Lebenslagen unter Altersarmut: Über die Lebenssituation von als arm und alt adressierten Menschen [1. Aufl. 2019] 978-3-658-27621-8, 978-3-658-27622-5

Die Arbeit analysiert die Lebenslagen von als arm und alt adressierten Menschen. Sie nimmt die Armutskonzeption von Simm

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Lebenslagen unter Altersarmut: Über die Lebenssituation von als arm und alt adressierten Menschen [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-27621-8, 978-3-658-27622-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Einleitung (Lukas Richter)....Pages 1-9
Das doppelte Relativ der Altersarmut (Lukas Richter)....Pages 11-173
Methodisches Design und Durchführung (Lukas Richter)....Pages 175-202
Ergebnisse (Lukas Richter)....Pages 203-303
Abschließende Gedanken (Lukas Richter)....Pages 305-310
Back Matter ....Pages 311-357

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Lukas Richter

Lebenslagen unter Altersarmut Über die Lebenssituation von als arm und alt adressierten Menschen

Lebenslagen unter Altersarmut

Lukas Richter

Lebenslagen unter Altersarmut Über die Lebenssituation von als arm und alt adressierten Menschen Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Manfred Lueger.

Lukas Richter Institut für Soziologie und Empirische Sozialforschung Wirtschaftsuniversität Wien Wien, Österreich Dissertation an der Wirtschaftsuniversität Wien, Fachbereich Soziologie, 2019

ISBN 978-3-658-27621-8 ISBN 978-3-658-27622-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-27622-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Geleitwort Soziale Ungleichheit und Armut sind brisante und in der Öffentlichkeit heftig diskutierte Themen. Thomas Piketty bildet mit seinem Werk „Capital in the Twenty-First Century“, in dem er die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen anprangert, nur eine gut sichtbare publizistische Spitze. Dennoch ist trotz der wiederkehrenden kritischen Diskussion von Veränderung nur wenig zu bemerken. Auch in Österreich ist die ungleiche Verteilung des Reichtums in Form von Vermögen als besonders markanter Indikator von Ungleichheit unübersehbar: Nur etwa 5% der Bevölkerung verfügen derzeit über die Hälfte des gesamten Vermögens, während sich die Hälfte der Bevölkerung mit gerade 4% des Vermögens begnügen muss. Dazu kommt die Armutsgefährdung eines beachtlichen Teils der Bevölkerung. Auch wenn in diesem Zusammenhang häufig von alleinerziehenden Müttern, von Kindern, MigrantInnen oder den „Working poor“ die Rede ist, so ist auch die Altersarmut ein nicht zu unterschätzendes Problem in unserer Gesellschaft. Allerdings wird Altersarmut meist im Kontext materieller Deprivation betrachtet, was diese Lebenslage völlig unzureichend charakterisiert. Das von Lukas Richter vorgelegte Buch geht weit über diese beschränkte Sicht hinaus und diskutiert Altersarmut als Zuschreibung und als eine drängende Herausforderung im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Entwicklung, in Hinblick auf die Lebensverläufe, die den Weg in die Altersarmut bereiten sowie mit Blick auf die Lebensqualität der Betroffenen und deren Strategien der Alltagsbewältigung. Die aufgegriffene Thematik ist aus zweierlei Gründen höchst relevant: Zum einen im Rahmen sozialpolitischer Überlegungen mit Blick auf die soziale und ökonomische Absicherung von alten Menschen, wobei die demographischen Entwicklungen zusätzlich die Brisanz dieser Thematik hervortreten lassen. Dabei spielen die Definition von Armut und die Sozialberichterstattung eine besondere Rolle. Zum anderen geht es im Rahmen der Soziologie in Hinblick auf Alter und Armut um biografische Entwicklungen, die in die Armut führen, was heute als Armutsfalle diskutiert wird, sowie um die Besonderheiten der Lebenslagen der Betroffenen, ihre eigenen Einschätzungen dazu und wie sie mit dieser Situation umgehen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Veränderungen der Arbeitswelt (etwa in Richtung atypischer oder diskontinuierlicher Beschäftigung, Migration) den Kreis altersarmer Menschen künftig noch zusätzlich ausweiten könnten. Trotz dieser absehbaren Entwicklungen ist die Bedeutung des Themas in der Öffentlichkeit viel zu wenig präsent, vielleicht auch deshalb, weil diese Form der Armut häufig vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen bleibt, wenngleich sie massive Folgen für die Lebensqualität der Betroffenen hat. Vor diesem Hintergrund untersucht Herr Richter zwei zentrale Forschungsfragen. Die erste betrifft die konkrete Ausformung der Lebenslagen von Menschen, die als altersarm adressiert werden. Die zweite rückt die verschiedenen Dimensionen solcher Lebenslagen und mögliche Interdependenzen zwischen diesen sowie deren Auswirkungen in das Zentrum der Betrachtung. Indem die Arbeit nicht bei einer rein statistischen oder begrifflichen Befassung mit Altersarmut stehen bleibt, zeigt sie, wie sich in der Lebenspraxis altersarmer Menschen deren Lebenslagen unterscheiden, wie sie in diese Lage geraten sind und wie sie damit versuchen, zurecht zu kommen. Dabei bieten die zentralen konzeptionellen Ausgangspunkte eine sehr gute Blickorientierung für die Analyse: Armut wird als gesellschaftliche Kategorie bestimmt, was die als arm adressierten Menschen in das Zentrum rückt. Darüber hinaus orientieren sich die Ausführungen an den Lebenslagen als multidimensionales Konzept, welches die Komplexität des Armutsalltags berücksichtigt.

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Vorwort

Ausführlich befasst sich das hier vorgelegte Werk auch mit den sozialpolitischen Debatten und Messkonzepten, die den verschiedenen Sozialberichten im Zeitverlauf zugrunde liegen und damit die Zuschreibung von Armut immer wieder redefinieren. Das macht unmittelbar einsichtig, warum Vergleiche so schwierig sind, zeigt aber zugleich, vor welche Probleme die Messung von Einkommensarmut oder die Bestimmung von Deprivation gestellt sind und lenkt den Blick auf sozialpolitische Interventionen und Sozialleistungen, die nicht zuletzt von der laufenden politischen Diskussion abhängen. Die Ausführungen zum politisch-administrativen Standard von Sozialleistungen in Österreich erläutern nicht nur die Komplexität der Thematik, sondern schaffen einen wichtigen Hintergrund für das Verständnis der Erkenntnisse aus dem empirischen Teil. Diese empirischen Fallanalysen altersarmer Menschen vermitteln einen überaus facettenreichen Einblick in die Lebenswelt der untersuchten Gruppe. Eindrucksvoll werden im Zuge dessen die höchst unterschiedlichen Wege in die Armut charakterisiert und die konkreten Lebensumstände der befragten Personen sowie ihre Umgangsformen mit ihrer finanziellen Situation, ihre sozialen Kontakte und die allgemeinen Lebensbedingungen herausgearbeitet. Einen besonders innovativen Beitrag zur Forschungslandschaft bilden die Ausführungen zu den Bedingungen von Altersarmut und die Deutung dieser Lebenslage durch die Betroffenen. Im Zuge dessen wird die Vielfalt der Dynamiken im Zusammenhang mit der Entstehung, der Wahrnehmung und dem Umgang mit Armut plastisch vor Augen geführt. An dieser Stelle sollten zwei wichtige Kernaussagen der Arbeit hervorgehoben werden: Zum einen, dass für das Verständnis von Altersarmut ein Blick auf die Lebensgeschichte der Betroffenen unabdingbar ist; zum anderen, dass der Umgang mit diesem Phänomen eine gesellschaftliche Aufgabe ist, die nur sehr bedingt individuell zu bewerkstelligen ist. Die empirischen Ausführungen leisten dazu einen wichtigen Beitrag und erweitern das Verständnis von Altersarmut, machen die Dynamiken zur Verfestigung der Armutssituation klar erkennbar und lenken den Blick auf die kumulative Benachteiligung dieser Gruppe von alten Menschen. Und sie zeigen, wie beispielsweise historische Phänomene, gesundheitliche Probleme, die berufliche Karriere oder die familiäre Situation in Armut führen, wobei einschneidende Ereignisse oder Änderungen im Pensionssystem durch politische Entscheidungen die Planbarkeit der Altersvorsorge zusätzlich reduzieren. Insgesamt erweist sich das vorliegende Werk als umfassender, höchst informativer und kenntnisreicher Beitrag zum Verständnis der Differenziertheit von Altersarmut und schafft dadurch eine wertvolle Entscheidungsgrundlage für damit befasste Stellen. Die detailreiche Analyse der verschiedenen Wege, Rahmenbedingungen und Umgangsformen mit Altersarmut bildet eine entscheidende Stärke der Arbeit und bereichert die wissenschaftliche und sozialpolitische Diskussion. Gerade weil diese materielle und soziale Not-Lage in Zukunft voraussichtlich noch verschärft auftreten wird, ist dieser Arbeit eine breite Leserschaft zu wünschen. Manfred Lueger

Vorwort „Direkter als in anderen Forschungsbereichen verweist jede Erkenntnis über Armut zugleich auf den politischen Handlungsbedarf, diese gesellschaftliche Erscheinung zu beseitigen. Soziologie kann sich hier nicht einfach aus dem politischen Alltagsgeschäft zurückziehen. Forschung über Armut fordert zügig Aktivitäten heraus, die das System der Erkenntnisgewinnung überschreiten“ (Leibfried & Voges, 1992, S. 13). Einige Versionen habe ich auf Papier und im Geiste für das Vorwort formuliert, teils unmittelbar nach Interviews, teils nach längeren Pausen, um mich wieder auf die Arbeit zu besinnen. Prägnante Sätze wie „Konsum ist geil“, wenn nahezu jeder Euro in den täglichen Bedarf fließt oder „Aus den Augen, aus dem Sinn“, wenn sich die kahle, abgewohnte Wohnung unscheinbar hinter der Fassade eines typischen Wiener Altbaus versteckt, sollten diesen Worten voranstehen, um letzten Endes doch wieder aufgrund der Befürchtung eines unwissenschaftlichen Nachrufs in der Schublade zu verschwinden. Doch, so deutet obiges Zitat an, erzwingt das Thema Armut in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung auch das Engagement einer Beseitigung und Bewusstmachung der Lebensbedingungen armer Menschen und provoziert damit ebenso eine plakative Sprache. „Armut erzwingt Stellungnahmen auch von den distanziertesten Formen soziologischer Gesellschaftsbeobachtung, und genau dies scheint ihren besonderen gesellschaftlichen Charakter auszumachen“ (Barlösius & Ludwig-Mayerhofer, 2001, S. 53). „A critical perspective does not end with study. It is committed to remedying the underlying conditions that place certain people at the margins“ (Holstein & Minkler, 2003, S. 794). Je mehr ich mich mit dem Thema der Altersarmut beschäftige, umso dringlicher sah und sehe ich die Notwendigkeit dieser Arbeit (mögen hoffentlich weitere folgen) im Bedarf stofflicher Grundlagen, an denen sich gesellschaftliche Debatten entzünden können, denn erst im Bemerktwerden wird dem Menschen, dem altersarmen Menschen ein „Platz eingeräumt“ (Todorov, 1998, S. 95). Die Jahre der thematischen Beschäftigung, der Ansammlung von Material, Interviews mit Betroffenen und ExpertInnen aus dem Feld, Besuche von sozialen Einrichtungen, das Schreiben von wissenschaftlichen Texten und Präsentationen zum Thema, aber auch die Begleitung der Entstehung der Plattform alt.arm.weiblich machten mir bewusst, wie wenig der Altersarmut Raum in der politischen Diskussion in Österreich gewidmet wird. Altersarmut scheint nicht zu existieren oder ein Dasein am Rande zu fristen. Diese Arbeit reiht sich daher in die wenigen ein, welche als Mahnung dafür stehen, dass es sie gibt, die Altersarmut – auch wenn man sie nicht sehen will oder sehen kann. „It may be that more people were poor 50 or lOO years ago; that does not matter. If poverty remains on a scale of 5 or 10 per cent or more, our societies still suffer mass poverty“ (Ringen, 1988, S. 352). „We ignore [poverty] because we share with all societies at all times the capacity for not seeing what we do not wish to see. Anciently this has enabled the nobleman to enjoy his dinner while remaining oblivious to the beggars around his door. […] But while our failure to notice can be explained, it cannot be excused” (Galbraith, 1958, S. 259)

VIII

Vorwort

Im Einklang mit den AutorInnen nötigt Armut Stellung zu beziehen, was für mich bedeutet, das Bestehende kritisch zu hinterfragen und Problemlagen aufzuzeigen. Diese Arbeit soll den Betroffenen eine Stimme verleihen und trotzdem eine wissenschaftliche Haltung bewahren, d.h. Handlungen und Aussagen der Befragten ebenso kritisch zu durchleuchten, wie das System, welches Armut schafft. Ich hoffe, dass mir dies gelungen ist. In diesem Vorwort möchte ich eine Betroffene zu Wort kommen lassen, unkommentiert von meiner Seite, da auf den folgenden Seiten zuerst ausgiebig theoretisch-abstrakte Ausführungen folgen, die nicht darüber hinwegtäuschen sollen, dass Altersarmut ein Phänomen ist, das lebende Menschen in prekären Situationen umfasst und nicht nur wissenschaftlich hinter dem Schreibtisch abgehandelt werden kann. Frau B.1, was wünschen Sie sich, was hätten Sie gerne? „so Kleinigkeiten, vielleicht einmal irgendwie zum IKEA fahren, irgend eine Kleinigkeit kaufen, außer Lampen, wo ich das vorfinanziere und dass dann wieder zurück bekomme aber oder einmal irgendwie vielleicht ein Tischerl kaufen und nicht aufs Geld zu schauen, einfach was, was mir gefällt [...] Einfach mal selber, irgendwie, um das geht es. Und einfach mal, vielleicht einmal bei Schuhen nicht auf den Preis zu schauen [...] Ja - solche, eigentlich ja, ich bin nicht so, ich muss nicht wegfahren, bin ich gar nicht so der Fan davon, aber einfach a bisserl, vielleicht einmal Spareribs essen gehen wieder zum Brandauer [...] Oder einmal vielleicht nicht ein Eis aus dem Supermarkt, oder vielleicht einmal so irgendwo eine Eisbox zu kaufen, das sind so Kleinigkeiten [...] Ein Tablet kaufen zum Beispiel, würde mich wahnsinnig interessieren, ist aber nicht drinnen einen neuen Staubsauger, a jetzt, jetzt kommt jetzt dann die Doppelte, da geht es sich grad aus, dass ich mir eine neue Waschmaschine, also ich möchte mir gerne eine eigene Waschmaschine kaufen [...] Oder einfach mal, wenn ich was sehe, für den Hund, irgendwie ein Hundegeschirr, das zu kaufen oder bestellen zu können oder die Wertkarte nicht am Ende des Monats, wenn das Geld kommt oder Anfang des Folgemonats, sondern einfach dann, wenn ich es brauche. Das sind so Sachen und das ist halt, das sind 20 € das ist purer Luxus, es ist Luxus. Und das irgendwie, ja aber so, man wird wirklich bescheidener, wenn man, man wird wirklich bescheidener, aber trotzdem, so ein paar Kleinigkeiten wären schon nicht schlecht oder vielleicht einmal, irgendwelche Fruchtsäfte oder sowas, die halt doch, nicht bio sind aber da gibt es ja welche, die sind halt einfach a bisserl teurer, nicht und so“ Frau B.1. Mit diesem Ausschnitt möchte ich mich bei allen InterviewpartnerInnen bedanken, welche mir tiefe Einblicke in ihr Leben, in ihre Wohnung, viele auch in ihre Wünsche und Hoffnungen, Trauer und Verzweiflung gewährt haben. Aus meiner Sicht ist es unverzichtbar mit Betroffenen zu reden und sie als ExpertInnen ihrer Lebenslage zu hören, selbst wenn man sich nur theoretisch oder sekundäranalytisch mit dem Thema zu beschäftigen glaubt. Ich möchte mich bei allen im Feld arbeitenden ExpertInnen bedanken, welche mir bei der schwierigen Suche nach Betroffenen halfen, mir selbst erlebte Episoden aus der Arbeit erzählten oder mir Einlass in

Vorwort

IX

Einrichtungen gewährten, welche mir bis vor Kurzem unbekannt und fremd waren. So lernte ich in Wien neue Orte kennen, die für mich bis dahin nicht existierten, die keine Bedeutung hatten und deren Wert ich erst heute zu würdigen vermag. Die Danksagung an meine wissenschaftlichen Begleiter und Förderer möchte ich mit Herrn Prof. Jost beginnen, der am Beginn meine Laufbahn begleitete und mich dem Thema Altersarmut näher brachte. Einen besonderen Dank möchte ich Prof. Lueger und Prof. Heitzmann in ihrer Funktion als BetreuerInnen und Prof. Motel-Klingebiel und Prof. Brandtweiner als Begutachter aussprechen, welche mir unterstützend zur Seite standen und mit Anmerkungen zur Qualität dieser Arbeit beitrugen. Ein herzliches Dankeschön an Prof. Reiger, welcher mit Zuckerbrot und Peitsche, Nachsicht in der Hintanstellung anderer Arbeiten und einem immer offenen Ohr für die Leiden eines Dissertanten in den letzten zwei Jahren die Ausarbeitung beflügelte, damit diese „endlich fertig wird!“. Auch gilt mein Dank meinen KollegInnen am Institut, welche im Austausch Perspektiven anregten und immer für einen Diskurs bereitstanden. Das Schreiben einer solchen Arbeit kostet nicht nur einem selbst Kraft, sondern zehrt auch an den Ressourcen seiner Umwelt. Vor diesem Hintergrund möchte ich meiner Lebensgefährtin Katharina danken, welche meine geistige Abstinenz bereitwillig in Kauf nahm. Zuletzt gilt mein ganzer Dank meinen Eltern Birgit und Herbert Richter, welchen diese Arbeit gewidmet ist. Ohne ihre umfängliche Unterstützung wäre die Arbeit wohl nie entstanden. Es ist ein Privileg, frei von Zwängen zu studieren und sich der Reflexion und dem Schreiben hingeben zu können. All dies wurde mir ermöglicht. Danke. Wien, 2019

Lukas Richter

Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................................................. VII Abbildungs- und Tabellenverzeichnis .............................................................................. XIII 1

Einleitung .......................................................................................................................... 1

1.1 Zielsetzung der Arbeit ..................................................................................................... 1 1.2 Aufbau der Arbeit ............................................................................................................ 7 2

Das doppelte Relativ der Altersarmut .......................................................................... 11

2.1 Armut als soziale Beziehung und Reaktion ................................................................. 12 2.1.1 Simmel und der Arme .......................................................................................... 12 2.1.2 Pragmatismus der Praxis ...................................................................................... 17 2.2 Abriss konzeptioneller Bestimmungsversuche von Armut ........................................ 81 2.2.1 Grunddifferenz absolute und relative Armut ....................................................... 83 2.2.2 Indirekte oder direkte Messung von Armut ......................................................... 94 2.2.3 Eindimensionale oder multidimensionale Armut ................................................. 99 2.2.4 Ein Zwischenfazit ............................................................................................... 103 2.3 Das Alter – ein soziales Konstrukt? ............................................................................ 107 2.3.1 Charakteristika der Lebensphase Alter .............................................................. 109 2.3.2 Ausdifferenzierung des Alters und Institutionalisierung des Lebenslaufes ....... 119 2.3.3 Das dritte Alter und seine Altersgrenzen ........................................................... 122 2.3.4 Konklusion – ein Mittelweg ............................................................................... 127 2.4 Adressat altersarmer Mensch ..................................................................................... 128 2.5 Lebenslagen in Altersarmut ........................................................................................ 138 2.5.1 Würdigung der Ursprünge .................................................................................. 140 2.5.2 Der Arbeit zugrundeliegende Konzeptualisierung ............................................. 152 2.5.3 Empirische Fundierung ausgewählter Lagedimensionen ................................... 163 2.5.4 Schlussbemerkung .............................................................................................. 172 3

Methodisches Design und Durchführung .................................................................. 175

3.1 Triangulation der Erhebung ....................................................................................... 176 3.1.1 Narratives Interview nach Schütze ..................................................................... 179 3.1.2 Problemzentriertes Interview nach Witzel ......................................................... 186

XII

Inhaltsverzeichnis

3.2 Analyseverfahren ......................................................................................................... 190 3.2.1 Biographische Fallrekonstruktion ...................................................................... 191 3.2.2 Grounded Theory ............................................................................................... 197 3.3 Prozess der Erhebung und Auswertung..................................................................... 199 3.3.1 Zugang zu und Auswahl von InterviewpartnerInnen ......................................... 200 3.3.2 Konkrete Ausgestaltung in der Übersicht .......................................................... 201 4

Ergebnisse ..................................................................................................................... 203

4.1 Portraits altersarmer Menschen ................................................................................. 204 4.1.1 Portrait von Frau R.1 – Die selbstlose Wanderin ............................................... 204 4.1.2 Portrait von Frau L.1 – Lage der altersarmen Arbeiterin ................................... 209 4.1.3 Portrait von Frau R.2 – Die Grenzgängerin ....................................................... 215 4.1.4 Portrait von Herr J.1 – Warten auf Godot? ........................................................ 223 4.1.5 Portrait von Frau M.1 – Gepfändet im Alter ...................................................... 229 4.1.6 Portrait von Frau A.1 –Aufstieg und Fall ........................................................... 234 4.1.7 Portrait von Frau E.1 – Globetrotterin und Mutter............................................. 240 4.1.8 Portrait von Frau S.2 – Die Künstlerin ............................................................... 244 4.2 Ursachen und Deutung der Altersarmut ................................................................... 248 4.2.1 Die Bedingungen von Altersarmut ..................................................................... 249 4.2.2 Ursachenanalyse der Altersarmut....................................................................... 256 4.2.3 Fazit – Abweichungen vom Normalmodell ....................................................... 264 4.2.4 Die Deutung der Altersarmut ............................................................................. 266 4.3 Dimensionen der Lebenslagen und ihre Wechselwirkungen ................................... 273 4.3.1 Einkommen ........................................................................................................ 273 4.3.2 Gesundheit .......................................................................................................... 278 4.3.3 Soziale Kontakte ................................................................................................ 282 4.3.4 Wohnen .............................................................................................................. 285 4.3.5 Wahrnehmung von Ämtern und die Mechanik von Sozialleistungen ................ 292 4.3.6 Alltagsgestaltung und moderne Technik ............................................................ 296 4.3.7 Wechselwirkungen – Vielzahl der Lebenslagen ................................................ 300 5

Abschließende Gedanken ............................................................................................ 305

Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 311

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1 – Zahl der AusgleichszulagenbezieherInnen ...................................................... 66 Abbildung 2 – Entwicklung der Ausgleichszulage und Armutsgefährdungsschwelle ............ 80 Abbildung 3 – Anzahl der Personen je Versicherungsmonate bei Neuzugängen 2016 ......... 113 Abbildung 4 – Auslangen mit dem Einkommen .................................................................... 137 Abbildung 5 – Selbsteingeschätztes, notwendiges Mindest-Haushaltseinkommen............... 138 Abbildung 6 – Analytische Betrachtung sozialer Netzwerke ................................................ 169 Tabelle 1 – Armutsgefährdungsschwellen für 1997 ................................................................ 41 Tabelle 2 – Gegenüberstellung der Country Reports und Reformprogramme ........................ 59 Tabelle 3 – Vergleich der Armutsgefährdungsquoten jeweiliger Altersgruppen .................... 61 Tabelle 4 – Übersicht der Sozialleistungen .............................................................................. 63 Tabelle 5 – Deprivationsmerkmale nach Townsend (1979) .................................................... 92 Tabelle 6 – Anpassung der Pensionshöhen im Vergleich ...................................................... 114 Tabelle 7 – Haupttätigkeiten verschiedener Altersgruppen ................................................... 122 Tabelle 8 – Alterskonzepte in der Sozialberichterstattung (Tabellenband des SILC 2017) .. 124 Tabelle 9 – Armutsgefährdungsquoten in Österreich und Stichprobenplan .......................... 130 Tabelle 10 – Armutsgefährdung in Österreich nach Alterskonzepten ................................... 131 Tabelle 11 – Verteilung im Alterskonstrukt ........................................................................... 131 Tabelle 12 – Altersstruktur von PensionistInnen ................................................................... 132 Tabelle 13 – Armutsgefährdungsquoten der 65+ im Bundesländervergleich ........................ 132 Tabelle 14 – Zahl der von Altersarmut betroffenen WienerInnen ......................................... 133 Tabelle 15 – Finanzielle Kapazität altersarmer WienerInnen ................................................ 134 Tabelle 16 – Leistbarkeit von Bekleidung ............................................................................. 135 Tabelle 17 – Finanzielle Kapazität entlang diverser Güter .................................................... 136 Tabelle 18 – Zahlungsrückstande und Möglichkeit zu Sparen .............................................. 137 Tabelle 19 – Grundtypen narrativen Nachfragens ................................................................. 184 Tabelle 20 – Befragte im Überblick ....................................................................................... 203 Tabelle 21 – Typen der Altersarmut ...................................................................................... 249 Tabelle 22 – Ausgaben für Wohnen und Energie .................................................................. 287

1 Einleitung Das vorliegende Werk behandelt und analysiert die Lebenslagen von armutsgefährdeten, älteren Menschen in Wien. Auf Basis der Sozialstatistik bzw. wissenschaftlicher Ergebnisse, eigenen sekundäranalytischen Auswertungen und insbesondere mittels interpretativer Analysen von Interviews mit Betroffen sollen, unter Berücksichtigung der aktuellen österreichischen Armutsgefährdungsschwelle, Lebenssituationen von als altersarm adressierten Menschen und die Wirkungsmechanismen von Armut im Alter nachvollzogen werden, welche die Einheit der Lebenslagen jener mitformt. Zusammenfassend ist das Ziel der Forschungsarbeit, die Lebenslagen von als arm adressierten älteren Menschen zu analysieren. Denn, und das gilt es zu klären, „ein zeitgemäßes Modell [von Armut] muß alle die Dimensionen sozialer Ungleichheit enthalten, die in einem sozialen Kontext wesentlich sind“ (Backes, 1997b, S. 715), um auch deren Zusammenhänge zu verstehen. Insbesondere durch das qualitative Design wird die Einsicht verfolgt, dass sich Menschen im höheren Lebensalter nicht zunehmend angleichen, sondern sie „weisen vielmehr eine größere Unterschiedlichkeit auf als in jüngeren Lebensjahren“ (Kolland, 2015, S. 19). Vor diesem Hintergrund wird nach den Lebenslagen unter Altersarmut gefragt. 1.1 Zielsetzung der Arbeit Die Relevanz der geplanten Arbeit begründet sich mit der wachsenden Bedeutsamkeit älterer Menschen, womit auch die Forschung alter(n)sspezifischer Phänomene verstärkt in den wissenschaftlichen Blick rückt, wie etwa der bereits in der siebten Welle erhobene Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe: 50+ in Europe (SHARE) oder das verstärkte Anwachsen (sozial)gerontologischer Publikationen zeigen. Die Zahl der Personen im Alter von 65+ steigt seit Jahren kontinuierlich an, bei gleichzeitigem Rückgang der jüngeren Bevölkerungsgruppe in Österreich. Während beispielsweise 1980 und 2013 der Anteil der unter 15Jährigen bezogen auf die Gruppe 15-64 Jahre 32,4% bzw. 21,4 % ausmachte, war der Anteil jener im Alter von 65 und mehr Jahren mit 24,3% bzw. 26,8 % ausgeprägt (vgl. Eurostat, 2014). In absoluten Zahlen betrachtet, hat sich die Struktur von 1980 bis 2013 fast vollständig umgekehrt. Zudem wird prognostiziert, dass sich bis zum Jahr 2075 die Lebenserwartung bei Männern auf 89,6 und bei Frauen auf 92,3 Jahre erhöht bei einer zunehmend negativen Geburtenbilanz (vgl. Statistik Austria, 2014a). Der Anteil der über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung dürfte als Konsequenz je nach Szenario auf 35% bis 40 % im Jahr 2075 steigen. Neben diesem Anstieg an älteren Personen waren, als das Proposal zu dieser Arbeit geschrieben wurde, 14,4 % der österreichischen Bevölkerung im Jahr 2013 armutsgefährdet, was rund einem Siebentel oder hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung rund 1,1 bis 1,3 (untere bzw. obere Grenze des Konfidenzintervalls) Millionen Menschen entsprach (vgl. Statistik Austria, 2014c, S. 10). Der Anteil der armutsgefährdeten Personen im Alter von 65+ Jahren war mit 15% (rund 226.000 Betroffene) über dem österreichischen Durchschnitt angesiedelt. Innerhalb der Altersgruppe zeigte sich zudem ein Überhang an armutsgefährdeten Frauen von 18% gegenüber 13% bei Männern (Statistik Austria, 2014c, S. 35)1. Addiert man jene Personen hinzu, welche eine finanzielle Deprivation2 aufweisen, erhöhte sich der Anteil innerhalb der Altersgruppe 65+ auf 1

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Butterwegge & Hansen (2012, S. 129) konstatieren, dass insbesondere „die weibliche Altersarmut künftig zu den größten sozialpolitischen Herausforderungen zählen wird“ bzw. sprechen Alber & Schölkopf (1999, S. 29) bereits von einer „Feminisierung der Altersarmut“. In Österreich hat sich an diesem Zustand nichts geändert und es sind vor allem Frauen betroffen. Der nationale Indikator dient zur Messung des Unvermögens, aus finanziellen Gründen am definierten Mindestlebensstandard der Gesellschaft teilzuhaben. Als finanziell depriviert gelten jene Personen, bei welchen mindestens 2 von 7 definierten Problemen auftreten (vgl. etwa für nähere Erörterungen zu den Definitionen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Richter, Lebenslagen unter Altersarmut, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27622-5_1

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Einleitung

24% bzw. auf rund 350.000 betroffene Menschen. Mittlerweile bzw. zum Abschluss dieser Arbeit sind die Zahlen auf 201.000 armutsgefährdete bzw. inklusive finanzieller Deprivation auf 281.000 ältere Menschen gesunken; dies deutet auf einen rückläufigen Trend hin – zu beachten ist, dass aufgrund von Unschärfe insbesondere bei der Armutsgefährdungsquote der Rückgang statistisch nicht gesichert ist. Außerdem erscheint es fraglich, ob in Zukunft nicht wieder mit einem Anstieg gerechnet werden muss: Unterbrechungen der Erwerbskarrieren, ein zunehmender Niedriglohnsektor und eine atypische Beschäftigung (vgl. Geisberger & Knittler, 2010), eine Verstärkung des Äquivalenzprinzips in der staatlichen Altersvorsorge3 (vgl. Mayrhuber, 2006) und die Stärkung der privaten Vorsorge sprechen im Kontext einer steigenden Zahl älterer Menschen für eine mögliche Ausweitung der Altersarmut in Zukunft (vgl. Hauser, 2008, S. 131; Trischler, 2014)4. Da es sich, wie immer die Entwicklung aussehen mag, aktuell und wohl auch in Zukunft bei Altersarmut um ein Massenphänomen handelt, erscheint eine wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht nur angebracht, sondern umso dringlicher. Bereits 1981 wurde im Abschlussbericht des ersten europäischen Armutsprogrammes auf das hohe Armutsrisiko bei älteren Menschen verwiesen (siehe European Commission, 1981, S. 161). Die Situation blieb jedoch nicht stabil und entwickelte sich in den einzelnen Länder unterschiedlich, bereits im zweiten Armutsprogramm folgte der Schluss: „Less poverty among the elderly, although they remain a vulnerable group“ (European Commission, 1991, S. 6). Während in einigen europäischen Ländern die Quoten von Altersarmut zurückgingen, blieb sie in Österreich (beachtet man etwa die Zahl der AusgleichszulagenbezieherInnen) hoch und gipfelte auf Basis der aktuellen Berechnungsform im SILC 2008 in 18,9% bei älteren Menschen. Trotz dieser Zahlen blieb die wissenschaftliche Auseinandersetzung in Österreich gering. Nicht ohne Grund kamen Angel & Kolland (2011, S. 185) zum Schluss, dass „Armut im Alter ein Randthema in der neueren sozialgerontologischen Forschung“ ist bzw. insistieren Newman & Massengill (2006, S. 436) in ihrem Literaturreview: „We tend to focus less attention on the elderly poor, as if they were absent in inner-city communities, but this is clearly not the case, and more research is needed to understand their lives“. Altersarmut galt bspw. in Deutschland „als überwunden, obwohl weiterhin relevante Teilgruppen in bedeutendem Maße von verschiedenen Aspekten unzureichender Ressourcenlagen betroffen waren und auch darüber hinaus über eine geringe Lebensqualität verfügten“ (Motel-Klingebiel & Vogel, 2013, S. 463f.). In der Zwischenzeit können diese Aussagen zumindest zum Teil revidiert werden, trugen die genannten Arbeiten selbst zu einer Ausweitung der wissenschaftlichen Arbeiten bei bzw. sind auf nationaler Ebene Publikationen der Sozialberichterstattung zu nennen, wie die jährliche statistische Auswertung des EU-SILC (etwa Statistik Austria, 2018a) und Teile der vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz in Auftrag gegebenen „Sozialpolitischen Studienreihe“ (siehe Till-Tentschert u. a., 2011 oder der im Besondern auf die Lage älterer Menschen abzielende Band von Eiffe u. a., 2012) sowie der Hochaltrigenbericht (vgl. Hörl, Kolland, & Majce, 2009). Sie alle bieten beschreibend und/oder erklärend Einblicke in die Lebenssituation älterer

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Statistik Austria, 2014c, S. 17) – mittlerweile gilt der Indikator aber als veraltet und wurde auch auf nationaler Ebene weitgehend durch das Messkonstrukt der erheblichen materiellen Deprivation ersetzt. Trotz einer tendenziell negativen Prognose zukünftiger Pensionshöhen bzw. Ersatzraten können in prekären Konstellationen durch Kindererziehungszeiten und andere Ersatzzeiten höhere staatliche Pensionsbezüge durch das Allgemeine Pensionsgesetz (APG) erreicht werden, obgleich diese unter der Armutsgefährdungsschwelle verbleiben (vgl. Mayrhuber, 2006). Erwähnt muss jedoch werden, dass die Fortschreibung von Lebensläufen, um Aussagen über das Einkommen im Ruhestand treffen zu können, aufgrund mangelnder Daten oder Schwierigkeiten der Fortschreibungsmethode ein problembehaftetes Feld ist (vgl. für eine kritische Betrachtung deutscher Studien Grabka & Rasner, 2013).

