eimer“. Die WerkeFassung hat dagegen feinsinnig lautmalend: „plumpte Wasser in den Eimer“. „Plumpen“ ist bei Adelung beschrieben: „Den Schall von sich geben, welchen man durch plump ausdrückt.“27 Im weiteren Verlauf hört Klarinett „vom Stall her wieder das einförmige Schnurren der Pferde“, so im Jahrbuch, was ganz unsinnig ist, denn Pferde sind ja keine Katzen! In den Werken dagegen ist – wiederum lautmalend – vom „Schnurzen der Pferde“ die Rede. Ein ähnliches Wort („schnurfen“) ist im Schlesischen Wörterbuch nachzuweisen: „hörbar etwas Hartes zerbeißen“, „wenn Pferde Mohrrüben fressen“. (Übrigens versagt hier auch das Deutsche Wörterbuch, das diese Stelle unter „Schnurzen“ als einzige zitiert, aber mit „schmatzen“ erklärt. Pferde jedoch „schmatzen“ auch nicht!)28 Auch stilistisch weichen beide Fassungen voneinander ab. Als nach der Schlacht bei Hanau der Schreckenberger und seine Kumpane „retirirten“, heißt es im Jahrbuch: „und eine vornehme Dame auf kostbarem Zelter, einen Pagen hinter sich, retirirte immer neben uns her“. Die Werke haben hier sinnvoll zwei Wörter ausgelassen: das Attribut „vornehme“ , weil es überflüssig und durch „Zelter“ und „Pagen“ deutlich ist, und die störende Wortwiederholung „retirirte“.29 Es ist kein Zweifel, daß in allen Fällen die Werke den besseren Text bieten. Nun gibt es aber auch einige wenige Stellen, wo das Jahrbuch besser ist, die Werke dagegen recht unsinnig sind. Aber gerade sie bestätigen unsere Entscheidung. Ein Fall mag hier genügen. Das Jahrbuch druckt: „Die machte einen Teufelslärm auf dem Dach“, die Werke jedoch: „Teufelsbären“, also Unsinn.30 Der Setzer der Werke hat dieses Wort gewiß nicht bewußt geändert, aber auch unbewußt wird ihm ein so ausgefallenes Wort nicht in den Setzkasten gerutscht sein. Eine andere Erklärung liegt auf der Hand: Der bemühte Setzer hat das Wort aus einer Handschrift (die nicht erhalten ist) falsch gelesen, wie denn in Eichendorffs Schrift die Buchstaben l und b sowie -m und -en leicht zu verwechseln sind. Diese Erklärung bestätigt, daß die Druckvorlage in den Werken eben nicht wie bei den anderen Novellen eine gedruckte frühere Fassung – in unserem Fall im Rheinischen Jahrbuch – war, sondern eine Handschrift Eichendorffs. Daraus ergibt sich die Ausnahmestellung der Glücksritter in den Werken, deren Fassung hier eindeutig vor-

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Vgl. Eichendorff: Werke, Bd. 5/2 (Anm. 26), S. 542, 552. Vgl. Eichendorff: Werke, Bd. 5/2 (Anm. 26), S. 542, 552. Vgl. Eichendorff: Werke, Bd. 5/2 (Anm. 26), S. 543. Vgl. Eichendorff: Werke, Bd. 5/2 (Anm. 26), S. 543f.

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zuziehen und der historisch-kritischen Ausgabe zu Grunde zu legen ist. Ein überraschendes Ergebnis, das eben nur durch die Verbindung von Textkritik und Interpretation gewonnen werden konnte. Ceterum censeo: Die Textkritik kann die Interpretation genausowenig entbehren wie die Interpretation die Textkritik.

Ursula Schulze

Synopse als Hilfsmittel und als Selbstzweck Probleme der Textkritik beim Geistlichen Spiel

In Reaktion auf die Problematisierung traditioneller textkritischer Methoden,1 die zu Urfassungen oder Archetypen führen sollten, haben heute Synopsen Konjunktur.2 Sie befreien von der Notwendigkeit, mehrfach überlieferte Texte zu hierarchisieren; die verschiedenen Zeugnisse werden als eigenständige historische Traditionen erfaßt, und sie lassen sich im Blick auf ihre Identität und Varianz vergleichend lesen, – das ist eine anscheinend ideale Textpräsentation, die eine Grundlage für verschiedene Erkenntnisinteressen schafft. Doch diese prinzipielle Feststellung läßt sich für den Editor nicht immer einfach praktisch umsetzen. Die Erstellung des synoptischen Textes erfordert außer den Entscheidungen für ein technisches Darstellungskonzept eine Reihe von Vorabinformationen.3 Der Editor muß die Texte soweit kennen, daß er verantwortlich entscheiden kann, ob und in welcher Weise der Aufwand einer synoptischen Präsentation lohnt, ob sinnvolle Aufschlüsse zu erwarten sind. Synopsen sollten nicht zum Bußakt für die Sünden der Philologiegeschichte werden, indem man sie schematisch an die Stelle kontaminierter Versionen setzt. Ihr möglicher Nutzen und die Benutzbarkeit bedürfen durchaus kritischer Reflexion. Schon dieser Einleitung ist zu entnehmen, daß ich verschiedene Dimensionen des Begriffs Textkritik im Sinn habe: eine enger und eine weiter gefaßte, offene Bedeutung.4 Die Spezifik der im 19. Jahrhundert aus der Altphilologie auf die mediävisti-

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Einen Überblick über die Methoden und ihre Problematisierung geben z.B.: Altgermanistische Editionswissenschaft. Hrsg. von Thomas Bein. Frankfurt a.M./Berlin/New York u.a. 1995, und der Sammelband: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervoren und Horst Wenzel. ZfdPh 116 (1997). Sonderheft. Im Bereich der Lyrik: Hubert Heinen: Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Göppingen 1989 (GAG. 515), und die Salzburger Neidhart-Edition (SNE). Hrsg. von Ulrich Müller, Franz Victor Spechtler, Ingrid Bennewitz. Bd. 1-3. Berlin/New York 2007. – Für Walther von der Vogelweide wird die Synopse aufgrund eines Beispiels als Desiderat gesehen: Ulrich Müller und Margarete Springeth: Wie ediert man den Reichston Walthers von der Vogelweide – nach Handschrift A, B oder C? In: Walther Lesen. Interpretation und Überlegungen zu Walther von der Vogelweide. Festschrift für Ursula Schulze zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Volker Mertens und Ulrich Müller. Göppingen 2001 (GAG. 692), S. 235–253. – Im Bereich der Epik: Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hrsg. von Joachim Bumke. Berlin/New York 1999. Paralleldruck befürwortet für umfangreiche Varianten, aus denen die Textgenese ablesbar ist, generell Johannes Janota: Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten. In: „In Spuren gehen…“. Festschrift für Helmut Koopmann. Hrsg. von Andrea Bartl, Jürgen Eder, Harry Fröhlich, Klaus Dieter Prost und Ursula Regener. Tübingen 1998, S. 65–80, bes. S. 76f. Vgl. Kurt Gärtner: Synopse. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft III (2003), S. 559–561. Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Textkritik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft III (2003), S. 602–607.

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sche Germanistik übertragene Textkritik besteht in der Ausrichtung des Dreischritts Heuristik-Kollation-Recensio auf das Ziel, die beste und originale Fassung eines nicht autorisiert vorliegenden Textes für die Edition zu ermitteln, verbunden mit der Illusion, daß dies möglich und unter Umständen durch Rekonstruktion sinnvoll zu erreichen sei. In der ideologischen Perspektive liegt die Problematik des traditionellen Begriffs, während die drei Schritte als solche (die Ermittlung der Textzeugen, ihr Vergleich und auch Überlegungen zur Beziehung der tradierten Textversionen und Überlieferungsträger) nicht nur allgemeine Berechtigung, sondern weithin ihre notwendige Funktion für die Edition – auch für Paralleldruck und Synopse – behalten. Daß ich diese eher selbstverständlichen Gesichtspunkte hier anspreche, ergibt sich aus der Betrachtung zweier in jüngster Zeit erschienenen Ausgaben zum Geistlichen Spiel.5 In den folgenden Ausführungen sollen die Eigenarten der beiden Editionen beschrieben und Folgerungen für synoptische Textpräsentationen im Bereich des Geistlichen Spiels erörtert werden. Ich beginne mit Bemerkungen zur Editionsgeschichte der Geistlichen Spiele allgemein: Die Gattung, die erst im Spätmittelalter zunehmend in deutscher Sprache hervortrat,6 lag außerhalb des Interesses der Philologen, die für die textkritischen Konzepte verantwortlich waren. In den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde auf einzelne Dramen durch Editionen aufmerksam gemacht: Oster-, Passions-, Weihnachtsspiele u.a.7 In den 80er und 90er Jahren wuchs die Zahl der Ausgaben stark an, darunter sind umfangreiche, bedeutende Vertreter der Gattung, wie das Augsburger, Heidelberger, Egerer, Erlauer, Frankfurter und Alsfelder Passionsspiel.8

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Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck. Hrsg. von Johannes Janota. Bd. I: Frankfurter Dirigierrolle – Frankfurter Passionsspiel. Mit den Paralleltexten der Frankfurter Dirigierrolle, des Alsfelder Passionsspiels, des Heidelberger Passionsspiels, des Frankfurter Osterspielfragments und des Fritzlarer Passionsspielfragments. Tübingen 1996; Bd. II: Alsfelder Passionsspiel – Frankfurter Dirigierrolle mit den Paralleltexten. Weitere Spielzeugnisse. Alsfelder Passionsspiel mit den Paralleltexten. Tübingen 2002; Bd. III: Heidelberger Passionsspiel. Mit den Paralleltexten der Frankfurter Dirigierrolle, des Frankfurter Passionsspiels, des Alsfelder Passionsspiels und des Fritzlarer Passionsspielfragments. Tübingen 2004; Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. Hrsg. von Hansjürgen Linke. I. Einleitung; II. Texte, 2 Halbbände. Tübingen/Basel 2002. Eine chronologische Übersicht findet sich bei Bernd Neumann: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. Bd. 1 und 2. München 1987 (MTU. 84 und 85), hier Bd. 1, S. 64–97, genauere Informationen zur Überlieferung bei Rolf Bergmann: Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, unter Mitarbeit von Eva P. Diedrichs und Christoph Treutwein. München 1986 (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Besonders zu nennen und zum Teil heute noch nicht durch neue Editionen ersetzt: Altteutsche Schauspiele. Hrsg. von Franz Joseph Mone. Quedlinburg/Leipzig 1841 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur. 21), und Schauspiele des Mittelalters. Aus Handschriften hrsg. und erklärt. Bd. I und II. Hrsg. von Franz Joseph Mone. Karlsruhe 1846. Das Augsburger Passionsspiel in der Ausgabe: Das Oberammergauer Passionsspiel in seiner ältesten Gestalt. Zum ersten Male hrsg. von August Hartmann. Leipzig 1880. Nachdruck Wiesbaden 1968; Heidelberger Passionsspiel. Hrsg. von Gustav Milchsack Tübingen 1880 (BLV. 150); Egerer Fronleichnamsspiel. Hrsg. von Gustav Milchsack. Tübingen 1881 (BLV. 156); Erlauer Spiele. Sechs altdeutsche Mysterien. Nach einer Handschrift des XV. Jahrhunderts zum erstenmale hrsg. und erläutert. Hrsg. von Karl Ferd[dinand] Kummer. Wien 1882. Nachdruck 1977; Das Drama des Mittelalters. I. Die lateinischen Osterfeiern und ihre Entwickelung in Deutschland. Die Osterspiele. Die Passionsspiele, II. Passi-

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Es handelt sich weitgehend um diplomatische Abdrucke der einfach überlieferten Texte, teilweise mit Veränderungen und Zusätzen für verschiedene Aufführungen, die gleichsam als Gebrauchsversionen gewürdigt wurden, ungeachtet der ‚Familienähnlichkeit‘ in einer Reihe von Spielen. Hier hätten die Editionsphilologen für die Einschätzung etwa variierender Lyrikfassungen wichtige Hinweise erhalten können, aber die Einflußnahme ging in umgekehrter Richtung. Aus der großen Tiroler Passionsspielfamilie versuchte Joseph Eduard Wackernell 1897 das Urspiel der Tiroler Passion zu rekonstruieren.9 Am fragwürdigsten ging Eduard Hartl mit den Osterspieltexten in seiner Ausgabe von 1937 um, indem er zur Herstellung des vermeintlich ursprünglichen Textes Szenenfolgen neu gliederte, Personenanweisungen änderte und anderes mehr. Textkritik erfolgte ganz im Dienste des ideologischen Konzepts.10 Das Plädoyer für den Eigenwert von Spieltexten, die zu verschiedenen Aufführungen bestimmt waren, stammt aus dem Jahre 1949 von Wolfgang F. Michael11 und geht damit zeitlich der Diskussion über die Edition verschiedener Textfassungen anderer Gattungen deutlich voraus. Paul-Gerhard Völker12 und Johannes Janota haben 1966/68 und 1976 Möglichkeiten „gattungsadäquater Editionsformen“ erörtert.13 Sie gehen von der Tatsache aus, deutlicher als in der Überlieferung anderer literarischer Texte, von denen Abschriften hergestellt wurden, sei bei der Spielüberlieferung erkennbar, daß abweichende Fassungen von Spielen und Spielteilen Gebrauchsformen für verschiedene Aufführungen darstellen, die Korrespondenzen untereinander erkennen lassen. Diese sollten editorisch sichtbar gemacht werden. Janota hat eine Edition gefordert, „aus der die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der edierten Spieltradition abzulesen ist“.14 Völker hat, angeregt durch Friedrich Beissners HölderlinAusgabe, einen konkreten Editionsvorschlag unterbreitet, der den Entstehungsprozeß einer Spielgruppe sichtbar machen soll. Für eine kleinere Textpassage (sechs Verse einer Judas-Rede) bringt er eine Zeilensynopse der vier Fassungen der Hessischen Spielgruppe (Frankfurter Dirigierrolle, Frankfurter, Alsfelder, Heidelberger Passi-

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onsspiele, III. Passionsspiele. Weihnachts- und Dreikönigsspiele. Fastnachtspiele. Hrsg. von Richard Froning. Stuttgart o. J. [1891–1892]. Nachdruck in einem Band, Darmstadt 1964 (DNL. 14). Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol. Mit Abhandlungen über ihre Entwicklung, Composition, Quellen, Aufführungen und litterarhistorische Stellung. Hrsg. von Joseph Eduard Wackernell. Graz 1897. Nachdruck Wiesbaden 1972 (Quellen und Forschungen zur Geschichte, Litteratur und Sprache Österreichs und seiner Kronländer. 1). Das Drama des Mittelalters. Bd. I: Sein Wesen und sein Werden. Osterfeiern. Mit Einleitungen und Anmerkungen auf Grund der Handschriften. Bd. II: Osterspiele. Hrsg. von Eduard Hartl. Leipzig 1937 (DLE. Reihe Drama des Mittelalters. 1 und 2). Nachdruck Darmstadt 1964. – Wilhelm Emrich: Rez. zu Hartl. In: ZfdA 78 (1941), S. 114–123, hat bereits damals die wesentlichen Probleme angesprochen. Wolfgang F. Michael: Problems in Editing Medieval Dramas. In: The Germanic Rewiew 24 (1949), S. 108–115. Paul-Gerhard Völker: Schwierigkeiten bei der Edition Geistlicher Spiele des Mittelalters. In: Kolloquium über Probleme altgermanistischer Edtionen. Marbach a.N., 26. und 27. April 1966. Hrsg. von Hugo Kuhn, Karl Stackmann und Dieter Wuttke. Wiesbaden 1968 (Forschungsberichte der DFG. 13), S. 160– 168. Johannes Janota: Auf der Suche nach gattungsadäquaten Editionsformen bei der Herausgabe mittelalterlicher Spiele. In: Tiroler Volksschauspiel. Beiträge zur Theatergeschichte des Alpenraumes. Hrsg. von Egon Kühebacher. Bozen 1976 (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstituts. 3), S. 74–87. Janota 1976 (Anm. 13), S. 81.

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onsspiel) in chronologischer Reihenfolge der Überlieferung.15 Zu dem Text der oberen Zeile werden jeweils die Abweichungen in den folgenden Zeilen gedruckt. Janota hat diesen Vorschlag ernstgenommen, wenn auch mit dem Hinweis, daß er für größere Textabschnitte der Erprobung bedürfe.16 Eine zeitliche Rasterung der Fassungsdarbietung, die der Editor für die erreichbaren Textstufen „textkritisch“ erarbeiten müsse, erscheint ihm für die „editorische Dokumentation der Textgeschichte“ unbedingt erforderlich.17 Außerdem hält er einen „informierenden Lesetext“ im Verbund mit der historisch-philologischen Darbietung der Spielgruppentexte für wichtig; denn er sieht die Gefahr, daß bei der editorischen Aufbereitung der Textgeschichte die Wahrnehmungsmöglichkeit der Einzelrealisationen verloren gehe, auch wenn es wichtig sei, letztere im Kontext der Texttradition vorzuführen.18 Johannes Janota hat die Editionsprobleme und Lösungsmöglichkeiten weiter reflektiert und ist nach intensiven Vorarbeiten zu einem beachtenswerten Ergebnis für die Hessische Passionsspielgruppe gelangt, das seinen Zielsetzungen weitgehend gerecht wird. Hansjürgen Linke hat nach ebenfalls jahrzehntelanger Beschäftigung mit den Texten19 die Kompetenz und Verantwortung des Editors in einer kaum lesbaren synoptischen Ausgabe, die keine kritisch definierte Rasterung besitzt, quasi verleugnet. Die von Linke herausgegebenen Weltgerichtsspiele stellen einen Sonderfall der Spielüberlieferung dar; denn es gibt – nach derzeitigem Ermittlungsstand – dreizehn Stücke, die einerseits eng miteinander verwandte Textpassagen aufweisen, andrerseits aber auch Varianten und Zusätze verschiedener Art enthalten.20 Sie sind Ausdruck von Bearbeitungen für den Aufführungs- und Lektüregebrauch und dokumentieren den Texttransfer innerhalb des alemannischen Raums (Luzern, Schaffhausen, Chur), darüber hinaus nach Bairisch-Schwaben und Bayern (Augsburg und München), außerdem bezeugen sie einen Wechsel in der Bestimmung für verschiedene Medien.21 Abgesehen von den Gebrauchsfunktionen lassen sich die Textzeugnisse in drei Gruppen untergliedern: einfacher Spieltyp (Typ I), stark erweiterter Spieltyp (Typ II), erweiterter Typ als Teil einer anderen Textsorte (Typ III).22

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Völker 1968 (Anm. 12), S. 164f. Janota 1976 (Anm. 13), S. 83f. Janota 1976 (Anm. 13), S. 84. Janota 1976 (Anm. 13), S. 84f. Vgl. die Literaturliste bei Bergmann 1986 (Anm. 6), S. 582f. Es handelt sich in der Reihenfolge ihrer Überlieferung um das Donaueschinger, Kopenhagener, Berner, Berliner, Wülkers, Güssinger, Münchner, Churer Weltgerichtsspiel, das Spiel der Sammlung Jantz, das Luzerner und Walenstädter Spiel, jeweils in handschriftlicher Form, und um eine in Ulrich Tenglers gedruckten Der neü Layenspiegel integrierte Bearbeitung. Informationen zu den verschiedenen Versionen bei Dieter Trauden: Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des Mittelalters. Amsterdam/Atlanta 2000 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 142), S. 7–86. Außer zum Münchner, Luzerner und zu Wülkers Weltgerichtsspiel liegen zu allen Texten Editionen vor. Es gibt Manuskripte, die im Zusammenhang mit Aufführungen stehen, bebilderte Erbauungsbücher, eine Bearbeitung mit Prosaeinschüben als demonstrativer Anhang zu dem gedruckten Rechtshandbuch von Ulrich Tenglers Der neü Layenspiegel (1511) und dessen Verselbständigung zu Einem schon buchlen vom iungsten gericht (1512). Vgl. die Ausführungen zu der Art der Überlieferung bei Trauden 2000 (Anm. 20), S. 7–86. Vgl. zu den Typen: Churer Weltgerichtsspiel. Nach der Handschrift des Staatsarchivs Graubünden Chur Ms. B 1521. Hrsg. von Ursula Schulze. Berlin 1993 (TdspMA. 35), S. 16f. Durch Ausgliederung des

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Diese Unterschiede interessieren im Hinblick auf die Möglichkeiten einer synoptischen Textpräsentation. Anfang des 20. Jahrhunderts waren von der Weltgerichtsspielüberlieferung neun Texte bekannt, und auf deren Basis hat Rudolf Klee 1906 eine kritische Ausgabe mit normalisierter Graphie erstellt:23 Das von ihm edierte Spiel ist nicht nur in Struktur und Wortlaut ein Konstrukt, seine am klassischen Mittelhochdeutsch orientierte Sprachform hebt von dem Dialektraum und der Entstehungszeit der Manuskripte ab. Keine der Handschriften läßt sich vor der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts datieren. Ob und wann man die Entstehung eines vorangehenden Weltgerichtsspiels ansetzen kann, ist unsicher. Eine chronologische Übersicht zeigt die heute bekannte Überlieferung. Weltgerichtsspiel Donaueschinger Kopenhagener Berner Schaffhauser Berliner Wülkers Güssinger Münchner Churer Sammlung Jantz Luzerner 1 Walenstädter WG in Tenglers Layensp.

Datierung 1. H. 15. Jh. 2. V. 15. Jh. um 1462 1467 1482 E. 15. Jh. um 1500 1510 um 1517 um 1523 1. H. 16. Jh. vor 1653 Druck 1511

Herkunft ? Grüningen Luzern Schaffhausen Augsburg ? Güssing München Chur ? Luzern Walenstadt Augsburg

Dialekt hochalem. niederalem. hochalem. hochalem. schwäbisch (alem.) bairisch bairisch hochalem. alem. hochalem. hochalem. schwäbisch

Versumfang 334 997 1006 924 1510 911 877 1992 1543 879 2760 807 Verse u. Prosa

Typ I I I I II I I II II I II I III

Die konventionalisierten Bezeichnungen der einzelnen Spiele beziehen sich auf die Lagerorte der Handschriften und auf Sammlernamen; die Herkunftsorte sind zum Teil erschlossen. Wie die Verszahlen zeigen, differiert der Umfang stark, er weist auf die verschiedenen Fassungstypen hin.24 Vor Rudolf Klees Konstrukt gab es gesonderte Ausgaben des Schaffhauser und Walenstädter Spiels. 1962 edierte Wolfgang Stammler das neu aufgefundene Berner Spiel, danach folgten Einzeleditionen fast aller Texte.25 Sie beruhen auf der Voraussetzung, daß die Fassungen als historische Zeugnisse eigene Beachtung verdienen. Wo Relationen zu anderen Versionen der Gruppe hergestellt werden, fällt die Beurteilung der Herausgeber unterschiedlich aus. Insbesondere Hans Blosen26 und Hans-

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Berliner Spiels aus der zweiten Gruppe ist dort ein weiterer Typ abgesetzt. S. auch Ursula Schulze: Zur Typologie der Weltgerichtsspiele des 16. Jahrhunderts. In: Textsorten und Textallianzen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Hrsg. Von Peter Wiesinger. Berlin 2007 (Berliner Sprachwiss. Studien 8), S.237258. Rudolf Klee: Das mittelhochdeutsche Spiel vom jüngsten Tage. Diss. phil. Marburg 1906. Grundlage meiner Übersicht ist die Tabelle bei Trauden 2000 (Anm. 20), S. 137. Ausgaben des Münchner und des Luzerner Spiels sind in Vorbereitung. Das Kopenhagener Weltgerichtsspiel. Hrsg. von Hans Blosen und Ole Lauridsen. Heidelberg 1988 (Germanische Bibliothek, NF, 4. Reihe, Texte), und Rez. zu Schulze 1993 (Anm. 22). In: Augias 47 (1995), S. 25–43.

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jürgen Linke27 beziehen sich auf eine postulierte ‚Vulgatafassung‘, ohne den Begriff für ihren Kontext zu definieren, und sie korrigieren vermeintliche Fehler nicht nur in der eigenen Edition, sondern monieren, daß derartige Verbesserungen in anderen Ausgaben nicht erfolgt seien (wie Zuordnungen zu Rollensprechern, Zusätze und Umstellungen von Versen betreffend). Gewissermaßen in Ergänzung zu den Einzelausgaben hat Hansjürgen Linke 2002 eine Synoptische Gesamtausgabe aller bis dato bekannten Weltgerichtsspiele vorgelegt.28 Seine erklärte Absicht besteht darin, eine Textgrundlage zu schaffen, „die jeden Text mit jedem anderen der Spielgruppe vergleichbar macht.“29 Auch der Zweck des Vergleichs wird anvisiert: gleichsam diachron „Tendenzen der historischen Entwicklung innerhalb der Spielgattung zuverlässig [zu] ermitteln sowie auch gegründete Rückschlüsse auf die sprachliche Urgestalt [zu] ziehen“ und synchron „die je individuelle Qualität, allfällige Bearbeitungstendenzen und Konzeption eines jeden Stückes“ zu beurteilen.30 Außerdem soll die Ausgabe der literarischen und theologischen Interpretation der Texte dienen.31 Diese Zweckbestimmungen wirken – abgesehen von der ‚Urgestalt‘, die zwar nicht rekonstruiert, aber doch angepeilt wird – sinnvoll. Das vorgelegte Druckwerk ist allerdings kaum den genannten Zwecken dienlich, es besitzt eher Selbstzweckcharakter, von dem Preis (198,00 Euro) einmal abgesehen.32 Die Ausgabe umfaßt drei großformatige Teilbände (28 x 28 cm): I. Einleitung, II. Texte in zwei Halbbänden. Von den 710 Seiten der Textbände ist der größte Teil allerdings nur knapp zur Hälfte bedruckt. Dieser äußerst großzügige Umgang mit dem Druckraum und die damit verbundene Benutzerunfreundlichkeit sind sachlich nicht zu rechtfertigen. Der Herausgeber hat die Texte der Spiele, die verglichen werden sollen, zeilenweise in alphabetischer Reihenfolge der angegebenen Siglen untereinander plaziert und mit der jedem Text eigenen Verszählung versehen. Dabei ergibt sich, wenn alle Textzeugen vertreten sind, ein 13zeiliger Block (15zeilig, wenn zwei Fragmente hinzukommen) zur vertikalen Synopse.33 Pro Seite stehen zwei Blöcke als Kolumnen nebeneinander, sodaß man im aufgeschlagenen Buch auf der linken und rechten Seite horizontal hintereinander vier Verse eines Spiels lesen kann oder besser könnte. Einschübe aus den erweiterten Fassungen unterbrechen die Zeilenabfolge. Für die Spiele des einfachen Typs von rund 1000 Versen hat man erst nach fast 700 Seiten, die sich auf die beiden Textbände verteilen, das Ende erreicht. Die irritierende Textzerdeh-

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Das Güssinger Weltgerichtsspiel. Hrsg. von Hansjürgen Linke. Heidelberg 1995 (Germanische Bibliothek, NF, 4. Reihe, Texte 9), dazu Ursula Schulze: Rez. In: Arbitrium 16 (1998), S. 55–57. Die deutschen Weltgerichtspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. I. Einleitung; II. Texte, 2 Halbbände. Hrsg. von Hansjürgen Linke. Tübingen/Basel 2002. Linke 2002 (Anm. 28), I, S. 49. Linke 2002 (Anm. 28), I, S. 49. Linke 2002 (Anm. 28), I, S. 49. Ursula Schulze: Rez. zu Linke: Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. In: GRM 54 (2004), S. 245-249. Üblicherweise wird das Verfahren als Zeilensynopse bezeichnet, vgl. Gärtner 2003 (Anm. 3), S. 560; allerdings wird sonst kaum eine so große Zahl von Zeilen untereinander gesetzt. Es ähnelt im Grunde dem von Völker 1968 (Anm. 12), S. 164f., gemachten Vorschlag.

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nung macht eine zusammenhängende Lektüre und genaue Vergegenwärtigung, wem jeweils gerade der Rollentext zugeordnet ist, worüber der Rollenträger spricht, wie er argumentiert und wo Differenzen zwischen den einzelnen Spielen bestehen, weitgehend unmöglich. Zu der drucktechnischen Zerstückelung aller Spieltexte kommen Umstellungen im Verlauf einzelner Versionen, die vorgenommen sind, um die zusammenpassenden Textelemente für die synoptischen Blöcke zu gewinnen. Zwar ist die Vergleichbarkeit der vertikal aufgereihten Einzelverse oder Rubriken gewährleistet; aber zu welchem Erkenntnisgewinn führt das? Ich halte es für wenig sinnvoll, die extreme Behinderung fortlaufender Textwahrnehmung zu akzeptieren, um dann festzustellen, daß der Wortlaut vieler Verse übereinstimmt und daß lediglich graphematische und phonematische – also kulturtechnisch bedingte – Varianzen bestehen oder daß Regieanweisungen im einzelnen unterschiedlich formuliert sind, sich jedoch sinngemäß nicht unterscheiden.34 Ich greife zwei beliebige Beispiele heraus, um diese Feststellungen zu belegen, sie ließen sich vielfach vermehren: den Anfang des Prophetenspiels, das der Darstellung des Jüngsten Gerichts vorangeht (II,1, S. 6 = Abb. 1, Seite 232) sowie die Aufforderung des Richters an den Teufel, die Verdammten in die Hölle zu überführen (II,2, S. 217 = Abb. 2, Seite 232). Das Vergleichsergebnis weitgehender Übereinstimmung im Wortlaut bedürfte nicht so aufwendiger Demonstration. Die Konvergenz wäre auch anhand eines Leittextes mit Anmerkungen oder durch Erläuterungen darstellbar. Außerdem wäre es auf jeden Fall sinnvoll, den einfachen Spieltyp und die erweiterten Fassungen nicht in einem Zuge synoptisch zu behandeln. Man könnte auf die Zusätze verweisen und sie an anderer Stelle drucken. Auch szenenmäßige Synopsen wären denkbar. Ich habe zu den beliebig ausgewählten Beispielen jeweils die Position der Textstellen im Spielablauf genannt. Derartige Angaben sucht man bei Linke vergebens. Zwar findet sich im Einleitungsband eine „Vers- und Handlungssynopse“, aber diese verhilft nicht zu der notwendigen Orientierung, weil ihr keine szenische Gliederung zugrunde liegt.35 Die Positionierung der Textzeilen oder -passagen ist aber unbedingt erforderlich, um den Benutzer der Synopse zu orientieren, zu welcher Szene der untenstehende Vers oder die Regieanweisung gehören. Der Herausgeber müßte vorab ein auf einheitliche Kategorien abgestimmtes Gliederungsgerüst der Spiele ermitteln36 und dann in der Textpräsentation zur Geltung bringen, etwa in Form von Kopfzeilen oder von ‚lebenden Kolumnentiteln‘. Das wäre ein wichtiger textkritischer Arbeitsakt. Er förderte die effektive Benutzbarkeit der Ausgabe und ließe Sonderszenen deutlich hervortreten. Das Kriterium der Lesbarkeit hat H. Linke 1993 in einem Aufsatz zu Fragen der Edition mittelalterlicher Dramen

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Aus der grundsätzlichen Einsicht, daß verschiedene Arten von Varianzen unterschieden werden müssen [vgl. Karl Stackmann: Varianz der Worte, der Form und des Sinnes. In: Tervooren 1997 (Anm. 1), S. 131–149, und Thomas Bein: Fassungen – iudicium – editorische Praxis. In: Walther von der Vogelweide. Hrsg. von Thomas Bein. Textkritik und Edition. Berlin/New York 1999, S.72–90.], ergeben sich Folgerungen, ob und wie variierende Texte editorisch zu präsentieren sind. Vgl. Schulze 2004 (Anm. 32). S.u. die Ausführungen zu der Ausgabe von Johannes Janota (Anm. 45).

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als wichtigen Gesichtspunkt hervorgehoben,37 und er hat die Überlegungen und Vorschläge von Paul-Gerhard Völker und Johannes Janota38 entschieden abgelehnt, weil sie dieses Kriterium nicht erfüllen.39 Warum Linke den wichtigen Maßstab der Benutzbarkeit bei der Konzeption seiner Ausgabe nicht angelegt hat, ist unverständlich, zumal er das von Völker vorgeschlagene Verfahren potenziert. Hansjürgen Linke, ein guter Kenner der Materie, hält sichere Kenntnisse über die Texte geradezu zurück. Er bringt nicht einmal die vorhandenen Informationen über die Chronologie der Handschriften in die Anordnung der Synopse ein und druckt die Spiele alphabetisch untereinander. Vielleicht steht die irrige Annahme dahinter, eine synoptische Ausgabe müsse kommentarlose Neutralität bewahren. Das ist insofern abwegig, als jede Reihenfolge eine Skalierung suggeriert. Bereits vorhandene und zu erarbeitende Informationen in die Textpräsentation einzubringen, steht einem souveränen Textvergleich durch den Benutzer nicht im Weg; denn die Synopse ist kein voraussetzungsloses Spiel. Eine textkritisch begründete Rasterung macht synchrone und diachrone Einsichten erst möglich. Dazu gehört auch die Markierung, wo es sich mit Gewißheit um zur Lektüre bestimmte Fassungen handelt. Wenn zum einen im Bereich der mittelhochdeutschen Lyrik und Epik die berechtigte Kritik an kontaminierten Texteditionen zu der Forderung nach eigenen Abdrucken der verschiedenen Überlieferungszeugnisse geführt hat und wenn es zum anderen neben den wohlbegründeten Einzeldrucken der Weltgerichtsspiele40 angebracht erscheint, Berührungen und Übereinstimmungen im Wortlaut – gegenüber den Differenzen – sichtbar zu machen, sollte das gewählte Darbietungsverfahren in jedem Fall auf die Art der Texte und effektive Vergleichsmöglichkeiten abgestimmt sein. Das gilt für die Weltgerichtsspiele wie für die Epik und Lyrik. Joachim Bumke hat die vier Fassungen der Nibelungenklage in Form von bestimmten Repräsentanten in vergleichbaren Textabschnitten unter- und nebeneinander gestellt, er hat nicht sämtliche handschriftlichen Zeugen Zeile unter Zeile aufgereiht.41 Ebenso ist eine sinnvolle Wahrnehmung von Übereinstimmung und Abweichung in der Dokumentation von Hubert Heinens Mutabilität im Minnesang möglich.42 Ulrich Müller und Margarete Springeth haben einen einsichtigen Editionsvorschlag für Walthers Reichston in enem

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Hansjürgen Linke: Die Gradwanderung des Spieleditors. In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Hrsg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner unter Mitwirkung von Volker Mertens, Ulrich Müller und Anton Schwob. Tübingen 1993 (Beihefte zu editio. 4), S. 137–155, hier S. 155. S. Völker 1968 (Anm. 12) und Janota 1976 (Anm. 13). Linke 1993 (Anm. 37), S. 155, Anm. 60: „Hier stehe ich in entschiedenem Widerspruch zu Überlegungen, die Völker und Janota angestellt haben. Editionen wie die von ihnen anvisierten sind, aller gegenteiligen Beteuerungen ungeachtet, praktisch unlesbar, taugen einzig für das Studierzimmer des Spezialisten. Niemand außer ihm, kann (und will) so etwas ‚lesen‘; kein Verleger wird es daher drucken.“ – Ein eigenes Konzept, das die von Völker und Janota behandelten Aspekte berücksichtigt, bringt Linke in dem genannten Aufsatz nicht. Vgl. Hans Fromm: Zur Geschichte der Textkritik und Edition mittelhochdeutscher Texte. In: Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Zum 125jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages. Hrsg. von Robert Harsch-Niemeyer. Tübingen 1995, S. 63–90, hier bes. S. 82. Bumke 1999 (Anm. 2). Heinen 1989 (Anm. 2).

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Verfahren vorgelegt, wie es entsprechend in der neuen Salzburger Neidhart-Edition praktiziert wird.44 Bei verschiedenen denkbaren drucktechnischen Möglichkeiten sollte die Lesbarkeit zusammenhängender Textpassagen immer gewährleistet sein. Daß auch für die besonderen Bedingungen der Geistlichen Spiele eine sinnvolle und effektive synoptische Präsentation möglich ist, zeigt Johannes Janotas Ausgabe der Hessischen Passionsspielgruppe.45 Sie umfaßt neben der Frankfurter Dirigierrolle vom Anfang des 14. Jahrhunderts das Frankfurter, das Alsfelder und das Heidelberger Passionsspiel, alle drei sind Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts überliefert; die Handschriften wurden für mehrere Aufführungen verwendet und dabei abgeändert. Bruchstückhafte Zeugnisse eines Fritzlarer und Friedberger Passionsspiels kommen hinzu. Das von Janota geschaffene Editionsmodell wird der Eigenständigkeit, die die Vertreter der Spielgruppe besitzen, voll gerecht, und es verdeutlicht die textlichen Beziehungen durch Parallelisierung der Hauptspiele sowie durch zusätzliche Anmerkungen über verwandte Texte und Bruchstücke. Die dreibändige Ausgabe macht die genannten Spiele und einige kleinere Texte jeweils in neuen zitierfähigen Editionen zugänglich. Sie haben eine handschriftennahe, prinzipiell einheitliche und dadurch gut vergleichbare Erscheinungsform. Die Dirigierrolle und die großen Spiele sind jeweils einmal fortlaufend als Leittext gedruckt, dazu werden die anderen Texte in Form von Spaltensynopsen parallelisiert. Dabei sind Kollationsdaten drei verschiedener Grade auseinandergehalten:46 1. Textpassagen mit weitgehend übereinstimmendem Wortlaut, für den die Reimgleichheit das entscheidende Kriterium darstellt; 2. strukturelle Ähnlichkeiten, die durch Angabe von ‚Sprecherrollen‘ (d.h. Namen der auftretenden Figuren), Regieanweisungen und den Versumfang der betreffenden Partien markiert werden; 3. gleiche Sprecherrollen ohne weitergehende strukturelle Affinitäten. Parallelisiert ist darüber hinaus der Szenenbestand, und es wird die Positionierung in den einzelnen Spielen deutlich gemacht. Die Parallelen sind zu beiden Seiten des Haupttextes angeordnet. Der Leittext steht jeweils in der linken Spalte der ungeraden Buchseite. Nacheinander nehmen das Frankfurter Passionsspiel, die Dirigierrolle, das Alsfelder und das Heidelberger Spiel die Leittextposition ein. Die übrigen Spalten, zwei auf der geraden Buchseite (links neben dem Haupttext), eine auf der ungeraden Seite (rechts neben dem Haupttext), sind dem Vergleich mit den verwandten Spielen gewidmet. Während der Leittext jeweils vollständig durchläuft, erscheinen von den anderen Dramen nur die Parallelen ersten Grades im genauen Wortlaut, für die weiteren beiden Entsprechungsgrade wird durch knappe Angaben auf analoge Szenen sowie auf die Verszahl der Vergleichstexte verwiesen; sie können dann in dem an anderer Stelle plazierten Volltext gelesen werden. Je nach der Eigenart des Haupttextes sind die Parallelstellenhinweise differenziert, so daß keine mechanische Wiederholung der Angaben zu allen Leittexten entsteht.

––––––– 43 44 45

46

Müller/Springeth 2001 (Anm. 2). Siehe Anm. 2. Siehe Anm 5. Dazu Rezension von Ursula Schulze: Die Hessische Passionsspielgruppe. In: Arbitrium 21 (2003), S. 164–166 und Arbitrium 24 (2006), S. 167-170. Janota 1996 (Anm. 5), Bd. I, S. 58.

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Ursula Schulze

Das vergleichende Orientierungs- und Verweissystem der Ausgabe beruht auf einer durchgängig kleinteiligen Untergliederung aller Dramen, die der Herausgeber vorgenommen hat. Für jedes Spiel sind die Auftritte in ihrer speziellen Abfolge erfaßt, durchnumeriert und – soweit möglich – mit für alle Spiele einheitlich formulierten Titeln versehen. Daß es sich nicht um Szenen im Sinne eines neuzeitlichen Dramas handelt, beeinträchtigt das Verfahren nicht. Die große Zahl der Auftritte (Alsfelder Passionsspiel 142, Heidelberger Passionsspiel 116, Frankfurter Passionsspiel 87, Frankfurter Dirigierrolle 84) macht gerade den Reihungscharakter deutlich. Der Herausgeber hat die Szenenübersichten jeweils insgesamt den parallelisierten Texten vorangestellt und sie einzeln mit jeweiliger Nummer, Titel und Verszahl kursiv in die edierten Texte eingeschaltet. Diese Gliederungsorientierung setzt eine intensive Durcharbeitung der Spiele voraus: Das ist textkritische Arbeit, die der effektiven Benutzbarkeit der Ausgabe dient.47 Die ermöglichten Einsichten bewegen sich bei den viel umfangreicheren, strukturell komplizierteren und aspektreicheren Texten der Passionsspielgruppe in ganz anderen Dimensionen als bei den Weltgerichtsspielen. Neben der ‚Familienähnlichkeit‘ dominieren überall die eigenständigen Perspektiven und Diskurse der einzelnen Spiele, z.B. im Blick auf Maria, die Mutter Jesu,48 die Rolle der Juden im Passionsgeschehen und in der Heilsgeschichte,49 auch im Blick auf die Funktion der Gesangsteile und der liturgischen Bezüge.50 Für viele Fragen und die Differenzierung vorhandener Beobachtungen hat Johannes Janota eine ausgezeichnete Arbeitsgrundlage geschaffen. Kann diese nun als Modell für weitere Ausgaben zusammenhängender Spielgruppen gelten? Das ist hinsichtlich der philologisch-textkritischen Aufbereitung, die die Edition prägt, zu bejahen; doch die Unhandlichkeit beim Hin- und Herschlagen in den schweren Bänden weist über die Printausgabe hinaus und legt eine Überführung der Daten in das elektronische Medium nahe. Vielleicht würde sich dadurch auch der Preis von über 900,00 Euro für die drei Bände reduzieren. Besonders wenn der Benutzer außer den synoptisch gedruckten Parallelen ersten Grades weitere Entsprechungen genauer betrachten möchte, wäre es hilfreich, diese am Bildschirm öffnen zu können. Eine zusätzliche Aufbereitung der elektronisch verfügbaren Texte durch Hyperlinks, die innerhalb desselben Datenträgers eingerichtet werden, könnte die Aus-

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48

49

50

Ähnliche Szenenfolge-Übersichten gibt es auch in anderen Editionen, z.B. in: Das Donaueschinger Passionsspiel. Nach der Handschrift mit Einleitung und Kommentar neu herausgegeben. Hrsg. von Anthonius H. Touber. Stuttgart 1985 (Reclam UB. 8046), S. 51f. und bei Milchsack 1881 (Anm. 8), S. 327– 346. Sie werden dort aber nicht zur Gliederungsorientierung in den Text selbst eingeschaltet. Im Alsfelder Passionsspiel strukturieren z.B. zwölf eingefügte Marienklageteile das Passionsgeschehen; sie fallen durch die Zwischenüberschriften ins Auge. Zu der unterschiedlichen Darstellung der Juden in der Hessischen Spielgruppe vgl. Florian Rommel: ob mann jm vnrehtt thutt, so wollenn wir doch habenn sein blutt. Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hrsg. von Ursula Schulze. Tübingen 2002, S. 183–207. Das Alsfelder Passionsspiel zeichnet sich durch eine besonders große Zahl in verschiedener Funktion eingesetzter Gesänge aus. Vgl. Johannes Janota: Zur Funktion der Gesänge in der hessischen Passionsspielgruppe. In: Osterspiele. Texte und Musik. Akten des 2. Symposiums der Sterzinger Osterspiele. Hrsg. von Max Siller. Innsbruck 1994 (Schlern-Schriften. 293), S. 109–120.

Synopse als Hilfsmittel und als Selbstzweck

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wertung des wichtigen, umfangreichen Quellenwerks unter diversen Aspekten noch erleichtern.51 Sollte das Editionsmodell mit gleichem philologischen und analytischen Vorbereitungseinsatz etwa auf die Tiroler und die alemannischen Spiele übertragen werden, dann ließen sich die elektronischen Daten der Gruppen miteinander vernetzen, sodaß die vergleichende interpretierende Lektüre auf einer breiteren Quellenbasis leicht erfolgen könnte. Doch bis dahin dürfte noch einige Zeit vergehen; denn die mentale Analyse, die adäquat formulierte Auszeichnung der weiteren Spiele und die Überführung in ein elektronisches Verweissystem erfordern viel Zeit kompetenter Philologen. In der Realisierung solcher Projekte gewinnt die Textkritik neue Dimensionen. Während Heuristik und Kollation grundsätzlich ihre traditionelle Funktion behalten, kommen der Recensio neue Aufgaben zu. Bei der kritischen Beurteilung variierender Texte für eine Edition sollte es primär um die Bestimmung der Eigenarten gehen, und es sollte die Frage bedacht werden, ob es sich bei den verschiedenen Überlieferungszeugen um selbständige Fassungen handelt.52 Erst nach den gewonnenen Einsichten läßt sich die Art der Textdarbietung (Leithandschriftenprinzip oder Paralleldruck, gedruckt und/oder digitalisiert) begründet festlegen. Für eine Synopse verschiedener Spielfassungen bildet die Analyse von Aufbau und Inhalt eine wichtige Voraussetzung, die sich dann in entsprechenden Markierungen, eventuell auch Kommentierungen der Texte,53 niederschlagen sollte, damit diese in einem sinnvollen Koordinatensystem vergleichbar werden. Das gilt für traditionelle Printversionen genauso wie für elektronische Textdateien. Textkritik erfordert aber in jedem Fall die Analyse und Aufbereitung der Texte nach wohlüberlegten Kategorien, die möglichst keine entwicklungsgeschichtlichen und ästhetischen Wertungen präjudizieren.

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52

53

Vgl. Roland Kamzelak: Hypermedia – Brauchen wir eine neue Editionswissenschaft? In: Computergestützte Text-Edition. Hrsg. von Roland Kamzelak. Tübingen 1999 (Beihefte zu editio. 12), S. 119–126. Die Ausführungen lassen die notwendigen umfangreichen Arbeiten erkennen, welche die Vorbereitung einer elektronischen Edition erfordert. Wo die editorische Dokumentation der Textgenese auf weitere Kommentierungen ausgedehnt werden soll, sieht auch Johannes Janota die Notwendigkeit, die EDVMöglichkeiten zu nutzen, vgl. Janota 1998 (Anm. 2), S. 76, Anm. 31. Zur Diskussion über die Fassungsfrage vgl. Thomas Bein: Die mediävistische Edition und ihre Methoden. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. von Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 81–98, bes. S. 88f. Zu den einzelnen Bänden der Hessischen Passionsspielgruppe erscheinen Kommentare, bisher Klaus Wolf: Kommentar zur ƍFrankfurter Dirigierrolleƍ und zum ƍFrankfurter Passionsspielƍ. Tübingen 2002.. Auch diese müßten in eine digitale Edition mit eingehen.