Zielsetzung der Arbeit

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Menschen und tangieren an manchen Stellen das Thema der Armut. Explizit mit einzelnen Aspekten der Altersarmut beschäftigen sich Forschungsarbeiten vor dem Hintergrund des Raums (vgl. Heitzmann & Eiffe, 2008; bzw. Angel, 2010) oder nehmen umfänglich die Lebenssituationen altersarmer Menschen in ländlichen Regionen in den Blick (vgl. Knapp & Koplenig, 2008; bzw. Koplenig, 2007); letztere auch mittels qualitativer Erhebung. In Hinblick auf die weitere Entwicklung der Einkommen älterer Menschen in Österreich können exemplarisch Karasek (2013) bzw. für eine europäische Bewertung Hauser (2008) genannt werden. Zudem sind Publikationen (vgl. Börsch-Supan, Brandt, Litwin, & Weber, 2013; Börsch-Supan u. a., 2005) auf Basis von SHARE – in diesem werden auch Daten von Österreich erhoben – zu erwähnen, welche ländervergleichend Aspekte des Alterns teils auch unter den Gesichtspunkten des Einkommens analysieren. Taucht man etwas tiefer in die Materie ein, so lassen sich im internationalen Kontext weitere Arbeiten entdecken. Zum einen sind Studien anzuführen, welche weniger die Auswirkungen von Armut im Blick haben, als die Prävalenz von Armut zu bestimmen versuchen und erneut differenziert werden können: Einerseits in Bestimmungen, welche allgemein die Einkommensund Vermögensverteilungen im Blick haben und Armut als einen Teilaspekt ansehen (vgl. Motel, 2000; Philip & Gilbert, 2007) und andererseits in jenen Arbeiten, welche explizit auf Armut gerichtet sind. Die österreichische Sozialberichterstattung ist zwischen diesen Polen anzusiedeln, wobei je nach Intention sich mal mehr der einen oder anderen Richtung zugewandt wird. Eine Reihe von Arbeiten (im Besonderen aus anderen Nationen) beschäftigt sich mit der Frage nach den Ursachen von Altersarmut (Brettschneider & Klammer, 2016; Hoff, 2008; McLaughlin & Jensen, 1995), in Bezug auf Österreich sind hierzu meist nur Hinweise in den Arbeiten zu finden (Angel, 2010; Angel & Kolland, 2011; explizit zum Thema Karasek, 2013). Neben den Ursachen wird auch die Frage nach der Dynamik virulent und zeigt gerade im Bereich der Altersarmut – angesichts der Einkommensquellen auch wenig verwunderlich – eine deutliche Persistenz (u.a. Statistik Austria, 2018a). Zwar gibt es, wie bereits Jensen & Mclaughlin (1997) konstatieren, eine gewisse Dynamik, beide stellen jedoch ebenso heraus, dass Einkommensveränderungen häufig nur im kleinen Rahmen erfolgen und daher die Betroffenen in nur geringem Maße über die Armutsschwellen gehoben werden. Neben Ursachen und Prävalenz von Altersarmut fokussieren andere Studien vor allem auf die konkreten Lebensumstände, wobei zwischen partiellen Analysen – z.B.: Altersarmut und soziale Beziehungen (vgl. Angelini & Laferrère, 2013), Altersarmut und Gesundheit (vgl. Adena & Myck, 2014; Argyle, 2001; Butler, 2006; Franzese, 2015; Klimont, 2016; Kroh, Neiss, Kroll, & Lampert, 2012; Stolz, Mayerl, Waxenegger, & Freidl, 2017), Altersarmut und Wohlbefinden (vgl. Adena & Myck, 2013), Altersarmut in sozialräumlicher Betrachtung (vgl. Angel, 2010; Nuissl, Vollmer, Westenberg, & Willing, 2015) und Wohnen (vgl. Fernández-Carro, Módenes, & Spijker, 2015; Golant, 2008; Lehning, Smith, & Dunkle, 2015) bzw. Altersarmut und Mobilität (vgl. Giesel & Köhler, 2015) – und einer umfänglicheren (multidimensionalen) Bearbeitung (vgl. Adena & Myck, 2013; Angel & Kolland, 2011; Arendt, 2005; Dominy & Kempson, 2006; Grange & Yung, 2001; Koplenig, 2007; Kotecha, Arthur, & Coutinho, 2013; McKay, 2008; Milbourne & Doheny, 2012; Moffatt & Scambler, 2008; Norton & West, 2014; Schäfer, Wendt, & Hoffmeister, 2011; Scharf, 2006; Scharf u. a., 2006) unterschieden werden kann, welche Zusammenhänge zwischen Armut und jeweiligen Dimensionen konstatieren bzw. in manchen Fällen auch Kausalität zumindest auf theoretischer Ebene herzustellen versuchen (vgl. Arendt, 2005). Eine weitere Unterscheidung lässt sich zwischen der Analyse objektiver Lebensbedingungen und subjektiver Deutungs- und Handlungsmuster finden. Letztere zielen vor allem auf die Darstellung weniger Fälle ab und behandeln in diesem Kontext bspw. Bewältigungsstrategien,

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Einleitung

Zukunftsängste oder die Folgewirkungen von Einkommensarmut, welche zu Limitationen etwa im Bereich Wohnen, Gesundheit, Mobilität, Energie, Partizipation, Aktivitäten, allgemein im Konsum oder spezifischer bei Nahrungsmitteln führen (vgl. Dominy & Kempson, 2006; Grange & Yung, 2001; Milbourne & Doheny, 2012; Moffatt & Scambler, 2008; Scharf, 2006; Scharf u. a., 2006) bzw. verweisen darauf, dass viele der von Altersarmut betroffenen Menschen bereits mehrfach im Lebensverlauf mit Armutserfahrungen konfrontiert wurden; diese Erfahrungen stellen häufig die Ausgangsbasis für die Bewertung der aktuellen Situation dar (vgl. Scharf u. a., 2006, S. 38). In diesem Kontext ist auch das anderorts konstatierte Ergebnis zu verorten, dass die Lebensqualität meist von den Betroffenen als gut eingeschätzt wird und deutet einerseits auf akkommodative Anpassungsprozesse hin (vgl. Milbourne & Doheny, 2012; Scharf, 2006, S. 8), wie anderseits die Bewertung der eigenen Situation von Vergleichsgruppen abhängig ist (vgl. Scharf u. a., 2006, S. 40). Obwohl in der Tendenz die Lebensqualität als gut bewertet wird, ist dies insofern zu relativieren, als im Vergleich zu nicht armen, älteren Menschen durchaus eine etwas geringere Lebenszufriedenheit festgestellt werden kann. Resümierend ist festzuhalten, dass altersarme Menschen von einer Vielzahl an Limitationen betroffen sind bzw. sich das Leben durch Entbehrungen auszeichnet, andererseits gerade qualitative Arbeiten auf die Unterschiedlichkeiten der Lebenslagen altersarmer Menschen hinweisen, welche sowohl Resultate der aktuellen Lebensführung als auch des gesamten bisherigen Lebensverlaufs sind. „Ob das Leben im Alter gelingt, ist sowohl eine Frage der Ausstattung mit vielfältigen äußeren Ressourcen als auch des individuellen Lebensentwurfs“ (Amrhein, 2008, S. 160). Geringe Einkommen im Alter engen die Handlungsspielräume ein: der Konsum des täglichen Lebens, Reisen, Bildung sowie kulturelle Aktivitäten werden reduziert. „Handlungsspielräume in Hinsicht auf Wohnen, Bildung, Entfaltung kultureller und sozialer Bedürfnisse werden eingeengt oder verunmöglicht“ (G. Backes & Clemens, 2013, S. 214). Möglichkeiten, Kinder, Enkel und Urenkel zu beschenken, sind begrenzt bzw. werden auf häuslich Produziertes verlagert oder durch indirekt verzweigte Geldflüsse – von den Kindern zu Betroffenen hin zu den Enkeln und Urenkeln – aufrecht erhalten. Mobilität wird tendenziell eingeschränkt und kann sich durch Krankheiten noch weiter reduzieren. Armut im Alter schafft damit Abhängigkeiten, die neben einer individuellen psychischen Bewältigung auch die Inanspruchnahme sozialräumlicher Angebote und der persönlichen Netzwerke bedürfen. Umgekehrt muss zudem auch bedacht werden, dass die persönlichen Muster, der Sozialraum und das Netzwerk nicht nur zur Bewältigung, sondern auch zu einer Verschärfung beitragen können. Die Darstellungen sollen zeigen, dass eine multidimensionale Betrachtung zum Verstehen der Lebenswelt sinnvoll ist und es eine Vielzahl an Arbeiten gibt, welche sich mehr oder weniger dem Thema Altersarmut zuwenden. Trotz der Vielfalt und teils umfänglichen Beschreibungen stehen enumerative und partielle Analysen im Vordergrund. Dies mag insofern verwundern, da gerade multidimensionale Ansätze der Armut, welche von einer Vielzahl der Arbeiten beansprucht werden, die Notwendigkeit der Betrachtung von Wechselwirkungen einmahnen. Es wäre zwar falsch zu behaupten, dass solch eine Perspektive gerade in qualitativen Arbeiten überhaupt keine Berücksichtigung findet (vgl. Kotecha u. a., 2013; Scharf u. a., 2006), gleichwohl ist gerade in diesem Bereich Forschungsbedarf zu konstatieren. Aus einem anderen Blickwinkel können zusammenfassend zwei Richtungen identifiziert werden: Einerseits Armutsstudien, welche auf das Alter als eines von anderen Differenzierungsmerkmalen rekurrieren – diese Studien können die Prävalenz von Altersarmut unter den gewählten Armutsdefinitionen aufzeigen bzw. streifen multidimensionale Analysen. Andererseits Altersstudien, welche partiell Armut in den Blick nehmen bzw. bei zentrierten Arbeiten auf Objektbereiche (etwa soziale Beziehungen) Effekte des Einkommens zumindest in Form von Kontrollvariablen mitanalysieren und eine Verbindung von alt und arm in mancher Hinsicht herstellen. Studien, welche sich

Zielsetzung der Arbeit

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hingegen umfänglich (multidimensional) mit Altersarmut auseinandersetzen, sind – gerade in Österreich – selten(er) anzutreffen. Die von Barlösius (2001a, S. 75) thematisierte Problematik einer Zentrierung auf „zahlenmäßige Ausdrücke und Formeln“, ohne die Lebensbedingungen der Betroffenen näher zu analysieren, lässt sich gerade für die Altersarmut bekräftigen. Sicherlich wäre es bereits ein Gewinn, wenn Studienergebnisse unter dem Lichte von Altersarmut zusammengetragen werden, um damit Auswirkungen und Ursachen von und für einzelne Lebensbereiche aufzuzeigen. Somit ließe sich der einen Seite lebenslagenorientierter Ansätze, Armut und Benachteiligung umfänglich zu fassen, Rechnung tragen. Nichtsdestotrotz bleibt damit die zweite Seite, Lebensbereiche nicht nur enumerativ darzustellen, sondern Interdependenzen der einzelnen Dimensionen sowie Möglichkeiten zur Kompensation einer als defizitär zu bezeichnenden Ausprägung in einer Dimension durch eine Andere, unbeantwortet – eine Problematik, welche von ForscherInnen wie Voges, Jürgens, Mauer & Meyer (2003, S. 32) selbst an lebenslagenorientierten Armutsstudien kritisiert wird. Forschungsfragen dieser Studie sind daher, welche sich im Bereich der Armutsforschung verorten lassen und darüber hinaus (sozial)gerontologische Erkenntnisse integrieren: • •

Wie sind Lebenslagen unter als arm adressierten, älteren Menschen in Wien ausgeformt? Können Interdependenzen zwischen den Dimensionen der Lebenslage identifiziert werden und welche Auswirkungen haben diese?

Die vorliegende Arbeit kann in einer gewissen Traditionslinie zu Arbeiten von Amann (1983), Lompe (1987) und Hanesch (1994) gesehen werden, welche einerseits auf lebenslagenorientierten Ansätzen aufbauen und andererseits in der Beschreibung von Lebenslagen je eine spezifische Gruppe im Blick haben. Hierbei wird der Idee von Glatzer & Neumann (1993, S. 41) gefolgt, welche ausgehend von einem Ressourcenansatz „die Bevölkerung, die sich in Einkommensarmut befindet“, identifizieren möchte „und dann darauf hin untersucht werden, wie ihre Armutslage in verschiedenen Lebensbereichen ausgeprägt ist“. Die Arbeit hat als Zielgruppe als arm adressierte, ältere Menschen und referiert auf die Armutskonzeption von Simmel (1908) als eine im gesellschaftlichen Kontext produzierte Kategorie. „Soziologisch gesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt Unterstützung – dies ist vielmehr nur das Schicksal seiner personalen Form nach -, sondern derjenige, der Unterstützung genießt bzw. sie nach seiner soziologischen Konstellation genießen sollte – auch wenn sie zufällig ausbleibt -, dieser heißt der Arme“ (Simmel, 1908, S. 489f.). Entsprechend wird der Blick auf jene älteren Menschen gerichtet, welche in der österreichischen Gesellschaft auf Basis zielorientierter und administrativer Standards als arm adressiert, gelabelt oder wahrgenommen werden. Armut ist daher „keine Eigenschaft einer Person, sondern basiert auf einer Zuschreibung“ (Till, Datler, u. a., 2009, S. 238). Erst in einer relationalen und spezifischen Zuwendung wird Altersarmut formiert. Anders formuliert werden in der vorliegenden Arbeit jene als arm bezeichnet, welche in den Sozialstatistiken als „armutsgefährdet“, „depriviert“ oder vor dem Hintergrund administrativer Standards als „unterstützungsbedürftige“ bezeichnet werden. Warum es hier Differenzen gibt und beide Standards auch auseinanderfallen, sei dem Hauptteil dieser Arbeit vorenthalten. Die Ausgangsbasis der gesellschaftlichen Adressierung bietet den Vorteil, sich auf jene Gruppe zu fokussieren, welche auch gesellschaftlich als arm gesehen wird. Ziel ist es, im Anschluss den „individuellen Zustand“ – wie Simmel es formuliert – bzw. die Lebenslage der bereits Adressierten zu beschreiben und näher zu erschließen. Zudem deuten die Forschungsfragen an, auch als Konsequenz des wissenschaftlichen Diskurses (u.a. Klocke, 2000; Piachaud, 1992; P. Townsend, 1970b), dass es kein konzeptionelles Ziel der Arbeit ist, eine völlig neue

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Einleitung

Definition von Altersarmut zu liefern, sondern im Gegenteil die Pluralität zu analysieren, welche sich hinter der bereits vorliegenden und in der Praxis angewandten „Schwelle“ verbirgt. Der monetären Dimension kommt hierbei in der Adressierung und Zuwendung an Unterstützungsleistungen eine weiterhin dominierende Rolle zu. Die Eingrenzung auf die Stadt Wien ist abseits der Zugänglichkeit einem zentralen Grund geschuldet. Einerseits zeigen statistische Auswertungen, dass Armutsgefährdung ein städtisches Phänomen ist. So betrug die Armutsgefährdungsquote im SILC 2017 in Wien 22% (383.000 Personen), was etwa 31% aller Armutsgefährdeten in Österreich entsprach (vgl. Statistik Austria, 2018a, S. 72). Altersarmut ist in Wien hingegen noch von geringerer Relevanz (vgl. Statistik Austria, 2013a) und im Verhältnis zu anderen Bundesländer unterrepräsentiert. Dies könnte sich jedoch in Zukunft ändern, wenn die überrepräsentierte Gruppe der armutsgefährdeten, jüngeren Personen in die dritte Phase des Alters eintreten. Freilich mögen nicht alle in die Altersarmut überwechseln, so handelt es sich gerade in der Erwerbsphase um ein weitaus dynamischeres Phänomen, aber angesichts des „neuen“ österreichischen Pensionssystems ist in Wien mit einem Anstieg der Altersarmut zu rechnen. Der Hauptgrund liegt daher in der zukünftigen Entwicklung begründet und soll auf Problemlagen der aktuell als arm und alt adressierten Menschen aufmerksam machen. Neben der Ausrichtung auf die Konzeption von Simmel ist als zweiter konzeptueller Ausgangspunkt eine lebenslagenorientierte Ausrichtung der Arbeit zu nennen – diese nimmt in der (deutschsprachigen) Armutsforschung einen gewichtigen Platz ein (vgl. Backes, 1997b; Nahnsen, 1992; Voges u. a., 2003). Es handelt sich um ein Mehrebenenkonzept, welches Multidimensionalität entlang materieller/immaterieller, subjektiver/objektiver Dimensionen berücksichtigt und Lebenslagen als dynamisch bzw. auch rekursiv entwickelnd versteht (vgl. Voges et al. 2003). Lebenslage lässt sich als Inbegriff all der Umstände definieren, „die verhältnismäßig unmittelbar die Verhaltensweise eines Menschen, seinen Schmerz, seine Freude bedingen. Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage" (Neurath, 1931, S. 125). Im Hauptteil wird darauf näher eingegangen und mit der Armutsdefinition von Simmel kombiniert. Um die verschiedenen Ausprägungen der Dimensionen und Interdependenzen adäquat zu erfassen, ist ein Forschungsdesign innerhalb des interpretativen Paradigmas naheliegend. In der vorliegenden Arbeit werden hierzu Elemente des narrativen Interviews nach Schütze und Elemente des problemzentrierten Interviews nach Witzel kombiniert. Die Wahl der Analyseverfahren ist einerseits einer Indikation mit den Erhebungsinstrumenten geschuldet, andererseits dem Zweck unterworfen, die aktuelle Lebenssituation aus ihrer Entstehungsgeschichte zu erschließen. Entsprechend werden die biographische Fallrekonstruktion nach Rosenthal und die Grounded Theory nach Strauss und Corbin angewandt. Zusammenfassend bringen soziale Beziehungen, Gesundheit oder Wohnbedingungen wie auch erworbene Erfahrungen in der Lebensgeschichte oder Wissen (auch im Umgang mit Anträgen und öffentlichen Stellen) unterschiedliche Einheiten von Lebenslagen hervor. Armut aus der Perspektive der Lebenslagenanalyse betont dies im Besonderen, da Dimensionen als Explanandum und zugleich Explanans verstanden werden (vgl. Voges et al. 2003) und so wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass zwischen einzelnen Ausprägungen von Dimensionen Wirkungsmechanismen entstehen, welche zu spezifischen Lebenslagen emergieren, trotz einer relativ ähnlichen materiellen und als arm adressierten Basis. Die Arbeit zielt darauf ab, diese divergierenden Lebenslagen und die damit im Zusammenhang stehenden Verhaltensweisen der von als arm und alt adressierten Betroffenen herauszuarbeiten.

Aufbau der Arbeit

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1.2 Aufbau der Arbeit Armut ist von einem sozialpolitischen Standpunkt aus „ein dichotomes und binär kodiertes Konzept, das innerhalb des empirisch vereinbarten Spektrums materieller Ungleichheiten eine eindeutige Grenzziehung zwischen Armut und Nichtarmut verlangt“ (Groh-Samberg, 2009, S. 24). Wenn auch in der aktuellen Armutsberichterstattung meist diffuseren Charakters – die Vermeidung des Armutsbegriffs als solchen (vgl. auch Heitzmann, 1999) hat zu einer Entfaltung dessen beigetragen – trifft dies den elementaren Mechanismus der sozialpolitischen Adressierungspraxis. Ziel ist es, den identifizierten, aber intolerablen Zustand aufzulösen oder zumindest zu mildern. Betrachtet man Armut (wie in der Folge die Ausführungen zu Simmel zeigen werden) beziehungssoziologisch als das Resultat der sozialen Reaktion (Kapitel 2.1.1.), entbindet dies nicht von der Frage nach dem ursächlichen Reiz bzw. Zustand, sondern verlangt die Offenlegung der theoretischen Wesensbestimmungen und deren empirischen Messkonzepte, welche zusammen den Nullpunkt bzw. die Grenzen zwischen dem Armen bzw. dem NichtArmen ziehen und diesen erst in der darauffolgenden Adressierung und Reaktion konstituieren. Diesen Aspekten widmen sich die übrigen Teile von Kapitel 2.1 und rein mit der theoretischwissenschaftlichen Seite betraut ist das Kapitel 2.2. Diese Bestimmungsversuche lassen sich als konzeptionelle Armut bezeichnen. Anders formuliert ist konzeptionelle Armut jenes theoretische oder politische Verständnis, welches der sozialen Kategorie des Armen zu Grunde liegt bzw. die Konditionen des Punktes festlegen, ab welchem durch ein Unterschreiten Hilfeleistungen erfolgen. Die negativ konnotierte Seite ist jener Bereich, welcher aufgrund der gesellschaftlichen Inakzeptanz eine Intervention verlangt bzw. „als ‚illegitim’ gilt“ (Buhr & Leibfried, 2009, S. 105).Tritt man einen Schritt zurück, wird das Spannungsverhältnis politischer, wissenschaftlicher und weiterer Akteure fassbar, welche im fortlaufenden Prozess den Grenzwert inakzeptabler Lebensbedingungen aushandeln. In Österreich ist hinsichtlich der Armutsdefinition eine beachtliche Einflussnahme der Europäischen Union (u.a. Fink, 2010; Heitzmann, 2011) zu nennen und manifestiert sich unter anderem in der frequenten, teils obligatorischen Berichterstattung und im Besonderen in den (harmonisierten) Indikatorsets der Armutsmessung. Zwar wurden auch nationale Indikatoren entwickelt, aber das europäische Verständnis darf als dominierend bezeichnet werden und stellt einen Orientierungspunkt für die nationale Entwicklungsgeschichte dar. Dies macht die Behandlung der europäischen Seite notwendig und ist einem eigenen Abschnitt gewidmet, da die amtliche Armutsberichterstattung in Österreich in einem unmittelbaren Nexus zu dieser steht. Das zusammenfassende und ernüchternde Ergebnis (Kapitel 2.2.4.) wird in Anschluss an Klocke (2000, S. 326) lauten, dass die theoretischen Zugänge spätestens bei der Operationalisierung und der Schwellensetzung mit diversen Problemlagen konfrontiert sind und die Altersarmut in Österreich über das Einkommen bestimmt wird (sei es im zielorientierten oder administrativen Standard). Altersarmut ist jedoch nicht nur im Begriff der Armut ein Relativ, sondern ein doppeltes Relativ, womit auch das Alter (Kapitel 2.3.) einer relationalen Bestimmung bzw. einer Relationalität unterliegt. Bemerkenswerterweise wird in Studien zum Thema Altersarmut relativ selten der Alterskategorie genügend Aufmerksamkeit gewidmet und zumindest in internationalen Vergleichsarbeiten häufig über das kalendarische Alter mit der Schwelle 65+ bestimmt. Erneut wird daher in der vorliegenden Arbeit eine beobachtende Perspektive eingenommen – einerseits sollen Charakteristika aufgezeigt werden, welche die Lebensphase des Alters auszeichnen. Im Besonderen wird hierbei auf die Entberuflichung als ein zentrales Element eingegangen und mit dem Konzept des institutionalisierten Lebenslaufs fundiert. Andererseits kann belegt werden, dass das kalendarische Alter und der Ruhestand in einem verhältnismäßig engen Konnex stehen, wenn auch die Altersgrenze 65 Jahre und älter gerade in Österreich eine relativ unge-

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naue Annäherung darstellt, vor allem wenn man andere Bereiche (beispielsweise in der Rechtsordnung oder bei Organisationen mit deren Altersermäßigungen) betrachtet. Konkludierend sind Alterskonstruktionen wie auch Armutskonstruktionen in erster Linie idealtypisch zu begreifen, welche realiter nicht vorzufinden sind, aber „in substanzialisierter Form als real existierend gedacht werden“ (Schroeter & Künemund, 2010, S. 394). Im Verständnis der Adressierungspraxis von Armut und Alter wird nun auf den als altersarm adressierten Menschen übergewechselt (Kapitel 2.4.). Zusammen bedeutet dies, dass „Altersarmut“ sich als jene Lebensphase auszeichnet, in welcher keine Arbeitskraftverwertung mehr von Nöten ist bzw. ein vorrangig endgültiges Ausgeschiedensein aus dem Erwerbsprozess stattgefunden hat und sich durch den potentiellen Zugang zum Pensionssystem oder stark ähnelnden Sozialleistungen konstituiert, jedoch eine monetäre Lage generierend definiert, auf Basis derer eine Adressierung und soziale Reaktionen im Sinne der Zugangsgewährung zu Unterstützungsleistungen erfolgen. Auf Basis der vorgebrachten Konzeption von Armut erfolgt eine empirische, deskriptive Analyse der SILC Daten 2016, um die Prävalenz von Altersarmut in Österreich bzw. in Wien abschätzen zu können. Nachdem die Aufarbeitung von Altersarmut erfolgt ist, gilt es sich der Lebenslagenkonzeption zuzuwenden (Kapital 2.5.). Hierzu werden Ursprünge des Konzeptes aufgegriffen, wobei der Fokus auf den Ausarbeitungen von Neurath und Weisser liegen wird. Ersterer hat bereits wichtige Grundprämissen ausgearbeitet, die trotzdem eher selten rezeptiert wurden. Im Anschluss werden Erwägungen von Weisser bzw. die Weiterführungen bei Nahnsen behandelt. Zusammen lassen sich aus diesen Einsichten gewinnen, welche in Verquickung mit neueren Ansätzen von Amann (1983), Voges (2002) und Voges u. a. (2003) zur lebenslagenorientierten Perspektive dieser Arbeit führen und die Lebenslage als gesellschaftlich-historisches und individuelllebensgeschichtliches Produkt einer doppelten Dualität, d.h. fortlaufendes Ergebnis und zugleich Ausgangssituation einer sich gegenseitig bedingenden Makro- und Mikroebene, begreifen. Gleichwohl sich eine gewisse Konsistenz in den wissenschaftlich betrachteten Lebenslagendimensionen zeigt, ist die Frage der Dimensionswahl mit der Problematik verknüpft – dies wird vor allem in der Armutsforschung virulent und blieb bisher unbeantwortet (vgl. Voges u. a., 2003, S. 35) –, ob den jeweiligen Lebenslagendimensionen die gleiche Relevanz bzw. Gewichtung zukommt. Die Auswahl an Lebenslagendimensionen kann als die Achillesferse der lebenslagenorientierten Ansätze bezeichnet werden und bedarf der Auseinandersetzung. So lässt sich bspw. auf Basis von Zeitbudgets aufzeigen, dass immer mehr Zeit in den eigenen vier Wänden verbracht wird, die Wohnungsausstattung in einem engen Zusammenhang mit den monetären Mitteln steht, während soziale Beziehungen (im Sinne von sozialem Kapital) in der Bewältigung monetärer Engpässe unterstützen. Kurz: die Relevanz der Dimensionen – ohne diese hier gegeneinander abwägen zu wollen, soll auf Basis von empirischen Ergebnissen herausgestellt werden und zentriert sich auf Gesundheit, Wohnen und soziale Kontakte vor dem Hintergrund von Armut. Zusammen sind damit die für den empirischen Teil vorausgesetzten Arbeiten abgeschlossen, wurde Altersarmut – aufgeteilt in Armut und Alter, um die beiden Begriffe anschließend wieder zusammenzufügen – entlang der gesellschaftlichen Adressierungspraxis definiert, auf die Prävalenz hingewiesen, das Lebenslagenmodell aufgearbeitet und mit Altersarmut kombiniert, sowie wissenschaftliche Ergebnisse zu den Wirkungen von Armut in ausgewählten Lebenslagendimensionen aufgearbeitet. Mit dieser Basis wird in den empirischen Teil übergewechselt. Das Lebenslagenkonzept stellt mit seinen Anforderungen der Mehrebenenanalyse, Multidimensionalität und Multikausalität, welche zusammen in eine Prozessperspektive gebracht werden, hohe methodische Anforderungen, welche – wie Amann (1983) und Lompe (1987) bereits

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in ihren eigenen Analysen demonstrieren bzw. Backes (1997b) explizit einfordert – durch qualitative Methoden eingelöst werden können. Das Instrument der Primärerhebung ist neben einer Indikation zum Forschungsprozess unter dem Gesichtspunkt einer „methodologischen Triangulation“ (Denzin, 2009, S. 301) ausgearbeitet (Kapitel 3.1.): Ausgangspunkt der durchgeführten Interviews ist ein narrativer Teil nach Schütze (1976a), welcher auf die Lebensgeschichte bis zur aktuellen Lebenssituation der Befragten abzielt. Im zweiten Teil bzw. einem zweiten Interview mit den gleichen InterviewpartnerInnen kommt das problemzentrierte Interview nach Witzel (1982) zur Anwendung, indem die spezifische Sondierung für das Forschungsprojekt vordergründig ist und durch Netzwerkanalysen auf Basis des konzentrischen Kreisverfahrens ergänzt wird. Für die Analyse (Kapitel 3.2.) des biographisch-narrativen Teils wird auf die Fallrekonstruktion von Rosenthal (1995) und für den problemzentrierten Part auf das Kodierparadigma von Strauss & Corbin (1990) rückgegriffen. Abseits der theoretischen Ausführungen erfolgen zum Abschluss (Kapitel 3.3.) Erörterungen über den Prozess der Erhebung, wie er sich zugetragen hat. Im letzten Teil der Darstellung der Ergebnisse werden zuerst acht Portraits von Befragten (Kapitel 4.1.) vorgestellt, welche einerseits Einsichten in das Leben altersarmer Menschen geben, andererseits aufzeigen sollen, wie unterschiedlich sowohl die Wege in die Altersarmut als auch die Ausgestaltung des Alltags ausfallen können. Sie sind mit das Ergebnis der für diese Arbeit insgesamt mit 20 Betroffenen plus 7 ExpertInnen geführten Interviews. Die Auswahl der Personen für die Portraits fiel nicht leicht, da gerade in einer solchen Übersichtsperspektive jeder Fall seine Spezifika aufweist und wird damit auf das zentrale Ergebnis einer ausgeprägten Diversität von Lebenslagen unter Altersarmut hindeuten. Die darauffolgenden Teile (Kapitel 4.2.) gliedern sich in vier Segmente: Im ersten wird nach den Bedingungen von Altersarmut gesucht und hierfür vier Typen von Altersarmut (aus der Kombination von Erwerbseinkommen und Versicherungsmonaten) abgeleitet. Innerhalb dieser werden die Befragten verortet. Im Anschluss wird sich der Ursachenanalyse gewidmet. Daraus wird ein erstes Zwischenfazit gebildet, bevor im letzten Teil die Deutung der Altersarmut in den (biographischen) Erzählungen rekonstruiert wird. Die aktuellen Lebenslagen altersarmer Menschen sind in der Zusammenfassung (Kapitel 4.3) als diversifiziert zu bezeichnen. Zwar ist den Befragten ein verhältnismäßig stabiles, geringes Einkommen gemeinsam, in anderen Bereichen wie der Gesundheit, den sozialen Kontakten, dem Wohnen usw. zeichnen sich aber spezifische Lageausprägungen ab, welche den Schluss von Lebenslagen (Plural) unter Altersarmut nötigen. Zwar sind alle als altersarm adressierten Befragten von materiellen Limitationen betroffen, trotzdem wird sich zeigen, dass sich diese unterschiedlich gut mit ihrer Lebenssituation arrangiert haben

2 Das doppelte Relativ der Altersarmut Altersarmut kann in einer ersten Annäherung als ein doppelt soziales Relativ aufgefasst werden, da der als „arm“ und als „alt“ bezeichnete Mensch unabhängig von der Gesellschaft bzw. aus einer substantialistischen Logik oder als „gegebenes Naturphänomen“ (van den Berg, 2007, S. 43) nicht existiert. „Armut ist keine Eigenschaft einer Person, sondern basiert auf einer Zuschreibung“ (Till, Datler, u. a., 2009, S. 238). Erst in einer relationalen und spezifischen Zuwendung wird Altersarmut formiert. Bedenkt man bspw. unterschiedliche Lebenserwartungen der Bevölkerung einzelner Staaten oder deren differenten Wohlstand, erscheint zumindest die partielle Rückanbindung an den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext notwendig (vgl. u.a. Schroeter, 2014, S. 284). Alter, so Thieme (2008, S. 29), ist „mitbestimmt von ‚den anderen’, vom ‚Zeitgeist’, dem Empfinden jener Generation, der man angehört, dem sozialen Milieu, der Schicht, der erworbenen Bildung und dem ausgeübten Beruf“. Anstatt sich daher auf die Suche nach einer allgemeingültigen Begriffsbestimmung von Armut und Alter zu begeben, soll im Folgenden eine Definition erarbeitet werden, welche Altersarmut im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung erfasst:5 Also danach fragt, wodurch und ab wann Personen entlang von gesellschaftlichen Institutionen als altersarm identifiziert und adressiert werden. Dahinter steht die Überlegung, dass Armut nicht objektiv, aufgrund statistisch erhobener Fakten feststellbar ist, „denn letztlich stehen hinter jeder Interpretation des Armutsbegriffs und hinter jedem darauf beruhenden Messverfahren Wertüberzeugungen, über deren Richtigkeit im ethischen Sinn nicht allgemein gültig geurteilt werden kann“ (Hauser, 2012a, S. 124). Im Nachfolgenden wird zuerst eine Teilung von Altersarmut vorgenommen und einerseits der Begriff „arm“ im Kontext von Österreich und dann „alt“ dechiffriert. Voran steht die theoretische Konzeption von Simmel, welcher Armut in einer wohl alltagslogisch untypischen Fasson fasst und Armut von hinten aufzäumt. Kurz: Armut wird über die gesellschaftliche Reaktion bestimmt und ist eine von außen attribuierte Bestimmung. Im Anschluss wird daraus die Frage virulent, wo nun der Nullpunkt liegt, ab welchem eine Lebenslage als unterstützungsbedürftig eigeschätzt wird und so den oder die Arme/n konstituiert. Dieser Punkt wird über die konzeptionelle Armut hergeleitet, d.h. über Definitionen von Armut (hierzu zählen auch Begriff wie Armutsgefährdung, Ausgrenzung usw.), welche das Phänomen über die theoretischen Grundprämissen, der Operationalisierung und Prävalenzanalysen bestimmen. Dafür wendet sich die Arbeit der Praxis zu und blickt darauf, über welche Kriterien im politisch-zielorientierten (Raum wird einerseits der unionseuropäischen Perspektive gegeben, da sie starke Prägekraft auf das österreichische Gebaren hat und andererseits den österreichischen Sozialberichten, welche sowohl das Produkt von Armutsbildern und zugleich Produzent für eine öffentliche Wahrnehmung von Armut sind) und im politisch-administrativen Standard (hier werden aufgrund der räumlichen Zentrierung der Arbeit die in Wien vorfindlichen Sozialleistungen thematisiert) eine Adressierung erfolgt. Die Ebenen sind analytisch zu differenzieren und divergieren auch in der Praxis teilweise. Zugleich, wie die Analyse zeigen wird, lassen sich Verbindungen zwischen den beiden konstatieren. Das Geflecht spannt in Konsequenz einen Rahmen, in welchem die Adressierung als (alters)armer Mensch erfolgt. Die Begriffe Armut und Alter stehen in dieser Arbeit folglich für das Adressiertsein von Personen bzw. sind Attribuierungen, welche den Zugang zu Ressourcen reglementieren und zumindest teilweise einen Handlungsrahmen setzen.

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„Wer von Umwelten, Kulturen oder vom Alter spricht, der konstruiert. Er beschreibt nicht einfach eine vorhandene Wirklichkeit, sondern nur das, was er beobachtet und wahrnimmt“ (Schroeter, 2014, S. 284).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Richter, Lebenslagen unter Altersarmut, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27622-5_2

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

2.1 Armut als soziale Beziehung und Reaktion Zu Beginn sollen Simmels Überlegungen zum Begriff der Armut dargelegt werden, da diese als Ausgangsbasis für die weiter folgende Analyse der aktuellen Gegebenheiten und Begriffsbestimmung dienen. Gleichwohl im Sinne seiner Zeit zu lesen, sind jene auch heute noch fruchtbar und in weiten Teilen durchaus aktuell.6 Der erste Abschnitt fasst die viel (aber meist nur in wenigen Sätzen) rezitierte Arbeit „Der Arme“ von 1908 zusammen und ist durch die Interpretationen anderer AutorInnen bzw. Anmerkungen historischer Bedingungen, auf welcher sich das Verständnis von Simmel gründet, fundiert. Bewusst werden relevante Stellen großzügig zitiert, um auch auf die Vielschichtigkeit der Ausführungen hinzudeuten.7 Erst in darauffolgenden bzw. späteren Abschnitten werden daraus Schlüsse gezogen und der aktuellen Situation der Sozialhilfe gegenübergestellt, um auch unter Einbezug weiterer theoretischer Konzeptionen eine Bestimmung von Armut vorzunehmen. 2.1.1 Simmel und der Arme Simmel begründet seine theoretischen Ausführungen über Armut vor dem Hintergrund einer beziehungssoziologischen Perspektive: „Insoweit der Mensch als Sozialwesen gilt, entspricht jeder seiner Pflichten ein Recht andrer Wesen“ und „da jeder [...] auf diese Weise Verpflichteter auch ein irgendwie Berechtigter ist, entsteht ein Netzwerk hin- und hergehender Rechte und Pflichten“ (Simmel, 1908, S. 454). Gesellschaft lässt sich als Gegenseitigkeit berechtigter Wesen bzw. Summe der Wechselwirkungen oder im Sinne eines Prozesses als Vergesellschaftung auf Basis bestimmter Formen sozialer Beziehungen bestimmen (vgl. Abels & König, 2010). Dem Recht jedes Menschen wird dabei ein Primat eingeräumt, während Pflichten als Konsequenz erwachsen – „ja, dies erscheint eigentlich als das letzterreichbare und rationellste Fundament, auf dem die Leistungen des Einen für den Andern zu fordern sind“ (Simmel, 1908, S. 455). Armut ist in Folge soziologischer Betrachtung keine unterschrittene (monetäre oder nichtmonetäre) Lebenslage an sich,8 sondern selbst eine spezifische Form von sozialer Beziehung bzw. sozialer Reaktion, welche sich im Recht auf Unterstützung gründet und sich in „dieselbe Kategorie wie das Recht auf Arbeit, wie das Recht auf Existenz“ (Simmel, 1908, S. 456) verorten lässt, gleichwohl durch eine teleologisch begründete Armenpflege „zur völligen Nichtigkeit“ (Simmel, 1908, S. 457) hinter die Pflicht tritt. Der Mechanismus kommt bspw. in der „Ökonomie des Seelenheils“ (Dietz, 1997) der eschatologischen Heilslehre den Armen zu helfen, zur Geltung. Nicht der Arme ist der Zweck, sondern Mittel des Gebenden. Auch im modernen Sozialstaat wird der Arme innerhalb der institutionalisierten Armenpflege vorrangig als ein Mittel bzw. äußerer Zielpunkt zu einem eigentlich anderen Zweck betrachtet. „Sie erfolgt, freiwillig oder gesetzlich erzwungen, um den Armen nicht zu einem aktiven, schädigenden 6

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Gegenläufig lässt sich zudem anmerken, dass sich auch aktuelle Stimmen des gesellschaftlichen Diskurses nicht über das 18. Jahrhundert hinaus entwickelt zu haben scheinen; Joseph Townsend schreibt 1786 in einem Pamphlet „Über die Armengesetze“ in England: „Oder welchen Grund zur Furcht haben sie, wenn man ihnen versichert, falls sie durch ihre eigene Faulheit und Verschwendung, Trunksucht und Liederlichkeit in Not geraten sollten, würden sie auf Kosten anderer reichlich versorgt auch mit ihren gewohnten Annehmlichkeiten? [...] Im Allgemeinen kann nur der Hunger sie anspornen und zur Arbeit treiben“ (J. Townsend, Lepenies, & Krüger, 2011). Anstelle von Hunger benutzt man heute den Begriff des Lohnabstandgebotes. Hiermit soll auch auf die Kritik von Döring (2003, S. 27) eingegangen werden, welcher aktuelleren Auslegungen Einseitigkeit bzw. Verkürzung attestiert. Besonders die Reduktion rein auf die „dependency“ (Spicker, Álvarez Leguizamón, & Gordon, 2007, S. 46) im Sinne des Empfangs von Leistung – wenn auch zentrales Element – wird der Arbeit von Simmel nicht gerecht. „Die Gliedfunktion, die der Arme innerhalb der bestehenden Gesellschaft übt, ist nicht schon damit gegeben, dass er arm ist; nur indem die Gesellschaft – die Gesamtheit oder die einzelnen Individuen – mit Unterstützungen darauf reagiert, spielt er seine spezifische soziale Rolle“ (Simmel, 1908, S. 490).

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Feind der Gesellschaft werden zu lassen, um seine herabgesetzte Kraft wieder für sie fruchtbar zu machen, um die Degenerierung seiner Nachkommenschaft zu verhüten“ (Simmel, 1908, S. 458). Nicht die Milderung des personellen Leides ist der Zweck der gesellschaftlichen Fürsorge, sondern der Schutz und Erhalt der Gesellschaft bzw. „ihr Sinn ist gerade, gewisse extreme Erscheinungen der sozialen Differenziertheit so weit abzumildern, dass jene Struktur weiter auf dieser ruhen kann“ (Simmel, 1908, S. 459f.). Armenpflege kommt damit auf gesellschaftlicher Ebene eine stabilisierende, den Status quo erhaltende Funktion zu und selbst wenn dafür Umverteilungsprozesse von Nöten sind, aber nicht um die Differenz zwischen arm und reich grundsätzlich aufzulösen. Anders formuliert ist die Überformung der Pflicht dem Selbstzweck aus staatlicher bzw. gesellschaftlicher Perspektive geschuldet.9 Neben der für den Staat funktionalen Armenpflege (Pflicht) und dem Recht auf Unterstützung (im Sinne eines Menschenrechtes und hinter die Pflicht getreten)10 leitet Simmel im späteren Teil seiner Arbeit eine weitere Form ab (siehe auch Lessenich, 2003), welche sich aus einem moralischen Instinkt als „apriorische Voraussetzung“ konstituiert bzw. „dass unter all solches Tun eine tief gelegene Pflicht subintelligiert wird, die gewissermaßen durch das Tun offenbar und fühlbar wird“ (Simmel, 1908, S. 469). Quintessenz ist eine Unterstützung des Armen von Seiten der „Allgemeinheit und der Wohlhabenden“, welche den Zweck „in der gebesserten Situation des Armen selbst findet“ (Simmel, 1908, S. 470). Hierin wird eine zweite Funktionsweise begründet, welche die erste Funktion der gesellschaftlichen Strukturerhaltung ergänzt. Das Rechte/PflichtenVerhältnis dieser moralischen Beziehung erscheint weniger einseitig, trotz einer zumindest implizit angedeuteten Dominanz der Pflicht.11 Das erste Prinzip misst Simmel am Beispiel Englands idealtypisch der staatlichen Wohlfahrt bei, während letzteres der privaten Wohltätigkeit obliegt. Seine weiteren Überlegungen sind hauptsächlich vor diesem Hintergrund zu interpretieren bzw. die Begriffe Staat und Privatwohltätigkeit im Kontext der zwei Funktionen zu lesen. In Erwähnung Frankreichs (in Übersicht der franz. Verhältnisse Saint-Jours, 1981) wird jedoch die Idealtypik der englischen Praxis betont und zwischen „beiden sozialen Funktionsweisen fortwährende Ausgleichungen, Verdrängungen, Rangverschiebungen“ (Simmel, 1908, S. 484) attestiert.12 In England kam der Staat für die dringendste Not – das im Zusammenhang stehende relative Minimum wird an späterer Stelle noch erörtert – auf, während die Privatwohltätigkeit die Aufgabe hatte, „den vor dem Verhungern schon geschützten Armen wieder erwerbsfähig zu machen, die Not zu heilen, für die der Staat nur momentane Linderung hat. Nicht die Not als solche, der terminus a quo, bestimmt sie, sondern das Ideal, selbständige und wirtschaftlich wertvolle Individuen zu schaffen; der Staat verfährt im kausalen, die Privatwohltätigkeit im teleologischen Sinne. Oder anders ausgedrückt: der Staat kommt der Armut, die Privatwohltätigkeit dem Armen zu Hilfe“ (Simmel, 9 10

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Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so ist der logische Schluss ein Überhang der Pflichten des Armen gegenüber seinen Rechten. Simmel (1908, S. 456) verweist zudem auf die Beschämung der Bittstellung, welche sich durch die Geltendmachung des Rechts auflöse. „die Gedrücktheit, die Beschämung, die Deklassierung durch das Almosen hebt sich für ihn in dem Maße auf, in dem es ihm nicht aus Barmherzigkeit, Pflichtgefühl oder Zweckmäßigkeit gewährt wird, sondern er es fordern darf“. Einerseits kehrt hierzu Simmel die Beziehung um und setzte die Pflicht als eine ideelle „Pflichtlinie von Mensch zu Mensch“ dem Recht voran. Andererseits hält Simmel (1908, S. 455) fest: „Im letzten Grunde sind wir die Sittlichkeit unsres Handelns nur uns selbst schuldig, dem besseren Ich in uns, der Achtung vor uns selbst, oder wie man den rätselhaften Punkt bezeichnen mag, den die Seele in sich selbst als ihre letzte Instanz findet, und aus dem heraus sie mit Freiheit entscheidet, inwieweit die Rechte Andrer für sie Pflichten sind“. Letztendlich, so lässt sich daraus schlussfolgern, hat das Recht ohne die Anerkennung der Pflicht keine Wirksamkeit. „Das französische Prinzip bringt es vielmehr unverkennbar mit sich, dass inhaltlich zwischen beiden Stufen der Hilfe nicht so scharf und grundsätzlich wie in England geschieden werden kann“ (Simmel, 1908, S. 483).

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1908, S. 481). Einerseits ist der Staat für eine Rahmengestaltung verantwortlich, welche eine möglichste geringe Chance der Verarmung bieten soll, andererseits für die Beseitigung der Armut als Selbstzweck; das einzelne Individuum spielt jeweils keine Rolle. Bei der privaten Wohltätigkeit richtet sich das Interesse an das singulär, über die Armut bestimmte Individuum, um jenes in eine Situation zu bringen, in welcher sich die Armut von selbst auflöst. Hierbei gilt es nicht die strukturellen Voraussetzungen zu ändern, sondern sich der konkreten Ursache der Armut des Einzelnen zu widmen. In beiden Fällen handelt es sich aber um eine soziale Reaktion zweier Funktionsweisen auf den als Armen adressierten Menschen. Obwohl nun der Arme in den meisten Fällen nicht das Recht der Fürsorge geltend machen kann, ist dieser nicht als exkludiert im eigentlichen Sinne zu betrachten, sondern weiterhin als ein Element der Gesamtheit.13 „Nun war das oben gebrauchte Gleichnis des Wildbaches14 insofern ungenau, als der Arme nicht nur Armer, sondern auch Staatsbürger ist. Insofern hat er freilich seinen Teil an dem Rechte, das das Gesetz der Gesamtheit der Bürger als Korrelat der Staatspflicht zur Armenunterstützung verleiht; er ist, um in jenem Gleichnis zu bleiben, zugleich der Bach und sein Adjazent, in dem Sinne, in dem es der reichste Bürger auch ist“ (Simmel, 1908, S. 463). Zwar wird der Arme einerseits außerhalb der Gruppe gestellt, jedoch vermittels besonderer Art der Wechselwirkung und damit andererseits in „eine Einheit mit dem Ganzen in dessen weitestem Sinne verwebt“ (Simmel, 1908, S. 464; s. auch 485). Die eigentümliche Interdependenz zwischen Gesamtheit und Armen ist durch die Zweckverschiebung weg von dem Armen geprägt, welche die Reziprozität im Schenkvorgang auflöst. „So ist die Wechselwirkung abgeschnitten, die Schenkaktion ist kein soziales, sondern ein bloß individuelles Ereignis [...] allein dadurch, dass seine wirtschaftliche Tätigkeit wieder ermöglicht, seine Körperkraft vor dem Verfall behütet, seine Impulse von gewalttätiger Bereicherung abgelenkt werden, erfährt tatsächlich die Totalität seines sozialen Kreises ihrerseits eine Reaktion auf das, was sie an ihm getan hat“ (Simmel, 1908, S. 464f.). Zusätzlich merkt Simmel (1908, S. 486) an, dass durch eine Behandlung des Armen als „corpus vile“, jener zum Feind der Gesamtheit werden könne; also auch der soziale Umgang selbst für die letztliche Reaktion entscheidend ist. Obwohl an mehreren Stellen entsprechend umgrenzt definiert, erweitert Simmel seine Definition von Armut abschließend um den Aspekt der Potentialität und führt zu der wohl bekanntesten Passage seiner Arbeit: „Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte. So ist nach dieser Richtung die Armut nicht an und für sich, als ein quantitativ festzulegender Zustand zu bestimmen, sondern nur nach der sozialen Reaktion, die auf einen gewissen Zustand hin eintritt“ (Simmel, 1908, S. 490). Nochmals zusammengefasst ist Armut eine von außen attribuierte Bestimmung: denn nur wer Unterstützung empfängt gilt als der Arme. Zusätzlich wird auch die individuelle Ebene von

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„Worauf es soziologisch ankommt, ist die Einsicht, dass die ganze, materiell veranlasste Besonderheit in der Situation des unterstützten Armen, die einerseits sein individuelles Befinden zum äußeren Zielpunkt der Hilfsaktion macht, andrerseits ihn den Gesamtabsichten des Staates als ein rechtloses Objekt und zu formenden Stoff gegenüberstellt - dass diese durchaus nicht seine gliedmäßige Zugehörigkeit zu der Staatseinheit verhindert“ (Simmel, 1908, S. 463). „Wenn der Staat etwa durch Gesetz verpflichtet ist, ein Wildwasser abzuleiten, und damit die Bewässerung gewisser Gebiete zu gewinnen, so ist der Bach ungefähr in der Lage des vom Staate unterstützten Armen: er ist zwar der Gegenstand der Pflicht, aber nicht der Träger des ihr korrespondierenden Rechtes, welches vielmehr die Adjazenten des Baches sind“ (Simmel, 1908, S. 461).

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Simmel eingeführt und „arm sein“ als Zustand angesehen, in welchem die Mittel zu den persönlichen Zwecken nicht genügen, aber „jeder mit sich selbst abzumachen hat“ (Simmel, 1908, S. 492). Die Unterscheidung15 in „Armut“ und „arm sein“ verweist dabei auf Zustände wie zum Beispiel sich als Armer nicht arm zu fühlen oder aber als Nicht-Armer arm zu sein (siehe dazu auch Zapf, 1984). Virulent wird nun die Frage, wie der „gewisse Zustand“ oder der „Nullpunkt“ definiert sind, ab dem Unterstützung gewährt wird und dies womöglich von der individuellen Ebene abzuweichen vermag. Hierzu veranschlagt Simmel ein relatives Maß, welches neben den physisch oktroyierten Grundbedürfnissen schicht- bzw. milieuspezifische Bedürfnisse enthält, denn „es ist kein Maß dieser Bedürfnisse mit Sicherheit festzustellen, das unter allen Umständen und überall in Kraft wäre und unterhalb dessen also Armut im absoluten Sinne bestünde. Vielmehr besitzt jedes allgemeine Milieu und jede besondere soziale Schicht typische Bedürfnisse, denen nicht genügen zu können Armut bedeutet“ (Simmel, 1908, S. 487). Die Ausprägungen dieser unterliegen einerseits einer sozialgeschichtlichen Entwicklung (hinsichtlich einer historischen Betrachtung etwa Tocqueville, Füllsack, & Tillmann, 2007), wie auch einer gewissen Definitionsmacht (über die aktuelle Problematik Schneider & Butterwegge, 2015). Simmel konstatiert einen variablen Charakter von Armut, womit auch, wie später noch erörtert, die von ihm geschlussfolgerte Objektivierung staatlicher Leistungen als ein pragmatischer Lösungsansatz gesehen werden kann. Zuvor soll auf die Rollenzuweisung im Kontext der Verortung des Armen noch näher eingegangen werden, bei welcher die Differenzierung zwischen dem Armen bzw. Armut und „arm sein“ an Bedeutung erlangt: „Wenn er [der Arme] noch irgendeine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, gehört er insofern in den Ausschnitt der allgemeinen Wirtschaft, der jene unmittelbar befasst; insofern er Mitglied einer Kirche ist, gehört er in deren, mit keiner andersartigen Begrenztheit zusammenfallenden Bezirk; insofern er Familienmitglied ist, gehört er in den personal und räumlich festgelegten Kreis seiner Verwandten; wohin aber gehört er, insofern er Armer ist?“ In dieser Konzeption ist „arm sein“ soziologisch gesehen ein bedeutungsloser Zustand, da jene nicht der sozialen Kategorie zugeordnet werden und weiterhin andere soziale Rollen einnehmen – „er ist eben ein armer Kaufmann, Künstler, Angestellter usw.“(Simmel, 1908, S. 491). Erfolgt hingegen eine soziale Reaktion der Gesamtheit in Form der Hilfeleistung, so tritt die Person in einen durch Armut charakterisierten Kreis ein und erzeugt damit auf gesellschaftlicher Ebene eine relativ homogene Gruppe der Armen,16 innerhalb dieser Simmel eine Unverbundenheit und Heterogenität der Individuen attestiert: „Eine [...] Einung der Armen wurde schon deshalb bald unmöglich, weil mit der wachsenden Differenzierung der Gesellschaft die individuellen Unterschiede der Hineingehörigen an Bildung und Gesinnung, an Interessen und Vergangenheit zu mannigfaltig und zu stark wurden, um jener einen Gemeinsamkeit noch die Kraft zu realer Vergesellschaftung zu lassen“(Simmel, 1908, S. 491). Während der Gruppe der Armen assoziative Elemente tendenziell fehlen und eher eine Atomisierung bzw. Individualisierung erfolgt, dehnt sich der Kreis der sozialen Reaktion nach Simmel aufgrund der wachsenden Freizügigkeit der BürgerInnen auf das Staatsgebiet aus. Denn „ausschließlich für diesen Kreis, der, weil er der größte ist, nichts außer sich hat, wohin er eine Verpflichtung abschieben könnte“ (Simmel, 1908, S. 468), bestehe die Gefahr der räumlichen Konzentration und damit Überlastung kleinerer sozialer Einheiten nicht. Einerseits obliegt dem Staat damit die Aufgabe der Fürsorge, dieser bedient sich zugleich der Gemeinde, da sie leistungsfähiger 15

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„So kann individuelle Armut - das Nichtzureichen der Mittel zu den Zwecken der Person - ausbleiben, wo ihr sozialer Begriff statthat, und sie kann vorhanden sein, wo von ihr im letzteren Sinne keine Rede ist“ (Simmel, 1908, S. 487). An dieser Stelle setzten auch Stereotype an, welche sich zum Beispiel in Attribuierungen wie „Sozialschmarotzer“ oder „soziale Hängematte“ äußern.

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die individuellen Fälle bestimmen könne.17 „Dass die Armenpflege auch weiterhin im Wesentlichen der Gemeinde delegiert wird, ist deshalb sehr zweckmäßig, weil jeder Fall individuell behandelt werden muss, und dies nur aus der Nähe und der genauen Milieukenntnis möglich ist“ (Simmel, 1908, S. 471). Davon differenziert Simmel jene kollektivistischen Fälle, welcher einer solch genaueren Bestimmung nicht bedürfen. Insofern wird eine Teilung der staatlichen Leistungen vorgenommen, einerseits eine durch Verallgemeinerung direkte Fürsorge des Staates und andererseits eine aufgrund individueller Prüfung der Gemeinde obliegende;18 beide sind weiterhin im Kontext der Strukturerhaltung zu lesen, welche über die Bereitstellung eines relativen Minimums – weiteres fällt der Privatwohltätigkeit zu – erreicht wird.19 Dies begründet Simmel einerseits mittels Exkurs über die Negativität kollektiver Verhaltensweisen: „Mit wachsendem Umfang des Kreises werden die Gemeinsamkeiten, die jeden mit jedem zu der sozialen Einheit verbinden, immer weniger reichhaltig“ (Simmel, 1908, S. 474) und andererseits besitze das Minimum einen objektiven Charakter.20 Beide Argumentationsgänge können vor dem Hintergrund einer Legitimationsnotwendigkeit betrachtet werden, welche sich im kleinsten gemeinsamen Nenner am ehesten zu lösen vermag. „Daraus ergibt sich, [...] im Namen einer Gesamtheit keine größere Aufwendung gemacht werden darf, als auch ihrem sparsamsten Mitgliede zugemutet werden kann“ (Simmel, 1908, S. 472). Simmels Untersuchung erweist sich als überaus vielschichtig und komplex, welche zwischen Analysen seiner Zeit, daraus abgeleiteten theoretischen Formulierungen und normativen Vorstellung eher unvermittelt pendelt. Neben Einsichten wie der Relativität von Armut, einer Differenzierung der Funktionsweisen und der Betrachtung des Selbstzwecks staatlicher Armenhilfe ist als zentrale Erkenntnis die Armut als eine soziale Kategorie bzw. soziale Reaktion zu verstehen, welche ab einem gewissen Punkt erfolgt. Das nächste Kapitel widmet sich diesem entscheidenden Momentum genauer. Abschließend soll Simmel selbst nochmals zu Wort kommen, denn er fasst seine Ausarbeitung trefflich zusammen: „Die Armut bietet so die ganz einzige soziologische Konstellation: eine Anzahl von Individuen, vermittels eines rein individuellen Geschickes eine ganz spezifische organische Gliedstellung innerhalb des Ganzen einnehmend; diese Stellung aber

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Mit der Schlussfolgerung, die Finanzierung der Fürsorge der Gemeinde aufgrund einer befürchteten monetären Sorglosigkeit zu überantworten, vernachlässigt Simmel die umgekehrte Problematik einer bewussten Verschleppung zur Reduktion der Last (insbesondere, wenn kein Recht auf Fürsorge besteht). Selbst im Falle der Mindestsicherung wurden diesbezügliche Schwierigkeiten von SozialarbeiterInnen auf der 10. Armutskonferenz geäußert, da hier ebenso – je nach Bundesland – Gemeinden einen Teil der Kosten tragen und zugleich auf ähnlicher Ebene (etwa Bezirksverwaltungsebene in Niederösterreich) die Zuerkennung folgt, wie nun auch aktuell die drohende Last der Bundesländer selbst zum Anstoß strikterer Regelungen gibt. Diesem Prinzip folgte im Wesentlichen die 15a-Vereinbarung der bedarfsorientierten Mindestsicherung (seit Ende 2016 ist diese ausgelaufen), welche ein Mindestmaß an Leistung festschrieb, aber durch weitere Leistungen ergänzt werden konnte. Simmel schreibt sowohl vom „relativen Minimum“ und „sozialen Minimum“, welches „die unterste Stufe der intellektuellen, ökonomischen, kulturellen, ästhetischen usw. Skala zu umfassen“ (Simmel, 1908, S. 472) hat, als auch von einem Minimum, welches vor dem physischem Verkommen bewahrt (vgl. Simmel, 1908, S. 478). Die beiden Minima stehen hierbei nicht konträr, sondern das physische Minimum ist die grundsätzliche Basis, welche leichter festgelegt und legitimiert werden kann, während das soziale Minimum daran anschließt und Ausdruck der Relativität im Kontext der betrachteten Gesellschaft ist. Gemeint ist hierbei eine intersubjektive Basis, welche nicht „die volle Bedeutung der Wahrheit besitzen mag“, aber das „eigentümliche Cachets“ besitzt, „das wir eben Objektivität nennen“ (Simmel, 1908, S. 478). Die Problematik selbst den Bedarf für das Existenzminimum bestimmen zu können, führte, wie Abschnitt 3.2.2. offenlegt, gerade zu einer Reformulierung von Armutskonzepten. Simmels Annahme eines objektiven Charakters konnte sich folglich nicht behaupten und zeigt sich in aktuell hitzigen Debatten, wie viel Geld nun zum Überleben genügt.

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doch nicht durch jenes eigene Geschick und Verfassung bestimmt, sondern dadurch, dass Andre: Individuen, Vereinigungen, Ganzheit - eben diese Verfassung zu korrigieren suchen, so dass nicht der persönliche Mangel den Armen macht, sondern der um des Mangels willen Unterstützte erst dem soziologischen Begriffe nach der Arme ist [...] Sie besitzt ihrer Bedeutung und Lokalisierung im Gesellschaftskörper nach eine große Homogenität, die ihr aber, wie angedeutet, nach den individuellen Qualifikationen ihrer Elemente ganz abgeht. Sie ist der gemeinsame Endpunkt von Schicksalen der verschiedensten Art, von dem ganzen Umfang der gesellschaftlichen Unterschiedenheiten her münden Personen in ihr, keine Wandlung, Entwicklung, Zuspitzung oder Senkung des gesellschaftlichen Lebens geht vorüber, ohne ein Residuum in der Schicht der Armut wie in einem Sammelbecken abzulagern“ (Simmel, 1908, S. 492). 2.1.2 Pragmatismus der Praxis Simmels Überlegungen legen nahe, dass sich Armut erst in der Zuwendung zu dieser bzw. sich die Armen in der Adressierung als unterstützungsbedürftige Individuen konstituieren. Allgemein formuliert dies Coser (1992, S. 35), wenn er schreibt: „Die Armen entstehen, historisch betrachtet, erst dann, wenn eine Gesellschaft dazu übergeht, Armut als besonderen Status anzuerkennen und einzelne Personen dieser sozialen Kategorie zuzuordnen“. Ebenso konstatiert Schäfer (2013, S. 329), dass es sich bei Armut um ein diskursiv erzeugtes Phänomen handelt, welches sich im reziproken Austausch mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen befindet. Die politischen, um die bedarfsorientierte Mindestsicherung drehenden Debatten vor dem Hintergrund einer vermeintlichen Überforderung des Soziallsystems aufgrund der Migrationszahlen, sind hierzu als aktuelles Beispiel zu nennen, wie die Thematisierung von Armut und nötiger Mindeststandards zumindest teilweise aus dem Diskurs über eine auf Armut gerichtete Sozialleistung ausgeklammert werden konnte.21 Soziologisch bzw. „beziehungssoziologisch“ (Leisering, 1997, S. 1042) lässt sich Armut nicht durch eine geringe materielle oder immaterielle Lage an sich, sondern über die „gesellschaftliche Reaktion“ (Coser, 1992, S. 36) bestimmen, welche einem disponiblen Niveau der Lebenslage(n) folgt. Entscheidend für diese Arbeit ist, nach der von Simmel bezeichneten „singulären Bestimmung“ bzw. „Nullpunkt“ zu suchen, welche den Armen bzw. die Armut in der Gesellschaft konstituiert und im Akt der Adressierung bzw. Zuweisung auch den Zugang zu Hilfeleistungen als eine wesentliche soziale Reaktion begründet. Im Anschluss lässt sich dann danach fragen, wie es um die Lebenslagen bzw. Lebenswelten der damit als arm adressierten Menschen (in Wien) bestellt ist. Im Gegensatz zum weiterhin sehr belebten Diskurs in Deutschland (jüngst Butterwegge, 2015; auch Barlösius, 2004, S. 177) und einem mehrgleisigen Verständnis noch in das neue Jahrtausend hinein (siehe die ersten beiden Armuts- und Reichtumsberichte - BMAS, 2001, 2005), ist für die österreichische Berichterstattung ein vergleichsweise stringenteres Begriffsverständnis – auch wenn Konstrukte wie die Armutsgefährdungsschwelle aufgrund ihrer verteilungspolitischen Brisanz (auch Lang & Steiner, 2010) durchaus ihre KritikerInnen haben – zu konstatieren.22 Seit der Veröffentlichung des „Berichts über die soziale Lage 1996“ (BMAGS, 1997)

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Allgemein ist darauf hinzuweisen, dass die Bezugnahme auf die realen Kostenstrukturen in Österreich fehlt (siehe zu dieser Kritik auch Kargl & Schenk, 2010, S. 87).; d.h. es wird über die Einkommenshöhe verhandelt, ohne die Frage zuzulassen, was man sich eigentlich darum kaufen können soll bzw. kann. Pointiert wird bzw. wurde dies durch die gewählte Bezeichnung: bedarfsorientierte Mindestsicherung. In Wien begann eine als Sozialbericht titulierte Berichtlegung deutlich später; 2001 lag der Endbericht zur Machbarkeit eines Wiener Sozialberichtes vor (Schmid & Mayrhofer, 2001), 2006 kritisieren Till & Till-

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bzw. in heutiger Form als „Sozialbericht“ (aktuellste Fassung BMASK, 2017) wird fortlaufend Armut thematisiert und bereits im Bericht von 1998 (vgl. Till & Steiner, 1999) das aktuell genutzte Berechnungsverfahren von Einkommensarmut (bzw. Armutsgefährdung) – 60% vom Median des Äquivalenzeinkommens – aufgenommen. Dieses ist als zentraler Bestimmungsmechanismus des existierenden politischen-zielorientierten Standards – normative Funktion (vgl. Atkinson, Cantillon, Marlier, & Nolan, 2002, S. 21) – zu bezeichnen und muss von politischadministrativen Standards – als Impulsgeber der Unterstützungsfunktion – geschieden werden (in Anlehnung an Hauser, 2012a, S. 132). Der Nachverfolgung beider widmet sich dieses Unterkapitel. Die Differenzierung zwischen den Standards ist relevant (auch Hauser, 2012a, S. 132), da von einer Deckung nur bedingt ausgegangen werden sollte. Zwischen Bemessungsgrundlage des normativen Anspruchs und jener der tatsächlichen Hilfeleistung scheint in der sozialstaatlichen Praxis eine durchaus hohe Toleranz der Divergenz zu bestehen. Anders formuliert erfüllen die administrativen den zielorientierten Standard (genau genommen handelt es sich auch bei letzterem um mehrere Standards – dies gilt es an späterer Stelle zu klären) nicht vollständig: Einerseits, weil sich diese inhaltlich in ihren Bestimmungsmechanismen zumindest teilweise unterscheiden – je nachdem welche Sozialtransfers in den administrativen Standard einbezogen werden – und andererseits, weil von einer Hierarchisierung auszugehen ist. Übergeordneter Zweck ist die Reduktion von Armut, welche sich auf Basis des zielorientierten Standards bemisst, die administrativen Standards bzw. die dadurch administrierten Unterstützungszugänge sind als unmittelbare Reaktionen zur Milderung der Not zu fassen und tragen nur in günstigen Konstellationen zur Überschreitung des zielorientierten Standards bei. Zur Reduktion von Armut nach dem zielorientierten Standard kommen zudem weitere, vor allem indirekte (aber die Not nicht direkt mildernde) Mittel zum Einsatz, welche gesellschaftspolitisch als armutsreduzierend angesehen werden und zu einem Großteil in Verbindung zur Erwerbstätigkeit stehen. In einer Broschüre des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz sind etwa die „Förderung integrativer Arbeitsmärkte“, „Verbesserungen beim Kinderbetreuungsgeld“ oder die „Senkung des Lohn- und Einkommensteuertarifs“ (BMASK, 2010) angeführt. Simmels Konzeption scheint zuallererst auf den administrativen Standard abzustellen, geht man von dem durch „des Mangels willen Unterstützten“ als Armen aus. Andererseits ist bereits mit dem zielorientierten Standard ein zu bekämpfender Zustand bzw. illegitime Differenz bestimmt. Komplexität erhält die Angelegenheit durch den Umstand, dass es mehrere administrative Standards je nach Sozialleistung gibt, welche sich noch dazu dem zielorientierten annähern; zudem betont Simmel auch die staatliche Funktion, auf struktureller Ebene zur Vermeidung von Armut einzuwirken.23 Daher erscheint es sinnvoll die Reaktion nicht an die Fürsorgetätigkeit per se zu knüpfen, sondern Armut als Resultat von Reaktionen (Anschlussmöglichkeiten) zu sehen, welche aufgrund einer als illegitim angesehen Differenzierung erfolgen (Akt der Adressierung). Die Differenzierung der Fürsorgearten nach Simmel (1908, S. 482) – Fürsorge in Richtung der Tatsache und Fürsorge in Richtung der Ursache von Armut – laufen im modernen Wohlfahrtsstaat verstärkt zusammen, wiewohl der Privatwohltätigkeit (man denke etwa an Sozialmärkte) bzw. den Mischformen im Sinne teilstaatlich finanzierter Non-Profit Organisationen ebenso, wenn nicht gar verstärkte Bedeutung zukommen.

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Tentschert (2006) im Vorwort zum Bericht „Armutslagen in Wien“ den bis dahin weiterhin bestandenen Mangel; 2010 wurde der erste von bis dato drei Wiener Sozialberichten publiziert (MA24, 2010, 2012, 2015). „Allein die fundamentalen, ökonomisch-kulturellen Zustände, auf denen als Basis sich jene persönlichen Verhältnisse erheben — diese zu gestalten ist wieder Sache der Allgemeinheit; und zwar sie so zu gestalten, daß sie der individuellen Schwäche oder ungünstigen Präjudiziertheit, dem Ungeschick oder dem Mißgeschick möglichst wenig Chance geben, Verarmung zu erzeugen“ (Simmel, 1908, S. 482).

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Die nachfolgenden Abschnitte gehen zugleich mehreren Zielen nach: Die Analyse der Sozialberichte soll einerseits Aufschluss über die (sich wandelnde) gesellschaftlich relevante Armutsdefinition geben und andererseits aufzeigen, inwiefern Altersarmut eine Thematisierung findet bzw. wie sich die Anzahl der adressierten Personen in den letzten knapp 20 Jahren entwickelt hat. Eine gewisse Redundanz ist entsprechend der chronologischen Aufarbeitung unvermeidbar, aber nach Möglichkeit kompakt gehalten. Dahinter liegt auch die Frage, inwiefern die von Angel & Kolland (2011) konstatierte Problematik einer geringen Beschäftigung der Sozialgerontologie mit dem Thema Armut eine Entsprechung in der Sozialberichterstattung gefunden hat. Die Ausarbeitungen über die konkreten Sozialleistungen dienen einerseits der Gegenüberstellung, inwiefern sich der politisch-zielorientierte Standard und der politisch-administrative Standard decken bzw. ob der Mechanismus der Adressierung auf anderen Logiken beruht, andererseits soll damit ersichtlich werden, welche und in welcher Höhe Sozialleistungen älteren Menschen zur Verfügung stehen. Die Darstellung ist darüber hinaus der Einsicht geschuldet, dass die Sozialleistungen wesentlich den Handlungsspielraum altersarmer Menschen mitkonstituieren sowie selbst als zu bewältigende Problemlage – bedenkt man etwa die Antragsstellung oder die Frage, wie Menschen die damit verbundene Abhängigkeit in ihr eigenes Selbstverständnis integrieren – aufzufassen sind und damit als Versatzstücke zum Verstehen der Lebenssituation (im empirischen Teil der Arbeit) beitragen. Eine Synthese findet im letzten Abschnitt statt, welcher die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Standards kompakt gegenüberstellt. Es wird sich zeigen, dass nicht eine „singuläre Bestimmung“ wirksam ist, sondern ein komplexes Geflecht, welches einen Raum der Adressierung spannt. Dies mag das Ergebnis der Komplexität der existierenden Lebensverhältnisse sein; erklärt jedoch nicht, warum die zentralen Leistungen gerade bei älteren Menschen den politisch-zielorientierten Standard meist nicht zu durchdringen vermögen. 2.1.2.1 Politisch–zielorientierter Standard der Sozialberichterstattung In Österreich lässt sich aktuell eine rege Armutsberichterstattung attestieren, die zu Beginn der 2000er Jahre expandierte (auch Lang & Steiner, 2010, S. 87). Neben der jährlichen Veröffentlichung der EU-SILC Ergebnisse in Form eines Tabellenbandes (u.a. Statistik Austria, 2017d) sind Arbeiten aus der „Sozialpolitischen Studienreihe“ bzw. durch das Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (BMASK) beauftragte Sonderarbeiten und der Sozialbericht (etwa BMASK, 2017b) zu nennen.24 Im Besonderen letzterer ist in seiner sozialpolitischen Relevanz hervorzuheben, da der Sozialbericht bzw. früher als „Bericht über die soziale Lage“ bezeichnet, in einem Ausschuss des Parlaments bzw. in Parlamentssitzungen behandelt wird und somit die Inhalte in den tagespolitischen Diskurs münden. Die mediale Rezeption trägt zusätzlich zu einer Diffusion der Ergebnisse in den gesellschaftlichen Diskurs bei. Dies bedeutet aber auch, dass der Darstellung im Bericht als Stoff für Debatten und Wahrnehmungen

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In vielerlei Hinsicht handelt es sich um redundante Präsentationen von Ergebnissen bzw. einer Situationsfortschreibung und scheint der limitierten Datengrundlage ebenso geschuldet zu sein. Wohl hat es den Anschein, als könne Armut auch mit der Menge an bedrucktem Papier bekämpft werden, denn die teils bereits über Jahre prekäre Lage der meisten „Risikohaushalte“ – wie im Tabellenband des EU-SILC bezeichnet – erfährt zwar gebetsmühlenartiger Hinweisungen in den Sozialberichten, jedoch keiner wesentlichen Verbesserungen durch größere sozialpolitische Erfolge.

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hohe Bedeutung eingeräumt werden muss und die (sozialpolitische) Anerkennung von Altersarmut von der Thematisierung im Sozialbericht ebenso abhängig ist – im Sinne von Bourdieu (2016, S. 23ff.) lässt sich von einer hohen Bedeutungsmacht staatlicher Seite sprechen.25 Mit der Regierungserklärung26 am 20.April 1966 wurde vom Bundeskanzler Josef Klaus die Entstehung des Sozialberichtes induziert. Die Bundesregierung verkündete die Absicht der „Einführung eines alljährlich vom Bundesminister für soziale Verwaltung zu erstellenden und im Wege der Bundesregierung dem Parlament vorzulegenden Berichtes über die soziale Lage, genannt Sozialbericht“ (Nationalrat XI. GP. - 3.Sitzung - 20.April 1966).27 30 Jahre später fand mittels Entschließungsantrags des Nationalrats die Bestandsaufnahme von Armut und Armutsbekämpfung Eingang in die Berichterstattung28 und wurde bis dato in elf Berichten behandelt. Anhand jener soll im Nachfolgenden die Entwicklung des politisch-zielorientierten Standards sowie die Thematisierung von Altersarmut in dem zentralen Vehikel der österreichischen Sozialberichterstattung nachgezeichnet werden. Die europäische Union spielt als Impulsgeberin sowie bürokratisierende Kraft in der Armutsberichterstattung eine gewichtige Rolle und kann dabei selbst auf eine bewegte und weit zurückreichende Auseinandersetzung blicken. „Die Koordinierung der EU in Fragen der Armutspolitik und sozialen Ausgrenzung erwies sich letztlich als Druckmittel auch auf die österreichische Regierung“ (Obinger & Tálos, 2006, S. 191). Hierzu zwei Auszüge aus dem Sozialbericht, welche die starke Orientierung am europäischen Vorgehen verdeutlichen: Der „EU-SILC wird europaweit durchgeführt und ist die zentrale Grundlage zur Erhebung der vom Europäischen Rat verabschiedeten Indikatoren zur Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Diese Indikatoren sollen es den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission ermöglichen, die Fortschritte bei der Erreichung des vom Europäischen Rat von Lissabon gesteckten Zieles zu messen, bis 2010 bei der Bekämpfung von Armut deutlich weiterzukommen und das Verständnis von Armut und sozialer Ausgrenzung im europäischen Rahmen zu verbessern“

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„Durch dessen Vorgaben der offiziellen Taxonomien [...] schreibt das INSEE Rangordnungen fest [...]. Eine Berufsbezeichnung, ein Titel bildet (wie Lohn oder Gehalt) eine positive oder negative Vergütung, im Sinne einer Unterscheidungsmarke (Emblem oder Stigma), deren Wert sich nach der Stellung innerhalb eines hierarchisch gestaffelten Systems von Titeln richtet und die auf diese Weise zur Festlegung der jeweiligen Positionen von Akteuren und Gruppen beiträgt“ (Bourdieu, 2016, S. 25). Mit diesem Beispiel verweist Bourdieu auf die zentrale Stellung des französischen Statistikamtes und lässt sich analog auch auf die Zuweisung von arm und nicht arm übertragen. „Es war schon eine alte Forderung von uns, daß man ähnlich wie den Grünen Bericht jetzt auch zwar nicht einen "Roten Bericht", aber einen Sozialbericht erstellt. Wir werden vielleicht aus diesem Bericht manches besser ersehen“ (Ing. Häuser –SPÖ; Nationalrat XI. GP.- 4. Sitzung -22. April 1966). Erwähnenswert ist in diesem Kontext, dass der Sozialbericht zwar bereits eine beachtliche Historie aufweist – im Vorwort von Alois Stöger der aktuellen Auflage findet sich dazu die Erwähnung: „Vor nunmehr 50 Jahren wurde 1967 auf Wunsch der Bundesregierung der erste ‚Bericht über die soziale Lage’ veröffentlicht und dem Parlament vorgelegt-“ – obwohl dieser, im Vergleich zu anderen Berichten, wie etwa jenem über die „Lage der behinderten Menschen“(§13a. des Bundesbehindertengesetzes), nicht explizit gesetzlich verankert ist. Tatsächlich hatte man den Grund der Berichtlegung – wie ich in informellen Gesprächen erfuhr – bereits in der Institution selbst vergessen, erst vor kurzem wurde der Entschluss aus dem Archiv wieder ausgehoben. Gleichwohl die Erstellung als ritualisiert erscheint, wurde innerhalb des politischen Systems dessen Legitimität angezweifelt, zudem fiel eine Publikation für 2017 erneut aus. Siehe die Erweiterung des Berichtes der sozialen Lage um "Armutsbekämpfung" (20/AEA) in 624 der Beilagen XX. GP und Nationalrat XX. GP. – 66. Sitzung – 19. und 20. März 1996.

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„Für eine EU-weite und vergleichbare Berichterstattung zu Armut und sozialer Ausgrenzung wurden 60% des Medianeinkommens als kritischer Wert festgelegt“ (Till-Tentschert, Lamei, Bauer, & Statistik Austria, 2004, S. 211f.). Die durchaus beachtliche Einflussnahme (u.a. Fink, 2010; Heitzmann, 2011), welche sich in solchen expliziten Erwähnungen im Sozialbericht eingelagert hat, manifestiert sich in der frequenten, teils obligatorischen Berichterstattung und im Besonderen in den (harmonisierten) Indikatorsets der Armutsmessung. Zwar wurden auch nationale Indikatoren entwickelt, als dominierend darf das europäische Verständnis gleichwohl bezeichnet werden und stellt einen Orientierungspunkt für die nationale Entwicklungsgeschichte dar. Dies macht die Behandlung der europäischen Seite notwendig und ist einerseits in die chronologische Darstellung der nationalen Berichte eingearbeitet, andererseits finden in einem davor gelagerten Unterabschnitt die „Grundhaltung“ und die relevanten geschichtlichen Stationen der europäischen Sozialpolitik einen gesonderten Überblick. Abschließend wird die Anerkennung von Altersarmut in der Berichterstattung resümiert; zugleich soll mit Verweis auf Deutschland aufgezeigt werden, dass sich die Armutsgefährdungsquoten älterer Menschen unterschiedlich im internationalen Vergleich entwickelt haben. Die aktuell verstärkte Thematisierung in Deutschland ist auf einen Anstieg der Quote zurückzuführen, welche ihren Ursprung in den Pensionsreformen der letzten Jahrzehnte hat und es mehren sich die Forderungen einer Neugestaltung nach österreichischem Modell. Während in Deutschland die Entwicklung auch in der wissenschaftlichen Bearbeitung aufgegriffen wird, ist die Situation in Österreich zwar zumindest aktuell günstiger, das hohe Risiko zum Beginn des neuen Millenniums führte aber nicht zu einer umfassenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Altersarmut. 2.1.2.1.1

Der Orientierungspunkt – Europäische Union

Aus nationaler Sicht stellt der europäische Armutsdiskurs nach Lang & Steiner (2010) eine Ergänzung und Erweiterung nationaler Debatten zur Armutsbekämpfung dar; der Kommission komme, so Huster (1996, S. 114), letztendlich eine „katalytische Funktion“ zu. Trotz Ernüchterung – was bspw. den Nutzen der Methode der offenen Koordinierung (OMK) betraf (exemplarisch Benz, 2012, S. 659; Fink, 2010; Room, 2010) – ist der Einfluss der Europäischen Union im Besonderen hinsichtlich der Problemdefinition bzw. „problem stream“ (Fink & Litschel, 2014) nicht von der Hand zu weisen und wurde durch die Entwicklung gemeinsamer Indikatoren zur Messung von Armut bzw. Inklusion vorangetrieben; entsprechend ist Armut konzeptuell zumindest ein Stück weit durch die EU gerahmt. Zudem ist seit der OMK bzw. Lissabon Strategie die nationale Armutsberichterstattung intensiviert worden und die Armutsforschung greift vorrangig auf die Daten, welche im Zuge des Informationsaustausches gesammelt werden, zurück. Überspitzt lässt sich formulieren, dass die breite Auseinandersetzung mit der Armutsthematik in Österreich in erster Linie ein Ergebnis des europäischen Prozesses ist. Im Nachfolgenden soll weniger eine kritische Sicht (d.h., was aus der Sicht von ArmutsforscherInnen nicht bzw. nur bedingt funktioniert) eingenommen, sondern die Entwicklung des europäischen Armutsverständnisses dargelegt werden, da, wie im später folgenden Teil gezeigt wird, die amtliche Armutsberichterstattung in Österreich in einem unmittelbaren Nexus zu dieser steht. Drei Meilensteine des europäischen Entwicklungsprozesses lassen sich grob zusammenfassen (vgl. auch Engsted, 2013) und werden im Anschluss näher erörtert: Die „Armuts-Programme I bis III“ (I. 1975-1980; II. 1985-1989 und III. 1990-1994), in deren Rahmen Expertengruppen gebildet und Informationen sowie Analysen über die sozialen Entwicklungen und die nationale Situation der damaligen Mitgliedsstaaten zusammengetragen

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wurden. Zusätzlich wurden Modellvorhaben entlang sozialpolitischer Initiativen auf nationaler Ebene finanziert (vgl. Huster, 1996, S. 51) und ein Austausch von Informationen und Erfahrungen sollte zwischen den Ländern angestoßen werden (vgl. European Commission, 1991, S. 15). Essentiell ist diese Phase vor allem deswegen, weil sie für die weitere Entwicklung wegbereitend war und sich bereits zu dieser Zeit zumindest einzelne Verfahrensweisen (z.B. wurden die Äquivalenzskalen oder die Entwicklung des European Community Household Panel stimuliert) herausbildeten, welche bis heute den Adressierungsprozess bestimmen und die entworfenen Armutsdefinitionen später folgende Überlegungen immer wieder anleiteten (so etwa Atkinson u. a., 2002, S. 78; Eurostat, 2010). Die Lissabon Strategie von 2000-2010, in welcher Armut und soziale Ausgrenzung bzw. soziale Eingliederung erneut auf die politische Agenda gesetzt wurden, ebenso die Durchsetzung einer standardisierten und über die EU Länder hinweg normierten Messung von Armut bzw. sozialer Ausgrenzung (vgl. Daly, 2010). Bedeutend ist vor allem die Einführung der sozialen OMK, welche zur Institutionalisierung beitrug und die nationale Politik auf Basis der Aktionspläne zu einer breiteren Auseinandersetzung mit Armut und sozialer Ausgrenzung führte. Als die OMK und das erste Indikatorset eingeführt worden waren, basierten die Berechnungen noch auf dem europäischen Haushaltspanel, welches jedoch nicht alle Länder abdeckte und 2001 auslief. Es wurde durch die Befragung der “Community Statistics on Income and Living” (SILC) ersetzt, welche bis heute die Referenzquelle in der EU zum Thema der Armut bzw. sozialen Ausgrenzung bildet (vgl. Heitzmann, 2011). Die Europa 2020 Strategie von 2010-2020, welche die Bestrebungen der Armutsbekämpfung weiterführt und erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union ein konkret zu erreichendes Ziel in der Armutsreduktion setzt. Europa 2020 dient erneut als Referenzrahmen für Maßnahmen auf EU-Ebene bzw. auf Ebene der EU-Länder, welche im Rahmen jährlicher Reformprogramme Berichte über die Fortschritte ablegen (vgl. Europäische Kommission, 2017). Von ArmutsforscherInnen positiv konnotiert, ist die Weiterentwicklung der Europa 2020 Strategie hin zu einem quantifizierten Hauptziel der Armutsreduktion um zumindest 20 Millionen (vgl. Europäischer Rat, 2010) von Armut und Ausgrenzung betroffener Menschen. Gemessen wird dieses Ziel am dreiteiligen Indikator „At Risk of Poverty or Social Exclusion“ (AROPE), welcher bis heute auf europäischer und österreichischer Ebene das Verständnis von Armut und sozialer Ausgrenzung prägt. •

Armut I

Im Oktober 1972 auf der Gipfelkonferenz in Paris kam die europäische Gemeinschaft zur Übereinkunft, dass die „soziale Dimension“ durch die Etablierung des „European Social Action Programm“ gefördert werden müsse (vgl. Vanhercke, 2012). Knapp eineinhalb Jahre später, am 21. Januar 1974, wurde das Aktionsprogramm beschlossen und innerhalb dessen das Armutsprogramm „to the understanding of the nature, causes, the extent and dynamics of poverty in the Community“ installiert , welches letzten Endes von 1975 bis 1980 – angelegt auf zwei Jahre, 1977 auf fünf Jahre verlängert – und aus partizipativen Aktionsprojekten, wissenschaftlichen Studien und nationalen Berichten bestand (auch Gordon, 2007, S. 196). Neben der allgemeinen Thematisierung von Armut zeichnen das erste Armutsprogramm die Festlegung einer gemeinsamen Definition (auch Vanhercke, 2012) und die Erkenntnis aus, dass sowohl für internationale Vergleiche die bestehende Datenlage ungenügend sei als auch die Multidimensionalität nicht adäquat abgebildet werden könne (vgl. European Commission, 1981, S. 79 u. 124). Entsprechend wurde im Abschlussbericht festgehalten: „A concerted effort needs to be made at the level of the community as well as in Member States to collect adequate and comparable statistics on each dimension of poverty so that progress in combating it can be monitored on a