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Ursula Schulze

Abbildung 1: Aus Linkes Synoptischer Gesamtausgabe der deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters, II,1, S. 6. [Anfang des Prophetenvorspiels]

Abbildung 2: Aus Linkes Synoptischer Gesamtausgabe der deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters, II,2. S. 217 [Überführung der Verdammten in die Hölle].

Marita Mathijsen

Genetic textual editing: the end of an era

Textual editing exists by virtue of the existence of versions of a work. If no differing texts of a work exist, there can be no question of textual criticism. In the following lecture I would like to show that there is a need for reappraisal of scholarly editing, because in the future no new authorial versions of works will become available in material form. The cause of this is not the introduction of the computer into publishing, but changes in authors themselves, since they have dispensed en masse with the fountain pen and typewriter and gone over to the personal computer or laptop. If one asked a layman to pinpoint a great transition in writing materials used by authors through the ages, he would regard the chisel, quill pen, dip pen, fountain pen and ball pen as forming one category, and the typewriter and computer as constituting another, cohesive category. But as the typewriter produces unique material, it can be regarded as a successor to the quill pen, while the introduction of the personal computer demands a completely new orientation to a number of textual editing concepts, and a completely different way of working with regard to the genesis of a literary text. The textual editing concepts of ‘a work’ and of ‘a version’ need to be defined before I can show how deeply the personal computer encroaches into the foundations of scholarly editing. With regard to versions it is important to make a distinction between a (literary) work and a text. A work is a particular completed immaterial unit, recorded in language. Several versions of one work can exist. All the editions and surviving manuscripts of a novel or a volume of poetry together constitute the forms of one work. I would regard all the authorised versions of Günther Grass’ Die Blechtrommel together as a ‘work’, but I would refer to the ‘text’ of the first edition.1 I would like to restrict the concept of ‘text’ to a material and tangible concept. A text is a quantity of words which forms a unit, through the medium or the artefact, and is presented by the author as such. One can talk of the text of a novel, a newspaper, a short story. This text may largely correspond with the text of another material unit produced in a different way, or at a different point in time. We can then speak of a new version of this text, or, as Peter Shillingsburg says in the first issue of Variants: “a text is iterable”.2

––––––– 1 2

Cf Marita Mathijsen: Naar de letter. Handboek editiewetenschap. 3. Aufl. Amsterdam 2003, p. 40. Peter Shillingsburg: Manuscript, Book, and Text in the 21st Century. In: Variants 1 (2002), p. 25.

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Marita Mathijsen

For a definition of a version, Scheibe’s classic description is still useful: Textual versions are achieved or unachieved elaborations of the text that diverge from one another. They are related through textual identity and distinct through variation. They originate at concrete historical moments and, for the author, represent the work for a specific duration.3

Now versions of a work can broadly be blamed on, or credited to, two instigators of change in Shillingsburg’s iteration. The author himself can rewrite a text, or someone else can transfer the text to another medium, edit the text and make mistakes in the process, or deliberately diverge from the source text. I will come back to transmitted versions later, but for the new orientation of scholarly editing we must focus on authorial versions and authorial variants. Authorial versions can exist in manuscript and in printed form. Two editions which have been revised by the author would constitute two versions of a work, but so would a rough handwritten draft and a fair copy. Material which predates the first edition therefore also counts as a version. For this material, French scholarly editing, critique génétique has coined the term avant-texte or pre-text. Up until now, scholarly editing was geared towards showing all versions, both manuscript and printed, in chronological order, taking account of any transference variants. In defence of the German historical-critical method of editing, as opposed to American critical text theory, Bodo Plachta writes: “each version of a text handed down to us is understood as a historical state which must be documented in an edition. It is not the editor’s goal to create the ‘best’ text from all versions handed down to us, but to document the text as the historical development of its versions.”4 But in the future we shall only be able to follow the historical development of versions with respect to the post-text, and no longer with respect to the pre-text. I would like to show that in future it will no longer be possible to make the avant-texte visible. All present-day editors are accustomed to the fact that an author leaves traces of his working method in the form of manuscripts, rough drafts, fair copies, paralipomena, lists of rhyming words, outlines and corrected proofs. In the case of some authors, every stage of the text is documented. Whoever writes and rewrites, leaves behind material that reveals the genesis of a work. The objective of scholarly editing is to present this genetic material as comprehensively and in as chronologically coherent a way as possible. But the physical circumstances in which a work comes into being nowadays have changed so much that one can speak of a new era of scholarly editing, and of a radical shift which might well herald the end of the genetic method of editing. The production process of the writer who works with a computer differs so radically from the writer who works with a pen or typewriter that the genetic process itself is undergoing

––––––– 3

4

Siegfried Scheibe: On the Editorial Problem of the Text. In: Hans Walter Gabler, George Bornstein, Gillian Borland Pierce (eds.): Contemporary German Editorial Theory. Ann Arbor, p. 207; Cf Mathijsen 2003 (note. 1), p. 278. Bodo Plachta: Change of Generation – Change of Frame of Reference. Which Direction Will Scholarly Editing Take in Germany? In: Variants 1 (2002), p. 147.

Genetic textual editing: the end of an era

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change. A writer who works with a computer is less than ever inclined to distinguish between different phases of his text. In the past, some writers indicated when they had corrected their work by means of different colours or sorts of pens, and distinguished different phases in their work by using different writing materials. An author who works electronically can no longer tell the phase in which something was finished, or when he revised it. It is no longer materially possible to reconstruct the concept ‘work phase’. With modern authors one can no longer describe the genesis, because the process of working is no longer materially recorded. Working on a book has become more of a continuous process than ever, in which the genesis throughout the process up to its conclusion by appearing in print has become well-nigh impossible to reconstruct. The working method of the present-day literary author depends on the age at which he began to write. My impression, after conversations with various living authors, is that writers who began by working with a typewriter think more in terms of phases and conclusions than do younger authors. Authors who have not experienced the era of the typewriter correct directly on the computer. They do not keep earlier versions, but write into an open document, correcting when necessary as they go. Sometimes they cut out larger paragraphs, which they may then destroy, but sometimes they save temporarily rejected fragments in a file for possible future use. If they later reintroduce one of these fragments, they no longer know where they came from. They do not print it out until it is finished. Only the end product is given material form. Authors from before the computer age are still completely oriented towards the print-out. They make corrections on it and provide the publisher with a print-out as well as a floppy disc. Some older authors print out their day’s work every evening before switching the computer off. The new author on the contrary sends a file to his editor. The editor proposes some alterations, and together they have a computer session to improve the text. Harry Mulisch (1927), the Dutch author who is also famous in Germany, told me the following about his method of working: I regard the computer as a successor to the fountain pen, and that’s how I use it. But I don’t trust it completely, so every day I work I make a print-out. The things I change directly on the screen, you can’t see that any more, but I do keep the daily print-outs. I correct the printouts by hand and then enter the corrections in the computer. My computer is not an archive; I don’t particularly keep things on it because I want to use them again. When I reject bits of text in a chapter, and I think I want to use them again, I print them out and keep the paper. But I delete them on the computer. The memories of modern computers are so huge that I work in one document. Once, before The Discovery of Heaven for example, I used to open a new document for every chapter, but I no longer need to do that.5

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Private communication from Harry Mulisch to Marita Mathijsen, 2004-02-13.

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Marita Mathijsen

Harry Mulisch is representative of the generation of writers that began by writing by hand, then switched to the typewriter, and still trusts paper more than the virtual letters on the screen. Nevertheless, his new way of writing also has great consequences for a later edition of his work. The Sofortkorrektur category (immediate correction) will no longer be possible to reconstruct. The writing process can only be reconstructed in part. It will be possible, however, to compare different versions of the book during its genesis, as Mulisch keeps dated print-outs. His thought process during corrections, trying first one thing, then another, then reverting to the old version only to exchange it for another, will be impossible to trace. Only the final result of a thought process can be compared with another. A completely different work method is employed by the younger poet and novelist Robert Anker (1946). I chose him as an example because he draws a distinction between writing poetry and prose. As a novelist he began in the computer age. Before that he was a poet, and when he started out as such, the computer had not yet arrived. The novelist Anker regards the computer as a sort of laboratory. The results only become material when the writer/researcher decides. He keeps no records at all, and no previous versions. He only makes a print-out at a very late stage. I will let him speak for himself: As long as my book is on the screen the text is less definitive, it is still malleable, less sharp and hard than when it’s printed out. I don’t work on the computer immediately, I work out a lot in my mind first. That stage can last up to a year. Then I start on the computer and keep working at the same book. I don’t keep anything. I just write over things that I’m not satisfied with. But I do keep a separate file for bits that I scrap from a particular place but can use somewhere else. Only at a particular moment do I decide that the work is finished. I can’t describe that stage better than with a tautology: a work is finished when it’s finished. Only then do I make the first print-out. I postpone the print-out for a long time: it has a sort of ritual function for me. I do corrections on the print-out. You can see better on paper whether something is too soft or swampy. And minor flaws, such as word repetition, you can see those better on paper as well. I start doing the corrections on the print-out by hand, but as soon as I start entering them into the computer, I keep seeing other bits that I’m not satisfied with, and I rewrite them at once. I don’t keep any versions on the computer or on paper. When I’ve finished I throw everything away.6

This is the working method of someone who no longer thinks in work phases. There is no material resting point to be traced in this method of working. The first edition is all that remains of a first version of a work, and it is not possible to reconstruct its genesis. It is striking that Anker has a different method of working for poetry, and as I have said, as a poet he is from an earlier age: With poems, though, I work differently. I write on paper first and then put them on the computer to see if the length and the rhythm are right. That’s quite the opposite of the novel,

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Private communication from Robert Anker to Marita Mathijsen, 2004-02-13.

Genetic textual editing: the end of an era

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where I regard the screen as a provisional stage that I prolong as much as possible. With poems, the paper is provisional and the screen is a dress rehearsal for the printed edition.

The popular female writer Connie Palmen (1955) works in the same way as the prose writer Anker. Only her first novel was written on the typewriter; the rest of her entire oeuvre came into being on the computer. It would be impossible to make a genetic edition of her work. I work directly on the computer. But I always have notebooks with me for ideas, sources, structure, so that I can make notes straight away. I don’t make separate files, the book forms one whole. I correct as I go. I don’t actually make amendments on the computer, at least not in the first few days. I only make a print-out after about 50 pages. I do corrections by hand, and then enter them into the computer. Only when the book is finished do I throw away the versions I’ve printed out. I don’t see the importance of all those versions. I don’t keep any fragments of it to reuse, either. If it’s wrong, it’s wrong, get rid of it. The print-out is indeed a turning-point. At a particular moment I know that a transition is coming, that a chapter or a coherent part is almost finished. I work towards that. That is not intuitive, it has to do with the structure of the novel. Then I can make the print-out. The whole book goes to the editor in one fell swoop. I throw away all the print-outs with corrections, apart from one, that I keep for the fun of it, when the book is printed.7

While in the case of Harry Mulisch it is only impossible to reconstruct the Sofortkorrektur, in the other two cases, which are illustrative of the new generation of writers, the whole pre-text has materially vanished. Other, younger writers confirm this mordern working method. They write and rewrite on the computer and they do not use the memory of the computer as an archive. The work is a whole and the writer is not aware of versions or phases. The corrections are made immediately on the computer. In addition, the subsequent trajectory of the book comprises several more great changes which have to do with transmission, and which also have consequences for editing theory. In the first place, there is the problem of the print-out as a material object. A printout cannot be compared with an original manuscript, because it is not in fact an original. While one could speak of a unique copy in the case of a typescript, which could be seen as equivalent to a manuscript, this would not be the case with a print-out. The first print-out is identical to the second, to the third and so on. The original is concealed in an indecipherable code on the hard disc of the computer, where it can be changed and repeated at any moment without leaving a trace. Only when an author makes corrections on a print-out by hand can there be any question of an artefact with unique value.

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Private communication from Connie Palmen to Marita Mathijsen, 2004-02-13.

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Marita Mathijsen

Further, production methods in publishing differ so much from those of the period before the coming of the personal computer that here too the text editor has to reconsider the tools of his trade. The electronic source which nowadays forms the copy is no longer typed or reset in the old-fashioned way, whereby errors of transmission can occur. Medieval monks made the same sort of transmission errors as typesetters in the 17th century or typists in the 20th century. But nowadays transmission takes place automatically: a publishing programme converts the author’s electronic text into a programme, so that it can be printed. No slips of the pen or misreadings can creep in, but the computer can make other sorts of errors, varying from the omission of lines of text to the introduction of unwanted typographical instructions. Automatic conversion also means that the author’s errors are retained, if they have not been eliminated at a previous stage by an editor. This has given galley proofs a different status than formerly, when they were used primarily to trace transmission errors. The new galley proof is used by the publisher to judge visual presentation, including word division. The author no longer has the copy sent back to him to control the transmission errors, but uses the proof mainly to rewrite passages that he is not satisfied with. All of this means that we have arrived at a new age, which demands thorough reconsideration of the future of editing. Bodo Plachta believes that a methodological shift in German scholarly editing took place about 10 years ago. The fact that the facsimile has become central to editing, much more so than formerly, is symptomatic of this. "The facsimile […] has an important function in editorially presenting a textual genesis. […] It illustrates the separation of ‘Record (Befund)’ and ‘Interpretation (Deutung)’.”8 Plachta regards Sattler’s famous Hölderlin edition of roughly 30 years ago as a forerunner of this renewal. In this revolutionary edition Sattler did not separate text and apparatus, but developed a typographical method in order to reveal the growth of a text in one visual image. He regarded variants as an element of the poetic structuring of a text, and therefore laid the emphasis on facsimiles and optically reproduced variants. Plachta asserts that the Sattler edition influenced the revolution in the German method of editing, as can be seen, for example, in the historical critical edition of Kafka and the Brandenburger Kleist edition. With the help of facsimiles, therefore, a new type of edition that departs from traditional procedures is brought into being. The user of this edition must look at the manuscript, for this alone represents the text of the work. The document is paramount here, and the reader has to construct a lot of the reading text himself in this dynamic or open edition.9 These new facsimile editions approach the French method of critique génétique. This French tendency is concerned with the analysis of the writing process itself and the aesthetic quality of the production which is manifested in the writing. The manuscript is the material. Genetic criticism is not interested in the text but in the writing, which can be regarded as standing on its own, with no teleological relationship to the

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Plachta 2002 (note 4), S. 148. Plachta 2002 (note 4), S. 149.

Genetic textual editing: the end of an era

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final text: at most it studies the relationship between the end product and the process.10 Such authors as Victor Hugo, Heinrich Heine and Gustave Flaubert have been studied from this angle. The généticiens oppose the view of literature as autonomous. The significance of a work is unstable and every interpretation can be problematic. Manuscripts teach us that a text is the effect of a work process, made visible in the living memory of the manuscript. The généticiens defend what they call the third dimension of the text, which is to be found in the non-linear manuscript. Gabler’s Ulysses is an English example of the genetic textual tendency. But even though critique génétique belongs to the new movements which still have to defend themselves against the editors of the Pléiade series, and even though it is also seen in Germany as innovative, it is already outdated in my opinion because it is based on the writer who writes, and thus on outmoded ways of working. It is no longer applicable to new writers, as they work in completely different dimensions. Genetic study of a text has become impossible. All in all, we see that a number of scholarly editing concepts need to be overhauled. Version, work phase, pre-text, copy, galley proof, Sofortkorrektur, genesis, original, all these terms need to be reinterpreted, geared to the changed working methods of authors and publishers. The Sofortkorrektur and pre-text will become categories which are no longer possible to reconstruct in a material sense, and which leave no traces. Reseachers will no longer be able to trace a slip of the pen, Freudian slips will be either immediately rewritten or eliminated by the spelling checker. For authors of the late 20th or the 21st century, it will not be possible to make complex variant editions with interpretations of the manuscript. Whether interest in historicalcritical editing or the genetic edition of older authors will continue to exist is a matter for doubt. Interest in the genesis and the correct form of a text has a lot to do with the romantic cult of the author as genius, and with a teleological view of literature. We have been cured of both in the 21st century. Nevertheless, in a number of ways scholarly editing will not have to make a shift. For authors’ texts from the past, the problems will not change. Historical research will still be necessary for texts whose provenance is problematic. Genetic research will remain possible with authors who leave a wealth of material, although I expect that interest in this will decline. Research into transmission errors in older texts will also continue to be necessary. For newer texts, textual research will have to explore new avenues. What can be important in this respect is research into interference on the part of publishers, which has become much stronger since literature has become a commercial product. In this

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Geert Lernout: ‘Critique génétique’ und Philologie. In: Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet, Hermann Zwerschina (eds.): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin 2000, pp. 125–126.

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Marita Mathijsen

connection I am thinking of the role of the publisher with a commercial approach to literature and who exerts influence on the writer and makes demands on him from a commercial viewpoint. Research into textual damage through computer errors and systematics is also a possibility. From sheer necessity, research into versions will be restricted to the examination of differences between new printed editions or issues. To summarize: 1. The concept of transmission versions will have to be redefined: textual criticism is changing. 2. In future we can no longer distuinguish a pretext or early versions. 3. The visual ‘Sofortkorrektur’ shall vanish. 4. Galley proofs have got a different function. Editors should realize that literature has not stopped with Kafka and we cannot edit and re-edit Goethe for ever. The new generation of authors also deserves academic editors, and a new orientation. So my plea for a reappraisal of editing methods is not meant to undermine the position of the editor. Quite the contrary. To explain this a metaphor is needed. In the American textual editing tendency, the text is regarded as a sort of patient who needs a doctor to make him better. Now the editor of today in the whole of the western world is rather like a medical man with outdated equipment. The doctor is still necessary, but he needs further training, and a new set of instruments.

Beatrix Cárdenas-Tarrillo

Textkritische Arbeit an einer Mischhandschrift des ausgehenden 16. Jahrhunderts Zur Edition der Jaufener Handschrift (cod. ser. n. 3430)

Soweit personenbezogene Bezeichnungen nur in maskuliner Form angeführt sind, beziehen sie sich auf beide Geschlechter in gleicher Weise.

Zum Editionsprojekt Bei der Jaufener Handschrift handelt es sich um eine 116 Seiten umspannende deutschsprachige Papier-Mischhandschrift aus dem Südtiroler Raum, die zwei Teile umfasst. Sie besteht zum einen aus einem Arzneibuch, dessen Haupttitel Von der Schlangen Tugend und Nutz lautet. Zeitlich fällt das Original wohl in das letzte Drittel des 16. Jahrhunderts. Der verwendete Schrifttyp, eine der Maximilianäischen Kanzleischrift verwandte Kursive, erlaubt diesen paläographischen Schluss. Eine genaue Datierung ist aufgrund fehlender direkter zeitlicher Indikatoren nicht möglich. Der Umfang ist mit 17 Seiten im Verhältnis zum Liederteil recht bescheiden. Inhaltlich findet man darin zeitgenössische Hausrezepte zur Linderung und Vorbeugung von allerlei Krankheiten und Beschwerden, wobei die magische Färbung eines Großteils dieser volksmedizinischen Heilungsanleitungen aus heutiger Sicht natürlich kurios anmutet. Das weitaus umfangreichere, ca. ein halbes Jahrhundert jüngere Liederbuch vereinigt über fünfzig geistliche und weltliche volkstümliche Lieder, Tagelieder, Balladen und Schwänke, die teils in spätminnesängerischer, teils in MeisterliedTradition stehen. Einige dieser Texte finden sich, allerdings in älterer Fassung, im Ambraser Liederbuch (beispielsweise die Verse Ich bin ³o lanng Ge³tanden / ich ³tûnt in ³orgen gro³³ / han gemaint, ha³³t mein verge³³en / vnnd nie an mich gedacht [Lied Nr. 5 im Codex] und Reicher gott im hoch³ten ³al / hilf mir probiern ma³ vnd zal [Lied Nr. 42 im Codex]). Andere bekannte Liedeingänge, die in verschiedenen Handschriften und Drucken überliefert sind, lauten etwa: Ein Freÿelein an ain namen (Codex: Nr. 10); Frellich ³o will ich ³ingen (Codex: Nr. 41); Ich Sach einmall ein wûnder³chene magt (Codex: Nr. 36); Ich hab dich lieb, wie dû woll wai³t (Codex: Nr. 19); Ich verkint Eûch neûe märe (Codex: Nr. 39); O, das ich khûndt von herczen Singen (Codex: Nr. 35); Von einer faûlen dieren (Codex: Nr. 43); von Nötten i³t, dz ich ÿeczt trag gedûlt (Codex: Nr. 4); Vor zeiten ³eint aûch worden (Codex: Nr. 20); Wie mûeß mir dann ge³chehen (im Codex zweimal: Nr. 30 und Nr. 40; Letzterer von anderer Hand) oder Zû Coßnicz ³as ein khaûfman Reich (Codex: Nr. 38).

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Auffallend am gesamten Codex ist, dass er, neben einem abschließenden alphabetischen (allerdings nicht vervollständigten) Register, von einem Stammblatt angeführt wird, auf dem neun Personennamen unterschriftlich aufgelistet sind. Hierbei handelt es sich um Mitglieder des Südtiroler Geschlechts der Mornberg zu Jauffen. Die Personen hinter diesen Signaturen sind allerdings nicht die Schreiber des Arzneibuches – wie man aufgrund der lokalen Anordnung im heutzutage gebundenen Papiercodex zunächst vermuten könnte. Zwei von ihnen, eine Frau und ein Mann (Martha und Dionysius von Mornberg zu Jaufen), finden sich auf einem weiteren Vorsatzblatt, das dem Liederteil vorausgeht, neben zwei anderen Schreibern (Hans Jakob von Neuhauss sowie Karl Zinn von Zinnenburg) und mit ihrem handschriftlichen Erbe namentlich wieder. Ein beträchtlicher Anteil der Liedertexte ist paläographisch einer konkreten Person zuordenbar. Außerdem trägt besagtes Vorsatzblatt neben kleineren Verzierungen die Jahreszahlen 1600 und 1603. Ursprünglich gehörte wohl auch das Stammblatt in dieses lokale Umfeld. Der gesamte Liederteil zeigt allerdings einen weit größeren Bestand an vorwiegend anonymen Schreibern: insgesamt mindestens ein Dutzend. Eine weitere Problematik, neben dem abwechselnden Schriftduktus, ist gewiss auch die zum Teil sehr erschwerte materielle Lesbarkeit der Texte, denn die Tinte ist im Mittelteil der Lieder (allerdings auch nur hier) derart verblasst, dass das Original in wenigen Jahren wohl überhaupt nicht mehr zu entziffern sein wird. Dies spricht für eine Edition nach heutigen wissenschaftlichen Kriterien. Der einzig existierende Druck des Liederteils besteht in einer (zum Teil sehr fehlerhaften) Transkription aus dem Jahre 1893, die von Max von Waldberg in Heidelberg vorgelegt wurde.1 Das Arzneibuch ist im Gegensatz zum Liederteil nicht gedruckt worden. Vermutlich lag es nicht in Waldbergs unmittelbarem Interesse. Auffallend ist weiters, dass das Arzneibuch nur wenige Benützungsspuren aufweist, während der Liederteil offensichtlich einer starken Beanspruchung ausgesetzt war. Der Weg der Jaufener Handschrift verliert sich seit ihrer Entstehung bis zum Jahr 1891, als sie, vermutlich aus Privatbesitz, über ein heute noch existierendes Wiener Antiquariat (Gilhofer) an die damalige k.-k.-Hofbibliothek veräußert wurde. In Halbleder gebunden und mit dem Rückentitel Deutsche Lieder versehen, findet sich der Codex heute unter der Signatur cod. ser. n. 3430 in den Sondersammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Der Beitrag soll als Fallstudie Licht auf einige textkritische Aspekte im Hinblick auf den Lesartenapparat werfen, die sich aus der Besonderheit der vorliegenden und oben anrissweise beschriebenen Fakten ergaben.

Problemfälle und Lösungsansätze Am Arzneibuch, dem älteren Teil des Codex also, waren nur zwei Schreiber mit verhältnismäßig geringem individuell unterschiedlichem Schriftduktus beteiligt. Die

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Max Freiherr von Waldberg lehrte in Heidelberg und legte 1888 eine Publikation zur deutschen Renaissance-Lyrik vor.

Textkritische Arbeit an einer Mischhandschrift des ausgehenden 16. Jahrhunderts.

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Grapheme sind klar und leicht erkennbar. Genauso konsequent verhält es sich mit der nicht allzu stringenten Orthographie. Der Unterschied zwischen den Vokalen /a/ und /o/ ist meist problemlos nachvollziehbar. Die Verwendung der gängigen Realisierungen für den Konsonanten /s/ erfolgt durchgehend nach klaren Regeln (mit Ausnahme im hinteren Viertel des Arzneibuchs). Diakritische Zeichen zur Umlautmarkierung und zur Markierung langer Vokale werden im Arzneibuch zwar sehr willkürlich verwendet, aber systematischer und regelmäßiger als im Liederteil. Damit sind die wesentlichen Phänomene aufgezählt, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird. Ein wesentliches Problem für die Aufzeichnung der Lesarten ergab sich aus der Vielfalt der beträchtlich voneinander abweichenden Schreiber bzw. Schreiberinnen. Dazu kam, dass der Text stellenweise bis zur Unleserlichkeit verblasst war. Waldberg äußert diesbezüglich im Vorwort zu seiner Transkription nichts. Die Tintenqualität hat sich offenbar erst im letzten Jahrhundert deutlich verschlechtert. Während das Arzneibuch einen wesentlich stringenteren und konservativeren Schriftduktus einer Kanzleischrift präsentiert (der allerdings auch bei einigen Schreibern des Liederbuchs in gleichsam verjüngter, also individualisierter Form auftritt), zeigt sich im Liederteil große individuelle Varianz. Dies gilt nicht nur für das Erscheinungsbild, sondern auch für die Einhaltung oder Verletzung von Regeln. So ergeben sich beispielsweise starke orthographische Abweichungen beim Vergleich unterschiedlicher Schreiber. Offensichtlich erhielten unroutinierte Schreiber im Kontinuum des Textkorpus nur kurze Lieder oder kleine Einschübe: Es wird ihnen gleichsam die Feder recht schnell aus der Hand genommen, wohingegen lange Passagen von routinierten Schreibern durchgeführt worden sind. Der größte Anteil an geblockter Aufzeichnung stammt wohl von Hans Jakob von Neuhauss. Der Schriftvergleich ergibt, dass offenbar die ersten 26 Lieder seiner Hand zuzuschreiben sind. Ihm folgt Karl Zinn von Zinnenburg mit sieben Liedaufzeichnungen. Auch bei diesen recht konsequenten Schreibern, jene des Arzneibuchs eingeschlossen, ergaben sich erste Problemfälle bei der Transkription für den Lesartenapparat: Mit Ausnahme von unzweifelhaften Majuskeln der Kurrentschrift finden sich im gesamten Codex durchwegs ununterscheidbare Graphemausprägungen mittlerer Größe, also gleichsam als Majuskeln gedachte Minuskeln. Es stellte sich daher die Frage, ob eine Edition die Kriterien der unbedingten Zeichentreue erfüllen sollte, oder ob eine behutsame Normalisierung und Vereinheitlichung angebracht sei. Der erste Ansatz hätte nicht nur drucktechnische Schwierigkeiten mit sich gebracht, denn für seine Realisierung wäre eine Vielzahl von diakritischen Zeichen als Variablen für nicht unterscheidbare Grapheme notwendig gewesen. Die Entscheidung für eine möglichst authentische Wiedergabe des Originals hätte sich letztlich nicht nur als technisch undurchführbar erwiesen, sondern zudem gegen die Prinzipien der Klarheit und Überschaubarkeit verstoßen. Im Sinne einer problemlosen Benützbarkeit und Zugänglichkeit wurden die Kriterien eines diplomatischen Abdrucks weitgehend gewahrt (beispielsweise wurden das Schaft-s und der Zeilensatz übernommen). Für einige Besonderheiten, die sich aus der inkonsequenten Vorgehensweise mancher Schreiber, vor allem der unroutinierten, ergaben, musste eine brauchbare Lösung gefunden werden. Im Bereich der Groß- und Kleinschreibung wurde beispielsweise nach folgen-

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dem Prinzip verfahren: Als Majuskel wird nur das dargestellt, was auch im Original eindeutig als solche fixiert worden ist. Mit Ausnahme von Strophenanfängen, Eigennamen und geographischen Bezeichnungen dominiert deshalb die Kleinschreibung. Die Interpunktion, im Original meist willkürlich, rudimentär und im Einzelfall häufig nicht unterscheidbar ausgeführt, orientiert sich in meiner Edition an den heute gültigen Regeln. Problematisch erwies sich weiters die Verwendung der Umlautzeichen und der Markierungen für Langvokale durch die einzelnen Schreiber. Wiederum weist das Arzneibuch größere Genauigkeit, wenn auch nicht völlige Widerspruchslosigkeit auf. In den Liedtexten finden sich, außer bei jenen von Hans Jakob von Neuhauss und Karl Zinn von Zinnenburg, mannigfaltige Ausformungen. Die Umlautzeichen werden realisiert durch: Punkte, schräg gestellte Doppelstriche, Tilden, einfache Balken, hochstehende geschwungene Linien. An eine originalgetreue Wiedergabe war deshalb nicht zu denken. Die Nachlässigkeit, die die einzelnen Schreiber in unzähligen Beispielen hier bewiesen, erschwert einmal mehr die editorische Arbeit. Da es nicht Aufgabe der Editorin sein kann, sprachwissenschaftliche Analysen für unzählige Fälle anzustellen, sondern ihr Anliegen darin besteht, ein brauchbares Werkzeug für nachfolgende Untersuchungen herzustellen, fiel auch hier die Entscheidung zugunsten der einfachen Handhabbarkeit. Identifizierbare Zeichen im Original werden in der Transkription als solche übernommen; in Zweifelsfällen kommt ein definiertes, drucktechnisch realisierbares Graphem zur Anwendung. Ein weiteres Problem stellt die zumeist willkürlich gehandhabte Realisierung der sSchreibung vor allem im Liederbuch dar. Soweit das Schaft-s nachvollziehbar war, fließt es als solches in die Edition ein. Manche Schreiber konnten sich allerdings nicht zwischen mehreren s-Lesarten entscheiden. Meist erscheint das Schaft-s anlautend und im Wortinneren, selten dagegen im Auslaut. Auch hier gilt: Das Arzneibuch folgt größtenteils der Regel; die Liedersammlung weist, je nach schreiberischer Kompetenz, große Spielräume und sogar Widersprüche auf. Das scharfe /s/ wurde in unzähligen Fällen im Auslaut mit einem gedoppelten Schaft-s verbunden, an anderen Stellen, die solch eine Realisierung vermuten lassen, jedoch nicht. Häufig waren die Grapheme aufgrund ihres optischen Erscheinungsbildes nicht sofort entschlüsselbar. In solchen Fällen, wie auch in der Frage der Majuskeln, wurde auf alte Schreibmeister zurückgegriffen2, mit deren Hilfe manche Undurchsichtigkeit zuverlässig geklärt werden konnte. In vielen Fällen konnte nicht einfach entschieden werden, welchen dunklen Vokal die einzelnen Schreiber der Lieder vermutlich gemeint hatten: Häufig wurde das /a/ als diffuses /o/ realisiert. Dafür könnten regionalsprachliche, meist aber schreibertypische Lesarten verantwortlich sein. Bei einem speziellen Schreiber, dessen Schriftbild auf wenig Routine schließen lässt (er durfte auch nur ein kurzes Lied notieren), ist letzteres offensichtlich.

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Etwa auf Kaspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs. Oder Teutscher Sprachschatz. Nürnberg 1691.

Textkritische Arbeit an einer Mischhandschrift des ausgehenden 16. Jahrhunderts.

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Die existierende Waldbergsche Transkription aus dem Jahr 1893 durfte bei der Neuedition nicht vernachlässigt werden. Abweichende Lesarten von Waldberg verlangten folgerichtig nach deren Aufnahme in den Lesartenapparat. Sie sind durchgängig verzeichnet und mit der Majuskel D (Druck) ausgewiesen. Waldberg fügte seiner Transkription, die verständlicherweise nicht die Absicht einer kritischen Ausgabe verfolgte, sondern nur die für den Herausgeber interessanten Liedtexte in Form eines Wiederabdrucks enthielt, ein sehr aufschlussreiches Liedregister bei. Hier spiegelt sich der Wissensstand des Heidelberger Forschers zu den einzelnen Texten wider: Damit bietet das Register eine durchaus brauchbare Ausgangslage für weitere Recherchen hinsichtlich des noch zu erstellenden editorischen Kommentars.

Zusammenfassung und Ausblick In der Jaufener Handschrift gibt es einige Probleme, die auf die unterschiedlichen Realisierungsmöglichkeiten einzelner graphischer Phänomene durch verschiedene Schreiber zurückzuführen sind. Auf individualtypische Erscheinungsformen wird zugunsten der Textsicherung und einer an den Benützern/innen orientierten Gesamtkonzeption verzichtet. Die Edition der Jaufener Handschrift ist Gegenstand meiner Dissertation, die im Frühjahr 2009 vorgelegt werden wird (Universität Innsbruck, Prof. Dr. Werner M. Bauer).

Jens Stüben

Textkonstitution und Interpretation Über den editorischen Umgang mit nachgelassenen Gedichten Nikolaus Lenaus Die folgenden Überlegungen befassen sich mit Fragen der Textkonstitution bei der Edition nachgelassener Verstexte. Gegenstand der Betrachtung sind Handschriften Nikolaus Lenaus,1 vor allem zwei Gedichtreinschriften, die eine spätere Überarbeitung erfahren haben und Alternativvarianten enthalten. Die Editionsgeschichte beider Gedichte ist von einschlägigem Interesse. Exemplarisch dargestellt werden soll, welche Funktion dem Sinnverstehen und der Interpretation bei der Konstituierung der Texte zufällt. Dabei wird einmal mehr erkennbar werden, daß nicht nur die Interpretation von der Edition abhängt, sondern auch umgekehrt die Edition von der Interpretation. Auf deren wechselseitige Bezüge hat besonders Karl Konrad Polheim immer wieder und anhand von zahlreichen Fällen aus der editorischen Praxis nachdrücklich hingewiesen, zuletzt in seinem Innsbrucker Beitrag mit dem Titel Textkritik und Interpretation bedingen einander.2 Wie sehr editorische Entscheidungen vom Vorverständnis eines Textes geleitet werden, hat jüngst an einem eindrucksvollen Beispiel Thomas Richter in seinem Aufsatz Textkonstitution als Interpretation über Schillers Gedichtentwurf Deutsche Größe einsehbar gemacht.3 Andreas Thomasberger leitete aus exemplarischen Darlegungen zur Textkonstitution in Hofmannsthals lyrischem Werk die grundsätzliche Forderung ab, das „wechselseitige Begründungsverhältnis“ von Interpretation und Textkonstitution deutlich herauszustellen.4 Ebenso betonten Gerhart Baumann und Gerhard

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Ich danke der Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, für die Ermöglichung der Einsichtnahme in die Originale sowie die freundlich erteilte Erlaubnis zur Zitation und Publikation. Karl Konrad Polheim †: Textkritik und Interpretation bedingen einander. Im vorliegenden Band, S. 209–220. – Vgl. auch Jens Stüben: Edition und Interpretation. In: Text und Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet, Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 263–302. Thomas Richter: Textkonstitution als Interpretation. Schillers Gedichtentwurf ‚Deutsche Größe‘ und seine Instrumentalisierung im Kaiserreich. In: Schrift – Text – Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Christiane Henkes, Walter Hettche, Gabriele Radecke, Elke Senne. Tübingen 2003 (Beihefte zu editio. 19), S. 201–211. Andreas Thomasberger: Textkonstitution in Hofmannsthals lyrischem Werk. In: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Basler Editoren-Kolloquium 19.–22. März 1990, autorund werkbezogene Referate. Hrsg. von Martin Stern unter Mitarbeit von Beatrice Grob, Wolfram Groddeck und Helmut Puff. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio. 1), S. 158–164, hier S. 163. – Anders dagegen Hans Zeller: „[Auf] dem Gebiet der Textkonstitution [ist] die textologische Entscheidung unabhängig von der Textanalyse zu treffen [...]. Ergibt sich für die Textkonstitution eine Unsicherheit, z. B. aus einer zweideutigen oder widersprüchlichen überlieferungsmäßigen Situation, so ist nicht eine Lösung des Problems mit Hilfe der Interpretation herbeizuführen, sondern der Editor soll im edierten Text den überlieferten Text wiedergeben, ihn dort eventuell markieren und die Situation im Apparat diskutie-

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Neumann in einem gemeinsamen Aufsatz über die Notwendigkeit und die Prinzipien einer neuen historisch-kritischen Lenau-Ausgabe: „Edition und Interpretation müssen behutsam und einander stützend und absichernd das gleiche Ziel ansteuern: die Herstellung eines zuverlässigen Textes und eines gut lesbaren Apparats.“5 Im Unterschied zu der vorliegenden gedruckten Fassung des Innsbrucker Tagungsbeitrags befaßte sich das seinerzeitige Referat vornehmlich mit einem – aufgrund einer Papierbeschädigung – unvollständig erhaltenen Manuskript und diskutierte die Mittel und Wege, die darin zu findenden Textlücken soweit als möglich und statthaft zu ergänzen. Dabei handelte es sich um jene Reinschrift, deren Text erstmals 1969 von Josef Buchowiecki in seiner Sammlung ‚unveröffentlichter und unbekannter‘ Briefe und Gedichte von Nikolaus Lenau unter dem behelfsmäßigen Titel Fragment zur Hälfte publiziert worden war. Die ersten beiden dort mitgeteilten Verszeilen lauten: ... (E)lends und der Güte .. (d) der stille, kühle Nacht,6

Die Handschrift weist auf der Vorder- und der Rückseite je vier vierzeilige Strophen auf, von denen jeweils die oberste – man darf annehmen: die erste und die fünfte Strophe – nicht vollständig überliefert ist. Diese beiden uns hier interessierenden Strophen lesen sich im Original wie folgt: [ ]leids und der Güte [ ] die stille, kühle Nacht, [ ]n über die versengte Blüte Mit seinem Thau der Himmel wacht. [ ] dich den Haß z[ ] [ ]kend deine Seele traf, [ ] schnell zum Feinde hinzueilen [ ]nd ihn zu wecken aus dem Schlaf,7

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ren.“ Hans Zeller: Textologie und Textanalyse. Zur Abgrenzung zweier Disziplinen und ihrem Verhältnis zueinander. In: editio 1 (1987), S. 145–158, hier S. 155f. Gerhart Baumann, Gerhard Neumann: Zur Frage einer neuen kritischen Gesamtausgabe von Lenaus Werken. In: Lenau-Forum 1 (1969), F. 1, S. 6–14. Wieder in: Vergleichende Literaturforschung. Internationale Lenau-Gesellschaft 1964 bis 1984. Hrsg. von Antal Mádl und Anton Schwob. Wien 1984, S. 111–119, hier S. 112. Nikolaus Lenau: Briefwechsel. Unveröffentlichtes und Unbekanntes. Zusammengestellt von Josef Buchowiecki. Wien 1969, S. 64. Daß und warum Buchowiecki nur den Text auf der Vorderseite der Handschrift, also lediglich vier von acht Strophen, wiedergibt, wird von ihm in seiner Quellennotiz, S. 70, nicht gesagt. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Inv.-Nr. 10.735. Faksimile in Band 2 der Historisch-kritischen Gesamtausgabe (Anm. 11), S. 878f. – Der von den kursiven Klammern umschlossene Raum deutet den zu vermutenden Umfang der Textlücken an. – Lesarten: leids ] Lesung des ersten Buchstabens etwas unsicher, I-Punkt fehlt – Güte ] Umlautzeichen fehlt – die ] Lesung des ersten Buchstabens unsicher, I-Punkt fehlt – z ] Lesung unsicher, da nur Unterlänge vorhanden – kend ] Lesung des ersten Buchstabens sehr unsicher – nd ] Lesung des ersten Buchstabens unsicher H.

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Geprüft werden sollte – so die Absicht des Innsbrucker Referats –, ob und inwieweit eine Ergänzung der fehlenden Textteile am Anfang und am Schluß der zitierten Verse auf der Basis einer Interpretation vorgenommen werden kann und ob ein weiterer Textverlust oberhalb jeder der beiden lückenhaft überlieferten Strophen anzunehmen ist. Wie im Vortrag im einzelnen dargelegt wurde, ist es möglich, auf Grund des graphischen Befundes und, Hand in Hand damit, einer Deutung des erhaltenen Textes – einschließlich des Kontextes, also der übrigen Strophen – den größten Teil der verlorenen Versanfänge und den verlorenen Versschluß teils sicher, teils vermutungsweise zu rekonstruieren und sonstigen Textverlust weitgehend auszuschließen. Grundsätzlich sollte ein Editor eine erschlossene und auch eine für wahrscheinlich gehaltene Textergänzung mitteilen – wenn verantwortbar im Text, sonst als Angebot für den Benutzer im Apparat (Kommentar). Hierbei sollte er seine interpretatorischen Überlegungen mit angeben, um sie nachvollziehbar und kritisierbar zu machen. Die zu Recht getadelte „Intuitionsphilologie“ (ein Ausdruck Hans Zellers)8 mag heuristisch nützen, aber solcherart gewonnene Ergebnisse bleiben unverbindliche Hypothesen, solange sie nicht durch eine rational argumentierende Interpretation sowie weitere textkritische Kriterien9 mehrfach abgesichert werden. Einen Erkenntnisgewinn für die Lenau-Philologie konnte und sollte der in dem Innsbrucker Vortrag dargebotene Versuch einer Textergänzung jedoch nicht erbringen. Wie bereits dort ausgeführt, hat man den vollständigen Text („Die Zeit des Mitleids und der Güte / Das ist die stille, kühle Nacht [...]“) mitsamt seinen Lesarten im letzten, die Edition abschließenden Band der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Lenaus zu suchen, der bald nach der Innsbrucker Tagung, im April 2004, erschien.10 Ziel des Vortrags war es indessen zu zeigen, daß das konsequente Rekurrieren auf Interpretation einen Editor bei der Rekonstruktion fehlender Textteile in die richtige Richtung zu führen vermag. Die methodologische Erkenntnis, daß jede Textkonstitution einer sie begleitenden Interpretation, zumindest einzelner interpretatorischer Momente, nicht entraten kann, soll nun auch bei den hier angeführten beiden Beispielfällen der Leitgedanke sein. Praktisches Ergebnis der folgenden Ausführungen sind Vorschläge für eine Verbesse-

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Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktions- und rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Text und Edition 2000 (Anm. 2), S. 165–202, hier S. 173. Karl Konrad Polheim hat betont, daß ein Editor Eingriffe in den überlieferten Text (mit dem Ziel der Emendation von Textfehlern) nur unter der Bedingung vornehmen darf, daß folgende drei Kriterien übereinstimmende Ergebnisse liefern: das – auf Grund von Interpretation zu gewinnende – sinnhafte oder ästhetische, das kodikologische und das biographische Kriterium. Vgl. Karl Konrad Polheim: Die scheinbare Autorisation oder Der Schutz des Autors vor sich selbst. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21), S. 65– 72, hier S. 66. Vgl. Nikolaus Lenau: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. im Auftrag der Internationalen Lenau-Gesellschaft von Helmut Brandt, Gerhard Kosellek, Antal Mádl, Norbert Oellers, Hartmut Steinecke, András Vizkelety, Hans-Georg Werner †, Herbert Zeman. Bd. 4: Savonarola, Die Albigenser, Don Juan, Helena. Hrsg. von Helmut Brandt und Gerhard Kosellek. Wien 2004, S. 27f. (Text), S. 382 (Handschriftenbeschreibung), S. 388 (Lesarten).

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rung der Textgestalt zweier Gedichte der Abteilung „Lyrische Nachlese“ in dem entsprechenden, von Antal Mádl herausgegebenen Band der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Schriften Lenaus.11 Es sind die zu Lebzeiten des Dichters ungedruckt gebliebenen Balladen Der Küraß und Das Gespenst, deren bisherige editorische Behandlung zu grundsätzlichen textkritischen Überlegungen zum Problem der Nachlaßedition Anlaß gibt. Dabei wird sich zeigen – um einen Befund Rüdiger Nutt-Kofoths aufgrund seiner Untersuchung früher, das heißt bald nach dem Tode eines Autors besorgter, Nachlaßausgaben aufzugreifen –, „wie willkürliche Entscheidungen“ des ersten Nachlaßherausgebers „über mehr als ein Jahrhundert hinweg in den verschiedensten Ausgaben [...] als nicht anzutastende Vorgabe wiederholt werden“.12 Auf textliche Festlegungen, die ein großes, ein allzu großes Maß an Pietät und Zurückhaltung gegenüber Entscheidungen eines solchen Nachlaßherausgebers, in diesem Fall Anastasius Grüns, erkennen lassen, trifft man auch in dem von Antal Mádl edierten einschlägigen Band der Historischkritischen Gesamtausgabe.13 Die Edition Mádls stellt gleichwohl einen wesentlichen Fortschritt in der Lenau-Editionsphilologie dar, nicht nur wegen der Fülle ihrer Angaben zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte und ihres umfangreichen Kommentars, sondern schon deshalb, weil alle früheren Ausgaben – auch die zuvor maßgebliche wissenschaftliche Lenau-Ausgabe von Eduard Castle14 – sämtliche Texte hinsichtlich Orthographie und Interpunktion ‚normalisiert‘ beziehungsweise ‚modernisiert‘ darbieten. Wenden wir uns nun dem ersten Beispielfall, der humoristischen Ballade Der Küraß, zu. Textgrundlage ist der – neben einem Entwurf – einzige authentische und vollstän-

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Nikolaus Lenau: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. im Auftrag der Internationalen Lenau-Gesellschaft von Helmut Brandt, Gerard Kozieáek, Antal Mádl, Norbert Oellers, Hartmut Steinecke, András Vizkelety, Hans-Georg Werner, Herbert Zeman. (Im folgenden zitiert als: Lenau: HKG.) Bd. 2: Neuere Gedichte und lyrische Nachlese. Hrsg. von Antal Mádl. Wien 1995. Rüdiger Nutt-Kofoth: Letzte Gaben von Annette von Droste-Hülshoff (1860). Zum editionsphilologischen Umgang mit einer frühen Nachlaßedition. Eine exemplarische Untersuchung. Bd. 1: Untersuchung. Bern u. a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 5/1), S. 546. Abgesehen von den nachstehend dargestellten Fallbeispielen ist folgendes festzustellen: Gedichte Lenaus, die im Manuskript titellos sind, hat Antal Mádl unter den Überschriften ediert, die von Grün (z. B. Protest) – bzw. von dem späteren Herausgeber Eduard Castle (z. B. Impromptu) – stammen, wobei er im Apparat auf die Urheber der Überschriften hinweist. Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 785, 794. Keinen Gebrauch macht Mádl von der Möglichkeit, als Titel die erste Gedichtzeile zu verwenden, indem diese in Klammern, die Herausgebertext einschließen, gesetzt wird. Dazu siehe Winfried Woesler: Theorie und Praxis der Nachlassedition. In: Die Nachlassedition. La publication de manuscrits inédits. Akten des vom Centre National de la Recherche Scientifique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französisch-deutschen Editorenkolloquiums Paris 1977. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern u. a. 1979 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte. 4), S. 42–53, hier S. 50: „Ältere Editoren erfanden Titel für Nachlasstexte. Bei Gedichten wiederholt man besser – um die Interpretation nicht festzulegen – die erste Zeile.“ Vgl. auch Winfried Woesler: Der Editor und ‚sein‘ Autor. In: editio 17 (2003), S. 50–66, hier S. 64. Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe in 6 Bänden. Hrsg. von Eduard Castle. (Im folgenden zitiert als: Lenau: SWB.) Bd. 1: Gedichte. Leipzig 1910; Bd. 6: Nachträge, Lesarten und Anmerkungen, Register. Leipzig 1923.