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regular basis” (European Commission, 1981, S. 149 u. auch 152). Die Zentrierung auf die Einkommensdimension – selbst diese aber durch unterschiedliche Einkommenskonzepte, Messzeitpunkte und Datenqualität für Vergleiche nur bedingt geeignet – wurde neben der Relevanz im Armutskonzept vor allem aus pragmatischen Gründen gewählt, denn „it is the aspect which can most readily be measured” (European Commission, 1981, S. 1). Von ebenso großer Bedeutung war die Festlegung auf eine gemeinsame Armutsdefinition, welche bereits im Beschluss zum Armutsprogramm von 1975 eingeführt wurde und trotz Modifikationen auch heute noch ein Art Grundverständnis darstellt: „In Armut lebende Personen: Einzelpersonen oder Familien, die über so geringe Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat als Minimum annehmbar ist, in welchem sie leben; Mittel: das Bareinkommen, das Vermögen und die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Leistungen“ (Rat der Europäischen Union, 1975). Armut ist hierbei als ein kausaler Wirkungszusammenhang definiert, welcher durch einen Ressourcenmangel einen Ausschluss aus dem jeweiligen soziokulturellen Existenzminimum bewirkt.29 Einerseits ist damit Armut nur gegeben, wenn ein entsprechender Ressourcenmangel die Ursache ist und andererseits dies auch als die Wirkung des Ausschlusses identifiziert werden kann. Sowohl abweichende Lebensstile als auch Mängel ohne wirkungsvollen Ausschluss sind entsprechend nicht als Armut zu klassifizieren (vgl. Deleeck & Van den Bosch, 1991; Groh-Samberg & Voges, 2013). Die Fokussierung auf das Einkommen hinderte jedoch nicht, Armut theoretisch bereits als multidimensional zu betrachten bzw. damit den Anspruch einer mehrdimensionalen Messung zu erheben. •

Armut II

Gut vier Jahre der Evaluierungen und Überlegungen waren erforderlich, bevor die Kommission einen Vorschlag (vgl. European Commission, 1984) für das zweite Armutsprogramm vorlegen konnte; im Dezember 1984 verabschiedet, endete das Programm 1989. Insgesamt 91 „local action-research projects“ (European Commission, 1991, S. 16) und weitere Studien zur Armutsstatistik wurden durchgeführt. Die vom Rat verabschiedete Armutsdefinition im Zuge des zweiten Programms lehnt sich stark an die der ersten an, jedoch mit einem markanten Unterschied: Verarmte Personen sind „Einzelpersonen, Familien und Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“ (Rat der Europäischen Union, 1985). Diese Definition verweist damit zwar weiterhin auf Mittel, jedoch wurde mit der Beifügung „kulturelle und soziale“ der multidimensionale Charakter30 29

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„The command over resources is perceived in terms of income. The assumption here is that there exists a mapping from the set of situations including the qualitatively different one whereby individuals are not able to satisfy their (material) needs into the income space; by means of this correspondence it is seen that more money would enable the individuals to escape from the situation of not achieving the minimum acceptable way of life. It then becomes legitimate to discuss poverty in terms of levels of income: people are considered to be poor if their income falls below a certain level which is required for them to realize a minimum welfare in the context of society's current standards. This certain level of income is the low income cut-off point or poverty line. Thus, with income as a proxy of command over resources and by means of a low income cut-off point, the poor can be distinguished from the non-poor and can be studied quantitatively“ (Ghiatis, 1991, S. 119). Im Endbericht zeichnet sich hierzu ein gewisser Zwiespalt ab: Obwohl man die Multidimensionalität anerkennt und daraus schlussfolgert – „Poverty has many aspects, which combine in diverse ways for each individual. It’s many different forms and dimensions mean that it does not generate a homogeneous group whose

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deutlicher betont (vgl. Strengmann-Kuhn & Hauser, 2012, S. 174).31 Durchaus berechtigt ist die von Groh-Samberg (2009, S. 37) geäußerte Kritik, dass jene Definition in ihrer Umsetzung eher als eine Art „theoretische Richtschnur“ verstanden wird, weil „Mittel“ zumindest zu Beginn – wenn nicht in vielen Arbeiten weiterhin – auf die monetäre Dimension beschränkt wurden.32 Im Vergleich zum ersten Programm erfolgte zudem eine verstärkte Institutionalisierung des Informationsaustausches bzw. Koordination und Evaluation (für eine visualisierte Übersicht siehe European Commission, 1989, S. 18), womit auch die Zahl an Publikationen deutlich anstieg. Neben der Förderung der Modellversuche standen auf der Agenda: “The dissemination and exchange of knowledge, the coordination and evaluation of operations to combat poverty, and the transfer of innovatory methods between Member States. The dissemination and regular exchange of comparable data on poverty in the Community” (European Commission, 1987, S. 6). In diesem Kontext beauftragte die Kommission das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat) mit der Ermittlung und Erhebung vergleichbarer Armutsdaten. Eurostat stützte seine Arbeit auf die Ergebnisse der „family budget surveys“ und die in den Mitgliedstaaten verfügbaren Verwaltungsstatistiken (vgl. European Commission, 1988, S. 13, 1991, S. 19). Das zweite Armutsprogramm war geprägt von experimentierfreudigen Versuchen, Armut zu operationalisieren, blieb aber der monetären Ebene eng verhaftet (u.a. O’Higgins & Jenkins, 1991). So wurden unter anderem Items den Haushaltssurveys hinzugefügt, um etwa eine subjektive Armutsgefährdungsschwelle bestimmen zu können (etwa Ghiatis, 1991). Deleeck & Van den Bosch (1991) fassen die Ergebnisse einer weiteren Studie zusammen, welche fünf unterschiedliche Verfahren (subjektive und statistische Armutsschwellen, Mindesteinkommensansatz und Deprivationsansatz) verglich und kommen zum (wenig überraschenden) Ergebnis deutlicher Unterschiede in den errechneten Armutsquoten sowie zur allgemeinen Erkenntnis, dass es keine beste Konzeption gibt, sondern jede anhand der spezifischen Vorzüge gemessen werden müsse. Für internationale Vergleiche – und darauf zielte die Kommission letzten Endes ab – sei die statistische Berechnung einer relativen Armutsgefährdungsschwelle auf Basis des Einkommens vorzuziehen (Deleeck & Van den Bosch, 1991, S. 170). Konträr befürworteten die AutorInnen einer ebenso im Kreis des zweiten Armutsprogrammes durchgeführten Studie (ISSAS, 1990, S. 72) die Armutsmessung über die Haushaltsausgaben.33 Damals, wie heute – an diesen Punkt wird im Späteren wieder angeschlossen – gilt die Einigkeit in der Uneinigkeit. Gemein ist den Arbeiten und Resümee der Tagung über „poverty statstics in the European Community“, die Forderung nach einem Zugang zu Mikrodaten, welche jährlich erhoben werden sollten und der weiteren Arbeit an Äquivalenzskalen (vgl. Haveman,

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problems can be solved simply by increasing monetary input” – wird als gemeinsamer Nenner – auch wenn andere Aspekte bei Armut eine Rolle spielen mögen – das Einkommen gesehen “and can therefore be a good indicator of the extent of poverty” (European Commission, 1991, S. 4). Die Anleihen an die Kapitalsorten von Bourdieu scheinen eher unbewusster Natur, Witcher (2013) konstatiert wiewohl einen potentiellen Fit. Jedoch muss angemerkt werden, dass sich einige der AutorInnen dieser Problematik durchaus bewusst waren, Hagenaars, Vos, & Zaidi (1994, S. 180) konstatieren dazu: „The decision to limit ourselves to the 'economic' definition of poverty is not made by choice, but because no data on social and cultural resources of the households are available”. „In the first place, expenditure data can be expected to better reflect so-called permanent income than data on recorded income. Secondly, expenditure measures the actual satisfaction of needs rather than the potential to satisfy them. And thirdly, expenditure reflects better than recorded income the declared and undeclared, formal and informal, resources of a household“ (ISSAS, 1990, S. 72).

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1991). Auch zum Schluss des zweiten Armutsprogramms lautete das Ergebnis: „The information available is not sufficient to permit as systematic an analysis of the non-monetary aspects of poverty as for income, but it is intended to improve the comparability of statistics on nonmonetary aspects in the near future“ (European Commission, 1991, S. 5). •

Armut III

Aufgrund der Erfahrungen der beiden Vorgängerprogramme wurde das dritte Armutsprogramm von 1989 bis 1994 bereits vor Ablauf des zweiten verabschiedet, mit mehr finanziellen Mittel ausgestattet (siehe European Commission, 1992) und bereits von Beginn an durch ein multidimensionales Verständnis gerahmt. In diesem Zuge zeichnet sich ein Begriffswechsel ab (vgl. Room, 2010, S. 14f.), welcher bereits im Beschluss des Rates in den Worten „zur Bekämpfung des wirtschaftlichen und sozialen Ausschlusses“ (Rat der Europäischen Union, 1989a) zum Vorschein trat34 und einen prominenten Platz im Abschlussbericht des dritten Armutsprogrammes einnimmt: Anstatt rein auf Armut zu rekurrieren, galt es nun auch den Kampf gegen soziale Exklusion – „combating social exclusion“ (European Commission, 1995, S. 10) zu führen (Atkinson & da Voudi, 2000, S. 437ff.). Ziele waren unter anderem: „Durchführung von Maßnahmen zur Unterrichtung, zur Koordinierung, zur Bewertung und zum Erfahrungsaustausch auf Gemeinschaftsebene; Fortführung der Untersuchung der Merkmale der in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht benachteiligten Personengruppen“ (Rat der Europäischen Union, 1989a). Neben den „actions programmes“, wurden erneut mit geringeren finanziellen Mitteln (vgl. European Commission, 1995, S. 17) statistische sowie ökonomische bzw. soziologische Forschungsprojekte installiert.35 Erstere unter der Einsicht, “that a successful policy to combat poverty can only be implemented on the basis of comparable and reliable statistics on the extent and the composition of the population at risk“ (Hagenaars, Vos, & Zaidi, 1994, S. 3). Die statistischen Arbeiten wurden in Zusammenarbeit mit Eurostat durchgeführt. Das Ziel bestand darin, ein System zur Analyse der Haushaltsbefragung (HBS) zu entwickeln und damit die Messung der Armut in Bezug auf das Einkommen zu verbessern. Fortschritte waren in der Nutzung von Mikrodaten erzielt worden, hingegen blieben Unzuverlässigkeiten in der Vergleichbarkeit der Daten bestehen (vgl. European Commission, 1995, S. 64). Trotzdem musste man sich – unter Bedacht einer langen Argumentation dafür und dagegen – erneut für eine ausgabenbasierte Messung aufgrund der damals vorherrschenden Datenlagen entscheiden. Hagenaars u. a. (1994, S. 181) bleiben in ihrer Konklusion der Ansicht treu, dass eine Messung auf Basis des Einkommens die adäquatere Lösung sei. Einerseits wurde daher eingefordert, die HBS zu verbessern und zu harmonisieren (u.a. Eurostat, 1993) sowie Daten für die kulturelle und soziale Dimension überhaupt zu erheben und andererseits das am Beginn stehende (ECHP)

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Durch eine Resolution des Rates der Europäischen Union wurde der Begriff der sozialen Exklusion weiter gefestigt und verwies ebenso auf den multidimensionalen Charakter; der Rat stellte fest, „daß der Prozeß der sozialen Ausgrenzung in verschiedenen Bereichen erfolgt und daß sich daraus vielfältige Situationen ergeben, die sich auf verschiedene Personen und Bevölkerungsgruppen sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gebieten auswirken“ (Rat der Europäischen Union, 1989b). „This research work pursued two essential aims: first, to help analyse poverty from the point of view of financial resources in order to establish comparable data for all the Member States and to shed some light on trends responsible for recent and current developments; second, to help analyse poverty from a multidimensional point of view, mainly to overcome the limitations inherent in the approach which considers only its financial aspects“ (European Commission, 1995, S. 64).

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European Community Household Panel (siehe Eurostat, 1996a, 1996b), welches neben Längsschnitt- auch bessere Einkommensdaten bieten sollte, zu lancieren. Zu Beginn noch als „European panel on family income and living conditions“ benannt und mit dem erklärten Ziel „to cover the social dimension of the Single Market“ (European Commission, 1993a, S. 26), wurde dieses bereits 1990 beschlossen (siehe Eurostat, 1994, S. 25) und seit 1994 auf Basis eines „gentlemen’s agreement“ (Eurostat & Statistisches Amt, 2005, S. 8) in den Mitgliedsstaaten zuerst auf drei Wellen geplant, später auf acht Wellen erweitert (vgl. Peracchi, 2002) und durchgeführt. Wohl nicht alleine aus den Beweggründen der Armutsmessung erdacht, teilte die Kommission in ihrem Endbericht zum dritten Armutsprogramm die Einschätzung, damit „ein klareres Bild von Armut und sozialer Exklusion“ (European Commission, 1995, S. 68f.) erhalten zu können. 1997 lag der erste Bericht über Armut gemessen entlang des Einkommens und basierend auf dem ECHP von 1993 vor (siehe Eurostat, 1997). Bereits 1993 legte die Kommission einen Zwischenbericht zum dritten Armutsprogramm vor (siehe European Commission, 1993b), begleitet von einem Vorschlag zum vierten Armutsprogramm (geplant für 1994-1999), welcher jedoch noch 1995 diskutiert wurde (vgl. European Commission, 1995, S. 5) und trotz einiger Mühen letzten Endes durch Deutschland und dem Vereinigten Königreich per Klage vor dem Europäischen Gerichtshof scheiterte (vgl. Benz, 2012, S. 653). Damit endeten die Armutsprogramme, welche vor allem durch die Bewusstmachung der Problematik in der europäischen Union positiv hervorgehoben werden müssen. Von besonderer Bedeutung waren die gemeinsame Festlegung auf eine Armutsdefinition und bedeutende Fortschritte in der Quantifizierung von Armut (vgl. Atkinson, Cantillon, Marlier, & Nolan, 2005; Benz, 2012, S. 653ff.; Daly, 2010). •

Strategie von Lissabon

Nachdem es, wie Daly (2010) resümiert, mit Ende des dritten Armutsprogrammes um eine europäische Sozialpolitik still geworden war, erfolgte mit dem EU-Gipfeltreffen von Lissabon eine Wiederbelebung, welche das Thema der Armut und sozialen Ausgrenzung innerhalb des Ziels, „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen“ (Europäischer Rat, 2000) auf die politische Agenda zurückbrachte. Im März 2000 wurde die Lissabon-Strategie verabschiedet und vereinbart, die Armutsbekämpfung bis zum Jahr 2010 entschieden voranzubringen und die Maßnahmen der Mitgliedstaaten auf Basis der Methode der offenen Koordinierung (OMK) weiter zu entwickeln.36 Denn „die Zahl der Menschen, die in der Union unterhalb der Armutsgrenze und in sozialer Ausgrenzung leben, kann nicht hingenommen werden“, so forderte der Rat die Kommission auf, „ein besseres Verständnis der sozialen Ausgrenzung durch einen ständigen Dialog und den Austausch von Informationen und bewährten Verfahren auf der Grundlage gemeinsam vereinbarter Indikatoren zu fördern; die hochrangige Gruppe ‚Sozialschutz‘ wird bei der Festlegung dieser Indikatoren einbezogen“ (Europäischer Rat, 2000). Im Dezember 2000 beschloss der Europäische Rat von Nizza auf Basis eines Zielpapiers des Rates der Europäischen Union (2000) die 36

Die OMK lässt sich als ein Prozess der gegenseitigen Rückkopplung von Planung, Überwachung, Vergleich und Anpassung nationaler Politiken verstehen, welche auf in der EU vereinbarten Zielen ruhen. Durch diese Rückkoppelungen an denen die Europäische Kommission einerseits und alle Mitgliedstaaten andererseits beteiligt sind, soll der Austausch von Erfahrungen und Praktiken befördert werden, um so Verbesserungen in der sozialen Inklusion zu erzielen (vgl. Frazer & Marlier, 2010). Ein nicht im Haupttext angeführtes Element der OMK für Armut und soziale Ausgrenzung waren die Aufbereitungen des regelmäßig erscheinenden „Joint Reports“ der Kommission (vgl. Atkinson, Marlier, & Nolan, 2004, S. 49). Im Vergleich zu den Armutsprogrammen brachte die OMK daher nur bedingt neue Elemente, sondern trug eher zu einer Systematisierung und Integration bei (vgl. Room, 2010, S. 16.).

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OMK zur Bekämpfung der Armut und sozialen Ausgrenzung (vgl. European Commission, 2003a, S. 10f.). Das Zielpapier ist insofern von Bedeutung, da der Rat der europäischen Union ebenso der Altersvorsorge eine „wichtige Rolle“ in der Bekämpfung von Armut bzw. sozialer Ausgrenzung beimaß und als Teil des Sozialschutzsystems gewährleisten müsse, „dass jedem, die für ein menschenwürdiges Dasein notwendigen Mittel zur Verfügung stehen“ (Rat der Europäischen Union, 2000, S. 5 u. 8). Der beste Schutz gegen soziale Ausgrenzung wurde und wird jedoch dem Arbeitsplatz beigemessen. Im Lichte der OMK erfolgte des Weiteren die Aufforderung an die Nationalstaaten, nationale Aktionspläne (häufig als „NAP/incl“ bezeichnet) bis Juni 2001 zu formulieren (vgl. Strengmann-Kuhn & Hauser, 2012, S. 174). – ab dann für alle zwei Jahre geplant – und in diesem Zuge Indikatoren und Modalitäten für das weitere Vorgehen festzulegen, die eine Bewertung der Fortschritte der national aufgestellten Ziele ermöglichen sollten (vgl. Atkinson u. a., 2002; European Commission, 2002; Rat der Europäischen Union, 2000). Obschon Österreich einen NAP/incl vorlegte (vgl. BMASG, 2001), wurde die Gelegenheit nicht genutzt, Vorschläge für Indikatoren einzubringen. 37 Es bedurfte etwas Zeit, bis sich ein gemeinsames Indikatorset herausentwickelt hatte, so ist noch im ersten „Joint Report on social Inclusion“ zu lesen: „It is clear [...] that we are still a long way from a common approach to social indicators allowing policy outcomes to be monitored and facilitating the identification of good practice. Efforts are needed to improve this situation, both at the national level and at the level of the EU“ (European Commission, 2002, S. 80). Zu diesem Zwecke wurde 2001 eine Expertengruppe „Indicators' Sub-Group“ (ISG) durch das “Social Protection Committee” (SPC) eingerichtet, welche Vorschläge liefern sollte. Ein Mandat wurde am Treffen von Stockholm zur Festlegung von Indikatoren erteilt (vgl. Atkinson, Marlier, & Nolan, 2004; Europäischer Rat, 2001b).38 Im Oktober 2001 erschien der Indikatorenbericht der SPC und wurde am Gipfeltreffen in Laeken im Dezember verabschiedet (vgl. Europäischer Rat, 2001a). Trotz der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne gelang es Atkinson u. a. (2002) eine umfangreiche und eloquente Studie aufzubereiten, welche nicht nur die NAPs/incl und eigene Arbeiten der AutorInnen, sondern die zentralen Ergebnisse, datenbedingte Limitationen und Diskurse, auch gewonnen aus den Armutsprogrammen, aufgriff und nicht nur die in Laeken beschlossenen Indikatoren, sondern die weitere Ausgestaltung (etwa in den Empfehlungen der noch zu entwickelnden Indikatoren) wesentlich prägen sollte. Zu Beginn der Arbeit werden neun zentrale, methodologische Prinzipien offengelegt, denen die empfohlenen Indikatoren unterliegen – für eine umfassende Erörterung siehe Atkinson u. a. (2002, S. 19ff.). Im Nachfolgenden ist die Zusammenfassung der Social Protection Committee (2001, S. 4) zitiert: „an indicator should capture the essence of the problem and have a clear and accepted normative interpretation; an indicator should be robust and statistically validated; an indicator should be responsive to policy interventions but not subject to manipulation; 37

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Erstaunlich ist die Konklusion des ersten NAP/incl von Österreich, denn „Armut ist heute kein Massenphänomen und beschreibt nicht mehr so wie noch vor wenigen Jahrzehnten die Lebenssituation von Bevölkerungsgruppen in ihrer Gesamtheit“ (BMASG, 2001, S. 2). Gleichzeitig weist sie aber 900.000 armutsgefährdete bzw. 340.000 „arme Menschen“ – nach nationaler Definition – im Land aus. Es scheint, als hätte man die Gunst der Stunde nutzen wollen, denn es wurde in einem engen Zeitrahmen eine wissenschaftliche Studie (A. B. Atkinson, Cantillon, Marlier, & Nolan, 2002) für die ISG finanziert und eine Konferenz für den September 2001, wo die Ergebnisse mit über 200 ExpertInnen diskutiert wurden , anberaumt (Atkinson u. a., 2004, S. 51).

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an indicator should be measurable in a sufficiently comparable way across Member States, and comparable as far as practicable with the standards applied internationally; an indicator should be timely and susceptible to revision; the measurement of an indicator should not impose too large a burden on Member States, on enterprises, nor on the Union's citizens; the portfolio of indicators should be balanced across different dimensions; the indicators should be mutually consistent and the weight of single indicators in the portfolio should be proportionate; the portfolio of indicators should be as transparent and accessible as possible to the citizens of the European Union”. Auf Basis dessen wurden 18 Indikatoren (auch bekannt als Laeken Indikatoren) präsentiert, welche seitdem weiterentwickelt und überarbeitet wurden. In der ursprünglichen Version war zwischen Primär- und Sekundärindikatoren (sowie einer nationalen Ebene für freiwillige „third level“ Indikatoren) unterschieden worden, im Zuge einer Revision im Jahr 2006 kam eine weitere Ebene, jene der Kontextindikatoren hinzu (siehe European Commission, 2006b) und 2009 wurde die materielle Deprivation als weiterer Indikator aufgenommen (siehe European Commission, 2009). Zwar schreitet die Entwicklung beständig voran (exemplarisch Social Protection Committee & Indicators Sub-Group, 2007, 2011), die beiden genannten Änderungen sind aber als besonders markant zu verorten. Im Zuge der mid-term revision der Strategie von Lissabon (u.a. European Commission, 2003b, 2004) erfolgte ein „streamlining of the Social OMC“ (Vanhercke, 2012, S. 20; auch European Commission, 2006a), in welcher nicht nur die Kontextebene eingeführt, sondern auch die wachsende Zahl an Indikatoren in vier Portfolios aufgeteilt wurde: Einem „overarching“ Portfolio von 14 übergreifenden Indikatoren (+11 Kontextindikatoren), welche die neu formulierten Ziele des sozialen Zusammenhalts und der Interaktion mit den Wachstums- und Beschäftigungszielen abdecken sollten sowie den drei „strand“ Portfolios zur sozialen Eingliederung/Inklusion, Pension und Gesundheit bzw. Langzeitpflege (vgl. Social Protection Committee & Indicators Sub-Group, 2007). Im Zuge des Streamlining wurde die NAPs/incl diesem Schema angepasst (siehe Social Protection Committee, 2006), welche damit die Problemdefinition bzw. das Problembewusstsein wesentlich prägte. Im österreichischen NAP/incl für den Zeitraum von 2008-2010 wurde bspw. die Angemessenheit der Pensionen diskutiert, mit dem Ergebnis, dass zwar ein verhältnismäßig höherer Anteil älterer Menschen unter der Armutsgefährdungsschwelle lebe, aufgrund der Höhe der Ausgleichszulage die Armutsgefährdungslücke im Vergleich zu armutsgefährdeten Personen in der Erwerbsphase geringer sei (vgl. BMASK, 2008, S. 43). Der Vergleich bzw. die Schlussfolgerungen sind jedoch insofern problematisch, da man die Bruttoausgleichszulage anführte. An sich nahm das Einkommen bzw. die Armutsgefährdung eine dominante Stellung in den Indikatoren ein und führte sowohl das overarching, als auch das ‚social und pension portfolio‘ an (vgl. European Commission, 2006b) – in den beiden letzteren ist dies auch aktuell noch der Fall (vgl. European Commission, 2015). Bereits zu Beginn der Lissabon Strategie hatte sich ein erneuter begrifflicher Wandel abgezeichnet, obschon von „Armut“ – bzw. gepaart mit dem Begriff der „sozialen Exklusion“ – häufig die Rede war, wurde besonders im Zusammenhang mit den Indikatoren begrifflich das Risiko der Armut, also Armutsgefährdung forciert (u.a. European Commission,

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2002).39 Atkinson u. a. (2004, S. 19) argumentieren dies mit den Limitationen einer einkommensbasierten Messung; die European Commission (1992, S. 3) verwies darauf, dass Armut „a complex, heterogeneous phenomenon“ sei, welches „cannot be defined solely in terms of low income levels” (ähnlich auch European Commission, 1995, S. 67). Die vermeintliche Präzisierung trug jedoch dazu bei, Armut von einem Zustand in ein Risiko umzudeuten. Dies führt „zu einer Erosion des Begriffs der Armut und stuft einen Zustand, von dem das reale Leben realer Menschen betroffen ist, zu einer bloßen Messgröße herab“ (Daly, 2010, S. 30). Allgemein schien man sich aber mit der Begriffsbestimmung nur mehr in geringem Maße zu beschäftigen, so findet sich erst im zweiten Joint Report eine Definition: „Armut: Von Armut spricht man, wenn Personen über ein so geringes Einkommen und so geringe Mittel verfügen, dass ihnen ein Lebensstandard verwehrt wird, der in der Gesellschaft, in der sie leben, als annehmbar gilt. Ihrer Armut wegen können sie zahlreichen Benachteiligungen ausgesetzt sein – Arbeitslosigkeit, Niedrigeinkommen, schlechten Wohnverhältnissen, unzureichender gesundheitlicher Betreuung und Hindernissen im Aus- und Weiterbildungs-, Kultur-, Sport- und Freizeitbereich. Sie sehen sich häufig an den Rand gedrängt und von der Teilnahme an Aktivitäten (wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art) ausgeschlossen, die für andere Menschen die Norm sind. Auch kann ihr Zugang zu Grundrechten eingeschränkt sein. Soziale Ausgrenzung: Soziale Ausgrenzung ist ein Prozess, durch den bestimmte Personen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und durch ihre Armut bzw. wegen unzureichender Grundfertigkeiten oder fehlender Angebote für lebenslanges Lernen oder aber infolge von Diskriminierung an der vollwertigen Teilhabe gehindert werden. Das erzeugt eine Distanz zu den Beschäftigungs-, Einkommens- und Bildungsmöglichkeiten und auch zu den sozialen und gemeinschaftlichen Netzen und Maßnahmen. Sie haben kaum Zugang zu den Macht- und Entscheidungsgremien und fühlen sich daher oft machtlos und außerstande, auf die Entscheidungen, die sich auf ihr tägliches Leben auswirken, Einfluss zu nehmen. Soziale Eingliederung: Bei der sozialen Eingliederung handelt es sich um einen Prozess, durch den gewährleistet wird, dass Personen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, die erforderlichen Chancen und Mittel erhalten, um am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Geschehen voll teilzunehmen und in den Genuss des Lebensstandards und Wohlstands zu kommen, der in der Gesellschaft, in der sie leben, als normal gilt. Sie stellt sicher, dass die Teilhabe dieser Menschen an Entscheidungsprozessen, die Auswirkungen auf ihr Leben und ihren Zugang zu den Grundrechten haben, zunimmt“ (European Commission, 2003a, S. 10) Hiermit wurde eine Triade der Begriffe im Sprachgebrauch etabliert, welche zu einer teils wenig eindeutigen Verwendung beitrug. Bspw. sind Arbeiten der Statistik Austria (2015, 2016a) zu nennen, welche den Titel „Eingliederungsindikatoren – Kennzahlen für soziale Inklusion in Österreich“ tragen, jedoch nicht solche beinhalten, sondern Indikatoren der Armut und sozialen Ausgrenzung. Betrachtet man die Definitionen etwas genauer, so scheint Armut mehr auf einen Zustand zu referieren, welcher zur sozialen Ausgrenzung führt, wobei diese auch durch andere Ursachen, wie etwa Diskriminierung, hervorgerufen werden kann. Armut wird auf den kausalen

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Atkinson u. a. (2002, S. 97) gaben hierzu die Empfehlung: „There are therefore justifications that can be given for both 50 and 60% of the median, and we recommend that both be included at Level 1 and be reported on as a situation of risk of poverty rather than one of poverty as such“.

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Nexus geringer Einkommen oder Mittel – ohne die Bedeutung näher zu explizieren – und einem dadurch verunmöglichten Lebensstandard relativ zur jeweiligen Gesellschaft beschränkt, womit beiden Seiten aber ein multidimensionaler Charakter zugewiesen wird. D.h., dass Ressourcen (Plural) zu einer Verunmöglichung eines relativen, wie auch immer gearteten Lebensstandards führen. In diesem Sinne war die Entwicklung eines materiellen Deprivationsindikators bereits vorgezeichnet (vgl. Eurostat, 2009) und fand 2009 Eingang in das Portfolio der sozialen Inklusion, nicht aber der overarching indicators (vgl. European Commission, 2009). Der Indikator basiert auf der Formel 3 von 9, d.h. eine Person gilt als materiell depriviert, wenn es aus finanziellen Gründen nicht möglich ist, sich drei von insgesamt neun als notwendig angesehene Aspekte leisten zu können (vgl. Social Protection Committee & Indicators Sub-Group, 2010). Neben der Indikatorentwicklung wurde bereits relativ am Anfang der Lissabon Strategie unter anderem aus methodischen Gründen (bspw. Unterschiede der Einkommensmessung im internationalen Vergleich, Probleme in der zeitlichen Verfügbarmachung der Daten) vom ECHP auf die Befragung der “Community Statistics on Income and Living” (SILC) gewechselt. Im Vergleich zum ECHP ist eine Besonderheit von SILC der rechtlich bürokratische Charakter, sie wird auf Basis von EU-Verordnungen und einer nationalen Verordnung (im Kontext von Österreich) durchgeführt: Basis ist die EU VO (EG) Nr. 1177/2003 und reicht von der Festlegung der Stichprobengröße bis hin zur zeitlichen Veröffentlichung der Ergebnisse bzw. zum Zugang der Daten für wissenschaftliche Zwecke.40 Somit wurden die Länder zur Erhebung verpflichtet und trieb die Datengewinnung wesentlich voran. 2010 erschien der letzte Joint Report und leitete pointiert auf die nächste Phase über: “The task of modernising social protection is not over: quite the contrary” (European Commission, 2010b, S. 46). •

Europa 2020 Strategie

2009 und in Anbetracht der endenden Lissabon Strategie resümierte das SPC: “However, despite the clear redistributive effect of social protection, inequalities have often increased and poverty and social exclusion remain a major issue in most EU countries, although with substantial differences across Europe“ (Social Protection Committee, 2010b, S. 3; auch European Commission, 2010c). Im Dezember desselben Jahres kam der Europäische Rat zur Schlussfolgerung, dass es „an der Zeit [ist], die Auswirkungen der Lissabon-Strategie zu bewerten und vor allem den Blick nach vorne zu richten. [...] und erwartet, dass möglichst frühzeitig im Jahr 2010 ein ambitionierter Vorschlag erörtert werden kann“ (Europäischer Rat, 2009, S. 7f.). Im März legte die European Commission (2010a) ihren Strategieplan Europa 2020 mit fünf Hauptzielen vor, musste aber bis zum endgültigen Beschluss eine bedeutende Änderung in der Zielformulierung im Kampf gegen Armut hinnehmen – auch wurde diese, welche in der Lissabon Strategie noch separat bestand (vgl. Dieckhoff & Gallie, 2007), den Beschäftigungszielen untergeordnet (vgl. Jessoula, 2015). Während in der Erstfassung des 5. Hauptziels eine Reduktion um 20 Millionen armutsgefährdeter Menschen (als alleiniger Indikator) angedacht war, wurde

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Weitere Verordnungen sind etwa die Nr. 1980/2003, welche Definitionen von EU-SILC (bspw. wer als Haushaltsmitglied zu gelten hat) regelt. Die Verordnung Nr. 1981/2003 bestimmt Aspekte der Feldarbeit und die anzuwendenden Imputationsverfahren; 1982/2003 die Stichprobenauswahl und die Weiterbefragung, Nr. 1983/2003 die primären Zielvariablen und 28/2004 die Inhalte der Qualitätsberichte, die an Eurostat zu liefern sind (intermediate und final quality reports). Selbst die jährlichen Modulfragen werden in eigenen Verordnungen normiert. Auf nationaler Ebene wurde vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz die Statistik der „Einkommens- und Lebensbedingungen-Statistikverordnung“ – ELStV; (BGBl. II Nr 277/2010) erlassen, welche unter anderem die Finanzierung (aktuell circa 1 Million Euro pro Jahr) und die Erhebung bzw. die Verknüpfung mit Verwaltungsdatensätzen reguliert.

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der Adressatenkreis im Beschluss auf jene Personen erweitert, die nach drei Indikatoren (Armutsrisiko, materielle Deprivation und Erwerbslosenhaushalte) von Armut und Ausgrenzung bedroht sind, wobei „es den Mitgliedstaaten freigestellt ist, ihre nationalen Ziele auf der Grundlage der am besten geeigneten Indikatoren und unter Berücksichtigung ihrer nationalen Gegebenheiten und Prioritäten festzulegen“ (Rat der Europäischen Union, 2010). Copeland & Daly (2012, S. 283) begründen diese Abänderung als Resultat der damaligen politischen Lage – unter anderem sprach sich Deutschland gegen eine Quantifizierung aus (vgl. Jessoula, 2015, S. 498) –, „hence, they can either ‘cream’ and pick the easiest target or they can choose the most meaningful one”. Letzten Endes war es eine politische Entscheidung, die aber einer Empfehlung des SPC folgte (vgl. Social Protection Committee, 2010a). Hierbei wurde zugleich der Indikator der materiellen Deprivation in einem folgewirksamen Detail abgeändert: Anstatt 3 wurde die Formel auf 4 von 9 umgestellt, was die Zahl der als materiell depriviert adressierten Personen – nun als erhebliche materielle Deprivation bezeichnet – vorab halbierte. AROPE als Gesamtes in Form von Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung sowie die drei Komponenten stehen nun dem overarching Portfolio voran (vgl. European Commission, 2015). Mit Europa 2020 wurde zudem eine neue Steuerungsarchitektur eingeführt (allg. zum Aufbau Frazer & Marlier, 2010), genannt „European Semester“, in welchem auch die Armut und soziale Ausgrenzung behandelt werden, allerdings, zumindest in den Anfangsjahren, von geringerer Relevanz (vgl. Sabato & Vanhercke, 2014). Beginnend mit dem Annual Growth Survey (AGS), welcher die Prioritäten für das kommende Jahr im Bereich Wachstum und Soziales festlegt, folgen im Februar die Country Reports der Kommission mit länderspezifischen Problemidentifikationen, welche durch die nationalen Reformprogramme – sie thematisieren aktuell alle fünf Hauptziele der Europa 2020 Strategie – behandelt werden sollen. Die Reformprogramme werden im Anschluss evaluiert und auf Basis derer „Country-specific Recommendations“ (CSR) von der Kommission angefertigt bzw. in Folge in einem formalen Akt vom Rat der Europäischen Union empfohlen. In diesen Prozess haben sich die AROPE Indikatoren bzw. weitere Indikatoren der Portfolios eingeschrieben und geben Stoff für die Diskurse rund um die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung; zumindest auf politischer Ebene, da die Dokumente des European Semesters nur selten an die Öffentlichkeit dringen.41 Obwohl zu Beginn der Europa 2020 Strategie der Fortbestand der sozialen OMK ungewiss war (vgl. Barcevičius, Weishaupt, & Zeitlin, 2014), forcierte das SPC eine Wiederbelebung (vgl. Social Protection Committee, 2011) und lud die Mitgliedstaaten dazu ein, „National Social Reports“ anzufertigen. 2012 erschienen die ersten, während in Österreich dieser noch verhältnismäßig umfangreich ausfiel, verkürzten sich die folgenden Berichte immer weiter und verweisen gehäuft auf die NRPs (siehe BMASK, 41

Erwähnt soll auch werden, dass im Zuge von Europa 2020 die Gründung einer Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Armut (EPAP) als eine der sieben „flagship initiatives“ initiiert wurde (vgl. European Commission, 2011; Pena-Casas, 2012, S. 174ff.; Strengmann-Kuhn & Hauser, 2012, S. 176). Ziel der Leitinitiativen zur Armutsbekämpfung ist es, „to ensure social and territorial cohesion such that the benefits of growth and jobs are widely shared and people experiencing poverty and social exclusion are enabled to live in dignity and take an active part in society“ (European Commission, 2010a, S. 6). Zusammenfassend waren die Pläne, welche für EPAP angedacht waren ambitioniert – als Dachinitiative hätte sie für eine Vielzahl von kleineren Initiativen dienen sowie aus der OMK hervorgehen sollen (siehe European Commission, 2010d, 2010a, S. 19). Tatsächlich war die EPAP weder “endowed with adequate resources and staff […] nor, most importantly, was fully integrated in the negotiations and decision-making at crucial stages of the European Semester” (Jessoula, 2015). Letzten Endes trat Ernüchterung ein, Sabato & Vanhercke (2014, S. 24) sprechen gar von einem düsteren Bild der Wirksamkeit; auch die European Commission (2014b, S. 37) konstatiert: “The flagship initiative also did not fully succeed in creating a coherent and integrated framework for social policies and exploiting the synergies between the different actions; it is rather a collection of initiatives and the value added of the flagship initiative is not self-evident”. Mittlerweile dürfte EPAP aufgegeben worden sein, so laufen ehemalige Internetlinks ins Leere und es lassen sich Dokumente nur bis 2014 finden.