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dig erhaltene Textzeuge, eine Reinschrift (Abbildung 1). Schwierigkeiten bereitet die Textkonstitution der letzten Strophe. Diese lautet in der Historisch-kritischen Gesamtausgabe und (abgesehen von Varianten der Schreibung und Zeichensetzung) in allen früheren Lenau-Ausgaben wie folgt: „„Keinen Küraß mehr dem Hussaren!““ Ruft der Hussar und reitet davon; Zitternd noch von den Todesgefahren Zählt der Jud die Dukaten schon.16

Damit gibt die Historisch-kritische Gesamtausgabe der Schlußstrophe diejenige Gestalt, wie sie seit dem postumen Erstdruck, ein Jahr nach dem Tode des Dichters erschienen, nicht anders bekannt war und der Rezeption des Gedichtes alternativlos zugrunde gelegen hat. Mit diesem Verfahren ist dem von Herbert Kraft betonten Grundsatz entsprochen, die historische „Faktizität der Texte“ sei Ausgangsbasis der Textkonstitution.17 Wenn der historisch, das heißt wirkungsgeschichtlich, relevant gewordene Text im Ganzen, also nicht unbedingt in allen Einzelheiten, der des zu edierenden Autors ist, dann sei ihm eine historische „Authentizität“ zuzusprechen, auch dort, wo er im Detail vom Willen des Autors abweiche.18 Aber ist der gedruckte Wortlaut, auch wenn er offensichtlich der im Originalmanuskript materialisierten Autorintention partiell zuwiderläuft, immer schon zu einem für alle Zeiten zu konservierenden maßgeblichen Text zu erheben? Selbst dann, wenn der zeitgenössische Nachlaßeditor den Autortext anders, richtiger, zu lesen nicht imstande war oder aus einem anderen Grund auf eine frühere, jedoch verworfene Variante zurückzugreifen sich genötigt glaubte? Dies ist nun bei dem Gedicht Der Küraß der Fall. Die Textgestalt der zitierten Strophe geht auf die Ausgabe Nicolaus Lenau’s dichterischer Nachlaß von 1851 zurück. Zwar versicherte deren Herausgeber, Anastasius Grün, die von ihm veröffentlichten Lyrica seien „genau in der Form und Fassung wiedergegeben“, in der sie Lenau „zurückgelassen“ habe,19 und seine, Grüns, im großen und ganzen pietätvolle Behandlung der Texte des Freundes macht ihn dem Bandherausgeber der Historisch-

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Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Inv.-Nr. 156.127. Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 386. – Ebenso in der Ausgabe Castles: Lenau: SWB, Bd. 1 (Anm. 14), S. 512. – Vgl. Nicolaus Lenau’s dichterischer Nachlaß. Hrsg. von Anastasius Grün. Stuttgart, Tübingen 1851, S. 155. [Neuausgabe] Stuttgart, Augsburg 1858, S. 117. – Desgleichen in allen übrigen Ausgaben, von denen hier nur einige wichtigere aufgeführt seien: Lenaus Werke. Hrsg. von Max Koch. Tl. 1. Berlin, Stuttgart [1887], S. 431; Lenaus Werke in zwei Teilen. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu hrsg. mit Einleitungen und Anmerkungen vers. von Carl August von Bloedau. Tl. 2. Berlin u. a. [1909], S. 358; Lenaus Werke. Hrsg. von Carl Schaeffer. Kritisch durchges. und erläut. Ausgabe. Bd. 1. Leipzig, Wien [1910] (Meyers Klassiker-Ausgaben), S. 326; Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke, Briefe. Hrsg. von Hermann Engelhard. Stuttgart 1959, S. 424; Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Auf der Grundlage der historisch-kritischen Ausgabe von Eduard Castle. Hrsg. von Walter Dietze. Bd. 1. Leipzig 1970. [Lizenzausgabe] Frankfurt a. M. 1971, S. 489. Herbert Kraft: Editionsphilologie. 2., neubearb. und erweit. Aufl. mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff. Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 35. Kraft 2001 (Anm. 17), S. 34, 38. Anastasius Grün: Vorwort. In: Lenau: Nachlaß 1851 (Anm. 16), S. V–XXII, hier S. XVII.

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kritischen Gesamtausgabe, Antal Mádl, voll vertrauenswürdig.20 Aber Anastasius Grün war kein wissenschaftlicher Editor, sondern, um eine von Winfried Woesler gebrauchte terminologische Unterscheidung anzuwenden, „Testamentseditor“.21 Daß er mitunter glättend in die Originaltexte eingegriffen hat – schließlich war er selbst Lyriker –, ist bekannt.22 Glücklicherweise ist es nur in wenigen Fällen mangels anderweitiger, insbesondere handschriftlicher Textzeugen notwendig, auf den Text von Grüns Nachlaßausgabe zurückzugreifen.23 Zum Problem der frühen Nachlaßedition, speziell zu dem Fall, daß postum gedruckte Texte eine von den bekannten Handschriften abweichende, nicht authentische Textgestalt aufweisen, hat Rüdiger Nutt-Kofoth Verbindliches ausgeführt: Wenn ausgeschlossen werden kann, daß jene Texte auf verlorenem authentischem Material beruhen, wenn also ein Nachlaßherausgeber in die überlieferte Textvorlage nachweislich eingegriffen hat – und ein solcher Eingriff liegt, wie zu zeigen ist, in dem hier betrachteten Fall vor –, so muß der Text als „korrupt“ gelten und ist daher für die Textkritik „ohne Belang“, ungeachtet seines Stellenwerts in der Wirkungsgeschichte.24 Ebenso eindeutig lautet die Position Winfried Woeslers: Bindend für den wissenschaftlichen Editor ist „die Wiedergabe der intendierten Botschaft des Autors“, sei der von dem Erstherausgeber an die Öffentlichkeit gebrachte Text auch rezeptionsgeschichtlich relevant.25 Daß der Autor und damit der Begriff der Autorintention, nachdem nicht wenige Literaturwissenschaftler beide als unwichtig und das Festhalten an ihnen als obsolet betrachtet hatten, in der literatur- und editionswissenschaftlichen Diskussion wieder eine Renaissance erleben, hat nicht zuletzt die Aachener Editorentagung deutlich gemacht.26 Wo also die von dem Nachlaßherausgeber Anastasius Grün erarbeitete Textversion offenkundig vom dokumentierten Willen des Autors Nikolaus Lenau abweicht, sollte eine textkritische Lenau-Edition den authentischen Wortlaut wiederherstellen. Wo genau liegt nun im Falle der Schlußstrophe des Gedichtes Der Küraß das Problem?

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Vgl. Antal Mádl: Anastasius Grün und Nikolaus Lenau. Eine Dichterfreundschaft. In: Anastasius Grün und die politische Dichtung Österreichs in der Zeit des Vormärz. Internationales Symposion Laibach/Ljubljana 3.–6. November 1994. Hrsg. von Anton Janko und Anton Schwob unter Mitarbeit von Carla Carnevale. München 1995 (Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerks, Reihe B: Wissenschaftliche Arbeiten. 68), S. 55–79, hier S. 71. Woesler 1979 (Anm. 13), S. 44f. Vgl. Heinrich Bischoff: Nikolaus Lenaus Lyrik. Ihre Geschichte, Chronologie und Textkritik. Bd. 2: Chronologie und Textkritik. Mit einem Anhang: Tagebuch von Max Löwenthal über Lenau. Berlin 1921, S. 9; Mádl in Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 750. Vgl. aber Mádl 1995 (Anm. 20), S. 71: „Tatsache bleibt, daß wir beinahe beim gesamten Nachlaß fast ausschließlich auf die Ausgaben von Grün angewiesen sind.“ Diese Angabe hat Mádl durch seine Edition der „Lyrischen Nachlese“ (Lenau: HKG, Bd. 2 [Anm. 11], S. 321–432) selbst widerlegt. Nur bei sieben von 89 nachgelassenen Texten stellen die Ausgaben Grüns, da keine besseren Textzeugen vorhanden sind, die Textgrundlage dar: Bei fünf von insgesamt 31 in Grüns Nachlaßausgabe enthaltenen Gedichten griff Mádl auf diese Ausgabe zurück, und in zwei Fällen stützte er sich auf Grüns Ausgabe von Lenaus Sämmtlichen Werken (in den Auflagen von 1880 und 1881). Nutt-Kofoth 1999 (Anm. 12), S. 440. Woesler 2003 (Anm. 13), S. 55. Es sei unumgänglich, dem Begriff der Autorintention in der literaturwissenschaftlichen und editionsphilologischen Diskussion wieder Aufmerksamkeit zuzuwenden, betonte Fotis Jannidis: Autor, Autorbild und Autorintention. In: editio 16 (2002), S. 26–35, hier S. 34. Vgl. Polheim 2004 (Anm. 9), S. 65.

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Die ersten beiden Verszeilen der zitierten Strophe („Keinen Küraß“ bis „reitet davon“) sind, wie dies auch der Lesartenapparat der Historisch-kritischen Gesamtausgabe ausweist, in der Reinschrift, der Textgrundlage, „eigenhändig gestr[ichen]“.27 Damit bricht der Text in der sauber mit Tinte geschriebenen Grundschicht ab. Die letzten beiden Zeilen des edierten Textes der Schlußstrophe findet man in der Textgrundlage strenggenommen gar nicht. Der Editor Antal Mádl hat an der Stelle der fehlenden Reinschriftzeilen – nach dem Vorgang des Nachlaßherausgebers Grün – als Strophenschluß eine Lesart in den edierten Text übernommen, die Lenaus Schwager Anton Xaver Schurz28 handschriftlich in das Originalmanuskript eingetragen hatte. Diese beiden Verszeilen („Zitternd noch“ bis „Dukaten schon“) sind dort, ebenfalls von Schurz’ Hand, mit dem erklärenden Zusatz versehen: „nach dem Exemplar bei der Löwenthal ergänzt“, das heißt nach einer, Anastasius Grün zufolge, „in Händen der Fr[au] [Sophie] v[on] Löwenthal befindlichen Abschrift“.29 Diese „Abschrift“ ist entweder heute nicht mehr erhalten oder mit einem überlieferten eigenhändigen Entwurf Lenaus in seinem „Ischler Notizbuch“ identisch, wo sich die Strophe vollständig – der zweite Vers mit teilweise abweichendem Wortlaut – findet: „Keinen Küraß mehr dem Hussaren![“] Droht er und lacht er u[nd] reitet davon, Zitternd noch von den Todesgefahren Zählt der Jud die Dukaten schon[.]30

Der Nachlaßherausgeber Grün hat also bei der Textkonstitution der Schlußstrophe die Intention Lenaus, kundgetan durch dessen Textstreichung in der Reinschrift, übergangen. Anstatt auf die Wiedergabe der gestrichenen und der nicht eigenhändigen Zeilen – und damit der Strophe – zu verzichten, hat er zwei Textzeugen miteinander vermischt: Die ersten beiden Verse des edierten Strophentextes basieren auf der Reinschrift, den dort getilgten beiden Zeilen; die letzten beiden Verse des edierten Textes gehen auf das „Ischler Notizbuch“ zurück. Damit wird aber eine Schlußstrophe präsentiert, die mit genau diesem Wortlaut in keinem authentischen Textzeugen überliefert ist. Es werden zwei Schlußverse konserviert, die Lenau, da er sie nicht aus dem Ischler Entwurf in die Reinschrift übernahm, in dieser Form offenbar gerade eliminiert wissen wollte. In dieser Form – denn der Dichter hat, was der Nachlaßherausgeber Grün ignorierte, unter die beiden mit Tinte gestrichenen Reinschriftzeilen nunmehr mit Bleistift – zunächst – zwei weitere Zeilen gesetzt, so daß damit doch, nimmt man die gestrichenen Zeilen hinzu, in dem Textzeugen – genauso wie zuvor im „Ischler Notizbuch“ – eine vollständige Schlußstrophe entstanden ist.

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Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 824. Nach Lenau: SWB, Bd. 6 (Anm. 14), S. 491. Brief Grüns an L. A. Frankl vom 21. April 1851. In: Briefwechsel zwischen Anastasius Grün und Ludwig August Frankl (1845–1876). Hrsg. von Bruno von Frankl-Hochwart. Berlin 1897 (Aus dem Neunzehnten Jahrhundert. Briefe und Aufzeichnungen. 1), S. 35. Zitiert in Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 825. Lenau: HKG (Anm. 11), Bd. 7: Aufzeichnungen, Vermischte Schriften. Bearb. von Norbert Otto Eke, Norbert Oellers, Karl Jürgen Skrodzki, Hartmut Steinecke. Wien 1993, S. 233f.

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Nicht falsch freilich ist die Angabe im Apparat der Historisch-kritischen Gesamtausgabe, diese „Blei-Korrekturen“ seien „nicht eindeutig abgeschlossen“,31 die „letzte Strophe“ sei „nicht zu Ende geschrieben“.32 Mit Recht spricht Antal Mádl von einer „Unsicherheit den Schluß betreffend“.33 Diese Unsicherheit zeigt sich vor allem darin, daß Lenau zu den beiden neuen Schlußzeilen noch zwei weitere Bleistiftzeilen, eine Alternativvariante, hinzugefügt hat. Alle vier Bleistiftzeilen sind in einem anderen, viel flüchtigeren Schriftduktus als die Grundschicht gehalten und weisen selbst wieder Wortstreichungen und -hinzufügungen (zum Teil mit Tinte) auf. Sie haben also Entwurfscharakter. Zwar sind die blassen Bleistiftnotate, deren erstes zudem durch Schurz’ Textergänzung großenteils überschrieben ist, nur schwer zu entziffern; sie sind jedoch, anders als Eduard Castle behauptete, keineswegs „unleserlich“.34 Die beiden gestrichenen Verse am Strophenanfang sind mitzulesen, da ohne sie der Textzusammenhang unterbrochen wäre. Die Weiterarbeit an der Strophe trotz der zuvor erfolgten Streichung bedeutet, daß diese als aufgehoben angesehen werden muß. Dies gilt um so mehr, als zu dem bestimmten Artikel „dem“ im ersten der beiden gestrichenen Verse mit Bleistift der unbestimmte Artikel „einem“ als Alternativvariante hinzugefügt ist. Mein Vorschlag für die Textkonstitution besteht nun darin, die beiden gestrichenen Verse der Grundschicht zusammen mit zweien der später hinzugefügten Bleistiftzeilen in den edierten Text zu nehmen. Nur so kann ein vollständiger, zur Gänze authentischer und von einer Kontamination mehrerer Textzeugen freier Text geboten werden. Dabei ist unerheblich, daß der Korrekturvorgang, da Alternativvarianten vorhanden sind, nicht abgeschlossen wurde und außerdem Schreibmaterial und Schreibduktus das Vorläufige der Plusverse indizieren. Die Schlußstrophe sollte also im edierten Text, je nachdem, ob man gemäß der Empfehlung Winfried Woeslers verfährt, prinzipiell „stets die älteste nichtgestrichene Variante in den edierten Text zu nehmen“,35 oder aber (hier in der ersten, dritten und vierten Zeile) jeweils die hinzugefügte Alternativvariante bevorzugt, folgendermaßen lauten. Entweder: „„Keinen Küraß mehr dem Hussaren!““ Ruft der Hussar und reitet davon; Heisser Heldenmuth in Gefahren Ist ihm der beste Küraß schon.36

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Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 823. – Castle gibt an, auf den gestrichenen Text „folgen vier Zeilen bl, von denen zwei überschrieben, zwei verwischt [...] sind“. Lenau: SWB, Bd. 6 (Anm. 14), S. 491. – Gar kein Hinweis auf den Bleistifttext findet sich bei Bischoff 1921 (Anm. 22), S. 145. Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 825. Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 825. Lenau: SWB, Bd. 6 (Anm. 14), S. 491. Woesler 2003 (Anm. 13), S. 65; vgl. Woesler 1979 (Anm. 13), S. 50. Dazu Lesarten: Heisser bis schon. ] mit stumpfem Bleistift, Lesung infolge der Überschreibung von fremder Hand teilweise etwas unsicher – Heisser ] (1) {sein eigener} (eigener : oder eigner) mit stumpfem Bleistift, Lesung unsicher, Streichung infolge der Überschreibung von fremder Hand unsicher (2) ser (Hei : vor der Zeile hinzugefügt; erstes s : über der Zeile hinzugefügt; ser : aus sein der Textstufe 1 durch Überschreibung korrigiert, Lesung unsicher) – Ist ] ist H. – Erläuterung der diakritischen Zeichen: {} = Streichung, = Hinzufügung.

Textkonstitution und Interpretation

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Oder: „„Keinen Küraß mehr einem Hussaren!““ Ruft der Hussar und reitet davon; Küraß genug in den ärgsten Gefahren Ist seine gelenkige Faust ihm schon!37

Den Terminus „Alternativvariante“ hat Herbert Kraft abgelehnt. Er bestreitet, daß man von „‚abgeschlossenen nachgelassenen Texten‘ mit ‚Alternativvarianten‘“ sprechen könne; „in Wirklichkeit“ handele es sich um „nachgelassene nicht-abgeschlossene Texte mit mehrfach besetzten Ausdrucks- (Funktions-)Positionen.“38 Das Vorkommen von nicht gestrichenen Varianten macht nun aber aus einem ansonsten abgeschlossen vorliegenden Text meines Erachtens nicht einen ‚nicht-abgeschlossenen‘ Text. Nur der Korrekturprozeß ist nicht zu einem Abschluß gekommen. Der Text selbst jedoch ist auf syntagmatischer Ebene vollständig. Allerdings sind, auf paradigmatischer Ebene, einige Positionen doppelt (oder auch drei-, vierfach usw.) besetzt. Eines dieser miteinander konkurrierenden bedeutungstragenden Elemente – welches, ist unentschieden – gehört nicht zum Text, ist vielmehr Bestandteil eines an der betreffenden Stelle abweichenden, also geringfügig anderen Textes. Eine endgültige Entscheidung für die jeweilige Variante hat der Autor nicht getroffen, kann der Editor im Grunde genommen erst recht nicht treffen. Dennoch muß sich der Editor entscheiden, da die Logik des Textes eines literarischen Werkes mehrfach besetzte Positionen nicht zuläßt. Es gilt, daß mit dem edierten Text der Text des Werkes ediert werden soll, nicht der Text der Handschrift (dafür steht der Apparat zur Verfügung).39 Die aporetische Situation, in der sich der Editor befindet, klärt sich, wenn man folgendes bedenkt: Jede der aus Alternativvarianten bestehenden Textstufen hatte historisch – und sei es nur für Augenblicke – Gültigkeit, entsprach mehr als die andere(n) dem Willen des Autors, repräsentierte zeitweise an ihrem Ort den Text des Werkes. Würde man alle varianten Versionen zusammen abdrucken, so wie sie auf dem Papier ‚gegeben‘ sind, würde eine Textgestalt entstehen, die zu keinem Zeitpunkt dem Willen des Autors entsprochen hat. Die Intention des Autors zielt grundsätzlich auf einen

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Dazu Lesarten: Küraß genug bis schon! ] (1) Küraß {ihm} {ist} in den {größten} Gefahren / {seine} gelenkige Faust {ja} schon! (ist : im Übergang zur Textstufe 3 mit spitzem Bleistift gestrichen; größten : Umlautzeichen fehlt, im Übergang zur Textstufe 3 mit Tinte gestrichen; seine : vermutlich irrtümlich gestrichen; ja : im Übergang zur Textstufe 3 mit spitzem Bleistift und Tinte gestrichen) mit stumpfem Bleistift (2) Küraß in den größten Gefahren / seine gelenkige Faust schon! Hinzufügungen und Streichung mit stumpfem Bleistift (3) Küraß genug in den Gefahren / ist seine gelenkige Faust schon! (ärgsten : Umlautzeichen fehlt) Hinzufügungen mit Tinte H. – Erläuterung der diakritischen Zeichen siehe Anm. 36. – Man kann den Umstand, daß Lenau diese zweite (Bleistift-)Fassung der Schlußverse durch Tintenkorrekturen einer Überarbeitung unterzog, als Indiz dafür nehmen, daß er der zweiten Version möglicherweise höhere Aufmerksamkeit schenkte. Kraft 2001 (Anm. 17), S. 132. Text von „nachgelassene“ bis „Positionen“ im Original kursiv. Dieser könnte z. B. ein integraler Apparat sein, eine synoptische Darstellungsform aufweisen oder, entsprechend Herbert Krafts Forderung für die Fragmentedition, eine Abbildung der ‚strukturellen Räumlichkeit‘ des Geschriebenen bieten. Kraft 2001 (Anm. 17), S. 135f. – Auf jeden Fall ist bei Nachlaßeditionen der Apparat vom Interpreten hinzuzuziehen; die „Edition von Nachlass-Manuskripten“ kann den Apparat „kaum entbehren, er bleibt Bestandteil des lesbaren ‚Textes‘.“ Woesler 1979 (Anm. 13), S. 52.

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von Varianten freien Werktext ab, selbst dann, wenn er definitive Festlegungen so lange wie möglich aufschiebt, ja schon getroffene Entscheidungen immer wieder rückgängig macht.40 Nur eine der vorliegenden Alternativfassungen der Küraß-Schlußstrophe sollte also in den edierten Text aufgenommen werden. Aber es wäre noch eine dritte Lösung denkbar: Ein Editor könnte angesichts der Unabgeschlossenheit der Überarbeitung und der Unsicherheit jedweder Entscheidung auf die Schlußstrophe ganz verzichten und sie nur im Apparat mitteilen. Dies ist deshalb erlaubt, weil der neue Text, wie Schriftduktus und Schreibgerät zeigen, offenbar zu einem viel späteren Zeitpunkt als die Reinschrift niedergeschrieben wurde und somit durch diesen Überarbeitungsprozeß, in dem wiederum mehrere Phasen zu unterscheiden sind, unterschiedliche Fassungen des Gedichts konstituiert werden. Der Editor hat die Möglichkeit der Wahl. Kriterium für die abzudruckende Fassung sollte die Qualität des Textes sein. Die ästhetisch ‚beste‘ Fassung (Karl Konrad Polheim)41 ist durch einen Vergleich der vorliegenden Fassungen zu bestimmen. Sie darf hingegen keinesfalls durch Kontamination aus mehreren Fassungen ‚hergestellt‘ werden. Zugrunde gelegt werden muß wiederum eine – im Kommentar nach Möglichkeit mitzuteilende, somit überprüfbar zu machende – Interpretation. Das Ergebnis des Fassungenvergleichs wäre im Fall unseres Gedichtes klar: Die Reinschriftfassung unterscheidet sich von den späteren Textstufen qualitativ darin, daß in ihr mit der Schlußstrophe auch die Pointe fehlt. Was immer der Editor im konkreten Fall des Schlusses von Der Küraß tut – eines sollte ausgeschlossen sein: eine vom Dichter verworfene und obendrein auch ästhetisch geringerwertige Textstufe nachträglich wiederherzustellen. Vielmehr wäre es geboten, einen zwar ‚historischen‘, faktischen, nachweislich wirkungsmächtigen, aber

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Dies ist vielfach der Fall bei den Alternativvarianten in den nachgelassenen Manuskripten Annette von Droste-Hülshoffs. Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: „ich fand des Dichtens und Corrigirens gar kein Ende“. Über Annette von Droste-Hülshoffs dichterisches Schreiben – mit einem besonderen Blick auf das Geistliche Jahr. In: Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. Festakt und Tagung in Münster am 6. Juli und am 13./14. Juli 2001. Hrsg. von Ortrun Niethammer. Bielefeld 2002 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen. 6), S. 199– 217, hier S. 207–209, 213, 215. Vgl. Karl Konrad Polheim †: Textkritik und Interpretation bedingen einander (Anm. 2), S. 218. Außerdem: Ders.: Ist die Textkritik noch kritisch? In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. Tl. 2: Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literatur. Berlin, New York 1985, S. 324–336. Wieder in: Karl Konrad Polheim: Kleine Schriften zur Textkritik und Interpretion. Bern u. a. 1992, S. 49–66, hier S. 55. – Zu dem äquivoken Begriff ‚der beste Text‘ (Ernst Grumach) bzw. ‚die beste Fassung‘ (Karl Konrad Polheim) – zwei Verwendungsweisen, die miteinander nichts zu tun haben – vgl. die Belege bei Nutt-Kofoth 1999 (Anm. 12), S. 563 mit Anm. 2. – Herbert Kraft hat sich dafür ausgesprochen, neben dem Erstdruck sowie, gegebenenfalls, der der Rezeption zugrundeliegenden Fassung zusätzlich auch die beste Fassung – er spricht von deren ‚ästhetischer Authentizität‘ – zu edieren: „Gibt es in der Überlieferung eine Fassung, deren ästhetische Qualität sich in der Interpretation zeigt, wird auch eine solche Fassung als ‚Text‘ ediert. Dieser Grundsatz gilt zugleich für nachgelassene Werke.“ Kraft 2001 (Anm. 17), S. 35. Die Edition mehrerer Fassungen ist aber in der Praxis nur dann möglich und sinnvoll, wenn sich die Texte erheblich voneinander unterscheiden, wenn also die „Differenz zwischen der historischen und der ästhetischen Authentizität“ der Fassungen (ebd., S. 38) groß ist. In den meisten Fällen wird sich der Editor für eine Fassung zu entscheiden haben, und dann sollte stets das Kriterium der ästhetischen Qualität zum Zuge kommen.

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eben partiell falschen, weil in dieser Form nicht authentischen Text – den der frühen Nachlaßausgabe – zu korrigieren. Das bedeutet, die von Schurz und Grün in den Text hineinkonjizierten Schlußverse, welche den Dichter Ludwig August Frankl, Lenaus und Grüns Freund, offenbar befremdet haben, weil sie ein antisemitisches Stereotyp bedienen,42 wären gemäß dem dokumentierten Willen des Autors in den Apparat zu verbannen. Ähnlich und doch anders liegen die Dinge bei dem gleichfalls nachgelassenen Gedicht Das Gespenst. Textgrundlage für den Abdruck in der Historisch-kritischen Gesamtausgabe ist der einzige Textzeuge, eine Reinschrift (Abbildung 2).43 Hier gibt es ebenfalls vier von Lenau mit Bleistift offenkundig nachträglich in die mit Tinte geschriebene Reinschrift eingetragene Zeilen. Es handelt sich um eine ganze Strophe, die am Schluß, in dem freien Raum unter dem letzten Vers, in verändertem Schriftduktus niedergeschrieben worden ist. Doch die letzte Zeile dieser Zusatzstrophe, als einzige mit einem stumpfen Bleistift und besonders flüchtig geschrieben, ist schwer lesbar. Der Nachlaßherausgeber Anastasius Grün hat sie in seiner Ausgabe durch eine sinnentsprechende, aber im Original nicht vorhandene Verszeile ersetzt. Die Historisch-kritische Gesamtausgabe nimmt die Zusatzstrophe in der auf Grün zurückgehenden Version in den edierten Text auf. Dies hatten zuvor alle anderen Ausgaben (die des 20. Jahrhunderts mit ‚modernisierter‘ Orthographie) gleichfalls getan. Die Strophe lautet in der Edition Antal Mádls entsprechend der Nachlaßausgabe: Ein Räuber spukt im Haus umher, Den todten alten Grafen spielend, Im weißen Hemd, auf Enten zielend, Durchs Fenster feuernd sein Gewehr.44

Der letzte Vers der Strophe, so die Angabe Mádls, „fehlt in dieser Form“ in der Handschrift.45 Nicht festzustellen sei, ob der Vers von Grün einem anderen – unbekannten – Manuskript entnommen wurde, ob er auf dessen Phantasie zurückgeht oder ob er aus den „heute völlig verwischten“ Bleistiftkorrekturen entziffert werden konnte.46 Letzteres ist jedoch so gut wie unmöglich, denn die letzte Zeile der Bleistift-

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L. A. Frankl muß in einem nicht erhaltenen Brief an Grün seinen Unwillen geäußert haben. Grün erwiderte am 21. April 1851: „Über den ‚Harnisch‘ denke ich günstiger als Sie; wäre der Schluß ein anderer – der mich nicht zufriedenstellt und der dem Dichter selbst auch nicht behagte, da er in dem mir vorliegenden Mscpte. in bianco geblieben war [...] – ich würde es nach seinen übrigen Theilen der besten Zeit Lenaus einreihen. Denken Sie sich den Schlußvers weg, und Sie werden sich mit Idee und Ausführung vielleicht aussöhnen.“ Briefwechsel (Anm. 29), S. 35. Zitiert in Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 825. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Inv.-Nr. 156.128. Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 400f. – Ebenso in der Ausgabe Castles: Lenau: SWB, Bd. 1 (Anm. 14), S. 523. – Vgl. Lenau: Nachlaß 1851 (Anm. 16), S. 124; Nachlaß 1858 (Anm. 16), S. 96. – Desgleichen in allen übrigen Ausgaben (Anm. 16), von denen wieder nur die wichtigsten zitiert seien: Lenau: Werke. Hrsg. von M. Koch. Tl. 1, S. 412; Lenau: Werke. Hrsg. von C. A. von Bloedau. Tl. 2, S. 351; Lenau: Werke. Hrsg. von C. Schaeffer, Bd. 1, S. 317; Lenau: Werke. Hrsg. von H. Engelhard, S. 433; Lenau: Werke. Hrsg. von W. Dietze. Bd. 1, S. 499. Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 840. Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 841.

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strophe ist noch entschlüsselbar und hat, nach mehreren durch Streichung korrigierten Anläufen, einen ganz anderen Text: Gewaltiglich losknallet er.47

Bereits Heinrich Bischoff in seiner Arbeit zur Textkritik von Lenaus Lyrik entzifferte den Schlußvers so und gab an, Grün habe ihn ‚umgedichtet‘.48 Eduard Castle schloß sich dieser Lesung an.49 Man darf in der Tat vermuten, daß bei dem Eingriff des Nachlaßherausgebers Grün keine Kompilation zweier Textzeugen vorliegt wie in Der Küraß, sondern der Versuch, eine Entzifferungsunsicherheit zu kaschieren oder gar völlig eigenmächtig eine Textverbesserung herbeizuführen.50 Die fragliche Zeile hat den Dichter offenbar selbst nicht befriedigt, denn er hat sie mit Bleistift eingeklammert. Aber ist die Strophe, wie dies die Historisch-kritische Gesamtausgabe tut, damit als „unbeendet“51 zu bezeichnen? Und durfte der vorhandene Schlußvers deshalb durch eine höchstwahrscheinlich nicht authentische Verszeile ersetzt werden? Freilich: Dem Postulat der historischen ‚Faktizität des Textes‘, des postum gedruckten, hat der Editor entsprochen – allerdings unter Preisgabe der Faktizität der dokumentierten Intention des Autors. Die nachgetragene Strophe wirft ein weiteres Problem auf, das ihrer Position. Der Editor Antal Mádl ist dem Nachlaßherausgeber Grün auch darin gefolgt, daß er diesen zusätzlichen Text nicht an den Schluß gestellt, sondern zwischen die siebte und die achte Strophe, die auf der vorletzten Manuskriptseite niedergeschrieben sind, eingeordnet hat. Der Plustext steht in der Handschrift auf der Höhe des Zwischenraums zwischen jenen beiden Strophen; ein waagerechter Farbstiftstrich, vermutlich von fremder Hand, fungiert offenbar als Einweisungszeichen. „Sinngemäß“, so Mádl, gehöre die nachgetragene Strophe an diese Stelle.52 Richtigerweise hat der Bandherausgeber seine Entscheidung also nicht nur auf ein kodikologisches Kriterium gestützt, sondern auch die Interpretation des Gedichttextes in seine Überlegungen zur Textgestalt einbezogen. Jedoch hat er die Argumente, die ihn dabei geleitet haben, im einzelnen nicht angegeben. Antal Mádl verwirft somit die von dem früheren LenauHerausgeber Eduard Castle praktizierte Lösung, der den Plustext – mit der nicht authentischen letzten Zeile – im Widerspruch zu der durch die Erstpublikation begründeten ‚Faktizität des Textes‘ nach der dritten Strophe eingefügt hatte.53 Doch kann man, dem Prinzip der ‚Faktizität‘ folgend, dieser Entscheidung des Editors der Histo-

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Dazu Lesarten: Gewaltiglich ] (1) {Und} {xxxxxglich} Wortanfang unlesbar (2) Und (3) Und Reihenfolge der Textstufen (2) und (3) unsicher (4) H. – Erläuterung der diakritischen Zeichen siehe Anm. 36. Bischoff 1921 (Anm. 22), S. 9, 163. Lenau: SWB, Bd. 6 (Anm. 14), S. 497. Derartige Fälle von Herausgebereingriffen werden beschrieben und gegeneinander abgegrenzt bei NuttKofoth 1999 (Anm. 12), S. 563f. Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 841. Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 840. Lenau: SWB, Bd. 1 (Anm. 14), S. 523. Ebenso verfahren nur die auf Castle beruhenden Ausgaben: Lenau: Werke. Hrsg. von H. Engelhard (Anm. 16), S. 433; Lenau: Werke. Hrsg. von W. Dietze. Bd. 1 (Anm. 16), S. 499. Sämtliche übrigen Ausgaben schließen sich der Lösung Grüns an.

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risch-kritischen Gesamtausgabe zustimmen? Oder soll man Castle Recht geben, der für die von ihm gewählte Reihenfolge allerdings keinerlei Gründe – weder kodikologische noch ästhetische, auf den Inhalt bezogene – anführte?54 Das kodikologische Argument könnte behaupten, daß die von Lenau nachträglich hinzugefügte Strophe im Manuskript einfach dort ihren Platz gefunden hat, wo für ihre Niederschrift freier Raum zur Verfügung stand. Welche Hinweise gibt der Textsinn, die Interpretation? Gehen wir von Grüns und Mádls Strophenanordnung aus! In der Strophe, die dort auf die Plusstrophe (Zeilen 30–33)55 folgt, ist von „diesen Tönen“ (Z. 35) die Rede, die einem „Hirten“ (Z. 14, 34, 39) die Anwesenheit von Menschen verraten. Worauf bezieht sich das Demonstrativpronomen? Auf die Schüsse aus der Entenflinte? Oder ist damit, auch wenn man die – Schüsse als „Töne“ mißdeutende – Torheit des Hirten in Rechnung stellt, nicht eher der „Lärm“ der „Musikanten“ gemeint (Z. 20), der zu ihm hinübergetragen wird (Z. 21)? Der sich nähernde Hirt vernimmt in den lockenden „Tönen“ die Festesklänge einer Hochzeitsgesellschaft (Z. 22–25), von Wesen aus Fleisch und „Blut“ (Z. 36). Früher hingegen hatte er „den Schuß“ (Z. 17) des vermeintlichen „Geistes“ (Z. 15) gehört und sich verkrochen (Z. 17). Setzen wir die Plusstrophe mit Castle vor diese Stelle, also vor Z. 14, so bezieht sich der „Schuß“ auf genau den Knall aus der Flinte des spukenden Räubers, von dem in der hinzugefügten Strophe die Rede ist. Gegen diese Reihenfolge spräche es, wenn die Plusstrophe mit den Worten „durchs Fenster feuernd“ drei Wörter – in Form einer schlechten Figura etymologica – wiederholte, die bereits in der vorherigen Strophe (Z. 12–13) vorkommen. Aber in der Plusstrophe steht eben nicht: „Durchs Fenster feuernd sein Gewehr“, sondern: „Gewaltiglich losknallet er“. Und mit diesem Text fügt sich die Plusstrophe an dieser Stelle – und nur hier – nahtlos ein. Der Text des Gedichts lautet somit (ohne den Titel und die Schlußstrophe, dazu später): Dies war einmal ein Edelhaus, Nun ist es trauriglich zerfallen, Es schneit und regnet in die Hallen, Nur Räuber gehn dort ein und aus.

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Der Sohn einst mit dem Vater stritt, Wer auf der Jagd die Ent’ erschossen; Da ist des Alten Blut geflossen, Der wilde Sohn zum Teufel ritt.

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Weib, Knecht und Dirne flohn den Ort, Hat Keins das Blut nur aufgescheuert; Nun heißt’s: bei Nacht auf Enten feuert Des Alten Geist durchs Fenster dort.

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Vgl. Lenau: SWB, Bd. 6 (Anm. 14), S. 497, wo in den Lesarten die abweichende Anordnung vermerkt ist. Die Zeilenangaben verweisen auf den Zeilenzähler in Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 400f. Vgl. auch Anm. 56.

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Ein Räuber spukt im Haus umher, Den todten alten Grafen spielend, Im weißen Hemd, auf Enten zielend, Gewaltiglich losknallet er. Der Hirte sieht im Mondschein hell Von fern das Hemd des Geistes flattern, Hört in der Luft die Enten schnattern, Den Schuß – und kriecht ins Lämmerfell.

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Er staunte jüngst in dunkler Nacht, Wie Lichter im Gemäuer brannten, Den wirren Lärm von Musikanten Der Heidewind ihm zugebracht.

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Hei! lustig klangs im alten Nest, Von Schmaus und Saus, Zigeunergeigen; Die Räuber tanzen tollen Reigen, Der Hauptmann hält sein Hochzeitfest.

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Doch leuchtet nicht am Firmament Dem Räubersmann und seinem Schatze Der Brautnacht Mond, des Pfaffen Glatze; Die Lust vereint –, – der Scherge trennt. Den Hirten lockt’ es Schritt um Schritt, Er spürt beherzt in diesen Tönen Das warme Blut von Erdensöhnen; Er trinkt und tanzt und jubelt mit. Des alten Edelmannes Geist Spielt nun der Hirte gern vor allen, Er läßt die Entenflinte knallen, Sein weites Hemd im Monde gleißt.56

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Welcher Text Lenaus Absicht entsprach, ob also Castles, was wahrscheinlicher ist, oder doch Grüns Strophenanordnung richtig ist – weitere Möglichkeiten sind ausgeschlossen –, läßt sich kaum beweiskräftig entscheiden. Ein Editor könnte auch angesichts der Unlösbarkeit dieses Problems auf die Einfügung der Strophe ganz verzichten und sie nur im Apparat mitteilen. Dies ist deshalb gestattet, weil sie offensichtlich

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Text nach der Handschrift (Anm. 43). Zahlen links: Zeilenzähler nach Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 400f. (die Titelzeile wird in der HKG mitgezählt); Zahlen rechts: Vorschlag für eine Verszählung nach Änderung der Strophenfolge. – Lesarten: 13–16 mit Bleistift am Schluß des Textes hinzugefügt (weitere Lesarten siehe Anm. 47) – 21 Er ] (1) {Jüngst} (2) Er – 31 des Pfaffen ] (1) des Pfaffen (2) Alternativvariante mit Bleistift – 32 Lust ] mit Bleistift unterstrichen – vereint –, – ] Gedankenstriche mit Bleistift hinzugefügt H. – Erläuterung der diakritischen Zeichen siehe Anm. 36.

Textkonstitution und Interpretation

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zu einem anderen Zeitpunkt niedergeschrieben wurde und somit mit ihr eine zweite Fassung des Gedichtes entstanden ist. Sofern der Editor nicht nach dem Prinzip handelt, die letzte Fassung abzudrucken, darf er wählen: zwischen der Fassung der ersten Niederschrift, also der Reinschrift, und der Fassung nach Abschluß der späteren Überarbeitung. Als Kriterium für seine Entscheidung sollte er auch in diesem Fall die Qualität des Textes nehmen; seine Wahl beruht dann auf einer vergleichenden Interpretation. Was spricht für, was gegen den Abdruck des Gedichts in seiner letzten Fassung? Man könnte darauf hinweisen, daß die Erwähnung der „Enten“ jeweils im dritten Vers gleich dreier vermutlich aufeinanderfolgender Strophen (Verse 11, 15, 19) eine störende Redundanz bedeute. Positiv zu bewerten ist demgegenüber, daß am Schluß das Motiv der Plusstrophe wieder aufgegriffen wird – jetzt ist es der Hirte, der den alten Grafen, den Entenjäger, spielt (V. 37–40) – und das Gedicht erst mit dieser Pointe seine Abrundung erfährt. Damit empfiehlt sich die Aufnahme der Plusstrophe und die hier vorgeschlagene, oben angeführte Strophenfolge. Ein letztes Problem der Textkonstitution dieses Gedichtes birgt der Umstand, daß das Manuskript eine Alternativvariante aufweist. Die letzte Strophe ist – beide Male in Reinschrift und in gleichem Duktus – in zwei Fassungen niedergeschrieben, die, durch einen größeren Zwischenraum und einen Strich getrennt, untereinander stehen: Der alte Graf war wenig nutz, Ein Thier im Schlamm der Adelsbräuche; Nun dient er als Pandurenscheuche Den Räubern noch zu gutem Nutz. Der Alte übte Raub und Trutz Im Dickicht finstrer Adelsbräuche, Nun dient er als Pandurenscheuche Den Räubern noch zu gutem Nutz.57

Anders als Grün und Castle, die sich, wie Antal Mádl im Apparat mitteilt,58 für den Abdruck der zweiten Fassung der Strophe entschieden – wohl vor allem wegen des identischen Reims („nutz“ / „Nutz“) in der ersten Fassung –, favorisiert Mádl keine der beiden Varianten. Obwohl diese sich mehr als zur Hälfte nicht voneinander unterscheiden, druckt die Historisch-kritische Gesamtausgabe statt dessen beide Strophen nacheinander im edierten Text. Sicherlich gibt es Gründe, so zu verfahren, aber sie wiegen weniger schwer. Denn auch in diesem Fall sollte gelten: Zum Werk in seiner jeweiligen Fassung gehört immer nur eine der miteinander konkurrierenden Varianten, und der Editor ediert primär das Werk, nicht die Handschrift.

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Text nach der Handschrift (Anm. 43). Lenau: HKG, Bd. 2 (Anm. 11), S. 841.

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Jens Stüben

Abbildung 1: Nikolaus Lenau, Der Küraß, letzte Seite der Reinschrift, Wienbibliothek im Rathaus (Anm. 15).

Textkonstitution und Interpretation

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Abbildung 2: Nikolaus Lenau, Das Gespenst, letzte Seite und Teil der vorletzten Seite der Reinschrift, Wienbibliothek im Rathaus (Anm. 43).

Gabriele Radecke

Popularität und Wissenschaftlichkeit Möglichkeiten, Probleme und Grenzen textkritischer Verfahrensweisen am Beispiel der Studienausgaben von Theodor Fontanes erzählerischem Werk

I Textkritische Verfahrensweisen werden in Studienausgaben1 gar nicht oder zumindest nur in untergeordnetem Maße angewandt. Zu dieser Einschätzung kommt man bei kritischer Durcharbeitung der editionswissenschaftlichen Forschungsliteratur. Denn der Begriff ‚Studienausgabe‘ ist hinsichtlich eines heterogenen Benutzerkreises, der das wissenschaftliche Fachpublikum und die allgemein interessierten Leser gleichermaßen einschließt, oft funktional definiert worden. Ein weiteres wichtiges Kriterium, das für eine umfassende Begriffsbestimmung erforderlich wäre, nämlich das der textkritischen Methoden bei der Textkonstitution, wurde hingegen kaum berücksichtigt.2 Bis heute sind Begriff und Editionstyp ‚Studienausgabe‘ bei Klassifizierungen immer noch im unteren Bereich angesiedelt und eigentlich negativ konnotiert. Das gilt vor allem dann, wenn zum Werk eines Autors neben einer Studienausgabe auch eine kritische oder historisch-kritische Edition vorliegt.3 Selbst bei Fehlen einer höher bewerteten Ausgabe wird die Studienausgabe oft abgewertet und im Hinblick auf eine zukünftige historisch-kritische Edition als „Interims-Ausgabe“ tituliert, auch wenn die Herausgeber nicht auf gesicherte edierte Texte zurückgreifen können, sondern ihre

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In der editionswissenschaftlichen Forschungsliteratur findet man zahlreiche, oft widersprüchliche Definitionen des Begriffs ‚Studienausgabeǥ. Im folgenden wird unter ‚Studienausgabeǥ derjenige Editionstyp verstanden, der sich sowohl an Wissenschaftler und Studenten als auch an wissenschaftlich oder literarisch interessierte Leser wendet. Die Studienausgabe besteht aus einem edierten Text und einem Kommentar, der „einen integralen Bestandteil“ bildet und neben „gesicherten Texten“ Informationen über „Autor und Werk, zur Werkentstehung und seinen Kontext, Sacherläuterungen, Quellen und Entstehungszeugnisse, ggf. auch (ausgewählte) Varianten enthält“. Die Konzeption der Studienausgabe liegt gleichermaßen bei den wissenschaftlichen Herausgebern und den Verlagen. Vgl. Dirk Göttsche: Ausgabentypen und Ausgabenbenutzer. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 37– 63, hier S. 53f. Vgl. dagegen Bodo Plachta, der auf das Dilemma zwischen der Diskussion um die Zielgruppe ausgerichteter Zweckmäßigkeit und textkritischer Maßstäbe aufmerksam macht und fordert: „Vordringliches Ziel muß es sein, einen nach textkritischen Prinzipien verantworteten Text zu präsentieren“ (Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 17). Vgl. z. B. Gunter Martens: Immer noch „Wissenschaft auf Abwegen“? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S. 398–403, hier S. 399f.

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Gabriele Radecke

Konstitutionsprinzipien auf eigenständigen textkritischen Methoden aufbauen.4 Es gibt nur wenige, zumeist ostdeutsche Editionsphilologen wie Siegfried Scheibe5 und Waltraud Hagen6, die nicht nur die Leserorientiertheit, sondern auch die Textkritik als Maßstab für eine theoretische Begriffsbildung einbezogen haben. Damit schreiben sie Studienausgaben die Anwendung einer wissenschaftlichen Methodik zu, die es erlaubt, sie in die Nähe von historisch-kritischen Editionen zu rücken. Die wissenschaftspolitischen Bedingungen in der DDR förderten eine solche Entwicklung, denn aufgrund ihrer flächendeckenden Verbreitung hatten Lese- und Studienausgaben im Gegensatz zu den auf wenige wissenschaftliche Benutzer ausgerichteten historischkritischen Editionen eine „multilaterale Funktion“ mit „sehr hohe[r] kulturpolitische[r] Bedeutung“.7 Nicht nur die ostdeutsche Editionstheorie, sondern auch die allgemeine Editionspraxis haben gezeigt, daß die vorwiegend in der alten Bundesrepublik übliche eindimensionale Definition des Begriffs Studienausgabe mit ausschließlichem Blick auf eine intendierte heterogene Leserschaft in der Regel nicht zutrifft. Nachdem zahlreiche historisch-kritische Großprojekte nicht zuletzt aus finanzieller Not nicht zustandegekommen waren, sind nämlich die als „Interims-Ausgaben“ bezeichneten Studienausgaben zu einer dauerhaften Einrichtung geworden. Nicht selten bieten sie einen edierten Text, der auf einer eigenständigen kritischen Sichtung der Überlieferung und einer wissenschaftlich fundierten Textkritik beruht. So hat der Standard für Studienausgaben in den zurückliegenden Jahrzehnten trotz vielfacher Bedenken „eine spürbare Anhebung“ erfahren.8

II Die Geschichte der Fontane-Editorik, die in den allgemeinen editionswissenschaftlichen Auseinandersetzungen eher selten beachtet wird,9 ist ein Beispiel für die all-

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So argumentiert Plachta, der unter gewissen Voraussetzungen bestimmten wissenschaftlichen Studienausgaben, auch wenn sie „nicht sämtliche editorische […] Anforderungen einlösen“ können, so lange eine herausragende Funktion attestiert, „bis eine endgültige Lösung der editorischen Probleme in einer historisch-kritischen Edition geleistet wird“. Siehe Plachta 1997 (Anm. 2), S. 16f.; ebenso Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991 (Grundlagen der Germanistik. Bd. 31), S. 185f. Vgl. Siegfried Scheibe: Aufgaben der germanistischen Textologie in der DDR. In: Zeitschrift für Germanistik 2 (1981), Heft 1, S. 453–463. Vgl. Waltraud Hagen: Die Berliner Ausgabe von Goethes Werken – Vorzüge und Grenzen eines Editionstyps. In: Zeitschrift für Germanistik 3 (1982), S. 203–210, hier S. 202ff. Vgl. ebd., S. 203, und Gotthard Erler: Plädoyer für einen Editionstyp. Zu einigen konzeptionellen und editionstechnischen Aspekten von Lese- und Studienausgaben. In: Zeitschrift für Germanistik 1 (1980), S. 287–298. – Zur Kulturpolitik in der DDR und ihre Folgen für die editorische Praxis vgl. exemplarisch Winfried Woesler: Die Praxis des germanistischen Kommentars in der DDR. In: Probleme der Kommentierung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft Frankfurt am Main 12.–14. Oktober 1970 und 16.–18. März 1972. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter MüllerSeidel. Boppard 1975. (Kommission für germanistische Forschung, Mitteilung 1), S. 145–181. Vgl. Göttsche 2000 (Anm. 1), S. 56f. Während in der ostdeutschen editionswissenschaftlichen Literatur immer wieder zumindest in Ansätzen auf die Aufbau-Ausgabe Bezug genommen worden ist, findet man in der westdeutschen Fachliteratur nur vereinzelte Hinweise; vgl. Woesler 1975 (Anm. 7), hier als „kritische Sammelausgabe“ bezeichnet, S. 159ff., und Plachta 1997 (Anm. 2), S. 17.

Popularität und Wissenschaftlichkeit

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mähliche Etablierung einer fundierten Textkritik bei Studienausgaben. Fontanes poetisches Werk, auf das sich die folgende Untersuchung bezieht, liegt in vier Gesamtausgaben10 vor, die in belletristischen Verlagen erschienen sind: in der Nymphenburger Ausgabe,11 der Hanser-Ausgabe,12 der Aufbau-Ausgabe13 und zuletzt in der noch nicht abgeschlossenen Großen Brandenburger Ausgabe14. Die erste Abteilung der Nymphenburger Ausgabe (1959–1975) – Das gesamte erzählende Werk – ist in editorischer Hinsicht „die schwächste, am meisten überholte“15 der Ausgabe. Sie schneidet auch im Vergleich zu anderen Fontane-Studienausgaben hinsichtlich der Textkonstitution und ihrer Prinzipien am schlechtesten ab. Vergeblich sucht der Benutzer eine editorische Notiz, in der die Herausgeber genaue Rechenschaft über die methodischen Grundlagen der Textgestalt ablegen. Auf der Rückseite des Titelblatts eines jeden Bandes befindet sich nur der kurze Hinweis: Die Texte dieser Ausgabe der Sämtlichen Werke Theodor Fontanes sind ungekürzt. Bei der Herausgabe […] wurde auf die Erstausgaben zurückgegriffen, wo nötig auf Erstdrucke in Zeitschriften oder auf Manuskripte.16

Die Bemerkung zeigt, daß wissenschaftlicher Textkritik zumindest in dieser Abteilung der Nymphenburger Ausgabe kein hoher Stellenwert beigemessen worden ist. Es drängt sich sogar die Vermutung auf, daß die edierten Texte kontaminierte Fassungen sind, die willkürlich aus verschiedenen Drucken und Handschriften zusammengetragen wurden; denn es fehlen weitere Angaben, die die Herausgeberentscheidungen transparent machen und die darüber informieren, wann und warum auf zusätzliche Drucke zurückgegriffen werden mußte. Ebenso fehlt eine Erklärung dafür, daß die vorliegenden Erzähltexte nicht streng den historischen Drucken folgen, sondern in modernisierter und normierter Gestalt vorliegen. Trotz dieser methodischen Mängel findet man auch in jüngster Zeit noch Analysen von Theodor Fontanes erzählerischem Werk, die sich auf die Nymphenburger Ausgabe beziehen.17

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Berücksichtigt werden nicht alle zeitgenössischen und postum vor 1959 herausgebrachten FontaneEditionen, da erst mit der Nymphenburger Ausgabe „die wissenschaftlich-editorische Erfassung und Aufbereitung des Fontaneschen Gesamtwerks“ einsetzt (Gotthard Erler: Druck- und Editionsgeschichte, Nachlaß, Forschungsstätten. In: Fontane Handbuch. Hrsg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000, S. 889–905, hier S. 897). Theodor Fontanes sämtliche Werke. [24 Bände u. Supplemente] Hrsg. von Edgar Groß, Kurt Schreinert, Rainer Bachmann, Charlotte Jolles und Jutta Neuendorff-Fürstenau. München 1959–1975 (Nymphenburger Ausgabe). Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. [20 Bände] Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1962–1997 (Hanser-Ausgabe). Theodor Fontane: Romane und Erzählungen. [8 Bände] Hrsg. von Peter Goldammer, Gotthard Erler, Anita Golz und Jürgen Jahn. Berlin [DDR] 1969 (Aufbau-Ausgabe). Theodor Fontane Das erzählerische Werk. [21 Bände] Hrsg. von Gotthard Erler [u. a.]. Editorische Betreuung: Christine Hehle. Berlin 1997ff. (Große Brandenburger Ausgabe). Erler 2000 (Anm. 10), S. 898. Nymphenburger Ausgabe (Anm. 11). Band 1: Vor dem Sturm. Hrsg. von Edgar Groß. München 1959. Vgl. zuletzt Peter James Bowman: Fontane’s Unwiederbringlich: A Bakhtinian Reeding. In: The German Quarterly 77 (2004), S. 170–187. – An dieser Stelle muß auf einen Textvergleich zwischen der Nymphenburger Ausgabe und den anderen Fontane-Editionen verzichtet werden. Ebenso kann auf die eigentliche Leistung der Nymphenburger Ausgabe, die umfassende und bis heute gültige dritte Abteilung (Fontane als Autobiograph, Lyriker, Kritiker und Essayist), nicht eingegangen werden.

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Gabriele Radecke

Im Zuge der Entstehung der Hanser-Ausgabe (1961–1997), deren erste Bände nur wenige Jahre nach der Nymphenburger Ausgabe erschienen, bildet sich allmählich ein textkritisches Bewußtsein der Herausgeber heraus, das durch die 1969 vorgelegte Aufbau-Ausgabe evoziert wurde. So wurde die erste Auflage der ersten Abteilung Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes noch zum Teil auf Grundlage der ersten Gesamtausgabe von Fontanes Romanen und Novellen, der Dominik-Ausgabe (1890),18 erarbeitet, die weder unter Fontanes kontinuierlicher Mitarbeit noch aufgrund wissenschaftlicher Textkritik veröffentlicht worden ist und die zudem zahlreiche formale und inhaltliche Mängel aufweist.19 Mit der in den siebziger Jahren neu durchgesehenen zweiten Auflage haben die Herausgeber der HanserAusgabe eine gründliche Textrevision auf Grundlage der Editionsprinzipien der Aufbau-Ausgabe vorgenommen und die Texte aller bereits vorgelegten Bände neu konstituiert. Im Gegensatz zur ersten Auflage wurden die hinzugezogenen Drucke für die edierten Texte nicht willkürlich, sondern erst nach einer kritischen Überprüfung der autorisierten Zeitschriftenabdrucke und ersten Buchausgaben zugrundegelegt. Die Hanser-Ausgabe verzeichnet wie die Aufbau-Ausgabe ausgewählte Varianten zwischen dem Zeitschriftenabdruck und der ersten Buchausgabe, allerdings analog zu den konstituierten Texten auch in modernisierter und normierter Gestalt; über Texteingriffe informieren die Herausgeber in Einzelfällen.20

III Eine besondere Bedeutung in Bezug auf die Anwendung von textkritischen Methoden bei Studienausgaben kommt der ostdeutschen Fontane-Editorik zu, die mit der Aufbau-Ausgabe (1969–1989) wesentliche Maßstäbe gesetzt und die editorische Arbeit bis heute beeinflußt hat. Kulturpolitische Leitlinien bewirkten, daß in der DDR die meisten der in den 50er und 60er Jahren begonnenen historisch-kritischen Ausgaben eingestellt und nur vereinzelte Projekte weitergeführt worden sind.21 Im Falle der Fontane-Philologie führte diese Editionspolitik sowie nicht zuletzt auch der Umstand, daß die meisten Handschriften zu Fontanes poetischem Werk in ostdeutschen Archiven aufbewahrt werden,22 zu einer methodischen und inhaltlichen Neugestaltung der

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Theodor Fontane’s Gesammelte Romane und Novellen. Berlin 1890/91. Zwölf Bände (DominikAusgabe). Vgl. Gotthard Erler: Die Dominik-Ausgabe. Eine notwendige Anmerkung. In: Fontane Blätter Band 1 (1968), Heft 7, S. 354–369. Vgl. Helmuth Nürnbergers „Editorische Notiz“ in der Hanser-Ausgabe (Anm. 12), 1. Abteilung, Band 1: Grete Minde, Ellernklipp, Quitt, Unterm Birnbaum, Schach von Wuthenow, Graf Petöfy. Hrsg. von Helmuth Nürnberger. München 3. Aufl. 1990, S. 1037ff. Vgl. Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der Neueren Deutschen Literatur. In: Forschen und Bilden 1 (1966), S. 2–22. Der Beitrag stellt die wissenschaftliche Arbeit an Editionen in den Dienst der gesellschaftlich begründeten Kulturpolitik; er liefert maßgebliche Argumente gegen eine prinzipielle Fortsetzung der Arbeit an historisch-kritischen Ausgaben. Einen Überblick über die daraus resultierende schwierige Situation für die wissenschaftliche Editionsarbeit in der DDR gibt Scheibe 1981 (Anm. 5), S. 453f. Auf diesen Tatbestand haben der Herausgeber Peter Goldammer und viele Rezensenten der AufbauAusgabe hingewiesen; vgl. Peter Goldammer: Fontanes Erbe in der DDR. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Leipzig. 136 (1969), S. 698–700, hier S. 700; Hans-Heinrich Reuter: Angemessene

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Studienausgabe. Die Herausgeber konnten keine von einer historisch-kritischen Edition „abgeleitete Studienausgabe“23 vorlegen, sondern mußten vielmehr eine eigenständige neue Textedition erarbeiten, der eine aufwendige wissenschaftliche „editorische Pionierarbeit“24 vorausgegangen war. Mit ihren Kapiteln zur Überlieferung, die durch eine Auswahldokumentation Einblicke in die handschriftliche Textüberlieferung geben, ist sogar darüber hinaus eine neue Ausprägung des Editionstypus Studienausgabe geschaffen worden. Die Aufbau-Ausgabe galt bis zur revidierten Hanser-Ausgabe als die einzige für wissenschaftliche Zwecke zitierbare Fontane-Edition. Sie wurde wegen der Aufbereitung der handschriftlichen Überlieferung als „die bisher beste Grundlage“ zur Textinterpretation angesehen.25 Als erste Fontane-Gesamtausgabe der DDR waren insgesamt 75 das poetische, autobiographische und journalistische Werk sowie Fontanes Briefe umfassende Einzelbände geplant; aufgrund der verlegerischen Bedingungen galt die Aufbau-Ausgabe als ein eher ungewöhnliches Großunternehmen, das von nur vier wissenschaftlichen Verlagsmitarbeitern erarbeitet wurde. Die erste Abteilung, die Romane und Erzählungen, wurde 1969 in acht Bänden als Jubiläumsausgabe zum 150. Geburtstag des Dichters in 10.000 Exemplaren auf den Markt gebracht. Drei weitere Auflagen folgten, wobei die letzte nach der deutschen Wiedervereinigung 1993 gedruckt worden ist.26 Von den geplanten anderen Abteilungen wurden bis 1989 die Autobiographischen Schriften, die Wanderungen durch die Mark Brandenburg und die Gedichte realisiert, dann wurde die Ausgabe eingestellt. Peter Goldammer hat zu Recht den Anspruch darauf erhoben, daß mit seiner Edition der Romane und Erzählungen die erste „kritisch durchgesehene“ FontaneAusgabe entstanden ist, die alle für den edierten Text möglichen autorisierten Drucke und ihre Textgestalt überprüft und die überlieferten Handschriften zumindest gesichtet hat.27 Aus einem unveröffentlichten, für die Druckgenehmigung bestimmten Gutachten vom 19. Juli 1968 geht hervor, daß schon im Vorfeld der 1963 aufgenommenen editorischen Arbeit Überlegungen zu einer umfassenden fundierten Textarbeit angestellt wurden.28 Durch dieses mühsame Verfahren sind die zahlreichen Druck-

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Ehrungen eines großen demokratischen und humanistischen Realisten der Weltliteratur. In: Fontane Blätter Band 2 (1970), Heft 2, S. 119ff., und Walter Müller-Seidel: Fontane, Theodor: Romane und Erzählungen. Hrsg. von Peter Goldammer [u. a.]. Berlin 1969. In: Germanistik 11 [1970], S. 564f. – Hinzu kommt, daß sich mit der Herausgabe der Briefe Fontanes an Georg Friedlaender das Fontane-Bild grundlegend verändert hat. Galt Fontane bis in die 1950er Jahre hinein als Verherrlicher des preußischen Junkertums, so stellten seine Briefe ihn nunmehr als einen kritischen Beobachter Preußens vor; vgl. Theodor Fontane: Briefe an Georg Friedlaender. Hrsg. von Kurt Schreinert. Heidelberg 1954. Kanzog 1991 (Anm. 4), S. 185. Plachta 1997 (Anm. 2), S. 17. Vgl. Müller-Seidel 1970 (Anm. 22), S. 565. Auch in der allgemeinen Presse wurde der Aufbau-Ausgabe ein „hoher wissenschaftliche[r] Rang“ attestiert (Sibylle Grack: Theodor Fontane im anderen Teil Deutschlands. In: Die Welt, 2. April 1970). Für diese Auskunft ist ganz herzlich Frau Magdalena Frank, ehemalige Lektorin des Aufbau-Verlags Berlin, zu danken. Vgl. den Hinweis „Geplante Veröffentlichungen über Theodor Fontane“ in den Fontane Blättern Band 1 (1968), Heft 1, S. 299f., sowie Peter Goldammers Nachbemerkung in der Aufbau-Ausgabe (Anm. 13), Band 8: Der Stechlin. Hrsg. von Gotthard Erler. Berlin [DDR] 1969, S. 520. Vgl. Peter Goldammer: Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Gutachten. Archiv des Aufbau-Verlags Berlin.

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und Editionsfehler der vorangegangenen Fontane-Ausgaben korrigiert worden.29 Hinzu kommt, daß die Wahl der zugrundegelegten Drucke für die edierten Texte erstmals begründet und Texteingriffe der Herausgeber im Anhang exemplarisch festgehalten werden. Die neue Herausgeberfassung von Fontanes nachgelassenem Roman Mathilde Möhring galt als „Glanzstück“ der Ausgabe.30 Für Frau Jenny Treibel bezog man sich erstmals auf den Zeitschriftenabdruck in der Deutschen Rundschau, der im Gegensatz zur ersten Buchausgabe vom Autor noch überwacht worden und deshalb weniger durch Außeneinflüsse zustande gekommen war. Nicht nur der edierte Text, sondern auch der Apparat dieser Ausgabe stellt einen paradigmatischen Umbruch innerhalb der Fontane-Editorik dar, weil er den Zusammenhang zwischen dem veränderten textkritischen Bewußtsein der Herausgeber, den editorischen Konsequenzen und den Möglichkeiten einer genetischen Textdeutung sichtbar macht. Denn der Apparat allein fungiert weder als Hilfsmittel für die Textkonstitution, noch enthält er ausschließlich die auch in anderen Studienausgaben zusammengetragenen Informationen über die äußeren Bedingungen der Textentstehung. Vielmehr eröffnet er durch die Gegenüberstellung wichtiger Varianten zwischen dem Zeitschriftenabdruck und der ersten Buchausgabe sowie der Auswahldokumentation handschriftlicher Dispositionen und Entwürfe Interpretationsfelder, die allein auf der Grundlage des edierten Textes nicht erreicht werden können. So geben die Druckvarianten Einblicke in Fontanes Arbeitsweise und belegen seine inhaltliche und stilistische Präzisionsarbeit bis zur Buchfassung. Die Auswahldokumentation ermöglicht die Rekonstruktion von vielfältigen Schreib- und Textualisierungsprozessen. Gerade die Auswahldokumentation zeigt, daß die Herausgeber der Aufbau-Ausgabe sich von den traditionellen Verfahrensweisen der Studienausgaben distanziert und Methoden der historisch-kritischen Ausgaben angewandt haben.31 Auch wenn die Herausgeber selbstkritisch erkennen, daß die Ausgabe mit ihrer kleinen Auswahl von Handschriftenbeispielen „keinen Ersatz für eine lückenlose wissenschaftliche Erschließung und textkritische Aufbereitung der Fontaneschen Werke“32 bietet, finden Leser und Benutzer dennoch durch die Dokumentation ausgewählter handschriftlicher Textzeugen Anregungen für eine Textanalyse, die in allen anderen Fontane-Studienausgaben bisher nicht gegeben waren. Vereinzelte Faksimiles der Handschriften werden der Aufbau-Ausgabe beigegeben, die so erstmals einem breiten Publikum zumindest einen

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Vgl. Erler 1980 (Anm. 7), S. 293, und Erler 2000 (Anm. 10), S. 899f. Zu den methodischen Problemen der von Erler besorgten Mathilde-Möhring-Ausgabe und den daraus geforderten Konsequenzen für eine Neuedition vgl. Gabriele Radecke: Für eine textgenetische Edition von Theodor Fontanes Mathilde Möhring. In: Textgenese und Interpretation. Vorträge und Aufsätze des Salzburger Symposions 1997. Hrsg. von Adolf Haslinger, Herwig Gottwald und Hildemar Holl. Stuttgart 2000 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Nr. 389), S. 28–45, und dieselbe: „Leider nicht druckfertig“. Spuren der Unvollendetheit in Theodor Fontanes Mathilde Möhring. In: Schrift – Text – Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Christiane Henkes, Walter Hettche, Gabriele Radecke und Elke Senne. Tübingen 2003. (Beihefte zu editio. Bd. 19), S. 220–230. – Inzwischen ist die Neuedition erschienen, mit der erstmals eine historisch-kritische Fontane-Ausgabe vorgelegt worden ist. Theodor Fontane: Mathilde Möhring. Nach der Handschrift neu hrsg. von Gabriele Radecke. Berlin 2008. (Große Brandenburger Ausgabe – Das erzählerische Werk. Bd. 20). Vgl. Günter Hartung: Fontane authentisch. In: NDL 19 (1971), Heft 5, S. 176–182, hier S. 180. Goldammer 1969 (Anm. 22).

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ersten Eindruck vom äußeren Schriftbild der Romanmanuskripte geben. Die Faksimiles sind eher willkürlich ausgewählt und stehen in keinem funktionalen Bezug zu den ausgewählten Entwurfsbeispielen; Erläuterungen zur Materialität fehlen ebenso wie Transkriptionshilfen. Eine solche erweiterte Edition durch die Präsentation der Entwurfshandschriften ist grundsätzlich zu begrüßen, zumal die Herausgeber einen Anfang gemacht haben, die nur zum Teil erschlossene handschriftliche Überlieferung der Werke Fontanes zu sichten. Andererseits aber, und das ist in der editionswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Aufbau-Ausgabe noch nicht beachtet worden,33 birgt die editorische Umsetzung der Auswahldokumentation im Überlieferungskapitel zahlreiche Probleme, die unter Umständen auf das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Nutzung und populärer Verbreitung zurückzuführen sind. Die Herausgeber haben das gesamte handschriftliche Material durchgesehen. Allein diese Mühen verdienen wegen der umfangreichen, mehrere zehntausend Seiten umfassenden Entwurfs- und Niederschriftenhandschriften große Anerkennung. Die Dokumentation der Archivfunde zeigt jedoch, daß nicht alle rekonstruierbaren Entstehungsphasen durch die Auswahl der handschriftlichen Blätter dokumentiert werden. So sind vom Roman L’Adultera zahlreiche Handschriften überliefert, die den vielfältigen Schreib- und Arbeitsphasen vom Sammeln, Konzipieren, Entwerfen, Aufschreiben, Abschreiben, Überschreiben und Revidieren zugeordnet werden können. In der L’Adultera-Ausgabe34 werden hingegen nur ‚einfach‘, also in linearer Buchstabenfolge zu lesende Handschriften wie erste Kapiteldispositionen, Entwurfshandschriften und die „metatextuellen Anmerkungen“ des Autors35 wiedergegeben. Weitere Beispiele, die durch vielschichtige alineare Textstufen die Spuren komplexer Überarbeitungsprozesse sichtbar werden lassen und auf deren Grundlage erst eine annähernde Rekonstruktion der genetischen Textualisierung ermöglicht wird, werden nicht mitgeteilt. So erhält der Benutzer nur einen sehr oberflächlichen, verkürzten und daher falschen Einblick in die genetischen Prozesse. Dieses grundsätzliche Problem ist aber bisher kaum beachtet worden, denn man findet immer wieder Forschungsansätze, die sich auf die hier vorgelegten Bruchstücke des Manuskripts beziehen, ohne die gesamte Überlieferung des Romans auszuwerten.36 Es fehlt auch eine hin-

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Auch Erler gibt nur einen kleinen Einblick in die Geschichte der Fontane-Edition und diskutiert dieses Problem nicht (Anm. 10), S. 899ff. Theodor Fontane: L’Adultera. Bearb. von Anita Golz. In: Aufbau-Ausgabe (Anm. 13). Band 3: Grete Minde, L’Adultera, Ellernklipp, Schach von Wuthenow. Hrsg. von Anita Golz und Gotthard Erler. Berlin 1969, S. 538–577. Der von mir eingeführte Begriff ‚metatextuelle Anmerkungenǥ bezeichnet die vielfältigen handschriftlichen Bemerkungen Fontanes, die er zum größten Teil nach der ersten Niederschrift auf den Blättern der ersten Niederschrift oder auf den Kapitelumschlagblättern festgehalten hat. Sie lassen sich in zwei Gruppen klassifizieren: in kritische Äußerungen über die künstlerische Gestaltung des Romans und in Hinweise für die noch bevorstehende Revision. Es handelt sich um Fontanes Autor-Bemerkungen über seinen fiktionalen Text, die nicht in der poetischen Erzählzeit Imperfekt geschrieben worden sind, sondern im vorerzählerischen Präsens. So sind z. B. immer wieder falsche Aussagen über die Entstehung des Romantitels gemacht worden, weil man sich nicht auf die Überlieferung, sondern nur auf die ausgewählten Dokumente der AufbauAusgabe und Fontanes briefliche Äußerungen gestützt hat. Vgl. dazu Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes „L’Adultera“. Würzburg 2002. (Epistemata. Bd. 358), S. 91–112.

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Gabriele Radecke

reichende Begründung, nach welchen Kriterien die Handschriftenbeispiele ausgewählt wurden,37 so daß die Vermutung naheliegt, daß nicht methodische, sondern vielmehr pragmatische Gründe die Dokumentation bestimmt haben. Dieser Eindruck verstärkt sich bei Betrachtung der Anordnung der Blätter, die ohne weitere Erklärungen festgelegt worden ist. So werden die Entwürfe in der chronologischen Reihenfolge der rekonstruierten Entstehung ebenso präsentiert wie in der endgültigen Kapitelanordnung des gedruckten Texts oder entlang der archivalischen Ordnung des jeweiligen Aufbewahrungsorts. Schließlich, und das ist der wesentliche Kritikpunkt, muß auf die methodischen Mängel der Transkription hingewiesen werden; denn alle Beispiele, und das gilt auch für die übrigen Bände der Abteilung, zeigen, daß überlieferungsadäquate Darstellungsprinzipien fehlen. Es wurde nämlich nicht beachtet, daß eine Textdarbietung auf der Grundlage des alinearen Schriftbildes der Handschrift immer andere Konstitutions-Methoden erfordert als ein edierter Text, der der gedruckten und eindimensionalen Textvorlage der Erstausgabe folgt. So sind die Prinzipien der Textkonstitution des edierten Texts einfach auf die Wiedergabe der handschriftlichen Textausschnitte übertragen worden. Ediert wurde ein ebenso „behutsam modernisierter“ Text oder Textteil der Handschrift, der analog dem Prinzip letzter Hand des edierten Texts nach dem „Prinzip letzter Textschicht“ die späteste rekonstruierte Schicht festhält und alle anderen innerhandschriftlichen Varianten ignoriert. Nur in Ausnahmefällen sind gestrichene Textpassagen, Überschreibungen und Mehrfachformulierungen38 wiedergegeben worden, aber nur durch integrale diskursive Beschreibungen der Herausgeber: […] und ein junger, blonder Kommis, der eben seine Lehrjahre hinter sich hatte und beider Vanderstraatens Liebling war, brachte die [gestr.: meldete daß] Kiste, die die Doppelaufschrift trug: Vorsicht und „zu eignen Händen“. Nun wird geöffnet. Vanderstraaten zog an seinem Schreibtisch einen Kasten auf und nahm Brecheisen [über der Zeile: Stemm], Zange, Hammer heraus, [gestr.: so daß] an deren Handlung man sah, daß Vorkommnisse der Art nicht zu den Seltenheiten gehörten.39

Schließlich zeigt auch die lineare Darstellungsform, daß die Topographie der Handschrift auf diese Weise nicht angemessen wiedergegeben werden kann. Um eine adäquate Transformation des handschriftlichen Befunds in eine gedruckte Gestalt zu erzielen, hätten sich andere Möglichkeiten angeboten, die innerhalb der ostdeutschen Editionsforschung bis zum Erscheinen der Aufbau-Ausgabe im Jahr 1969 auch schon vorgeschlagen worden waren: ein linearer Text mit integraler Verzeichnung aller textuellen Abweichungen. So arbeitete zum Beispiel Fritz Behrend schon 1924 für Fon-

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Die Bemerkung, daß die „wichtigsten […] Notizen“ im Anhang zusammengestellt worden sind, genügt nicht für eine wissenschaftliche Begründung. Vgl. Aufbau-Ausgabe 1969 (Anm. 13), Band 3, S. 540. Der von mir eingeführte Begriff ‚Mehrfachformulierungenǥ bezieht sich auf diejenigen Textstellen, bei denen noch keine eindeutige, sondern mehrere gültige Formulierungen vorliegen. Diese Mehrfachformulierungen können Wörter, Satzphrasen oder ganze Sätze umfassen, die die vorangegangenen Textstufen nicht aufheben oder ersetzen. Sie deuten auf einen unentschlossenen Autor hin, der sich noch für keine endgültige Formulierung entschieden hat. Aufbau-Ausgabe 1969 (Anm. 34), S. 546.

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tanes Effi Briest. Möglich gewesen wäre auch die Darbietung nach einem von HansWerner Seiffert ebenfalls bei Effi Briest angewandten Modell, nämlich dem eines linearen Texts nach dem „Prinzip letzter Textschicht“, der in einem integrierten synoptischen Apparat die Textveränderungen in Stufenform präsentiert.41 Die Herausgeber haben das Darstellungsproblem jedoch so gelöst, daß sie einen linearen Text in modernisierter Gestalt anbieten, der einerseits zwar ausgewählte textuelle Abweichungen enthält, andererseits aber dem Leser wichtige innerhandschriftliche Varianten vorenthält. Gerade die Wiedergabe der Entwürfe und Dispositionen im Anhang bestätigt noch einmal, daß die Vorstellung eines heterogenen Lesepublikums die textkritischen Methoden geleitet hat.42

IV Die Große Brandenburger Ausgabe orientiert sich in ihrer Abteilung Das erzählerische Werk (1997ff.) in makrostruktureller Hinsicht eng an der Aufbau-Ausgabe, führt die editorischen Richtlinien aber im Detail konsequent fort. Sie ist als Gesamtausgabe nach der deutschen Wiedervereinigung auf 75 Bände konzipiert worden, wobei die Abteilung Das erzählerische Werk auf 21 Bände angelegt ist, ergänzt um die in der Aufbau-Ausgabe nicht enthaltenen Texte Frühe Erzählungen, Von vor und nach der Reise sowie die Fragmente.43 Sie wendet sich wie alle anderen Fontane-Ausgaben an einen breiten wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Leserkreis und wird von selbständigen Literaturwissenschaftlern in Zusammenarbeit mit einer editorischen Redaktion im Theodor-Fontane-Archiv erarbeitet; eine Lektorin des Aufbau-Verlags übernimmt die weitere Betreuung. Die Rezensenten haben die Prinzipien der Textkonstitution als den „wichtigste[n] Zugewinn gegenüber allen vorausgehenden Fontane-Editionen“44 hervorgehoben; denn zum ersten Mal in der Geschichte der Edition von Fontanes erzählerischem Werk werden die edierten Texte nicht nur aufgrund einer kritischen Prüfung modernisiert und normiert wiedergegeben, sondern zeichengetreu in der Gestalt des zugrundegelegten Drucks, wobei die typographischen Besonderheiten der Textgrundlage nicht beachtet werden.45 Dennoch werden auch hier die Grenzen einer sorgfältigen Textkonstitution sichtbar, denn in der Neuausgabe werden die in der Erstausgabe

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Vgl. Fritz Behrend: Aus Theodor Fontanes Werkstatt (Zu Effi Briest). Berlin 1924, S. 24–42. Vgl. Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin [DDR] 1963, S. 174. Trotz dieser editorischen Inkonsequenzen gilt die Aufbau-Ausgabe immer noch in der opinio communis als „in fernerer Zukunft unentbehrlich“; vgl. Hugo Aust: Theodor Fontane. Große Brandenburger Ausgabe. In: Fontane Blätter 67 (1999), S. 128–132, hier S. 128. – Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Prinzipien der Handschriftendokumentation in der Aufbau-Ausgabe ist nachzulesen in Radecke 2002 (Anm. 36), S. 196–242. Die größere Anzahl von Bänden ergibt sich durch die Aufnahme der Erzählungen und Prosaentwürfe sowie durch die Entscheidung, jeden poetischen Text jeweils in einem Band zu veröffentlichen. Aust 1999 (Anm. 42), S. 129. Dieses Ergebnis verdient auch deshalb hervorgehoben zu werden, da bis heute trotz mehrfacher Appelle an die Verlage immer noch viele Studienausgaben in modernisierter und normierter Gestalt herausgebracht werden. Vgl. Göttsche 2000 (Anm. 1), S. 57ff.

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durch Antiqua hervorgehobenen Wörter als optische Differenz zur Fraktur nicht durch eine andere Schrift ausgezeichnet. Somit gehen wesentliche Informationen über den historischen Sprachgebrauch verloren. Denn die in Antiqua gesetzten Wörter umfassen nicht grundsätzlich Fremdwörter, sondern vielmehr nur diejenigen, die damals im Bewußtsein der Sprechergemeinschaft noch als Fremdwörter benutzt wurden. Alle Texteingriffe der Herausgeber werden im Anhang lückenlos mitgeteilt Mit der Großen Brandenburger Ausgabe und ihrer Abteilung Das erzählerische Werk liegt also die zitierbare Fontane-Ausgabe vor. Aber nicht nur der edierte Text, sondern auch der Apparat im Anhang stellen eine Weiterführung der editorischen Möglichkeiten in Studienausgaben dar, die Einflüsse auf die literaturwissenschaftliche Textarbeit haben. Hier werden nicht nur die 1969 bereits angelegten Strukturen und Prinzipien des Überlieferungskapitels weiterentwickelt, sondern darüber hinaus auch die Bedeutung genetischer Erkenntnisse für die Textanalyse markiert.46 So werden alle ausgewählten Textteile der handschriftlichen Blätter im Gegensatz zur Aufbau-Ausgabe in historischer Gestalt nach diplomatischen Kriterien transkribiert, Streichungen, Überschreibungen und Hinzufügungen hervorgehoben sowie die unterschiedlichen Schreibgeräte und die materiale Beschaffenheit der Handschriften beschrieben. Der Band L’Adultera47 beginnt zum Beispiel mit einer Übersicht über alle handschriftlichen Textzeugen und Materialsammlungen. Das ist insofern wichtig, als es auch heute noch keine umfassende Erschließung der Handschriften von Fontanes Werk gibt. Hinzu kommt, daß die Autographen nicht nur innerhalb eines bestimmten Konvoluts geordnet sind, sondern auch verstreut auf einzelnen losen Blättern, in Fontanes unveröffentlichten Notizbüchern und auf den Blattrückseiten anderer Werke in weiteren Konvoluten; manche Autographe eines Werkes sind sogar in verschiedenen Archiven aufbewahrt. Im Anschluß an die „Übersicht der handschriftlichen Textzeugen“ folgt eine kleine Dokumentation ausgewählter Handschriften. Für L’Adultera bot es sich an, eine Rekonstruktion des Textualisierungsprozesses am Beispiel des zweiten Romankapitels vorzustellen, von dem eine Fülle von Dispositionen, Entwürfen, Niederschriften, Überarbeitungen und Abschriften existiert. Im Gegensatz zur AufbauAusgabe sind hier also aus allen genetisch rekonstruierten Abschnitten entsprechende Beispiele zusammengetragen, die erst in ihrer Heterogenität einen repräsentativen Eindruck von den komplexen Schaffens- und Schreibvorgängen geben. Schließlich werden der Erstdruck in der Zeitschrift und die erste Buchausgabe kurz beschrieben, die Druckvarianten allerdings nicht mehr akribisch verzeichnet, sondern nur noch in strukturelle oder inhaltliche Variantengruppen zusammengefaßt. Trotz dieses quantitativen Verlusts der Druckvarianten im einzelnen gewinnen die innerhandschriftlichen Varianten und Druckvarianten in der Großen Brandenburger Ausgabe für eine Textanalyse des erzählerischen Werks an Bedeutung; denn die Drucke und Handschriften

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An dieser Stelle kann nicht auf den neu erarbeiteten Stellenkommentar und die weiteren entstehungsgeschichtlichen Kapitel des Anhangs eingegangen werden, die aufgrund der letzten dreißig Jahre natürlich mehr Informationen aus der Fontane-Forschung zusammengetragen haben als zuvor die AufbauAusgabe. Große Brandenburger Ausgabe (Anm. 13). Band 4: L’Adultera. Hrsg. von Gabriele Radecke. Berlin 1998.

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werden nicht nur, wie bisher üblich, zur Sicherung des edierten Texts und für das Überlieferungskapitel exemplarisch hinzugezogen, sondern als gleichberechtigte Teile des gesamten L’Adultera-Texts im Hinblick auf eine zukünftige Textdeutung mitgeteilt. So findet man im Stellenkommentar nicht nur die zusammengeführten sachlichen und interpretatorischen Erläuterungen zum edierten Text, sondern auch Informationen etwa über die wichtigsten, nur in den Handschriften bezeugten Veränderungen der Personennamen, der Ortsnamen und Schauplätze, die zudem Aufschlüsse über Fontanes künstlerisches Gestaltungsverfahren geben. Obwohl die Große Brandenburger Ausgabe anhand wissenschaftlich erarbeiteter Kriterien im Vergleich zu den zuvor edierten Fontane-Ausgaben die exakte Präsentation des edierten Texts sowie der ausgewählten Handschriften anstrebt, reicht sie hinsichtlich ihrer linearen Textdarbietung im Überlieferungskapitel nicht über die Aufbau-Ausgabe hinaus. Wer Fontanes Arbeitsmanuskripte nicht kennt, kann sich auch durch die in der Großen Brandenburger Ausgabe präsentierten linear gedruckten Textteile der handschriftlichen Blätter nur eine eingeschränkte Vorstellung von der Beschaffenheit der Handschrift, der Vielschichtigkeit der Arbeitsweise Fontanes und der Komplexität der Textgenese machen; denn die handschriftlichen Blätter enthalten gerade keinen glatten, linearen Text wie eine Reinschrift oder ein Druck; sie sind vielmehr alinear strukturiert. Diese Tatsache hat entscheidende Auswirkungen auf das Leseverhalten: Während der Leser bisher der eindimensionalen Zeichenfolge des gedruckten linearen Textes gefolgt ist, muß er sich nun vertraut machen mit der Mehrdimensionalität alinearer Textstrukturen der Handschrift. Eine lineare Textdarbietung alinearer Handschriftenblätter verhindert aber eine solche stockende und mehrschichtige Leseerfahrung. Hinzu kommt, daß nicht nur zahlreiche Streichungen, Hinzufügungen, Überschreibungen und Mehrfachformulierungen das vielschichtige Erscheinungsbild von Fontanes Arbeitsmanuskripten kennzeichnen, sondern auch Veränderungen des Duktus sowie aufgeklebte bzw. aneinandergeklebte Blätter sind charakteristisch. Aus diesen Gründen wäre es wünschenswert, nicht nur – wie es hier geschehen ist – vereinzelte Faksimiles der Handschrift als ausschmückende Beigabe abzubilden, sondern funktional jedem ausgewählten Beispiel das entsprechende handschriftliche Blatt faksimiliert gegenüberzustellen. Erst der visuelle Eindruck, der durch den Blick auf das Original (oder in abgeschwächter Weise) auf das Faksimile erzeugt wird, und das alineare Lesen ermöglichen die Rekonstruktion der individuellen Bewegungen des Schriftbilds und der Körperlichkeit des Mediums Handschrift. Eine gedruckte Transkription hingegen ist immer nur ein Hilfsmittel für den Benutzer, die verschiedenen Zeichen und Zeichengefüge auf dem handschriftlichen Blatt zu erkennen, zu lesen und zu deuten. Sie ist immer abhängig von der individuellen Topographie der Handschrift und kann infolgedessen auch nur im Zusammenhang mit ihr oder ihrer Faksimiles gelesen und gedeutet werden. Da aber vermutlich aus kalkulatorischen Gründen die entsprechenden Faksimiles fehlen, hätten exakte Kriterien erarbeitet werden müssen, wie das alineare Erscheinungsbild der Handschrift in eine möglichst überlieferungsadäquate Druckgestalt überführt werden kann, um wenigstens einen annähernden Eindruck von der Materialität der Handschrift zu erhalten. Möglich gewesen wäre zum Beispiel eine streng diplomatische, zeilen- und positions-

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Gabriele Radecke

getreue Zeichenwiedergabe, die alle materialen und topographischen Informationen des handschriftlichen Textträgers durch unterschiedliche Textauszeichnung wiedergibt und den Anfang und das Ende einer Blattseite markiert so wie es in zahlreichen genetischen Ausgaben inzwischen üblich ist. Ein letztes Argument schließlich verdeutlicht, daß eine lineare Gestalt keine zufriedenstellende Lösung für die Wiedergabe von handschriftlichen Befunden ist: Es gibt zahlreiche Textausschnitte, die sich nicht eindeutig genetisch zuordnen lassen. Eine lineare Darstellung erfordert aber immer eine Interpretation der Chronologie, da sie die Voraussetzung für die Entscheidung des Herausgebers über das nacheinanderfolgende Anordnen der verschiedenen Textschichten bildet. Nur eine alineare Darstellung hingegen ermöglicht das offene und unbestimmte Übereinander verschiedener, chronologisch nicht zu rekonstruierender Schichten, ohne daß der Herausgeber eine bestimmte genetische Reihenfolge der Textschichten festsetzen muß.

V Der kurze Einblick in die Geschichte der Fontane-Editorik am Beispiel des erzählerischen Werks hat die vielfältigen Ausprägungen des Editionstyps Studienausgabe gezeigt. Das Kriterium der Textkritik spielte dabei die entscheidende Rolle für die Entwicklung von der einfachen (Nymphenburger Ausgabe) über die kritisch geprüfte (Hanser- und Aufbau-Ausgabe) bis hin zur kritischen Studienausgabe in historischer Textgestalt (Große Brandenburger Ausgabe). Das von den Verlagen und Herausgebern intendierte Nebeneinander von wissenschaftlicher Nutzung und populärer Verbreitung und nicht zuletzt der belletristische Verlag als Veröffentlichungsort haben dabei nicht die Qualität der allgemeinen textkritischen Verfahrensweisen behindert, wie zum Beispiel die aufwendige Kollationierung der Drucke, die Prinzipien der Textkonstitution, die Sichtung der handschriftlichen Überlieferung und deren exemplarische Dokumentation sowie die Nachweise der Texteingriffe. Andere editorische Möglichkeiten hingegen sind im Hinblick auf ein nichtwissenschaftliches Lesepublikum deutlich eingeschränkt worden: die Dokumentation ausgewählter Manuskriptseiten, die Handschriften-Faksimiles, die Transkriptionsrichtlinien, das Beschreibungsvokabular der Herausgeber sowie komplexe wissenschaftliche Apparate. Trotz aller notwendigen Kompromisse zwischen Pragmatik und wissenschaftlichem Ideal ist es dennoch gelungen, mit der Aufbau-Ausgabe und der Großen Brandenburger Ausgabe und ihrer Abteilung Das erzählerische Werk neue literaturwissenschaftliche Fragestellungen aufzuwerfen. Wenngleich beide Editionen niemals die hinreichende Grundlage für umfassende genetische Forschungen bilden, so können sie doch – im Gegensatz zur Nymphenburger und Hanser-Ausgabe – wenigstens Anregungen für den Blick auf die genetische Dimension von Literatur geben.

Wernfried Hofmeister

Zur Genese der neuen Studienausgabe der Werke Hugos von Montfort Ein Praxisbericht über ‚experimentelle‘ Textkritik für, mit und von Studierenden Wie schon auf der letzten Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Aachen (2002) richtet sich meine Aufmerksamkeit auch diesmal auf den spätmittelalterlichen alemannisch-steirischen Sänger Hugo von Montfort, der um 1415 seine Lyrik in eine Art ‚Ausgabe letzter Hand‘, einen wunderschönen Prachtcodex, eintragen ließ; als weitere Überlieferungen kennen wir drei verstreute Aufzeichnungen einzelner Texte in Berlin, Colmar und Vorau.1 Vielleicht hat in Aachen die formatfüllende Präsentation seiner beiden (posthumen) Porträts ein wenig dazu beigetragen, bei einem Vertreter des Verlagshauses de Gruyter das Interesse an der Herstellung einer neuen Montfortausgabe zu wecken. Noch überzeugender war aber wohl zum einen die bis heute berührende Dichtungs- und Denkweise des Grafen Hugo von Montfort, zum andern der Umstand, daß es zur Zeit auf dem Buchmarkt keine leicht greifbare, erschwingliche Edition gibt. Nur noch in größeren Bibliotheken findet man den Teilabdruck von Karl Weinhold,2 die erste Gesamtausgabe von Karl Bartsch3 und die bislang umfangreichste Edition Josef Eduard Wackernells.4 Ebenfalls längst vergriffen ist der diplomatische Abdruck von Franz Viktor Spechtler.5 Für den Start einer Hugo von Montfort-Renaissance in den Hörsälen, die ich mir wünsche, bedarf es daher einer neuen, ‚schlanken‘ Ausgabe, die einen soliden Text bietet und studierendenfreundlich kalkuliert ist. Eine solche Ausgabe möchte ich in Form einer Studienausgabe liefern, ergänzt um einen Anhang zu Hugos insgesamt zehn überlieferten Melodien, der von Agnes Grond geleistet wird.6 Um mit dieser Neuausgabe den Markt möglichst punktgenau zu ‚bedienen‘, lag es nahe, mein Zielpublikum mit diesem Editionsprojekt schon in statu nascendi zu be-

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Vgl. zur Überlieferungslage: Hugo von Montfort I (Faksimile). Die Heidelberger Handschrift cpg 329 und die gesamte Streuüberlieferung. In: Abbildung. Hrsg. von Eugen Thurnher, Franz V. Spechtler und Ulrich Müller. Göppingen 1978. (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte. 56) Karl Weinhold: Ueber den Dichter Graf Hugo VIII. von Montfort, Herren zu Bregenz und Pfannberg. In: Mittheilungen des historischen Vereins für Steiermark 7 (1857), S.127–180. Hugo von Montfort. Hrsg. von Karl Bartsch. Tübingen 1879. Hugo von Montfort. Hrsg. von J. E. Wackernell: Mit Abhandlungen zur Geschichte der deutschen Literatur, Sprache und Metrik im XIV. und XV. Jahrhundert. Innsbruck 1881. (Aeltere Tirolische Dichter. 3) Hugo von Montfort. II: Die Texte und Melodien der Heidelberger Handschrift cpg 329. Transkription von Franz V. Spechtler. Göppingen 1978. (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte. 57) Meine Neuausgabe konnte noch während der Drucklegung dieses Beitrages im Verlag de Gruyter erscheinen: Hugo von Montfort. Das poetische Werk. Hrsg. Von Wernfried Hofmeister. Mit einem Melodie-Anhang v. Agnes Grond. Berlin/New York 2005.