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2012, 2014a, 2015). Als dritten essentiellen Aspekt in der Adressierung von Armut wurde 2012 vom SPC der „Social Protection Performance Monitor“ (SPPM) eingeführt, welcher als Grundlage einer Vielzahl von Aktivitäten des SPC dient: „input for the European Semester and examination of the Country Specific Recommendations (CSRs), multilateral and thematic surveillance, peer reviews and the SPC Annual report. It will be the underlying instrument for the monitoring process of the social dimension of Europe 2020” (Social Protection Committee, 2012). Hierfür wurde eine Auswahl aus dem ISG Portfolio getroffen und veranschaulicht die Entwicklungen der Einzelstaaten hinsichtlich Armut und sozialer Ausgrenzung. Der jährliche Report fasst die Ergebnisse sowohl auf der Ebene der EU als auch den einzelnen Staaten zusammen und macht auf problematische sowie positive Trends aufmerksam. Im Vergleich zu den Reformprogrammen, welche eher auf die Hauptziele im Allgemeinen rekurrieren oder den NSR mit nur einem groben Überblick, werden im Report des SPC nuancierte Analysen vorgenommen. Österreich weist hierin eine positive Entwicklung seit 2008 für ältere Menschen auf, sowohl was die Armutsgefährdung oder soziale Ausgrenzung betrifft, als auch etwa eine Reduktion der Überlastungsquote für Wohnkosten (vgl. Social Protection Committee, 2017, S. 380).42 Trotz dieser und ein paar weiterer Hinweise ist die Informationslage sicherlich betreffend der Lebensbedingungen älterer (und armer) Personen nicht erschöpft. Zum Abschluss soll die aktuelle (nach der mit-term revision) 8. Leitlinie der Europa 2020 Strategie angeführt werden, welche sich auf die soziale Inklusion fokussiert, zugleich aber auch die Bereiche Pensionen und Gesundheitsversorgung umfasst (Rat der Europäischen Union, 2015): 43

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Personen, welche in einem Haushalt leben, indem mehr als 40% des verfügbaren Einkommens für Wohnkosten aufgewandt werden muss. Diese unterscheidet sich von jener 2010 beschlossenen, welche daher in Auszügen hier angeführt wird und die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung weit expliziter durch die Inklusion am Arbeitsmarkt sieht: „Die Schaffung von mehr Beschäftigungsmöglichkeiten ist ein wesentlicher Aspekt der integrierten Strategien der Mitgliedstaaten zur Verhinderung und Verringerung der Armut und zur Förderung einer uneingeschränkten Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Hierzu sollten der Europäische Sozialfonds und andere EU-Fonds angemessen genutzt werden. Die Anstrengungen sollten sich darauf konzentrieren, dass Chancengleichheit unter anderem durch den Zugang aller Bürger zu qualitativ hochwertigen, erschwinglichen und nachhaltigen Dienstleistungen, insbesondere im Sozialbereich, sichergestellt ist. [...]. Die Mitgliedstaaten sollten wirksame Antidiskriminierungsmaßnahmen einführen. Indem man den Menschen eine aktivere Rolle in der Gesellschaft ermöglicht, die Teilnahme derjenigen, die auf dem Arbeitsmarkt am schwersten zu vermitteln sind, am Erwerbsleben fördert und gleichzeitig verhindert, dass Menschen trotz Arbeit von Armut betroffen sind, wird ein Beitrag zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung geleistet. Dies würde die Verbesserung der Systeme der sozialen Sicherung, eine Politik des lebenslangen Lernens und umfassende aktive Eingliederungsstrategien erfordern, um den Menschen in den verschiedenen Lebensphasen immer wieder neue Möglichkeiten zu eröffnen und sie vor der Gefahr der Ausgrenzung zu schützen, wobei den Frauen dabei besonderes Augenmerk gelten sollte. Die Systeme der sozialen Sicherung einschließlich der Altersvorsorge und des Zugangs zum Gesundheitswesen sollten so ausgebaut werden, dass eine angemessene Einkommensstützung und ein angemessener Zugang zu Dienstleistungen — und somit der soziale Zusammenhalt — gewährleistet sind, die finanzielle Tragfähigkeit dieser Systeme erhalten bleibt und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und am Erwerbsleben gefördert wird. [...]Die Sozialleistungssysteme sollten zuvorderst sicherstellen, dass in Situationen des beruflichen Übergangs Einkommenssicherheit gewährleistet ist und Armut verringert wird, insbesondere für Gruppen, die am stärksten von der gesellschaftlichen Ausgrenzung bedroht sind [...], wobei angestrebt wird, mindestens 20 Mio. Menschen vor dem Risiko der Armut und der Ausgrenzung zu bewahren“ (Rat der Europäischen Union, 2010). Auffällig ist vor allem, dass das erklärte Ziel der Reduktion von armuts- und ausgrenzungsgefährdeten Menschen um 20 Millionen aus der aktuell bestehenden 8. Leitlinie verschwand.

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„Leitlinie 8: Förderung der sozialen Inklusion, Bekämpfung der Armut und Verbesserung der Chancengleichheit Die Mitgliedstaaten sollten die Sozialschutzsysteme modernisieren, um einen wirksamen, effizienten und angemessenen Schutz des Einzelnen in allen Lebensphasen zu gewährleisten, und dabei die soziale Inklusion fördern, Chancengleichheit auch für Frauen und Männer verbessern und Ungleichheiten beseitigen. Die Ergänzung allgemeiner Ansätze durch selektive Ansätze wird die Wirksamkeit verbessern, während eine Vereinfachung einen besseren Zugang und höhere Qualität bewirken dürfte. Präventive und integrierte Strategien sollten stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Die Sozialschutzsysteme sollten soziale Inklusion fördern, indem sie die Menschen zu einer aktiven Teilnahme am Arbeitsmarkt und an der Gesellschaft ermutigen. Ausschlaggebend sind ferner bezahlbare, zugängliche und hochwertige Dienstleistungen, wie Kinderbetreuung, außerschulische Betreuung, Bildung, Ausbildung, Wohnraum, Gesundheitsdienste und Langzeitpflege. Besonderes Augenmerk sollte auch auf grundlegende Dienstleistungen und Maßnahmen zur Prävention von Schulabbruch, zur Verringerung von Armut trotz Erwerbstätigkeit und zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung gerichtet werden. Zu diesem Zweck sollte im Einklang mit den Grundsätzen einer aktiven Inklusion eine Vielzahl von Instrumenten komplementär eingesetzt werden, einschließlich der arbeitsmarktpolitischen Aktivierung, zugänglichen hochwertigen Dienstleistungen und der auf individuelle Bedürfnisse abgestimmten Einkommensunterstützung. Die Sozialschutzsysteme sollten so gestaltet werden, dass alle anspruchsberechtigten Personen erfasst, der Schutz von und Investitionen in Humankapital gefördert und während des gesamten Lebenszyklus Prävention und Verringerung von Armut und sozialer Ausgrenzung sowie der Schutz davor unterstützt werden können. Vor dem Hintergrund der höheren Lebenserwartung und des demografischen Wandels sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Rentensysteme für Frauen und Männer nachhaltig und angemessen sind. Die Mitgliedstaaten sollten die Qualität, Zugänglichkeit, Effizienz und Wirksamkeit der Gesundheits- und Langzeitpflegesysteme verbessern und gleichzeitig ihre Nachhaltigkeit gewährleisten“.44 Konkludierend lässt sich die Geschichte der EU in Bezug auf die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung als bewegt und durch die Partikularinteressen der Einzelstaaten geprägt bezeichnen; die aktuellen Entwicklungen deuten darauf hin, dass innerhalb der Europa 2020 Strategie die Thematik an Zugkraft gewinnt, wenn auch das 2010 vereinbarte Ziel der Armutsreduktion um 20 Millionen Menschen wohl nicht erreicht werden wird (vgl. Social Protection 44

Im November 2017 brachte die Kommission einen neuen Vorschlag zu den Leitlinien ein, welche jene der Bekämpfung von Armut ausweitet, sofern diese durch den Rat der europäischen Union angenommen wird, was bis zur Fertigstellung dieses Textteils noch nicht geschehen ist. Auffällig ist, dass die „Förderung von Chancengleichheit“ an erste Stelle rückt, auch im Text wird dies deutlich stärker betont. Ein kurzer Auszug: „Die Mitgliedstaaten sollten präventive und integrierte Strategien entwickeln und umsetzen, bei denen die drei Pfeiler der aktiven Inklusion miteinander kombiniert werden: angemessene Einkommensunterstützung, inklusive Arbeitsmärkte und Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen. Die Sozialschutzsysteme sollten gewährleisten, dass jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, ein Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen hat, und sie sollten die soziale Inklusion fördern, indem sie die Menschen zu einer aktiven Teilnahme am Arbeitsmarkt und an der Gesellschaft ermutigen“(European Commission, 2017). Deutlich häufiger wird zudem die Angemessenheit der Sicherungssysteme betont, wenn auch gepaart mit den Begriffen „effizient“ oder „nachhaltig“. Ebenso neu ist die explizite Erwähnung einer „angemessenen Mindesteinkommensleistung“, wobei auch hier – wie schon in vielen anderen Dokumenten zuvor – eine genauere Definition fehlt, was denn nun unter „angemessen“ zu verstehen ist.

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Committee, 2018, S. 5). Inwiefern die Bemühungen zur Neu- bzw. Reformulierung von Strategien auf nationalstaatlicher Ebene beigetragen haben oder noch werden, lässt sich nur schwer abschätzen, hingegen führte die Armutsdefinition bzw. die erarbeiteten Indikatorensets gepaart mit der offenen Methode der Koordinierung und Etablierung eines gemeinsamen Erhebungsinstrumentes zumindest in Österreich zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Thematik und weitgehenden Gleichschaltung mit der Adressierungsmechanik von Armut. Dem Nachvollzug dieser und der Erwähnung von Altersarmut in der österreichischen Berichterstattung widmet sich der nachfolgende Abschnitt. 2.1.2.1.2

Die Armutsberichterstattung im österreichischen Sozialbericht

Mittlerweile kann Armut in Österreich – zumindest was die Anzahl an Publikationen betrifft – als ein Phänomen in Dauerbeobachtung bezeichnet werden. Die Arbeiten entstammen zum überwiegenden Teil aus der amtlichen Auftragsvergabe, wobei auf nationaler Ebene der Statistik Austria (Bundesanstalt Statistik Österreich) maßgeblich die durchführende Kompetenz zufällt und die Thematisierung überwiegend in Berichtsform erfolgt. Größte Benennungsmacht im definitorischen Diskurs um Armut kann dem Sozialbericht bzw. den damit in Verbindung stehenden Sonderberichten wie Tabellenbänden des EU-SILC zugerechnet werden, welche das Verständnis von und über Armut wesentlich prägen sowie über Medien in den gesellschaftspolitischen Diskurs diffundieren.45 Denn nach Barlösius (2001b) sind insbesondere solche Berichte dazu geeignet (auch Barlösius & Köhler, 1999), konsensfähige Repräsentationen der sozialen Welt zu schaffen, wirken auf die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Legitimität bzw. Illegitimität sozialer Ungleichheit und politisieren das Ungleichheitsgeschehen.46 Sie vereinen dabei weitere gewichtige Repräsentationsformen: • • •

„Geometrie und Algebra des Sozialen“ – es entsteht der Eindruck, als sei das soziale Universum in mathematischen Ausdrücken geschrieben und unterliege damit der formalen Logik; „Kategorien und Klassifikationen“ – prägen die Art und das Ausmaß staatlicher Unterstützungsprogramme, da sie Zuschreibungen sozialer Attribute und Funktionen, aber auch Rechtfertigungen für spezielle Zuwendungen implizieren; „Statistiken“ – dienen als eine Art universeller Sprache zur Vereinheitlichung einer sozialen Welt.

Das Berichtswesen macht für sich geltend, gesellschaftliche Sachverhalte wissenschaftlich und unabhängig darzustellen, d.h. eine allgemeingültige und objektive Perspektive zu repräsentieren (auch Barlösius, 2001b, S. 194). Armut, so lässt sich überspitzt formulieren, wird über die

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Auch wenn diesem das europäische Verständnis inhärent ist, so hätte sich dieses auch nicht bzw. verspätet durchsetzen können, wie es in Deutschland der Fall war, sind im ersten deutschen Armuts- und Reichtumsbericht gar acht Armutsgrenzen mit entsprechend unterschiedlichen Armutsquoten präsentiert worden (vgl. Kroker, 2003, S. 34). Die Autorinnen verdeutlichen das an einem Beispiel zur Kinderarmut: „Innerhalb der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ebenso wie in informierten politischen Kreisen waren die Resultate im Wesentlichen bekannt. Doch nun erst, in einem ‚offiziellen Bericht‘ der Bundesregierung publiziert, entfalteten sie eine enorme politische Brisanz und provozierten Stellungnahmen verschiedenster gesellschaftlicher Akteure. Somit erreichten sie eine politische und öffentliche Aufmerksamkeit, die wissenschaftlichen Untersuchungen mit gleichen Ergebnissen versagt worden war. Überspitzt gesagt: Allein der Publikationsort – ein staatlich-administrativer Bericht, der beansprucht, eine ‚offizielle Sicht‘ und einen allgemeingültigen Standpunkt wiederzugeben – hat bewirkt, daß an diesen Zahlen und Aussagen nicht einfach vorbeigegangen werden konnte“ (Barlösius & Köhler, 1999, S. 551).

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(amtliche) Berichterstattung konstruiert. Denn diese objektivierten Repräsentationen der sozialen Welt sind ausschlaggebend dafür, „ob und wie Armut gesellschaftlich registriert wird“ (Barlösius, 2001a, S. 78). Selbst Interessensvertretungen und Organisationen mit dem Thema Armut betraut, rekurrieren zumeist auf amtliche Zahlen und damit zumindest implizit auf den sozialpolitischen Standard in Österreich. Die staatliche Definitionshoheit wird auch dadurch erkennbar, dass, wie Barlösius (2001a) konstatiert, im Wohlfahrtsstaat nahezu vollständig der Anspruch einer Beseitigung bzw. Behandlung der illegitimen sozialen Differenzierung auf staatliche Einrichtungen übergegangen ist. All dies mag nicht daran rütteln, dass es eine Vielzahl an Armutsdefinitionen gibt, die um Anerkennung ringen, nicht aber jene Gestaltungsmacht bzw. Machtressourcen an sich besitzen. Das Verhältnis von Gesellschaft und Armut wird vorrangig, wenn auch abänderlich, durch die staatliche Zuwendung im Wohlfahrtsstaat bestimmt. Die Sozialberichterstattung erfüllt dabei das eigentliche Ziel, ungeachtet dieses konstitutiven Charakters, „über gesellschaftliche Strukturen und Prozesse sowie über die Voraussetzungen und Konsequenzen gesellschaftspolitischer Maßnahmen regelmäßig, rechtzeitig, systematisch und autonom zu informieren“ (Zapf, 1978, S. 11). Die zwei wesentlichen Funktionen der Sozialberichterstattung, so Zapf (1978, S. 12) weiter, seien die gesellschaftliche Dauerbeobachtung und die Wohlfahrtsmessung. Vogel (1997, S. 110) betont die Wichtigkeit einer Informationsaufbereitung für die allgemeine Öffentlichkeit,47 Adaptabilität im Kontext gesellschaftlichen Wandels und das Ziel einer Konfrontation ideologischer Positionen (der Politik) „with the reality of statistics“. Benchmarking, Problemdefinition, Agenda-Setting und Frühwarnung, die Setzung von Zielen und Prioritäten, die empirische Begründung für die Wahl politischer Maßnahmen und die Evaluation von Programmen und institutionellen Lösungen, werden des Weiteren von Noll (2003, S. 68ff.) angeführt. Letzten Endes soll die Sozialberichterstattung entscheidungsrelevante Informationen für die Gesellschaftspolitik bereitstellen (vgl. auch Noll, 2013, S. 818; Zapf, 1999, S. 27). In diesem Sinne ist es naheliegend, dass Sozialberichte Armut und die damit verknüpften Lebensbedingungen bzw. das Wohlbefinden der Betroffenen behandeln. Denn „aus der Sicht eines Sozialstaates stellt das Vorhandensein von Armen unter der Wohnbevölkerung die Verfehlung eines wichtigen sozialpolitischen Ziels dar“ (Hauser, 2012a, S. 122). Armut wird dadurch aber eben nicht nur thematisiert, als würde man einen existierenden Gegenstand lediglich beschreiben, sondern konstruiert bzw. objektiviert, d.h. einer Bearbeitung zugeführt, auf die gesellschaftliche Reaktionen folgen. Diese sind, wie bereits dargelegt, nicht nur auf zugestandene Hilfen zu reduzieren, sondern viel mehr als Horizont an Anschlussmöglichkeiten zu sehen, welcher sich auf Basis der Adressierung öffnet. Indem ein gewisser Zustand als Armut ausgemacht ist, kann diese in Angriff genommen werden. Amtliche Berichte sind damit Produzenten und zugleich Reproduzenten, – denn „die Sozialberichterstattung setzt [...] die Ziele nicht selbst, sondern orientiert sich an den jeweils in der Gesellschaft vorherrschenden Zielen und Werten und stellt lediglich die Informationen bereit, die eine Beurteilung des Zielerreichungsgrades ermöglichen“ (Noll, 1999, S. 19)– eines politischen „common sense“ (Bourdieu, 2016, S. 19) von Armut. Möchte man daher den politisch-zielorientierten Standard und damit einen zentralen Bestimmungsmechanismus von Armut fassen, so ist ein Blick in die amtlichen Sozialberichte sinnvoll.48

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In der Zugänglichkeit zu solchen Berichten – sind diese jederzeit ohne Kosten auf der Webseite des Sozialministeriums oder der Statistik abrufbereit – dürfte ein weiterer wichtiger Faktor der Benennungsmacht begründet liegen. Rein wissenschaftliche Arbeiten werden meist aufgrund des kleineren Adressatenkreises und elitären Publikationssystems nicht von einem breiten Publikum erreicht. Selbstredend lassen sich auch in Österreich kommunale und nicht-amtliche Sozialberichte ausmachen, welche jedoch geringe Bedeutungsmacht entfalten und an dieser Stelle daher keine Berücksichtigung finden, zumal

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

Anzumerken ist noch, dass es sich beim amtlichen Sozialbericht in Österreich um einen Hybrid aus Ressortaktivitäten und Analysen, welche unter anderem die Lebensbedingungen der österreichischen Bevölkerung umfassen, handelt. In seiner Entwicklungsgeschichte gesehen, ist die Beschreibung der Ressortaktivitäten dominierend und ließe sich im Sinne von Noll (2013) als „sozialpolitischer Bericht“ bezeichnen, wenn auch die Deskriptionen der Lebensbedingungen in den letzten Auflagen zunehmend an Bedeutung gewonnen haben und sich in einigen Beiträgen der jeweiligen Reporte wiederfinden. In den nachfolgenden Seiten werden nur (bzw. hauptsächlich) jene Beiträge betrachtet, welche sich explizit dem Thema Armut widmen. Zusätzlich werden Ergebnisse in die hier vorliegende Analyse nicht (bzw. nur sporadisch) eingeflochten, welche PensionistInnen im Allgemeinen betreffen. Till & Steiner (1999, S. 96) verweisen im Sozialbericht 1998 auf einen, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung hohen Anteil älterer Menschen in Substandardwohnungen. Dies mag bei altersarmen Menschen gar in höherem Maße zutreffen, wurde jedoch im entsprechenden Bericht nicht näher ausgeführt. Die Aufbereitung fokussiert die Fragen, wie Armut bestimmt wird und welche Informationen konkret zu Altersarmut eine Würdigung in den Sozialberichten erfahren. Da jedoch Hinweise diesbezüglich variieren bzw. im jüngeren Verlauf eine abnehmende Tendenz erkennbar ist, wurden, um gleichzeitig die Entwicklung von Altersarmut verfolgen zu können, aus anderen Quellen (vorzüglich den Tabellenbänden des SILC) spezifische Daten im Bedarfsfall ergänzt und sind mittels kursiver Schreibweise markiert. Die Höhe der Ausgleichszulage als wichtigstes Instrument der Absicherung, welche daher der Armutsgefährdungsschwelle gegenübergestellt werden soll, musste für die jeweiligen Jahre nahezu vollständig aus anderen Quellen (vorzüglich dem allgemeinen Sozialversicherungsgesetz bzw. jeweiligen Bundesgesetzblättern – im Weiteren als ASVG und BGBI bezeichnet) bezogen werden, ist aber nicht kursiv gestellt. Sowohl Armutsgefährdungsschwelle wie auch Ausgleichszulage werden in ihrer Höhe für den Einpersonenhaushalt angegeben, für bspw. einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und/oder Kindern ist dieser Wert mit einem jeweiligen Äquivalenzfaktor zu multiplizieren. Auf Basis der aktuell verwendeten modifizierten OECD Skala, liegt das Gewicht für jede weitere erwachsene Person im Haushalt bei 0,5 und für Kinder bei 0,3. Für die Ermittlung der Armutsgefährdungsschwelle eines Zweipersonenhaushalt bestehend aus zwei Erwachsenen sind die in der Arbeit angegeben Werte mit einem Faktor von 1,5 zu multiplizieren.49 •

Bericht 199650

Gleich zu Beginn der ersten Berichtlegung machen Steiner & Giorgi (1997, S. 178) auf eine Publikation der Eurostat (1997)51 aufmerksam, welche für 1993 knapp über 57 Millionen arme Menschen in Europa ausweist, mit der Kritik über den eindimensionalen Armutsbegriff, „der

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auch diese den amtlichen Armutsbegriff vorrangig übernehmen bzw. hinsichtlich der zahlenmäßigen Betroffenheit auf die Daten und Berichte vorzüglich der Statistik Austria verweisen. Selbst bei „eigenen Berechnungen“ auf Basis der SILC Daten liegt die Verwendung der amtlichen Bestimmung nahe, so werden in den standardisierten Datensätzen (SDS) gleich die entsprechend generierten Variablen mitgeliefert. Die Dichotomie von arm/nicht-arm manifestiert sich damit bereits im Instrument seiner Bestimmung und leitet subtil die Übernahme der amtlichen Sicht an. In den ersten Berichten wurden noch andere Skalen verwendet mit anderen Bedarfsgewichten, erst ab dem Bericht 1998 sind obige Gewichte in Verwendung. Das Datum des Berichtes und das Publikationsjahr unterscheiden sich häufig, ersteres steht offiziell dem Bericht voran und bezieht sich im Wesentlichen auf die Ressortaktivitäten. In diesem Sinne kann der Bericht 1996 als Abschlussbericht für das genannte Jahr verstanden werden. In Hinblick auf die Armutszahlen ist diese Angabe trügerisch, da die Beiträge zum Thema meist auf Daten älteren Datums aufbauen. Daher wird extra im Text benannt werden, auf welches Jahr sich die angebenden Werte zur Prävalenz beziehen. Eine Literaturangabe fehlt im Bericht, es dürfte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die hier angeführte Arbeit handeln.

Armut als soziale Beziehung und Reaktion

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einerseits rein einkommensorientiert ist und andererseits mehr auf Ungleichheit als auf Notlagen abzielt“. Entlang einer im Vergleich zu anderen Sozialberichten verhältnismäßig langen Argumentation der Unzulänglichkeit solch einer Armutsmessung, wird eine Person als arm definiert, wenn: -

ein geringeres Pro-Kopf-Haushaltseinkommen als die Hälfte des durchschnittlichen Pro-Kopf- Einkommens bezogen wird und außerdem zumindest eine der folgenden nichtmonetären Beeinträchtigungen zutrifft: o Substandardwohnung oder überbelegte Wohnung, o große finanzielle Nöte beim Beheizen der Wohnung, bei der Beschaffung von Bekleidung oder beim Kauf von ausgewählten Lebensmitteln, o Rückstände bei Zahlungen von Mieten und Krediten.

Obschon die dargelegte Definition als eine explizite Abgrenzung von einer rein monetären Messung zu verstehen ist, wird auf das Einkommen als wesentlicher Bestandteil einerseits nicht verzichtet und andererseits, wenn auch nicht expliziert, für diesen Indikator der damaligen europäischen Berechnungsform Folge geleistet (vgl. Eurostat, 1997).52 Als Datengrundlage diente ebenso ein von der Union initiiertes Erhebungsinstrument, das zu diesem Zeitpunkt erstmals in Österreich durchgeführte europäische Haushaltspanel, kurz EHCP (u.a. Peracchi, 2002). Die Bezeichnung „Pro-Kopf-Haushaltseinkommen“ ist im Zusammenhang der Definition etwas missverständlich, da es sich bereits um eine Äquivalenzberechnung handelt, gleichwohl mittels heute nicht mehr gebräuchlicher Skala der ÖSTAT. Zudem wird als Basis der Mittelwert herangezogen und eine Schwelle bei 50% angenommen, womit die Berechnungsart vom aktuell verwendeten Standard abweicht. Trifft nur dieses Kriterium zu, rekurrieren die beiden AutorInnen bereits auf den Begriff der Armutsgefährdung, wenn auch nur marginal im Bericht verfolgt. Die für 1994 errechnete Armutsgefährdungsschwelle betrug 93.000 Schilling (6.758 Euro) jährliches Nettoäquivalenzeinkommen für einen Einpersonenhaushalt (1,1 Millionen Menschen galten als betroffen) und lag unter dem damaligen Ausgleichszulagenrichtsatz von etwa 101.325 Schilling (7.363 Euro).53 Ein Vergleich mit der aktuellen Situation, in welcher sich die Ausgleichszulage unter der Armutsgefährdungsschwelle befindet, ist aufgrund der Berechnungsart problematisch (auch Till & Steiner, 1999 zu dieser Thematik). Wenig verwunderlich ist die daraus von Steiner & Giorgi (1997, S. 198) resultierende Conclusio einer „weitgehenden Reduzierung der Altersarmut“ – 41.000 bzw. 2% älterer Menschen (Haushalte mit Pensionen als Haupterwerbsquelle) seien von Armut (insgesamt 410.000 Menschen) auf Basis obiger Definition betroffen –, welche die Autoren auf die positive Wirkung von Ausgleichszulage und vor allem die überproportionale Erhöhungen der Richtsätze zurückführen.54 Zusammenfassend werden im Bericht zwar Dimensionen der Lebenslagen (Gesundheit, Wohnen usw.) aufgegriffen, jedoch nur teilweise mit Armut verbunden und PensionistInnen im Kontext von Substandardwohnungen und der Lebenserwartung erwähnt. Mit der noch kompakt gehaltenen Berichterstattung etablierte sich das Thema der Armut im österreichischen Sozialbericht.

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Zuvor war an Ermangelung von Daten die Berechnung mittels Ausgaben der Haushalte erfolgt (vgl. Eurostat, 1990). 7.500 Schilling brutto (BGBI.Nr:20/1994) abzüglich 3,5% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 1994). Oppitz (2000, S. 190) nutzt die gleichen Daten sowie Berechnungsform und gibt 10,4% der Personen 60+ als armutsgefährdet an. Was insofern erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass die Ausgleichszulage über der errechneten Armutsgefährdungsschwelle lag. Wenn auch nicht expliziert, so dürfte ein Grund darin bestanden haben, dass die Ausgleichszulage bei einem Zweipersonenhaushalt zu dieser Zeit bereits unter der entsprechenden Schwelle lag. Zudem könnte dies ein Hinweis sein, dass nicht alle Anspruchsberechtigten tatsächlich auch eine Ausgleichszulage bezogen.

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

Bericht 1997

Auch in der zweiten Arbeit von Giorgi & Steiner (1998) wird die Armutsgefährdungsschwelle als 50% vom Mittelwert des Äquivalenzeinkommens (jedoch berechnet auf Basis der alten OECD-Skala) definiert und betrug 1995 mit 90.000 Schilling (6.450 Euro) jährliches Nettoäquivalenzeinkommen etwas weniger, was der Autor und die Autorin auf statistische Ungenauigkeiten zurückführen und 1,1 Millionen für 1995 als armutsgefährdet adressieren.55 Die Ausgleichszulage wurde hingegen leicht erhöht und lag im selben Jahr bei insgesamt 7.565 Euro, womit sich die Differenz noch ausweitete.56 In erneuter Abkehr von einer alleinig einkommensbasierten Definition wurde – jedoch ohne das Adjektiv „arm“ für die Spezifizierung zu gebrauchen –, nun für „akute Armut“ eine Schwelle definiert, wenn: -

ein geringeres Pro-Kopf-Haushaltseinkommen als die Hälfte des durchschnittlichen ProKopf- Einkommens bezogen wird und außerdem zumindest eine der folgenden nichtmonetären Beeinträchtigungen zutrifft: o sehr schlechte Wohnbedingungen (Substandard bzw. sehr geringer Wohnraum pro Person), o sehr eingeschränkte Möglichkeiten, grundlegende Konsumgüter zu kaufen und o Zahlungsrückstände bei Miete, Heizung oder Elektrizität.

Entsprechend der Definition galten insgesamt 420.000 Personen bzw. 3% der „Personen in Haushalten mit Pension als Haupterwerbsquelle“(Giorgi & Steiner, 1998, S. 121) als in akuter Armut lebend. Während die materiellen Indikatoren im Wesentlichen gleichgeblieben sein durften, verschwand die direkte Attribuierung und deutet damit einen, im späteren Verlauf der Berichterstattungen weiter zunehmenden Trend, auf den Begriff der Armut möglichst zu verzichten, an. Im Bericht von 1997 ist die Aussparung gleichwohl nicht stringent, so werden etwa Unterschiede in den Dimensionen der Lebenslage zwischen armen sowie nicht-armen Personen dargestellt. Entsprechend tritt die prekäre Lage der Betroffenen bzw. die Ungleichheiten zwischen den zwei Gruppen bedingt durch die Visualisierung mittels Tabelle und Diagramm deutlicher hervor. Zur Bemessung von Altersarmut ziehen Giorgi & Steiner (1998) nun auch das chronologische Alter heran (zuvor erfolgte die Kategorisierung über den Pensionsbezug als Haupteinkommensquelle), anhand dessen mit 5% ein höherer Anteil an Betroffenheit (bzw. 97.0000 Personen) als das Jahr zuvor ausgewiesen wird – sieht man von der später publizierten Berichtlegung von Oppitz (2000) ab. Die Autoren kommen zum Schluss, dass ältere Menschen in Mehrgenerationenhaushalten häufiger von Armut betroffen sind als in Pensionistenhaushalten, sich ein Großteil der altersarmen Menschen aber näher an der Armutsgefährdungsschwelle befindet als Personen im Erwerbsalter. Anhand der Binnendifferenzierung wird ein „höheres finanzielles Potential“ (Giorgi & Steiner, 1998, S. 122) konkludiert. Letzte Erwähnung findet Altersarmut im Konnex ungleicher Gesundheit zwischen armen und nicht-armen Menschen in allen analysierten Altersgruppen. Auf der angewandten Seite verdeutlicht die Arbeit, dass die divergierenden Werte von Altersarmut auch die Manifestation zweier unterschiedlicher Betrachtungsweisen des Alters sind. Entsprechend wird das Konstrukt der Altersarmut nicht nur durch die Definition von Armut sondern auch durch die Begriffsbestimmung von Alter formiert. 55

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Dies könnte ebenso mit der leicht veränderten Skala (ÖSTAT versus OECD) zu tun haben, welche Kinder etwas anders gewichtet (vgl. Kargl, 2004), kann jedoch anhand der Erwähnungen im Bericht nicht näher überprüft werden. Weniger dürfte es sich daher um eine statistische Ungenauigkeit, als um ein Artefakt einer anderen Berechnungsform handeln. 7.710 Schilling brutto (BGBl. Nr. 1026/1994) abzüglich 3,5% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 1995).

Armut als soziale Beziehung und Reaktion



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Bericht 1998

Mit diesem Bericht zeichnet sich eine Darstellungsexpansion der Sozialindikatoren ab, welche nun verstärkt zur Deskription von Ungleichverteilungen verschiedener Dimensionen der Lebenslagen genutzt wurde. Außerdem lässt sich eine stärkere Zentrierung auf die monetäre Situation – wiewohl weniger auf das Konstrukt der Armutsgefährdung – attestieren, welche einen höheren Anteil älterer Menschen (definiert als PensionsbezieherInnen) in der niedrigsten Einkommensschicht (36%) als im Gesamtschnitt (25%) kenntlich macht. Dem Vergleich der drei Einkommensgruppen57 entlang von sozialen Indikatoren ist ein großer Teil des Berichtes gewidmet; neben gesundheitlicher Ungleichheit bei älteren Menschen (nun über das kalendarische Alter mit über 60 definiert), wird auf die anteilsmäßig höhere Betroffenheit (jedoch ohne Differenzierung in arm/nicht-arm) bei der materiellen Deprivation im Vergleich zur jüngeren Bevölkerung hingewiesen (vgl. Till & Steiner, 1999, S. 98).58 Erst im Anschluss wird auf das Thema Armut rekurriert; konzeptionell definieren Till & Steiner (1999, S. 100) Armut – „akut“ wurde ausgeklammert – als Kombination aus Armutsgefährdung (60% vom Median des Äquivalenzeinkommens, mit alter OECD Skala) und zumindest einer der nachfolgenden Indikatoren: -

Rückstände bei periodischen Zahlungen (Miete, Betriebskosten etc.) oder Substandardwohnung oder Probleme beim Beheizen der Wohnung oder der Anschaffung von Kleidung oder es für den Haushalt finanziell nicht möglich ist, zumindest einmal im Monat nach Hause zum Essen einzuladen.

Entsprechend wurde die materielle Dimension des Armutsbegriffes zumindest um ein weiteres Kriterium ergänzt, die Berechnungsform der Armutsgefährdungsschwelle wesentlich auf Basis von Empfehlungen der Eurostat abgewandelt und führte zum ersten Zeitreihenbruch.59 Im Vergleich zu den älteren Berichten wird messtheoretisch nun der Median – das auch aktuell bestehende Verteilungsmaß – zur Berechnung der Armutsgefährdungsschwelle genutzt. Sie lag für 1996 bei 103.200 Schilling (7.499 Euro), einem höheren Wert als die alte Berechnungsform ergeben hätte (vgl. BMAGS, 1999, S. 181), die Ausgleichszulage lag bei 7.721 Euro.60 Insgesamt galten 900.000 Menschen (bzw. 11%) als armutsgefährdet sowie 13% bzw. 164.000 Menschen in Haushalten mit der Pension als Haupteinkommensquelle (vgl. BMAGS, 1999, S. 182) – Angaben zur Altersgruppe 60+ fehlen hingegen. Weiterhin kam der Armutsgefährdung eine untergeordnete Rolle zu, wenn auch im Datenband bereits kurz angeführt. Entsprechend obiger Definition zur Armut galten 330.000 Menschen bzw. davon 17% ältere Menschen (60+) als arm, womit letztere nicht als Gruppe mit erhöhtem Armutsrisiko von den Autoren angeführt werden. Die Gegenüberstellung einiger Indikatoren zu Dimensionen der Lebenslage ergab für

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Ungeachtet der Berechnung der Armutsgefährdungsschwelle wurde die Bevölkerung in vier Quartile entlang ihres Äquivalenzeinkommens geteilt und für die untersten 25% und die obersten 25% die Einkommensgrenzen bestimmt: das unterste Viertel hatte 1996 ein Einkommen bis 10.800 Schilling und das oberste Viertel ein Einkommen von zumindest 18.900 Schilling monatlich zur Verfügung. Im Bericht wird hierzu die Bezeichnung „Indikatoren zur Lebensqualität“ und nicht eine Form materieller Deprivation verwendet. Entsprechende Fragen bezogen sich auf das Geldsparen, Speisenvielfalt, neue Kleidung kaufen, einmal im Monat zum Essen einladen und eine Woche Urlaub im Jahr machen können, auf welchen ältere Menschen häufiger als die Gesamtbevölkerung aus finanziellen Gründen verzichten mussten. Entsprechende Unterschiede zwischen den Berichten führen Till & Steiner (1999, S. 100) auf statistische Artefakte zurück und „geben nicht reale Veränderungen wieder“. 7.887 Schilling brutto (BGBl. Nr. 808/1995) abzüglich 3,75% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 1996).

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

den Beobachtungszeitpunkt deutliche Ungleichheiten zwischen armen und nicht-armen Personen; Altersdifferenzierung sind, außer im Bereich der Gesundheit, nicht angeführt. Abschließend fassen die Autoren die Ergebnisse ausgewählter Bevölkerungsgruppen nochmals zusammen, in welcher kurz auch die Situation von PensionistInnen angeführt ist. Die Erwähnung einer erhöhten materiellen Deprivation wird jedoch durch den Vergleich mit TransferbezieherInnen abgeschwächt.61 Wie in den vorangegangenen Berichten konstatieren Till & Steiner (1999, S. 102) die existenz-sichernde Wirkung der Ausgleichszulage, zugleich wird auf angewandter Seite der Konstruktionscharakter des Armutsbegriffes und die verfahrenstechnische Problematik, dass je nach Methodik die Zahl der Betroffenen variiert, deutlich. Abschließend ist zu erwähnen, dass auch im Bericht für 1998 die Begriffe Armut bzw. arm relativ präsent sind und zusätzlich ein Abschnitt über ältere Menschen aufgenommen wurde (siehe Schmid, 1999), welcher die soziale Lage unabhängig der Armutskategorie etwas vertieft. •

Bericht 1999

Im von Förster (2001) gefertigten Kapitel des Sozialberichtes zur „Armutsgefährdung und arme Personen“ gewann – wie auch der Titel bereits andeutet – die Armutsgefährdung als eigenständige und sozialpolitische Dimension an Bedeutung, welche durch Einkommensdarstellungen in einem Beitrag von Wagner-Pinter (2001) im Kontext des Lebensstandards und einem über die soziale Lage von SeniorInnen (siehe Kompetenzzentrum für Senioren- und Bevölkerungspolitik im BMSG, 2001) ergänzt werden. Während zweiter die Armut thematisiert, sich aber im Wesentlichen auf Personen bis 60 beschränkt (Personen mit Pensionsbezug wiewohl nicht per se ausschließt), wird im letztgenannten Beitrag die Zielgruppe abseits von Armut aufgegriffen. Erwähnenswert ist der Hinweis, dass die Nettoersatzquoten der Pension in den Einkommensschichten von PensionsbezieherInnen 1998 deutlich differierten und im untersten Dezil im Schnitt bei 55% lagen. Die häufig publizierten Durchschnittswerte von Brutto- und Nettoersatzquoten (etwa OECD, 2015b, S. 138ff.) täuschen über diesen Umstand hinweg, hinter welchem sich ein für Altersarmut konstitutiv entscheidender Mechanismus verbirgt. Zwar muss der Höhe der Beitragsgrundlage (vereinfacht: Höhe der Arbeitseinkommen) selbstredend Relevanz zugesprochen werden, die zweite entscheidende Größe ist indes der Steigerungsbetrag, welcher ein Abbild der Beitragsmonate, also der Arbeitszeit in der Erwerbsphase ist.62 Auf den Beitrag von Förster (2001, S. 198ff.) zurückkommend, ist dieser als eine Zusammenfassung einer gesonderten Studie (siehe Förster, Redl, Tentschert, & Till, 2001) zu bezeichnen und rekurriert verstärkt auf den Begriff der Armutsgefährdung, welche nach „den Gepflogenheiten und Empfehlungen des Europäischen Statistischen Zentralamtes“ berechnet wurde (siehe Eurostat, 1998). Im Zuge dessen erfolgt der Wechsel auf die modifizierte OECD Skala, womit sich die Armutsgefährdungsschwelle anhob und zu einem weiteren Zeitreihenbruch führte.63 Einerseits war damit zwar der Entstehungsprozess des bis heute verwendeten Verfahrens zur Messung von Einkommensarmut in der österreichischen Sozialberichterstattung abgeschlossen, andererseits brachte dies erneut Schwierigkeiten in der Vergleichbarkeit vorangegangener 61

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„In den nichtmonetären Bereichen zeigen sich etwas stärkere Belastungen für PensionistInnen als in der Gesamtbevölkerung, die Belastungen erreichen jedoch nicht das Ausmaß, das bei den übrigen Transferbeziehern gegeben ist“ (Till & Steiner, 1999, S. 102). „Der Steigerungsbetrag ist ein Prozentsatz der zur Anwendung gelangenden Bemessungsgrundlage. Dieser ist von der Anzahl der für die Leistungsbemessung zählenden Versicherungsmonate abhängig“ PVA, siehe unter: http://www.pensionsversicherung.at/portal27/pvaportal/content?contentid=10007.707675 &view mode=content (letzter Abruf, 10.10.2017). Eiffe u. a. (2012, S. 134) berechnen auf Basis mehrerer Äquivalenzskalen Armutsgefährdungsschwellen für 2008. Zwischen alter OECD Skala (9.380 Euro); OECD Skala (12.690) und modifizierter OECD Skala (11406 Euro) ist eine Differenz von über 3.000 Euro zu konstatieren.