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Wernfried Hofmeister

fassen. Die Bedürfnisse der Studierenden sollten sich dadurch für die endgültige Fassung besser berücksichtigen lassen. Mein Seminar zu Hugo von Montfort bot mir dazu im Sommersemester 2003 die passende Gelegenheit.7 Ehe ich darüber berichte, wie diese Beteiligung von Studierenden am Editionsprozeß ausgesehen hat, möchte ich etwas zu den editions- und arbeitstechnischen Bedingungen in dieser Lehrveranstaltung vorausschicken. Bei beidem habe ich versucht, neue Wege zu beschreiten, und zwar arbeitstechnisch insofern, als wir für die Informationsverteilung innerhalb der Lehrveranstaltung eine internationale Kommunikationsplattform in Gestalt eines (kostenlosen und unkomplizierten) Internet-Servers genutzt haben.8 Er hat es uns unter anderem ermöglicht, Teile meiner Rohedition sowie weitere Materialien und Nachrichten elektronisch weiterzugeben. Was die editorischen Innovationen betrifft, sei kurz folgendes angemerkt: Die Edition ist mehrstufig angelegt, wie das angefügte Beispiel einer ‚Transponierungs-Synopse‘ am Ende des Beitrags deutlich macht.9 Dargestellt sind neben dem Faksimile die beiden wichtigsten Stufen, nämlich die sehr handschriftennahe Basistransliteration, in der fast alle graphischen Varianten auf reiner ASCII-Basis codiert sind, und der davon abgeleitete Lesetext mit seinen diversen Auflösungen und Reduktionen. Da sich die erste Stufe ideal für genaueste Sprachuntersuchungen eignet, soll sie (nur) in elektronischer Form neben der gedruckten Edition verfügbar gemacht werden, aus Kostengründen einfach über das Internet.10 Beide Editionsstufen verweisen aufeinander und kommen darin – nicht zufällig – dem Ideal jener ‚dynamischen Edition‘ sehr nahe, die jüngst von Andrea Hofmeister-Winter11 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Für die Meinungsbildung der Studierenden in Hinblick darauf, was eine gut lesbare, verständliche Studienausgabe Hugos von Montfort ausmacht, war es zweckmäßig, gleich zu Beginn der Lehrveranstaltung einen Drucktext-Vorschlag zu präsentieren. Was den Editions-Apparat betrifft, so war sein Umfang von vornherein wegen der niedrig zu haltenden Seitenzahl auf das Notwendigste zu beschränken; schon deshalb konnte nicht an die Beigabe einer kompletten Übersetzung gedacht werden, sondern nur an punktuelle Verständnishilfen in Gestalt von Teilübertragungen oder Kurzhinweisen zu einzelnen Wortbedeutungen. Bei den generellen Editionsprinzipien des neuen Textes war ebenfalls vorab klar: Das Ergebnis sollte nahe an der Haupthandschrift bleiben und nicht jene rekonstruierte Form aufweisen, die bei Bartsch und

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Hugo von Montfort: Seminar zur älteren deutschen Literatur am Institut für Germanistik der KarlFranzens-Universität in Graz. http://de.groups.yahoo.com/group/montfort-seminar [23.9.2008, 13.00 Uhr]. Zum Konzept der Transponierungssynopse vgl.: Die Edition als ‚offenes Buch‘: Chancen und Risiken einer Transponierungs-Synopse dargestellt an der Dichtung „Von des todes gehugede“ des sog. Heinrich von Melk. In: Produktion und Kontext. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition im Constantijn Huygens Instituut. Hrsg. v. H.T.M. van Vliet. Tübingen 1999. (Beihefte zu editio. 13), S. 23–39. Siehe http://www-gewi.uni-graz.at/montfort-edition [23.9.2008, 17.00 Uhr]. Vgl.: Die Schriften des Brixner Dommesners Veit Feichter (ca. 1510–1560), Bd 1: Das Brixner Dommesnerbuch. Mit elektronischer Rohtextversion und digitalem Vollfaksimile auf CD-ROM, im Auftrag der Stadt Brixen hrsg. von Andrea Hofmeister-Winter. Innsbruck 2001 (Innsbrucker Reihe zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe. 63)

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Wackernell dem Ideal einer imaginierten ‚Urfassung‘ verpflichtet ist; demgemäß galt es, von areal-sprachlichen Bereinigungen gleichermaßen Abstand zu nehmen, ebenso wie von allen metrischen und grammatikalischen Normierungen. Konjekturen waren nur bei den ganz wenigen sinnverstellenden Überlieferungsirrtümern durchzuführen und einleuchtend zu begründen. Mit diesen Vorgaben und weiteren Informationen ausgerüstet, haben die rund 20 Studierenden meine Einladung zu den textkritischen Diskussionen engagiert angenommen. Besonders wertvoll waren ihre Rückmeldungen, wie erhofft, zu Detailfragen der graphetischen Regelungen und zu meinen Sachkommentaren. Hilfreich waren aber auch Hinweise auf Tippfehler und kleinere Inkonsequenzen. Für die nun folgende Veranschaulichung dieser gemeinsamen ‚Textkritik‘ (im weitesten Sinn) beziehe ich mich auf ein paar ausgewählte Beispiele, die sich vier Aspekten zuordnen lassen; soweit möglich, sind alle Textbeispiele der unten abgedruckten Transponierungs-Synopse entnommen. 1) Authentizität der Graphie: Die Mehrzahl der Studierenden versicherte glaubhaft, mit überlieferungsnaher graphetischer Varianz gut leben zu können. Für akzeptabel befunden wurden etwa die handschriftlichen Wechsel zwischen Einfach- und Doppelschreibungen von Plosiven (mitt – mit, 1/22), ebenso die wechselnden Graphien für Spiranten (wiß – wizz, 1/8 – 1/23) oder die Fluktuationen bei Superskripten (min – mínem, 1/25 f.). Textkritische Vereinheitlichungen konnten hier also unterbleiben. 2) Reproduzierbarkeit: Eine gewisse Einschränkung für diese möglichst authentische Wiedergabe der Graphie hat jedoch der starke Wunsch aller Studierenden nach problemloser Reproduzierbarkeit des Textbildes erbracht: Was in der Ausgabe stand, sollte auch genau so zitiert werden können. Dieser Forderung haben im ursprünglichen Drucktext-Vorschlag jene Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen nicht entsprochen, die sich über die Standardtastaturbelegung nicht erzeugen lassen, also vor allem sämtliche vokalische Superskripte.12 Um solche Hindernisse im Sinne eines ‚schuldfreien‘ Umgangs mit dem Text aus dem Weg zu schaffen, waren diese Vokalsuperskripte zu entfernen und durch einfache, über die Tastaturkombination von Akut + Vokal leicht erzeugbare Akut-Überschreibungen zu ersetzen. Für den Hugo-Text ist mir das letztlich auch deswegen leicht gefallen, weil sich in der Heidelberger Handschrift die vokalischen Superskripte bereits in einem freien Austauschverhältnis mit den Häkchenformen befinden, die am zweckmäßigsten ebenfalls durch Akut-Symbole abzubilden sind. Indirekt betroffen von dieser Nachjustierung war aber auch die u-/vVarianz. Zwar hielten es die meisten Studierenden für akzeptabel, Wörter wie eua (32/73), vnuerdrossen (1/60) oder vrýas weib (24/34) entschlüsseln zu dürfen, aber als zu hürdenreich erwies es sich für sie, jene v-Graphe typographisch nachzubilden, die in der Handschrift wegen ihrer phonologischen u-Basierung zusätzlich ein Superskript-Häkchen tragen und daher mit einem Akut zu überschreiben gewesen wären.

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Vgl. die Transponierungs-Synopse S. 282. Dort ist das Vokalsuperskript a in der Basistransliteration durch den Zahlencode „[4]“ (unmittelbar nach dem Basisgraph) erfaßt.

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Wernfried Hofmeister

Daher habe ich hier ebenfalls eine Vereinfachung vorgenommen. Bei diesem nachträglichen Ausgleich sind nun alle problematischen v-Kombinationen zu unkomplizierten, leicht reproduzierbaren u + Akut-Formen geworden. Bereits vorausgeahnt hatte ich ähnliche zitiertechnische Probleme bei den langen s und diese daher schon vorsorglich mit den runden s zusammengelegt. Erleichtert hat mir diese Entscheidung der Hinweis auf meine codierte Basistransliteration, wo alle langen s-Formen (als $Symbole) gesondert erfaßt sind. Bis heute auch im Drucktext überlebt haben hingegen die ‚originalen‘ y mit Akut (ý), da sich diese (wie alle vokalischen Buchstaben) leicht per Standard-Tastenkombination erzeugen lassen. Gegen ihre Eliminierung im Zuge eines i-/y-Ausgleichs spricht weiters, daß damit ein Damm gebrochen wäre, der auch vor der Regelung anderer Varianzen, wie der zwischen c und k, nicht haltgemacht und letztlich zu einem allzu streng normalisierten Schriftbild zurückgeführt hätte. 3) Ein eigenes Kapitel stellt(e) die Behandlung der Interpunktion dar. Im elektronischen Basistext sind sämtliche Virgeln notiert, ebenso allfällige Spatien davor. Für den Lesetext hat es sich aber empfohlen, diese ‚Vorläufer-Interpunktion‘ auszusparen und an ihre Stelle eine moderne Zeichensetzung treten zu lassen. Wie erwartet, hat dieses Angebot den Studierenden die Orientierung in Hugos Text sehr erleichtert. Die Seminargruppe ist von mir aber für die Problematik der stets interpretierenden Interpunktionsbeigaben sensibilisiert worden und konnte deshalb auch dazu beitragen, interpunktionstechnisch mehrdeutige Passagen zu diskutieren. Im Rahmen der Interpunktion habe ich noch einen Spezialservice geboten, der von den Studierenden gerne angenommen und durch scharfsinnige Rückmeldungen ergänzt wurde, nämlich die Auszeichnung sprichwortartiger Sätze. Wendungen wie >red án werch zwar nicht vervaht< (28/241) oder >wes das hertz begerend ist, der mund túts dikch sagen< (31/137 f.) werden konsequent durch Spitzklammern markiert, weil sie als Kollektivzitate eine Art Text im Text darstellen. Wie meine umfangreichen theoretischen Vorstudien gezeigt haben, will die sinnlenkende Kraft solcher ‚Weisheiten‘ besonders beachtet sein, um ihre tiefere Funktion der normativen Bündelung des Umgebungstexts zu erkennen.13 Die hier unvermeidlichen Zonen des Übergangs zwischen ‚sicherer‘, bloß ‚wahrscheinlicher‘ oder ‚weniger plausibler‘ Sprichwörtlichkeit wurden nicht beiseite geschoben, sondern ebenfalls zum Gegenstand kritischer Reflexion. 4) Als vierten Aspekt berichte ich über die studentische ‚Kommentar-Kritik’, beginnend mit den im engeren Sinn textkritischen Kommentaren zu einzelnen Überlieferungsstörungen oder -auffälligkeiten. Als Tribut an die gewünschte Kompaktheit der Studienausgabe habe ich bewußt auf die vollständige Dokumentierung aller bisherigen Herausgebermeinungen verzichtet und nur in markanten Einzelfällen Bezug auf sie genommen. Durch diese Beschränkung auf das Wesentliche der Textproblematik

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Vgl. Wernfried Hofmeister: Sprichwortartige Mikrotexte als literarische Medien, dargestellt an der hochdeutschen politischen Lyrik des Mittelalters. Bochum 1995. (Studien zur Phraseologie und Parömiologie. 5); Ders.: sprichwort – Sinnfindung im Zitat. In: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. Hrsg. von Otfrid Ehrismann. München 1995, S. 202– 208.

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konnte der Apparatteil relativ klein gehalten werden. Die Studierenden haben meinen textkritischen Purismus durchaus goutiert; daß sie ihn nicht einfach ignoriert haben, belegen ihre wertvollen Hinweise, die sogar in diesem so diffizilen Bereich zu der einen oder anderen Nachbesserung geführt haben. Noch zahlreicher waren die studentischen Rückmeldungen zu meinen sachorientierten Texterläuterungen bzw. Verstehenshilfen. Um es gleich vorwegzunehmen: Keines dieser Kommentarangebote wurde (offiziell) als völlig entbehrlich erachtet. Das ist zum einen auf die nicht allzu große Zahl von Anmerkungen zurückzuführen (mit im Schnitt einer Anmerkung auf zehn Textzeilen), aber eine Rolle hat zum andern auch gespielt, daß die vielleicht für nicht unbedingt nötig gehaltenen Verständnishilfen jeweils auch mit den Augen der anderen, etwas weniger Wissenden gesehen wurden. Speziell von Letzteren wurden ein paar zusätzliche Kommentare erbeten, die ich gerne nachgereicht habe. Unangetastet blieb dabei aber mein Leitprinzip der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘. Meist genügte nämlich schon die graphetische Entschlüsselung eines Eigennamens oder eines Begriffs, um es den Studierenden zu ermöglichen, ihre Unsicherheit bezüglich einzelner historischer Personen bzw. Wortbedeutungen durch selbständiges Nachschlagen zu beseitigen, sei es durch Konsultierung eines gedruckten Fachlexikons oder durch online-Recherchen über einen unserer (auf dem Lehrveranstaltungsserver zahlreich bereitgehaltenen) sprach- und literaturwissenschaftlichen Links. Abschließen möchte ich diesen Werkstattbericht mit einem kurzen Rückblick auf den Begriff ‚Studienausgabe‘. Aus mediävistischer und editionsdidaktischer Sicht lassen sich in Ergänzung zu der in jüngster Zeit intensiver gewordenen Diskussion von Studien- bzw. Leseausgaben folgende Erfahrungskriterien hinzufügen: Um literarische Dokumente breiteren, insbesondere jüngeren Kreisen zu erschließen, sie womöglich zu einer ‚Einstiegsdroge‘ in unsere Textwissenschaft werden zu lassen, empfiehlt sich der Abbau unnötiger Hürden. Um die ‚Preishürde‘ niedrig zu halten, helfen kompakte textkritische Apparate sowie knappe, aber möglichst treffsicher gefaßte Sachkommentare. Zur Herabsetzung der ‚Texthürde‘ trägt die Beschränkung auf ein Buchstaben-Inventar bei, das leicht reproduzierbar ist und keine technischen Schwierigkeiten beim Zitieren bereitet. Studientexte sollen einladend wirken, nicht abschreckend. Damit aber kein unwiederbringlicher Verlust an graphetischen Detailinformationen eintritt, empfiehlt sich der Gebrauch der mehrstufigen Editionsmethode. Ihr ‚dynamisches‘ Wechselverhältnis zwischen der genau codierten, elektronisch durchsuchbaren Basisfassung und dem vereinfachten Lesetext sichert alle Textfeinheiten. Darüber hinaus hilft sie uns – dank ihrer interaktiven Anlage –, aus Lesenden mündige Text-Expertinnen und -Experten zu machen. Und wenn man diese ‚offene‘ Editionstechnik bereits nutzt, um eine noch nicht publizierte Neuausgabe von ihrem Zielpublikum vorab überprüfen zu lassen, ergibt sich auch für die Edierenden in vielerlei Hinsicht ein nicht unerheblicher Gewinn. So hat zumindest für den Verfasser der Terminus ‚Studienausgabe‘ seine Bedeutung auf durchaus erfreuliche Weise erweitert, nämlich in Richtung eines editorischen Unternehmens nicht nur für, sondern auch mit und von Studierenden.

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Wernfried Hofmeister

Wolfgang Wiesmüller

Textkritik und Dekonstruktion Überlegungen zu neuen textgenetischen Modellen anhand der Internet-Edition der Witiko-Handschriften von Adalbert Stifter

Die handschriftliche Überlieferung zu Stifters historischem Roman Witiko umfaßt rund 800 Seiten. Ein Teil davon, nämlich 316 Seiten, entfällt auf die über weite Strecken stark korrigierte Druckvorlage zum ersten und zweiten Band des Romans; zum dritten Band ist sie uns nicht überliefert. Der andere Teil besteht aus 239 meist beidseitig beschriebenen Handschriftenblättern, also ca. 460 Seiten, und umfaßt damit etwas mehr als die Hälfte der Gesamtüberlieferung. Die historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters,1 im folgenden als HKG bezeichnet, nennt sie ‚abgelegte Blätter‘, die Stifter während der Arbeit an diesem Roman verworfen, aber dennoch aufbewahrt hat. Stifter hat bei der Niederschrift des Witiko (1859–1867), wie bei seinen anderen Werken auch, eine ‚Abschreibtechnik‘ angewendet: Die erste Niederschrift wird bereits in Form einer Reinschrift angefertigt, es folgt die Korrektur oder Revision (oft in mehreren Durchgängen), dann die Abschrift des korrigierten Textes, auf den wiederum Korrektur und Abschrift folgen, wobei die letzte Version, die als Druckvorlage abgeliefert wird, noch zahlreiche Korrekturen enthält, also keine wirkliche Reinschrift bildet. Beim Witiko hat Stifter diese Arbeitstechnik phasenweise so exzessiv praktiziert, daß manche Seite bis zu fünf Mal ausgefertigt wurde. Diese Tiefenschichtung der Textgenese in Verbindung mit der Fülle des handschriftlichen Materials stellte die Herausgeber vor ein editorisches Problem, das mit den bislang üblichen Apparttypen und -modellen nicht bewältigbar erschien, wollte man ein vetretbares Verhältnis von Aufwand und Nutzen sowie vor allem die Benutzbarkeit nicht aus den Augen verlieren. Sie entschlossen sich daher für eine Kombination von Buchform und elektronischer Edition.2 Die HKG bringt in den Bänden 5,1 bis 5,3 den kritisch edierten Text des Witiko.3 Der dazugehörige Apparat- und Kommentarband (HKG Band 5,4)4 enthält einen textkritischen Bericht in Form einer lemmatisierten Auflistung der Texteingriffe, der Emendationen. Im edierten Text sind die Textstellen, an denen emendiert wurde, be-

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Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Neuere deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald (seit 2000: Hartmut Laufhütte). Stuttgart u.a. 1978ff. Vgl. dazu Johannes John und Wolfgang Wiesmüller: Die neue Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters. Entstehung, Editionsrichtlinien und editorische Problemstellungen. In: Sichtungen 3 (2000), S. 156–168, bes. S. 163–167. Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Band 5,1 bis 5,3: Witiko. Eine Erzählung. 1.–3. Band. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. Stuttgart u.a. 1984–1986. Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Band 5,4: Witiko. Apparat. Kommentar. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. Stuttgart u.a. 1998.

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reits mit einer hochgestellten Crux markiert, womit signalisiert wird, daß man sich im Apparat über die Art der Textkonstitution informieren kann. Im Anschluß an die Beschreibung der handschriftlichen Überlieferung und des Erstdrucks werden die Varianten zwischen dem Erstdruck (D), den Stifter autorisiert hat und der die Textgrundlage des edierten Textes bildet, und der handschriftlichen Druckvorlage (H/letzte Textschicht) verzeichnet. Dieses Variantenverzeichnis vermittelt ein genaues Bild von den Problemen der Textkonstitution und ermöglicht auch die Beurteilung der Qualität der Herausgebereingriffe. Denn aufgrund der Tatsache, daß Stifter den Text auch noch in den Druckfahnen, wenn auch geringfügig, geändert hat, mußte bei den Varianten zwischen D und H immer überlegt werden, ob sie auf den Autor zurückgehen oder ob sie dem Setzer anzulasten und als Textfehler zu qualifizieren sind, die einen Texteingriff rechtfertigen. Textgenetisch gesehen beschränkt sich also der Apparat der HKG auf diese Verzeichnung der Varianz zwischen D und H, während die editorische Aufbereitung der gesamten handschriftlichen Überlieferung zum Witiko in elektronischer Form erfolgt und über das Internet zugänglich gemacht wird. Dieses Projekt wurde 1999 in Innsbruck in Angriff genommen. Mit Ausnahme von 8 abgelegten Blättern zum 3. Band ist das gesamte Textmaterial derzeit elektronisch verfügbar und damit eine wesentliche Etappe abgeschlossen. Da der gesamte Bereich der EDV ein äußerst dynamischer ist, wird auch dieses Projekt ein ‚work in progress‘ bleiben und für Adaptierungen und Verbesserungen offen sein. Die Darbietung der Witiko-Handschriften wurde also sozusagen aus der Buchausgabe ausgelagert, mit dem textologisch bereits seit längerem diskutierten Kalkül, daß sich der Einsatz elektronischer Datenverarbeitung für Editionen überall dort anbietet, wo die Beschaffenheit der zu verwaltenden Informationen und Daten in Buchform nicht angemessen oder überhaupt nicht mehr bewältigt werden kann.5 Dennoch bleibt die elektronische Edition der Witiko-Handschriften in gewissem Sinne ein integraler Bestandteil der Buchausgabe, insofern es eine Schnittstelle zwischen beiden Medien gibt, nämlich das Stemma der Handschriften. Man findet es sowohl im Apparatband der Ausgabe (HKG 5,4) als auch im Internet mit wechselseitigen Verweisen. Das Stemma bildet den entstehungschronologischen Zusammenhang der Handschriften in der Form eines Koordinatensystems ab. Auf der horizontalen Achse ist der Seitenbereich der Handschriften nach der Paginierung Stifters aufgetragen, wodurch das lineare Fortlaufen und Anwachsen des Textes sichtbar wird. Auf der vertikalen Achse sind die einzelnen handschriftlichen Zeugen stufenweise angeordnet, um ihr synchrones Verhältnis, d.h. ihre genetische Korrespondenz deutlich zu machen – in der Regel ein Handschriftenblatt, sigliert mit H 1 bis H 239, das zwei paginierte Seiten aufweist. Die genetische Korrespondenz ist mit den Kleinbuchstaben a, b, c usw. gekennzeichnet. Da die Druckvorlage H von der Textgenese her gesehen durchgehend die letzte Stufe darstellt, wurde auf die Markierung ihrer Seiten mit Kleinbuchstaben verzichtet; sie läuft also am unteren Ende des Stemmas nach der Paginierung Stifters einfach durch. Die stemmatische Darstellung erfolgt kapitelweise, wobei

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Vgl. dazu Roland Kamzelak: Hypermedia – Brauchen wir eine neue Editionswissenschaft? In: Computergestützte Text-Edition. Hrsg. von Roland Kamzelak. Tübingen 1999 (Beihefte zu editio. 12), S. 119– 126.

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zusammen mit dem Seitenbereich nach der Paginierung Stifters auch der Seitenbereich des edierten Textes in der HKG angegeben wird. Dadurch springt die unterschiedliche Intensität der Arbeit Stifters an verschiedenen Abschnitten des Romans rasch ins Auge. Diese Verknüpfung der Handschriften mit dem edierten Text der Ausgabe, die im Stemma nur sehr weitläufig, also über ziemlich große Seitenbereiche erfolgt, soll in der Internet-Edition noch dadurch verfeinert werden, daß auf jeder einzelnen Seite der Druckvorlage die exakte Bezugsstelle im edierten Text angegeben wird. Die Internet-Edition der Witiko-Handschriften ist, wie in HKG 5,4 angegeben, über die Adresse http://germanistik.uibk.ac.at/stifter/witiko zu finden. Die Startseite informiert über die historisch-kritische Stifter-Ausgabe und die Gestaltung der Edition. Die Inhaltsübersicht gibt tabellarisch nach Band und Kapitel einen Einblick in die Überlieferungslage der Handschriften. Über das Stemma, ebenfalls nach Band und Kapitel strukturiert, erfolgt der Zugang zu den Transkriptionen der Handschriften (vgl. die Abbildung des Stemmas zum 2. Kapitel des 2. Bandes). Durch Anklicken der im Stemma verzeichneten Seitenzahl läßt sich die Transkription der betreffenden Handschriftenseite öffnen. Die Transkription verzeichnet im fortlaufenden Text unter Verwendung der diakritischen Zeichen der HKG, die im Internet über die Legende zum Stemma abrufbar sind, die Varianten der jeweiligen Handschriftenseite, also die ‚Binnenvarianz‘. Da die Transkription nach dem Schema Grundschicht und Korrekturschicht verfährt (getrennte Korrekturvorgänge im Sinne von ‚durchlaufenden Händen‘ lassen sich kaum mit Sicherheit ausmachen, weshalb auf ihre spekulative Rekonstruktion verzichtet wird), kommt sie mit ganz wenigen Zeichen aus und ist daher sehr benutzerfreundlich. Als Grundzeichen werden die geschlossene eckige Klammer für Streichung und die offene eckige Klammer für Einfügung oder Textersatz verwendet. Mit der Kombination dieser beiden Zeichen lassen sich Korrekturprozesse bis hin zu einem Textersatz innerhalb eines Textersatzes abbilden. Bei komplexeren Korrekturen wird mit Stufensymbolen (1), (2), (3) bzw. (a), (b), (c) usw. gearbeitet. Die Varianz zwischen den einzelnen, stemmatisch einander zugeordneten Handschriftenseiten, also die ‚Außenvarianz‘, muß der Benutzer/die Benutzerin allerdings selber verfolgen. Der Textabschnitt, für den die Textgenese rekonstruiert werden soll, kann dabei je nach Interesse festgelegt werden. Die Benutzer müssen sich hier selber aktiv einbringen, um die Entstehung des Textes von Zeugen zu Zeugen über die verschiedenen Zwischenstufen herauszuarbeiten. Im Unterschied zu einem Werkstellen- oder Stufenapparat hat man dafür aber immer den größeren Textzusammenhang, in den die Varianten eingebettet sind, vor Augen. Ein Navigator führt den Benutzer/die Benutzerin zur textgenetisch jeweils vorausliegenden oder nachfolgenden sowie zur textlich jeweils wörtlich anschließenden Seite der Handschriften. D.h. die Textentwicklung wird von jeder Seite aus mit Hilfe des Navigators sowohl in der horizontalen als auch in der vertikalen Richtung angezeigt, sodaß man sie in jeder Richtung und soweit man will verfolgen kann, ohne auf die Ebene des Stemmas zurückgehen zu müssen. Der Zugang zu den Transkriptionen ist auch über eine Volltextsuche möglich. Bei der Eingabe der Suchbegriffe muß dabei beachtet werden, daß Stifter in der Hand-

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schrift eine andere Orthographie verwendet hat als der Setzer für den Druck, worüber die HKG bei der Beschreibung des Erstdrucks Auskunft gibt.6 Denkbare Ausbaustufen der Edition wären beispielsweise die Erweiterung durch Scans der Originalhandschriften, die mit wenigen Ausnahmen in der Bibliotheca Bodmeriana in Genf liegen, weiters die Integration des in der HKG edierten Textes sowie weitere Hilfestellungen für die Benutzer, etwa durch die Markierung von varianten oder invarianten Textteilen in korrespondierenden Handschriftenseiten. Die Internet-Edition der Witiko-Handschriften bietet den Benutzern auch die Möglichkeit, sich von jeder gewünschten transkribierten Handschriftenseite einen Ausdruck zu erstellen. Mit Hilfe des Stemmas kann man dann die ausgedruckten Seiten in jene Ordnung bringen, in der sie sich auch auf dem Schreibtisch Stifters befunden haben dürften, hatte er sie doch zur Abschrift vor sich liegen. Bis zu einem gewissen Grad wird also damit auch die Arbeitsweise des Autors rekonstruierbar. Als Resümee kann festgehalten werden: Das Modell der elektronischen Publikation der Witiko-Handschriften orientiert sich zum einen an der Beschaffenheit der Überlieferung des handschriftlichen Materials, und zum anderen an der ‚spezifischen Arbeitsweise‘ des Autors. Es orientiert sich somit an jenen ‚zwei Faktoren‘, die nach Siegfried Scheibe die Gestaltung eines Variantenapparats wesentlich bestimmen sollen.7 In Anlehnung an Scheibe erhebt Hermann Zwerschina in seiner Theorie des Schaffensprozesses die Arbeitsweise des Autors zum zentralen Kriterium der textgenetischen Darstellung.8 Er bezieht sich dabei auf die linguistische Schreibertypologie von Hanspeter Ortner. Demnach könnte für Stifter die „Schreibstrategie 4: Herstellen von Texten über die redaktionelle Arbeit an Texten (Vorfassungen), von verbesserten Versionen durch Arbeit am vorliegenden Text“ geltend gemacht werden, womit er den „Typ des Text-aus-den-Korrekturen-Entwicklers“ repräsentiert.9 Die WitikoEdition darf wohl für sich in Anspruch nehmen, daß sie dem genannten Kriterium gerecht wird, da sie die Arbeitsweise Stifters besonders gut zum Vorschein bringt. Sie verzichtet allerdings auf die von einem Variantenapparat ebenfalls geforderte Widerspiegelung der komplexen Textentwicklung in einem ebenso komplexen Variantenverzeichnis und mutet dem Benutzer eigenständige Kollationierungsarbeit zu. Zwischen der Skylla der Unbenutzbarkeit und der Charybdis einer pragmatischen Reduktion der Ansprüche an einen textgenetischen Apparat haben sich die Herausgeber der historisch-kritischen Stifter-Ausgabe somit für letzteres Modell entschieden. Das textgenetische Modell der Internet-Edition der Witiko-Handschriften bringt zwangsläufig die Relativierung einer organologischen oder teleologischen Sicht auf die Textentwicklung mit sich, die sich auf die lineare Entwicklung von den ersten No-

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Vgl. HKG 5,4, S. 85f. Siegfried Scheibe: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin-Ost 1988, S. 106f. Hermann Zwerschina: Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth u.a. Berlin 2000, S. 203–229. Hanspeter Ortner: Schreiben und Denken. Tübingen 2000 (Reihe Germanistische Linguistik. 214), S. 428–439.

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tizen bis zur letzten Fassung, die das vollendete Werk repräsentiert, konzentriert. Aus dieser Verschiebung der Perspektive könnten sich meines Erachtens Korrespondenzen zu jenen literaturtheoretischen Positionen ergeben, die unter dem Dach des Poststrukturalismus firmieren und sich beispielsweise im dekonstruktionistischen Umgang mit literarischen Texten manifestieren, Korrespondenzen, die hier nur in skizzenhaften Überlegungen angedeutet werden können. Textkritische und textgenetische Konzepte sind explizit oder implizit immer mit bestimmten literaturtheoretischen Positionen bzw. literaturwissenschaftlichen Methoden verknüpft. Im Rückblick wird man die Editionswissenschaft in den philologischen Disziplinen von ihrer Entstehung her in den Kontext einer positivistischen Literaturwissenschaft rücken, sie ist aber gerade im Konnex von Edition und Interpretation immer auch mit dem hermeneutischen Paradigma in Verbindung gestanden. Eine so positionierte Textkritik operiert mit Begriffen wie ‚Autor‘, ‚Autorisation‘, ‚Autorintention‘, ‚Text‘, ‚Werk‘ usw. sowie mit einem Konzept der Textgenese, das die ideale Entwicklung des Werks von seinen ersten Ansätzen bis zu seiner Vollendung im Auge hat. Dieses Instrumentarium der Textkritik scheint in Diskussion geraten zu sein. Das zeigt sich zum einen in Beiträgen wie jenem von Andreas Arndt in editio Band 16 (2002), wo es in Auseinandersetzung mit Vertretern des Poststrukturalismus wie Michel Foucault und Roland Barthes um das Problem von ‚Subjektivität und Autorschaft‘ geht.10 Zum anderen deuten die editorischen Konzepte neuerer historischkritischer Ausgaben, wie z.B. das der Innsbrucker Trakl-Ausgabe von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina,11 darauf hin. Das Hauptinteresse der Herausgeber der Innsbrucker Trakl-Ausgabe „liegt nicht in der bloßen Repräsentation der Endprodukte von Trakls künstlerischem Schaffen“, weshalb sie sich nicht „auf das ‚fertige‘ Endprodukt und dessen Behandlung als gültige und allgemeinverbindliche Textgestalt“ beschränken wollen, sondern „dem Prozeß des Schreibens editorisch den Vorzug geben vor dem Ergebnis des Schreibens“.12 Alle überlieferten Textzeugen zu einem Werk werden daher in der textgenetischen Darstellung, die nach Textstufen mit integral verzeichneter Varianz erfolgt, gewissermaßen gleichberechtigt behandelt. Rüdiger Nutt-Kofoth meint daher, daß Ausgaben dieses Typs „den Entstehungsprozeß an sich als Bestandteil des Werktextes verstehen“.13 Er sieht in der Innsbrucker TraklAusgabe eine „Annäherung an eine ‚Versöhnung‘ von statischem und dynamischem Textverständnis“ und als richtigen „Weg für die zukünftige Entwicklung der Edition vor dem Hintergrund eines neu formulierten Werk- und Textbegriffs“,14 zu dessen

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Andreas Arndt: Subjektivität und Autorschaft. In: editio 16 (2002), S. 1–13. Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. 6 Bände und 2 Supplementbände. Hrsg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Frankfurt a.M. – Basel: Band II 1995, Band III 1998, Band IV.1 und IV.2 2000, Band I 2007, Band V in Vorbereitung. Ebd., Band I: Editorischer Bericht: Grundsätzliches und Zielsetzungen, S. 12f. Rüdiger Nutt-Kofoth: Abmalen vs. Lesen oder Handschriftentranskription vs. Textedition. In: IASL online, 8.1.2002. Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktions- und rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Nutt-Kofoth 2000 (Anm. 8), S. 165–202, hier S. 193.

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Wegbereitern Gunter Martens gehört, der schon zu Beginn der siebziger Jahre den Begriff der „Textdynamik“ eingeführt hat.15 Sofern man also den textgenetischen Prozeß nicht von seinem Ziel als Ergebnis her bewertet, sondern das Augenmerk auf die Dynamik seiner Gesamtheit und Verzweigtheit richtet, können sich Verbindungslinien zu poststrukturalistischen Theoremen eröffnen. So könnte die extensive Wiedergabe von textgenetisch gesehen invarianten Textteilen, wie sie die Internet-Edition des Witiko vornimmt, nicht nur als Äquivalent der spezifischen Textproduktion Stifters gewertet werden, für den das Abschreiben als Wiederholung, Bestätigung und Befestigung des Geschriebenen ein so zentrales Moment seiner poetischen Arbeit darstellt, sondern auch als reiches Anschauungs- und Reflexionsmaterial für dekonstruktivistische oder semiotische Positionen. Weiters lenkt die Offenheit des textgenetischen Modells der Witiko-Edition vom teleologischen Blick auf das vollendete Werk immer wieder ab und auf den Arbeitsprozeß des Autors hin. Denn die Benutzer werden eingeladen, sich nach eigener Interessenslage sowohl auf der vertikalen Ebene der Korrekturschichten als auch auf der horizontalen Ebene des textlichen Fortschreitens frei zu bewegen, wodurch sie bei verworfenen Alternativen oder der bereits erwähnten, für Stifter so typischen, wiederholten Befestigung des Geschriebenen verweilen werden. Dekonstruktivistisch gesehen stellt sich damit Stifters „Stilisierung seiner uferlosen und unabschließbaren Arbeitsprozesse als Kampf […] mit der widerständigen Materie“16 der Sprache dar, wie es Christian Begemann genannt hat, und somit als ein Ringen mit den Signifikanten.17 Dieser Prozeß der Signifikation, in dem sich die Textrevisionen des Autors letztlich als Entscheidungen des Unentscheidbaren erweisen, führt bei Stifter zu einem Schreiben in Permanenz, das nur durch äußere Zwänge zum Stillstand gebracht wird. Hebt man die Dichotomie von unvollkommen und vollkommen oder von unvollendet und vollendet auf, verschiebt sich der Blick auf die Bewegung des Autors in der Welt seiner Zeichen, seiner Signifikanten, und in seinen Revisionen des Textes wird ein Pulsieren sichtbar, das nicht in die Perspektive einer Überwindung von Textstufen auf eine bestimmte privilegierte Textstufe hin eingespannt wird. Bei Stifter zeigt sich in den Revisionen des Textes zum einen ein Konkurrenzverhältnis zwischen stilistischen Äquivalenten innerhalb seines Stilkonzepts, woraus sich ein Schwanken der Korrektur ergibt (z.B. auf der lexikalischen Ebene zwischen Synonymen, zwischen Substantiv und Pronomen, zwischen Simplex und Kompositum oder zwischen Substantiv und

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Gunter Martens: Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 165–201. Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart 1995, S. 57. Peter V. Zima sieht das zentrale Anliegen der Dekonstruktivisten in ihrem Versuch, „die Grenzen des begrifflichen Denkens abzustecken und die Bedeutung der vieldeutigen Figur, des Signifikanten und der gesamten Ausdrucksebene für den theoretischen Diskurs hervorzuheben.“ So sei beispielsweise Jacques Derrida der Ansicht, „daß die Sinnpräsenz nicht zu verwirklichen ist, weil jedes Zeichen unablässig auf andere, vorausgegangene oder nachfolgende Zeichen verweist und dadurch den Zerfall der eigenen Identität und Sinnpräsenz bewirkt.“ Siehe: Peter V. Zima: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. Tübingen und Basel 1994 (UTB 1805), S. 2 und S. 52.

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Syntagma). So springt er nicht selten mehrmals zwischen ein und denselben Varianten hin und her, oder er kehrt nach dem Erproben von neuen Varianten wieder zu früheren zurück.19 Zum anderen unternimmt er in den abgelegten Blättern oft stilistische Experimente mit der Tendenz, die er im Witiko insgesamt verfolgt, nämlich die Sprache in ein unvertrautes, archaisch anmutendes Licht zu rücken und sich dabei verschiedener Abweichungen von der Norm sowie diverser Neubildungen zu bedienen. Ein Beispiel: In der Grundschicht der Druckvorlage zum 3. Kapitel des 1. Bandes bezeichnet Stifter den Geistlichen, der Witiko zum Bischof Silvester führt, in Abweichung von der lexikalisierten Bedeutung des Wortes als „Einführer“, was er dann in der Korrekturschicht durch die übliche Bezeichnung „Begleiter“ zurücknimmt.20 In derselben Szenerie korrigiert er hingegen die gebräuchliche Bezeichnung „Pförtner“ zu „Thorwart“ (ein schon zu Stifters Zeiten archaistisches Wort, das heute nur mehr in der sportlichen Bedeutung verwendet wird).21 Solche im Vergleich mit dem zum Druck freigegebenen Text stilistischen Extreme wie der „Einführer“ müssen nicht von vornherein als im Sinne des Autors mißglückt und daher verbesserungswürdig angesehen werden, sondern als Version, die Stifter selbst sogar als gelungen betrachtet haben mag, die er aber den Lesern nicht zumuten wollte. Denn trotz der stilistischen Mäßigung, wenn man so will, wurde der Witiko bei seinem ersten Erscheinen und darüber hinaus ohnehin wiederholt wegen seines Stils kritisiert, umgekehrt liegt aber gerade darin bis heute seine ästhetische Faszination. Dasselbe könnte man für Stifters Tendenz zur Ausführlichkeit der Beschreibung von Zeremoniellen oder Ritualen geltend machen. Auch hier lotet er in den abgelegten Blättern oft die Grenze aus, ohne daß entschieden werden könnte, wo sie wirklich liegt. Wiederum ein Beispiel: In der genannten Szenerie aus dem 3. Kapitel des 1. Bandes stellt sich die Frage, wieviele Leute sollen Witiko zum Bischof Silvester führen? Man könnte durchaus sagen, daß es plausibel wäre, daß ihn der „Thorwart“ einem Geistlichen übergibt, der ihn wiederum an einen Geistlichen weiterleitet, der ihn schließlich zum Bischof führt – so ist es in den abgelegten Blättern zu lesen. In der Überarbeitung wird aber dann einer der beiden Geistlichen weggelassen.22 Diese marginalen Bemerkungen sollen ein Anstoß sein, darüber nachzudenken, in welcher Weise es Brückenschläge nicht nur zwischen Edition und Interpretation geben könnte, sondern eben auch zu jenen theoretisch-methodischen Paradigmen, die die Hermeneutik herausfordern. Der editorische Pragmatismus der Stifter-Ausgabe, die Witiko-Handschriften nicht in einen Variantenapparat zu gießen, könnte demnach im angedeuteten Sinne aus semiotisch-dekonstruktivistischer Sicht einen Gewinn be deuten.

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Vgl. dazu Wolfgang Wiesmüller: Die abgebrochene Korrektur. Zur Textgenese von Stifters Witiko als ‚Perfektionsdrama‘. In: Textgenese und Interpretation. Vorträge und Aufsätze des Salzburger Symposions 1997. Hrsg. von Adolf Haslinger, Herwig Gottwald und Hildemar Holl. Stuttgart 2000 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. 389), S. 8–27. Beispiele dazu ebd., S. 20–23 und S. 26f. Vgl. die Transkription von H S. 56 in HKG 5,4, S. 72. In H 41, S. 55a lautet die Stelle: „der Pförtner nahm aus seinem hölzernen Hüttlein […]“ (vgl. HKG 5,4, S. 48), während in H 43, S. 55b zu lesen ist: „Der Thorwart, der im Inneren ein hölzernes Hüttlein hatte, öffnete ihm […]“ (vgl. HKG 5,4, S. 55). Vgl. die Transkription von H 43, S. 55b in HKG 5,4, S. 55 mit der von H 46, S. 55c in HKG 5,4, S. 63.

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Peter Boot

Emblem Book Digitisation: State of Affairs, Options and Challenges

1.

Introduction

In this article, we will look at the state of affairs in emblem digitisation. At present, all over the world, there are about ten research groups and libraries that are seriously involved in digitising emblems.1 In an appendix we give names, URL’s, and a brief description of each project's contents. What we will focus on in this article, is the issues that emblem digitisation projects are facing. After a brief introduction about the emblem as a historical phenomenon, we will discuss (in section 2) the choices which emblem projects have made in building their sites, the issue of whether they engage or not in textual criticism (section 3), the issue of cooperation between sites which have often made very dissimilar choices (section 4), and finally the way in which these sites may be enhanced with advanced scholarly functionality (section 5). The emblem was a genre in Renaissance literature that combined a picture and words. It is usually defined by the presence of a motto, a pictura and a subscription, generally an epigram. Some scholars have tried to describe the functional relation between the several emblem constituents, for instance suggesting that motto and pictura pose some kind of riddle, which is solved in the epigram. Others have stressed that all constituents partake in the functions of explanation and description. What is important about this, is that the picture is never just an illustration. The picture is of vital importance in establishing the emblem’s meaning. In a study of the emblem, all three constituents should be given equal status, and from a literary point of view, it is the way these constituents interrelate which is especially interesting.

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The state of affairs that the article promises to discuss is that of summer 2004. The author of this article is associated with one of the emblem digitisation projects that we will discuss, the Emblem Project Utrecht. The Emblem Project Utrecht, supervised by Dr. Els Stronks, is based at Utrecht University in the Netherlands, and has digitised 25 books of Dutch love emblems. The love emblem was a specifically Dutch contribution to the emblem genre, which became hugely popular all over Europe. Originally a petrarchist game picturing the woes of the male lover, held at a distance by his aloof if not icy mistress, it developed into on the one hand something like a manual for bourgeois courtship, on the other hand into a genre which described religious love and the vicissitudes of the soul on its way to heaven. Both of these traditions are represented in the Utrecht project, funded by the Netherlands Organisation for Scientific Research. The Huygens Instituut, the author’s present employer, is one of the project partners of the Emblem Project Utrecht.

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During its two–century history, the emblem developed from a learned game for Neolatin scholars into what might be called a mass medium for religious and moral instruction. In its later stages, the vernacular languages became predominant. Thanks to the universality of Latin and to the presence of the picture, the emblem always travelled easily from one European culture to another. Thanks to its pictorial component the emblem could also influence the visual arts: painting, architecture and the ephemeral arts. The emblem therefore was a widely influential genre in the culture of early modern Europe. If we engage in emblem digitisation, we should realise that what we do is important not just to literary scholars of our own tongue, but to a much wider community of scholars, both nationally and internationally.2

2. Emblem sites and options The best way to open the discussion of emblem digitisation sites, is perhaps to raise the question of whether these sites merit discussion in a publication of the Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition. Can these emblem digitisation projects be said to engage in editorial work, are they edition projects? This is a thorny issue, which is intimately related to the question of how projects define themselves. If we look, for instance, at the Munich project, based at the Bayerische Staatsbibliothek, Digitalisierung von ausgewählten Emblembüchern der frühen Neuzeit, we can see that what it has created is an Emblemdatenbank, and the primary interface it offers to the visitor is indeed a search mask. However, once inside the database, it does offer a full digital facsimile edition of quite a number of books. And while the facsimile edition may not rank very high as an editorial achievement, we should realise that for most emblem books a facsimile edition is all we have – if we have anything at all. Besides, though not immediately accessible from the facsimile pages, the Munich project also provides searchable descriptions of all of the emblem pictures and commentaries on the emblem meanings, besides a number of other indices, which of course goes far beyond what a facsimile usually does. This dual nature, aspiring on the one hand to provide editions of the books made available, on the other hand to provide something like an emblem database, is something which we will encounter repeatedly. In many respects, emblem digitisation projects seem to have chosen either a ‘database’ or an ‘edition’ paradigm as a model. These paradigms determine not just the content of the sites, not just the sites’ organi-

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A recent introduction to the emblem is John Manning: The emblem. London 2002. An overview of the field of emblem digitisation is given in Peter M. Daly: Digitizing the European emblem. Issues and prospects. New York 2002 (AMS studies in the emblem. 15). Some emblem digitisation projects were discussed at the 6th International Conference of The Society for Emblem Studies in La Coruña (September 2002). See the papers by Boot, Bennet, Billings, Brisaboa a.o. and Kilton in Sagrario López Poza (ed.): Florilegio de estudios de Emblemática. A florilegium of studies on Emblematics. Actas del VI Congreso Internacional de Emblemática de The Society for Emblem Studies. Proceedings of the 6th International Conference of The Society for Emblem Studies. Ferrol 2004. The following publication resulted from the Wolfenbüttel round table conference on emblem digitisation: Mara R. Wade (ed.): Digital Collections and the Management of Knowledge. Renaissance Emblem Literature as a Case Study for the Digitization of Rare Texts and Images. Salzburg 2004. Available online at: http://www.digicult.info/pages/special.php. (October 1, 2008)

Emblem Book Digitisation: State of Affairs, Options and Challenges

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sation, but also their usability, their target audience and user interface. In fact, ‘database’ and ‘edition’ type projects tend to be hosted by different institutions. And it is perhaps one of the challenges which emblem digitisation projects face, to provide both trustworthy and helpful editions of single works, and to provide search interfaces that make immediately accessible related emblems in multiple works, and finally to harmoniously integrate both of these into a user-friendly environment.3 Apart from this larger issue of what an emblem digitisation project aspires to be, there are of course many other issues. The main ones concern (1) the corpus which will be digitised, (2) the choice between full or partial digitisation, both at the book and at the emblem level, (3) the choice for text and/or image as the main site ingredient, (4) the amount of commentary and indexing which will be provided, (5) the languages used in description, commentary, in the edition’s computer interface, and for the emblems' translation, if one is provided, (6) the tools for access to the emblems which the site provides to its visitor, and (7) the choice of technical solutions for storage and retrieval of the emblem book data. While we will discuss these issues separately, it is clear many of them are interrelated, and for instance the choice of technical solution will to a large extent depend on the other choices. Conversely, the choice of a technical solution will determine to some extent the feasibility of the functional choices. We will now discuss the issues in some detail. 2.1. Corpus As to the corpus selected for digitisation, nationality and language seem, for most projects, to be an important criterion. The La Coruña project, Proyecto de Investigación sobre Literatura Emblemática Hispánica, aims at the digitisation of Spanish emblem books, the Wolfenbüttel project at the Herzog August Bibliothek and the Munich project focuses on German emblem books, as does the project at the university of Illinois at Urbana-Champaign. Glasgow works mainly on French emblem books, in Utrecht we specialize in Dutch books. This is not the only consideration however. Many projects are based at a library and the corpus is selected from the library’s holdings. Other projects, like ours at Utrecht, selected a corpus from several libraries, based, besides on geographic origin, on the books’ subject matter and their importance in the tradition of the love emblem. Trivially, the size of the corpus determines the amount of detailed study one will be able to expend on individual books.

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It is not necessarily true, by the way, that emblem digitisation projects result in Internet sites. There are projects, such as the Studiolum project, which (at least at present) use the CD-Rom as their preferred medium of publication. For a commercial project, this may be a legitimate choice. For projects that are funded by public money, the decent choice seems to make available the results of our work to the scholarly community and the wider public through Internet-based publication.

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2.2 Full vs. partial digitisation There are several aspects concerning the choice between full and partial digitisation. On the book level projects have to decide whether or not to include non-emblem material (such as title pages, introductions, congratulatory poems, but also, for instance, the sermons and meditations which many later emblem books contain). It is clear that a project which perceives itself as providing an emblem database will make other choices than a project which aims at providing complete editions. Similarly, not all projects digitise full emblems. Those projects that intend to help discovery of emblems rather than provide full editions may limit themselves for instance to the motto, pictura and a main epigram and ignore the prose texts belonging to the emblem. For the edition type projects this is clearly not an option. 2.3 Text and/or image The choice to provide images (facsimiles) and / or texts intersects with the choice of doing full or partial digitisation. Clearly, some amount of both (text and image) is necessary. There are projects which provide full text and full image (Utrecht and Glasgow), full text and partial image (the Memorial web edition of Alciato), full image and partial text (Wolfenbüttel), and partial image and partial text (Illinois). Some factors will help explain these differences. Again, for an indexing project, a facsimile of text pages holds little value. But it is also a matter of resource availability and corpus size. 2.4 Editorial enhancement Many decisions have to be made about the amount of editorial enrichment, commentary and indexing which will be provided. Editorial enrichment starts out with the establishment of a text (choices about normalisation of spelling, punctuation and capitalisation, correction of errors, expansion of abbreviations). In a digital environment, these choices need not be exclusive: it is always possible to show the reader both the normalised and the original forms. Most projects give some kind of picture description, either in free format text or in key words. The key words may come from a controlled vocabulary, either a preexisting one or one made up during the digitisation process. The most thorough form of picture description is no doubt provided by the Iconclass system.4 Iconclass is a hierarchical system of numeric codes with predefined notations for thousands of subjects from western art history. It facilitates description of pictures with great accuracy, without ambiguity and independent of natural language. Its adequate use however, necessitates the employment of a trained art historian. References to other emblems, traditionally part of a free text commentary, are especially relevant in a digital environment, as they can take the form of hyperlinks to that other emblem – provided that one too is digitally available. The reference may be

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http://www.iconclass.nl. (October 1, 2008)

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to a source emblem, to an emblem which is in some respect parallel to the current one, or to a later imitation. The emblem writers’ often imprecise references to their textual sources can be checked and corrected where necessary. An adequate list of references to, for instance, biblical sources will facilitate the creation of an additional index to the emblem book and to the whole site’s collection. Many sites will also describe briefly the meaning of each individual emblem. Sites differ in just how brief this description should be. The Illinois site, for instance, has an index on ‘theme’ which might be, for instance ‘Christ as key to the next world’. In Munich, similar information is given in a ‘Kommentar’, which also describes just how the emblem expresses this meaning. Other indexes may be created, for instance on the emblems’ dedicatees, or on the days in the liturgical year to which the emblems were meant to be especially relevant. In Utrecht, we have experimented with an index on petrarchist motifs. On the emblem level, there may finally be a full commentary. What is certainly necessary, in our view, is an introduction to the digital edition, which explains the choices that have been made in its preparation. Many of the decisions about editorial enhancements will be based on our preference for an edition type or a database type of site. If we do it right, however, we can to some extent do both, as we’ll see below. 2.5 Site language A problem in itself is the choice of language for all the aspects of the site. For a German site about German emblems books, it seems natural that the site should be in German. Anyone that can understand the books can understand the site’s language, and vice versa. However, the situation is generally more complicated than that. The German sites also contain books that are at least partially in Latin, French, Spanish, or other languages. Researchers interested in those books do not necessarily understand German. In Illinois, which focuses on German books, the picture description keywords and the topos and theme indexes use English. In the Netherlands, we tend to use English too, as most of our books are polyglot and of interest to scholars that do not know Dutch. A separate issue is the one of translation. Should sites provide translations for the emblems they digitise? If so, should they be translated into the present-day version of the vernacular language the emblems employ, or (also) into English? The issue of language becomes especially acute once we try to aggregate several sites’ contents into a single archive. More about this issue below. 2.6 Access tools The tools for access to the emblems which the site provides to its visitor do very much depend, on the one hand, on the available material (text and image) and the indexes discussed above. On the other hand, they’re also crucially dependent on the

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technical solution chosen for the site’s architecture. On some sites, and the Glasgow emblem site is a good example of this, the main access to the emblems is through a table of contents. This of course fits very well with the ‘edition’ approach to emblem digitisation. Other sites, such as the Munich one, begin by presenting the visitor with a search window which gives access to the emblems in all of its books. Though there is, as we saw, more to the site than this, it begins by showing the world what you might call its ‘database face’. In Utrecht, we have opted for a hybrid choice. For each book, we show an opening page which gives access to a table of contents, a thumbnail page, a book introduction, an index page, and a concordance of key words in context. From the opening page, it is also possible to start browsing the emblems right away. 2.7 Technical aspects The last aspect we will discuss is the choice of a technical solution for storage and retrieval of the emblem book data. Though this should of course never be the primary consideration, it is a choice which very much determines what can be done later on, and it needs careful thought. We will leave aside here the choices to be made in the field of scanning, or digital photography. What we will discuss is the technical solution required for the emblems’ and commentaries’ texts and the sites’ indices. Some of the older emblem sites use HTML (HyperText Markup Language) as a medium for storing the site’s contents. HTML is the language which is used to define web pages. The advantage of this approach is that it is rather straightforward: the page which the visitor sees is the page which the editor makes. For serious work however, HTML as a storage medium is inadvisable. Of course, the visitor to the site will see HTML pages, but these HTML pages should be generated from the stored emblem information, which should not itself be HTML. The reason for this is that HTML is meant for presentation, and each new way of presenting the information needs new HTML. So, if we want our sites to be in some respects like a paper edition, in other respects like a database, we will need to continually reuse the same information in different ways. The only solution is to store the information in a richer format than HTML has to offer. For this richer format, some projects use a (relational) database, other projects use XML. XML, or eXtensible Markup Language, is a language much like HTML, but much more flexible and powerful. The Text Encoding Initiative (TEI) is a consortium that has provided guidelines for the adequate use of this flexibility. In Utrecht we are using XML/TEI, whereas Illinois is a typical example of a site based on a database. We will not go into detail about each option’s strengths and weaknesses. It seems fair to say that for projects that want complex text presentation and the possibility of complex text manipulation, XML is the superior choice. Projects that focus on indexing, rather than on full text features, will prefer a database, among other things for its simplicity. One of the central concerns in the choice for a technical solution should be the digital longevity of our labour’s output. In this respect especially, we believe XML is

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the superior solution, as it is a public standard, which cannot be hijacked by any software company. Besides, as XML focuses on content rather than presentation, it is also a very simple standard.

3.

Textual criticism in emblem digitisation

The hypertext environment of the Internet is eminently suited to the presentation of multilayered text and parallel text traditions. In many respects the Internet is an ideal environment for textual criticism. Search facilities, hyperlinks, unlimited storage space and page layout based on user preferences create unprecedented facilities for consultation, comparison and annotation of text versions. Nevertheless, emblem digitisation projects do not, at present, seem to engage in textual criticism. The reasons for this are in part of a practical nature: many projects are based at libraries that own a single copy of a work, and want to show their treasure to the world. The issue of comparison of copies here simply does not arise. Besides that there is the issue of funding: it is not easy to get funding for projects that focus on a single text for a long time. The more fundamental reason may be found in the nature of the emblem genre, and the reason for our interest in it. Much has been said about what textual criticism is, and what it should be. However different the opinions may be, a common presupposition is that there is, or has been, an original text, perhaps only as an authorial intention, and the purpose of textual criticism is an approach or approximation to this original text. When one studies emblems, however, one is not necessarily interested in this original text. What is interesting about the genre is rather the existence of parallels and contrasts in the historical transmission of the emblem motifs and texts. One of the reasons for this is that the concept of the author applies only to a very limited extent. Many books are anonymous, but nearly all are the fruit of a collaborative effort. One famous emblem book (Typus mundi, Antwerp 1627) was in fact written by a class of pupils at the Antwerp Jesuit college. In all but a few cases, the books’ creation involved a writer, a drawer, an engraver and a publisher. It was quite a common occurrence for emblem texts to be written to pre-existing copper plates or woodcuts. The reverse phenomenon (i.e. the creation of new, significantly modified cuts or plates for existing emblems) was also common practice. On the polyglot books, translators were called in for one or more languages. In many of these cases, the opinions expressed in the various languages are markedly different. All of which observations mean that one cannot presume that a single authorial intention has ever been there – if one can ever do so. There may never have been a single unitary work of art as we tend to conceive it. Besides that, the makers of emblem books were constantly borrowing: from the classics, the bible, the church fathers, and each other, they took texts, quotations, pictorial motifs, and whole emblem concepts. In this process of borrowing, the same elements were re-used over and over, and given new twists to suit the needs of the moment. To describe this process as a process of corruption would be to imply that a

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supposedly original version does tell us more about the period, its culture, its values and its modes of thought than a supposedly derivative one would. This is not to say that it would be impossible to apply the procedures of textual criticism to emblem books. However, one has to make choices. And in the case of the emblem book, it would be unwise to focus on the single book, rather than on the network of creative borrowings that is one of the great attractions of the genre.

4.

Cooperation between emblem digitisation projects

As we saw before, the emblem was a truly European phenomenon, and it is impossible to study its national manifestations without at the same time looking at developments in other European cultures. Emblem research is to a large extent comparative in nature, and what researchers need, beyond individual editions or collections, is an integration of the information present at the individual sites. For art historians, for instance, a single index of pictorial motifs would be of incalculable value. In September 2003, on the initiative of Prof. Mara Wade (Illinois), the presently active Internet based emblem digitisation projects met for a round table conference at the Herzog August Bibliothek. The main subjects of discussion were the possibility of creating a common emblem repository and the shared standards which such a common repository presupposes. It is here that the issue of language becomes very important: Dutch, English, German and Spanish language researchers, to name the most active, will have to find a way to share information. The issue of language however, is only the most visible one of a host of other complications. Intelligent searching presupposes agreement about the definition of the information items used in searching. Some progress has been made, especially thanks to the Spine, a template of emblem information items drawn up by Stephen Rawles of Glasgow University, and discussed in detail at the Wolfenbüttel conference. Thomas Stäcker, head librarian at the Herzog August Bibliothek, has since then reworked the Spine into an XML format, which in the future might serve as a common data format. At the conference it was decided that the Illinois project would host what was called the Open Emblem portal site. Though still in its infancy, the portal is now active. It contains data on many resources relevant to emblem research, and more importantly all of the information on the emblems digitised in Illinois and in Utrecht. Many things need to be straightened out, but searches over these two collections are now to some extent possible.

5.

Advanced research facilities

In this article, we have repeatedly encountered the ‘edition’ and the ‘database’ paradigms for emblem digitisation, and I have tried to argue that these need not exclude each other. I fact, there is no reason why emblem digitisation cannot go beyond these. In the future, in Utrecht we will add annotation facilities to the site: external researchers will be able to store and share their annotations to the emblems. We will create the possibility for external researchers to add links between emblems and emblem frag-

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ments, and to annotate these links. Researchers will be able to categorise emblems and emblem fragments, and to add their own indexes to the site. We will add possibilities to view the site not emblem by emblem, but as lists of mottoes, lists of Spanish language epigrams, etc. These lists will be downloadable in XML format, ready for further manipulation on the part of the emblem scholar. These facilities will be developed in conjunction with the Huygens Institute’s Editor project, which is a project that aims at the development of tools suitable for use in a wide range of digital editions. Facilities such as these will turn the edition into a scholar’s workbench. Once the scholar’s (intermediate or final) findings can be stored inside the electronic edition, the findings can be shown from, and in conjunction with, the edition. Scholarly writing, in so far as it is itself in electronic form, can hyperlink to web-based displays of these findings. All of which will have its impact on the processes of scholarly research and argumentation.

6.

Conclusion

Some of the choices which the emblem digitisation community faces will be specific to the emblem genre. The majority of the issues, however, will return in the digitisation efforts for many other literary genres. Most scholarly digitisation projects will be especially careful when it comes to the longevity of the projects’ output. Similarly, most projects will have a need for displaying multiple layers of annotation. Because of this, one may expect that the lessons learned in emblem digitisation will be useful to other prospective digitisation efforts.

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Appendix: emblem digitisation projects Project name Based at URL Corpus

Alciato’s Book of Emblems The Memorial web edition Memorial University, Newfoundland, Canada http://www.mun.ca/alciato/ Alciato’s Emblematum liber (in several editions), and (as secondary material) Whitney's Choice of Emblemes

Project name Based at URL Corpus

French Emblems at Glasgow Glasgow University http://www.emblems.arts.gla.ac.uk/french/ 27 French emblem books, in French and Latin

Project name Based at URL Corpus

The Study and Digitisation of Italian Emblems Glasgow University http://www.italianemblems.arts.gla.ac.uk/ 7 Italian books of emblems and devices

Project name Based at URL Corpus

Alciato at Glasgow Glasgow University http://www.emblems.arts.gla.ac.uk/alciato/ 17 editions of Alciato’s Emblematum liber

Project name

Digital emblematica (or: German Emblem Books. A digital imaging project) University of Illinois at Urbana-Champaign http://images.library.uiuc.edu/projects/emblems/ Initially, the German emblem books in the University of Illinois Library (67). At present, 20 books are available.

Based at URL Corpus

Project name Based at URL Corpus

Digitalisierung von ausgewählten Emblembüchern der frühen Neuzeit Bavarian State Library & Ludwig-Maximilians-Universität, München http://mdz1.bib-bvb.de/~emblem/index.html 139 mainly German books are available in a prototype database (some only partially). The full list of books that has been fully or partially digitised is at http://mdz1.bib-bvb.de/~emblem/digcpl.html.

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Project name Based at URL Corpus

Emblem Project Utrecht Utrecht University, the Netherlands http://emblems.let.uu.nl 25 books of Dutch love emblems

Project name Based at URL Corpus

Emblematica online Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, Germany http://www.hab.de/forschung/projekte/emblematica-e.htm Mainly German emblem books from the collection of the Herzog August Bibliothek. A full list of digitised books is at http://www.hab.de/bibliothek/wdb/emblematica/signaturenliste.htm. Ten books have been indexed at page level.

Project name Based at URL Corpus

English Emblem Book Project Pennsylvania State University http://emblem.libraries.psu.edu/ 9 English language emblem books. A list is available at http://emblem.libraries.psu.edu/catalog.htm.

Project name Based at URL Corpus

Proyecto de Investigación sobre Literatura Emblemática Hispánica La Coruña University, Spain http://rosalia.dc.fi.udc.es/cicyt/ A collection of +/- 30 Spanish emblem books. The full list is at http://rosalia.dc.fi.udc.es/cicyt/obras.html.

Project name Based at URL

Studiolum Studiolum, Hungary http://www.studiolum.com/ At present Studiolum’s publication medium is the Cd-Rom, not the Internet. An extensive corpus from the whole emblem tradition, including related material (Erasmus, Ripa, numismatics, hieroglyphics, etc.).

Corpus

Not specifically dedicated to emblem digitisation: Project name Based at URL Corpus

Mannheimer Texte Online (Mateo) Mannheim University http://www.uni-mannheim.de/mateo/ The project is not an emblem digitisation project. In the series Marabu and Camena, however, some emblem books have been digitised.

Peter Boot

302 Project name Based at URL Corpus

Bibliothèques Virtuelles Humanistes Tours University http://www.bvh.univ-tours.fr/ The project is not an emblem digitisation project. However, some emblem books have been digitised.

And finally, the emblem digitisation portal site: Project name Based at URL Corpus

OpenEmblem Portal University of Illinois at Urbana-Champaign http://media.library.uiuc.edu/projects/oebp/ Apart from many links to other resources, the site should eventually contain all emblem (meta-) data from participating projects. At present, data from the Emblem Project Utrecht and the Illinois Digital emblematica project are available.

(All hyperlinks checked October 2008).

Erwin Gartner / Klaus Kastberger

Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe Grundlagen und Maximen

Die Wiener Ausgabe Ödön von Horváths, die ab 2009 bei de Gruyter erscheint, bietet eine kommentierte, kritisch-genetische Edition sämtlicher Werke, Briefe und Notizbücher des Autors. Den Ausgangspunkt der Edition stellt der Nachlaßbestand Ödön von Horvaths am Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien dar; dieser umfaßt mehr als 5000 Blatt, wobei es sich zu über 95 Prozent um Werkmaterialien zu schriftstellerischen Arbeiten, also um Konzepte, Skizzen und Fassungen zu Stücken und Prosaarbeiten und um nicht weiter ausgeführte Entwürfe handelt. Textgenetisches Material blieb zu fast allen Stücken des Autors erhalten, besonders viel zu Geschichten aus dem Wiener Wald, Kasimir und Karoline, Glaube Liebe Hoffnung und Pompeji. Was die Prosa betrifft, sind im Nachlaß umfangreiche Konvolute zu Der ewige Spießer und Ein Kind unserer Zeit vorhanden, wobei bei letzterem eine eigentliche Druckvorlage fehlt, was auch bei einigen Stücken Horváths der Fall ist. Im Nachlaßbestand findet sich weiters eine Gruppe mit kleiner Prosa, darunter ein Konvolut zu den Sportmärchen, eine Gruppe mit theoretischen und autobiographischen Texten, einige wenige Gedichte sowie eine Gruppe mit Arbeiten für Film und Rundfunk. Der größte Teil des Nachlaßbestandes, der von Anfang der 1960er Jahre bis Ende der 1980er Jahre in der Akademie der Künste in Berlin untergebracht war, wurde in der einen oder anderen und oftmals auch in zwei- oder mehrfacher und dabei immer wieder voneinander abweichender Form von Traugott Krischke ediert. Grundlegend ist die vierbändige Ausgabe der Gesammelten Werke (im folgenden abgekürzt mit GW), die Krischke gemeinsam mit Dieter Hildebrandt (und bei den ersten drei Bänden noch unter Beteiligung von Walter Huder) 1970/71 herausgegeben hat. Bei dieser Ausgabe, die wie alle weiteren Horváth-Editionen im Suhrkamp-Verlag erschien, handelte es sich um ein sehr ehrgeiziges Projekt. Nicht nur die Letztfassungen der Texte wurden präsentiert, sondern auch ein umfangreicher Bestand an Fragmenten, Varianten und Exposés, der den vierten Band der Ausgabe fast vollständig füllte. Ergänzend zu den Gesammelten Werken erschienen unter Krischkes Herausgeberschaft nach 1971 die meistverkauften Werke Horváths als Taschenbuch, daneben legte der Verlag in der Bibliothek Suhrkamp um singuläre Vorarbeiten und Fassungen erweiterte Ausgaben (beispielsweise von Kasimir und Karoline, Glaube Liebe Hoffnung und Geschichten aus dem Wiener Wald) vor. In der Neuausgabe der Gesammelten Werke, die 1978 in acht Bänden erschien und in welcher nunmehr Walter Huder als Herausgeber fehlte, haben Krischke und Hildebrandt fehlende Quellenangaben teilweise

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Erwin Gartner / Klaus Kastberger

nachgereicht. In der ab 1983 von Traugott Krischke unter Mitwirkung von Susanne Foral-Krischke herausgegebenen Kommentierten Werkausgabe in Einzelbänden (im folgenden abgekürzt mit KW) wurden erneut Versuche zu einem besseren Ausweis der Kriterien und einer höheren Überprüfbarkeit der Editionen gemacht. Die Kommentierte Werkausgabe war ursprünglich auf 15 Bände projektiert, den editorisch schwierigsten letzten Band mit Skizzen und Fragmenten legten die Herausgeber jedoch nicht mehr vor. Am grundlegenden Problem von Krischkes Editionen haben die Nachbesserungen, die nicht zuletzt auf Druck der Horváth-Forschung erfolgten, nichts geändert: Die Herausgeber verfügten nicht über die editionstechnischen Möglichkeiten und die philologische Sorgfalt, um ihre Ziele zu erreichen. Krischkes Ausgaben wollten ja stets mehr als nur einfache Leseausgaben sein. So wurde oft mit inadäquaten Mitteln versucht, neben den Letztfassungen auch das genetische Material des hochkomplexen Horváthschen Arbeitsprozesses zu präsentieren. Das Versäumnis Traugott Krischkes besteht nicht so sehr darin, von Horváth zu wenig, sondern – beinahe schon im Gegenteil – zu viel und vor allem: ohne klar ausgewiesene Kriterien ediert zu haben. Unzulänglichkeiten im Detail lassen sich überall dort feststellen, wo frühe Fassungen, aber auch Konzepte und Entwürfe transkribiert wurden. In Typoskripten mit handschriftlich nachgetragenen Korrekturen, wie sie bei Horváth häufig sind, wurde von Krischke meist offen gelassen, welche Schicht der Edition zugrundeliegt. In den für Horváth typischen Konzeptblättern, in denen graphische Elemente und die Verteilung des Textes auf der Blattfläche eine wichtige Rolle spielen, wurde in den Editionen die topographische Anordnung nur mangelhaft ausgewiesen, bzw. wurden manche Teile in den Umschriften einfach weggelassen. Ungeklärt sind in vielen Fällen die werkgenetischen Zusammenhänge der edierten Textstufen geblieben. Krischkes Ausgaben haben hier ganz wesentlich von der Berliner Nachlaßordnung profitiert, blieben aber auch den dortigen Unsicherheiten und Irrtümern verhaftet – ein Problem, mit dem wir uns weiter unten eingehend beschäftigen werden. Anhand der konkreten Materialien aus Horváths Nachlaß werden nicht nur die Unzulänglichkeiten der bestehenden Ausgaben, sondern auch die vorhandenen editorischen Möglichkeiten deutlich. Die Neuedition der Werke in der Wiener Ausgabe wird sich an den einzelnen Etappen des Horváthschen Produktionsprozesses orientieren; einzelne Textstufen werden sauber isoliert, einer präzisen Transkription unterzogen und anhand ausgewiesener Kriterien in eine genetische Reihenfolge gebracht werden. Daß Ödön von Horváth von der Art seines Schreibens ein immens moderner Autor gewesen ist – ein Monteur, der an seinem Textmaterial herumgeschnitten und es immer wieder neu zusammengeklebt und vielfach überarbeitet hat – ist in der HorváthForschung seit langem bekannt. Angesichts der komplexen Textur der Horváthschen Werke ist es wahrscheinlich, daß die literaturwissenschaftliche Forschung im Fall dieses Autors auch weiterhin textnahe arbeiten wird. Hierfür ist eine verläßliche Textbasis nötig, die den Entstehungsprozeß der Horváthschen Werke in einer philologisch überprüfbaren Art ausweist und innerhalb des Gesamtwerkes auch dort für Sicherheit sorgt, wo man derzeit weitgehend auf Spekulationen angewiesen bzw. auf in der Forschung tradierte Fehleinschätzungen zurückgeworfen ist, wie beispielsweise in der

Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe

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werkgeschichtlichen Zuordnung vieler Horváthscher Entwürfe gerade aus der Spätphase seines Schaffens. Grundlegende Schritte in Richtung einer kritisch-genetischen Ausgabe, die eine Basis für eine Neuinterpretation des Horváthschen Werkes sowohl in der Literaturwissenschaft als auch auf der Theaterbühne schafft, wurden am Österreichischen Literaturarchiv in den vergangenen Jahren unternommen. Anhand des umfangreichen genetischen Konvoluts zu den Geschichten aus dem Wiener Wald konnte der komplexe Arbeitsprozeß des Autors anschaulich gemacht und ein konkret umsetzbares Editionsmodell entwickelt werden. In einem Supplementband zur Kommentierten Werkausgabe1 wurden auf der Grundlage der originalen Typoskripte Prosafragmente ediert, die im Buchhandel jahrzehntelang nicht greifbar waren. Bei manchen dieser Texte handelt es sich um Erstveröffentlichungen, die in den bisherigen Ausgaben vergessen oder übersehen wurden. Darüber hinaus finden sich in dem Band erstmals alle Arbeiten Horváths für Rundfunk und Film. Seit Anfang 2003 läuft nunmehr am Österreichischen Literaturarchiv ein vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstütztes Projekt (Leitung: Dr. Klaus Kastberger, Mitarbeit: Mag. Erwin Gartner), in dem weitere Grundlagen einer kritisch-genetischen Ausgabe geschaffen und die ersten Bände der Wiener Ausgabe vorbereitet werden. Besonders wichtig erscheint uns dabei auch weiterhin die an Einzelbeispielen unternommene Verknüpfung der editorischen Arbeit mit Fragestellungen der Interpretation. Textgenetische Einzelstudien auf der Basis des Nachlaßbestandes, die wir im Rahmen eines Symposiums zum 100. Geburtstages des Autors angeregt haben2, scheinen nach wie vor gefordert: Sie vermögen die HorváthForschung nicht nur sinnvoll zu ergänzen und lebendig zu erweitern, sondern in manchen Fällen auch ganz klare Fehlurteile zu korrigieren. Die Geschichte des Nachlasses von Ödön von Horváth und die Probleme der bestehenden Editionen wurden bereits eingehend dargestellt.3 Im Folgenden sollen nunmehr anhand der bestehenden Ordnung des Nachlasses die konkreten Voraussetzungen der Wiener Ausgabe dargelegt sowie anhand einiger Einzelbeispiele interpretatorische Möglichkeiten aufgezeigt werden, die sich mit einer kritischen Revision der bestehenden Ausgaben eröffnen. Das einzige Dokument, aus dem sich die Prinzipien der in Berlin herbeigeführten Nachlaßordnung erschließen lassen, ist ein Bericht der damaligen Nachlaßbearbeiterin Lieselotte Müller, der 1971 im Jahrbuch für Internationale Germanistik veröffentlicht wurde.4 Den Ausführungen läßt sich entnehmen, daß der Nachlaß zum Zeitpunkt sei-

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Ödön von Horváth: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. von Klaus Kastberger. Frankfurt a.M. 2001 (suhrkamp taschenbuch 3347). Vgl. dazu die Aufsätze in: Ödön von Horváth. Dumme Unendlichkeit, unendliche Dummheit. Hrsg. von Klaus Kastberger. Wien 2001 (Profile Band 8), S. 108–130. Vgl. dazu Klaus Kastberger: Ödön von Horváth. Voraussetzungen einer kritisch-genetischen Ausgabe. In: editio 15 (2001), S. 168–176. Lieselotte Müller: Zum Ödön-von-Horváth-Nachlaß. Bericht über den Versuch, ein Ordnungssystem für das Manuskriptmaterial des Ödön-von-Horváth-Archives zu entwickeln. In: Jahrbuch für Internationale

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Erwin Gartner / Klaus Kastberger

ner Übernahme durch die Akademie der Künste in Berlin „grob vorgeordnet und nach Stücken sortiert“5 war, wobei „die Ordnung nicht von der Art [war], daß sich etwa bestimmte ‚Fassungen‘ hätten herausheben oder die Aufeinanderfolge der Niederschriften hätte rekonstruieren lassen“.6 Ein ursprünglicher Befund der Nachlaßordnung wurde nicht festgehalten7; die Basis der Neuordnung sollte die Arbeitsweise Horváths sein: Er verfaßte zunächst einen kurzen Entwurf von wenigen Seiten. Darauf führte er ihn aus, indem er schon den ‚ersten Durchgang‘ – von ‚Fassungen‘ kann man bei Horváth nur selten sprechen – direkt in die Schreibmaschine tippte. Diesen korrigierte er handschriftlich, änderte, schob Zusätze ein, strich usw., tippte den neuen Text entweder im ganzen oder – in der Regel – teilweise ab, indem er verworfene Textstücke herausschnitt und neue einklebte. Horváth setzte dieses Verfahren so lange fort, bis ein fertiges Manuskript im ganzen von einer Schreibkraft abgetippt werden konnte.8

Diese Beschreibung trifft auf die Entstehung der meisten Stücke und Romane Horváths zu. Doch verschweigt Müller die Konstruktionspläne, die Horváth nicht nur vor, sondern auch während des Ausformulierens hergestellt hat, um sich über die Makrostruktur des Textes klar zu werden und diese entsprechend der im Zuge der Ausarbeitung gewonnenen Erkenntnisse9 oder der vom Verlag oder dem Theater gestellten Anforderungen zu adaptieren.10 Das bedeutet, daß die Textproduktion bei Horváth nicht notwendigerweise linear und sukzessive auf ein fertiges Manuskript hin zielt, sondern immer wieder mit Brüchen und Sprüngen zu rechnen ist. Müllers streng teleologische Sichtweise der Horváthschen Textproduktion findet ihre Entsprechung in der Tatsache, daß sie in der Ordnung des Nachlaßmaterials die jeweilige Endfassung als Ausgangspunkt nahm und die Genese von dort weg bis zum ersten Entwurf zurückzuverfolgen suchte.11 Die Herkunft der Blattschnipsel wurde über einen Vergleich der Textanschlüsse und der Schnittkanten in akribischer Arbeit bestimmt, wobei im Zuge dieser Arbeit manche Markierungen mit Blei- oder Farbstift direkt in die Originale eingetragen wurden. Bei den von Horváth beidseitig verwendeten Blättern wurde jeweils eine Seite xerokopiert und die Kopie als Platzhalter des Originals verwendet. Müller legte die Blätter mit fortlaufendem Text „senkrecht untereinander, solche mit gleichem Text waagrecht nebeneinander, und zwar die früheren Textstufen links

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Germanistik 3 (1971) H. 2, S. 350–365; auch in: Über Ödön von Horváth. Hrsg. von Dieter Hildebrandt, Traugott Krischke. Frankfurt a.M. 1972, S. 123–130. Müller 1971 (Anm. 4), S. 350. Ebd. Die Begründung: „Bevor der Nachlaß in die Akademie kam, ist er vielfach durchgesehen und benutzt worden. So stellte sich nicht die Aufgabe, einen etwa auf den Autor zurückgehenden Lagebefund zu bewahren und zu sichern; damit standen aber auch die Auskünfte, die ein solcher Lagebefund geben kann, nicht zur Verfügung.” Müller 1971 (Anm. 4), S. 351. Müller 1971 (Anm. 4), S. 352. Horváths Schreiben pendelt zwischen Assimilation von (Wissens-)Elementen in einer Struktur und der Akkomodation dieser Struktur. Zu Terminologie und Modell des epistemisch-heuristischen Schreibens vgl. Hanspeter Ortner: Schreiben und Denken. Tübingen 2000 (Reihe Germanistische Linguistik. 214), S. 214f. Es gibt kaum ein Stück Horváths, das nicht in zwei Fassungen vorliegt. Müller 1971 (Anm. 4), S. 352.

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neben die späteren Blätter.“ Der genetische Befund sollte dann in einem Lageplan festgehalten werden. Die geringe Kapazität des Plans zwang die Bearbeiterin jedoch zu Maßnahmen, die der intendierten Funktion entgegenstanden. Das Material mußte bei längeren Texten entsprechend struktureller Einheiten fraktioniert werden, denn „es durften nicht mehr Blätter in eine Mappe eingelegt werden, als auf einem Lageplan noch übersichtlich gezeichnet werden konnten, und das war für einen Akt oder ein Bild meist möglich.“13 Struktureinheiten (wie Akte und Bilder) sind bei Horváth zwar oft, jedoch nicht immer Einheiten der Produktion.14 Die Aufteilung des Materials in solche Einheiten, deren maximale Größe allein von der Darstellungskapazität der gewählten Form des Lageplans abhängig ist, stellt somit einen sehr groben Eingriff in die ursprüngliche Ordnung des Nachlaßbestandes dar; entstehungsgeschichtliche Phasen wurden willkürlich auseinandergerissen und genetische Materialeinheiten gewaltsam getrennt.15 Das Material einzelner Arbeitsphasen wurde in der Berliner Umordnung oft über mehrere Mappen verteilt. Aufgrund formaler und inhaltlicher Indizien vermag es jedoch relativ einfach aufeinander bezogen werden. Als wesentlich schwieriger erweist es sich, die Ordnung des Materials innerhalb einer Berliner Mappe zu verstehen. Um den Grund dafür zu ermitteln, soll der Lageplan untersucht werden, der Müllers Artikel als Beispiel beigefügt ist (siehe Abbildung 1 Seite 315). Der abgebildete Lageplan stellt das genetische Material zum 2. Bild von Horváths Komödie Pompeji dar. In der Optik des Plans spiegelt sich deutlich die Tatsache wider, daß die Endfassung des Bildes der Ausgangspunkt der Ordnung ist. Neben ihr befinden sich vorwiegend Blattstücke, die Horváth abschnitt und durch neues Textmaterial ersetzte; wobei gleiches Muster gleiche Herkunft bedeutet. Die durch die vielen Ersetzungsvorgänge entstehende genetische Schichtung, die an unterschiedlichen Textpositionen unterschiedlich stark ausgeprägt ist, hätte das Format des Lageplans gesprengt und wurde deshalb komprimiert: „Zugunsten der Möglichkeit, die Blätter auf einer begrenzten Fläche anzuordnen, müssen in meiner Darstellung manchmal Verbindungen im Text zerrissen werden.“16 Dieses Manko gleicht Müller durch Markierungen im Lageplan aus. Die Sternchen am Fuß von Bl. 35 und am Kopf von Bl. 8 zeigen an, daß diese Textträger syntaktisch zusammenhängen. Obwohl diese Sternchen zusätzlich auch auf den Originalen eingetragen sind, ist es schwer, den Zusam-

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Ebd. S. 351. Ebd. S. 354. Horváth praktiziert in der Phase der Ausformulierung ein sogenanntes „produktzerlegendes“ Schreiben. Vgl. Ortner 2000 (Anm. 9), S. 284ff. Dazu kommen zusätzliche Probleme in manch einem Einzelfall: So wurde beispielsweise beim Konvolut zu Horváths Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald in der Berliner Nachlaßordnung die Bilderfolge der Endfassung als Ordnungsrahmen für das gesamte Material gewählt, obwohl die früheren Fassungen, aus denen der Großteil des genetischen Materials stammt, anders strukturiert sind. Vgl. dazu Klaus Kastberger: Revisionen im Wiener Wald. Horváths Stück aus werkgenetischer Sicht. In: Ödön von Horváth. Unendliche Dummheit – dumme Unendlichkeit. Hrsg. von Klaus Kastberger. Wien 2001 (Profile 8), S. 108–130. Müller 1971 (Anm. 4), S. 355.

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menhang zu erkennen.17 Dies wurde Traugott Krischke zum Verhängnis: Da die Blätter mit der von Horváth stammenden Paginierung 11 bis 14 (= Bl. 8-11) in der Berliner Mappe unmittelbar hinter den Seiten 8 und 9 (= Bl. 6 und 7) zu liegen gekommen sind, glaubte er, es mit einer einzigen Fassung zu tun zu haben, die er dann in Band 10 der Kommentierten Werkausgabe auch als eine solche edierte, während es sich hier aber eigentlich um zwei voneinander unabhängige Textstufen handelt. Das in seiner Edition vermeintlich fehlende Textzwischenstück, bei dem es sich in Wahrheit um einen komplexen Materialienbestand handelt, an dem sich gerade die Trennung der beiden Textstufen zeigt, kennzeichnete Krischke durch drei Punkte in eckigen Klammern.18 Der Lageplan von Lieselotte Müller, der die komplizierten werkgenetischen Verhältnisse abzubilden versucht, wurde von Krischke nicht richtig verstanden. Anstatt den Lageplan zur Basis seiner Edition zu nehmen, hat er in der Mappe nebeneinanderliegende Blätter als genetische Einheiten gewertet und ediert. Im Zuge der in Berlin durchgeführten Umordnung des Nachlaßbestandes ist es aber gerade zur Auflösung solcher genetischer Einheiten in der Ablage gekommen. Trotz der vielen Unregelmäßigkeiten und Detailfehler, die in der Gesamtordnung des Materialienbestandes zu erkennen sind, vermittelt das Berliner System der Ablage ein relativ kohärentes Bild. Allgemein läßt sich sagen, daß die Berliner Ordnung von Horváths Nachlaß einem aus heutiger Sicht als veraltet zu bezeichnenden Editionskonzept verpflichtet ist. Die Ordnung orientiert sich an der Endfassung des Textes, dem dann das jeweilige genetische Material paradigmatisch zugeordnet wird.19 Die bestehende Nachlaßordnung läuft gleichsam auf einen Variantenapparat20 hinaus und bildet damit eine denkbar schlechte Grundlage für eine Ausgabe, die ein wirklich produktionsbezogenes Editionskonzept verfolgt, also die Darstellung von syntagmatischen Zusammenhängen und den Ausweis klarer Phasen der Textentstehung favorisiert. Eine tatsächliche Um- bzw. Rückordnung der Nachlaßmaterialien würde eine solch kritisch-genetische Ausgabe zwar erleichtern, jedoch letztlich ebenso wie die Berliner Ablage an der Arbeitsweise Horváths scheitern. Denn Horváth übernahm, wie zuvor bereits erwähnt, immer wieder Textträger und Teile davon in spätere Textstufen; ein und derselbe Textträger ist solcherart oft an mehreren genetischen Positionen zu denken. Eine anhand der realen Materialien unternommene und dabei stets statisch bleibende Ablage kann die Dynamik solcher Materialwanderungen unmöglich wiedergeben. Auch wenn einiges dafür gesprochen hätte, wurde in Wien von einer

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Müller weiß von der Notwendigkeit der Lagepläne: „In der Blattzählung liegen deshalb öfters Blätter hintereinander in der Mappe, die ihrem Text nach nicht nacheinander zu lesen sind. Für eine sinnvolle Lektüre muß man also nach dem Plan, der jeder Mappe beigefügt ist, die interessierenden Blätter aussuchen.“ Müller 1971 (Anm. 4), S. 356. Vgl. dazu KW 10, S. 389. Aus welchem Grund Krischke das an Bl. 11 anschließende Bl. 11a, das das Szenenende enthält, nicht edierte, ist unklar. Auf manch einem Textzeugen wurde sogar die Seitenziffer eingetragen, die er in der Endfassung tragen würde. Eine darauf basierte Ausgabe ließe, wie es Hermann Zwerschina treffend formuliert, „nicht die ‚Werkgenese‘, sondern lediglich die ‚Einzelstellengenese‘ erkennen”. Hermann Zwerschina: Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 203–229, hier S. 210.

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materiellen Rückordnung des Nachlasses abgesehen. Als Basis der Wiener Ausgabe dient eine virtuelle Ordnung, das heißt, es werden neue Lagepläne (exakter: Simulationsgraphiken) erstellt, die nunmehr die tatsächliche Genese eines Textes darstellen. Die früheste Textstufe wird als Ausgangspunkt gewählt, und die im realen Produktionsprozeß weiterwandernden Textträger werden auf allen rekonstruierbaren Positionen angezeigt (siehe Abbildung 2 Seite 316). Im Falle des von Lieselotte Müller gewählten Beispiels sieht die Wiener Darstellung folgendermaßen aus: Horváth beginnt nach einem handschriftlichen Szenenentwurf (Bl. 1-3) mit der maschinschriftlichen Ausarbeitung des Szenenanfangs auf Bl. 6 und 7 (vgl. dazu die Kolumne 2 der Simulationsgraphik). Die Seitenziffer „8“ legt nahe, daß Horváth das erste Bild zu dem Stück Pompeji zu diesem Zeitpunkt bereits fertiggestellt hat. Horváth bricht mit der maschinschriftlichen Ausarbeitung auf Bl. 7 ab, korrigiert handschriftlich die maschinschriftliche Grundschicht und notiert am Fuß von Bl. 7 den weiteren Dialog. Daraufhin schreibt er es rein; diese Reinschrift (Bl. 12) ersetzt Bl. 7 materiell, das anschließende Blatt ist nicht überliefert. Bl. 12 wird nun seinerseits von einem Blatt ersetzt, das sich aus dem oberen Teil von Bl. 22 und dem Bruchstück Bl. 16 zusammensetzt und an das dann zuerst Bl. 13 und später Bl. 17 angefügt wird. Diese Ersetzungskaskade zeigt, daß Horváth mit der Ausarbeitung des Textes nur geringfügig weiterkommt. In Kolumne 7 macht er deshalb einen größeren Rückschritt. Er schneidet Bl. 16 ab und klebt neues Textmaterial an. Jetzt kommt er bis zur Seite 11 (= Bl. 5). Dann ersetzt er den Szenenbeginn (Kolumne 8 bzw. 9) und fügt an die aus Kolumne 7 übernommenen Blätter neue Blätter an (Kolumne 10). Wie dieses Beispiel zeigt, kommen in den Wiener Simulationsgraphiken die Ersetzungs- und Übernahmevorgänge optisch wesentlich besser zur Geltung als in den Berliner Lageplänen. Ersichtlich wird, wie viel konkrete Produktionsarbeit zwischen den beiden von Krischke zusammenhängend edierten Blattreihen (in unserer Darstellung Bl. 6 und 7 von Kolumne 2 und Bl. 8 bis 11 von Kolumne 10) liegt. Im Unterschied zum Modell der Berliner Lagepläne zeigen die Wiener Simulationsgraphiken zudem alle rekonstruierbaren genetischen Reihen an. Für die konkrete editorische Umsetzung kann aus den vorhandenen Möglichkeiten eine aussagekräftige Auswahl getroffen oder aber auch eine Gesamtedition des vorhandenen Materials und der insgesamt möglichen Textstufungen unternommen werden. In welche Richtung sich die Wiener Ausgabe konkret entscheiden und inwiefern sie dabei drucktechnische und/oder elektronische Publikationsformen zum Einsatz bringen wird, hängt auch von pragmatischen Faktoren wie den verlagstechnischen Gegebenheiten und der finanziellen Bedeckung der Forschungsarbeiten ab; im Detail sind diese Entwicklungen noch nicht

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Der vor der Berliner Umordnung gegebene Zustand des Nachlasses, in den zwischen 1945 und 1962 zudem wohl auch Lajos von Horváth, der Bruder und Erbe des Autors, eingegriffen hat (zur Geschichte des Nachlasses vgl. Kastberger 2001 (Anm. 3), S. 168f.), hätte sich mangels von Aufzeichnungen nicht wieder herstellen lassen. Zudem hat sich zur Zitierung des Nachlasses in der Horváth-Forschung mittlerweile die sogenannte Berliner Mappensignatur (BS) etabliert. Diese Signatur hat zwar den Nachteil, nicht alle Nachlaßbestandteile zu umfassen und nicht ein jedes Einzelblatt zu spezifizieren, bietet aber zumindest eine grobe Orientierung. In Wien wurde der Bestand in der Berliner Ordnung belassen und mit einer zusätzlichen Signatur versehen, die die Leerstellen der Berliner Signatur füllt und zu dieser eine Konkordanz herstellt.