Armut als soziale Beziehung und Reaktion

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Werte. Hierzu eine Gegenüberstellung der Armutsgefährdung bei älteren Menschen aus dem Referenzjahr: Tabelle 1 – Armutsgefährdungsschwellen für 1997 alter und modifizierter OECD Skala 64 Armutsgefährdung Akute Armut neue Skala alte Skala neue Skala alte Skala Altersgruppe Quote Anteil Quote Anteil Quote Anteil Quote Anteil 60+ 14% 28% 7% 15% 6% 30% 2% 12%

Wie in Tabelle 1 ersichtlich, weichen die Ergebnisse in der Altersgruppe 60+ je nach verwendeter Skala erheblich sowohl bei der Armutsgefährdung als auch bei akuter Armut voneinander ab und lassen sich vor allem durch den höheren Schwellenwert bei Einpersonenhaushalten erklären. Je größer die Elastizität der gewählten Skala, umso weniger (alleinlebende) ältere Menschen werden aufgrund einer sinkenden Schwelle als arm adressiert, während die insgesamte Betroffenheit – zumindest in einer gewissen Bandbreite der Skalen – auf relativ ähnlichem Niveau verharrt, da sich die Anteile der als armutsgefährdet Adressierten zuallererst zwischen den unterschiedlichen Haushaltsgrößen verschieben.65 D.h., je nach Skala variiert die Zusammensetzung der von Armut betroffenen Bevölkerung. Ungeachtet dieser messtheoretischen Dynamik lag nach Angaben des Sozialberichts die Armutsgefährdungsschwelle 1997 bei 120.000 Schilling (8.720 Euro) jährliches Nettoeinkommen und die Ausgleichszulage unverändert zum Vorjahr bei 7.721 Euro.66 Die Sozialleistung ist seit diesem Zeitpunkt durchgehend unter der Schwelle. 1997 galten insgesamt 884.000 Personen (11%) bzw. 251.000 ältere Menschen (14% der 60+) als armutsgefährdet und 102.000 als akut arm. Für letzteres kamen dieselben, wie im Jahr zuvor genutzten, materiellen Indikatoren zum Einsatz. Die Ergebnisse zur Armutsgefährdung auf Basis der alten Berechnungsmethodik (siehe auch Tabelle 1 – Armutsgefährdungsschwellen für 1997 alter und modifizierter OECD Skala) ähneln hingegen jenen der vorangegangenen Analysen. Während in drei Arbeiten Altersarmut von geringer Relevanz erachtet wird und gegen diese Schlussfolgerung auf Basis des damaligen Berechnungsmodells wenig einzuwenden ist, attestiert Förster (2001) nun die überproportionale Betroffenheit von älteren Menschen (im Besonderen bei Einpersonenpensionshaushalten). Auf Grundlage der neuen Berechnungsmethode war bereit 1994 das relative Risiko älterer Menschen armutsgefährdet bzw. arm zu sein im Vergleich zu anderen Altersgruppen am höchsten und verschärft sich bis 1997 weiter (vgl. BMAGS, 2001, S. 181). Im Kontext einer dynamischen Armutsanalyse – der ECHP lieferte dazu nun auch die Möglichkeit – betrachtet Förster (2001) zusätzlich die Dimensionen der periodischen und die Langzeitarmut: Wenig verwunderlich sind ältere Menschen dominierend, sowohl im Bereich der Armutsgefährdung als auch bei akuter Armut. Die Darstellung von sozialer Teilhabe in den Bereichen Grundbedürfnisse, Wohnsituation, Gesundheit, soziale Kontakte und negative Eigeneinschätzungen – etwa hinsichtlich der finanziellen Situation – wurde in seinem verschriftlichten Umfang komprimiert; aufgrund der tabellarischen Gegenüberstellung der Gesamtbevölkerung im Vergleich zur armutsgefährdeten und akut armen Bevölkerung jeweils in kurzfristiger und langfristiger Perspektive eröffnet sich das bis dahin umfänglichste Bild sozialer Ausgrenzung entlang der Armutsdefinitionen im Sozialbericht. Eine altersdiffe-

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Siehe BMAGS (2001, S. 180). Für eine genaue Analyse dieser Thematik siehe Eiffe u. a., (2012, S. 128ff.); als praktisches Beispiel lässt sich anführen, dass je nach gewählter Skala die Armutsgefährdungsquote 2008 zwischen 6% und 21% bei älteren Menschen pendelte, hingegen in der Gesamtbevölkerung die Variation nur zwischen 12% und 15% betrug. 7.887 Schilling brutto (BGBl. Nr. 732/1996) abzüglich 3,75% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 1997).

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

renzielle Betrachtung bleibt zwar ausständig, jedoch mit einer wichtigen Bemerkung: „Ein guter Teil der angeführten Kriterien für fehlende soziale Teilhabechancen korreliert eng mit dem Alter. Da, wie oben gezeigt wurde, ältere Menschen innerhalb der Bevölkerung in Langzeitarmut überrepräsentiert sind, erklärt dies auch einen Teil des starken Zusammenhanges zwischen Langzeitarmut und sozialer Ausgrenzung“ (Förster, 2001, S. 207). Zudem werden die Armutslinderung durch Sozialleistungen bei SeniorInnen (wobei selbstredend der staatlichen Pension der größte Effekt zukommt) und das relative Risiko der Armutsgefährdung im europäischen Vergleich (dabei zeigt sich ein höheres Risiko für ältere Menschen in Österreich) thematisiert. Nicht nur die verhältnismäßig umfängliche Darstellung entlang sozioökonomischer Kriterien und die Bezugnahme auf ältere Menschen, sondern auch die inhaltliche Verschiebung hin zur Armutsgefährdung sowie der letzte Schritt zur bis heute angewendeten Berechnungsform des monetären Indikators zeichnen diesen Armutsbericht aus. •

Bericht 2001 – 2002

Während Armutsgefährdung von Förster & Heitzmann (2002) gleich dem vorangegangen Bericht definiert wurde, änderte sich mit diesem Sozialbericht dessen Frequenz auf zwei Jahre – die Ausnahme ist eine Publikationslücke von 2005-2006 (und 2017). Die Armutsgefährdungsschwelle für 1999 betrug 128.900 Schilling (9.367 Euro) und der Richtsatz der Ausgleichszulage 7.936 Euro.67 Die Zahl der älteren armutsgefährdeten Personen nahm auf 17,0% zu; der Zuwachs in absoluten Zahlen betrug circa 65.000 auf 316.000 Menschen bei gleichzeitigem Anstieg der Armutsgefährdungslücke auf 12%, welche sich durch die öffnende Divergenz von Schwelle und Ausgleichszulage erklären dürfte – im Vergleich zu anderen Altersgruppen aber weiterhin etwas geringer ausgeprägt war. Die Zahl an akut armen älteren Menschen blieb mit 107.000 älteren Betroffenen auf ähnlichem Niveau zum vorangegangenen Bericht (vgl. Förster & Heitzmann, 2002, S. 190) und übertraf damit weiterhin sowohl in absoluten wie in relativen Zahl alle anderen Altersgruppen. Unter anderem adressierten die AutorInnen PensionistInnen in Einpersonenhaushalten als Gruppe mit überdurchschnittlichem Armutsrisiko sowie einen kontinuierlichen Anstieg des von Armut betroffenen Anteils älterer Personen seit 1994. Im Besonderen hatten über 60-jährige Frauen eine fast doppelt so hohe Gefährdungsrate wie die Gesamtbevölkerung (vgl. Förster & Heitzmann, 2002, S. 194). Auch in der longitudinalen Betrachtung – als langzeitarm werden Personen mit zumindest vier Jahren Betroffenheit definiert – wurden mit in etwa 172.400 SeniorInnen als dominierende Gruppe langfristig Armutsgefährdeter ausgewiesen: Jede 2. armutsgefährdete ältere Person hatte zumindest 4 Jahre unter der Armutsschwelle zum damaligen Zeitpunkt gelebt und jede 3. in akuter Armut. Womit erneut auf die stark verfestigte Situation bei älteren Menschen verwiesen sein dürfte. Zudem konstatieren Förster & Heitzmann (2002, S. 204), dass ohne krankheitsbezogene Transfers 24% der SeniorInnen armutsgefährdet gewesen wären; dies bedarf im Späteren noch der Auseinandersetzung. Vorweg sei erwähnt, dass der Einbezug des Pflegegeldes in die Berechnung der Einkommen durchaus kritisch gewertet werden kann, wenn dieses den durch gesundheitliche Einbußen bedrohten Lebensstandard letztendlich nur erhält (vgl. Till & Till-Tentschert, 2007, S. 64). Im Vergleich zum EU-15-Schnitt stiegt das Armutsrisiko älterer Menschen in Österreich noch weiter. In Kontrast zum vorangegangen Sozialbericht waren die inhaltlichen Änderungen gering, wiewohl auf eine Darstellung des Zusammenhangs von Armut und sozialer Ausgrenzung verzichtet wurde.

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8.112 Schilling brutto (BGBl. Nr. 455/1998) abzüglich 3,75% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 1999).

Armut als soziale Beziehung und Reaktion



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Bericht 2003 – 2004

Erneut erfolgte in diesem Bericht eine Umstellung. Es wurde das Europäische Haushaltspanel durch die Befragung „Statistics on income, social inclusion and living conditions“ bzw. EUSILC im Rahmen der Lissaboner Zielsetzung 2003 in Österreich ersetzt bzw. im Zuge von EUVerordnungen gar, wie bereits erörtert, rechtlich institutionalisiert und erzeugte eine weitere Zäsur in der Adressierung von Armut aufgrund methodischer Änderungen. Bis heute ist der EU-SILC „die zentrale Grundlage zur Erhebung der vom Europäischen Rat verabschiedeten Indikatoren zur Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ (Till-Tentschert u. a., 2004, S. 211). Die grosso modo unikale Stellung von SILC in Österreich betreffend Samplegröße und Umfang der erhobenen Indikatoren macht diesen zum hauptsächlichen Analyserahmen.68 Während in den ersten Berichten Armutsgefährdung noch eine untergeordnete, später eine gleichwertige Rolle gegenüber akuter Armut einnahm, wurde diese nun – bedingt durch die europäischen Zielsetzungen69 und Harmonisierung der Lissabon Strategie – mehr Platz eingeräumt und lag auf Basis des EU-SILC 2003 bei 9.425 Euro verfügbarem Jahreseinkommen für 2002.70 Der Richtsatz der Ausgleichszulage betrug für 2002 hingegen 8.501 Euro.71 Obgleich der steigenden Dominanz des Armutsgefährdungskonstrukts in der Berichterstattung wurde 68

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Arbeiten mit sekundäranalytischem Design sind an diesen Rahmen gebunden und wird von Roose (2013) in diesem Kontext als die Pfadabhängigkeit der Erkenntnis bezeichnet. So bedeutend die bürokratisierte Einführung des EU-SILC (gerade für Österreich, an Ermangelung anderer Surveys) ist, muss damit auf das Einschleifen gewisser, vor allem messtheoretisch umsetzbaren Konzepte von Armut hingewiesen werden. „Die Sekundärfragestellungen bewegen sich in einem Möglichkeitskorridor, der durch die Primärerhebungen vorbestimmt ist. Innerhalb dieses Korridors sind vielfältige Variationen möglich, die interessante und wichtige Ergebnisse bringen werden. [...] Dennoch bleibt ein Einfluss auf die Richtung des Wissenszuwachses durch die Interessen und Konzepte der Primärforschung. Determiniert wird die Richtung der Forschung durch die Fragen der Primärforschung natürlich nicht, beeinflusst aber schon. Eine ohnehin für Wissenschaften zu beobachtende Orientierung an Paradigmen [...] verstärkt sich und die Wahrscheinlichkeit grundlegend neuer Perspektiven wird tendenziell verringert“ (Roose, 2013, S. 709). Die Orientierung an der monetären Lage wird selbst an der Ausrichtung des Designs von SILC deutlich: einerseits wird für die Stichprobengröße in Österreich der Designeffekt der Armutsgefährdungsquote, andererseits das vorab über Registerdaten errechnete Haushaltseinkommen als zweites Stratifizierungsmerkmal der Stichprobenziehung berücksichtigt (siehe Statistik Austria, 2017c). Obwohl Daten des SILC 2003 genutzt werden, handelt sich genau genommen um Werte von 2002, da die Befragten nach dem Jahreseinkommen im vergangenen Jahr (Referenzjahr = t-1) gefragt werden. Die Berichtlegung auf Basis von SILC erfolgt tendenziell in der ersten Jahreshälfte des Folgejahres der Erhebung, womit bspw. im EU-SILC 2016, erschienen im Publikationsjahr 2017, Aussagen über das Einkommen von 2015 gemacht werden. Die mit 1.1.2017 eingeführte erhöhte Ausgleichszulage bzw. deren Auswirkungen werden daher erst im Publikationsjahr 2019 aufscheinen. In den sozialstatistischen Berichten werden Erhebungsjahr und Referenzjahr aktuell von Eurostat oder Statistik Austria gleichgesetzt; also Werte des EU-SILC 2016 dem Jahr 2016 zugewiesen. In dieser Arbeit wird jedoch das Referenzjahr angegeben, um die Diskrepanz mit der Höhe der Ausgleichszulage korrekt aufzuzeigen – dieses Vorgehen findet sich auch bspw. im Sozialbericht 2007-2008 im Beitrag von Till, Datler, u. a. (2009). Das Vorgehen trägt zwar nicht zu einer Entwirrung bei, es muss jedoch bedacht werden, dass soziale Unterstützungsleistungen in ihren Zugangsbestimmungen teils auf die Armutsgefährdungsschwelle ausgerichtet sind. Während sich die Einkommen auf das vorangegangene und abgeschlossene Jahr beziehen, wird bei Fragen zur materiellen Lage auf die aktuelle Situation der Befragten im SILC abgezielt (u.a. Statistik Austria, 2017c). Diese messtechnischen Notwendigkeiten und zugleich Problematiken führen zusätzlich zu einer zeitlichen Disparität auch innerhalb des Armutskonzeptes. Abweichungen zwischen Armutsgefährdung und materieller Deprivation im selben Haushalt sind zumindest ein Stück weit darauf zurückzuführen. Letztendlich oszilliert die europäische Definition zwischen dem Jahr der Durchführung jeweiliger SILC Erhebung und dem Referenzjahr für die Einkommensmessung. 630,92 Euro brutto (BGBl. Nr. 475/2001) abzüglich 3,75% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 2002). Till-Tentschert, Lamei, Bauer, & Statistik Austria (2004, S. 221) erwähnen die Ausgleichszulage, geben aber den Bruttowert an.

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

diesem zwei weitere Berechnungsformen – als „erhöhte“ (50% vom Median) und „leichte“ (70% vom Median) Armutsgefährdung betitelt – gegenübergestellt.72 Auch in diesem Fall handelt es sich nicht um eine nationale Besonderheit, sondern um das Aufgreifen eines Sekundärindikators der Laeken-Indikatoren (u.a. Eurostat, 2004). Zwar stieg die Schwelle im Vergleich zum Wert von 1999 auf Basis des ECHP nur gering, die Armutsgefährdungsquote für Gesamtösterreich erhöhte sich von 11% auf 13,2% (1.044.000).73 Mit 16,4% blieb die anteilsmäßige Betroffenheit unter SeniorInnen im Vergleich zum letzten Sozialbericht (17%) nahezu unverändert. Aufgrund der Harmonisierung mittels der Laeken-Indikatoren wurde diese nun aber über die Altersgruppe 65+ bestimmt und hatte deutliche Auswirkungen auf die absolute Zahl, welche sich auf 198.000 verminderte. Ohne explizit darauf einzugehen, war damit eine zentrale Differenzierungskategorie im Sozialbericht geändert worden und ist ungeachtet der internationalen Vergleichbarkeit ein durchaus diskutabler Umstand, bedenkt man das durchschnittliche Pensionsantrittsalter in Österreich. Angel (2010) konstatiert auf Basis des EU-SILC 2004, dass 39% aller PensionistInnen unter 65 Jahre alt waren. Entsprechend (zum damaligen Zeitpunkt verstärkt) muss gedanklich zwischen Altersarmut im kalendarischen Sinne und einer eher auf den Erwerbsstatus Ruhestand referierenden Verwendung geschieden werden. Auf den Bericht zurückkommend verweisen neben wenigen Erwähnungen in Bezug auf ältere armutsgefährdete Menschen Till-Tentschert u. a. (2004, S. 224) ein weiteres Mal auf Geschlechterdifferenzen, welche „allein auf den Niveauunterschied der Pensionen zurückzuführen“ sind. Jede 4. alleinstehende Pensionistin (104.000 gesamt) galt 2002 als armutsgefährdet, aber auch im Allgemeinen wird auf die höhere Betroffenheit in Haushalten mit Pension (17%) – ohne Sozialtransfers waren es 19% – im Vergleich zu Haushalten ohne Pension als Haupteinkommensquelle (12%) verwiesen. Um aufzuzeigen, dass das Einkommen ein guter, „aber kein hinreichender Indikator für Armut“ (Till-Tentschert u. a., 2004, S. 227) ist, wurde eine Analyse entlang der subjektiven Wahrnehmung der eignen ökonomischen Situation durchgeführt.74 56% aller armutsgefährdeten PensionistInnen genügt das Einkommen nicht, um „gerade noch auskommen zu können“. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ein langfristig geringes Einkommen, wie es bei PensionistInnen überdurchschnittlich der Fall ist, Benachteiligungen in anderen Lebenslagen wahrscheinlicher

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„Erwiesenermaßen ist die Armutsgefährdungsschwelle ein guter Richtwert für niedriges Einkommen. Sie kann aber nicht als absolutes Maß für Armut oder als empirischer Richtwert zur notwendigen Mindestsicherung in einer Gesellschaft herangezogen werden. Armut und soziale Ausgrenzung können aus einer Vielfalt von benachteiligten Lebenslagen heraus entstehen und sind damit durch einen einzelnen Indikator, beruhend auf einem normativ festgesetzten Richtwert nicht beschreibbar. Daher werden Personen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle immer nur als gefährdet oder dem Risiko von Armut ausgesetzt bezeichnet“ (Till-Tentschert u. a., 2004, S. 213). Für das Jahr 2000 ergab die Berechnung auf Basis des EHCP mit 9.706 Euro nach Till-Tentschert u. a. (2004, S. 214) eigentlich eine höhere Schwelle, aufgrund des Forschungsdesigns des EHCP als Panelstudie dürfte es sich dabei auch um ein Artefakt von Panelmortalität handeln. Letztendlich bekräftigt dies den Zeitreihenbruch zwischen EHCP und SILC. Konkret wurde jener Anteil an Personen errechnet, deren gesamtes Haushaltsnettoeinkommen geringer ist als der Betrag, den der Haushalt als unbedingt notwendig ansieht. Dafür wurde folgende Frage aus dem EU-SILC 2003 herangezogen: „Wie hoch müsste Ihrer Meinung nach in einem Haushalt wie dem Ihren das monatliche Nettoeinkommen sein, um gerade noch auskommen zu können?“. 71% aller armutsgefährdeten Personen (und 12% der nicht armutsgefährdeten) gaben ein höheres Einkommen als notwendig an – in Wien waren es sogar 82% –, was die AutorInnen eher als Argument für weitere Indikatoren der Deprivation zur Erfassung von Armut ansehen. Anzumerken ist jedoch, dass die Formulierung der Frage weniger Deprivationsindikatoren, wie etwa einmal im Jahr in den Urlaub zu fahren, rechtfertigt bzw. berührt, als die meisten Befragten damit eher eine tiefgreifende, existenzielle Komponente assoziieren dürften.

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macht. Die sehr großen Divergenzen zwischen der armutsgefährdeten und nicht-armutsgefährdeten Bevölkerung auf Basis jener Betrachtung (71% versus 12% im Gesamtschnitt) macht die diskriminatorische Relevanz der Armutsgefährdungsschwelle deutlich. Unter pragmatischen Gesichtspunkten ist das Einkommen (bzw. die Schwellendefinition) daher als ein durchaus legitimer Indikator für Armut anzusehen. Das handlungsbedürftige und im Bericht eher vernachlässigte Ergebnis muss aber lauten, dass fast ¾ aller armutsgefährdeten Personen ihr konkret verfügbares Einkommen als existenziell nicht ausreichend wahrnahmen, wenn man die Formulierung „um gerade noch auskommen zu können“ ernst nimmt. Die Laeken Indikatoren zielten, wie oben gezeigt, vor allem auf einkommensbasierte Variablen ab. Atkinson (2002, S. 118) empfahl zwar intensive Anstrengungen im Bereich der Indikatorenentwicklung materieller Deprivation für europäische Vergleiche, daneben galt jedoch auch seine Empfehlung, auf nationaler Ebene nach Möglichkeit Indikatoren zu inkludieren – womit noch kein einheitlicher Standard zu diesem Zeitpunkt festgesetzt worden war. In Österreich, wie sich im nächsten Bericht zeigen wird, wurde daher ein nationaler Indikator angestrebt, zuvor und für diesen Report orientierte man sich an einer Arbeit von Eurostat (2002). Zudem verschwand im Zuge der Harmonisierung der Begriff „akute Armut“ und wurde durch die drei Ebenen „Einkommensarmut“, „mangelnde Teilhabe“ und „verfestigte Armut“ ersetzt.75 Letztere schließt an den Begriff der „consistent poverty“ an, welcher sich vor dem Hintergrund der Armutsdefinition von Townsend (1979) formierte (siehe Nolan & Whelan, 1996) und in unterschiedlichen Bezeichnungen, etwa „the truly poor“ (Halleröd, 1995a) bzw. „doppelte Armut“ (Böhnke & Delhey, 1999, 2001), mündete. Als verfestigte Armut wird Armutsgefährdung zuzüglich zumindest einer der nachfolgenden fünf Benachteiligungen definiert. Sie weist damit Parallelen zur Armutsdefinition von Steiner & Giorgi (1997) auf, wenn auch in aktuellerer mehr Indikatoren einflossen. Die fünf Bereiche wurden mittels Faktorenanalyse ermittelt bzw. lehnte man sich an die von Eurostat (2002) bereits vorgenommene Kategorisierung an (siehe Statistik Austria, 2005):76 -

Das Unvermögen, sich grundlegende Dinge leisten zu können, wird in Folge als primäre Benachteiligung (bei Auftreten von 3 Problemen) der Lebensführung bezeichnet und beinhaltet Fragen, ob der Haushalt es sich leisten kann: o einmal im Jahr Urlaub zu machen, o die Wohnung angemessen warm zu halten, o bei Bedarf neue Kleider zu kaufen, o Fleisch, Fisch jeden zweiten Tag zu essen, o unerwartet anfallende Ausgaben zu tätigen oder o der Haushalt mit Zahlungen im Rückstand ist.

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Der erzwungene Verzicht auf erstrebenswert geltende Güter wird als sekundäre Benachteiligung (bei Auftreten von 3 Problemen) der Lebensführung bezeichnet und betrifft: o PC o Handy o Internet-Anschluss o DVD-Player

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Einkommensarm sind Personen, die rein armutsgefährdet sind; mangelnde Teilhabe betrifft jene, welche in zumindest einer der nachfolgenden Bereiche eine Benachteiligung aufweisen. Die Arbeit der Eurostat (2002) nimmt als Ausgangspunkt die dreifaktorielle Analyse von Callan, Nolan, & Whelan (1993). In der österreichischen Analyse wurde eher die konzeptionelle Idee der fünffaktoriellen Lösung übernommen, denn sowohl ein Teil der Dimensionen als auch einige der Indikatoren unterscheiden sich im Rahmen der Möglichkeiten – die Zahl an Indikatoren ist auf Basis der Daten logischerweise endlich.

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

o Geschirrspülmaschine o PKW -

Starke gesundheitliche Einschränkungen (bei Auftreten von 2 Problemen) werden mit folgenden Indikatoren erhoben: o hat einen sehr schlechten Gesundheitszustand, o ist seit zumindest einem halben Jahr durch eine Behinderung stark beeinträchtigt, o hat eine chronische Krankheit. - Wohnungsprobleme und mangelhafte Ausstattung (bei Auftreten von 2 Problemen) zeichnen sich ab durch: o kein Bad oder WC in der Wohnung, o Schimmel oder Feuchtigkeit, o dunkle Räume, o keine Waschmaschine. - Eine Benachteiligung im Wohnumfeld (bei Auftreten von 2 Problemen) wird attestiert, wenn Befragte die nachfolgenden Aspekte als Probleme einschätzen: o Lärmbelästigung, o Luft- oder Wasserverschmutzung durch Verkehr oder Industrie, o Kriminalität, Gewalt, Vandalismus.

Auf Basis der Konzeptionen identifizieren Till-Tentschert u. a. (2004, S. 230) 67% der Bevölkerung als „nicht arm“, 19,% mit „mangelnder Teilhabe“, 7% als „einkommensarm“ und 5% bzw. 467.000 Menschen mit „verfestigter Armut“. Damit waren knapp 45% der armutsgefährdeten Personen zusätzlich von zumindest einer Benachteiligung in einem nicht-monetären Bereich betroffen.77 Differenzierungen nach dem Alter wurden nicht vorgenommen. Aus dem dazugehörigen Tabellenband der Statistik Austria (2005) lässt sich entnehmen, dass der Gesundheitszustand bei den 65-Jährigen und Älteren unter Armutsgefährdung häufiger schlechter ist (bspw. 49% mit chronischen Erkrankungen versus 39%), die Wohnbedingungen tendenziell78 schlechter sind (bspw. leben 11% in Substandardwohnung versus 3%), circa 31% einige bzw. große Schwierigkeiten haben mit dem Einkommen auszukommen (versus 12%), bzw. sich kein Handy (19% versus 9%), keinen Urlaub (53% versus 28%) und sich keine unerwarteten Ausgaben (44% versus 26%) aufgrund der finanziellen Situation leisten können. Im Vergleich zur jüngeren Altersgruppe lassen sich bei den armutsgefährdeten Personen zusammenfassend altersdifferenzielle Tendenzen erkennen; die primäre und sekundäre Benachteiligung wurde nicht nach dem Alter und der Armutsgefährdung aufgeschlüsselt. Konkludierend zeichnen sich mit diesem Bericht bereits die Anfänge der sich verstärkenden Fokussierung der europäischen Union auf das Thema Armut und damit auch vermehrte Harmonisierung ab. Das damals weiterhin erhöhte Risiko der Altersarmut wird zwar in Teilen aufgegriffen, explizite Betrachtungen im Bereich der Benachteiligung fehlen hingegen.

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Aber auch etwa 23% der nicht armutsgefährdeten Personen galten in zumindest einen Bereich als benachteiligt, was angesichts der umfänglichen Betrachtung nicht sonderlich verwundert. Umgekehrt wurde die Lärmbelästigung von älteren, nicht armutsgefährdeten Personen (25%) etwas häufiger als Problem eingeschätzt (versus 18%).

Armut als soziale Beziehung und Reaktion



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Bericht 2007 – 2008

Im Beitrag von Till, Datler, u. a. (2009, S. 239) wird im Sinne Simmels – ohne auf diesen explizit Bezug zu nehmen79 – Armut als Unterstützungsnorm bzw. als „Lebenssituation, in der unterstützende Interventionen angebracht sind“, charakterisiert und hat für die weitere Berichtlegung eine appellierende Funktion.80 Wie auch im vorangegangenen Bericht nimmt das Konstrukt der Armutsgefährdung wesentlichen Raum ein; die AutorInnen geben die Schwelle für das Jahr 2005 mit 10.711 Euro Jahreseinkommen an, welches damit weiterhin über der Ausgleichszulage von 8.822 Euro lag.81 Insgesamt waren 12,6% bzw. 1.027.000 Menschen in Österreich armutsgefährdet inklusive 214.000 älteren Menschen (bzw. 16% der 65+). Zusätzlich galten 58.000 PensionistInnen unter 65 Jahre als armutsgefährdet. Eine Längsschnittbetrachtung wurde nun auch mit SILC wieder möglich; nahezu drei Viertel aller älteren armutsgefährdeten Personen waren auch als „dauerarmutsgefährdet“ – zwei Jahre hindurch gefährdet – zu bezeichnen. Till, Datler, u. a. (2009, S. 242f.) arbeiteten zusätzlich die Betroffenheit von Frauen mit Pensionsbezug als Haupteinkommensquelle heraus und stellten fest, dass 28% in Einpersonenhaushalten im Jahr 2005 armutsgefährdet waren. Besonders deutlich werden die Geschlechterunterschiede, wenn man die Anteile von Männern (27%) und Frauen (73%) innerhalb der Gruppe armutsgefährdeter älterer Personen vergleicht (Statistik Austria, 2008, S. 51). Zudem „mit hochgerechnet etwa 123.000 armutsgefährdeten Personen ist etwa jede zehnte armutsgefährdete Person eine alleinlebende Pensionistin“ (Till, Datler, u. a., 2009, S. 243). Neben Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft hatten alleinlebende Frauen im Alter das höchste Armutsgefährdungsrisiko (auch Statistik Austria, 2008, S. 33). Im Vergleich zu anderen Haushaltstypen war die Armutsgefährdungslücke bei älteren Menschen mit 13% auch aufgrund der Ausgleichszulage weiterhin relativ niedrig. Erneut zeichnet sich die Relevanz dieser Transferleistung, im Sozialbericht ebenso expliziert, ab. Im Zuge der Lissabon-Strategie und offenen Methode der Koordinierung wurden, beauftragt vom Bundesministerium für Soziales, Arbeit und Konsumentenschutz, „17 nationale Indikatoren für soziale Eingliederung“ (Till, Eiffe, u. a., 2009, S. 213) basierend auf der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Notwendigkeiten für einen Mindestlebensstandard entwickelt (siehe Till-Tentschert & Weiss, 2008; Kernbeiß, Lehner, & Wagner-Pinter, 2008; Henke, Till, Schrittwieser, & Wagner-Pinter, 2008; Till, Henke, & Schrittwieser, 2008).82 Primäre und sekundäre Deprivation (bzw. die Aufgliederung in 5 Bereiche) wurden durch den Indikator der „finanziellen“ Deprivation ersetzt. Demnach sollten sich in Österreich alle Menschen leisten können: 79 80 81 82

Die Wohnung angemessen warm zu halten Regelmäßige Zahlungen (Miete, Betriebskosten) rechtzeitig zu begleichen Notwendige Arzt- oder Zahnarztbesuche Unerwartete Ausgaben (z.B. Reparaturen) zu finanzieren Neue Kleidung zu kaufen Jeden 2. Tag Fleisch, Fisch, Geflügel oder vegetarische Speisen zu essen

Das nahestehende Arbeitspapier von Till-Tentschert & Weiss (2008) rekurriert direkt auf die Arbeit von Simmel. Ebenso ist eine stark an Simmel erinnernde Argumentation entlang der „Wahrung der menschlichen Würde und des sozialen Friedens“ (Till, Datler, u. a., 2009, S. 238) zu erkennen. 662,99 Euro brutto (BGBl. II Nr. 531/2004) abzüglich 4,95% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 2005). Hierzu wurden sowohl Experteninterviews als auch eine telefonische Befragung unter der österreichischen Bevölkerung durchgeführt, um die als relevant angesehenen Lebensnotwendigkeiten zu erfassen. Im Wesentlichen kann dies als konsensualer Lebensstandardansatz begriffen werden (vgl. Groh-Samberg, 2009, S. 92) und ähnelt dem Vorgehen bei Mack & Lansley (1985).

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

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Freunde oder Verwandte zum Essen einzuladen.

Ist es aus finanziellen Gründen nicht möglich, sich zwei oder mehr der genannten sieben Indikatoren leisten zu können, wird von finanzieller Deprivation ausgegangen.83 Die bereits erwähnte Kreuztabelle aus dem vorangegangenen Bericht wird nun aus der Kombination von Armutsgefährdung und finanzieller Deprivation geformt. Auf Basis dieser werden „vier unterschiedliche Armutslagen“ (Till, Datler, u. a., 2009, S. 250) abgeleitet: • • • •

Als „manifeste Armut“ werden jene Armutslagen bezeichnet, bei denen Armutsgefährdung gleichzeitig mit finanzieller Deprivation auftritt. Ein „Teilhabemangel“ bestehe, wenn Menschen zwar aktuell ein Einkommen über der Armutsgefährdungsschwelle haben, aber trotzdem finanziell depriviert sind. Als „Einkommensmangel“ wird eine Armutslage mit rein armutsgefährdendem Einkommen bezeichnet. „Kein Mangel“ liegt vor, wenn weder Armutsgefährdung noch finanzielle Deprivation auftritt.

Als manifest arm wurden im Sozialbericht 400.000 Menschen adressiert und stehen der Gruppe mit keinem Mangel gegenüber; die Bezeichnung der verfestigten Armut wurde in diesem Kontext folglich aufgegeben. Teilhabe- und Einkommensmängel erscheinen in dieser Dichotomie als weniger behandlungsbedürftig, gleichwohl zusammen knapp 1,4 Millionen Menschen dieser zugeordnet wurden. Erneut sind „alleinlebende Frauen mit Pension“ (Till, Datler, u. a., 2009, S. 251) zu nennen, welche ein relativ hohes Risiko (12% der Personengruppe) manifest arm zu sein, aufweisen. Ungeachtet dessen endet damit der Bezug auf ältere Menschen, hingegen wird Kinderarmut etwas detailliert und Lebenslagen wie Wohnen und Gesundheit teils im Kontext der Armutslagen aufgegriffen. Obwohl die AutorenInnen im Bereich der Gesundheit gar auf die Notwendigkeit einer altersdifferenzierten Betrachtung hinweisen, zentriert sich die Berichtlegung auf die Erwerbsphase bzw. wird eine Darstellung des Gesamtschnittes dargelegt. Zusammenfassend etablierte sich mit der Einführung der finanziellen Deprivation ein nationaler Indikator, welcher zwar heute vermindert, aber trotzdem weiter Bestand in der Berichterstattung hat. Als Zwischenresümee lässt sich festhalten, dass über die Jahre die beiden Dimensionen Einkommen und materielle Indikatoren zunehmend unabhängig voneinander betrachtet wurden, worauf die Kritik von Steiner & Giorgi (1997) eigentlich gründete und zu einer relationalen Definition beitrug, andererseits im Sinne einer Pfadabhängigkeit diese Konzeption im Bereich der Vier-Felder-Differenzierung der Armutslagen weiterhin aufgeht. „Arm sein“ (Steiner & Giorgi, 1997) sowie „manifeste Armut“ (Till, Datler, u. a., 2009) fußen auf der gleichen Logik eines Konnexes zwischen finanziell geringen Ressourcen und mit der finanziellen Situation in Verbindung stehenden Indikatoren materieller Deprivation. Zudem wurde, wenn auch sehr kurz dargestellt, das relative Armutsrisiko spezifischer Gruppen neu ausgerichtet und an bestimmte Konstellationen geknüpft – bspw. Mehrpersonenhaushalte mit 3 Kindern, Einelternhaushalte oder alleinlebende Frauen mit Pension – und sollte auf die überproportionale Betroffenheit jener Gruppen aufmerksam machen.84

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Obwohl in den letzten Jahren ein Relevanzverlust zu attestieren ist – zudem wurden die Indikatoren später überarbeitet (Statistik Austria, 2015b) –, findet sich das Konstrukt ebenso im aktuellen Tabellenband des EUSILC (Statistik Austria, 2017d). Das Vorgehen findet sich bereits im Tabellenband des SILC 2004 (siehe Statistik Austria, 2006a), alleinlebende Frauen mit Pension sind in diesem aber noch nicht als Risikohaushalt ausgewiesen. Seit dem Tabellenband von SILC 2005 sind jene aber eine beständige Gruppe (siehe Statistik Austria, 2007). Die von der Sta-

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Bericht 2009 – 2010

Der im September 2010 erschienene Sozialbericht ist bereits im Lichte der Europa 2020 Strategie zu lesen und dies wird durch die Betitelung „Armutsgefährdung und soziale Ausgrenzung“ gleichfalls angedeutet. Im Vergleich zu den vorangegangenen Berichten wird auf die Definition von Armut und Erwägungen zu der Problematik einer rein einkommensbasierten Messung verzichtet. Till-Tentschert u. a. (2010) führen rasch auf die Armutsgefährdung über. Zwei Punkte sind zuvor zu vermerken: seit diesem Bericht wird das Erhebungsjahr des SILC mit der Armutsgefährdungsschwelle gleichgesetzt, obwohl weiterhin als Referenzjahr das Vorjahr dient. Wie bereits erörtert wird im Nachfolgenden dieses Vorgehen nicht verfolgt, sondern weiterhin das Referenzjahr der Einkommensmessung angegeben. Zudem wurden zu einem späteren Zeitpunkt (nach Publikation des Sozialberichtes) zur Vermeidung eines weiteren Zeitreihenbruchs aufgrund methodischer Umstellungen – Einbezug von Verwaltungsdaten in die Berechnung der Einkommen – die Werte revidiert.85 Da sich die Schlussfolgerungen dieses und des nächsten Berichtes aber auf jenen „veralteten“ Zahlen gründen, werden sie im Nachfolgenden auch angegeben, so liegt bspw. der Wert der Armutsgefährdungsschwelle für 2007 bei 11.406 Euro und nicht, wie nach der aktuellen Berechnung bei 11.648 Euro, womit die Zahl an Betroffenen im revidierten Tabellenband der Statistik Austria höher eingeschätzt wird, als durch den Sozialbericht beschrieben. In der abschließenden Übersicht (siehe Tabelle 3) werden die revidierten Werte herangezogen. Auf Basis der Schwelle von 11.406 Euro weisen Till-Tentschert u. a. (2010) 940.000 bzw. 1,1 Millionen Menschen (12,4% der Gesamtbevölkerung) in Österreich als in Armutsgefährdung lebend aus. Angaben zu den absoluten Zahlen bei älteren Menschen fehlen, die Quote mit 17% bei Frauen und 12% bei Männern wird hingegen angegeben. Für das Jahr 2007 betrug die jährliche Ausgleichszulage 9.961 Euro netto.86 Im revidierten Tabellenband – dieser lag 2014 vor – liegt der Anteil 2007 mit 19% höher bzw. waren 260.000 der älteren Menschen von Armutsgefährdung betroffen. Die Vergleichbarkeit letzterer, kursivgestellter Zahlen ist mit vorangegangenen (nicht rückgerechneten) Berichten, basierend auf SILC-Daten, infolge des Zeitreihenbruchs erneut problematisch; letztendlich führte die Berechnung über Registerdaten aufgrund einer höheren Schwelle zu einer höheren Zahl an Adressierungen. Abseits des Hinweises auf die hohe Betroffenheit alleinlebender PensionistInnen und die Dauerhaftigkeit von Armut im Alter fokussierte dieser wie bereits der vorangegangene Bericht auf die Erwerbsphase bzw. Erwerbsintensität oder die Linderung durch Sozialleistungen. Altersarmut wird sporadisch, in einer Passage aber die Problematik der dauerhaften Armutsgefährdung (aktuelles Referenzjahr und zumindest 2 von 3 weiteren Jahren) bei alleinlebenden Frauen in Pension deutlich, thematisiert: „MindestpensionistInnen sind zum Großteil Frauen, meist alleinstehend und sie haben nur mehr sehr eingeschränkte Möglichkeiten ihre Pension durch andere Einkommen zu verbessern. Die dauerhafte Armutsgefährdungsquote bei alleinstehenden Pensionistinnen [...] ist mit fast 21% vier Mal so hoch wie für die Bevölkerung im Durchschnitt (5%). Die Ausgleichszu-

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tistik Austria ausgewählten Konstellationen beanspruchen hierbei zwar keine Vollständigkeit, die ausgewählten Gruppen zeichnen sich aber durch ein geringeres Medianeinkommen und ein erhöhtes Armutsgefährdungsrisiko als im Gesamtschnitt aus (zur Erörterung der Bestimmung u.a. Statistik Austria, 2006a, S. 53). Die abrufbaren Tabellenbände auf der Webseite der Statistik Austria zum SILC 2008 bis 2011 wurden einer Revision unterzogen, da 2008 als das Basisjahr für die Umsetzung der Europa 2020 Strategie in Österreich gilt (Bundeskanzleramt, 2014, S. 25). Ab SILC 2012 wurde das Verfahren regulär angewandt, womit sich die Zahlen von Sozialbericht sowie Tabellenband wieder gleichen. 726 Euro brutto (BGBl. II Nr. 532/2006) abzüglich 4,95% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 2007).