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abzusehen. Um die Irrtümer und Mißverständlichkeiten der bestehenden Ausgaben rasch zu beseitigen und der Horváth-Forschung eine abgesicherte Textbasis zur Verfügung zu stellen, ist in einem ersten Schritt zunächst an eine kritisch-genetische Leseausgabe gedacht. Damit wäre erstmals eine tatsächliche Überprüfbarkeit des edierten Textes anhand des Nachlaßbestandes und klare Darlegung der editorischen Auswahl- und Bewertungskriterien gegeben. Wie wenig die bisherigen Ausgaben diesen grundsätzlichen Anforderungen genügen, soll an Horváths Gebrauchsanweisung dargestellt werden, zumal es sich hier um einen Text handelt, der seit Mitte der 1960er Jahre sowohl für die wissenschaftliche als auch die inszenatorische Interpretation seiner Stücke maßgeblich ist. Da Horváth in diesem Text seine dramaturgischen Maximen anhand seines Volksstücks Kasimir und Karoline illustriert, meinte Traugott Krischke, daß dieser Text nach der Uraufführung dieses Stückes im November 1932 entstanden sei.22 Er behauptete, daß in den Text „viele Aspekte seiner Überlegungen aus dem Gespräch mit Willi Cronauer im Frühjahr 1932 einfließen.“23 Tatsächlich verlief der Transfer aber genau umgekehrt. Anhand von Horváths Markierungen auf den Typoskriptblättern läßt sich relativ leicht ersehen, daß Horváth Teile der längsten Fassung der Gebrauchsanweisung in die Fassung der schriftlichen Vorlage des Interviews mit Cronauer übernahm. Die Gebrauchsanweisung entstand demzufolge früher als das Interview, das am 5. 4. 1932 im Bayrischen Rundfunk gesendet wurde. In dem solcherart verschobenen Kontext ist die Gebrauchsanweisung als eine Anweisung für die bevorstehende Erstinszenierung von Kasimir und Karoline und als eine Reaktion auf die Uraufführung der Geschichten aus dem Wiener Wald zu verstehen. Ein zusätzlicher Beleg dafür findet sich in einer Fassung des Textes, in der Horváth auf Paul Fechters Rezension der Geschichten aus dem Wiener Wald Bezug nimmt.24 Die bisherige Editionspraxis der Gebrauchsanweisung ist folgende: In der ersten Werkausgabe (1970/71) ist in Band 4 unter der Abteilung Theoretisches, Briefe, Verse ausschließlich die früheste und längste der insgesamt fünf Textstufen abgedruckt.25 Sie wird im Anmerkungsteil als Endfassung bezeichnet, obwohl der in Klammern gesetzte Zusatz „mutmaßlich“ den Zweifel der Herausgeber an dieser Einschätzung verrät.26 Der Text folgt der spätesten Korrekturschicht, wurde jedoch stillschweigend ‚geglättet‘. So lautet der zentrale Satz, mit dem Horváth die Funktion der Regieanweisung Stille beschreibt: „hier kämpft das Bewußtsein oder Unterbewußtsein miteinander, und das muß sichtbar werden.“27 Im Original steht: „hier kämpft sich das Bewustsein oder Unterbewustsein miteinander, und das muss sichtbar werden.“28 Die grammatikalische Unsicherheit zeigt, daß dem Text Entwurfscharakter zukommt.

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Vgl. dazu GW 4, S. 44* und KW 10, S. 270. Traugott Krischke: Ödön von Horváth: Kind seiner Zeit. Berlin 1998, S. 156. Vgl. dazu Nachlaß Ödön von Horváth, ÖLA 3/W 234 – BS 64 f. GW 4, S. 659-665. Das gleiche gilt auch für den 1972 in der Bibliothek Suhrkamp erschienen Band Kasimir und Karoline. Vgl. dazu: Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline. Hrsg. von Traugott Krischke. Frankfurt a.M. 1972 (Bibliothek Suhrkamp 316), 149–155. Vgl. dazu den Herausgeber-Kommentar in GW 4, S. 44*. GW 4, S. 664. Nachlaß Ödön von Horváth, ÖLA 3/W 236 – BS 64 h, S. 6.

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Dieses Merkmal geht durch den unausgewiesenen editorischen Eingriff verloren. Im Band 11 der Kommentierten Werkausgabe (1988) wird der Eindruck, daß es sich bei dieser Fassung um die letztgültige handelt, noch verstärkt, indem sie unter der Abteilung Autobiographisches und Theoretisches abgedruckt ist, während alle anderen Fassungen in der Abteilung Entwürfe und Varianten zu finden sind. Sowohl die Reihenfolge des Abdrucks als auch der Herausgeberkommentar legen nahe, daß es sich hierbei um Vorstufen handelt. Die Ausgabe von 1988 fällt damit hinter die Erstedition des Materials im Materialienband zu Kasimir und Karoline aus dem Jahre 1973 zurück.29 In diesem Band ist die korrekte entstehungsgeschichtliche Reihenfolge wiedergegeben, und aus ihr geht hervor, daß es sich bei der längsten Fassung um einen typischen ‚ersten Durchgang‘ handelt und daß der Text trotz weiterer Ansätze über den Versuch der Ausformulierung nicht hinauskam. In der „Kommentierten Werkausgabe“ hingegen wurde (offensichtlich wider besseres Wissen) der Kanonisierung der ‚ergiebigsten‘ Fassung der Gebrauchsanweisung das Wort geredet.30 Die Edition aus dem Jahre 1973 ist auch in anderen Punkten wissenschaftlich fundierter als die spätere Werkausgabe. Obwohl die genetischen Zusammenhänge mit dem Interview nicht bemerkt wurden, gibt man sich bei der Festlegung der Entstehungszeit etwas vorsichtiger. In der Vorbemerkung heißt es, daß die Gebrauchsanweisung „anläßlich von Kasimir und Karoline konzipiert“31 wurde, womit nicht unbedingt die Uraufführung, sondern auch die Fertigstellung des Dramas gemeint sein kann. Die Textdarbietung ist ebenfalls professioneller. Die jeweilige Textgrundlage wird kurz beschrieben, der Text der maschinschriftlichen Grundschicht ohne Eingriffe in die Grammatik präsentiert, die handschriftlichen Korrekturen und Einfügungen Horváths in einem lemmatisierten Variantenapparat verzeichnet. In diesen Apparat ist nun auch jene Notiz verbannt, die Horváth am rechten oberen Eck der ersten Seite neben dem Titel Gebrauchsanweisung eingefügt hat und die in den anderen Editionen irreführenderweise wie ein Motto unmittelbar unter dem Titel steht: „Das dramatische Grundmotiv aller meiner Stücke ist der ewige Kampf zwischen Bewußtsein und Unterbewußtsein.“32 Obwohl bei der Edition im Materialienband sorgfältiger gearbeitet

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Das bereits angesprochene Interview erfuhr im ebenfalls 1973 erschienenen Materialienband zu Horváths Stück Glaube Liebe Hoffnung dieselbe editorische Behandlung. Die entstehungsgeschichtliche Reihung der beiden Textstufen ist jedoch falsch. Die wenigen Korrekturen in „Variante B“ finden sich allesamt in der masch. Grundschicht der „Variante A“ wieder, was den Editoren bei der Verzeichnung der Varianten eigentlich auffallen hätte müssen. Besonders markant ist die Änderung von „Vertreter“ in „Repräsentanten“ auf ÖLA 3/W 237 – BS 64 m [1] S. 1, die sich im Interview auf ÖLA 3/W 237 – BS 64 i, S. 5 wiederfindet. Bei dem Text handelt es sich also nicht um eine Zusammenfassung des Interviews, sondern um eine elaborierte Aneinanderreihung von Antworten, welche die Basis des Interviews darstellen. Dies erklärt auch die blockweise Anordnung des Textes mit Leerzeilen zwischen den Absätzen (S. 7, 8) und der zum Teil absatzweise Seitenumbruch (S. 9, 11). Diese falsche Kanonisierung wurde bereits Mitte der 1960er Jahre eingeleitet. In den Programmheften zu den Aufführungen von Kasimir und Karoline in der Schaubühne am Halleschen Ufer im Jahre 1964 und im Deutschen Theater in Göttingen im Jahre 1966 ist die Langfassung abgedruckt. Materialien zu Ödön von Horváths „Kasimir und Karoline“. Hrsg. von Traugott Krischke. Frankfurt a.M. 1973 (edition suhrkamp 611), S. 100. GW 4, S. 659 bzw. KW 11, S. 215.

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wurde, hat sie dennoch ein großes Manko. Es fehlt die Angabe der Signatur der Textgrundlage. Dieser Nachweis ist in der Kommentierten Werkausgabe zumindest in den Fußnoten zum Herausgeberteil enthalten. Die Wiener Ausgabe wird die Vorzüge der beiden Ausgaben kombinieren. Die Fassungen werden nacheinander in ihrer entstehungsgeschichtlichen Reihenfolge ediert, wobei solcherart der werkgenetische Status der Texte unmittelbar zum Vorschein kommt. Prinzipiell wird in den jeweiligen Fassungen die letzte Korrekturschicht ediert und sollen Abweichungen davon gegebenenfalls gesondert ausgewiesen werden. Essentiell ist (im Unterschied zu dem Verfahren Krischkes) die unterschiedliche editorische Behandlung von handschriftlichen Korrekturen der bzw. Ergänzungen zur maschinschriftlichen Grundschicht und von Randnotizen, die für eine weitere Ausarbeitung gedacht sind, die also nicht unmittelbar zur jeweiligen Fassung gehören. In werkgenetischen Kommentaren werden sowohl die Veränderungen des Textes innerhalb seiner Genese wie auch das Verhältnis des Textes zu anderen Texten und Werkprojekten beschrieben. Für den Leser muß leichthin ersichtlich gemacht werden, daß Horváths Gebrauchsanweisung nicht nur in das Interview, sondern auch in der wenig später entstandenen Randbemerkung zu Glaube Liebe Hoffnung nachwirkt, eine Information, die als Voraussetzung für das Verständnis dieses wichtigen theoretischen Textes von ebenso großer Relevanz ist, wie die anderen angesprochenen werkgenetischen Richtigstellungen. Für das Problem der Autorisation seien auch Beispiele genannt: Als Textgrundlage für Horváths Kurzprosatext Das Fräulein wird bekehrt wurde bislang immer das im Nachlaß enthaltene Typoskript herangezogen.33 Dem Leser wird zwar mitgeteilt, daß dieser Text in einer zeitgenössischen Anthologie erschien,34 jedoch wird ihm verheimlicht, daß der Text in der Anthologie nicht unerheblich von dem des Typoskripts abweicht. Diese Abweichungen müssen verzeichnet und kommentiert werden. Bei Horváths Bühnenwerken gestaltet sich die Frage nach der Autorisation besonders schwierig, da Horváth die Texte meist für konkrete Inszenierungen adaptierte. Von dem Volksstück Kasimir und Karoline, dem zu Lebzeiten keine Buchausgabe vergönnt war, sind zwei Fassungen bekannt, die beide im Band 5 der Kommentierten Werkausgabe abgedruckt sind. Der Leser kann der „editorischen Notiz“ Krischkes entnehmen, daß die Fassung in sieben Bildern einem Nachlaß-Typoskript folgt, während jene in 117 Szenen sich an das Stammbuch des Arcadia-Verlages hält.35 Was er nicht erfährt, ist, daß Horváth die Fassung in 117 Szenen für die Uraufführung überarbeitete. Die neue Fassung, die Horváth dem Regisseur Francesco von Mendelssohn übermittelte, wie einem Briefentwurf in Notizbuch 736 entnommen werden kann, hat sich, soweit bekannt, weder im Original noch in einer Abschrift erhalten. Im Nachlaß existieren aber Blätter aus dieser Phase der Überarbeitung37, die mangels Kenntnis ih-

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Nachlaß Ödön von Horváth, ÖLA 3/W 195 – BS 4 a, S. 1-7. Vgl. dazu Ödön von Horváth: Ein Fräulein wird bekehrt. In: 24 neue deutsche Erzähler. Hrsg von Hermann Kesten. Berlin 1929, S. 396-402. KW 5, S. 158. Nachlaß Ödön von Horváth, ÖLA 3/W 362 – BS 64 k [3], (Notizbuch 7), S. 11. Daß einige Nachlaß-Blätter aus jener Phase stammen, ist inhaltlich abzusichern. Auf einem im Nachlaß enthaltenen Typoskriptblatt frägt Kasimir Erna, ob sie noch ein Brot hat. Nachlaß Ödön von Horváth,

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res Vorhandenseins in der Horváth-Forschung bislang ebenso unberücksichtigt geblieben sind, wie die höchst aussagekräftigen handschriftlichen Anmerkungen, die Horváth im Falle der Geschichten aus dem Wiener Wald in ein Stammbuch setzte.38 Ein mit diesem Problembereich zusammenhängendes Versäumnis der bestehenden Horváth-Editionen ist die Suche nach und die Auswertung von Quellen außerhalb des eigentlichen Nachlaßbestandes. Der Spur eines Briefes Ödön von Horváths39 folgend, konnten im Berliner Tageblatt der Jahrgänge 1929 bis 1931 mehrere Texte Horváths gefunden werden, darunter auch einige, deren Existenz bislang nicht bekannt war. Diese Texte zeugen einerseits von einem sehr marktbewußten Autor, der es versteht, seine Hauptwerke durch kleinere Texte zu bewerben, andererseits enthalten sie auch wichtige Informationen bezüglich Horváths Poetologie und Weltbild. Am 27. Januar 1929, und damit etwas mehr als drei Wochen nach der erfolgreichen Berliner Uraufführung des Stückes Die Bergbahn, stellt Horváth im Berliner Tageblatt sein Stück Sladek vor, das schließlich erst im Oktober 1929 zur Aufführung kommen sollte. Im letzten Absatz des Artikels definiert Horváth die strukturellen Oppositionen, die seine Bearbeitung des historischen Materials konstituierten: „[I]ch versuchte auf dem Hintergrunde dieses Zeitbildes Stationen des ewigen Kampfes zwischen Individualismus und Kollektivismus, Egoismus und Altruismus, Internationalismus und Nationalismus, diesem Totengräber der Völker, zu gestalten.“40 Die hier verwendeten Begriffe tauchen auch später immer wieder auf. Die Opposition von Individualismus und Kollektivismus ist Thema des Textes Aus der Stille in die Stadt, der am 25. Mai 1930 im 5. Beiblatt des Berliner Tageblatts abgedruckt wurde und von dem bislang nur das genetische Material, nicht aber die Druckfassung bekannt war.41 Die Stadt wird hier als jener Raum definiert, in welchem sich ein neues gesellschaftliches Bewußtsein bildet. Aus einer (ebenfalls unpublizierten) Vorstufe des Textes geht deutlicher als aus der publizierten Fassung hervor, daß Horváth damit den Kollektivismus meint, den er gegenüber dem ländlich-romantischen Individualismus favorisiert.42 Den Vorschlag des fiktiven Dialogpartners, diese beiden gesellschaftlichen Bereiche zu „etwas

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I.N. 221.001/26 – BS 46 f [3], Bl. 10. In seiner Rezension von Kasimir und Karoline im Berliner LokalAnzeiger vom 26. 11. 1932 erwähnt Ludwig Sternaux’ ein Sardellenbrötchen, das Kasimir am Schluß ißt. Vgl. dazu Traugott Krischke: Horváth auf der Bühne 1926–1938. Eine Dokumentation. Wien 1991, S. 229. Vgl. dazu: Klaus Kastberger: Zwei Mundvoll Schweigen. Abstürze der Rede in Literatur und Philosophie. In: Die Dichter und das Denken. Wechselspiele zwischen Literatur und Philosophie. Hrsg. von Klaus Kastberger / Konrad Paul Liessmann. Wien 2004 (Profile. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs. 11), S. 174–198, hier S. 195ff. Brief an Walter Zadek vom 2. 8. 1929. Kopie im Nachlaß Traugott Krischke, ÖLA 84/97, Schachtel 48. Berliner Tageblatt, 27. 1. 1929, 5. Beiblatt. Die fragmentarische erste Fassung (Nachlaß Ödön von Horváth, ÖLA 3/W 229 – BS 64 k [2], Bl. 4-6) fand in beiden Werkausgaben Aufnahme. In den Gesammelten Werken ist die letztgültige Korrekturschicht samt Notizen ediert (GW 4, S. 657), in der Kommentierten Werkausgabe die masch. Grundschicht (KW 10, S. 187f) und zusätzlich eine spätere im Nachlaß befindliche Fassung dieses Textes (Nachlaß Ödön von Horváth, ÖLA 3/W 232 – BS 64 k [5] ediert in KW 10, S. 189–192). Nachlaß Ödön von Horváth, ÖLA 3/W 230 – BS 64 k [3], Bl. 10–12.

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literarisch ganz Auffallendem“43 zu verbinden, dürfte Horváth bei der Arbeit an seinem aktuellen Volksstück Italienische Nacht berücksichtigt haben, zu dessen Handlung der Autor durch die Figur Betz den Kommentar liefert: BETZ [...] Ich glaub, du übersiehst etwas sehr Wichtiges bei deiner Beurteilung der politischen Weltlage, nämlich das Liebesleben in der Natur. Ich hab mich in der letzten Zeit mit den Werken von Professor Freud befaßt, kann ich dir sagen. Du darfst doch nicht vergessen, daß um unser Ich herum Aggressionstriebe gruppiert sind, die mit unserem Eros in einem ewigen Kampfe liegen, und die sich zum Beispiel als Selbstmordtriebe äußern, oder auch als Sadismus, Masochismus, Lustmord – MARTIN Was gehen mich deine Perversitäten an, du Sau?44

Die in den Vorstufen des Textes Aus der Stille in die Stadt verwendete Terminologie verrät, daß Horváth sich wie seine Figur Betz tatsächlich mit Freud auseinandergesetzt hat und zwar mit jenen späten Schriften, in denen dieser Kultur und Zivilisation als Resultat des Triebverzichts beschreibt.45 Auf die Auseinandersetzung mit Freud verweist auch der im Zuge unserer Arbeiten erstpublizierte Text Marianne oder: Das Verwesen, den Horváth in einem Notizbuch im März/April 1930 skizziert; der Autor will darin ein „typisches Beispiel für den Kampf der Triebe gegen die Kultur“46 geben. Dieses Konzept greift Horváth zwei Jahre später in seiner Randbemerkung wieder auf, wo er in einer Vorstufe den „Kampf des Individuums gegen die Gesellschaft auf das Hervortreten bestialischer Züge“47 zurückführt. Damit ergibt sich auf der Grundlage neu entdeckter bzw. editorisch neubewerteter Texte ein relativ konsistentes Bild von Horváths schriftstellerischem Programm zwischen 1929 und 1932, in dem sich nicht zuletzt auch ein neuer interpretativer Raum eröffnet. Um solche Räume zu erschließen und philologisch abzusichern, hat die Wiener Ausgabe noch jede Menge Arbeit vor sich. Die vordringlichsten Aufgaben listen wir zum Abschluß auf: – – – – –

Virtuelle Ordnung des gesamten Materials auf Simulationsgraphiken Festlegung von Kriterien zur Auswahl von Fassungen Transkription der jeweiligen Textzeugen Beschreibung der Textkonstitution Ausarbeitung eines Kommentars, der sowohl die Entstehung des jeweiligen Textes beschreibt als auch seine werkgenetischen Beziehungen zu anderen Texten und Werkprojekten Horváths deutlich macht und damit insgesamt Klarheit über die relativen und absoluten Chronologien des Horváthschen Werkes schafft – Systematische Suche nach weiteren Texten und Briefen Ödön von Horváths

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Berliner Tageblatt (27. 5. 1929), 5. Beiblatt. KW 3, S. 73. Die Zukunft einer Illusion (1927) und Das Unbehagen in der Kultur (1930). Vgl. dazu die hs. Notiz auf ÖLA 3/W 220 – BS 64 k [2], Bl. 5: „Der immer mehr sich verlierende Kontakt zur äußeren Natur ist nur ein Triebverzicht zum Nutzen der Kultur.“ Horváth 2001 (Anm. 1), S. 16. Nachlaß Ödön von Horváth, ÖLA 3/W 240 – BS 39 a [3], Bl. 5.

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Abbildung 1: Berliner Lageplan zum genetischen Material des 2. Bildes der Komödie Pompeji von Ödön von Horváth, Abb. aus dem zitierten Artikel von Lieselotte Müller; Jahrbuch für internationale Germanistik 1971 Heft 2, S. 353.

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Abbildung 2: Die Kolumnen 2 bis 10 der Wiener Simulationsgraphik zum genetischen Material des 2. Bildes der Komödie Pompeji von Ödön von Horváth © Ödön von Horváth – Wiener Ausgabe

Eberhard Sauermann

Textkritik bei der Edition von Trakls Werk

Die Bedeutungen der Begriffe ‚Textkritik‘ und ‚Edition‘ überschneiden sich, wie aus Bohnenkamps Erläuterungen im Band Grundzüge der Literaturwissenschaft hervorgeht: „Ermittlung und Präsentation des authentischen Wortlauts sind die Aufgaben von Textkritik und Textedition“; „Voraussetzung für die wissenschaftliche Edition eines Werkes ist seine textkritische Bearbeitung“.1 Im Handbuch Editionswissenschaft von Plachta wird ‚Textkritik‘ als „Editorische Überprüfung der Überlieferung von Texten hinsichtlich ihrer Authentizität“ definiert.2 Gemäß der sich auf Bein berufenden Definition in der neuesten Ausgabe des Sachwörterbuchs der Literatur ist ‚authentisch‘ in der Textkritik „ein in allen Einzelheiten echter, zuverlässiger Text in der vom Autor, evtl. durch Autorisation, gewollten und gegebenen Form“.3 ‚Kritisch‘ ist die historisch-kritische Innsbrucker Trakl-Ausgabe in zweifacher Hinsicht: Zum einen verfolgt die Textkritik das Ziel, authentische Texte bereitzustellen, zum anderen, das gesamte Überlieferungsmaterial so zu ordnen, daß der jeweilige Textbildungsprozeß authentisch wiedergegeben wird. Es gilt der Forderung gerecht zu werden, daß die Darstellung der Genese der tatsächlichen Arbeitsweise Trakls zu entsprechen hat. Als Orientierungshilfen dienen die Abschnitte ‚Entstehungsgeschichte‘, ‚Überlieferung‘ und ‚textgenetischer Überblick‘, durch die eine diskursive Verbindung zwischen den archivalischen Materialien (Textzeugen) und dem Prozeß der Textentstehung (Textstufen) hergestellt wird.4

Wie die Textgenese in der Innsbrucker Trakl-Ausgabe dargestellt wird, ist schon des öfteren vorgestellt worden, angefangen mit der Präsentation unseres Editionsmodells.5 Deshalb genügt es hier, seine – vor allem durch Zwerschina erläuterten – Grundzüge zu skizzieren. Die Innsbrucker Trakl-Ausgabe rückt die Genese jedes einzelnen Werks in den Mittelpunkt der Darstellung. Sie gliedert sich nicht in Text- und Apparatbände, sondern die Varianten werden integral verzeichnet; die Genese wird nicht

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Anne Bohnenkamp: Textkritik und Textedition. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. 5. Aufl. München, 2002 (dtv Information & Wissen. 30171), S. 179–203, hier S. 179. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997 (Universal-Bibliothek. 17603. Literaturstudium), S. 140. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8. Aufl. Stuttgart 2001, S. 59. Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. Hrsg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Basel/Frankfurt. Bd. II 1995, Bd. III 1998, Bd. IV.1 und IV.2 2000, Bd. I 2007, Bd. V im Druck, hier Bd. I, hier S. 13. Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina: Historisch-kritische Faksimile-Ausgabe der Werke und des Briefwechsels Georg Trakls. In: editio 6 (1992), S. 145–171.

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rückwärtsgewandt von der Fassung letzter Hand her rekonstruiert, sondern von der ersten Niederschrift an. Die in der Trakl-Forschung übliche Beschränkung auf das fertige Endprodukt und dessen Behandlung als gültige und allgemeinverbindliche Textgestalt halten wir nicht für angemessen. Eine flüchtige Niederschrift auf irgendeinem Zettel besitzt für einen gewissen Zeitraum – seien das Sekunden oder Wochen – nicht weniger Gültigkeit und weist nicht mehr Vorläufigkeit auf als eine maschingeschriebene Reinschrift oder ein Druck. So lag etwa Traum des Bösen in einer ersten Version als Druckvorlage vom Frühjahr 1913 für den Band Gedichte vor; im August 1913 überarbeitete Trakl bei einem Freund in dessen Exemplar des Gedichtbands vor allem die 1. Strophe; eine zweite Überarbeitung der ursprünglichen 1. Strophe teilte Trakl in seinem letzten Brief vom 27.10.1914 mit. Die Vermutung ist gerechtfertigt, daß diese Fassung letzter Hand vielleicht schon Wochen später überholt gewesen wäre, eine neue Version aber durch Trakls Tod nicht mehr realisiert werden konnte. Trakls Gedichte sind – so betrachtet – prinzipiell unabgeschlossen.6 Faksimiles der Handschriften bilden in der Innsbrucker Trakl-Ausgabe den Ausgangspunkt der Darstellung der Textgenese; sie ergänzen die Textzeugenbeschreibungen und machen Entscheidungen des Editors (Entzifferung von Wörtern, Abfolge der Varianten, Auflösung in Textstufen) überprüfbar. Die danebenstehende diplomatische Umschrift soll einerseits eine Lesehilfe sein und andererseits durch die Zeilenzählung die einzelnen Arbeitsphasen am Faksimile nachvollziehbar machen. Zusammen mit den diplomatischen Umschriften und den Verweisen auf die textgenetische Darstellung sollen die Faksimiles auch die Arbeitsweise des Autors sichtbar machen.7 Um den zeitlichen Ablauf der Textentwicklung und die sich verändernde Textgestalt in dieser Zeit sichtbar zu machen, wurde – angeregt von der Heym-Ausgabe – die editorische Einheit ‚Textstufe‘ gefunden. Die Abfolge der Textstufen orientiert sich an der Schreibstrategie Trakls: „Die ‚Textstufe‘ entspricht der jeweiligen Vorfassung, die die Grundlage und den Ausgangspunkt für die weitere Arbeit darstellt, deren Ergebnis die nächstfolgende Textstufe ist.“8 Die erste Bedingung für das Ansetzen einer Textstufe ist, daß sie einen bestimmten Zeitpunkt angibt, ihr also zumindest in relativer Chronologie eine eindeutige Position zugewiesen werden kann. Die zweite Bedingung ist, daß diesen Zeitpunkten jeweils konkrete Textgestalten zugeordnet werden können, daß also Trakl das Gedicht nachweislich in dieser Textgestalt vor sich haben mußte. Die Textstufen sind also die vom Editor durch Analyse der überlieferten Textzeugen eines Gedichts erkannten (Zwischen-)Stationen im Textgestaltungsprozeß.9 Als Entscheidungshilfe dienen nicht nur „Position in der Handschrift, Duktus und Schreibmaterial“, sondern auch „die Regelmäßigkeit des Zeilenabstandes

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Eberhard Sauermann: Dokumentation und Interpretation. Neue Möglichkeiten durch die Innsbrucker Trakl-Ausgabe. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997), H. 4, S. 567–587, hier S. 568. Hermann Zwerschina: Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 203–229, hier S. 210. Innsbrucker Trakl-Ausgabe (Anm. 4), Bd. I, S. 29. Hermann Zwerschina: Die editorische Einheit ‚Textstufe‘. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 177–193, hier S. 182.

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der Grundschicht und die Regelmäßigkeit des linken Zeilenspiegels, in Zweifelsfällen auch die syntaktische Stimmigkeit und die generelle Arbeitsweise Trakls, der ein Versionenschreiber war“.10 In der Innsbrucker Trakl-Ausgabe werden bei großer Textvarianz die Textstufen nacheinander vollständig dargestellt, die Variationen innerhalb der Textstufen integral, und zwar in spatialer, kolumnierter Darstellung; bei geringer Textvarianz hingegen synoptisch, indem die chronologisch früheste Textstufe den Bezugstext liefert und die Varianten nach Textstufen geordnet listenförmig verzeichnet werden.11 Denn der Benützer muß (bei großer Textvarianz) in einem synoptischen Apparat, der alle zeitlich nacheinander vorgenommenen Veränderungen am Text gleichzeitig sichtbar macht, Varianten einer Stelle mitlesen, die zu einem anderen Zeitpunkt und womöglich im Zusammenhang mit anderen Änderungen entstanden sind; das kann eine selektive Wahrnehmung beim Weiterlesen bewirken. Trakls Arbeitsweise war aber nicht so, daß er Vers für Vers von einem Rohzustand bis zu einer ihn zufriedenstellenden Form gebracht hat, sondern sie war meistens Arbeit am ganzen Gedicht: Eine Änderung verursacht womöglich weitere Änderungen, wodurch eine Variante eben nicht oder nicht nur Arbeit am Einzelvers ist. Dem Benützer soll nicht bloß gezeigt werden, wie sich Verse verändert haben, sondern welche Varianten im selben Zusammenhang entstanden sind und einander bedingt haben (können); deshalb wird in manchen Fällen das aufwendige Verfahren gewählt, für jede Textstufe den gesamten Kontext erneut abzudrucken. Weil die Innsbrucker Trakl-Ausgabe auch Entwurfshandschriften in Textstufen zerlegt und diese separat darstellt, minimiert sich die Notwendigkeit der synoptischen Darstellung, „so daß vielfach einzeln lesbare Fassungen entstehen, die auch im Sinne des statischen Textbegriffs als Ausführungen des Werkes rezipiert werden können“; diese „Annäherung an eine ‚Versöhnung‘ von statischem und dynamischem Textverständnis“ kann nach Meinung Nutt-Kofoths „als ein Weg für die zukünftige Entwicklung der Edition vor dem Hintergrund eines neu formulierten Werk- und Textbegriffs verstanden werden“.12 Im folgenden möchte ich mich darauf beschränken, Textkritik als Überprüfung der Authentizität von Textzeugen bei der Edition von Trakls Werk näher zu beleuchten. Schon Killy/Szklenar konnten sich bei ihrer Trakl-Ausgabe13 größtenteils auf eigenhändige Texte Trakls stützen, und schon ihnen bzw. ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelang die Entzifferung der meisten Stellen. Es gelang uns, einige der für Killy/Szklenar noch unlesbaren Stellen zu lesen. An ein paar Stellen lesen wir etwas anderes als sie – und wie wir glauben: das Richtige. Das hat mitunter weitreichende Sinnänderungen zur Folge: Statt „Leise verfällt ein Krankes, Aussätziges“14 lesen wir „Leise verhüllt ein Krankes, Aussätziges“,15 wodurch der darauffolgende Vers, „Das

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Zwerschina 2000 (Anm. 7), S. 214f. Zwerschina 1998 (Anm. 9), S. 193. Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktions- und rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Text und Edition (Anm. 7), S. 165–202, hier S. 192 f. Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar. 2 Bände. Salzburg 1969; 2., ergänzte Auflage 1987. Ebd. Bd. 2, S. 247. Von Killy/Szklenar auf Abendland II bezogen. Schwärzlich versank… (Textstufe 1 H), Innsbrucker Trakl-Ausgabe (Anm. 4), Bd. IV.2, S. 48.

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Antlitz am dämmernden Weiher“, als Akkusativobjekt und Ortsangabe auf das Prädikat „verhüllt“ bezogen wird. Mehr Unterschiede gegenüber Killy/Szklenar ergeben sich freilich in der Deutung der Genese etlicher Texte. Für einige Gedichte ist das bereits ausführlich dargestellt worden: für Melancholie, Leise und Melancholia,16 Das Gewitter17 und Untergang.18 Editorisch relevant sind für die Herausgeber die von Trakl selbst verfaßten Textzeugen und selbst besorgten Ausgaben seiner Dichtungen, aber auch Abschriften und nicht autorisierte Drucke. Selbstverständlich zählen dazu die autorisierten Abschriften von fremden Personen, die vor allem aufgrund von Besonderheiten der Korrekturen (wie Hörfehler) als Diktate auszumachen sind.19 Von editorischem Interesse sind aber auch Abschriften, bei denen ein Auftrag zur Anfertigung nicht belegt ist: Das sind vor allem die als Druckvorlagen für den Brenner verwendeten Abschriften Ludwig von Fickers,20 die Abschriften Arthur Langens von 1910/11,21 Ilse Demmers von 1933 (dazu weiter unten) sowie jene von Felix Brunner von 1937.22 Als ‚Stellvertretertexte‘ fungieren weiters die posthumen Drucke Erinnerung an Georg Trakl,23 Aus goldenem Kelch (dazu weiter unten) und Nachlaß und Biographie24 sowie die Dissertationen von Demmer25 und Werner Meyknecht.26 Die Überprüfung der Authentizität von Textzeugen soll anhand eines Beispiels veranschaulicht werden. Das Gedicht Das Grauen ist nicht im Original überliefert. Die in der Sammlung von Gedichten enthaltene Niederschrift, die Trakl Erhard Buschbeck im Sommer 1909 übergeben hatte,27 in der Hoffnung, wenigstens einzelne daraus zu veröffentlichen, wurde zusammen mit der ganzen Sammlung beim Brand des Burgtheaters 1945 vernichtet.28 Von diesem Gedicht liegen nur eine Abschrift Demmers29 und ein Druck in dem von Buschbeck herausgegebenen Band Aus golde-

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Siehe Sauermann/Zwerschina 1992 (Anm. 5). Siehe Sauermann 1997 (Anm. 6). Hermann Zwerschina: Georg Trakl: Untergang. Das Gedicht verstehen: aus der Arbeitsweise Trakls. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 18 (1999), S. 33–60. Abendland II (Textstufe 1 h), An Johanna (Textstufe 2 h), Vorhölle (Textstufe 4 H). Offenbarung und Untergang (Textstufe 2 h), Neige (Textstufe 3 h). Confiteor (Textstufe 3 h), In einem verlassenen Zimmer (Textstufe 1 h), Sonniger Nachmittag (Textstufe 1 h), Am Friedhof (Textstufe 1 h), Ein Abend (Textstufe 1 h), Wunderlicher Frühling (Textstufe 1 h), Im Winter I (Textstufe 1 h), De profundis I (Textstufe 1 h). Leuchtende Stunde (Textstufe 1 t), Heiterer Frühling (Textstufe 1 t), Ein Frühlingsabend I (Rekonstruktion der Textstufen 1 T, 2 H und 3 H), In Milch und Öde… (Textstufe 1 h), An Luzifer (Textstufen 1 h, 3 h und 4 h). Ludwig Ficker (Hrsg.): Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926: Die Nacht der Armen (Textstufe 1 d), Seele des Lebens (Textstufe 1 d), Traum des Bösen (Textstufe 1 d). Georg Trakl: Nachlaß und Biographie. Gedichte, Briefe, Bilder, Essays. Hrsg. von Wolfgang Schneditz. Salzburg 1949: Psalm I (neue Textstufe 2 d). Ilse Demmer: Georg Trakl. Masch. Diss. Wien 1933: Blutschuld (Textstufe 2 t), Don Juans Tod (Textstufe 3 t). Werner Meyknecht: Das Bild des Menschen bei Georg Trakl. Quakenbrück 1935: Metamorphose (Textstufe 2 d). Im folgenden als Sammlung 1909 bezeichnet. Den im Brief vom 27.6.1911 geäußerten Wunsch Trakls, er möge ihm diese Manuskripte zurückgeben, hatte Buschbeck ignoriert. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sign. BA 100/99-5.

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nem Kelch vor; die vorletzte Strophe ist zusätzlich in einem dritten nicht autorisierten Textzeugen überliefert, in Brunners Dissertation.31 Diese Strophe lautet: „Aus eines Spiegels trügerischer Leere / Hebt langsam sich, und wie ins Ungefähre / Aus Graun und Finsternis ein Antlitz: Kain!“32 In Demmers Abschrift (Textstufe 1 t) und in Brunners Dissertation findet sich „Graun“, in Aus goldenem Kelch (Textstufe 2 d) hingegen „Grau“. Killy/Szklenar, die als edierten Text den Druck in Aus goldenem Kelch verwenden, vermuten hinter dieser Abweichung einen Druckfehler, weshalb sie sich zu einer Emendation des Worts in „Graun“ für berechtigt halten.33 Das hat auch die Trakl-Forschung beeinflußt. Cersowsky, der sich auf die Einschätzung von Killy/Szklenar bezieht, ist zwar der Auffassung, daß sich „Grau“ „in den Kontext von ‚Ins Ungefähre‘ und ‚Finsternis‘ fügen“ würde, verzichtet aber aufgrund der „Unsicherheiten“ darauf, „nach den spezifischen Implikationen“ des Worts in diesem Vers zu fragen.34 Rölleke möchte zu dieser textkritischen Frage mit einer Stelle aus Heines Gedicht Die Heimkehr etwas zugunsten der Lesart „Graun“ beitragen.35 Darin heißt es: „Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe – / Der Mond zeigt mir meine eig’ne Gestalt. // Du Doppelgänger, du bleicher Geselle!“36 Die Stelle bei Trakl37 sei hier fast wörtlich vorgebildet, noch deutlicher in der Trakl wohl vertrauten Vertonung von Die Heimkehr durch Schubert, wo es heißt: „Mir graut es“.38 Die Trakl-Forscher suchen also eine Entscheidung zwischen „Graun“ in der Bedeutung ‚Grauenerregendes‘ und „Grau“ als Farbe. Allerdings gibt es auch Forscher, die „Graun“ ohne den geringsten Zweifel mit dem ‚Grauenhaften‘ gleichsetzen.39 Ausgeklammert bleibt hingegen „Graun“ im Sinne von ‚grau sein/werden‘. Man könnte freilich damit argumentieren, daß ‚Grau‘ und ‚Finsternis‘ in diesem Bild kaum vereinbar seien, was gegen die Farbe spricht. Doch gibt es bei Trakl genug Belege für eine Mißachtung der Logik. Vielleicht hilft ein Blick auf die Verwendung dieses Wortfelds in Trakls Gesamtwerk weiter. Während die Farbbezeichnung ‚grau‘/‚Grau‘ recht oft verwendet wird (über 50 mal), sind Begriffe wie das ‚Grauen‘ selten: 14 mal „Grauen“/„grauen“ (inkl. „Todesgrauen“), 4 mal „Grausen“ (inkl. „Todesgrausen“)

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Georg Trakl: Aus goldenem Kelch. Die Jugenddichtungen. Hrsg. von Erhard Buschbeck. Salzburg/Leipzig 1939, S. 60. Felix Brunner: Der Lebenslauf und die Werke Georg Trakls. Masch. Diss. Wien 1932, S. 53. Innsbrucker Trakl-Ausgabe (Anm. 4), Bd. I, S. 219. Trakl-Ausgabe von Killy/Szklenar (Anm. 13), Bd. 2, S. 348, bzw. Bd. 1, S. 220. Peter Cersowsky: Das Grauen. Georg Trakl, Oscar Wilde und andere „Ästhetiker des Schreckens“. In: Sprachkunst 16 (1985), S. 231–245, hier S. 231, Anm. 2. Heinz Rölleke: „Das Grauen“. Georg Trakl und Heinrich Heine? In: Wirkendes Wort 41 (1991), S. 163–165, hier S. 164 und 165, Anm. 11. Heinrich Heine: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hrsg. von Otto F. Lachmann. Bd. 1. Leipzig 1887, S. 126. Rölleke bezieht auch den weiteren Kontext, die letzte Strophe des Gedichts Das Grauen, mit ein: „Sehr leise rauscht die samtene Portiere, / Durchs Fenster schaut der Mond gleichwie ins Leere. / Da bin mit meinem Mörder ich allein.“ Deutsch-Verzeichnis 957, Nr. 13, unter dem Titel Der Doppelgänger. Károly Csúri: Zum poetischen Prozeß der Ich-Spaltung. Über die semantischen Mikrostrukturen von Georg Trakls „Das Grauen“. In: Lauter Einzelfälle. Bekanntes und Unbekanntes zur neueren österreichischen Literatur. Hrsg. von Karlheinz F. Auckenthaler. Bern u.a. 1996 (New Yorker Beiträge zur Österreichischen Literaturgeschichte. Bd. 5), S. 227–255, hier S. 230.

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und 3 mal „Greuel“. Letzteres schreibt Trakl übrigens in einem Gedicht aus der frühen Periode mit „äu“ und in einem aus der mittleren mit „eu“.40 „Gräulich“ fungiert in Trakls Werk der frühen und mittleren Periode offenbar als Medium für Synästhesien: „Und huschen pfeifend hier und dort. / Und ein gräulicher Dunsthauch wittert / Ihnen nach aus dem Abort / Den geisterhaft der Mondschein umzittert“,41 „Am Abend liegt die Stätte öd und braun, / Die Luft von gräulichem Gestank durchzogen“,42 „O die Schrecken der Nacht in schwarzen Zimmern / Erfüllt von feuchtem > gräulichem Leichengeruch“.43 Die Annahme, daß Trakl bewußt Synästhesien bilden und eine eindeutige Sinngebung als ‚greulich‘ (‚scheußlich‘, ‚ekelerregend‘) vermeiden wollte, stützt sich auf mehrere Indizien: Erstens finden sich Synästhesie-Parallelstellen mit „grau“, auch solche in Verbindung mit „Wind“.44 Zweitens hat Trakl an einer Stelle „greulich“ zu „gräulich“ geändert.45 Drittens hat er „gräulich“ in seinem Spätwerk nur mehr in einem bestimmten Kontext verwendet, der einen Farbton, nämlich jenen der Verwesung, imaginiert.46 Sprachgeschichtlich gesehen ist ‚gräulich‘ eine orthographische Nebenform zu ‚greulich‘, tritt jedoch ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugunsten einer klaren Trennung der Bedeutungen (‚greulich‘ – ‚graulich‘) zurück; ein Spiel mit dem Doppelsinn (‚Greuel‘ – ‚Grau‘) läßt sich bei Lenz, Schiller und Heine nachweisen.47 Wenn – wie es in einer Besprechung von Trakls Gedichten unter Bezugnahme auf das Gedicht Die Ratten geschehen ist – „greulich“ statt „gräulich“ zitiert wird, dient das der Absicht, Trakl als ‚greulichen Naturalisten‘ hinzustellen.48 Denn dadurch wird die Bedeutung im Kontext auf ‚scheußlich‘ oder ‚ekelerregend‘ eingeengt, während Trakls Verwendung des Worts „gräulich“ die Vorstellung von der Farbe ‚grau‘ ermöglicht. Der Unsicherheit in der Bedeutungsfestlegung hat auch Wetzel in seiner TraklKonkordanz Rechnung getragen: „Wo man Anlaß zu der Vermutung hat, daß mit einem Wort, das im Text steht, ein anderes, fast homographes, gemeint sei (‚gräulich‘ –

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„Ich sah viel Städte als Flammenraub / Und Gräuel auf Gräuel häufen die Zeiten“ (Drei Träume, Textstufe 1 T, Innsbrucker Trakl-Ausgabe [Anm. 4], Bd. I, S. 232); „Von Frucht und Greueln wächst die heiße Erde“ (An Angela, Textstufe 2 H, ebd. Bd. I, S. 554). Die Ratten (Textstufe 1 T), ebd. Bd. I, S. 399. Vorstadt im Föhn (Textstufe 1 D), ebd. Bd. I, S. 573. Helian (Textstufe 7 H), ebd. Bd. II, S. 256. „dich zermalmt des Alltags grauer Gram“ (Ermatten, Textstufe 1 t, ebd. Bd. I, S. 206), „Der graue Wind, der flatterhaft und vag / Verfallne Düfte durch die Dämmerung spült“ (Der Spaziergang, Textstufe 1 T, ebd. Bd. I, S. 528), „Gelächter geistert grau im Wind“ (Im Herbst, Textstufe 2 H, ebd. Bd. I, S. 389), „in grauen Stürmen“ (Winterdämmerung, Textstufe 2 H, ebd. Bd. I, S. 498), „in gelbem Rahmen / Von Sonnenblumen, Angst und grauer Schwüle“ (Afra, Textstufe 4 D, ebd. Bd. III, S. 123), „Des grauen, steinernen Schweigens“ (Frühling der Seele II, Textstufe 1 H, ebd. Bd. III, S. 382). „Umgaukelt von greulichem Fliegengeschmeiß“ > „Umgaukelt von gräulichem Fliegengeschmeiss“ (Die drei Teiche in Hellbrunn, Textstufe 6 H bzw. 7 T, ebd. Bd. I, S. 188 und 189). „ein gräulich Gerippe, der Tod“, „gräulich verdorrt das spärliche Grün“ (Traum und Umnachtung, Textstufe 1 H, ebd. Bd. IV.1, S. 59 und 61) Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 11.1.1. Leipzig 1935; Bd. 4.1.5. Leipzig 1958. – Etwas, das nach der neuen Rechtschreibung nicht mehr möglich ist, da es für beide Bedeutungen nur mehr die Form „gräulich“ gibt. Eberhard Sauermann: „gräulich“ oder „greulich“? – Zu einer Kritik an Gedichten Trakls von 1914. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 4 (1985), S. 68–70.

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‚greulich‘), stehen beide in einer Eintragung nebeneinander. Das wahrscheinlich gemeinte Wort steht dann an erster Stelle (‚greulich‘/‚gräulich‘).“49 Das hat zur Folge, daß in der Konkordanz „gräulich“ nicht auf „graulich“ folgt – was bei der alphabetischen Reihung zu erwarten wäre –, sondern bei „greulich“ angeführt wird, als ob es sich dabei nur um eine orthographische Nebenform dieses Wortes handle. Bei „Graues“ („Durchs Graue gleiten Klänge wunderbar“)50 verweist Wetzel auf „grau“ und „Grauen“/„Graues“; „Grauen“ rubriziert er einmal unter „Grauen“/„Graues“ und die anderen Male unter „Grauen“.51 Dieses eine Mal betrifft den Schlußvers des Gedichts Westliche Dämmerung: „Ein goldner Hort glüht leis’ im Graun“.52 Die doppelte Zuordnung als „Grauen“/„Graues“ erfolgt aus gutem Grund: Wenn man diesen Schlußvers auf den Titel des Gedichts und auf Vers 4 („Die Stadt, die um die Sonne rollt“) bezieht, wird mit ihm eine Stimmung evoziert, die durch die im ‚Abendgrauen‘53 untergehende Sonne geprägt ist; doch könnte das „Graun“ auch auf etwas Grauenerregendes verweisen. Aber auch unter den anderen Stellen, die Wetzel nur unter „Grauen“ rubriziert, finden sich einige, deren Semantik nicht eindeutig zu klären ist. Die eine lautet: „Erscheinung der Mutter in Schmerz und Graun“.54 Zwar liegt hier der Bezug zu etwas Grauenerregendem nahe, aber aufgrund des Kontextes („Dunkel“) kann eine Farbbezeichnung nicht ausgeschlossen werden. Die andere Stelle ist jene im Gedicht Das Grauen. In der Innsbrucker Trakl-Ausgabe wird die Schreibung „Grau“ statt „Graun“ ohne Kommentar registriert. Eine Erörterung unserer Auffassung, daß nur „Graun“ dem von Trakl vermutlich beabsichtigten Doppelsinn entspricht, würde den Rahmen einer solchen Ausgabe sprengen. Wir lassen es also offen, ob die Schreibung bei Demmer oder jene in Aus goldenem Kelch authentisch ist. Aber wir messen der Abschrift Demmers das größere Gewicht bei, indem wir sie zum Bezugstext bei jenen Texten gewählt haben, die nur in ihrer Abschrift und in diesem Druck vorliegen. Anders Killy/Szklenar, die die überlieferten Abschriften und Drucke der Sammlung 1909 folgendermaßen charakterisieren:55 1. Eine nicht sehr zuverlässige Abschrift Ilse Demmers (Typoskript, Mappe F Va) aus dem Anfang der dreißiger Jahre. 2. Erhard Buschbecks Ausgabe der Jugenddichtungen in dem Band „Aus goldenem Kelch“, 1939 (C1); der Wert dieser Ausgabe läßt sich nicht ganz sicher beurteilen, weil der Herausgeber keine wissenschaftliche Edition beabsichtigt und mannigfaltig normierend in die Texte eingegriffen hat. Nicht nur Buschbecks Vorwort, sondern auch der mit L. von Ficker 1938/39 während der Drucklegung geführte Briefwechsel gibt davon Zeugnis; er erwähnt einige solcher Eingriffe ausdrücklich.

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Heinz Wetzel: Konkordanz zu den Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1971 (Trakl-Studien. Bd. 7), S. XII. Heiterer Frühling (Textstufe 2 T), Innsbrucker Trakl-Ausgabe (Anm. 4), Bd. I, S. 450. Wetzel 1971 (Anm. 49), S. 268f. und 271. Textstufe 1 T, Innsbrucker Trakl-Ausgabe (Anm. 4), Bd. I, S. 522. Vgl. „Abendgrauen“ (Im roten Laubwerk voll Guitarren…, Textstufe 1 T, ebd. Bd. I, S. 482). Entlang (Textstufe 1 H), ebda, Bd. III, S. 36. Trakl-Ausgabe von Killy/Szklenar (Anm. 13), Bd. 2, S. 16f.

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3. Die Dissertation Felix Brunners, die eine Reihe von z.T. ausführlicheren, jedoch nicht immer ganz zuverlässigen Zitaten aus der Sammlung Bb enthält.

Aufgrund dieser Überlieferungslage basiert der Text der Sammlung 1909 bei ihnen auf Buschbecks Ausgabe, weil sie „insgesamt als sorgfältiger gelten“ dürfe als Demmers Abschrift; zwar scheine es oft, „als bewahre diese echte Lesungen – vor allem in der Interpunktion – genauer als die zur Normierung neigende Ausgabe C1“; da Trakl jedoch „kein einheitliches Verfahren in der Zeichensetzung erkennen“ lasse und Demmers Abschrift „offensichtliche Ungenauigkeiten“ aufweise, ergäben sich keine Gründe, „die gewichtig genug wären, ein kritisches Eingreifen in den Text von C1 zu rechtfertigen“.56 Und doch gibt es Gründe, die Authentizität des Drucks in Aus goldenem Kelch in Frage zu stellen: Zum einen haben Killy/Szklenar als edierten Text Buschbecks Ausgabe sogar bei solchen Gedichten gewählt, für die autorisierte Drucke in Zeitungen oder Zeitschriften aus den Jahren bis 1909 vorliegen, und zwar mit der Begründung, daß „Buschbeck die Drucklegung sorgfältiger überwacht haben dürfte, als dies bei den Drucken geschehen ist, für die Trakl zweifellos nie Korrektur gelesen hat“.57 Das weist schon darauf hin, daß sie Buschbeck (genauso wie Ficker) eine unkritische, um nicht zu sagen ‚textunkritische‘ Verehrung entgegengebracht haben, die bei der Edition nicht autorisierter Texte fehl am Platz ist. Was sie im übrigen nicht daran gehindert hat, emendierend in Texte aus der Ausgabe Buschbecks einzugreifen. Die Untersuchung des Briefwechsels von Buschbeck mit Ficker, auf den sich Killy/Szklenar berufen, bringt zum andern wichtige Erkenntnisse. Buschbeck schreibt am 17.11.1938 an Ficker, er habe es seinerzeit für möglich gehalten, ein Schreibmaschinmanuskript der frühen Arbeiten Trakls herstellen bzw. vervielfältigen zu lassen und es den germanistischen Seminaren einiger Universitäten zu Studienzwecken zu überlassen. Damit wird jene von Demmer im Rahmen ihrer Dissertation hergestellte Abschrift gemeint sein, die im Auftrag Buschbecks angefertigt worden ist. In ihrer Dissertation bedankt sie sich bei ihm dafür, ihr 51 unveröffentlichte Gedichte Trakls von 1909 geliehen zu haben.58 Mehrere Widersprüche zwischen Äußerungen und Handlungen Buschbecks lassen die Authentizität des Drucks in Aus goldenem Kelch anzweifeln: 1. Obwohl Buschbeck betont, daß er sich für den Druck in bezug auf die Interpunktion an die Originale gehalten und keine Änderungen vorzunehmen gewagt habe, hat er akzeptiert, daß Ficker in den Korrekturfahnen ‚fehlendeǥ Satzzeichen ergänzt und ‚falscheǥ korrigiert hat.59 Ausnahmen sind zwei Fälle, in denen er das Original verteidigt hat: wo Trakl eine Fragestellung als Ausruf (mit Rufzeichen) gebraucht und wo er am Versende vor einem in der nächsten Zeile folgenden „und“ einen Beistrich setzt – weil Trakl für beides diese Satzzeichen eigenhändig nachgetragen habe. Entgegen

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Ebd. Bd. 2, S. 17. Ebd. Bd. 2, S. 17. Demmer 1933 (Anm. 25), S. 182 (vgl. auch S. 186f. und 191). Brief Buschbeck an Ficker, 10.9.1939.

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Buschbecks Aussage, er habe an 3–4 Stellen Fickers Tilgung eines Beistrichs vor einem „und“ wieder rückgängig gemacht, finden sich im Vergleich mit der Abschrift Demmers Stellen, wo das nicht geschehen ist (z.B. in Blutschuld V.9). 2. Obwohl Buschbeck die bewußte Wahl der Schreibung „däucht“ durch Trakl hervorhebt, hat er sich Fickers Normalisierung bzw. Modernisierung zu „deucht“ gefügt, ebenso dessen Normalisierung im Falle der Großschreibung von Anredeformen in Blaubart.60 3. Obwohl Buschbeck seine Manuskript-Treue beim Vergleichen und Durchlesen rühmt – was die „gebotene Richtigstellung offenkundiger Fehler“ erschwert habe –,61 weist der Druck von Traumland gegenüber dem Erstdruck (Salzburger Volksblatt vom 12.5.1906) nicht nur ‚Richtigstellungen‘ auf („all“ statt „all’“, „berauschenden“ statt „berauschendem“, Ergänzung eines Beistrichs, „müsse“ statt „müßte“, Getrenntstatt Zusammenschreibung), sondern auch Unterschiede in Interpunktion und Orthographie, die keine ‚Richtigstellung‘ sind: Weglassung eines Beistrichs, Getrennt- statt Zusammenschreibung, Zusammen- statt Getrenntschreibung. 4. Obwohl Buschbeck für das Gedicht Unterwegs I als edierten Text eine andere Niederschrift mit einem anderen Wort („weiß“) vorgeschlagen hat, war er bereit, Ficker zu folgen, der – um den Reim (mit „Greis“) zu gewährleisten – ein Wort („leis“) schlichtweg erfunden hatte.62 Doch wählte Ficker letztlich das von Buschbeck angegebene Wort, und zwar mit dem Argument, daß es auch in den späteren Fassungen so stehe. Aber auch Fickers Eingriffe in den Druck berechtigen zu grundlegendem Zweifel an dessen Authentizität. Er akzeptierte Buschbecks Wiederherstellung des OriginalWortlauts in den genannten zwei Fällen, meinte aber sonst in Trakls Sinn gehandelt zu haben: Er sei – wie er schreibt – in diesem Punkt nicht für „sklavische Pietät“, und zwar aus dem Grund, „weil Trakl seinerzeit, wenn ich seine Verse für den ‚Brenner‘ in Druck gab, meine Interpunktions-Korrekturen da und dort, die ich nie ohne sein Einverständnis vornahm, gerne billigte“.63 Gerade dieser Brief stellt jedoch Fickers ‚Generalvollmacht‘ in Frage: zum einen durch die Verdoppelung der Legitimationsbehauptung (Einverständnis und Billigung), zum andern dadurch, daß Ficker das ursprünglich geschriebene „stets“ in bezug auf „billigte“ gestrichen und womöglich in einer Sofortkorrektur durch „da und dort“ ersetzt hat. Aufschlußreich sind auch jene Fälle, wo sich Ficker beim Druck im Brenner-Jahrbuch 1915 über Trakls Interpunktionsentscheidungen hinweggesetzt hat, obwohl Trakl keine Korrektur mehr lesen konnte: Wiederherstellung eines von Trakl getilgten Punkts am Ende eines Verses in

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Briefe Buschbeck an Ficker, 8. und 19.10.1939. Brief Buschbeck an Ficker, 19.10.1939. Brief Ficker an Buschbeck, 8.10.1939. Brief Ficker an Buschbeck, 14.9.1939.

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Klage II und Ergänzung eines – nur von der Norm her erforderlichen – Beistrichs am Ende zweier Verse in Grodek.64 Einerseits gibt Ficker an, das Wort „däucht“ selbst zu „deucht“ normalisiert zu haben, andererseits behauptet er, daß der Druckerei-Revisor anhand des Duden eine Normalisierung vorgenommen habe, was er selbst akzeptiert habe, zumal keine Zeit für eine nochmalige Änderung gewesen sei.65 Zu Trakls Lebzeiten war jedoch das eine wie das andere möglich, erst später wurde „deucht“ üblich. Von allen Stellen, an denen das Wort vorkommt, findet es sich in eigenhändigen Niederschriften Trakls als „däucht“ bzw. „däucht’“ (4 mal); in der Abschrift Demmers und in Aus goldenem Kelch hingegen als „deucht“ (4 mal), wobei an einer Stelle (Drei Träume) nach Auskunft Buschbecks in der Satzvorlage „däucht“ stehe; ferner in einem Zeitungs-Druck als „dünkte“ (1 mal). Für die Frage nach der Authentizität der Sammlung 1909 sollte auch der Briefwechsel Demmers mit Ficker herangezogen werden. Als Demmer Ficker ihre Dissertation zusammen mit ihrer Abschrift von Trakls Jugendgedichten schickte, bat sie als eine „geborene Gummiwuzerlfürstin“ um Entschuldigung für alle unterlaufenen Tippfehler in ihrer Dissertation.66 Daß sie es nicht auch in bezug auf ihre Abschrift getan hat, läßt vermuten, daß sie darin mit keinen Fehlern gerechnet hat. Schließlich dürfte Buschbeck ihr die Ernsthaftigkeit des Vorhabens erklärt haben, mit dem Typoskript von Trakls Frühwerk den Germanisten eine Forschungsgrundlage zur Verfügung zu stellen; normalisierende Eingriffe der Studentin beim Abschreiben hätte er wohl nicht geduldet. Dennoch ist auch in Demmers Abschrift mit Tippfehlern zu rechnen. In Die tote Kirche überspringt sie eine Zeile, aber das erfolgt wegen der Radierung des auslautenden ‚e‘ in „Gefässe“ eine Zeile darüber; sie hat sich offensichtlich Mühe gegeben, wie an dem oberhalb des Worts „Schmerzenantlitz“ handschriftlich nachgetragenen Fugen-‚s‘ zu erkennen ist.67 Während sie in ihrer Abschrift von Der Heilige (Textstufe 2 t) – entsprechend dem vor wenigen Jahren wieder aufgetauchten Manuskript Trakls (Textstufe 1 H) – schreibt „Gebet, dess’ Glut / Hinströmt…“, steht in Aus goldenem Kelch (Textstufe 3 d) „Gebet, des Glut / Hinströmt…“. Andere Unterschiede zum Manuskript sind freilich nicht zwingend als Normalisierung oder Modernisierung zu erklären, sondern könnten auch darauf beruhen, daß Demmer wie Buschbeck als Vorlage eine andere (spätere) Version als das Manuskript verwendet haben. So heißt es zwar in 1 H „tötlicher“ und „Extase“, aber in 2 t und 3 d „tödlicher“, in 2 t „Exstase“ und in 3 d „Ekstase“. Aber es heißt in 1 H „Lustglühender Extase“, in 2 t und 3 t jedoch „Wutgeifernder“, was auf eine Überarbeitung schließen läßt. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob Trakl in der anderen Version nicht doch „tödlicher“ und „Ekstase“ geschrieben hat. Dagegen spricht, daß das erstgenannte Wort in eigen-

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Innsbrucker Trakl-Ausgabe (Anm. 4), Bd. IV.2, S. 332 und 338. Briefe Ficker an Buschbeck, 17. und 27.10.1939. Brief Demmer an Ficker, 17.12.1933. Innsbrucker Trakl-Ausgabe (Anm. 4), Bd. I, S. 91. – Wir emendieren nach dem Druck in Aus goldenem Kelch.

Textkritik bei der Edition von Trakls Werk

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händigen Niederschriften Trakls nur als „tötlicher“ vorkommt – eine Schreibung übrigens, die zu Trakls Lebzeiten schon längst veraltet war.69 In Gesang zur Nacht (Textstufe 2 t) sind im Vers „Ich wehr’ euch nicht ihr feindlich dunklen Mächte.“ das halbe „e“ in „Mächte“ und ein allfälliges Satzzeichen nicht mehr auf dem Blatt, weshalb wir nach dem Druck in Aus goldenem Kelch emendieren. Außerdem steht dort sinnstörend „nöch“ statt „noch“, was von uns ebenfalls emendiert wird.70 Trakl hat eine eigenwillige, nicht immer den zu seinen Lebzeiten gültigen Regelwerken entsprechende Interpunktion verwendet, was nicht zuletzt der angestrebten Verfremdung dient. Andererseits sind ihm zweifellos auch Flüchtigkeitsfehler unterlaufen. Bei einer Ausgabe wie dem Band Aus goldenem Kelch, die nachweislich unter dem Gesichtspunkt der Normalisierung und Modernisierung steht, kann letzten Endes an keiner Stelle entschieden werden, ob sie dem verschollenen Original entspricht oder nicht. Dazu kommt, daß Buschbeck gleich nach dem Erscheinen des Bands, dessen Drucklegung er durch mehrfaches Korrekturlesen betreut hat, sich dem Verleger gegenüber ausbedingt, bei einer allfälligen Neuauflage ein paar Korrekturen in Orthographie und Interpunktion vorzunehmen.71 Aus all diesen Gründen sind in der Innsbrucker Trakl-Ausgabe die genannten Gedichte in der Version von Demmers Abschrift zum Bezugstext gewählt worden. Der als nicht autorisiert anzusehende Band Aus goldenem Kelch ist für uns nur bei Gedichten editorisch relevant, bei denen der Druck Stellvertreterfunktion hat.72 Außerdem verzichten wir darauf, die Varianten einiger Gedichte der Sammlung 1909 heranzuziehen, die Brunner in seiner Dissertation zitiert; denn was hier zitiert wird – es handelt sich fast nur um einzelne Verse oder Versteile –, ist nicht mit dem Anspruch von Texttreue erfolgt.

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Drei Träume, Textstufe 1 T (wie in Brunners Dissertation, aber im Gegensatz zur Abschrift Demmers und zum Druck in Aus goldenem Kelch), ebd. Bd. I, S. 231 und 233; Grodek, Textstufe 1 H (wie im Druck im Brenner-Jahrbuch 1915), ebd. Bd. IV.2, S. 338. Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Halle/Saale 1897, und 2., verm. Aufl. 1908; Grimm 1935 (Anm. 47). Innsbrucker Trakl-Ausgabe, Bd. I, S. 117 und 119. Brief Buschbeck an Otto Müller, 17.12.1939 (Forschungsinstitut Brenner-Archiv, o. Sign.). Vgl. Eberhard Sauermann: Probleme der Autorisation bei Trakl. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung. Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21), S. 345355.

Martin J. Schubert

Reise zu den Grenzen der Textkritik Beobachtungen anhand des Passionals

Daß sich das Thema der Tagung Was ist Textkritik? der Syntax der Kinderfrage bediente, war offenbar nicht Ausdruck der Sorge ob schwindenden Wissens über Fachbegriffe, der man mit knappem Verweis auf entsprechende Lexikonartikel hätte begegnen können. Textkritik ist das „Verfahren der editorischen Herstellung eines Textes aufgrund der Sichtung und Bewertung seiner Überlieferung“.1 Vielmehr ist das Thema Zeichen einer nach forschungsgeschichtlichen Intermezzi erneuerten Bemühung um begriffliche Füllung von Grundbegriffen der Methodenlehre. Die begriffsgeschichtlichen Beiträge zur Tagung haben dies ausgeführt.2 In der Begriffsentwicklung des Kompositums ‚Textkritik‘ ist die große Beharrungskraft des zweiten Bestandteils hervorzuheben: Die Kritik, also laut Wortherkunft die Unterscheidungskunst, laut Gebrauch seit dem 17. Jahrhundert die wertende Kunstbeurteilung,3 ist als wissenschaftlicher Kernbegriff recht beständig gegen Wandel und wird, von Kant bis Sloterdijk, gleichgerichtet verwendet. Der Bedeutungswandel von ‚Textkritik‘ muß vielmehr beim ‚Text‘ gesucht werden. Während die erwähnte Definition scheinbar unverändert gilt, verschiebt sich ihr Gehalt mit den zeitgenössischen Anforderungen an Texte und an den Grad ihrer historischen Bezeugung. Das Ziel der Kritik ist jeweils der Text; aber die Vorstellungen, wie dieser auszusehen habe, wandelten sich in den letzten Jahrzehnten. Diese Veränderung wirkte analog in neu- und altgermanistischer Textkritik, unabhängig von der kategorialen Scheidung von meist autographer oder meist apographer Überlieferung.4 Der Editor

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Rüdiger Nutt-Kofoth: Textkritik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grudmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Jan-Dirk Müller. 3. Band. Berlin/New York 2003, S. 602–607, hier 603. Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Vom Schwinden der neugermanistischen Textkritik. Zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines editorischen Zentralbegriffs. In: editio 18 (2004), S. 38–55; Gunter Martens: Das Werk als Grenze. Ein Versuch zur terminologischen Bestimmung eines editorischen Begriffs. Ebd. S. 175–186. Siehe Nutt-Kofoth 2003 (Anm. 1), S. 604; Herbert Jaumann: Literaturkritik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Harald Fricke. 2. Band. Berlin/New York 2000, S. 463–468, hier 463f. Vgl. hierzu und zum folgenden Thomas Bein: Einführung. In: Altgermanistische Editionswissenschaft. Hrsg. von Thomas Bein. Frankfurt a. M. u. a. 1995 (Dokumentation Germanistischer Forschung. 1), S. 11–34; Thomas Bein: Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 1. Teilband. 2. Auflage. Hrsg. von Werner Besch u. a. Berlin/New York 1998 (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft. 2.1), S. 923–931.

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sieht sich jeweils varianter Überlieferung gegenüber, wobei die mittelalterliche öfters aus Rezeptionsvarianten besteht, die neuzeitliche häufig aus Autorvarianten. Dem unterschiedlichen Stellenwert dieser Kategorien tragen viele Altgermanisten Rechnung, indem sie sich bemühen, putative Autorvarianten aus dem Meer der Varianz herauszufischen und so gewissermaßen zu adeln. Das Ziel des Editionsvorgangs war allerdings früher stärker ein idealisierter Text, dessen vornehmliches Merkmal oft darin lag, daß er so nicht belegt war. In der Altgermanistik konnte dieser als erschlossener mutmaßlicher Urtext ausgegeben werden, während die neuere Germanistik den Idealtext eher zwischen der Imagination des Autors und ihren verschiedenen Verschriftungen ansiedelte. Der angestrebte Text ist heute eher ein überlieferungsnaher Text, deutlich gemacht werden soll seine Verwurzelung in der Überlieferung.5 Beim Überblick über die Fachentwicklung ist zudem zu unterscheiden, ob die kritische Bearbeitung den Text auf partikulare oder holistische Weise trifft. Die Kritik kann sich auf die Einzelstelle richten, diese mithilfe von grammatischen, stilistischen, metrischen oder inhaltlichen Kriterien analysieren und vorhandene Fehler tilgen. Auf solche partikularen Eingriffe wird der Editor nicht verzichten, da sie das mindeste kritische Bestreben ausmachen. Viele Varianten werden allerdings, zumal bei einem eng verstandenen Fehlerbegriff, als gleichwertig anzusehen sein. Darüberhinaus kann die Kritik versuchen, für die Konstitution des Textes in seiner Gesamtheit ein Regelwerk, eine Rezensionsformel, aufzustellen; aufgrund der Fehleranalyse den Überlieferungsgang zu rekonstruieren und darüber auch diejenigen Abweichungen zu hierarchisieren, die anhand der Einzelstelle keine Entscheidung zulassen. Hier wird die Textkritik zum System, das sich über die Einzelstelle hinwegsetzt. Im Zusammenspiel von Einzelstelle und Textgesamtheit, Fehleranalyse und Fehlerbegriff, examinatio der Textzeugen und Überlieferungsrekonstruktion wird die textkritische Arbeit hierbei zur hermeneutischen Quadratur des Zirkels, bei der grundverschiedene Kategorien zu einem einheitlichen Ergebnis zusammenzuführen wären. Es verwundert daher nicht, daß Rezensionsformeln und Stemmata die Varianz eines Textes oft nur zu einem Teil stimmig abbilden. Neuerliche Überprüfung, etwa aufgrund eines intersubjektiv verschiedenen Fehlerbegriffs, oder gar das Auffinden bislang unbekannter Überlieferungszeugen kann ein scheinbar funktionsfähiges Konstrukt nachhaltig diskreditieren. Verbreitet ist heute die Feststellung, daß für den größten Teil der mittelalterlichen volkssprachlichen Überlieferung keine vertikale Überlieferung vorliegt, die überhaupt die Voraussetzung für die Entwicklung einer Rezensionsformel bilden würde. In all diesen Fällen ist zu akzeptieren, daß die Uneinholbarkeit des Überlieferungsgangs eine Grenze für die Aufstellung fester Regelsätze darstellt.

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Martin J. Schubert: Ain schreiber, der was tëglich truncken. Zu Stand und Fortgang der Varianzforschung. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 35–47; Thomas Bein: Die mediävistische Edition und ihre Methoden. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth u. a. Berlin 2000, S. 81–98. Vgl. die Gegenüberstellung der „autororientierten“ zur „textorientierten Textkritik“ bei Bein 1995 (Anm. 4), S. 16.

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Das textkritische Bestreben sucht sich daher andere Ziele. Für die höfische Epik hat Joachim Bumke mit seiner Untersuchung und Edition zur Nibelungenklage6 den Standpunkt markiert, sich vom Griff nach dem Urtext zurückzuhalten und stattdessen die erschließbaren Fassungstexte kritisch zu edieren. Die synoptische Edition verschiedener Fassungen kommt dem Bestreben entgegen, die vielfältige Gestalt eines Textes in der Edition anschaulich zu machen. Bumkes Fassungsbegriff, der die Relevanz der Fassungen durch den in ihnen zu findenden unterschiedlichen Formulierungs- und Gestaltungswillen heraushebt,7 findet Anklang im Bestreben mancher Kollegen, verschiedene Versionen möglichst zu Fassungen zu erklären, so daß sie guten Gewissens den Zielpunkt der Edition bilden können. In jedem Fall ist bei Fassungseditionen festzustellen, daß die Grenze der Textkritik eine frei gewählte ist: nicht über den textkritisch erreichbaren Archetyp eines Teils der Überlieferung hinaus zu rekonstruieren. Aber auch eine partikulare Textkritik, die sich auf die Behebung von Beschädigungen einer bezeugten Textfassung beschränkt, stößt an Grenzen, die unmittelbar in der klassischen Textkritik begründet sind. Die Trennung und Auswahl von Fassungen muß auf einer Überlieferungsanalyse beruhen; auch die Wahl einer Leithandschrift ist vor allem über ihren Status im Zusammenhang des jeweiligen Überlieferungsgefüges zu rechtfertigen. Das überlieferungsgeschichtliche Rüstzeug, das solche Entscheidungen ermöglicht, besteht nach wie vor aus Binde- und Trennfehlern, auch wenn sich der Fehlerbegriff und der Umgang mit Fehlern geändert haben. Wie die Überlieferung abläuft, hängt zum einen an gattungstypischen Eigenheiten,8 zum Teil an diversen Faktoren, wie Status der Vorlage, erwartete Rezipienten oder Grad der Professionalität im Abschreibeprozeß. Diese Rahmenbedingungen der Überlieferung gilt es bei jedem Projekt neu zu beschreiben. Grundlage der Überlieferungsgeschichte ist in jedem Fall der textkritische Vergleich der Überlieferung. In der Arbeitsstelle Deutsche Texte des Mittelalters wird die Neuedition des Passionals (Buch I und II) vorbereitet, jenes auf der Legenda aurea aufbauenden deutschsprachigen Reimlegendars, das ein Marien- und Jesusleben mit den zugehörigen Marienlegenden sowie ein Apostelbuch verbindet und das eines der einflußreichsten Werke des beginnenden 14. Jahrhunderts ist.9 Es liegt bisher nur in Hahns Abdruck einer verkürzten Handschrift vor.10 Die starke Überlieferung (20 Vollhandschriften, Fragmente aus 58 Hss.) spielt sich fast ausschließlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ab; sie ist geteilt in Kompletthandschriften und in Exzerpte, vor allem

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Joachim Bumke: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 8). Bumke 1996 (Anm. 6), S. 32. Zu erwähnen sind hier die hochvarianten Formen wie Märe, Schwank oder Bispel, die vor allem durch Umstellungen (mouvance) betroffenen Lyrica oder die früh in Fassungen geschiedenen und danach relativ kontinuierlich überlieferten Epen. Hans-Georg Richert: Art. Passional. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 7. Berlin/New York 1989, Sp. 332–340. Das alte Passional. Hrsg. von Karl August Hahn. Frankfurt a. M. 1845.

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der enthaltenen Marienlegenden. Ein markantes Merkmal der Überlieferung ist die recht hohe, für volkssprachliche Texte sonst untypische Textkonstanz, wie bereits Hans-Georg Richert feststellte, der 1978 die Überlieferung umfassend aufarbeitete; dies könnte auf die Verbreitung durch professionelle Skriptorien verweisen.11 Als ein Grund für die konstante Überlieferung ist der Respekt vor dem heilsgeschichtlichen Text anzunehmen. Nach den bisherigen Kollationen können wir bestätigen, daß über weite Teile vor allem graphematische Varianten vorliegen. Der Wille zur Einheitlichkeit ist in einem nennenswerten Teil der Überlieferung weiter in einer fast standardisierten Seitengestaltung erkennbar. Da Richert die Entstehung des Werks dem Deutschen Orden zuschrieb, wäre hier an Skriptorien des Deutschen Ordens zu denken.12 Die geregelte Überlieferung ließe erwarten, daß sie die Bedingung klassischer Textkritik, eine vertikale Überlieferung mit Willen zur Originaltreue, erfüllte. Die festgestellte Konstanz trifft über weite Strecken auf mikrostruktureller Ebene, hinsichtlich des Wortlauts, zu. Die Makrostruktur des Textensembles weist, beispielsweise in der Umgruppierung und Extraktion von Legenden, massivere Varianten auf; hier kann nicht leichthin von fehlerhaften Unterschieden gesprochen werden. Der Gesamtvergleich muß zunächst auf denjenigen vier Handschriften basieren, die den kompletten Text von Buch 1 und 2 enthalten. Sie bieten zugleich einen Querschnitt durch die Überlieferungslandschaft: A: Berlin, SBB-PK, mgf 778 – ostmitteldeutsch B: München, SB, Cgm 7369 – böhmisch C: Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 2694 – oberdeutsch D: Heidelberg, UB, Cpg 352 – westmitteldeutsch Richert hatte die Lesarten in A-, B-, C- und D-Versionen unterteilt, womit jede Vollhandschrift von Buch 1 und 2 eine Version verträte.13 Einen überlieferungshistorischen Zusammenhang konnte er aus den vier Volltexten nicht ableiten, da die Koalitionen stets wechseln. Damit fand er sich einem bekannten Problem der Textkritik gegenüber, das verstärkt bei in kurzem Zeitraum stark überlieferten Texten auftritt. Wechselnde Kombinationen von Lesarten mindestens dreier Handschriften führen, für sich genommen, zu keinem stemmatischen Befund. Zur Erstellung eines Stemmas müssen die Lesarten in eine Hierarchie gebracht werden. Dazu muß auf Indizien zurückgegriffen werden, die über den Befund interner Verwandtschaften hinausgehen. Dabei kann es sich um textexterne Indizien handeln, etwa durch den Vergleich mit der Quelle einer Übersetzung. In den meisten Fällen aber wird der Editor textintern arbeiten und versuchen, die Lesarten auf ihre Kohärenz im Rahmen des Textes zu

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Hans-Georg Richert: Wege und Formen der Passionalüberlieferung. Tübingen 1978, S. 9f. Martin J. Schubert: Das ‚Passional‘ und der Deutsche Orden. Verbreitungs- und Tradierungsanalyse anläßlich der DTM-Neuedition. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters im östlichen Europa. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. Hrsg. von Ralf G. Päsler und Dietrich Schmidtke. Heidelberg 2006, S. 139–155, hier 148–150. Richert 1978 (Anm. 11), S. 10–14. Vgl. Schubert 2006 (Anm. 12), S. 145–148. Die Einteilung in ‚Versionen‘ war bei Richert noch keine Aufwertung zu Fassungen, welche einen separaten Abdruck rechtfertigen würde; dazu sind die Abweichungen quantitativ zu geringfügig. Ihm ging es um die Benennung von Merkmalsgruppen für die Zuordnung anderer Textzeugen (vgl. S. 14).

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überprüfen. Nur wenn er bereit ist, einzelne Lesarten als ‘echt’ und ursprünglich zu bestimmen, kann er eine Hierarchie und damit ein Stemma aufstellen. Richert hat in seiner ausführlichen Untersuchung vor allem den Überlieferungsraum des Passionals erforscht. Für seine projektierte Neuausgabe, die er nicht mehr fertigstellen konnte, sah er als Leithandschrift die Handschrift A vor, die den Sprachstand des Ursprungsgebiets am genauesten wiedergebe und zudem durch Alter und Textqualität herausgestellt sei.14 Besonders überzeugend ist die Argumentation für ostmitteldeutsche Entstehung des Werks anhand des Wortes entsaben/entseben (‚wahrnehmen, bemerken‘). Das nur im Reim stehende Wort (: haben/heben; selten graben/weben)15 wird in Handschriften anderer Provenienzräume gern getilgt, nirgends aber vollständig.16 Die Verteilung innerhalb der Handschriften ist nur so zu erklären, daß das Wort ursprünglich zum Vokabular des Werks gehörte und daß die jeweiligen Varianten sekundär sind.17 Dies ist allerdings das einzige originär überlieferungsgeschichtliche Argument. Die übrigen von Richert angeführten Kriterien – Alter, Dialekt und Textqualität – bieten keinen texthistorischen oder gar textkritischen Aufschluß, auf dessen Notwendigkeit Kurt Gärtner nachdrücklich hingewiesen hat.18 Bevor nicht die texthistorischen Verhältnisse genauer bestimmt sind – oder die Unmöglichkeit der genaueren Bestimmung aufgrund des kompletten Lesartenmaterials nachgewiesen ist – bleibt die Entscheidung für die Leithandschrift A eine vorläufige. Eine abschließende Feststellung kann also erst getroffen werden, wenn die Kollationen abgeschlossen sind. Richert führt für die überlegene Textqualität von A teils sehr gute Belege an. Ein Beispiel ist eine Passage über die Geburt Jesu, wo mit Bezug auf Maria gesagt wird:19 Hs. A

Hs. D (Hahn 148,81-84, BC analog)

Ein selic kint geborn wart Des si iuncvrouwe genas Als ouch ysaias Mit blozen worten von ir sprach

ein kint selich geboren wart des sin muter genas als ouch ysaias mit blozen worten von ir sprach

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Richert 1978 (Anm. 11), S. 235. Zur neuen Datierung des Codex (nicht vor dem Ende des 1. Viertels des 14. Jh.s) siehe: Heike Burmeister: Der Judenknabe. Studien und Texte zu einem mittelalterlichen Marienmirakel in deutscher Überlieferung. Göppingen 1998, S. 94f. Richert setzt entseben an; die Formen mit -a- sind allerdings im Text rund viermal häufiger. Die Präteritumform entsuben (: huben, gruben) wird einmal auf buben gereimt. Siehe: Marienlegenden aus dem alten Passional. Hrsg. von Hans-Georg Richert. Tübingen 1965 (Altdeutsche Textbibliothek. 64), Vers XXIV, 296. Richert 1978 (Anm. 11), S. 231–233. Nicht erklärt ist bisher der Umstand, daß die Belege ausschließlich im Reim auftauchen. Dies gilt auch für andere außergewöhnliche Wörter, die für die Analyse des Verbreitungsraums herangezogen wurden, wie das besondere tolke (‚Übersetzer‘ – dazu siehe: Richert 1978 (Anm. 11), S. 198–202). Alle Versuche, diese exponierte Stellung zu erklären, sind äußerst spekulativ: sie reichen von der restriktiven Verwendung durch den Dichter mit der Absicht, dialektale Änderungen zu verhindern, bis hin zur archetypischen Tilgung nicht im Reim stehender Belege. Kurt Gärtner: Zur Überlieferungsgeschichte des ‚Passionals‘. In: ZfdPh 104 (1985), S. 35–69, bes. S. 46. Zu Gärtners Versuch, die Gruppe *BCD zu etablieren, und zur Relevanz der Heinrich von München-Überlieferung für die Passional-Edition siehe: Schubert 2006 (Anm. 12), S 145–148. Richert 1978 (Anm. 11), S. 237.

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Die Aussage von BCD, daß Maria aus der Geburt als Mutter hervorging, erscheint seltsam tautologisch und rechtfertigt in keiner Weise die Berufung auf Jesaja im anschließenden Vers. Erst in A wird der Zusammenhang deutlich: Die jungfräuliche Geburt steht in direkter Relation zum Verweis auf Jes 7,14, also die alttestamentarische typologische Vorlage, die überhaupt erst zur Vorstellung der Jungfrauengeburt geführt hat. Die Lesart von A ist damit eindeutig vorzuziehen und wahrscheinlich ursprünglich, während die anderen Handschriften in der schlechteren Lesart übereinstimmen. Anders als im erwähnten Fall von entsaben/entseben ist an dieser Stelle zwar nicht die Motivation für den Eingriff der Abschreiber ablesbar, aber die Priorität dürfte eindeutig sein. Richert führt darüberhinaus allerdings auch Belege an, die allenfalls seine Voreingenommenheit für das Eigengut von A beweisen.20 Sondergut von A, das nicht durch andere Indizien gestützt wird, kann strenggenommen nicht textkritisch verwendet werden. Daß A nicht vorbehaltlos gefolgt werden kann, erweist sich an den Stellen, an denen gegen A als Leithandschrift eingegriffen werden müßte. A zeigt einige Minusverse im Vergleich mit den anderen Haupthandschriften, wobei debattierbar ist, ob es sich um Auslassungen hier oder Zufügungen bei den anderen handelt. Beispielsweise hat A mehrfach Minusverse am Abschnittsende gegen die übrige bislang überprüfte Überlieferung. Da die in anderen Handschriften gebotenen Verse inhaltlich entbehrlich scheinen, könnte angenommen werden, daß sie auf Textergänzungen zurückgehen, die aus eugraphischen Gründen am Abschnittsende zugefügt wurden.21 Hs. A

Hs. D (Hahn 18,8–12; B analog)

Diz was in der selben zit Do aller heiligen heilikeit Got an sich nam die menscheit

dit waz in der selben zit do aller heiligen heilikeit got nam an sich die menscheit vnd da mit vf die erde quam als vnser noturft gezam

Besonders suspekt sind die Lesungen der Kontrollhandschriften dort, wo ungewöhnliche Vierreime entstehen, die zudem inhaltlich nichts hinzufügen:22 Hs. A

Hs. D (Hahn 189,82–87; B analog)

Mines herren schilt ich trage Dar vnder wil ich striten

Mines herren schilt ich trage dar under wil ich striten

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Zum altpulser (‚Schuhmacher‘) als ‚lectio difficilior‘ und zu slepen (‚schleifen‘) siehe: Richert 1978 (Anm. 11), S. 239 sowie die Kritik bei Schubert 2006 (Anm. 12), S 146f. In der Manier von Spaltenreimen; analoge Fälle bei Hahn 1845 (Anm. 10), 17,72f.; 155,46f.; siehe: Kurt Gärtner: Spaltenreime in der Überlieferung des Armen Heinrich Hartmanns von Aue. In: Septuaginta quinque. Festschrift für Heinz Mettke. Hrsg. von Jens Haustein, Eckhard Meineke, Norbert Richard Wolf. Heidelberg 2000 (Jenaer Germanistische Forschungen. N.F. 5), S. 103–110; Wolfgang Achnitz: Die Bedeutung der Drei- und Vierreime für die Textgeschichte des Erec Hartmanns von Aue. In: editio 14 (2000), S. 130–143; ders.: Ein rîm an drîn worten stêt. Überlegungen zu Verbreitung und Funktion von Mehrreimen in mittelhochdeutscher Reimpaardichtung. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 129 (2000), S. 249–274. Zur Eugraphie siehe: Martin J. Schubert: Versuch einer Typologie von Schreibereingriffen. In: Der Schreiber im Mittelalter. Berlin 2003 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. 7, 2002, Heft 2), S. 125–144, hier S. 139–143. Ein ähnlicher Fall liegt vor bei Hahn 1845 (Anm. 10), 200,69–73.

Reise zu den Grenzen der Textkritik

Ich enwil von siner siten Nimmer treten einen vuz

335 ich enwil in decheinen ziten mich von siner siten nimmer hin gewiten durch vorchte einen halben vus

Allerdings ist das Argument, Verse seien entbehrlich, offensichtlich zweischneidig, da gerade solch unschuldige Füllverse im Überlieferungsgang durch kürzende Abschreiber besonders gefährdet waren.23 Aus sachlichen oder inhaltlichen Gründen ist an den angeführten Stellen keine der beiden Varianten zu bevorzugen. Die Argumentation muß hier der Überlieferungsanalyse folgen, wenn nicht der Leithandschrift kritiklos gefolgt werden soll. Letzteres verbietet sich ohnehin, da auch in Handschrift A sinnentstellende Auslassungen festzustellen sind, die auf Augensprünge zurückzuführen sein dürften:24 Hs. A

Hs. D (Hahn 114,21–32; BC analog)

Sie sprachen durch iren spot Daz dise weren al trvnken

vnde sprachen druf durch iren spot daz die weren alle trunken vnde raseten bi gedunken alsvs zv den volken secht do sprach sunder tolken in harte wislichem sin petrus der vursten vnder in daz wol vernam ein iechelich ir herren sprach er horet mich dit volch enist nicht trunken nach sumelicher bedunken sit noch so vru ist der tach

Nach svmelicher bedvnken Sit noch so vru ist der tac

Plausibel ist die Auslassung der Verse in A, wenn der Abschreiber beim Blick auf seine Vorlage aufgrund des im kurzen Bereich zweimal stehenden trunken abirrte. Mit den ausgefallenen Versen ist die inquit-Formel verloren gegangen, die den Sprecherwechsel anzeigt. Der von A gebotene Text ist infolgedessen in mehreren Hinsichten inkohärent und kann in keiner verständigen Weise als mögliche Variante angesehen werden. An einer Passage im Werk ballen sich massiv die Varianten der Makrostruktur: bei den Marienlegenden. So umfaßt die bei Hahn abgedruckte Heidelberger Handschrift (D) zwar Buch 1 und 2, darin aber nur fünf der 25 sonst überlieferten Marienlegenden. Dies könnte als anhebende Tendenz zum Exzerpt gedeutet werden, die weiterwirke in denjenigen Handschriften, die unabhängig von Jesusleben und Apostelbuch ausschließlich Marienlegenden exzerpieren. Andererseits, und diese Möglichkeit muß vor der Aufstellung einer texthistorischen Hypothese offengehalten werden, könnte es sich bei der kurzen Folge von Marienlegenden ebenso um eine ursprüngliche Fassung

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Siehe dazu Kurt Gärtner: Überlieferung und textus receptus. Zur Neuausgabe des Armen Heinrich Hartmanns von Aue. In: editio 17 (2003), S. 89–99, bes. S. 96f. Analoge Fälle bei Hahn 1845 (Anm. 10), 123,83–90; 205,45–52.

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Martin J. Schubert

handeln, bei der längeren um das Ergebnis von Anlagerungen.25 Offenbar haben sich verändernde Inhaltskonzepte und Gebrauchszusammenhänge – besonders im Bereich der populären Marienlegenden – dazu geführt, daß entweder die Vorlage als eine Art Steinbruch zur freien Auswertung benutzt wurde oder zum ergänzenden Fortschreiben anregte. Das textkritische Bestreben führt in diesem Fall unmittelbar in Überlieferungs-, Rezeptions- und Interessenforschung. Ohne daß die Kollation bislang abgeschlossen ist, zeichnet sich ab, daß die Kontaminationsgänge so komplex sein könnten, daß sie keine strikte stemmatische Darstellung zulassen. Gerade bei dem beliebten, rasch vervielfältigten Text kann es sich einmal mehr um einen Fall handeln, dessen Überlieferungsgeschichte man sich am ehesten durch einen großen Tisch vergegenwärtigen kann, an dem alle Schreiber gemeinsam saßen und Lesarten reihum gehen ließen.26 Der Editor muß aus diesem Gemenge einen linearen Text isolieren, dabei die Bezeugung der jeweiligen Stelle eindeutig markieren und zugleich dem Benutzer Hinweise und Hilfen für die nötige gegenläufige Lektüre geben. Bei der Neuedition des Passionals soll dies so ausgeführt werden, daß zwar einer Leithandschrift gefolgt wird, daß die Kombination mit anderen Handschriften aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. Für oder gegen die Übernahme entscheidet der Editor im Einzelfall. Erkenntnisse über die Überlieferungsgeschichte dienen dazu, die Einzelentscheidungen zu stützen, auch wenn kein fester Regelsatz im Sinne einer gewissermaßen mechanistisch auswertbaren Rezensionformel erstellt wird. Die Editionsgeschichte lehrt, daß vermeintlich feste Regelsätze einer holistischen Textkritik meist zu angreifbaren Ergebnissen führten, weil der interpretative Anteil bei ihrer Genese bereits hoch ist. Demgegenüber bestehen hervorragende Editionen von Herausgebern, die bereit waren, sich über vermeintliche Regelsätze hinwegzusetzen. Ein Beispiel ist die bis heute unersetzte Parzivalausgabe Lachmanns, der zwar die editorische Methodik prägte, aber im Einzelfall bereit war, zugunsten des Textes zu entscheiden. Wenn der Editor sich um Aufklärung der Überlieferungsgeschichte bemüht, ohne sich an sie auszuliefern, kann die Lösung von strikten Regelsätzen letztlich zur Stärkung der Stellung des Herausgebers führen. Damit wird der interpretative Anteil der editorischen Arbeit auf die partikulare Textkritik verlegt. In jedem Einzelfall wird der Herausgeber versuchen, seine Befunde zu objektivieren und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Die diversen Einzelergebnisse können zwar gelegentlich widerstreitende Eindrücke erwecken. Auch in

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Dagegen können weder der Eindruck von Ursprungsnähe der Handschrift A zeugen noch derjenige von stilistischer Einheit der Marienlegenden. Abgesehen von der stets willkommenen Hypothese von Autorfassungen, wäre diese stilistische Einheit noch näher zu untersuchen. Vgl. Irina Denissenkos These einer Passionalautorengruppe. In: Päsler/Schmidtke 2006 (Anm. 12), S. 125–138. Aufschluß verspricht unter anderem die anstehende Erstellung eines Reimwörterbuchs mit differenzierter Frequenzenanalyse aufgrund des vollständigen Materials, das die vorliegende Arbeit (G. Thiele: Der Ursprungsraum des Passionals. Weimar 1936) ersetzen könnte. Zu Recht wurde in der Diskussion eingewandt, daß eine solche Vorstellung wohl kaum die Wirklichkeit widerspiegele. Als sinnbildlicher Ausdruck für einen festgestellten Überlieferungsbefund allerdings ist sie ebenso gerechtfertigt – und ebenso realistisch – wie eine stemmatische Darstellung mit vielfältigen Kontaminationslinien.

Reise zu den Grenzen der Textkritik

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Leithandschrifteneditionen wird gegen die Leithandschrift entschieden; selbst die texthistorische Herleitung einer Lesung kann nicht grundsätzlich gegen die Anwendung partikularer Kritik überwiegen.27 Was also ist Textkritik? Textkritik dürfte in den wenigsten Fällen als Weg zu einem Formelsatz verstanden werden, der die Wiederherstellung eines Urtextes ermöglicht. Sie ist Grundlage der Überlieferungsgeschichte und damit ein wesentliches Hilfsmittel. Letztlich ist sie im Einzelfall die Herstellung des Textes, und hierin kann sie nicht von einem scheinbar strikten Regelsatz übernommen werden, sondern ist Objekt der gesteuerten und geregelten Willkür des Editors. Insofern liegt die letzte Grenze der Textkritik immer im Kopfe des Herausgebers.

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Ein Beispiel aus der Edition von Johannes Rothes ‚Elisabethleben‘, die Annegret Haase und der Verfasser für die DTM vorgelegt haben, betrifft die editorische Tilgung eines Plusverses, der gruppenbildend für die Leithandschriftengruppe wirkt. Siehe: Martin J. Schubert: Ideal und Pragmatik. Entscheidungsspielräume des Editors. In: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004. Hrsg. von Martin J. Schubert. Tübingen 2005 (Beihefte zu editio 23), S. 203–216.