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lage für die Mindestpension liegt rd. 10% unter der Armutsgefährdungsschwelle. Ein Einkommensanstieg aufgrund geänderter Lebensumstände ist bei dieser Gruppe nicht zu erwarten“ (Till-Tentschert u. a., 2010, S. 186). Die Zielsetzung von Europa 2020, die Zahl an Menschen in „Gefährdungslagen“ um 20 Millionen zu reduzieren, ist ein Vorhaben, welches auf europäischer eher nicht und auf österreichischer Ebene möglicherweise knapp erreicht wird (etwa Lamei u. a., 2017, S. 188). Obwohl dafür, wie einige AutorInnen kritisch anmerken, mittels Erweiterung des Armutskonstruktes die Zahl der AdressatInnen vorab erhöht wurde87, brachte die Hinzunahmen des Indikators der erheblichen materiellen Deprivation und als dritte Dimension die Erwerbsintensität von Haushalten eine Definiens von Armut(sgefährdung) bzw. Ausgrenzung(sgefährdung) mit sich.88 Zusammen werden diese als AROPE bzw. „at-risk-of poverty or social exclusion“ bezeichnet (u.a. Eurostat, 2017), womit eine explizite Nennung von Armut weiter in den Hintergrund rückt. Von erheblicher materieller Deprivation wird ausgegangen, wenn vier oder mehr der folgenden neun auf EU-Ebene festgelegten Merkmale zutreffen:89 -

es besteht Zahlungsrückstand bei Miete, Betriebskosten oder Krediten es ist finanziell nicht möglich, unerwartete Ausgaben zu tätigen einmal im Jahr auf Urlaub zu fahren die Wohnung angemessen warm zu halten jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine vergleichbare vegetarische Speise zu essen ein PKW ist finanziell nicht leistbar eine Waschmaschine ist finanziell nicht leistbar ein Farbfernsehgerät ist finanziell nicht leistbar ein Telefon oder Handy ist finanziell nicht leistbar

Vorweg sei auf die Problematik verwiesen, dass der freiwillige Verzicht auf den PKW und zumindest auf das Handy nach Eiffe u. a. (2012, S. 89) bei höheren Altersgruppen in Österreich deutlich zunimmt und daher als Indikatoren für Deprivation bei älteren Menschen weniger geeignet sind, trotzdem lassen sich auch mit diesem Konstrukt weitere, von Ausgrenzung betroffene Personen identifizieren. Bemerkenswert ist die Verschiebung der Altersgruppe von 65+ auf 60+ in diesem Teil des Beitrages (vgl. Till-Tentschert u. a., 2010, S. 192), womit auf die zu Beginn genannte Armutsquote nicht direkt Bezug genommen werden kann – 290.000 Menschen über 59 Jahre werden von den AutorInnen als ausgrenzungsgefährdet nach AROPE ausgewiesen. Für alleinlebende Pensionistinnen lässt sich ein Zuwachs um 27.000 Personen konstatieren, womit knapp jede dritte armuts- oder ausgrenzungsgefährdet war. Gleichwohl alleinlebende ältere Männer seltener betroffen sind, verdoppelte sich durch Hinzunahme der erheblichen materiellen Deprivation nahezu die Zahl der Betroffen auf 35.000 Personen (bzw. 27% in der betreffenden Gruppe). Mittels erneuter Kreuztabellierung von Armutsgefährdung und finanzieller Deprivation wird für die Risikogruppe „alleinlebende Frauen mit Pension“ im 87

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„Die Verringerung um 20 Millionen Menschen bezieht sich nicht mehr nur auf die Armutsgefährdeten allein und damit auf insgesamt 80 Millionen Personen, sondern auf die Armutsgefährdeten und/ oder die materiell Deprivierten und/ oder auf Personen, die in Arbeitslosenhaushalten leben. Das sind insgesamt 120 Millionen Menschen. Damit wurde die Reduktion, die nach dem ursprünglichen Plan immerhin 25 Prozent betroffen hätte, auf eine Quote von knapp 17 Prozent gedrückt“ (Heitzmann, 2011, S. 50). Letzterer spielt in der Erfassung von Altersarmut keine tragende Rolle, es werden Haushalte mit Personen zwischen 18 und 59 Jahren berücksichtigt. Eine erneute Revision aufgrund weiter bestehender Kritik (European Commission, 2012, S. 104) mit Abänderung und Erweiterung auf 13 Indikatoren (siehe Guio u. a., 2016a) sowie einer Schwellensetzung von 5 oder mehr Verneinungen aus finanziellen Gründen ist bereits angekündigt und in den SILC implementiert. Ein Umstieg ist derzeit aber erst nach Europa 2020 geplant (Eurostat, 2017).

Armut als soziale Beziehung und Reaktion

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Vergleich zum vorangegangenen Bericht ein leicht verschlechtertes Bild dargestellt (61% versus 57% ohne Ausgrenzungsgefährdung). Damit endet die explizite Erwähnung älterer Menschen. Themen wie Überschuldung, gewonnen aus dem Sondermodul des SILC oder weitere nationale Indikatoren wurden für die Gesamtbevölkerung dargestellt. •

Bericht 2011 – 2012

Die zentrale Änderung in diesem Bericht von Till u. a. (2012) ist in seiner Neustrukturierung zu sehen, welche nun das AROPE Konstrukt voranstellt und auch weiterhin verfolgt wird. Zudem wurde 2011 vor dem Hintergrund der Europa 2020 Strategie in Österreich die Reduktion von Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten quantifiziert: bis 2020 soll die Zahl um 235.000 Personen im Vergleich zum Basisjahr 2008 reduziert werden (siehe Bundeskanzleramt, 2011, S. 27). Diese Vorgabe im Blick zielt die Darstellung dieses und der zwei noch folgenden Berichtlegungen vermehrt auf eine Trendanalyse in Hinwendung auf die Zielerreichung ab. Auf Basis des SILC 2010 galten 1,4 Millionen Menschen bzw. 17% in der Gesamtbevölkerung als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet (AROPE). Die Armutsgefährdungsschwelle für das Referenzjahr 2009 lag nach der alten Berechnungsform bei 12.371 Euro jährliches Nettoeinkommen für einen Einpersonenhaushalt (vgl. Till u. a., 2012, S. 272). Die größte Gruppe innerhalb von AROPE stellen armutsgefährdete Personen dar, gefolgt von jenen in Haushalten mit geringer Erwerbsintensität und erheblicher materieller Deprivation. Die Ausgleichszulage betrug 10.262 Euro netto.90 Altersdifferenzierungen sind besonders selten, im späteren Teil des Beitrages wird jedoch die Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung nach Haushaltstypen geschlüsselt und weist 344.000 Personen in Haushalten mit Pensionsbezug (20%) bzw. 25.000 alleinlebende Pensionisten (18%) und 122.000 alleinlebenden Pensionistinnen (29%) als betroffen aus. Aus dem revidierten Tabellenband geht eine Armutsgefährdungsschwelle von 12.604 Euro hervor, wodurch sich die Armutsgefährdungsquote auf 14,7% (versus 12,1% aus dem Sozialbericht) für 2009 erhöhte. 16,8% bzw. 236.000 der älteren Menschen und davon 163.000 ältere Frauen galten als armutsgefährdet; insgesamt waren nach AROPE 246.000 ältere Personen von Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung bedroht. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass nur ein geringer Teil von erheblicher materieller Deprivation betroffen ist; in Bezug auf den Gesamtschnitt sind ältere Menschen unterrepräsentiert (vgl. Statistik Austria, 2014b, S. 74). Die Ergebnisse auf Basis des nationalen Indikators der finanziellen Deprivation liefern jedoch ein anderes Bild: Einerseits sind in diesem Falle deutlich mehr Personen als depriviert adressiert - dies hat mit der Konstruktion zu tun; 2 von 7 Einzelindikatoren mit teils anderem Inhalt (siehe weiter oben), andererseits entspricht die Quote mit 15% bei älteren Menschen nahezu dem Gesamtschnitt (vgl. Statistik Austria, 2014b, S. 70). Der zweite Hauptteil des Beitrages von Till u. a. (2012) behandelt nationale Indikatoren, welche überarbeitet und auf 20 erweitert wurden (siehe BMASK & Statistik Austria, 2012; Statistik Austria, 2015b), welche den Themenbereich der sozialen Ausgrenzung umfänglich (bspw. Kennzahlen zu Wohnraum, Bildungschancen oder Gesundheit) abdecken. In Bezug auf Altersarmut finden sich keine direkten Hinweise; es wird aber ersichtlich, dass ältere Menschen Bildungsaktivitäten in einem geringen Anteil nachgehen (6,5%) und häufiger unter mehrfachen gesundheitlichen Einschränkungen leiden (22,3%). Eine Analyse der preisbereinigten Haushaltseinkommen zeigt zudem, dass zwischen 2008-2010 von einem Kaufkraftverlust bei armuts- und ausgrenzungsgefährdeten bzw. älteren Personen auszugehen sein dürfte, auch die Gesamtzahl von manifester Armut Betroffener stieg leicht an (vgl. Till u. a., 2012, S. 283ff.). 90

726 Euro brutto (BGBl. II Nr. 532/2006) abzüglich 4,95% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 2007).

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

Zusammenfassend handelt es sich damit um einen Beitrag, welcher sehr wenige Informationen über Altersarmut bereithält, selbst bei den Risikohaushalten fehlt die Kategorie der alleinlebenden PensionistInnen, auch wenn sie im Tabellenband angegeben sind. 91 Wohl dürfte die Aussparung weniger auf die geringe Zahl an altersarmen Menschen zurückzuführen sein, als der intensiven Widmung der nationalen Indikatoren, welche auch nur zum Teil für eine altersdifferenzielle Analyse geeignet sind. •

Bericht 2013 – 2014

Mit dem Report aus dem Dezember 2014 erfolgte eine verhältnismäßig umfängliche Analyse von Armut und Lebensbedingungen. Er widmet sich im Sozialbericht zwei Kapiteln: „Lebensbedingungen in Österreich“ und „Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung in Österreich“ (Lamei u. a., 2014a). Ersterer fasst die Lebenssituation der Bevölkerung umfänglich zusammen und nutzt als Hauptdifferenzierungskategorie drei Einkommensgruppen, entlang derer eine nahezu durchgängige höhere Benachteiligung bzw. Belastung von armutsgefährdeten Menschen gegenüber der mittleren und hohen Einkommensgruppe ersichtlich wird. Alter ist ein einziges Mal eingeführt, um die gesundheitliche Ungleichheit zwischen den Einkommensgruppen zu differenzieren – erst im Bereich der Hochaltrigkeit stellen Lamei u. a. (2014b, S. 323) eine Konvergenz fest.92 Daneben ist zu vermerken, dass die erwähnte Umstellung auf Verwaltungsdaten zur Berechnung von Komponenten des Haushaltseinkommens 2012 erfolgte, aufgrund dessen sich die in diesem Sozialbericht angegebenen Zahlen, basierend auf dem EU-SILC 2013, mit der aktuell verfügbaren Version des Tabellenbandes (Statistik Austria, 2014c) wieder decken. Während die drei AROPE Indikatoren den gesamten zweiten Beitrag umspannen, wurde auf die Darstellung der nationalen Indikatoren verzichtet, was angesichts der mehrfach hingewiesenen Relevanz durchaus überraschen mag. Andererseits schuf dies die Möglichkeit, die drei Indikatoren von AROPE vertiefend zu beleuchten; insgesamt galten 1.572.000 Menschen als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Die Armutsgefährdungsschwelle lag 2012 bei 13.244 Euro und die Armutsgefährdungsquote bei 14,4% bzw. 1.203.000 Menschen. Sowohl die Ausgleichszulage mit 10.825 Euro netto im Jahr93 sowie Angaben über die Betroffenheit in den Altersgruppen – 15% bzw. 226.000 ältere Menschen waren betroffen – sind nicht angeführt. Hingegen werden Haushalte mit Pensionen als Haupteinkommensquelle ausgewiesen – mit weiterhin hoher Armutsgefährdung bei alleinlebenden Frauen (24% versus 11% bei alleinlebenden Pensionisten) – sowie der Erwerbsstatus, in welchem ebenso pensionierte Frauen (17%) ein höheres Risiko als der Gesamtschnitt aufweisen. Insgesamt werden im Tabellenband 291.000 bzw. 15% im Ruhestand (Erwerbstätigkeit: Pension) befindliche Menschen als armutsgefährdet angegeben (Statistik Austria, 2014c, S. 69).

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Allgemein ist der Rekurs auf Altersarmut in der nationalen Strategie von Europa 2020 sehr gering; bspw. findet sich folgende kurze Anmerkung im Reformplan 2014: „Auch alleinlebende Pensionistinnen haben ein überdurchschnittliches Risiko (28%)“ (Bundeskanzleramt, 2014, S. 25). Eine etwas längere Erwähnung lässt sich im Reformplan von 2017 entdecken, in diesem wurde aber von dem „erhöhten Einzelrichtsatz“ berichtet (vgl. Bundeskanzleramt, 2017, S. 29). So gesehen ist die Erwähnung von Altersarmut im Plan auch an das Vorhandensein von Strategien zur Bekämpfung geknüpft; ähnliches attestiert Fink (2010, S. 69). Die Schlussfolgerung der AutorInnen einer Unberührtheit des Gesundheitszustandes durch die Einkommenssituation bei hochaltrigen Personen als möglicher Angleichungsprozess lässt einen Bezug auf Push-Effekte Richtung Altenwohnhäusern sowie tendenziell eine geringere Lebenserwartung armutsgefährdeter Menschen vermissen. 814,82 Euro brutto (BGBl. II Nr. 398/2011) abzüglich 5,1% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 2012).

Armut als soziale Beziehung und Reaktion

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Lamei u. a. (2014a) analysieren im Weiteren erneut die Wirkung von Pensionen und Sozialleistungen auf die Armutsgefährdung, während ersterer besonders hohe Bedeutung als Haupteinkommensquelle im Alter zukommt, reduzieren Sozialleistungen bei Haushalten mit Pension die Armutsgefährdungsquote um nur einen Prozentpunkt.94 Dies dürfte im Niveau der Ausgleichszulage begründet liegen, womit die verbleibenden Leistungen nur in seltenen Konstellationen ausreichen dürften, um die Lücke bis zur Armutsgefährdungsschwelle zu füllen. Auch für die erhebliche materielle Deprivation finden sich in diesem Bericht Angaben für Haushalte mit Pension, welche sowohl bei alleinlebenden Frauen wie auch Männern 4% beträgt. Während Zahlungsrückstände einen sehr kleinen Teil betreffen, besteht eine höhere Problematik unerwartet Ausgaben bezahlen (32% bei alleinlebenden Pensionistinnen und 18 bei Pensionisten) sowie sich einen Urlaub leisten und regelmäßig Fleisch essen zu können. Im Tabellenband werden 2% bzw. 26.000 ältere Menschen (65+) als erheblich materiell depriviert angegeben (Statistik Austria, 2014c, S. 70); im Ruhestand befindlich 60.000. All jene können keine unerwarteten Ausgaben zahlen bzw. auch nicht in Urlaub fahren (Lamei u. a., 2014a, S. 354).95 Der Indikator der Erwerbsintensität wird grundsätzlich nur bis zum Alter von 59 erfasst, die AutorInnen führen jedoch an, dass „etwa 105.000 Angehörige ab 60 Jahren in Haushalten mit geringer Erwerbsintensität [leben] – d.h. sie teilen sich die Wohnung mit Jüngeren, die ebenfalls nur in geringem Ausmaß oder gar nicht am Erwerbsleben teilnehmen“ (Lamei u. a., 2014a, S. 358). Zum Abschluss wird der Lebensstandard von nicht, einfach und mehrfach (zumindest zwei der drei AROPE Indikatoren) armuts- und ausgrenzungsgefährdeten Personen in aktueller und längsschnittlicher Betrachtung beschrieben und Trends der letzten Jahre identifiziert. Während die Wohnkostenbelastung bspw. für Personen mit einfacher Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung zunahm, reduzierte sich der Anteil jener, welche unerwartete Ausgaben nicht decken konnten; inwiefern diese Trends auf ältere Betroffene zutreffen, wird hingegen nicht näher erörtert und sind im Weiteren auch nicht mehr erwähnt. Abschließend daher der Verweis, dass insgesamt 238.000 ältere Menschen auf Basis des EUSILC 2013 als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet adressiert wurden; 15.000 davon sind als armutsgefährdet und erheblich materiell depriviert bzw. als manifest arm zu bezeichnen (vgl. Statistik Austria, 2014c, S. 75); die Wohnkostenbelastung liegt bei armutsgefährdeten älteren Menschen bei 30,1% im Gegensatz zu 14,4% bei allen 65 Jahre alten und älteren Personen. Zusätzlich lässt sich aus dem Sondermodul über Wohlbefinden konstatieren (vgl. Statistik Austria, 2014c, S. 132ff.), dass altersarme Menschen eine etwas geringere Lebenszufriedenheit (7,4) als der Schnitt aller älteren Personen aufweisen (7,7), weniger zufrieden sind mit der finanziellen Situation des Haushaltes (6,4 versus 7,1) und dem persönlichen Einkommen (5,7 versus 6,4).96 Zwar wurde in diesem Bericht die Situation von PensionistInnen wieder etwas näher beleuchtet, hingegen fehlt die kalendarische Alterskategorie und wird rein über den Erwerbsstatus bzw. das Haupteinkommen des Haushaltes differenziert.

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Eine wichtige Leistung im Alter – das Pflegegeld – wird aber im Regelpensionsalter als Altersleistung und nicht als Sozialleistung geführt, dies „entspricht der Zielvariablen-Definition von EUROSTAT. Diese Definition orientiert sich dabei an der Klassifikation der Sozialleistungen nach dem Europäischen System integrierter Sozialschutzsysteme (ESSOSS)“ (BMASK, 2014b, S. 350). Bei den weiteren Indikatoren ist aufgrund einer geringeren Betroffenheit unter Personen mit erheblicher materieller Deprivation nicht eindeutig, inwiefern ältere Menschen betroffen sind. Die Skala reichte jeweils von 0 (schlechtester Wert) bis 10 (bester Wert).

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

Bericht 2015 – 2016

Der aktuellste Sozialbericht führt zwar die auf zwei Reports geteilte Ausarbeitung des vorangegangenen nicht fort, weist aber zum einen deutliche Bezüge zu diesem in seiner inhaltlichen Struktur auf und ist zum anderen im Vergleich zu älteren Ausarbeitungen etwas umfangreicher. Der „Lebensbedingungen, Armut und Einkommen in Österreich“ betitelte Beitrag von Lamei u. a. (2017) arbeitet nach einer verhältnismäßig extensiven Erörterung messtheoretischer Konzeptionen des Armutsgefährdungskonzeptes die AROPE Indikatoren aus, um im dritten Abschnitt in der Analyse von Dimensionen der Lebenslage entlang der bereits erwähnten drei Einkommensgruppen als Hauptdifferenzierungskategorie zu münden. Auf Basis des EU-SILC 2015 wurde für das Jahr 2014 eine Armutsgefährdungsschwelle von 13.956 Euro errechnet, womit laut Bericht 1.178.000 Menschen bzw. 13,9% in Österreich armutsgefährdet waren. Insgesamt bzw. nach AROPE waren von Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung etwas über 1,5 Mio. Personen betroffen. Die Darstellung der AROPE Indikatoren erfolgt rein auf Basis der Gesamtbevölkerung und macht einen Blick in den Tabellenband des SILC notwendig: 200.000 bzw. 13% ältere Menschen (65+) galten 2014 als armutsgefährdet mit einer Armutsgefährdungslücke von 18% (vgl. Statistik Austria, 2016c, S. 74). Die Ausgleichszulage lag hingegen bei 11.395 Euro jährlich,97 also einer Differenz von 2.560 Euro zur Armutsgefährdungsschwelle. Bezogen auf die Haupttätigkeit waren 256.000 PensionistInnen (nach Sozialleistungen) als armutsgefährdet adressiert. Während bei Betrachtung der Altersgruppe 65+ Sozialleistungen, wie bereits erwähnt, keine bedeutende Rolle in der Reduktion von Armutsgefährdung einnehmen, ist dies bei der Betrachtung von PensionistInnen zu relativieren, da die Armutsgefährdung um mehr als 100.000 Menschen bzw. fünf Prozentpunkt abnimmt.98 Zuzüglich der erheblichen materiellen Deprivation werden im Tabellenband des EU-SILC 2015 an die 213.000 Menschen im Alter von 65 oder höher als armuts- bzw. ausgrenzungsgefährdet angegeben bzw. in etwa 9.000 Personen als manifest arm – letztere Zahl ist jedoch aufgrund der geringen Fallzahl im SILC mit Vorsicht zu interpretieren (vgl. Statistik Austria, 2016c, S. 81). Während die genannten Zahlen nicht im Sozialbericht angeführt sind, erfolgt eine Erwähnung des Anteils von 15% armutsgefährdeter PensionistInnen. Zudem werden sie von Lamei u. a. (2017, S. 200ff.) im Abschnitt über Gesundheit angeführt, welcher für die Altersgruppe 65+ gesundheitliche Ungleichheiten zwischen den Einkommensgruppen, sowie ein höheres Sterberisiko bei armutsgefährdeten Männern attestiert. Allgemein (ohne Altersbezug) zeigt sich in diesem Bericht ebenso die häufige Benachteiligung von armutsgefährdeten Personen über die Dimensionen der Lebenslagen hinweg und verdeutlicht die Ungleichheit etwa bei der Lebenszufriedenheit, der Zufriedenheit mit sozialen Beziehungen und sozialen Aktivitäten entlang der drei einbezogenen Einkommensgruppen (Lamei u. a., 2017, S. 219ff.). Zusammenfassend zeichnet jener Bericht ein kompaktes und zugleich informativ verdichtetes Bild über die Lebensbedingungen der von Armutsgefährdung betroffenen Bevölkerung, ohne der altersdifferenziellen Betrachtung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Am ehesten lässt sich eine gewisse Schwerpunktsetzung auf die Erwerbsphase – im Konnex der Ursachen von

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857,73 Euro brutto abzüglich 5,1% Krankenversicherung mal 14 (siehe ASVG idF 2014). Dies dürfte auch dem Umstand geschuldet sein, dass über 100.000 Personen unter 60 eine Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension beziehen – selbst 13 Personen in der Altersgruppe 15-19 – (vgl. Pensionsversicherungsanstalt, 2015, S. 166) und diese meist mit dem Bezug von Pflegegeld einhergeht bzw. andere Haushaltskonstellationen wahrscheinlicher sind. Unter dem Regelpensionsalter werden diese als Sozialleistung gewertet.

Armut als soziale Beziehung und Reaktion

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Armutsgefährdung – und die Bedeutung von Armutsgefährdung bei Kindern und Jugendlichen attestieren. 2.1.2.1.3

Die Sozialberichterstattung im Resümee

Resümierend ist zu konstatieren, dass sowohl die variable Ausgestaltung der Berichtlegung, dies beginnt bereits bei dem äußeren Erscheinungsbild und mündet in der über die Zeit unterschiedlichen Themensetzungen, dem veränderlichen, aber teils synonymen Wortgebrauch bzw. Diskrepanzen zwischen dem Referenzjahr der Einkommensdimension und dem Publikationsjahr des Berichtes (bspw. ist der Sozialbericht für 2007-2008 im Jahr 2009 publiziert worden, die Daten stammen aus dem SILC 2006 und daher ist die Einkommensinformationen aus 2005) als auch fünf methodisch bedingte Zeitreihenbrüche (nur auf die Armutsgefährdung bezogen) den Aufbau eines stringenten Bildes über Armut bzw. dessen Entwicklung konterkarieren. Die Funktion der Dauerbeobachtung (siehe Zapf, 1978) wird für Außenstehende unter erschwerten Bedingungen des Verstehens eingelöst bzw. ist sie im Besonderen bei Altersarmut aufgrund der zusätzlichen Verwendung unterschiedlicher Alterskonzepte nochmals in ihrer Stringenz herabgesetzt. Die Variation des Alterskonzeptes ist gleichbedeutend einer Änderung der Grundgesamtheit, über welche Aussagen getroffen werden und macht damit die Beobachtung des Phänomens Altersarmut inkonsistent (siehe dazu auch Kapitel 3.3.). Wiewohl ist in der Gesamtbetrachtung eine gewisse thematische Konsistenz feststellbar, sowohl was die dominierende Perspektive auf die Erwerbsphase, die Orientierung an den europäischen Armutsdefinitionen bzw. zumindest in den aktuelleren Berichten die Trendbetrachtung im Zusammenhang mit den Europa 2020 Zielen betrifft. In abstrahierter Perspektive kann für das Konstrukt der Armut im Sozialbericht eine endogene Pfadabhängigkeit mit exogenem Einfluss konstatiert werden. So verlor zwar die im ersten Beitrag aufgeworfene Verneinung einer rein einkommensbasierten Messung über die Jahre an Nachdruck – auch wenn sich immer wieder Erwähnungen dafür finden –, trotzdem blieb die explizite Bezeichnung „Armut“ als Konnex zwischen Einkommen und materieller Dimension bestehen.99 Neben dem stabilen Element der Erfassung von Einkommensarmut (trotz veränderter Berechnungsmethodik), ist ein relativ kontinuierlicher qualitativer Wandel der Konzeption materieller Deprivation und eine partielle Rezeption weiterer Dimensionen der Lebensbedingungen in den Berichten zu testieren, welche durch die sozialpolitischen Bestrebungen und das Armutsverständnis der europäischen Union bzw. durch das Erhebungsinstrument selbst geprägt sind. Im europäischen Kontext kommt der monetären Dimension hohes Gewicht zu, unter anderem aufgrund der Vergleichbarkeit zwischen den Nationen, wird aber seit Einführung des AROPE Konzept durch Indikatoren zur materiellen Dimension und Erwerbsintensität ergänzt (vgl. European Commission, 2015). Letztere findet sehr eingeschränkt Anwendung bei älteren Menschen, während die materielle Deprivation nur bedingt zur Erfassung von Altersarmut geeignet ist. Nicht weil anhand dessen weniger ältere Personen als depriviert ausgewiesen werden – ein wünschenswerter Zustand – oder die allgemeinen theoretischen Implikationen dagegen sprechen würden, sondern weil die Validität (auch Breheny u. a., 2016) der verwendeten Indikatoren im Kontext der Subgruppe angezweifelt werden muss.100 Halleröd (2006) kann hierzu

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In aktuellen Arbeiten ist nun aber eher von „Mehrfachbelastung“ die Rede, wenn auch mit dem Hinweis versehen, dass es sich hierbei um den nationalen Eingliederungsindikator „manifest Armut neu“ (Lamei u. a., 2017, S. 225) handelt. Im Gegensatz zur Indikatorentwicklung des SILC wurde im Family Resources Survey (UK) bereits vor geraumer Zeit die Entwicklung eines speziellen Indikatorsets für materiale Deprivation bei älteren Menschen

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

aufzeigen, dass der freiwillige Verzicht mit steigendem Alter und niedrigem Einkommen zunimmt und konstatiert adaptive Präferenzanpassungen (auch Kotecha u. a., 2013, S. 45f.; Dominy & Kempson, 2006, S. 83), womit von einer Unterschätzung der materiellen Deprivation auszugehen ist.101 In den beiden letztgenannten Studien werden zudem intermediäre Faktoren wie Gesundheit, informelle Unterstützungen oder die subjektiven Bewertungen der materiellen Umstände genannt, welche eine Deckung von Einkommensarmut und materieller Deprivation unterlaufen. Zudem zeigen qualitative Arbeiten die Notwendigkeit andere Themenbereiche in den Blickpunkt zu rücken – bspw. hinsichtlich Mobilität (vgl. Dominy & Kempson, 2006, S. 80f.), Pflege oder altersgerechte Wohnraumadaptionen (siehe Walsh, Scharf, Cullinan, & Finn, 2012) – oder bestehende aus einer anderen Perspektive zu betrachten,102 während quantitative Arbeiten unterschiedliche Relevanzstrukturen bei Gütern/Dienstleistungen zwischen den Altersgruppen feststellen (u.a. Eiffe u. a., 2012; Guio, Fusco, & Marlier, 2009; McKay, 2008, S. 25ff.). Konkludierend erscheint die geringe materielle Deprivation bei älteren Menschen in Österreich eher ein Artefakt der Messung, ein altersspezifisches Indikatorset bedarf noch der Entwicklung (u.a. Hick, 2013; Eurostat, 2012, S. 31ff.). „In the main, these analyses point to our lack of knowledge concerning subgroups of the older adult population with respect to deprivation, and to the inappropriateness of existing deprivation measures in terms of older adults’ lives” (Walsh u. a., 2012, S. 36). Praktisch fußt Altersarmut in der Sozialberichterstattung auf dem Konzept relativer Einkommensarmut bzw. dem aktuellen Sprachduktus folgend der Armutsgefährdung und wird, wie oben bereits vorgestellt, entlang der Berechnung einer Armutsgefährdungsschwelle – 60% des Medians der äquivalisierten Haushaltseinkommen – realisiert. Aktuell bedeutet dies, dass eine Person, deren verfügbares Jahreseinkommen 14.217 Euro (siehe Statistik Austria, 2017d, S. 11) unterschreitet, als armutsgefährdet adressiert wird. Die Zentrierung auf das Einkommen ist auch im Portfolio der EU-Sozial-Indikatoren ersichtlich (vgl. European Commission, 2015), welches im Bereich von Pensionen rein auf die monetäre Ebene aufbaut. Selbst Gordon (2006), ein zentraler Befürworter mehrdimensionaler Messung von Armut (einkommensbasiert und materiell), nimmt hierzu an: „The ‘poor’ still remain those with an ‘inadequate command of resources over time’, but cross-sectional scientific measurement of poverty requires that both resources and deprivation/low standard of living are measured in order to identify the ‘correct’ poverty threshold level. If high-quality longitudinal data were available, then the ‘poor’ would be those whose income/resources fall below the ‘poverty threshold’ and remain below it for a sufficient length of time for them to suffer the effects of deprivation as an enforced consequence of this low income” (Gordon, 2006, S. 33). Wie sich zeigt, ist gerade bei älteren Menschen von

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lanciert (siehe McKay, 2008; Bartlett, Frew, & Gilroy, 2013). Der LASCAPE stellt im neuseeländischen Alterssurvey ein Indikatorset dar, welches materielle Deprivation und Sens Fähigkeitenansatz zu kombinieren versucht (vgl. Breheny u. a., 2016). “Adaptation, therefore, will affect the objective-relative-deprivation-index too, because it is likely that poor people will adapt their preferences over time, such that they, to a larger and larger degree, will tend to state that they do not want to consume X rather than force themselves to face the bitter truth that they cannot afford X” (Halleröd, 2006, S. 377). “The most common strategies deployed by older people when money was tight were not to cut out meat and fish (although a minority did) or to go without meals. Instead, they said that they bought the cheaper food when they needed to economise. For those who lived on low incomes, this meant buying the cheapest food from the cheapest supermarkets even if it was less nutritious. It included buying food that was at its sell-by date or reduced in price, as well as buying low-cost filling food (very cheap sausages for example)“ (Dominy & Kempson, 2006, S. 79).

Armut als soziale Beziehung und Reaktion

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einer Verfestigung der Einkommenssituation auszugehen. 2007 war noch eine gewisse Dynamik zwischen der damals akuten Armutsgefährdung (18,9%) und persistenten Armutsgefährdung (10,6%) festzustellen, die beide decken sich nahezu im aktuellen Band (siehe Statistik Austria, 2017b, S. 74 u. 88). Anders formuliert war fast jede ältere Person, welche aktuell armutsgefährdet war, bereits mindestens 2 von 3 der vorangegangenen Jahre armutsgefährdet.103 Die Ergebnisse des empirischen Teils werden hierzu zeigen, dass, wenn auch von individuellen Präferenzen geprägt, Mangellagen in unterschiedlichen Lebensbereichen auftreten, welche sich auf die prekäre und anhaltende monetäre Situation zurückführen lassen. Vermögen kann dies zwar abmildern bzw. eine Zeit lang auffangen, mit Fortbestand der Lage werden Deprivationserscheinungen jedoch wahrscheinlicher. Resümierend wäre die Entwicklung adäquater Deprivationskonzepte für ältere Menschen für die Erfassung von Armut notwendig. Solange diese aber nicht verankert sind und zumal es sich bei älteren Menschen meist um eine verfestigte Einkommensarmut handelt, scheint eine monetäre Bestimmung von Armut als funktionaler Brückenschlag. Neben der Verfeinerung der materiellen Indikatoren sind die messtheoretischen Überlegungen der Einkommensarmut ebenso einer Reflexion zu unterziehen. Ein Anstoß hierzu: Der Einbezug des Pflegegeldes in die Einkommensberechnung nach derzeitigem Gebaren ist durchaus problematischer Natur. Nur wenige Arbeiten (bspw. Eiffe u. a., 2012; Evans & Eyre, 2004; Lloyd, 2016; Snell, Bevan, & Thomson, 2014) beachten dies und konstatieren durchgehend höhere Armutsgefährdungsquoten, wenn das Pflegegeld unberücksichtigt bleibt (im Späteren wird dies nochmals aufgegriffen). Neben den Einkommenskomponenten sind auch Einschränkungen der Grundgesamtheit in der Abschätzung von Altersarmut zu beachten: Till, Datler, u. a. (2009, S. 239) machen darauf aufmerksam, dass die „Anstaltsbevölkerung“ – damit sind auch Personen in Altenwohnhäuser usw. gemeint – in der SILC Erhebung unberücksichtigt bleibt. Zwar ließe sich anführen, dass jene Personen versorgt sind, andererseits sind Aussagen über die Gesamtpopulation damit problembehaftet. In der Konsequenz wird die Frage verdeckt, ob etwa Altenwohnhäuser zumindest ein Stück weit als Sammelbecken von Altersarmut zu sehen sind. Anders formuliert erscheint es ungewiss, ob solchen altersspezifischen Institutionen nicht der Charakter eines letzten sozialen Auffangnetzes zu attestieren wäre. Freilich trifft dies nicht auf alle BewohnerInnen von Altenwohnhäusern zu. Nimmt man diese Thematik aber ernst, bedarf die nahezu schon als Imperativ anmutende Formel, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu verweilen (die Problematik des nicht barrierefreien Wohnraums noch gar nicht in Betracht gezogen), einer verstärkten Zuwendung. Summa summarum ist die Konzeption und Erfassung in der amtlichen Berichterstattung mit Zentrierung auf die Erwerbsphase für Altersarmut wenig geeignet und Unterschätzungen sowohl bei der monetären Dimension als auch (besonders) bei der materiellen Deprivation sind wahrscheinlich. Die Anerkennung bzw. Thematisierung von Altersarmut in den Sozialberichten muss in zwei Hinsichten unterschieden werden. Abgesehen von den ersten Beiträgen erfolgt der durchgängige Verweis auf das Risiko gerade bei alleinlebenden Pensionistinnen bzw. teilweise auf ein relativ hohes Risiko bei älteren Menschen – die Sozialberichterstattung erfüllt hierbei die Funktion der Problemdefinition (vgl. Noll, 2003). Obwohl sich ein hoher Grad an Betroffenheit abzeichnet und auf diesen verwiesen wird, fehlen Ursachenanalysen bzw. die nähere Betrachtung

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Wenig verwunderlich ist daher, dass Altersarmut eine andere Qualität beigemessen wird, da im Wesentlichen das dynamische Element fehlt. Altersarmut unterscheidet sich dramatisch von Armut in jüngeren Altersklassen: Sie ist meist endgültig! Hat man das Rentenalter erst einmal erreicht, dann bestehen anders als bei Auszubildenden oder Erwerbstätigen meist weder Hoffnung noch Chance, der Armut aus eigener Kraft wieder zu entrinnen“ (Braun & Thomschke, 2017, S. 48).

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

weiterer Lebenslagen armutsgefährdeter, älterer Menschen im Wesentlichen; letzteres wird noch am ehesten in den Beiträgen von Förster (2001) bzw. Förster & Heitzmann (2002) aufgegriffen. Genaue Ursachenanalysen würden unter anderem die Erhebung der gesammelten Beitragsmonate in der Erwerbsphase bzw. Ersatzzeiten sowie Gründe für Unterbrechungen der Erwerbskarriere bedingen. Die Beschreibung weiterer Dimensionen ist zwar in den Berichten durchaus angelegt, es fehlt aber meist die altersdifferenzielle Betrachtung. Eine häufige Ausnahme bildet die in einigen Berichten analysierte Gesundheit. Die größere Problematik besteht folglich darin, dass Armut oder Alter – einmal abgesehen von ihren genauen Konstruktionen – als Differenzierungskriterien disjunktiv zur Anwendung bei der Analyse weiterer Lebenslagen kommen. So ist zwar bekannt, dass ältere und armutsgefährdete Menschen seltener ein Auto besitzen als der Gesamtdurchschnitt, aufgrund der Gefahr eines ökologischen Fehlschlusses lässt sich daraus jedoch nicht auf die Lage armutsgefährdeter älterer Menschen direkt schließen und bedürfte eigener Analysen – auch wenn intuitiv ein Zusammenhang angenommen werden mag.104 Die von Barlösius (2001a, S. 75) thematisierte Problematik einer Zentrierung auf „zahlenmäßige Ausdrücke und Formeln“ ohne die Lebensbedingungen der Betroffenen näher zu analysieren, lässt sich gerade für die Altersarmut bekräftigen. Fasst man das Ausmaß der Beschäftigung mit Altersarmut nochmals im Sozialbericht zusammen, so lässt sich aktuell eine Abnahme der Rezeption testieren; von einer Residualkategorie nahezu in die Nichtigkeit, welche dem fortbestehenden Grad der Betroffenheit nicht gerecht wird. Nochmals sei aber als Einschränkung betont, dass die vorliegende Analyse nicht die gesamte Sozialberichterstattung abdeckt. In dem Bericht über die Lebenslage älterer Menschen von Eiffe u. a. (2012) bzw. in einem von Oppitz (2000) erstellten Kapitel des Seniorenberichtes 2000 wird auf Armut Bezug genommen. Hinzuweisen bleibt auf die Publikationsjahre älteren Datums der beiden Arbeiten bei Verwendung noch älterer Daten aus 2008 bzw. 1994, womit eine Aktualisierung angebracht wäre. Die Zusammenschau aller dargestellten Sozialberichte fördert zudem eine wellenförmige Thematisierung ans Licht, wobei ein Zusammenhang zwischen der gehäuften Thematisierung und der größeren Anzahl an adressierten Personen angenommen werden kann. Der Begriff der Adressierung bzw. der Konstitutionscharakter von Armut wird hier deutlich. Der Übergang in die neueren Messkonzepte führte, wie in Tabelle 1 dargelegt, zu einer Verdopplung bzw. bei akuter Armut gar Verdreifachung der Quoten. An dieser Stelle lässt sich daher wiederholen, dass sich Armut in der gesellschaftlichen Zuwendung und in der Aushandlung eines unterstützungsbedürftigen Bereichs bestimmt. Erst in den letzten Jahren kann wohl von einem realen Rückgang ausgegangen werden. Dieser ist hauptsächlich einer Abnahme um 50.000 armutsgefährdeter älteren Frauen zwischen 2007 und 2014 zuzurechnen, bei gleichzeitigem Anwachsen der älteren Bevölkerung, womit sich vor allem die Armutsgefährdungsquote in den letzten Jahren besser präsentiert. Kritisch hingegen ist die politische Folgenlosigkeit der sich öffnenden Lücke zwischen Ausgleichszulage und Armutsgefährdungsschwelle zu beurteilen (siehe Abbildung 2; Kapitel 3.1.2.2.2.), vor allem, wenn „das österreichische Pensionssystem [...] die Aufgabe [hat], den bisherigen Lebensstandard im Alter zu sichern und durch bedarfsorientierte Leistungen (‚Ausgleichszulage‘) das Entstehen von Altersarmut zu verhindern“ (Schmid, 1999, S. 109). Zu der Frage nach den Ursachen der geringen Behandlung von Altersarmut sollen ein paar Überlegungen angebracht werden. Zum einen ist Altersarmut insofern ein „problematisches“ Feld, als dass die Beseitigung im Wesentlichen von sozialpolitischen Interventionen, d.h. von

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Solche intuitiven Schlüsse scheinen aus meiner Erfahrung einer der Hauptgründe zu sein, das Thema Altersarmut als ausreichend durchleuchtet anzusehen.

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einer Erhöhung der Sozialleistungen, abhängig ist. Insofern von einer erstarkenden sozialpolitischen Aktivierungspolitik und einer Überantwortung auf das Individuum ausgegangen werden kann (u.a. Lessenich, 2008b), erscheint die geringe Thematisierung als logische Konsequenz einem gesellschaftspolitischen Diskurs zu entgehen.105 Auch die Reformpläne der letzten Jahre, welche die Maßnahmen der Armutsbekämpfung gegenüber dem Country Report der EUKommission darlegen sollen, verweisen minimalistisch auf altersarme Menschen (siehe nachfolgende Tabelle 2). Maßnahmen beziehen sich vor allem auf die Erwerbsphase – „auch der weitere, über die eigentliche Arbeitsförderungspolitik hinausgehende Kranz aktivierender Sozialpolitiken hat als gemeinsame Zweckbestimmung die politische Durchsetzung möglichst umfassender Arbeitsmarktvergesellschaftung“ (Lessenich, 2009, S. 169). Dies hat zwar mittelbar Folgen auf die Altersarmut, den aktuell Betroffenen ist damit aber nicht geholfen.106 Tabelle 2 – Gegenüberstellung der Country Reports und Reformprogramme

Country Report 2013 „Gender segmentation is very high as testified by the concentration of women in marginal and lowwage employment, the third highest gender paygap in the EU and an old-age poverty risk for women that is above the EU average“ (S.8). “The high gender pay and ensuing pension gap and the relatively high poverty risk of women in old age have only been tackled by rather smallscale measures” (S.19). „The fact that minimum pensions are below the poverty threshold, which contributes to the substantial gender inequality in pension outcomes and above EU-average and increasing old-age poverty of women, is not tackled at all in the NRP“ (S.22). Country Report 2014 Keine explizite Nennung

Reformprogramm und Annex II - 2013: Keine explizite Nennung von Altersarmut; Reformziele werden nicht auf Altersarmut bezogen.

Reformprogramm und Annex I – Tabelle 2 2014: Keine explizite Nennung von Altersarmut; Reformziele werden nicht auf Altersarmut bezogen. Reformprogramm und Annex I – Tabelle 2 Country Report 2015 „The lower pensionable age and early retirement 2015: of women, beyond translating into high cost for the pension system in the medium-term, results in Hinweis im Annex enthalten: „By raising the eminsufficient pension entitlements, a large gender ployment participation of women in full-time and better paid jobs, reduce the poverty rate, the 105

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„Policies promoting increased Medicare coverage for home modifications and assistive devices, as well as increased Supplemental Social Security Income payments that would bring elderly and disabled recipients above the poverty line, may well suffer at the hands of a populace and a legislature that has bought the stereotypes of a new breed of successfully aging seniors who no longer need much in the way of government support“ (Holstein & Minkler, 2003, S. 793). Lang & Steiner (2010) kamen bereits vor geraumer Zeit zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die Berichtlegung eine „selektive Auswahl von geplanten oder bereits durchgeführten Maßnahmen der Regierung, der Länder und der Sozialpartner“ darstelle, welche zudem nicht auf politische Maßnahmen eingehen, „die dem Ziel der Armutsbekämpfung zuwiderlaufen könnten“. Letztendlich handelt es sich um eine „mehr oder weniger umfassend zusammengestellte Darstellung von ohnehin bestehenden Programmen“ (Lang & Steiner, 2010, S. 77; auch Fink & Litschel, 2014, S. 804).

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pension gap, and an increased risk of poverty for working-poor rate and the rate of poverty in old age among women. By better including women women in old age“ (S.4). in the labour market, also improve their inclusion in other spheres of society” (S.27). Reformprogramm und Annex I – Tabelle 2 Country Report 2016 „The Austrian pension system provides compar- 2016: atively high aggregate replacement ratios and „As a contribution to avoiding poverty in old age, median relative incomes of people aged 65+. the minimum pension (equalisation supplement Still, the at-risk-of poverty rates for elderly peo- reference rate; Ausgleichszulagenrichtsatz) will ple (age groups 65+ and 75+) are higher than the be increased to EUR 1,000 (value as of 2016) EU average. Figures are particularly unfavoura- once 30 contribution years from employment have been reached. This measure will mainly ble for women“ (S.59). „Harmonising the retirement ages would contrib- benefit those groups which have lower pension ute to narrowing this divide and lowering the risk claims due to low incomes or long periods of part-time employment“ (S.9). of poverty“ (S.59). „By raising the employment participation of women in full-time and better paid jobs; contribute to women’s economic independence over the life-cycle and thus reduce the poverty rate, the working-poor rate and the rate of poverty in old age among women. By better including women in the labour market, also improve their inclusion in other spheres of society“ (S.27). Country Report 2017 „The proportion of the population at risk of poverty or social exclusion is one of the lowest among EU Member States. However, inequality on the labour market — reflected in the large gender gap in pay and pensions — means that women aged 65 and over are at much higher risk of poverty than men of the same age, adding to overall income inequality“ (S.3.) “Although the effective retirement age is continuously increasing, harmonising the retirement ages for men and women by increasing the statutory retirement age for women, combined with respective job creation policies, would reduce the gender gap in pay and pensions and reduce the risk of poverty for women aged 65 and over” (S.26).

Reformprogramm und Annex I – Tabelle 2 2017: „Die Armutsgefährdung ist bei alleinlebenden Pensionistinnen mit 18% deutlich höher als bei alleinlebenden Pensionisten (14%) Dies ist auch ein Grund für die Erhöhung der Mindestpension auf 1.000 Euro bei Vorliegen von 30 Beitragsjahren (siehe Kapitel 3.1. p. 8). Davon werden Großteils Frauen mit langen Teilzeitphasen und Kinderbetreuungszeiten profitieren“ (S.29). Im Kontext von – „Reaching the employment and poverty-reduction target for women“ (S.1) – wird erneut auf die Arbeitsmarktintegration von Frauen verwiesen. „Minimum Pension in the amount of € 1000,-. To avoid poverty in old age, it is the main target of our government to keep people as long as possible in work. Single persons who have 30 contribution years will receive a minimum pension in the amount of € 1.000,-“ (S.25)

Wie in der Tabelle 2 ersichtlich, wird in den Country Reports nahezu durchgängig auf das hohe Altersarmutsrisiko hingewiesen; zudem enthält der Bericht 2013 eine direkte Kritik an der politischen Strategielosigkeit. Abgesehen von der erhöhten Ausgleichszulage – siehe den nächsten Abschnitt zu den Sozialleistungen – werden in den Reformprogrammen keine weiteren, direkten Pläne zur Verbesserung der Lebenslage aktuell von Armut betroffener, älterer Men-

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schen kenntlich. Sieht man von solch möglichen Kalkülen, die Thematik auszuklammern, einmal ab, erscheint eine weitere Ursache der geringen Thematisierung im Mangel an Daten und der verhältnismäßig kleinen gerontologischen Forschungscommunity. „Es muss nachdenklich stimmen, dass in Österreich, einem europäischen Land in den Spitzenrängen des gesellschaftlichen Alterungsprozesses, kein eigener, entsprechend dotierter Forschungsschwerpunkt gerontologischen Zuschnitts existiert, der von öffentlicher Seite, und unter Beratung eines eigenen Gremiums, koordiniert, finanziert und evaluiert wird“ (Amann, 2000a, S. 619). An dieser Problematik hat sich bis dato nicht viel geändert und dürfte ebenso dazu beitragen, dass Altersarmut in der österreichischen Forschungslandschaft selten in die Bearbeitung gelangt (vgl. Angel & Kolland, 2011). Die Nichtthematisierung in der Sozialberichterstattung wird daher weder durch Forschungsaktivitäten aufgefangen, noch kann letztere eine verstärkte amtliche Auseinandersetzung provozieren. Ebenso fehlen spezifische sozialwissenschaftliche Instrumente der Datengewinnung wie etwa der Alterssurvey in Deutschland (abgesehen vom Survey of Health Aging and Retirement, in welchem dem internationalen Vergleich hohes Gewicht zukommt, und nationale Besonderheiten eher negiert), womit auf der Basis von für die Gesamtbevölkerung konzipierten Instrumenten ein Auslangen gefunden werden muss (siehe hierzu obige Kritik an den Indikatoren der materiellen Deprivation). Rein rechnerisch ist bei diesen Erhebungen aber nicht von hohen Fallzahlen altersarmer Menschen auszugehen und beschränkt die statistische Analyse; es dürfte wenig verwundern, dass es bspw. keine reguläre, deskriptive Bundesländerauswertung mit SILC Daten zum Thema Altersarmut gibt, wenn sich die Zahlen für manche Länder im Bereich von 15 Fällen im Datensatz bewegen. Wohl scheint die Auflösung dieser Spirale des Nichtinteresses und Nichtkönnens oder -wollens anderer Akteure bspw. Interessensvertretungen zu bedürfen, welche eine frequente Berichterstattung und adäquate Daten einfordern, wie der paritätische Wohlfahrtsverband in Deutschland für eine Armutsberichterstattung eintrat bzw. weiterhin eintritt (vgl. Schädle, 2010). Tabelle 3 – Vergleich der Armutsgefährdungsquoten jeweiliger Altersgruppen 107 Österreich Gesamt Kinder (0-17) 18-64 65+ Lücke 65+ 2005 (SILC 2006) 12,6% 14,7% 11% 16,2% 13,3% 2006 (SILC 2007) 12% 14,8% 10,6% 14,4% 12,1% 2007 (SILC 2008) 15,2% 18,1% 13,3% 18,9% 18,1% 2008 (SILC 2009) 14,5% 17,1% 13% 17,4% 17,4% 2009 (SILC 2010) 14,7% 19% 12,9% 16,8% 18,6% 2010 (SILC 2011) 14,5% 17,8% 13,1% 16,2% 19,1% 2011 (SILC 2012) 14,4% 17,5% 13,3% 15,1% 19% 2012 (SILC 2013) 14,4% 18,6% 12,9% 15,4% 20,7% 2013 (SILC 2014) 14,1% 18,2% 12,9% 14,2% 19,6% 2014 (SILC 2015) 13,9% 17,8% 13% 13,2% 17,8% 2015 (SILC 2016) 14,1% 16,5% 13,6% 13,2% 16,1%

Deutschland 65+ 12.5% 16.2% 14.9% 15.0% 14.1% 14.2% 15.0% 14.9% 16.3% 16,5% 17,6%

Abschließend soll noch geprüft werden, ob das österreichische Gebaren der Auseinandersetzung ein Korrelat in Deutschland findet. Tatsächlich entwickelte sich die Lage zwischen den beiden Ländern unterschiedlich: während in der Mitte der 1990er Jahre in Deutschland Kinder und Jugendliche ein besonders hohes Armutsrisiko hatten (vgl. Groenemeyer & Ratzka, 2012, S. 401),108 SeniorInnen im Gegensatz ein unter dem Schnitt liegendes, war in Österreich das 107 108

Siehe SILC Berichte bzw. Eurostat. Noch in den 1970er Jahren war in Deutschland die Altersarmut sehr hoch – auf Basis alter Berechnungsverfahren – wurden 40% der Haushalte mit einem Haushaltsvorstand über 65 als arm adressiert (vgl. European Commission, 1988, S. 4). Nochmals sei festgehalten, dass die Vergleichbarkeit aufgrund unterschiedlicher

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Risiko für SeniorInnen besonders hoch, gefolgt vom Kinderarmutsrisiko (BMAGS, 2001, S. 185). Erst in den letzten Jahren stieg in Deutschland die Armutsgefährdungsquote älterer Menschen kontinuierlich auf 17,6% (siehe Tabelle 3) und damit über den EU28 Schnitt von 14,6%, hingegen sie in Österreich auf 13,2% fiel. Im Gegensatz zu der von Motel-Klingebiel & Vogel (2013) ihr Buch betitelnden Frage einer „Rückkehr der Altersarmut?“ für Deutschland, waren bereits 1997 in Österreich 251.000 Menschen und damit mehr als im Gesamtschnitt als armutsgefährdet adressiert worden – zumindest diese hohe Prävalenz hätte der Wissenschaft und der Politik bekannt sein müssen und vertiefende Auseinandersetzungen anstoßen können. Konträr dazu nahm in Deutschland mit steigender Armutsgefährdungsquote bei älteren Menschen sehr wohl auch die Thematisierung zu (u.a. Bäcker, 2016; Braun & Thomschke, 2017; Brettschneider & Klammer, 2016; Geyer, 2015; Haan u. a., 2017). Vor allem die Frage nach der zukünftigen Entwicklung wurde virulent und führte in den letzten Jahren zu (hitzigen) Debatten in Deutschland. Die Negation des Phänomens durch schlichte Aussparung trotz der zumindest vor ein paar Jahren noch bestehenden hohen Quoten in Österreich, muss in diesem Sinne kritisch betrachtet werden. 2.1.2.2 Politisch-administrativer Standard Die in Österreich gewährten Sozialleistungen bzw. jeweilige Voraussetzungen sind auch aufgrund der föderalistischen Struktur – im Armenwesen kommt dem Bund nur die Grundgesetzgebungskompetenz zu, während den Ländern die Ausführungsgesetzgebung und der Vollzug obliegt (vgl. Obinger & Tálos, 2006, S. 40) – einerseits mannigfaltig und unterliegen andererseits aktuellen Debatten (wie bspw. der Diskurs zur bedarfsorientierten Mindestsicherung), weisen aber ebenso historische Bezüge auf bzw. sind davon abhängig – betrachtet man etwa das Verschlechterungsverbot (u.a. Dimmel & Pratscher, 2014, S. 947) in der Mindestsicherung oder die lange Historie der Ausgleichszulage. In Folge differieren die Sozialleistungen in den einzelnen Bundesländern; selbst die nun wieder ausgelaufene 15a-Vereinbarung109 zur bedarfsorientierten Mindestsicherung konnte Länderunterschiede nicht völlig beseitigen (siehe auch APA, 2017).110 Daher wird entlang des Forschungsziels nur die Wiener Situation im Nachfolgenden dargestellt. Zudem machen laufende Anpassungen bzw. Änderungen die Darstellungsbemühungen zu einem infiniten Prozess. Für diese Arbeit wurde die letzte Adaption des Textes im Jänner 2018 vorgenommen, da zu diesem Zeitpunkt auch die Interviews abgeschlossen waren. Angemerkt sei aber, dass mit dem 1.2.2018 das neue Wiener Mindestsicherungsgesetz in Kraft trat, welches, gleichwohl einiger Änderungen, ältere Menschen nicht anderes als bis dahin behandelt (siehe WMG idF. 01.02.2018).111 Wie bereits erörtert, wird in diesem Abschnitt da-

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Berechnungsverfahren (Verwendung unterschiedlicher Lagemaße und Äquivalenzskalen) mit großen Problemen behaftet und mit äußerster Vorsicht zu behandeln ist. Die komparativen Analysen, welche im Zuge der europäischen Armutsprogramme durchgeführt worden waren (u.a. Eurostat, 1991), zeigen zusätzlich die Problematik, dass jeder Operationalisierungsversuch selbst der gleichen Konzeption, wie am Beispiel der europäischen Armutsdefinition geschehen, zu markanten Unterschieden führt. Ziel einer Vereinbarung gemäß Art.15a B-VG ist die freiwillige Koordination zwischen Bund und Ländern in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen (siehe Verbindungsstelle der Bundesländer, 2014). Ein knapp 80 Seiten langes Dokument der Armutskonferenz aus 2012 listet die teils unterschiedlichen Bedingungen in der Mindestsicherung zwischen den Ländern auf (siehe Armutskonferenz, 2012), welche sich nach Ablauf der Vereinbarung weiter ausgeprägt haben; so wurden in manchen Bundesländern etwa Deckelungen der Auszahlungshöhe eingeführt. Die Änderungspläne der Regierung sind aktuell schwer zu beurteilen, außerdem hat Wien bereits Widerstand angekündigt, da wohl tiefe Einschnitte für BewohnerInnen Wiens damit verbunden sein dürften. Ohne dies hier weiter zu vertiefen, muss die Frage gestellt werden, wie etwa mit einer Deckelung trotz steigender Zahl

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nach gefragt, nach welchen „singulären Bestimmungen“ – um Simmels Worte erneut zu gebrauchen – der Zugang zu Sozialleistungen gewährt wird und welche Art von bzw. welche Höhen der Hilfeleistungen ältere Menschen erhalten. Vorweg sei erwähnt, dass die im Nachfolgenden dargestellten Unterstützungsleistungen bzw. Befreiungen sich im Wesentlichen an ein geringes Einkommen knüpfen, obgleich die Einkommensgrenzen für den Anspruch divergieren bzw. einer individuellen Bedarfsprüfung unterliegen können. Tabelle 4 – Übersicht der Sozialleistungen Bezeichnung Sichernde Maßnahme Ausgleichszulage Geldleistung – min. Standard Mindestsicherung Geldleistung – min. Standard Wohnbeihilfe Geldleistung – Wohnen Mietbeihilfe Geldleistung – Wohnen Rundfunkgebühren -Rezeptgebühren Ökostrom -Fernsprechentgelt -Energieunterstützung Geldleistung – bei Bedarf Mobilpass -Hundeabgabe -Kulturpass -TUWAS!Pass -HibL Geldleistung – bei Bedarf Unterstützungsfonds PVA Geldleistung – bei Bedarf Unterstützungsfonds KrankenkasGeldleistung – bei Bedarf sen

Kostenreduzierende Maßnahme ----Sachleistung – Befreiung Sachleistung – Befreiung Sachleistung – Befreiung Sachleistung – Zuschuss Dienstleistung – Beratung/Zuschuss Sachleistung – Ermäßigung Sachleistung – Zuschuss Sachleistung – kostenfreies Angebot Sachleistung – kostenfreies Angebot ----

Um einen ersten Überblick der zentralen Leistungen zu geben, sind die Sozialleistungen in eine tabellarische Form gestellt und kategorisiert. Meist erfolgen solche Einteilungsversuche nach der Differenzierung Geld- und Sachleistungen (vgl. Badelt & Österle, 2001, S. 15), welche auch in der Tabelle 4 zu finden sind.112 Obschon einige der Sozialleistungen auf andere Dimensionen der Lebenslage (Gesundheit oder soziale Teilhabe) abzielen, wird dies wesentlich auf Basis der monetären Dimension bzw. der Zahlungsfähigkeit realisiert. Beispielsweise wird mittels des Fernsprechentgeltzuschusses entlang einer staatlichen, direkt an den Telekommunikationsanbieter getätigten Geldleistung, die Möglichkeit einer Nutzung von Telekommunikationsangeboten und in Folge die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe erleichtert. Im Kontext der Zahlungsfähigkeit lässt sich hierbei zwischen „sichernden“ (Zahlungsfähigkeit grundsätzlich herstellenden) bzw. „kostenreduzierenden“ Transfers unterschieden. Letztere werden nur bei der Nutzung durch den Betroffenen realisiert und das, den Handlungsraum aufspannende Einkommen virtuell erhöht. Begründen lässt sich solch eine monetarisierende Perspektive unter der

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an Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft der benötigte Wohnraum noch finanziert werden kann. Noch dazu unter der von ExpertInnen bereits als akut bezeichneten Marktsituation für günstige Wohnungen (siehe Dawid & Heitzmann, 2015). In einer aktuellen Analyse zeigt Rebhahn (2017), dass die Deckelung in der konkreten Ausprägung eine verfassungsrechtliche Unzulässigkeit darstellt. Das niederösterreichische Modell wurde mittlerweile vom Verfassungsgerichthof als verfassungswidrig aufgehoben. Selbstredend ließen sich einige der Leistungen als Mischformen bezeichnen, folgt man der Definition von Badelt & Österle (2001). An dieser Stelle wird hingegen die Perspektive von Betroffenen eingenommen, welche entweder die Geldleistung direkt oder unabhängig vom Anbieter eine Sach- oder Dienstleistung erhalten. Die Zuweisung einer Mischform erscheint aus Betroffenenperspektive vernachlässigbar.

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

Annahme, dass in den Dimensionen der Lebenslage zumindest ein gewichtiger Teil von Möglichkeiten erst durch die Aufwendung materieller Mittel umgesetzt werden kann. Geld „ist ein universales, kein nur ‚ökonomisches’ Medium, denn von ihm hängt direkt oder indirekt die Inklusion der Individuen in alle Teilsysteme der Gesellschaft ab“ (Deutschmann, 2009, S. 227). Soziale Kontakte zu pflegen, bedeutet neben dem Vorhandensein von Telekommunikationsmitteln z.B. Gehbehelfe bzw. öffentliche Verkehrsmittel nutzen oder einmal auf eine Kaffeerunde nach Hause einladen zu können – all dies bedarf Geld bzw. der Zahlungsfähigkeit, auch wenn außer Frage weitere Aspekte eine Rolle spielen. 2.1.2.2.1

Charakteristika der Sozialleistungen

Grosso modo lässt sich konstatieren, dass „MindestpensionistInnen“ bzw. BezieherInnen der bedarfsorientierten Mindestsicherung in Dauerleistung auf die obig angeführten Leistungen potentiell zugreifen können. Liegt hingegen das Pensionseinkommen, wenn auch nur um einen kleinen Betrag über dem Mindeststandard, so gilt es, die jeweiligen, im Nachfolgenden dargestellten Voraussetzungen genauer zu beachten. Da die Bestimmungen teils umfassend sind und eine detaillierte Darstellung die Übersichtlichkeit schmälern würde, ist die Zusammenstellung an Personen im Einzelhaushalt und Pensionsalter orientiert, sofern dieser Status einen Unterschied in den Voraussetzungen bzw. Berechnungsgrundlage bedeuten würde. Zu Beginn werden die Ausgleichszulage und die Mindestsicherung in Dauerleistung etwas umfangreicher dargestellt, da diese als zentrale Elemente die Grundversorgung absichern. Zuvor ist aber noch auf den gängigen Irrtum hinzuweisen, dass es in Österreich eine Mindestpension gäbe bzw. man nicht unter den Mindeststandard fallen könne – sieht man bereits von Menschen in Obdachlosigkeit ab, welche aufgrund fehlender bzw. erschwerter Adressierungsmöglichkeiten nicht von Sozialleistungen erreicht werden oder Personen, welche eine Beantragung grundsätzlich scheuen. So sind Kürzungen, einerseits durch Arbeitsunwilligkeit bei Bezug der bedarfsorientierten Mindestsicherung (was aufgrund des Erreichens des Regelpensionsalters für die hier betrachteten Fälle auszuklammern ist)113 und andererseits „wenn eine Hilfe suchende oder empfangende Person ihre Mittellosigkeit während oder innerhalb der letzten drei Jahre vor der Hilfeleistung selbst verursacht hat, weil sie Vermögen verschenkt oder ein Erbe nicht angetreten hat“ (§ 15 Abs. 2 WMG 2013), möglich. Mit letzterem wird das Finalitätsprinzip (siehe Dimmel, 2014, S. 505f.) wohlfahrtsstaatlicher Systeme erodiert. Auch wurden vom Rechnungshof einige Problemfelder im Kontext der Ausgleichszulage thematisiert, welche auf die tatsächlich verfügbare Höhe Auswirkungen haben: etwa im Bereich von Heimaufenthalten, gleichzeitigem Bezug mehrerer Pensionsleistungen oder einer fehlenden Abstimmung der Richtsätze hinsichtlich des Existenzminimums nach der Exekutionsordnung (vgl. RH, 2015). Konkludierend lässt sich anmerken, dass nachfolgende Angaben über die Höhe der Richtsätze zwar mit den tatsächlich erhaltenen Leistungen übereinstimmen können, aber nicht müssen.114 113

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Eine Umstellung in Niederösterreich 2017 hatte diesbezüglich einige Verwirrung gestiftet, so wurden auch an Personen im Pensionsalter bzw. mit Arbeitsunfähigkeit Aufforderungen zur gemeinnützigen Hilfstätigkeit verschickt (u.a. Zach, 2017). Eines, in den letzten Jahren von mir interviewte Paar erhielt überhaupt keine österreichische Pensionsleistung, da, obwohl die Ehefrau eine österreichische Staatsbürgerschaft hat, mit dem Land, in welchen beide mehr als 30 Jahre arbeiteten, weiterhin kein Sozialvertrag besteht. Folglich wird die Arbeitszeit in Österreich für die Pension nicht anerkannt und daher kann kein Pensionsanspruch in Österreich geltend gemacht werden. Aufgrund einer kleinen Eigentumswohnung – diese wurde vor Jahren bei einem guten Wechselkurs angeschafft, ist nun aber abgewohnt bzw. akut sanierungsbedürftig – wurde keine Mindestsicherung beantragt, um diese Ressource nicht zu belasten, sondern für zukünftige (wenn auch schon abzeichnende) Pflegekosten bzw. den

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Ausgleichszulage

Sie ist in den Sozialversicherungsgesetzen, wie dem ASVG, welches im Folgenden rezitiert wird, verankert115 und steht PensionsbezieherInnen im Sinne einer akzessorischen Leistung zur Verfügung (vgl. Beck, 2010), wenn „die Pension zuzüglich eines aus übrigen Einkünften des Pensionsberechtigten erwachsenden Nettoeinkommens [...] nicht die Höhe des für ihn geltenden Richtsatzes“ (§ 292 Abs. 1 ASVG idF 2017) erreicht. Die Ausgleichszulage stockt daher das vorhandene Pensionseinkommen unter Berücksichtigung der familialen Situation bei einem gewöhnlichen Inlandsaufenthalt auf (auch Dimmel & Pfeil, 2014, S. 634f.) und bedarf eines eigenen Pensionsanspruches, um überhaupt die Leistung beziehen zu können.116 Der Richtsatz 2018 beträgt 909,42 Euro brutto für eine/n alleinstehende/n PensionsbezieherIn. Im Jahr 2017 wurde zusätzlich die erhöhte Ausgleichszulage (damals 1.000 Euro) eingeführt, welche für 2018 nun 1.022,00 Euro brutto beträgt und für welche 360 Beitragsmonate in der Pflichtversicherung auf Grund einer Erwerbstätigkeit nötig sind. Wichtig ist zu betonen, finden sich in der Literatur unvollständige Darstellungen (u.a. Angel & Kolland, 2011, S. 193), dass hiervon die Krankenversicherung von aktuell 5,1% abzuziehen ist und führt damit zu einer nicht unbeträchtlichen Schmälerung um 46 Euro beim normalen und 52 Euro beim erhöhten Richtsatz.117 Letztendlich sind die Nettorichtsätze von 863,04 Euro und 959,88 Euro für Betroffene im Jahr 2018 relevant;118 eine Auszahlung erfolgt 14 mal im Jahr. Aufgrund der Berechnungsmechanik sind bei mehrfachen Pensionen auch etwas höhere Bezüge – in Richtung Bruttorichtsatz – möglich (siehe für ein Rechenbeispiel RH, 2015, S. 378).119 Im Vergleich zu den weiteren vorgestellten Leistungen ist die Ausgleichszulage keine reine Fürsorgeleistung, sondern lässt sich als

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Umzug in ein Pflegeheim aufzusparen. Um einen Pensionsanspruch zu bekommen, arbeitet die Ehefrau daher weiterhin, denn das Pensionseinkommen aus dem Drittland liegt unter dem Mindeststandard für zwei Personen. Allgemein zeigt sich in den Interviews, dass Personen, welche einen Teil ihrer Erwerbskarriere im Ausland verbracht haben, etwa durch volatile Wechselkurse immer wieder mit Einkünften unter dem Mindeststandard konfrontiert waren bzw. auch weiterhin sein dürften, auch wenn die Ausgleichszulage gewährt wurde. Der Begriff des Mindeststandards wird seiner Bedeutung daher nur bedingt gerecht, gleichwohl vom obersten Gerichtshof dessen Relevanz herausgestrichen wird: „’Not’ [ist] dann gegeben, wenn das Existenzminimum nicht erreicht wird. Der Richtsatz für die Gewährung einer Ausgleichszulage ist jener Betrag, der das Existenzminimum garantiert. Durch die Ausgleichszulage sollen nämlich Leistungen garantiert werden, die dem Rentenberechtigten eine bescheidene Existenz ermöglichen [...]. Der Ausgleichszulagenrichtsatz legt das (konventionelle) Existenzminimum fest“ (OGH 2.4.1998, 2 Ob 99/98t). Die Ausgleichszulage ist bereits seit dem ASVG von 1955 verankert, seit 1971 sind alle Berufsgruppen dazu berechtigt (vgl. RH, 2015, S. 317). Auch unter pensionierten BeamtInnen gibt es mit der Ergänzungszulage ein Pendant zur Ausgleichszulage, welche in Wien von 69 BundesbeamtInnen im Jahr 2016 (BVA – telefonische Korrespondenz) bezogen wurde. Im Schnitt betrug die Ausgleichszulage der PVA 282 Euro im Jahr 2016 (PVA, 2017a, S. 170), wobei zwischen den Pensionsversicherungsanstalten deutliche Unterschiede (am geringsten in der VAEB – Bergbau und am höchsten in der SVB) zu erkennen sind (vgl. RH, 2015, S. 367; bzw. SVA, 2017, S. 125). „Grundsätzlich ist jede gebührende Brutto-Leistung (Pension zuzüglich Ausgleichszulage) um den Krankenversicherungsbeitrag von 5,1% zu vermindern. Lediglich bei Waisenpensionen wird kein Krankenversicherungsbeitrag abgezogen“(PVA, 2018). Auch mit diesen Werten liegt die Ausgleichszulage bereits jetzt unter der aktuellen Armutsgefährdungsschwelle des SILC 2016. Nochmals sei betont, dass es sich genau genommen um Werte für das Jahr 2015 handelt. Geht man von einer ähnlichen Entwicklung der Armutsgefährdungsschwelle in den nächsten Jahren aus, so dürfte die Differenz von circa 2.500 Euro zwischen Ausgleichszulage und Armutsgefährdungsschwelle bestehen bleiben. Vereinfacht gesagt: je geringer die erstanfallende und je höher die zweitanfallende Pension ist, umso näher liegt der Gesamtnettobezug dem Bruttorichtsatz. Dieser Umstand wird aufgrund der Ungleichbehandlung selbstredend problematisch gesehen, erfuhr aber bisher keiner Behebung.

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

Hybrid zwischen dieser und einer Versicherungsleistung bezeichnen (u.a. Binder, 1981).120 Für Beck (2010, S. 20) liegt der wesentlicher Unterschied zu anderen Sozialleistungen in der fehlenden Verpflichtung einer Vermögensverwertung. Tatsächlich trifft dies aber auch nur bedingt auf andere Transfers für altersarme Menschen zu – von zentraler Bedeutung und dem Prinzip gleichwohl folgend sind die Mindestsicherung, Mietbeihilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen (HibL) zu nennen. Während das Vermögen entsprechend keine Rolle bei der Ausgleichszulage spielt, wird im ASVG das Einkommen als Verminderungsgrund festgelegt (u.a. Dimmel & Pfeil, 2014, S. 634), wodurch auch mittels Vermögen erzielte Einkünfte die Ausgleichszulage mindern.121 Es besteht ein Rechtanspruch auf die Ausgleichszulage und wird im Zuge des Pensionsantrages festgestellt, nachträgliche Änderungen sind auf Basis eines Antrages zu berücksichtigen, zudem muss eine sich verändernde Einkommens- bzw. Familiensituation bekanntgegeben werden.

Abbildung 1 – Zahl der AusgleichszulagenbezieherInnen122

Abbildung 1 zeigt die Zahl der AusgleichszulagenbezieherInnen, welche sich von 1973 bis 2013 von circa 380.000 auf 229.000 Menschen reduziert hat. Mit Stand 2016 gab es 211.237 AusgleichszulagenbezieherInnen bei den Versicherungsträgern (SVA, 2017, S. 123). Zwar ging bspw. zwischen 2009 und 2016 die Zahl der AusgleichszulagenbezieherInnen in den Trägern zurück, wobei am deutlichsten mit knapp 23% in der SVA der BäuerInnen und gar 30% in der VA für Eisenbahn und Bergbau (vgl. SVA, 2010, 2017),123 der Rechnungshof schätzt 120

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Wobei je nach AutorIn mal mehr die eine oder andere Seite betont wird: So argumentiert Resch (2000) eher für eine Fürsorgeleistung: „Legt man die im österreichischen Sozialrecht übliche Differenzierung der Einordnung zugrunde (SV, Sozialhilfe und Versorgung), dominieren mE die Elemente für eine fürsorgerechtliche Leistung deutlich. Für eine Versicherungsleistung spricht nur die Einordnung in das PV-Recht (samt dem Umstand, daß der Anspruch nur bei gleichzeitigem Pensionsbezug aus der PV besteht)“. Der Verminderungsgrund stellt für ein paar der interviewten Personen ein nicht unwesentliches Problem dar, da die Ausgleichszulage in den spezifischen Kostenkonstellationen nicht ausreicht, eine geringfügige Anstellung, welche etwa unter körperlichen Gesichtspunkten noch möglich wäre, durch Abzüge in der Mindestsicherung aber kein höheres Einkommen bedingt. Zumindest im Bereich der Geringfügigkeitsgrenze wäre die Ausklammerung aus der Einkommensberechnung sinnvoll, um Schwarzarbeit keinen Vorschub zu leisten. Die Grafik ist von RH (2015, S. 319) entliehen. Davon zu differenzieren sind die absoluten Zahlen, gehören 37.191 AusgleichszulagenbezieherInnen der SVA der BäuerInnen an und 2.087 der VA für Eisenbahn und Bergbau. Der Hauptanteil mit 160.412 Personen

Armut als soziale Beziehung und Reaktion

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aber, dass in Zukunft ein weiteres Absinken der Anzahl der Ausgleichszulagenbezieher nicht selbstverständlich sei, da aufgrund der längeren Durchrechnungszeiträume vermehrt auch Zeiten niedriger Beiträge für die Pensionshöhe zum Tragen kommen (vgl. RH, 2015, S. 324).124 Hiermit wird auf die auch von ForscherInnen (u.a. Karasek, 2013; Mairhuber, 2012) monierte „lebenslange Durchrechnung“ verwiesen, welche zu einer Prekarisierung bei zumindest brüchigen Erwerbskarrieren führen dürfte (vgl. Mayrhuber, 2006). Zudem ist auf die Struktur zu achten, so hat sich bspw. die Zahl der AusgleichszulagenbezieherInnen bei den Angestellten stabilisiert (vgl. SVA, 2017, S. 124) bzw. ist im Zeitraum von 2009 bis 2016 leicht angestiegen. In Zukunft dürfte aufgrund der Veränderungen des Arbeitsmarktes auch mit einer Verlagerung der AusgleichszulagenbezieherInnen in den Angestelltenbereich zu rechnen sein. Abschließend ist zu konstatieren, dass sich die ungleiche Geschlechterverteilung der Altersarmut ebenso im Bezug zur Ausgleichszulage widerspiegelt. 2015 waren knapp 70% aller AusgleichszulagenbezieherInnen der PVA Frauen (siehe Freitag, 2016) – Zahlen zu den anderen Trägern lagen nicht vor bzw. weist die SVA eine Differenzierung nach Geschlecht nicht aus. •

Mindestsicherung in Dauerleistung

Aufgrund des akzessorischen Charakters der Ausgleichszulage auf einen erworbenen Pensionsanspruch, ist der Erhalt dieser nicht selbstverständlich – hierbei dürfte es sich um den markantesten Punkt handeln, welcher das Modell von einer Mindestpension differenziert. Wer nicht zumindest 180 Beitragsmonate gesammelt hat (vgl PVA, 2017b), erhält in Österreich keine Pension und damit keine Ausgleichszulage, selbst wenn der Person entsprechend des kalendarischen Alters keine Arbeitsbereitschaft mehr gesellschaftlich aufoktroyiert wird.125 In solch einem Falle bleibt nur die Möglichkeit, die bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) zu beantragen, wobei es sich in Wien bei Überschreitung des Regelpensionsalters um die modifizierte Variante der Mindestsicherung in Dauerleistung handelt. Allgemein ist die Mindestsicherung ein relativ junger Transfer, sie wurde 2010 eingeführt und ersetzt die deutlich in den Bundesländern auseinanderentwickelte Sozialhilfe auf Basis einer nun bereits wieder abgelaufenen Bund- und Ländervereinbarung nach Art. 15a B-VG (vgl. Dimmel & Pfeil, 2014, S. 638). Wie bereits erwähnt, waren die länderspezifischen Unterschiede aber weder zu Beginn vollständig beseitigt worden und haben sich seit dem Ablauf zunehmend ausgeprägt. Daher nochmals der Verweis, dass hier nur die Situation von Wien dargestellt wird; im Nachfolgenden werden Paragraph 1 und 3 des Wiener Mindestsicherungsgesetztes (WMG idF. 01.01.2018) zitiert, da sie die zentralen Charakteristika der Leistung hervorstreichen: § 1. (1) Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung hat zum Ziel, Armut und soziale Ausschließung verstärkt zu bekämpfen und zu vermeiden sowie die dauerhafte Eingliederung oder Wiedereingliederung in das Erwerbsleben weitest möglich zu fördern.

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rekrutiert sich aus der PVA, obschon diese die meisten Pensionen ausbezahlt, womit anteilsmäßig (rund 8,2%) relativ selten eine Ausgleichszulage bezogen wird. In der SVA der BäuerInnen sind es hingegen 21,4% (siehe SVA, 2017). Auch soll darauf hingewiesen werden, dass sich der Abstand zwischen Ausgleichszulage und Armutsgefährdungsschwelle vergrößert hat – 1997 betrug dieser etwa 10% (vgl. Förster, 2001, S. 200), waren es 2015 circa 17%. Die Reduktion der BezieherInnen ist auch auf eine Zunahme dieser Ungleichheit zurückzuführen bzw. profitierten jene unterproportional von einer allgemeinen Einkommenszunahme. Der 2017 eingeführte, erhöhte Ausgleichszulagenrichtsatz bei 360 Beitragsmonaten müsste die Zahl an BezieherInnen wieder erhöhen. Arbeitszeiten im Ausland werden ja nach Vertragsstatus als Versicherungszeit angerechnet, Leistungen aber nur in Höhe der in Österreich erworbenen Beitragsmonate abgegolten.

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Das doppelte Relativ der Altersarmut

(2) Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung erfolgt durch Zuerkennung von pauschalierten Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs sowie von den bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung erforderlichen Leistungen. Auf diese Leistungen besteht ein Rechtsanspruch. (3) Die Zuerkennung von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ist subsidiär. Sie erfolgt nur, wenn der Mindestbedarf nicht durch Einsatz eigener Arbeitskraft, eigener Mittel oder Leistungen Dritter gedeckt werden kann. § 3. (1) Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung deckt den Mindeststandard in den Bedarfsbereichen Lebensunterhalt, Wohnen, Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung ab. (2) Der Lebensunterhalt umfasst den Bedarf an Nahrung, Bekleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und Energie sowie andere persönliche Bedürfnisse, zu denen auch die soziale und kulturelle Teilhabe zählt. (3) Der Wohnbedarf umfasst den für die Gewährleistung einer angemessenen Wohnsituation erforderlichen Aufwand an Miete, Abgaben und allgemeinen Betriebskosten. Die subsidiär organisierte BMS wird folglich als pauschalierte Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs – allgemein 25% vH des Mindeststandards bzw. 13,5% bei Personen über dem Regelpensionsalters; dieser Teil wird auch „Grundbetrag zu Deckung des Wohnbedarfs“ genannt – gewährt (u.a. Pratscher, 2017b, S. 4) und beträgt für 2018 den Nettobetrag der Ausgleichszulage 863,04 Euro für einen Einpersonenhaushalt.126 Die Auszahlung erfolgt im Normalfall 12-mal im Jahr; Personen über dem Regelpensionsalter erhalten in Wien (in Form der BMS in Dauerleistung) auch Sonderzahlungen, also insgesamt eine 14-malige Auszahlung im Jahr. Die Sonderzahlung wird nicht in jedem österreichischen Bundesland ausbezahlt, womit sich das Jahreseinkommen eines bzw. einer PensionistIn je nach Mindestsicherung und Land zumindest um 1.600 Euro unterscheiden kann. Ein Umstand, welcher selbst unter Bedacht einer per se fehlgeleiteten, nur über die Transferhöhe gesteuerten Lohnabstandsdebatte im Kontext fehlender Verpflichtung der Arbeitsbereitschaft kontradiktorisch erscheint. Anders formuliert wird aktuell die Logik des Arbeitsstimulus an Personen herangetragen, die letzten Endes als dem Arbeitsmarkt fern adressiert sind. Die Paradoxie mündet in einer Ungleichverteilung und weiteren Prekarisierung; noch dazu einer verhältnismäßig kleinen Gruppe (2016 waren 18.541 Personen über 60 (Frauen) bzw. über 65 (Männer) Jahre der insgesamt 307.533 BezieherInnen einer bedarfsorientierten Mindestsicherung127), welche bei einer Gleichbehandlung gegenüber AusgleichszulagenbezieherInnen das staatliche Haushaltsbudget nur wenig belasten würden. Tatsächlich ist ein Großteil jener BMS-BezieherInnen 126

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Der Betrag von 863,04 Euro enthält folglich im Normalfall 215,76 Euro Grundbetrag für den Wohnbedarf, bei älteren Menschen (Regelpensionsalter) fällt der Grundbetrag auf 116,51 Euro. Die Absenkung hat einen positiven Effekt auf die Mietbeihilfe, wie im Späteren noch erörtert wird. Aktuell besteht die Problematik, dass sozialstatistische Merkmale wie das Alter nicht explizit in der Statistik zur bedarfsorientierten Mindestsicherung erhoben werden; es stehen die fünf Kategorien – Alleinstehende, Paare ohne Kinder, Alleinerziehende, Paare mit Kindern und Andere – zur Verfügung. Nur für Alleinstehende und Paare ohne Kinder wird nach den Altersgrenzen: