Kunstphilosophie und Ästhetik: Band III: Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution; Aufklärung und Moderne 3534745183, 9783534745180

Mit Bernhard Brauns Opus Magnum liegt erstmals eine Darstellung der gesamten Geschichte der europäischen Kunstphilosophi

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Kunstphilosophie und Ästhetik: Band III: Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution; Aufklärung und Moderne
 3534745183, 9783534745180

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Band 3
VII: Von der Neuzeitbis zur Französischen Revolution – das 17. und 18. Jahrhundert
1.0. Kontexte
1.1. Der Zerfall des totum – politische Implikationen
1.2. Das Unendliche und das Dynamische – die neue Wissenschaftund die endgültige Entdeckung der Welt
1.3. Mystik und der »Körper« der Kirche
1.4. Klassik und Barock
1.5. Die Kunstlandschaften Europas
1.5.1. Italien
1.5.2. Spanien und Portugal
1.5.3. Frankreich
1.5.4. England
1.5.5. Die Niederlande
1.5.6. Deutschland und Österreich
1.5.7. Russland und Osteuropa
2.0. Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des Rationalismus
2.1. Zur Legitimitätsfrage der Neuzeit
2.2. Der Rationalismus
2.2.1. Die Vertreter des Rationalismus
2.2.2. Gracián und der bon goût
3.0. Struktur des Barock
3.1. Kontexte
3.2. Der Begriff barock
3.3. Dynamik und System – eine Philosophie des Barock
3.4. Die Motive barocker Kunst und Architektur
3.5. »Autoren« barocker Universalsprache
3.6. Ermüdung des Barock und das Rokoko
4.0. Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität
4.1. Die ästhetischen Theorien des Barock
4.2. Barock und Klassizismus
4.2.1. Die Nachahmung der Natur
4.2.2. Die Querelle des Anciens et des Modernes
4.2.3. Die Grand Tour als Voraussetzung des Klassizismus
4.2.4. Positionen des Klassizismus
4.2.4.1. Die Verschiebung des Demiurgischen zur Vernunft in denbildenden Künsten
4.2.4.2. Johann Joachim Winckelmann, Johann Georg Sulzer, GottholdEphraim Lessing und der Streit um die Griechenverehrung
4.2.4.3. Vom Barock zum Klassizismus in der Architektur
4.2.4.3.1. Höhepunkt und Erosion des Klassizismus in Frankreich undEngland
4.2.4.3.2. Die Rückkehr des Klassizismus nach Italien und Spanien
5.0. Der Empirismus
5.1. Philosophische Positionen des Empirismus
5.2. Kunstphilosophische Positionen zwischen Empirismus undRationalismus
5.2.1. Auf dem Weg zur Begründung einer philosophischen Ästhetik
5.2.2. Denis Diderot und der Beginn der Kunstkritik
5.2.3. Alexander Baumgarten und der Beginn der Ästhetik
5.2.4. Edmund Burke und das Erhabene
5.2.5. Das Pittoreske und die Architektur des Gartens
5.2.6. Kunst und Erkenntnis
6.0. Immanuel Kant
6.1. Das Subjekt als Basis der kritischen Philosophie
6.2. Kants kritische praktische Philosophie
6.3. Ästhetik
6.3.1. Das Geschmacksurteil
6.3.2. Das ™sthetische Urteil und das Schöne
6.3.3. Das Erhabene
6.3.4. Die Kunst und das Genie
7.0. Die Aufklärung
7.1. Jean Jacques Rousseau
7.2. Johann Gottfried Herder
VIII. Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert
1.0. Kontexte
1.1. Die Französische Revolution und der Aufstieg Napoleons
1.2. Die Befreiung von Napoleon und die Revolutionen von 1
1.3. Die Idee des Nationalismus in der Politik Europas
2.0. Signaturen des 19. Jahrhunderts
2.1. Die neue Welt der Maschine und die ersten Global Players
2.2. Beschleunigung und Konservierung – Aufbegehren und Rückzug
2.2.1. Dynamisierung
2.2.2. Der Hygiene-Diskurs
3.0. Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur
3.1. Die bildenden Künste
3.1.1. Die traditionellen Genres der bildenden Künste
3.1.2. Die Anfänge der Fotografie
3.2. Die Architektur
3.2.1. Das Ende des Klassizismus
3.2.1.1. Die Erosion der Regelästhetik
3.2.1.2. Die neue Sicht des antiken Erbes
3.2.2. »In welchem Style sollen wir bauen?« – Stile im 19. Jahrhundert
3.2.2.1. Die Pluralisierung der Stile
3.2.2.2. Die Neugotik
3.2.2.3. Die Debatte um die Pluralisierung der Stile
3.2.3. Von der Revolutionsarchitektur zum Funktionalismus
3.2.3.1. Zwischen Philosophie und Ingenieurstechnik
3.2.3.2. Material und Funktion
3.2.3.2.1. John Ruskin
3.2.3.2.2. Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc
3.2.3.2.3. Zwischen Denkmalschutz und Modernisierung
4.0. Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus
4.1. Friedrich Schiller
4.2. Johann Wolfgang von Goethe
5.0. Der Deutsche Idealismus
5.1. Johann Gottlieb Fichte
5.2. Friedrich Wilhelm Josef Schelling
5.2.1. Schellings philosophische Position
5.2.2. Schellings Kunstphilosophie
5.2.3. Das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus
5.3. Georg Friedrich Wilhelm Hegel
5.3.1. Hegels philosophisches Anliegen
5.3.2. Die Ästhetik Hegels
5.3.2.1. Kunst als Vergeistigung des Sinnlichen
5.3.2.2. Kunstschönheit versus Naturschönheit – Philosophieüberflügelt die Kunst
5.3.2.3. Die Freiheit der Kunst und ihr »Ende«
5.3.3. Konsequenzen
6.0. Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff
6.1. Ästhetische Positionen im Umfeld des Deutschen Idealismus
6.1.1. Ästhetik im Liberalismus und Sozialismus des 19. Jahrhunderts
6.1.2. Die Hegel- und Marxrezeption in Russland: Westler gegenSlawophile und die neue Rolle der Ikone
6.1.3. Karl Friedrich Rosenkranz und die Ästhetik des Hässlichen
6.1.4. Arthur Schopenhauer
6.1.5. Friedrich Schleiermacher
6.1.6. Søren Kierkegaard
6.1.7. Friedrich Theodor Vischer
6.2. Ästhetik zwischen Idealismus und Empirismus
6.2.1. Gustav Theodor Fechner
6.2.2. Das Konzept der Einfühlung
7.0. Die Romantik
7.1. Kontexte
7.1.1. Der Begriff Romantik
7.1.2. Das Genie, die Inspiration und die Revolution
7.2. Romantik als ästhetischer Begriff
7.3. Friedrich und August Wilhelm Schlegel
7.4. Romantik in der Kunst
7.4.1. Das Subjekt in der Spannung von Entmächtigung und Ermächtigung
7.4.2. Die Natur als Chiffre der Seele
7.4.3. Die romantische Kunst und Architektur als Wegbereiter der Moderne
7.5. Vormärz und Biedermeier
8.0. Das Ringen um die Moderne
8.1. Nazarener und Präraffaeliten
8.2. Die katholische Kirche und ihr Kampf gegen die Moderne
9.0. Die Moderne
9.1. Topografie der Moderne
9.1.1. Das Transitorische gegen das Finale
9.1.2. Charles Baudelaire
9.1.3. Hippolyte-Adolphe Taine
9.1.4. Paul Valéry
9.2. Die Wege in die Moderne der Kunst
9.2.1. Der Realismus
9.2.2. Der Impressionismus
9.2.3. Der Jugendstil – ein Weg in die Moderne
9.2.3.1. Höhepunkt und Ende der Akademieästhetik
9.2.3.2. Das neue Gesamtkunstwerk
9.2.3.3. Der Jugendstil in der Architektur
10.0. Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein neues Jahrhundert
10.1. Friedrich Nietzsche
10.2. Konrad Fiedler
10.3. Jacob Burckhardt
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Bernhard Braun

Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik

Bernhard Braun

Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik Band 3

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Inhalt 

VII. Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution – das 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.0. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1. Der Zerfall des totum – politische Implikationen . . . . . . . . . . . . . 11 1.2. Das Unendliche und das Dynamische – die neue Wissenschaft und die endgültige Entdeckung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.3. Mystik und der »Körper« der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4. Klassik und Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.5. Die Kunstlandschaften Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.5.1. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.5.2. Spanien und Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.5.3. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.5.4. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.5.5. Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.5.6. Deutschland und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.5.7. Russland und Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.0. Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des Rationalismus . . . . . . . . . 46 2.1. Zur Legitimitätsfrage der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2. Der Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.2.1. Die Vertreter des Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.2.2. Gracián und der bon goût . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.0. Struktur des Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.2. Der Begriff barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.3. Dynamik und System – eine Philosophie des Barock . . . . . . . . . . 74 3.4. Die Motive barocker Kunst und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.5. »Autoren« barocker Universalsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.6. Ermüdung des Barock und das Rokoko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.0. Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.1. Die ästhetischen Theorien des Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.2. Barock und Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.2.1. Die Nachahmung der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.2.2. Die Querelle des Anciens et des Modernes . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.2.3. Die Grand Tour als Voraussetzung des Klassizismus . . . . . . . . . 114 4.2.4. Positionen des Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.2.4.1. Die Verschiebung des Demiurgischen zur Vernunft in den bildenden Künsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Band 3

6

Inhalt

4.2.4.2. Johann Joachim Winckelmann, Johann Georg Sulzer, Gotthold Ephraim Lessing und der Streit um die Griechenverehrung . . . . 125 4.2.4.3. Vom Barock zum Klassizismus in der Architektur . . . . . . . . . . 132 4.2.4.3.1. Höhepunkt und Erosion des Klassizismus in Frankreich und England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4.2.4.3.2. Die Rückkehr des Klassizismus nach Italien und Spanien . . . . 145 5.0. Der Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.1. Philosophische Positionen des Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.2. Kunstphilosophische Positionen zwischen Empirismus und Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.2.1. Auf dem Weg zur Begründung einer philosophischen Ästhetik . . 154 5.2.2. Denis Diderot und der Beginn der Kunstkritik . . . . . . . . . . . . . 161 5.2.3. Alexander Baumgarten und der Beginn der Ästhetik . . . . . . . . . 165 5.2.4. Edmund Burke und das Erhabene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.2.5. Das Pittoreske und die Architektur des Gartens . . . . . . . . . . . . 171 5.2.6. Kunst und Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6.0. Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 6.1. Das Subjekt als Basis der kritischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . 177 6.2. Kants kritische praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.3. Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.3.1. Das Geschmacksurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.3.2. Das ästhetische Urteil und das Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6.3.3. Das Erhabene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.3.4. Die Kunst und das Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 7.0. Die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 7.1. Jean Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 7.2. Johann Gottfried Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

VIII. Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 207 1.0. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 1.1. Die Französische Revolution und der Aufstieg Napoleons . . . . . . 209 1.2. Die Befreiung von Napoleon und die Revolutionen von 1848 . . . . 214 1.3. Die Idee des Nationalismus in der Politik Europas . . . . . . . . . . . . 218 2.0. Signaturen des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2.1. Die neue Welt der Maschine und die ersten Global Players . . . . . . 224 2.2. Beschleunigung und Konservierung – Aufbegehren und Rückzug . . 229 2.2.1. Dynamisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2.2.2. Der Hygiene-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3.0. Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur . . . . 241 3.1. Die bildenden Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.1.1. Die traditionellen Genres der bildenden Künste . . . . . . . . . . . . 244 3.1.2. Die Anfänge der Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 3.2. Die Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

Inhalt

3.2.1. Das Ende des Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3.2.1.1. Die Erosion der Regelästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3.2.1.2. Die neue Sicht des antiken Erbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3.2.2. »In welchem Style sollen wir bauen?« – Stile im 19. Jahrhundert . . 267 3.2.2.1. Die Pluralisierung der Stile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 3.2.2.2. Die Neugotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3.2.2.3. Die Debatte um die Pluralisierung der Stile . . . . . . . . . . . . . . . 276 3.2.3. Von der Revolutionsarchitektur zum Funktionalismus . . . . . . . . 277 3.2.3.1. Zwischen Philosophie und Ingenieurstechnik . . . . . . . . . . . . . 277 3.2.3.2. Material und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3.2.3.2.1. John Ruskin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 3.2.3.2.2. Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 3.2.3.2.3. Zwischen Denkmalschutz und Modernisierung . . . . . . . . . . 289 4.0. Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 4.1. Friedrich Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 4.2. Johann Wolfgang von Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 5.0. Der Deutsche Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 5.1. Johann Gottlieb Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 5.2. Friedrich Wilhelm Josef Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 5.2.1. Schellings philosophische Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5.2.2. Schellings Kunstphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 5.2.3. Das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus . . . . . . . . 316 5.3. Georg Friedrich Wilhelm Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 5.3.1. Hegels philosophisches Anliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 5.3.2. Die Ästhetik Hegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 5.3.2.1. Kunst als Vergeistigung des Sinnlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5.3.2.2. Kunstschönheit versus Naturschönheit – Philosophie überflügelt die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 5.3.2.3. Die Freiheit der Kunst und ihr »Ende« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 5.3.3. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 6.0. Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff . . . . 333 6.1. Ästhetische Positionen im Umfeld des Deutschen Idealismus . . . . 334 6.1.1. Ästhetik im Liberalismus und Sozialismus des 19. Jahrhunderts . . 334 6.1.2. Die Hegel- und Marxrezeption in Russland: Westler gegen Slawophile und die neue Rolle der Ikone . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 6.1.3. Karl Friedrich Rosenkranz und die Ästhetik des Hässlichen . . . . 340 6.1.4. Arthur Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 6.1.5. Friedrich Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 6.1.6. Søren Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 6.1.7. Friedrich Theodor Vischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 6.2. Ästhetik zwischen Idealismus und Empirismus . . . . . . . . . . . . . . 352 6.2.1. Gustav Theodor Fechner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 6.2.2. Das Konzept der Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

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Inhalt

7.0. Die Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 7.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 7.1.1. Der Begriff Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 7.1.2. Das Genie, die Inspiration und die Revolution . . . . . . . . . . . . . 363 7.2. Romantik als ästhetischer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 7.3. Friedrich und August Wilhelm Schlegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 7.4. Romantik in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 7.4.1. Das Subjekt in der Spannung von Entmächtigung und Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 7.4.2. Die Natur als Chiffre der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 7.4.3. Die romantische Kunst und Architektur als Wegbereiter der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 7.5. Vormärz und Biedermeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 8.0. Das Ringen um die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 8.1. Nazarener und Präraffaeliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 8.2. Die katholische Kirche und ihr Kampf gegen die Moderne . . . . . . 389 9.0. Die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 9.1. Topografie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 9.1.1. Das Transitorische gegen das Finale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 9.1.2. Charles Baudelaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 9.1.3. Hippolyte-Adolphe Taine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 9.1.4. Paul Valéry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 9.2. Die Wege in die Moderne der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 9.2.1. Der Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 9.2.2. Der Impressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 9.2.3. Der Jugendstil – ein Weg in die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 9.2.3.1. Höhepunkt und Ende der Akademieästhetik . . . . . . . . . . . . . . 417 9.2.3.2. Das neue Gesamtkunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 9.2.3.3. Der Jugendstil in der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 10.0. Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein neues Jahrhundert . . . . 433 10.1. Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 10.2. Konrad Fiedler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 10.3. Jacob Burckhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

Von der ­Neuzeit VII bis zur ­Französischen ­Revolution – das 17. und 18. Jahrhundert

10 ◀ 460 Santa Maria delle C­ olonne (Fassade 17./18. Jh.); Syrakus

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ist jede Epochenbegrenzung eine strittige Angelegenheit, so erscheint die Festlegung des Beginns der Neuzeit besonders schwierig. Bereits das 15. Jh. gilt mit den Fortschritten in den Wissenschaften, mit seinem Humanismus und mit der Profilierung des Individuums als Achsenzeit. Die Renaissance fand in Italien 1527 ein abruptes Ende: Truppen Karls V. meuterten wegen ausstehender Soldzahlungen und plünderten eigenmächtig die Hauptstadt im Sacco di Roma. Kunstschätze in ungeheurem Ausmaß wurden dabei zerstört. 1494 waren in Florenz die Medici gestürzt worden, die der Renaissance solchen Glanz verliehen hatten. 1530 krönte ein letztes Mal – diesmal in Bologna – ein Pontifex Maximus den Imperator Romanorum, nämlich Karl V. Ende des 16. Jh.s wurde die europäische Peripherie attraktiv. Sevilla, Amsterdam und Antwerpen waren angesagter als Rom, Florenz und Venedig. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – steigerte sich die Magie Roms, was in der Neuzeit in eine geradezu nostalgisch-mythische Verehrung umschlug. Die prägnanten Daten in der Geschichtsschreibung für den Beginn der Neuzeit – ebenso willkürlich wie symbolträchtig – reichen von 1492, der Entdeckung Amerikas, über den Thesenanschlag Luthers 1517 bis zu dem sehr späten Datum 1789, dem Jahr der Französischen Revolution. Geistes- und ideengeschichtlich könnte man, zumal wenn man die Renaissance bis 1600 reichen lässt, den Philosophiehistorikern folgen. Sie versammeln sich einhellig um René Descartes und sein um 1637 im Discours de la Methode formuliertes Motto der Selbstvergewisserung des vernünftigen Subjekts: cogito, ergo sum. Philosophisch liegt dieser programmatischen Losung ein harter Bruch zwischen Natur (res extensa/ausgedehntes Ding) und Verstand (res cogitans/denkendes Ding) zugrunde, den es gewissermaßen hinterher durch eine metaphysische Systemerzählung zu reparieren galt. Descartes war ein Vertreter des Rationalismus, neben dem Empirismus die zweite große philosophische Schule der Neuzeit, jene tendenziell etwas früher als diese anzusetzen. Beide Schulen formulierten den für die europäische Kultur so prägenden und wichtigen Gedanken der Aufklärung. Philosophiegeschichtlich lässt sich die hier betrachtete Periode ohne größere Brüche zusammenfassen, kunsthistorisch umfasst sie so widersprüchliche Stiloptionen wie den Barock und den Klassizismus. Heinrich Wölfflin sah ab 1520 in Rom kein »reines Werk« der Renaissance mehr und ab 1580 könne man mit Fug und Recht vom neuen Stil (des Barock) sprechen. Der Barock hatte eine Lebensdauer von etwa 200 Jahren, verlief sich im Rokoko oder wurde vom Klassizismus abgelöst, der sich freilich längst parallel entwickelt hatte. Verschiedentlich weist man auf eine mit dem Tod Giovanni Lorenzo Berninis im November 1680 verbundene Zäsur hin, die sich nahezu mit der Jahrhundertwende deckt. Es trat eine neue Künstlergeneration an, diesseitsorientierter, aufgeklärter, einerseits von kühler Effizienz, andererseits auch genussorientiert. Heinrich Wölfflin ortete um 1630 einen Mentalitätswandel im Barock selbst. War dieser am Anfang massig und schwer, »hebt sich der Druck allmählich, der Stil wird leichter, fröhlicher und der Schluss ist die spielende Auflösung aller tectoni-

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Kontexte

schen Formen, die wir als Rococo bezeichnen.« Aber auch da ist vieles regional unterschiedlich und für jede Behauptung lassen sich Gegenbeispiele finden. Wollte man spezifische Charakterisierungen für die Jahrhunderte benennen, könnte man das 17. Jh. als eines des emotionalen Barock und das 18. Jh. als eines der Aufklärung und des anhebenden Klassizismus bezeichnen. Beide Bewegungen waren zudem in eigenartiger Weise verbunden mit der Metaerzählung des Rationalismus der frühen Neuzeit.

Wölfflin 1888, 13

1.0. Kontexte Der Zeitabschnitt von der beginnenden Neuzeit bis zum Beginn der Moderne weist also – anders als alle bisherigen Perioden – ein hohes Maß an Gleichzeitigkeit mehrerer kunstphilosophischer und künstlerischer Konzepte auf. Namentlich für das 18. Jh. gilt, was Hanno-Walter Kruft mit Blick auf die Architekturtheorie feststellte: »Es läßt sich ein Nebeneinander verschiedener, zum Teil heterogener Tendenzen beobachten.« Eine der Ursachen dafür lag wohl im Verlust von wenigen, den Takt gebenden Zentren in einem durch den Dreißigjährigen Krieg aufgemischten Europa, in dem sich allmählich die Peripherie zu eigenständigen Landschaften fragmentierte.

Kruft 1985, 170

1.1. Der Zerfall des totum – politische Implikationen In der ersten Hälfte des 17. Jh.s überzogen die vielleicht grausamsten Kriegswirren der Geschichte den Kontinent. Das Drama von Millionen von Toten, von Seuchen und Hungersnöten – verstärkt durch eine »kleine Einzeit« in diesen Jahrzehnten – und einer Soldateska, der es nicht primär um Gesinnung, sondern alleine um Sold und Beute ging, haben Andreas Gryphius in seinem Gedicht von 1636, Tränen des Vaterlandes, und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen in seinem 1669 erschienenen Roman Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch eindrucksvoll beschrieben. Der sogenannte Dreißigjährige Krieg war ein Komplex von nebeneinander und ineinanderlaufenden Kriegen. Kaiser Ferdinand II., dem die Jesuitenlehrer in Ingolstadt die rechte katholische Gesinnung eingeimpft hatten, stieß mit seiner Rekatholisierungsambition als böhmischer König (ab 1619) bei aufständischen Protestanten in Böhmen, die sich um ihre Rechte betrogen fühlten, auf heftigen Widerstand. Am 23. Mai 1618 – mit diesem Jahr lassen die Historiker den Dreißigjährigen Krieg beginnen – warfen sie drei der Statthalter der Habsburger, die ihnen das verbriefte Recht der Errichtung von protestantischen Kirchen entzogen hatten, im Prager Hradschin aus einem Fenster. Die Emissäre landeten (nach immerhin 17 Metern Fall) relativ unbeschadet im Graben. Dieser lächerliche Anlass des »Prager Fenstersturzes« stand am Anfang eines langen und grauenvollen Krieges. Als die böhmischen Protestanten sich – inzwischen gut organisiert – um Bündnispartner in England, Schweden und in den Niederlanden bemühten und den Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz 1619 zum böhmischen König machten (»Winterkönig«), ging Ferdinand militärisch vor. Dieser hatte sich mit Herzog Maximilian I. von Bayern, den er aus den Zeiten

Dreißigjähriger Krieg

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Hubala 1970, 98

Pohl/Vocelka 1992, 220

des gemeinsamen Studiums bei den Jesuiten kannte, verbündet und schlug die Aufständischen in der Schlacht am Weißen Berg vernichtend. Es kam zu Hinrichtungen, Ausweisungen und Konfiskationen von Grund und Boden. Zwar war der Aufstand in Böhmen niedergeschlagen und die Pfalz von einem spanischen Unterstützungsheer erobert, aber die Flucht Friedrichs in die Niederlande vertiefte den Riss quer durch Europa zwischen dem katholischen Spanien und den sich von Spanien abwendenden Niederlanden. Die Sache geriet zu einem europäischen Flächenbrand, bei dem sich naturgemäß mehr und mehr politische Motive, darunter vor allem die Rivalität zwischen den Habsburgern und den Bourbonen, unter die religiösen mischten. Frankreich stand aus diesen Gründen, obwohl katholisch, auf Seite der Protestanten. Die spanischen Habsburger wiederum stärkten die Front gegen Frankreich. Kardinal Richelieu, von Ludwig XIII. 1624 als Leiter des Staatsrates in Frankreich eingesetzt, beteuerte immer wieder, dass er nicht die Kirche, sondern nur die Habsburger angreifen wolle. Solche feinen Differenzierungen wurden in Rom von Papst Urban VIII. (aus dem Geschlecht der Barberini), dem großen Förderer von Kunst und Architektur, gerne vernommen. Dank dem genialen Feldherrn Albrecht von Wallenstein, der 1606 zum Katholizismus übergetreten war, blieb die kaiserliche Armee militärisch erfolgreich und das Reich katholisch. Der Preis dieses Erfolges war hoch. Zahlreiche europäische Kulturzentren, Prag, München, Augsburg, Heidelberg, brachen zusammen. »Um 1630 ist Zentraleuropa kunstgeschichtliche Provinz geworden, nicht nur dort, wo der Krieg tobt, sondern auch im Norden.« 1634 war Wallenstein unter undurchsichtigen Umständen ermordet worden, nachdem ihn Ferdinand auf Druck der Reichsfürsten entlassen hatte. Ihnen war der Kaiser durch Wallensteins Erfolge zu mächtig geworden. 1637 starb Ferdinand II. Sein Sohn wurde im gleichen Jahr als Ferdinand III. Nachfolger. Dieser »unbekannte Habsburger« war eine interessante Erscheinung, hochgebildet – er soll sieben Sprachen beherrscht haben – und feinsinnig. Er komponierte, dichtete und interessierte sich für die Naturwissenschaften. Obwohl von Jesuiten ausgebildet, hatte er nicht viel Sympathie für den Orden. Er hatte auch kein besonderes Interesse am Reich, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf das Haus Österreich. Den geerbten Krieg indes konnte er nicht beenden, zu sehr hatte dieser eine Eigendynamik entwickelt. Zuletzt geriet selbst Wien in Gefahr, als die Stadt von schwedischer Artillerie beschossen wurde. Der schließlich 1648 im Rathaus von Münster ausgehandelte Westfälische Friede, wohl einer der wichtigsten europäischen Friedensschlüsse, tastete zwar das Prinzip des Augsburger Religionsfriedens cuius regio, eius religio (der Herrschende bestimmt die Religion) nicht an, sah aber – sehr zum Ärger Roms – einen großzügigen Schutz für religiöse Minderheiten vor und erkannte die reformierte Lehre nach Calvin und Zwingli als dritte Religion an. Die Aufklärer demgegenüber, unter ihnen Moses Mendelssohn in der Vorrede zur Rettung der Juden (1656), beklagten, dass die Toleranz auf die christlichen Konfessionen eingeschränkt war.

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Kontexte

Die Glaubensspaltung wurde durch den großen Krieg nicht beseitigt, sondern institutionalisiert. Die Habsburger erlaubten in Schlesien den Protestanten den Bau dreier Kirchen, allerdings mit strengen Auflagen. Sie durften nur aus Holz oder Lehm sein und mussten außerhalb der Stadtmauern liegen. Es entstanden die weltweit größten Fachwerkkirchen mit reicher Ausstattung, die sogenannten Friedenskirchen. Die Basilika in Schweidnitz (1657) von Albrecht von Saebisch bot über 7000 Gläubigen Platz. Eine ähnliche Größe hatte die Kirche in Jauer (1656) vom gleichen Baumeister. Die Kirche in Glogau brannte 1758 nieder. Der Friedensschluss von Münster hatte eine neue, gleichsam eine neuzeitliche Qualität. Er war ein »[…] gemeinsam vereinbartes Menschenwerk, im Kompromißwege und nach rationalen Grundsätzen ausgehandelt, […].« Als eine der vielen komplexen Fragen rund um diese Geschehnisse kann jene nach dem Ganzen des Reichs gegenüber den vielen Einzelteilen erwähnt werden. Im Rückblick entpuppte sich der Krieg als ein »Staatsbildungskrieg«, der die kleinen Einheiten stärkte und das totum des Reichs schwächte. Österreich ging leidlich aus dem Ringen hervor. Spanien hatte sich erschöpft. Am besten kam die französisch-schwedische Allianz davon, ebenfalls mit Vorteilen blieben die Niederlande und Friedrich Wilhelm, der bedeutende Kurfürst Brandenburgs, zurück. Es waren nicht die großen alten Fronten, etwa jene zwischen Frankreich und Deutschland, die jetzt die Dynamik aufrecht erhielten, sondern die kleinen innerdeutschen, von der Kleinstaaterei geförderten Rivalitäten. Der Habsburgerkaiser versagte dabei beim Bau einer europäischen Reichseinheit. Auch ihm lag mehr an einem kurzsichtigen österreichischen Sonderinteresse. Der Drang zum Individualismus auf staatlicher Ebene entsprach ganz allgemein der immer prägnanteren Herausbildung des Individuums. Die sich aus verschiedenen Bindungen religiöser oder ständischer Art befreienden bürgerlichen Individuen gerieten untereinander in eine Konkurrenzsituation. »Der viel mißdeutete ›Faustische Mensch‹ in seinem unbändigen Streben ist seinem innersten Wesen nach eine radikal bürgerliche Existenz.« Dieser »Faustische Mensch« zeigte sich nicht nur in den Kriegswirren, sondern in unzähligen Revolutionen und Aufständen, die Europa im 17. Jh. überzogen. Sie waren Ausdruck sozialer, politischer und religiöser Umbrüche, welche die Gesellschaft neu sondierten. Die Profilierung des Individuums rief nicht zuletzt deshalb meist Philosophen auf den Plan, die mit systemischen Antworten dagegenhielten. Auch im 17. Jh. wurden noch etatistische Staatsutopien formuliert. Moderner waren da schon die Antworten der Empiristen auf das erstarkende Individuum. Sie stellten sich diesem Wettbewerb und gaben ihm auf der Basis von Verträgen einen Rahmen. Es war genau dieser Wettbewerb, der im 18. Jh. zu dem bislang größten technischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Entwicklungsschub führte. Wettbewerb, wissenschaftliche Neugier, verbunden mit dem sich befreienden Individuum, waren das Elixier, mit dem sich Europa gegenüber dem »Rest der Welt« ab der frühen Neuzeit eine Sonderstellung erarbeitete. Diese Einschätzung Niall Fergusons kann man nur unterstreichen und noch einen Schritt weiter gehen und im 18. Jh. die beginnende Abnabelung Europas von den orientalischen Quellen sehen. Europa fand nun zu

Mazohl-Wallnig 2005, 132

Pütz Peter in Toman 2009, 9

Revolutionen und Aufstände

Ferguson 2011

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Wandruszka Adam in PWG VII, 449

2.2.1.

Anwachsen der Städte

sich selbst und ergriff – selbstständig und mündig geworden – beherzt die Chance, welche die Geschichte anbot. Am Beginn dieses 18. Jh.s wurden viele Friedensverträge unterzeichnet, die das konfliktreiche 17. Jh. beendeten. Zwar dürfen blutige Erbfolgekriege und der Siebenjährige Krieg (1756–1763), der nach verlustreichen Schlachten zwischen Preußen (mit der Unterstützung Englands) und einer Allianz von Österreich, Frankreich und Russland mit dem status quo ante endete, nicht ausgeblendet werden, zumal man über große und gut ausgerüstete Heere verfügte. Die wissenschaftlich-technische Entwicklung hatte die Militärtechnik vorangetrieben, was das Kriegführen empfindlich verteuerte. Die Kosten überforderten die privaten Kriegsunternehmer, das Ende der Condottieri war eingeläutet. Es wurden erste stehende Heere als Einrichtungen des Staates üblich. Dennoch erfreute sich Europa ab dem Ende des Siebenjährigen Krieges bis zu den Wirren der Französischen Revolution langer drei Jahrzehnte des Friedens. Es war eine Zeit wirtschaftlicher Prosperität, reger Reisetätigkeit durch wachsende Freizügigkeit, reicher Buchproduktion, der Dominanz der sich über ganz Europa ausbreitenden französischen Sprache, kurzum: Der Kontinent war gekennzeichnet durch Weltoffenheit und einen geistigen und kulturellen Kosmopolitismus, wie ihn »[…] Europa seither bis zur Gegenwart nicht wieder erreicht hat.« Dazu beigetragen hat unter anderem die durch die vielfältigen Lasten der zahlreichen Kriege und internen Aufstände des abgelaufenen Jahrhunderts aufgekommene Antikriegsstimmung in der Bevölkerung. Ein Beispiel der Kriegsmüdigkeit ist das Plädoyer des Philosophen und Aufklärers Abbé Charles Irénée de Saint-Pierre für einen dauerhaften Frieden in Europa (Projet pour rendre le paix perpétuelle en Europe; ab 1712). Diese erste neuzeitliche Idee einer Union europäischer Staaten inspirierte Rousseau und Kant und erinnert an die Institutio principis Christiani des Erasmus von Rotterdam, sein Karl V. gewidmetes Handbuch für die Erziehung eines christlichen Weisen und friedfertigen Fürsten. Der verbreitete Wunsch nach dauerhafter Prosperität bemächtigte sich schließlich auch der Herrscherhäuser und die Absicht war, diesen Frieden durch ein ausgeklügeltes Gleichgewichtskonzept der europäischen Mächte abzusichern. Der auf den Schreibtischen von Philosophen ausgebrütete Umgang mit der Dynamik ließ sich für solche politische Ziele vorzüglich nützen. Gestört wurde dieses Gleichgewichtsdenken in der Politik allenfalls durch Mächte außerhalb Kerneuropas wie dem Osmanischen Reich, das seinerseits zu einem Spielball europäischer Politik wurde. Hatten im 17. Jh. Kriege, Hungersnöte und Seuchen die Bevölkerung dezimiert, gab es im 18. Jh., vor allem in der zweiten Hälfte, einen markanten Bevölkerungszuwachs, der durch neue Produktionsverfahren und Wirtschaftssysteme aufgefangen werden konnte. Geld war billig zu haben und löste große Investitionen, damit beständiges Wachstum aus. Die neuen Handelswege lagen auf dem Meer. Sie lösten die beschwerlichen und teuren Routen durch den Orient ab. Vor allem die Städte entwickelten sich rasant, sowohl ihrer Zahl als auch der Einwohnerdichte nach. Die hygienischen Zustände waren durch diese Überbevölkerung freilich nach wie vor ka-

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Kontexte

tastrophal. »Mozarts Wien […] ist seit dem Neubau der Befestigungen im Jahr 1704 eine stickige, übelriechende Siedlung von engen und weitgehend ungepflasterten Gassen geblieben, in deren Dreck Bedienstete und Handwerker aller Art die habsburgische Hofhaltung umschwirren.« Ähnlich war es in Prag. Die Versorgung mit Lebensmitteln und frischem Wasser war mühsam, immer wieder hatte man gegen Hunger zu kämpfen. Infektionskrankheiten, Diebe, Bettler gehörten zum Stadtbild, was aber der guten Stimmung wenig Abbruch tat. Nur die Intellektuellen sahen das Anwachsen der Städte mit Sorge. David Hume etwa glaubte, dass das zeitgenössische London mit seinen etwa 700 000 Einwohnern die natürliche Grenze erreicht habe. Auch Daniel Defoe kommentierte die Expansion der damaligen Megastädte mit Stirnrunzeln. Selbst im 18. Jh. hatten Europas Städte noch nicht die Qualität der Metropolen des spätantiken Orients erreicht. Deshalb begannen große Stadterneuerungen unter barocken Systemgesichtspunkten. Rom hatte diese Ambition bereits im 16. Jh. vorgespurt. Andere Städte folgten 200 Jahre später mit der Begradigung von Straßen, Verbesserung der Infrastruktur, Sicherheit und Hygiene und der Freilegung von Blickachsen für zentrale Bauwerke. Der Hygiene-Diskurs spielte allerdings erst im 19. Jh. eine zentrale Rolle in Architektur und Städtebau. Der antike Komödiendichter Aristophanes spottete in seinem Werk Die Vögel über den fiktiven Stadtplaner Meton, der mit Zirkel und Lineal eine Stadt entwirft: »Im Mittelpunkt liegt der Marktplatz, in den alle geraden Straßen münden, die in diesem Mittelpunkt wie ein Stern zusammenlaufen […].« Lewis Mumford sah hier das Urbild des Stadtplaners und einen abenteuerlichen Einfall des Aristophanes, der »zweitausend Jahre später zur charakteristischen Mode barocken Denkens« wurde. 1753 legte Marc-Antoine Laugier in seinem Essai sur l’architecture ein solches Programm vor.

1.2. Das Unendliche und das Dynamische – die neue Wissenschaft und die ­endgültige Entdeckung der Welt Die aufbrechende Dynamik von Wissenschaft und Technik war der wesentliche Motor, der Europa ab dem 18. Jh. in dem inzwischen globalen Wettbewerb zur führenden Position verhalf. Die Abbildung auf dem Titelblatt von Francis Bacons Magna instauratio, die ein Schiff zeigt, das mit geblähten Segeln, aus den Weiten des Ozeans kommend, die Enge von Gibraltar, die Grenze der alten Welt, durchfährt, ist ein eindrückliches programmatisches Signal für das Selbstverständnis dieser neuen Zeit. Bacons zupackender Optimismus der Unterwerfung der Natur durch den Menschen wurde nun in zunehmender Geschwindigkeit und mit erstaunlichem Erfolg eingelöst. Die Qualität der Wissenschaft hatte sich verändert. Mit der Hinwendung zur mathematischen Beschreibung und zum Experiment im Schoß der beiden philosophischen Schulen der Neuzeit, des Rationalismus und des Empirismus, befreite sich die Wissenschaft aus den magischen Verstrickungen in der Zeit der Renaissance. Der alte Aristotelismus war durch Experimente und Beobachtung (z.B. durch das 1608 in den Niederlanden erfundene Fernrohr) über weite Strecken widerlegt. Die Wis-

Felsner 2010, 33

Rudé 1983, 110

VIII.2.2.2. Aristophanes, zit. nach Mumford 1961, 203

Mumford 1961, 203 4.2.4.3.1.

16

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ferguson 2011, 119 Buchdruck

VI.2.0.

Mathematisierung

Felsner 2010, 83

Astronomie

VI.3.2.

Harrasser 2012, 213

senschaft befreite sich zudem aus dem Gängelband der Kirche. »Während die Erben Osmans in einem Dämmerzustand verharrten, trieben die europäischen Herrscher in der 2. Hälfte des 17. Jh.s die Forschung voran, ohne sich allzu sehr um die Einwände des Klerus zu kümmern.« Eine wichtige Grundlage der neuen Wissensqualität war naturgemäß das gedruckte Buch. Es war nicht nur ein neutraler Kanal der Verbreitung von Wissen, sondern formte die Organisation dieses Wissens mit. Damit einher ging die Ablösung des Lateinischen als Wissenschaftssprache durch Nationalsprachen. Die Scholastik hatte das Latein auf einen formelhaften Kanon reduziert. Es war dadurch besonders für die empirisch gestützte Wissenschaft denkbar ungeeignet. In der frühen Neuzeit war es die Wissenschaft, die sich nicht auf eine, sondern auf eine Mehrzahl von Sprachen stützte. Mit der von Descartes vorbereiteten, von Leibniz und Newton entwickelten Infinitesimalrechnung konnten unendlich kleine Intervalle quantitativ gefasst werden. Der Reiz der Mathematisierung, die jetzt nicht mehr wie im Platonismus eine metaphysische oder mythische Komponente hatte, sondern auf rationalen Kalkülen aufbaute, wurde immer stärker. »Das beginnende 18. Jahrhundert ist durchdrungen von der begeisternden, rauschhaft wahrgenommenen Einsicht, dass die Beschaffenheit der göttlichen Schöpfung und die sie beherrschenden Gesetze allein aus der Mathematik erkannt werden können. Überwunden ist die mittelalterliche Vorstellung, dass jedem Naturding sein Platz im Weltganzen durch seinen Zweck zugewiesen ist, was alle Fragen nach dem Wie notwendig offenlässt.« Die neue mathematische Sicht der Welt setzte das platonische Erbe, die Welt in die Zahl zu übersetzen, um – aber mit Blick auf die instrumentelle und pragmatische Seite. Mitte des 16. Jh.s war die schon in den arabischen Traktaten der Jahrtausendwende verbreitete Ansicht des Kopernikus Allgemeingut geworden, dass nicht die Erde, sondern die Sonne der Mittelpunkt des Kosmos sei. Viel von dem schon lange bekannten astronomischen Wissen wurde erst jetzt, im Zuge der neuen Emanzipation der Wissenschaft in der Renaissance, virulent und bei Galileo Galilei und Johannes Kepler in eine zeitgemäße Astronomie überführt. Über das schwierige Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kirche, wie es sich an der Person Galileo Galilei entzündete, wurde bereits berichtet. Ein besonderer Impuls mag die Entdeckung der Fernwirkung der Gravitation durch Isaac Newton gewesen sein. Gegenüber der bisherigen unmittelbaren Kraftübertragung von Druck und Stoß blickte man nun auf eine Wirkung über weite Distanzen. Diese revolutionäre Entdeckung wurde nur zögernd akzeptiert. Die Bewegungsgesetze der Planeten, die sich in einem durch Dynamik stabilen System befinden, wo sich Zentrifugal- und Zentripetalkräfte kompensieren, gab auch für andere Wissenschaften eine praktikable Folie ab. Pointiert zugespitzt könnte man im Unendlichen und Dynamischen jene Motive sehen, um die sich die Themen der Wissenschaft rankten. Marin Mersenne bemühte sich um den Nachweis eines harmonischen Gefüges für die gesamte Welt und die Gesellschaft. Dies exerzierte er auch in der Musik durch und gelangte 70 Jahre vor Bachs Wohltemperiertem Klavier zu wichtigen Einsichten zur Stimmungslehre. Carl

17

Kontexte

von Linné nahm in seiner Systema Naturae (1735) eine Systematisierung der Pflanzenwelt in Angriff. Descartes’ Anspruch auf ein universales Wissenssystem spiegelt sich im Système de la nature (1770) des Julien Offray La Mettrie, in den physikalischen Schriften Isaac Newtons oder in Blaise Pascals Ordnungssystem. Auch die Erforschung des Blutkreislaufs durch Girolamo Fabrizio d’Acquapendente und seinen Mitarbeiter in Padua, dem Engländer William Harvey, nützte das Paradigma eines dynamisch-stabilen Systems. Solche Ergebnisse der Wissenschaften waren durchaus alarmierend. Otto von Guericke ließ die Welt auf dem Magdeburger Reichstag 1654 mit der Vorführung seines Vakuum-Experiments mit den beiden zusammengefügten Halbkugeln, aus deren Hohlraum er die Luft abgepumpt hatte, erschauern. Erstmals hatte ein Mensch das »Nichts«, wie es vor der Erschaffung der Welt bestand, erzeugt. Prompt schrieb Joseph Priestley, dass die englische Kirchenherrschaft inzwischen vor einer Luftpumpe zittere. Eine Folge der Gasforschung war der erste Heißluftballon der Brüder Joseph Michel und Jacques Étienne Montgolfiere im Juni 1783. Im September desselben Jahres fand der erste Flug einer Montgolfière im Schloss Versailles mit einem Hammel, einem Hahn und einer Ente an Bord statt. König Ludwig XVI. und Marie Antoniette konnten sich mit eigenen Augen überzeugen, dass man Luftreisen mit einer solch »aerostatischen Maschine« machen kann, ohne Schaden zu nehmen. Im November fuhr der erste Mensch auf diese Weise durch den Himmel. Der Himmel gehörte jetzt dem Heißluftballon. Bereits damals sinnierten aufgeklärte Geister, wie Juri Gagarin 300 Jahre später, dass sich im Himmel kein Gott erspähen lasse. Die Wissenschaft war nicht mehr ein Geschäft interesseloser Erkenntnisgewinnung, sondern sie war in technische und Wirtschaftsinteressen eingebunden. »Wissen ist Macht« konstatierte Francis Bacon zutreffend. Als globale Kommunikationsstränge dienten die Seewege, die inzwischen dank fortgeschrittener Schiffs- und Navigationstechnik bekannt und gesichert waren. Es galt, die letzten weißen Flecken der globalen Landkarte zu füllen. Dabei traf sich wissenschaftliche Neugier mit den Interessen der Wirtschaft. James Cook, der bedeutende Kartograph und Navigator, revolutionierte die Seefahrt von Grund auf. Am 3. Juni 1769 beobachtete er auf Tahiti den Sonnendurchgang der Venus. Dadurch konnte der Abstand Erde-Sonne bestimmt werden, von dem sich mit den Keplerschen Gesetzen die Abstände der Planeten im Sonnensystem berechnen ließen. Zugleich entwickelten Wissenschaftler die Zeitbestimmung, sodass Schiffe auf dem ganzen Globus ihren Standort exakt bestimmen konnten. Cook, auf dessen Schiffen regelmäßig Wissenschaftler, Astronomen und Botaniker, mitfuhren, umsegelte und kartographierte Neuseeland und betrat als erster Europäer Australien (Neu-Holland). Er entdeckte Alaska und durchfuhr die Beringstraße. Der große Forscher und Entdecker, dessen Unternehmungen biologische, ethnologische, geographische und wirtschaftliche Forschungsreisen waren, kam durch einen Angriff Eingeborener auf Hawaii ums Leben. Die Entdeckungen wurden ausführlich beschrieben und mittels neuer Drucktechniken vielen Interessierten zugänglich gemacht. Der Kupferstecher und Verleger

Busch 1993, 480

Wissen ist Macht

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Hoppe 2008, 383 Seehandel

Rudé 1983, 77–105

Rykwert 1980, 65 1.5.6.

Kluckert 2008, 202

Matthäus Merian hatte teils aus eigener Hand, teils als Verleger für andere neben bebilderten Bibeln (Merian-Bibel) Reisebücher, geographische und historische Stiche herausgebracht. Sein Hauptwerk, die Topographia Germaniae (1642–1654), enthielt über 2000 Ansichten von Städten, Schlössern und Klöstern. Bei manchen Beschreibungen finden sich Anleihen beim antiken Städtelob. Die Anrainerstaaten der Meere profitierten mit ihren wohl-gehüteten Monopolen am meisten von dieser Entwicklung und sie machten viel Geld im Seehandel. Besonders England hatte die Nase vorne. 1739 überholte der Hafen von London jenen in Amsterdam, der im 17. Jh. der größte Hafen Europas war. Ein gewaltiger Wettbewerb der Handelsflotten nach Ostindien und nach Amerika (mit »Westindien«) fand statt. Seide, Baumwolle, Wein, Öl, getrocknete Früchte, Reis, Zucker, Tee, Kaffee und Gewürze, darunter vor allem Zimt, Gewürznelke, Pfeffer und die Muskatnuss, waren die begehrten Güter, die allein in England des Jahres 1776 auf knapp 10 000 Handelsschiffen, die erstmals bei Lloyd’s registriert waren, transportiert wurden. Wissenschaftler nützten die exotischen Geschäftsreisen und schlossen sich den Delegationen an, die sich in China um Handelsprivilegien mit Europa bemühten. Beide Seiten zogen aus den gemeinsamen Expeditionen Gewinn. Die Wissenschaftler konnten ihre Forschungen vorantreiben, die Geschäftsleute profitierten von der besseren Kenntnis des fremden Handelspartners. Die Ergebnisse der Reisen wurden rege publiziert. Auf diese Weise entstand das erste illustrierte Werk über China von Jan Nieuhoff, das 1665 auf Holländisch und Lateinisch (1669 folgte eine englische Ausgabe mit der als Appendix beigebundenen Zusammenfassung China Monumentis von Athanasius Kircher) in Amsterdam erschien. Fischer von Erlach nützte Nieuhoffs Bericht für seine Darstellung der chinesischen Architektur in seinem monumentalen Entwurf einer Historischen Architektur. Die Exotik dieser neu entdeckten Welt im fernen Orient übte größten Reiz auf das Abendland aus. Jedes größere Stadtpalais plante ein chinesisches Zimmer, pagodenartige Türme gehörten zu einem englischen Garten und die chinesische Ornamentik fand man überall, nicht nur auf Porzellangeschirr, das im 19. Jh. wegen der Verfeinerung der Tischsitten in großen Auflagen in den Manufakturen angefertigt wurde. Das erste europäische Lustgebäude mit chinesischem Dekor soll das 1670 von Le Vau gebaute Trianon de Porcelaine für die Mätresse Ludwig XIV., Madame de Montespan (Françoise de Rochechouart), in Versailles gewesen sein. Für den kontinuierlichen Informationsfluss sorgten nicht zuletzt die vielen Missionare in China, an erster Stelle die Jesuiten. Freilich waren die großen Erfolge auch immer wieder von Rückschlägen und Pleiten begleitet. 1720 ging die englische Südsee-Kompanie an allzu gewagten Spekulationen bankrott. Die großen Verlierer dieser neuen Dynamik aber waren die alten Handelsmetropolen: Venedig, dessen Einwohnerzahl als einzige der größeren Städte im 18. Jh. stagnierte und die norddeutschen Hansestädte.

19

Kontexte

1.3. Mystik und der »Körper« der Kirche Abseits der rational und empirisch betriebenen Wissenschaft setzte sich die Blüte der religiösen Mystik des 16. Jh.s im Gefolge der spirituellen Aufrüstung durch das Konzil von Trient auch im 17. Jh. fort. Es lief eine ungebrochene Linie von der disziplinierenden Mystik des Gründers des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, über Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz, zu Franz von Sales oder Angelus Silesius – mit sehr verschiedenen Spielarten des Mystischen. Neben abgehobener Spiritualisierung wurde der Kult des Fleisches und der Eucharistie des späteren Mittelalters, nach einer Unterbrechung in der platonisch geprägten Renaissance, im Barock wieder lebhaft zelebriert. Das übersteigerte Pathos passte zur alten rhetorischen Regel des delectare et movere, des (emotionalen) Erfreuens und Bewegens, der sich alle Kunst, von der Malerei bis zur Architektur, unterzuordnen hatte. Das Sujet des Schmerzensmanns verbreitete sich in der christlichen Kunst. »[…] in Rom ließ Bernini seine ›sangue di Cristo‹ stechen, einen Heiland am Kreuz, dessen Wundmalen Ströme von Blut entfließen, so daß ein Blutmeer steigt und steigt, das die Sünder reinigen wird.« Besonders in der Volksfrömmigkeit wurde diesem mystischen Körperkult mit allem verfügbaren Kitsch gefrönt. Dazu kam eine morbide Inflation einer ausufernden Vanitas- und memento-mori-Symbolik. Die schwärmerische Frömmigkeit wurde ebenso privatisiert wie in den theologischen Debatten die Profilierung des Individuums eine Rolle spielte. Das spiegelte sich in der schwierigen Frage wider, wie sich Willensfreiheit und göttliche Gnade miteinander vertragen. Die Jesuiten verfochten die Freiheit des Willens. Das aber stand quer zur Meinung vom Primat der göttlichen Gnade, den der überwältigende Teil der bisherigen Theologen, Kirchenväter und sogar Evangelisten, vertreten hatte. Seit Pelagius trieb die Theologie dieses Problem um. Pelagius war 418 auf der Synode von Karthago als Ketzer verurteilt worden, weil er (gegen Augustinus) die Willensfreiheit so stark ausgestattet hatte, dass sie zu einer Bedrohung der Allmacht Gottes wurde. Gegen den Pelagianismus versuchte der spanische Jesuitentheologe Luis de Molina die schwierige Paarung zu versöhnen, indem er lehrte, dass die Gnade nur wirksam sei, wenn der Wille mit ihr zusammenwirke. Der Streit schwelte trotz dem Eintreten des Konzils für die Position Molinas noch lange weiter und wirft ein Schlaglicht auf die Mühe, welche die Kirche mit der Freiheit des Individuums hatte. Mystische Bewegungen bedeuteten auch damals wie generell in der Geschichte zwar eine Kritik an der Institution, an der kirchlich geregelten Frömmigkeit mit der Betonung von Amt und Hierarchie, aber deshalb nicht etwa eine Aufweichung der dogmatischen Strenge der Theologie. Im Gegenteil, mystische Erfahrungen standen für eine direkte Legitimation von Glaubenswahrheiten. Wissenschaft und Theologie galten ebenso wie die Kunst eher als suspekt. Ein aufgeklärter Humanismus hatte gegen ein solches Kirchen- und Theologieverständnis einen schweren Stand. Derartige

461 / 462 Kalvarien­ berg (1550/1738); Pleyben, Bretagne VI.2.0.

V.7.1.

Keller 1971, 12 V.5.3.2.

20

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Bärsch 2017, 70

Sprenger 2006, 174

Hansen 2011, 235f

asketische Züge standen deshalb im Gegensatz zur Weltläufigkeit des humanistisch geprägten, Kunst und Kultur fördernden päpstlichen Hofes. Dies beschwor manchen Konflikt herauf. Trotz der Distanz zur Kunst schuf die mystische Theologie erhebliche pastorale und liturgische Nachfrage nach Kunstwerken und Architektur: Figurengruppen, Behälter für Hostien, Kelche, Patenen, Reliquien und Devotionalien aller Art, Stationswege, Kalvarienberge, heilige Treppen und Brücken, Grabmäler oder Brunnen. All das diente der Sichtbarkeit des (mystischen) Leibes der Kirche. Der Drang nach Superlativen in diesem Bereich war letztlich ein Dienst an Kirche und Gott. »Da liturgische Gefäße aus dem als ärmlich verpönten Zinn oder Kupfer der gewünschten Solemnisierung der Liturgie nicht mehr entsprachen, nahm man nach 1670 zunehmend Geld in die Hand, um versilberte oder vergoldete Kelche, Ziborien und Monstranzen anzuschaffen. Ähnliches gilt für die Paramente […].« Adam Kraft schuf 1493/94 für die Nürnberger Pfarrkirche St. Lorenz ein Sakramentshaus aus Sandstein, das mit einer Höhe von 20 Metern bis ins Gewölbe reichte. Besonders im katholischen Spanien war die Bildhauerkunst eine Manifestation solcher katholischer Propaganda, die keineswegs nur religiösen Absichten diente, sondern auch – in einer Allianz von Thron und Altar – politisch instrumentalisiert werden konnte. Eine in den Achtzigerjahren des 16. Jh.s vom spanischen Kunstschmid Juan de Arfe y Villafane angefertigte Monstranz aus südamerikanischem Silber war über vier Meter hoch und wog 300 Kilogramm. Diese Monstranz ist ein Beispiel dafür, wie man ein »neues Zentrum an der Peripherie« schuf. Arfe publizierte einen Traktat zur Bildhauerkunst und Architektur, in dem er die für die Renaissance typische Ableitung der Proportionen aus dem menschlichen Körper beschrieb. Auch Architekten überboten sich in der Gestaltung des Körpers der Kirche mit Höhepunkten vielleicht im spätbarocken Wirken eines Francisco de Hurtado Izquierdo und seiner Gestaltung des Allerheiligsten (Sagrario) der Kartause von Granada (1702–1720) mit einem mehrgeschossigen, üppig dekorierten Tabernakel. Die Gestaltungen der Kanzeln in der barocken Architektur wiederum dienten der Verkörperung des Wortes. Diese Verkörperungen von Ideen und Erzählungen im Barock sind ein schönes Beispiel, wie Erzählungen einen Wirklichkeitsstatus erhalten und sogar zu Institutionen kristallisieren können.

1.4. Klassik und Barock der Barock

VI.8.0.f.

In Kunst und Architektur hub der letzte flächendeckende europäische Stil an, der Barock. Der Übergang von der Renaissance in den Barock verlief über den Manierismus Ende des 16. Jh.s in Italien. Der Ursprung des Barock lag, wie schon mehrfach betont, in Rom. Ich erinnere an die von Wölfflin genannte Jahreszahl 1580. Aber nicht nur der Ursprung, muss man sich beeilen hinzuzufügen, lag in Rom, sondern auch mancher Höhepunkt, etwa ein solcher der Barockmalerei. Für Deutschland nennt die Kunstgeschichte verbreitet die Jahrhundertmitte des 17. Jh.s als Beginn des Barock. Dem Künstler wurde ein bisher unbekanntes Maß an kreativer Freiheit gegenüber der Vorgabe der Natur eingeräumt. Anders als dann im Klassizismus waren

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Kontexte

jetzt Originalität und Eigenständigkeit gefragt. Das ging Hand in Hand mit einer weiteren Festigung der gesellschaftlichen Stellung des Künstlers. Um die Entstehung des Barock, wo alles aus dem Lot geriet und ekstatisch in die Übersteigerung explodierte, zu erklären, werden gerne ähnliche Ursachen angeführt wie für den Manierismus: die zahlreichen Krisen, der Primat des Genies gegenüber der Naturnachahmung, Sucht nach Originalität und Bruch mit der strengen Regelvorschrift. Auch wenn sich das kulturelle, wirtschaftliche und geopolitische Kraftfeld einerseits an die Atlantikküste, andererseits in den Norden verschoben hatte, wenn neben die römische Wurzel – auch in der Kunst – eine nordische trat, blieb Rom noch lange ein Kraftfeld des Geistes, das über ganz Europa strahlte. Erst ab der Mitte des 18. Jh.s übernahmen Frankreich und England die kulturelle Führung. Stärker als die Renaissance und anders als der einheitliche Manierismus, wurde der Barock ein gesamteuropäisches Phänomen mit reicher stilistischer Differenzierung, ja geradezu eigenständiger Entwicklung von lokalen Prägungen. Was damit gemeint ist, wird deutlich, wenn man die lokale barocke Architektur in Rom, Lecce in Apulien, Noto und Ragusa auf Sizilien, in Santiago de Compostela, Paris, Süddeutschland, Russland, in Skandinavien, jene auf dem Maltesischen Archipel oder gar die Formen in der Neuen Welt (Paraguay, Mexiko, Brasilien) miteinander vergleicht. Diese lokalen Traditionen sind auch in der Bildhauerkunst und der Malerei so prägend, dass es bisweilen leichter fällt, »[…] Bilder des 17. Jahrhunderts als römisch, französisch oder spanisch zu bestimmen, als sie einem Zeitstil zuzuordnen.« Umgekehrt führt das in der Kunstgeschichte immer wieder zu Qualitätsdebatten darüber, inwieweit einzelne Künstlerpersönlichkeiten ihre lokale Tradition gesprengt und eine gesamteuropäische Wirkung erzielt haben. Eine Einschätzung, die jedenfalls für solch herausragende Figuren wie Rubens, Velázquez, Poussin oder Rembrandt gelten mag. In Rom entwarfen die Päpste, angefeuert durch das neue Selbstbewusstsein nach dem Konzil von Trient, die ehrgeizige Vision einer weltumspannenden katholischen Metropole. Die repräsentative barocke Rhetorik der Formen eignete sich sowohl für Sakralgebäude als auch für Stadtpaläste und Villen der Adelsfamilien und Kardinäle. Die skulpturale Kunst ließ sich in den Dienst der Gegenreformation stellen. Sie war besonders geeignet, der Glaubenslehre einen greifbaren Körper zu geben. Der mystische Leib der katholischen Kirche wurde wegen seiner Haptik zu einem

463  San Nicolò (18.  Jh.); Noto, Sizilien 464  Sta. Croce (1695); Lecce 465  Barockkirche; Scicli, Sizilien

Hubala 1970, 12

mystischer Leib

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

VI.2.0.

scheinbar bezwingenden Argument in dem mit der Reformation ausgebrochenen Wettbewerb der Konfessionen. Es war dies ein besonders reizvoller Impuls für die Kunst und spielte auf einer anderen Ebene als auf jener des subtilen mittelalterlichen Bilderstreits. Trotz dieser Anwendbarkeit des Barock für die Gegenreformation kann diese nicht als zentraler Träger oder gar als Auslöser des Barock angesehen werden. In der Musik schufen große Figuren des Protestantismus wie Heinrich Schütz, Georg Friedrich Händel oder Johann Sebastian Bach barocke Kunstwerke und der Barock in bildender Kunst und Architektur blühte auch in protestantischen Gebieten. Ebenso mahnt der Vergleich verschiedener barocker Kulturen, etwa jener von Süddeutschland und Österreich des 18. Jh.s mit Frankreich oder Preußen, zur Vorsicht gegenüber einer solchen Gleichschaltung. Aufklärung und Libertinage hier, Katholizismus mit Jesuitentheologie und üppigem Wallfahrtswesen dort. Hier prallen geradezu unvereinbare Lebensanschauungen unter dem gleichen Kunst- und Kulturstil aufeinander. Freilich schwenkte das aufgeklärte, sich dem Rationalismus und Empirismus öffnende Frankreich bald auf die Linie des Klassizismus ein. Um 1700 hatte der Barockstil den Geruch des Katholischen endgültig verloren. Er war zu einem europäischen Stil geworden, dessen höfische Eleganz und Repräsentationsmetaphorik sich eher mit Friedenshoffnungen verband. Umgekehrt ist auch die Meinung nicht haltbar, dass die Gegenreformation die Entwicklung der bildenden Künste ernsthaft behindert hätte. Selbst in den calvinistischen Niederlanden, wo es einen heftigen Bildersturm gegeben hatte, entwickelte sich die Kunst wieder kräftig. Es war naturgemäß weniger eine sakrale als mehr eine profane Kunst, weil der Bedarf an kirchlichen Kunstwerken nicht mehr groß war. Luther selbst stand der Kunst neutral gegenüber, unterschied sich damit kaum von der Amtskirche. Er verurteilte den Bildersturm 1521 in Wittenberg. Allerdings war er sensibel gegenüber einer Instrumentalisierung der Kunst als Propagandainstrument für die unheilige Allianz von Kirche und Staat. Auch durften Bildern und Geräten keine magischen Kräfte zugeschrieben werden. Sie mussten einzig der Belehrung und Erbauung dienen und durften nicht zur Verehrung missbraucht werden. Und schließlich sollte neben das Bild das Wort treten mit dem Ziel, das Bild letztlich zu ersetzen. Denn das eigentliche Bild war für die Protestanten das durch das Wort evozierte geistige Bild. Trotz dieser Programmatik gab es manche lutheranische Kirche mit so reicher Ausstattung, dass sie ebenso gut von der katholischen Seite hätte verwandt werden können. Werner Hofmann hat vor diesem Hintergrund 1983 mit einer von ihm kuratierten Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle (Luther und die Folgen für die Kunst) eine prägnante These exponiert. Demnach habe Luther durch die Indifferenz gegenüber dem Bild dieses auf eine frühe Rezeptionsästhetik hin befreit und damit Kunst in ihrer eigentlichen Rolle gestärkt. Calvin und Zwingli, die Bilder aus den Kirchen entfernen ließen, hätten damit einen Akt der »Befreiung« solcher Kunst gesetzt. Zudem habe der protestantische Primat des Wortes die Bilder auf den Weg ihrer Entsinnlichung gebracht bis hin zur abstrakten Kunst des 20. Jh.s, während die katho-

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Kontexte

lische Tradition die Grenzüberschreitung inaugurierte, die bis zur Blasphemie, zum Surrealismus oder Wiener Aktionismus reichte. Nicht ganz zu Unrecht hat Günter Rombold mit Hinweis auf die Komplexität der Entwicklung der Kunst die These Hofmanns trotz grundsätzlicher Sympathie für sie relativiert. Die modernen Kunstströmungen sind wohl um einiges differenzierter zu sehen; der Umschlag von abstrakter in sogenannte konkrete Kunst ist ein solches Beispiel. Zudem dürften die Unterschiede in der Bildauffassung zwischen Luther auf der einen und Calvin und Zwingli auf der anderen Seite schärfer gewesen sein als Hofmann das sieht. Für Luther erstreckte sich – anders als bei Calvin und (dem sehr musikalischen und mit sämtlichen Renaissance-Instrumenten vertrauten) Zwingli, die bei ihrer Ablehnung der Bilder blieben – die Freiheit des Christenmenschen letztlich auch auf die Benützung von Bildern. Dieser hat sozusagen auch im Hinblick auf das Bild »das letzte Wort.« Zuletzt regte Luther sogar eine Bebilderung der Bibel mit dem biblia-pauperum-Argument an. Es ist vielleicht erwähnenswert, dass es von Luther etwa fünfhundert zu seinen Lebzeiten gemalte Porträts gibt, während von Zwingli kein einziges unstrittiges erhalten ist. Über Rombold hinausgehend könnte man die bei aller Relativierung bedenkenswerte Überlegung Hofmanns in den größeren Zusammenhang der gegenkulturellen Aspekte von Inkarnation und Pneumatologie im Christentum eingliedern. Eine wichtige Stellung nahm im 18. Jh. das Theater ein: das große Welttheater, das Calderón so meisterhaft literarisch bespielte, und die Commedia dell’arte, das italienische Lebensspiel. Schein und Wirklichkeit gingen ineinander über wie in den damals verbreiteten Spiegelkabinetten oder auch so, wie Architektur und bildende Kunst ineinander flossen. Der preußische Schriftsteller und Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched stieß eine Reform des Theaters an. Das Stegreiftheater sollte durch theatertaugliche Dramentexte und feste Spielstätten mit professionellen Schauspielern abgelöst werden. Er erhielt einige Zeit Unterstützung für sein Anliegen von der Prinzipalin eines Wandertheaters, Caroline Neuber, die – eine bemerkenswerte Neuerung – ihre Schauspieler ausbildete, ihnen eine feste Anstellung gab und sich um eine feste Spielstätte bemühte. 1737 inszenierte sie das Stück Vertreibung des Harlekins, in dem es um die Vertreibung des alten Stegreifklamauks und mit ihm des üblen Rufs, den Schauspieler damals hatten, ging. Die neuen Drucktechniken im Buchdruck stießen analoge Verfahren im Bereich der Kunst an. Im 17. Jh. wurden der Stahlstich und die Radierung entwickelt, mit denen bereits Dürer experimentiert hatte. Sie erlebten ihre große Zeit ein Jahrhundert später. Zuerst dienten sie als Mittel zur Vermarktung von Gemälden. Spätestens mit Rembrandt waren diese Techniken zu einem eigenständigen Genre der Kunst geworden. 1798 erfand der in Prag geborene Schauspieler und Schriftsteller Alois Senefelder die Lithografie (griech. lithos/Stein, graphein/schreiben). Auch sein Interesse war ursprünglich nicht künstlerischer Art, vielmehr suchte er nach einem preiswerten Druckverfahren für Literatur und Musiknoten. Er trug die Zeichnung mit fettreicher Tusche auf Solnhofer Plattenkalk auf, feuchtete die nicht wasserabweisenden Teile der Platte an und brachte Farbe auf, die durch Aufpressen auf ein

Hofmann Werner in Kat. 1983, 47 IX.2.1./IX.5.2.6.4. Rombold 1988, 42ff IX.2.1.1.

Hofmann Werner in Kat. 1983, 50

IV.3.5. Theater

1.5.1.

VI.2.0.

1.5.5.

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Lithografie

Klassik und ­Klassizismus

3.3.

Papierblatt übertragen wurde. Der Name Lithografie für die neue Technik, die Senefelder in seinem Vollständigen Lehrbuch der Steindruckerey (1818) beschrieb, tauchte um 1800 in Frankreich erstmals auf. Erste lithografische Notendrucke stammen von Mozart. Schon bald verwandte man das Verfahren auch für künstlerische Drucke. Das Verfahren erlebte im 19. Jh. einen gewaltigen Aufschwung, weil es wesentlich effizienter war als die mühselige Arbeit an der Kupferplatte. Um die Wende ins 18. Jh. verschob sich das Gewicht nach Frankreich, wo die Kunstakademien ein neues Kunstideal, jenes des Klassizismus, zu verbreiten begannen. Zwar eroberte sich Frankreich dabei die Führungsrolle, doch der Klassizismus lebte von den Rückgriffen auf das antike Erbe Roms und Athens. Der Klassizismus war eine den Barock ablösende neue Stilrichtung. Dennoch riss die Kontinuität der Klassik seit der Renaissance nie ab. Insofern wäre zu überlegen, ob man nicht zwischen einer ursprünglichen Klassik und einem eher romantisch zu nennenden Klassizismus unterscheiden sollte. Ich habe diesen Gedanken in 4.2. näher ausgeführt. Anders als in der Renaissance, wo die einzelnen künstlerischen Disziplinen Abstand voneinander wahrten, fand der Barock seine Stärke in der Versammlung der Künste in einem Gesamtkunstwerk. Auch wenn dieses Konzept in Diskussion geraten ist, wird es häufig verglichen mit einem großen Welttheater. Der besprochene Zeitabschnitt endete mit der Französischen Revolution 1789, einem Ereignis, das einen nachhaltigen Einschnitt und zugleich ein markantes Kennzeichen europäischer Kulturgeschichte darstellt. Kaum irgendwo sonst auf der Welt hat eine kulturelle Region eine derart lange und zugespitzte Aufklärungsgeschichte hinter sich, wie dies Europa geschafft hat.

1.5. Die Kunstlandschaften Europas Wie erwähnt, war der Barock eine europäische, ja darüber hinausgehend sogar eine globale, vielleicht die verbreitetste Stilrichtung der Kulturgeschichte, die zugleich prägnante lokale Traditionen ausbildete. Ein knapper Überblick soll auf die kunstphilosophischen Hintergründe einstimmen.

1.5.1. Italien Die große Tradition Roms, die Blüte der Renaissancekunst, ihre Erschöpfung im Manierismus und der Reichtum des römischen Adels sowie der kirchlichen Würdenträger (nach der Rückkehr der Päpste aus Avignon) machten die Stadt zur Wiege des Barock. Rom war ein Magnet für Künstler und Architekten aus ganz Europa. 1577 war die Accademia Romana delle Arti di Pittura, della Scultura e del Disegno gegründet worden. Zunächst deckte sie sich im Wesentlichen mit der Malerzunft. Im Jahr 1607 erhielt sie die Statuten einer echten Akademie. Sie hatte in dieser Umbruchszeit freilich nicht jene Bedeutung, die später den Akademien in Paris unter Ludwig XIV. zukam. In Rom kippte die Renaissance auf ihrem Höhepunkt in den Barock. Für Heinrich Wölfflin geschah dies in vollem Bewusstsein der Zeitgenossen: »[…] die barocke Stilwandlung muss da beobachtet werden, wo man am besten wusste, was strenge

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Kontexte

Form sei, wo die Auflösung der Form mit höchstem Bewusstsein vollzogen wurde.« Häufig wird an der Errichtung des Kreuzes auf der gerade vollendeten Laterne des Petersdoms 1593 unter dem Vorgänger Pauls, Clemens VIII., die Geburt des barocken Rom festgemacht. Es war ein Symbol der nach dem Konzil von Trient mit großem Machtbewusstsein auftretenden Kirche. Jedenfalls wurde unter dem Borghese-Papst Paul V. und dem am Luganer See geborenen Carlo Maderno, der zwischen 1607 und 1612 Sankt Peter seine (im Bezug zu Michelangelos Kuppel wohl zu breit geratene) Fassade gab, die Behandlung der Baumassen barock. Die Fassade wurde als Spiegel der Kolossalordnung ein dominierendes Element. Um 1630 entstand in Rom die geschwungene Kirchenfassade. In San Carlo alle quattro fontane (1667) von Borromini erreichte für Wölfflin die geschwungene Fassade »das äußerst Mögliche.« In der Ewigen Stadt trennten sich aber auch die Wege von Barock und Klassizismus, in der bildenden Kunst personalisiert im Naturalismus Caravaggios und der klassischen Richtung Carraccis. Die Klassizisten wollten sozusagen eine Renaissance der Renaissance und setzten auf die alte Idee der Harmonie und Proportion. Darauf wird zurückzukommen sein. Neben Rom spielte im 18. Jh. Venedig eine führende Rolle. Zwar verlor die Stadt, wie oben gesagt, an Bedeutung durch die Verschiebung von Handelsvolumen an die Städte der Ost- und Nordsee, aber Venedig blieb weiterhin ein faszinierendes, sich langsam museal verklärendes Juwel mit der alten Blickrichtung in den Orient und ein anregender Boden für Kunst und Architektur – inzwischen auch einer für das Theater und die Oper. Der Paragone der Künste hatte in Italien (genauerhin rund um die Florentiner Camerata) um 1600 zu einer neuen Kunstgattung geführt, die Dichtung (Theater), Musik, Schauspiel, Tanz, Kostüm und Architektur (Bühnenbild) vereinte: die Oper. Erste Werke stammten vom Römer Jacopo Peri und von dem in Cremona geborenen Claudio Monteverdi, der die Wende von der Renaissance in den Barock vollzog. Die Oper wurde ein Exportschlager über Madrid nach Paris und London bis nach Deutschland. Überall sprossen Opernhäuser aus dem Boden. Besonders im Frankreich des 18. Jh.s standen die Künste gleichwertig nebeneinander und verschmolzen in der Oper zu einer Einheit. Die französische Oper erhielt durch den Exil-Italiener Jean-Baptiste Lully einen eigenen Charakter, der gegenüber den in Italien beliebten Sängern Textrezitation und Tänze zuließ. Lully führte eine eigene Akademie, die in Frankreich das Monopol für Opernaufführungen besaß. Ein schonungsloser Spiegel des Niedergangs wurde den Venezianern im Stegreiftheater vorgehalten, der Commedia dell’arte, mit der Figur des heruntergekommenen Kaufmannes Pantalone (ital. pianta leone, dem einst stolzen, jetzt abgewirtschafteten Löwen von San Marco). Die Commedia dell’arte bot dem ohnehin dem colorire verfallenen Venedig zudem die Gelegenheit für eine Rokoko-Ästhetik, etwa jener Art, wie sie der venezianische Dichter Carlo Gozzi prägte.

Wölfflin 1888, 12

466  St. Peter, Fassade; Rom Ebd., 68

4.2.2. 4.0.

die Oper

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Veduten

Felsner 2010, 163

Giovanni Battista Tiepolo schuf als Venezianer ähnlich wie der in Belluno geborene, aber in Venedig wirkende Sebastiano Ricci eine neue Qualität des Umgangs mit Licht und Farbe. Tiepolos grenzüberschreitender Ruf brachte ihm den Auftrag der Ausmalung der Würzburger Residenz ein. Die Fresken zählen zu den Höhepunkten der Malerei des 18. Jh.s. Wie in Rom wurden auch in Venedig Veduten außerordentlich geschätzt. Sie waren beliebte Souvenirs für die zahlreichen Besucher und den europäischen Adel, der sich alljährlich zur Karnevalszeit in der Stadt traf. Die Stadt leistete sich bereits früh eine Straßenbeleuchtung, um die nächtlichen Feste zu zelebrieren, während der Rest Europas im Dunkeln lag. Eine solche Beleuchtung der nächtlichen Stadt wurde durchaus als anstößig empfunden. »Das Licht in der Finsternis ist für viele Europäer ein Affront wider die göttliche Ordnung, die nun einmal die Welt nachts dunkel will, damit Lüsternheit und Verbrechen keinen Raum haben. Venedig gilt auch darum als verruchter, weil für beides idealer Ort.« Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto, war neben seinem Neffen Bernardo Bellotto, der sich ebenfalls den Künstlernamen Canaletto zulegte, und Francesco Guardi, an dem man gerne einen Zug ins Rokoko erkennen will, einer der berühmtesten Vedutenmaler. Canaletto flanierte quer durch Europa, um seine Veduten zu zeichnen und zu malen. Dabei hielt er es mit dem Diktum des Horaz, wonach der Maler gleiche Freiheiten haben sollte wie der Dichter, und entwarf Architekturphantasien, seine Capricci. Sie zeigten Ähnlichkeiten mit Bühnenprospekten; in der Tat war er befreundet mit dem Bühnenbauer Giuseppe Galli-Bibiena, den er in Dresden und Wien traf. Er verbrachte, ähnlich wie Tiepolo, viele Jahre bei den Bewunderern in England und die beiden malten englische Landschaften im feinen Licht des Südens. Sie setzten Normen, die zahlreiche Künstler sich nachzuahmen bemühten.

1.5.2. Spanien und Portugal Spanien

Escorial

Spaniens König Karl I. konnte 1517 endgültig die beiden Reiche Kastilien und Aragon zum Königreich Spanien vereinen und übernahm 1520 als Karl V. die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reichs. Die Habsburger bauten an nichts Geringerem als einem Weltreich. Dieses Reich sollte zudem ein dezidiert katholisches sein. Türken und religiös Andersdenkende wurden unterdrückt. Auch sein Sohn Philipp II. von Spanien verstand sich als Verteidiger der katholischen Sache und fand in Elisabeth I. von England seine Gegnerin. Diese Frontstellung war eine zwischen Katholizismus und der weltlichen Lebensauffassung des Protestantismus. Elisabeth war mehr an der Entwicklung des Landes als an Konfessionsstreitigkeiten gelegen. Zwischen 1563 und 1584 entstand die größte Schlossanlage der frühen Neuzeit, der Escorial (Real Sitio de San Lorenzo de El Escorial/Königlicher Sitz Sankt Laurentius von El Escorial), gebaut von Juan Bautista de Toledo und Juan de Herrera. Vorbild war einerseits Bramantes ursprünglicher Plan für St. Peter in Rom, andererseits der maurische Alcázar (Reales Alcázares de Sevilla). Arabische Einflüsse gab es auch in der Ornamentik, die geradezu ein Charakteristikum der spanischen Architektur wurde. Von Herrera ist bekannt, dass er sich mit Okkultismus beschäftigte, darunter mit den Zahlenspiele-

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Kontexte

reien von Raimundus Lullus. Man kann daher vermutlich auch mathematische Symbolik in die Anlage hineindeuten. Besonders das prominente Auftauchen des Kubus wird in der Literatur angeregt diskutiert. Der Escorial war ein Symbol des Katholizismus. Er bezog sich auf den Sieg Spaniens über Frankreich in der Schlacht bei Saint-Quentin 1557 am 10. August, dem Tag des Hl. Lorenz. Daher war der Grundriss wie ein Rost entworfen, dem Folterwerkzeug nachempfunden, mit dem Lorenz im 3. Jh. das Martyrium erlitten hatte. Gegenreformation, Zentralismus, ungetrennte weltliche und geistliche Macht sind Schlüssel, die dieses Martyriumsmemorial – begonnen im Jahr des Abschlusses des Tridentinischen Konzils – als Bedeutungsträger aufschließen lassen. Zudem wurde der Bau mit dem Salomonischen Tempel verglichen, nicht zuletzt deshalb, weil Philipp II. ein Förderer von Rekonstruktionsversuchen des Tempels war. Zahlreiche Klosterbauten des Barock nahmen sich den Escorial als Vorbild. Klöster wurden wie Residenzen nach dem Vorbild solcher Schlossbauten angelegt. Philipp hinterließ, als er in einem kleinen Zimmer im Escorial starb, ein Riesenreich, zu dem weite Teile Italiens, das ehemalige Burgund, Besitzungen in Afrika, Süd-, Mittel- und Nordamerika (Kalifornien) und in Asien gehörten. Zugleich zehrten die Ausgaben für die (v.a. religiösen) Prestigeprojekte und die zahlreichen Kriege zur Mehrung des Reiches an der Substanz, trieben das Land mehrmals in die Staats­ pleite und 1588 in eine schmerzliche Niederlage gegen England, wobei die gesamte Flotte verloren ging. England hatte sich des schärfsten Rivalen entledigt und stieg zur Weltmacht auf. Aber der Abstieg des Landes wurde noch lange, besonders unter Philipp IV., von einer kulturellen Blüte begleitet, die vom prachtvollen, die Kultur fördernden Königshof ausstrahlte. Der letzte Teil des Goldenen Zeitalters Spaniens (Siglo de Oro) war angebrochen. Das Siglo de Oro umfasste auch die überseeischen Gebiete, das Vizekönigreich Neuspanien (Mexiko und Mittelamerika) und das Vizekönigreich Peru (große Teile Südamerikas). Dort bildeten sich Malerschulen und ganze Malerdynastien (die Ibarra, Echave oder die Juárez) heraus. Im Vordergrund bei ihren Arbeiten standen religiöse Themen und die Porträtmalerei. Ab 1810 erklärten sich die Staaten für unabhängig. In Spanien selbst hatten sich neben Madrid noch andere wichtige kulturelle Zentren etabliert, etwa Sevilla, die Hauptstadt Andalusiens. Mehrere Orden besaßen dort ihre Stützpunkte. Maler wie der am längsten am Caravaggismus festhaltende Francisco de Zurbarán mit seinen unkonventionellen Heiligenbildern und Bartolomé Esteban Murillo, der neben sakralen Bildern auch heitere Genreszene malte, gehörten zur Sevillaner Schule. In Sevilla geboren wurde auch Diego Rodriguez de Silva y Velázquez, der bedeutendste Barockmaler Spaniens. Nach den Anfängen in seiner Geburtsstadt unter dem Einfluss von Caravaggio wurde er auf Empfehlung des Duque de Olivares 1623 Hofmaler Philipps IV. 1629 (ein weiteres Mal 1649) ging er – vermutlich auf Drängen von Rubens, der ihn auf einer diplomatischen Mission in Madrid kennen und schätzen gelernt hatte – nach Italien. Es waren diese Reisen, die ihn zu einem gesamteuropäischen Maler reifen ließen. Juan Bautista Maíno aus dem kastilischen Pastrana, ebenfalls aus dem Umfeld des Hofes, gilt als Wegbereiter

Ashley 1983, 14

Velázquez

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

467  Velázquez, Las Me­ ninas, Ausschnitt; MP

Hellwig 2012

1.3.

des Klassizismus (nach dem Vorbild der Carracci) in Madrid und zugleich als Anhänger des Naturalismus Caravaggios. Aber der Glanz täuschte. Das Land war dermaßen ausgeblutet, dass vielerorts wieder der Tauschhandel Einzug hielt. Missernten und Pestepidemien verschärften die triste Situation noch weiter. Die Hauptstadt Madrid verlor die Anziehungskraft auf Künstler, zumal sie keinen vergleichbaren sozialen Status hatten wie in Italien oder in den Niederlanden. Künstler galten nach wie vor als Handwerker. Mag sein, dass der in Spanien immer noch herrschende mittelalterliche Geist, gepaart mit tiefer Religiosität, dafür verantwortlich war. Während, wie berichtet, in Italien die Signaturen auf den Bildern im 16. und 17. Jh. zurückgingen, wurde in Spanien ebenso wie in den Niederlanden noch eifrig signiert. Karin Hellwig sieht den Grund dafür genau im immer noch bestehenden Handwerkerstatus der Künstler. Velázquez, der Maler von europäischem Rang, war dabei eine Ausnahme. Von seinen rund 120 Gemälden sind nur 10 signiert, darunter die berühmte lange Signatur im Porträt Innozenz’ X. von 1650. Die Kirche war in Spanien nach wie vor die größte Auftraggeberin der Künstler. Immer noch wurden neue Klöster gegründet und reich ausgestattet. Aus diesem Grund gehören die Klosterzyklen des 17. Jh.s in Spanien noch zur europäischen Renaissancemalerei, ja sogar zu deren größten Leistungen. Es wurde bereits auf die Eigenheit spanischer Sakralarchitektur hingewiesen, auf die, teilweise gewaltige Ausmaße erreichenden, Aufbewahrungsbauwerke des Allerheiligsten (Sagrario) oder einer Reliquie (Camarín), die geradezu zu dem sie bergenden Bau in Konkurrenz treten und unnachahmlich den »Körper« der Kirche simulieren. In den riesigen Übersee-Besitzungen Spaniens, von den Philippinen mit ihren Sakral- und Festungsbauten bis zum spanischen Südamerika mit wichtigen Meisterwerken, gibt es zahllose Beispiele einer regen Kunsttätigkeit. In weiten Teilen regten die Jesuiten die Bauwerke an und holten die Baumeister aus Spanien und Zentraleuropa. Gleichzeitig fanden viele Architekturtraktate, darunter Übersetzungen der Klassiker, den Weg über den Atlantik. Nach dem Tod Karls II. endete die Herrschaft der spanischen Habsburger und das Land versank im blutigen Bemühen europäischer Herrscherhäuser, sich ein möglichst großes Stück davon anzueignen. Der Spanische Erbfolgekrieg (1701–1714) und der Nordische Krieg (1700–1721) führten zu einer größeren Neuordnung Europas. Im Frieden von Rastatt und Baden 1714 gingen die Bourbonen mit den meisten Vorteilen aus dem Ringen um das spanische Erbe hervor. Während es im Krieg um Spanien keine großen Sieger und keine wirklichen Verlierer gab, endete der Nordische Krieg um die Vorherrschaft im Nordosten Europas mit einer klaren Niederlage Schwedens und einem Sieg Russlands, das neben Preußen als neuer Machtfaktor in die europäische Geschichte eintrat. Es ging hier nicht um konfessionelle Interessen, sondern um solche von Herrscherhäusern. Die Kluft zwischen den konservativen geistlichen und den auf Machtgewinnung ausgerichteten weltlichen Ständen vergrößerte sich, was den Zusammenhalt des Heiligen Römischen Reiches untergrub und

29

Kontexte

den Souveränitätsanspruch der einzelnen Dynastien steigerte. Selbst die Habsburger betrieben ihre Hausmachtpolitik auf Kosten des Reichs. Das Ringen um nationale Machtansprüche trieb die Nationalstaatswerdung voran. Portugal wusste seine hervorragende strategische Lage für die neue Zeit zu nutzen. Es besaß überseeische Gebiete im fernen Orient, in Brasilien und im Inneren Lateinamerikas. Geprägt wurde der portugiesische Stil, der sich in den abgelegensten Gebieten des Globus findet, von den katholischen Orden der Benediktiner und Jesuiten und lange Zeit von Spanien, unter dessen Königsherrschaft sich Portugal im 16. Jh. stellte. Nach mühsamem Ringen gewann Portugal seine Unabhängigkeit im 17. Jh. zurück. Wie auch in Spanien ist eines der Charakteristiken eine üppige Ornamentierung, die manchmal auf islamische Einflüsse in der Vergangenheit zurückgeführt wird. Lissabon erlitt im 18. Jh. einen besonders intensiv kommentierten Schicksalsschlag. Am Allerheiligentag des Jahres 1755 zerstörten ein Erdbeben, die nachfolgenden Feuer und der vom Erdbeben ausgelöste Tsunami die glänzende Hauptstadt des Weltreichs innerhalb von Minuten vollständig. Diese Katastrophe, die 100 000 Menschen das Leben kostete, wurde von Intellektuellen und Philosophen zum Gegenstand von Reflexionen. Voltaire verspottete die optimistische Rede von der besten aller Welten des Philosophen Leibniz und die Religion. Städtebaulich stand Lissabon nach dieser Katastrophe vor einem Neustart. Es wurde als Rasterstadt mit großen Straßenachsen und Plätzen neu konzipiert und unter Berücksichtigung von Hygiene, Brandschutz, Wasserversorgung und Einheitlichkeit der Architektur erstaunlich schnell wiederaufgebaut. Diese logistische Meisterleistung war vor allem ein Verdienst des zuständigen Ministers José de Carvalho e Melo, des späteren Marquis de Pombal. Zum raschen Wiederaufbau wurden Bauelemente in Serie produziert und in modularer Bauweise ökonomisch verbaut. Die ungewohnte Herausforderung veränderte das Selbstverständnis der Architekten. Die Orientierung an den Vorgaben der Klassiker wich einem neuen Pragmatismus. »Nicht mehr der ›geniale‹, die Wünsche des Fürsten erahnende Künstler wurde gesucht, sondern der Pragmatiker, der Ingenieur, der für die rationale Konzeption, für die professionelle Umsetzung und schließlich für die ›serielle Produktion‹ einer in hohem Grade zweckmäßigen Architektur verantwortlich zeichnete.« Dieses neue Profil deckte sich mit dem Stellenwert, den die Aufklärung in Lissabon einnahm. Die Stadt wurde zu einem Zentrum der Ästhetik der Aufklärung.

Portugal

7.0.

Borngässer Barbara in Toman 2009, 140

1.5.3. Frankreich Frankreichs Glanzzeit, die gewissermaßen jene in Spanien ablöste, kulminierte in der Regierungszeit Ludwigs XIV., die 1643 begann. Gemeinsam mit seinem Berater Jean-Baptiste Colbert verstand Ludwig Architektur und Kunst als Medien zur Widerspiegelung der Macht des absolutistischen Staates. Ähnlich wie im Fall der Kirche dienten auch hier Kunst und Architektur dazu, dem absolutistischen Hof einen Körper zu geben. Bereits unter Heinrich IV. hatte eine Erneuerung von Paris begonnen, nach dem Vorbild von Rom und unter den Vorzeichen der Rationalität. Auch Paris erhielt ein

Erneuerung von Paris

30

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Rudé 1983, 131

Hager 1968, 13 Tapié Victor-Lucien in PWG VII, 296

7.1.

4.2.2.

Akademien

von einem zentralen Punkt (Place Dauphine) ausgehendes Straßensystem im Sinne des Rationalismus, wie ihn einige Jahrzehnte später Leibniz philosophisch formulierte. Diese Ansätze wurden weniger von seinem Nachfolger Ludwig XIII., sehr beherzt aber dann von Ludwig XIV. weitergeführt, der einer der größten Förderer der Kunst in allen ihren Genres gewesen sein dürfte. Frankreich war zur Zeit Ludwigs das bevölkerungsreichste Land und verfügte über das mit Abstand größte Heer in Europa. Im Zuge der Stadterneuerung wurde beinahe ein Drittel der Stadthäuser neu gebaut oder gründlich saniert, Prachtstraßen um den Champs Elisées angelegt, Theater und die Oper errichtet. Ludwig XIV. war der Inbegriff eines Barockfürsten und mit seinem Hof geradezu eine Verkörperung des Systembegriffs von Leibniz. Der König stand wie eine Generalmonade an der Spitze, wie es der ihm (freilich erst zweihundert Jahre später) zugeschriebene Satz L’État, c’est moi! (Der Staat bin ich) treffend ausdrückte. Er verwirklichte die »unité morale, sociale et politique de la France«. Die Legitimität des Königs leitete sich direkt von Gott ab und war – nach Cardin Le Bret, dem Unterstützer Kardinal Richelieus – »ebenso unteilbar wie der Punkt in der Geometrie«. Das goldene Zeitalter Frankreichs glänzte anfangs freilich mehr als zu Ende der Regierungszeit Ludwigs. Es herrschte ein gewaltiges Interesse an Literatur, Philosophie, Wissenschaft und die feingeistige und vornehme französische Kultur verbreitete sich über ganz Europa. Sie hinterließ auch sprachliche Spuren, die sich bis ins 20. Jh. hielten. Der hochkultivierte Hof Ludwigs löste eine kulturkritische Gegenreaktion aus. Jean Jacques Rousseau stilisierte den edlen Wilden und seine einfache Lebensweise gegen die Affektiertheit des Hofes. Diese provokante Umkehrung des Verhältnisses von Hoch- und Primitivkultur basierte auf Rousseaus Absage an jede Kultur, die sich über die Natur erhob. Dem lagen nicht zuletzt die zahlreichen Entdeckungen von »primitiven« Kulturen in den überseeischen Gebieten zugrunde. Bereits bei Michel de Montaigne dienten die Ureinwohner Brasiliens für eine kulturkritische Polemik gegen die europäische adelige Gesellschaft. In Frankreich tobte besonders nachhaltig der Streit zwischen Alten und Modernen. Diese Querelle bildete das Scharnier, das die Renaissance mit dem neuen barocken Stil verband und zugleich davon abhob. Schon das ursprüngliche Verhältnis der Renaissancekünstler zur Nachahmung der Antike barg den bekannten Streit in sich. Dieser erhielt im 17. Jh. durch das von Renè Descartes formulierte Selbstbewusstsein des vernünftigen Subjekts einen neuen Schub. Gemeinhin galten die Italiener als treue Vertreter der Klassik. Ihr Programm wurde in den französischen Akademien hochgerüstet und vermeintliche Abweichler wurden bekämpft. Frankreich war der Ort der Akademien. 1635 gründete Richelieu, einer der vehementesten Zentralisten, die Académie français für Literatur, die als Wächterin über die französische Sprache fungierte. 1648 war die Akademie für Malerei und Bildhauerei entstanden, die Académie Royale de Peinture et de Sculpture. 1661 ließ der begeisterte Tänzer Ludwig die Académie Royal de Danse errichten. Das war die Geburtsstunde des klassischen Tanzes, in dem ebenfalls – wie in der Bildhauerei – die klassischen

31

Kontexte

Formen umgesetzt wurden. Hundert Jahre später bedrängten außerhalb der Akademie entstandene Reformbestrebungen die Akademiedoktrin. Der Tanz sollte eine erzählerische Komponente erhalten, nicht zuletzt um damit in den Paragone der Künste einzusteigen. Dieser Paradigmenwechsel erlöste die Körper der Tänzer und Tänzerinnen aus ihrer klassischen Starre. 1666 wurde die Académie royale de Musique gegründet. Drei Jahre später folgte die Académie Royale des Sciences. Die Wissenschaft war inzwischen eine angesehene Institution. Die Herrscher umgaben sich gerne mit Wissenschaftlern. An der Wissenschafts-Akademie wurden auch die theoretischen Grundlagen des Festungsbaus gelehrt. Die Militärarchitektur hatte sich im 17. Jh. von der Zivilarchitektur getrennt, zu sehr erforderten die Fortschritte der Militärtechnik eine eigenständige Behandlung solcher Bauten. Aus der Militärarchitektur leitete sich der Titel Ingenieur ab und eine größere Zahl von speziellen Schulen wie die 1748 entstandene und für den Festungsbau zuständige École du Génie entstanden in den folgenden Jahrzehnten. 1671 schließlich gründete Colbert die Académie Royale d’Architecture, die erste theoretische Einrichtung ausschließlich für die Architektur. 1666 wurde eine französische Akademie in Rom gegründet, die Académie de France à Rome, eine augenscheinliche Demonstration der erfolgten Verschiebung kultureller Kompetenz von Italien nach Frankreich. Die klassische Akademieästhetik war eine Sache geworden, für die vor allem Paris als »zweites Rom« – ausgestattet mit theoretischer Hochrüstung der Renaissancetheorien – verantwortlich zeichnete. Die Akademien in Frankreich waren politisch instrumentalisiert und begünstigten die Künstler im Dienst des Königs gegenüber jenen in den freien Zünften. Das gewährte Künstlern und Architekten zwar eine hohe soziale Stellung, andererseits sicherte sich der Staat über ein enges Regelwerk und durch die Berufung von Mitgliedern und Direktoren die Kontrolle über Kunst und Wissenschaft. Institutionalisierung ist dabei in doppeltem Verständnis von »behördlicher Organisation und Verhaltensroutine« zu verstehen. In der einschlägigen Forschungsliteratur ging man lange davon aus, dass das klassizistische Stilideal als Instrument diente, »um Anspruch, Macht und Ruhm des Königs sichtbar werden zu lassen […].« Gesucht wurde nach einer Generalregel (ordre général) als Ausdruck einer universellen Schönheit (beauté universelle). Neuere Forschungen, insbesondere die ebenso verdienstvolle wie außerordentlich aufwendige Herausgabe der Konferenzprotokolle der Akademie, haben indes diese Meinung relativiert. Demnach waren die Diskussionen in der Akademie erstaunlich offen und kritisch. Insgesamt waren die Akademien eine Erfolgsgeschichte. Sie waren Ausbildungsstätten und übten beratende Tätigkeiten aus. Als Horte von Regeln, Disziplin und Ordnung waren sie cartesianisch grundiert. Rationale Grundlage für die Schönheit war die Geometrie. Diese wiederum basierte auf einer normativen Antikenverehrung, die unter ausdrücklicher Auslassung des Mittelalters von Vitruv bis in die Renaissance reichte. Die Architekturakademie gab die Diskussionsergebnisse in Form von Resolutionen einer normierten Ästhetik heraus, immer auch verstanden als ausdrückliche National-Ästhetik. Colbert hatte gar 1671 einen Wettbewerb für

Erben 2012, 114

Ebd., 106 Pochat 1996, 352

Conférences 2007 etc.

32

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Kruft 1985, 145f

Burbaum 2003, 50

3.6.

3.4. Versailles

468  Schloss Versailles, Spiegelsaal; Paris

Alewyn 1959

Grönert Alexander in ATh, 158

die Entwicklung einer französischen Ordnung ausgeschrieben, den er selbst gewann. In jedem Fall stärkten die Akademien den Kunst- und Architekturstandort Frankreich gegenüber der alten Konkurrenz Italien erheblich. Ludwig XIV. ließ gegen Ende seiner Regierungszeit mehr und mehr Distanz zur rigorosen Strenge der Akademiemalerei erkennen und forderte eine heiterere Kunst. Maler wie Jean-Antoine Watteau kamen diesem Wunsch entgegen. Watteau malte die üppigen Feste des Barock und fing das Lebensgefühl der Zeit ein. Er traf den Geschmack der vornehmen Gesellschaft in Paris ebenso wie eine Generation später Jean-Honoré Fragonard. Beide gelten als Maler des Rokoko, die aus dem Regelkanon der Akademie ausbrachen. Blieben die Akademien eher der Theorie verhaftet, fand die praktische Arbeit in den staatlichen Werkstätten (gobelins) statt. In ihnen wurden auch die einzelnen Kunstrichtungen koordiniert, was zur erfolgreichen Umsetzung jenes »Gesamtkunstwerks« führte, das den Barock auszeichnet, auch wenn in der Zunft der Kunsthistorikerinnen an dem aus der Romantik stammenden Begriff einige Kritik geübt wird. Beispielgebend für ein solches Gesamtkunstwerk ist die Anlage von Versailles. Sie wurde in ganz Europa zu einem Synonym für unendliche Macht­fülle, Prunk und künstlerische Genialität. Ursprünglich ein kleines Jagdschloss seines Vaters in sumpfiger Gegend, ließ es der König durch die Architekten Louis Le Vau und Jules Hardouin-Mansart, den Maler und zeitweisen Direktor der Akademie Charles Le Brun und den Gartenbaumeister André Le Nôtre Stück für Stück in neuem Glanz erstehen. Der Glanz kostete Hunderten von Arbeitern das Leben und brachte Frankreich an den Rand des finanziellen Ruins. Das Team (noch ohne Hardouin-Mansart) hatte sich durch das Schloss Vaux-le-Vicomte (1656–1661) empfohlen, das sich Staatsminister Nicolas Fouquet bei Melun hatte bauen lassen. Am 17. August 1661 wurde es unter den Auspizien König Ludwigs XIV. mit einem gewaltigen Fest eröffnet – mit allen Ingredienzien eines solchen barocken Ereignisses: Musik, Ballett, Theater, Feuerwerk, das Festmahl auf Silbergeschirr, alles in der von Le Nôtre angelegten Gartenanlage im Licht tausender Fackeln zwischen Wasserspielen und phantasievollen Pflanzenarrangements. Es war in der Tat das, was Pedro Calderón de la Barca 1655 in seinem allegorischen Schauspiel das »große Welttheater« (El gran teatro del mundo) genannt hatte und wo man in all der Pracht auch auf die Vergänglichkeit stieß. Solche Feste waren neben Theateraufführungen in der Barockzeit nicht zuletzt eine Gelegenheit, absolute Herrschaftsansprüche zu kommunizieren. Sie eröffneten einen Markt für Künstlerarchitekten zur Gestaltung und Organisation solcher »Events«. Giuseppe Galli Bibiena war kaiserlicher Theateringenieur am Wiener Hof Karls VI. und beschrieb in einem einschlägigen Traktat (Architettura e Prospettive) phantasievolle Szenographien für alle möglichen Anlässe, von den apparati funebri bis zu den teatri sacri. Die Anlage Fouquets war der im Barock übliche Rahmen für Humanismus und Kunstsinn des Hausherrn. Der Minister versammelte führende Dichter, Kom-

33

Kontexte

ponisten und Künstler um sich, besaß eine Bibliothek, eine Gemälde- und Skulpturensammlung, Schmuck und Antiquitäten. Der von Le Nôtre gestaltete Garten gehörte in die Tradition des französischen Barockgartens, der als Neuinterpretation der italienischen villegiatura bis zum englischen Landschaftsgarten des 18. Jh.s in Europa den neuen Ton angab. Le Nôtre, dessen Vater bereits jardinier en chef du roi war, hatte 1679 Italien bereist. Vorbild für seine Vorstellung von der Gartengestaltung waren die in den Gemälden von Lorrain und Poussin ausgedrückte Fernwirkung sowie die dargestellten antiken Gebäude. Ein schönes Beispiel hat Ehrenfried Kluckert gefunden, wenn er auf die Ähnlichkeit des (freilich englischen) Gartens von Henry Hoare in Stourhead mit dem Bild von Claude Lorrain Äneas auf Delos von 1672 hinweist.

Muscheler 2009, 157ff

Kluckert Ehrenfried in Toman 2009, 231f Kluckert 2008, 365–368

469 / 470 Gartenan­ lage, Villa d’Este; Tivoli

Um 1800 gab es bei Landschaftsliebhabern die Mode, mit einem »Claude-Glas« durch die Landschaft zu wandern. Dies war ein grauer konvexer Spiegel, in dem man die Landschaft im Rücken betrachtete. Leicht verschwommen und in einem Ausschnitt erschien sie im Spiegel wie ein Gemälde von Claude Lorrain. Der französische Garten wurde durch den Naturhistoriker Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville aus Paris theoretisch normiert. Seine Théorie et la Pratique du Jardinage (1709) war ein mehrfach aufgelegter und übersetzer Bestseller zur Gartentheorie des 18. Jh.s. Er beschrieb darin die Grundlagen eines gelungenen Gartens, hielt es für essentiell, dass man den Blick ungestört in den unendlichen Raum richten können müsse und dass sich die Kunst der Natur unterordne. Er gab auch Anleitungen zum Schnitt von Bäumen und Büschen, was man seit Plinius opus topiarium, die Kunst des Formschnitts (Topiari), nannte. Grundsätzlich entwickelte sich die Gartentheorie analog zur Architekturtheorie. »Der italienische und französische Garten des 16. und 17. Jahrhunderts war ein geometrisch angelegter Garten, der architektonische Gesetze auf die Bepflanzung anzuwenden suchte und Innenraumvorstellungen auf den Außenraum übertrug.« Die Prachtentfaltung von Vaux-le-Vicomte des Fouquet war für Ludwig XIV. eine Anmaßung einer allein dem König zustehenden Selbstdarstellung. Mit dem rau-

Tabarasi 2007, 59

Kruft 1985, 292

34

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Borngässer Barbara in Toman 2002, 80 Kluckert 2008, 192

Ebd., 192

Keller 1971, 73

schenden Fest von 1661 hatte Fouquet offenbar eine rote Linie überschritten. Ludwig ließ ihn verhaften und betrieb seine Verurteilung zu lebenslanger Haft wegen angeblicher Veruntreuung. Vaux-le-Vicomte wurde geplündert und Ludwig – und es war wohl tatsächlich sein persönlicher Einfluss auf die Gestaltung des Baus – realisierte seine Residenz in Versailles. Es entstand eine Schlossanlage, die als Höhepunkt des Schlossbaus gelten kann und in ganz Europa zum vielfach kopierten Prototyp wurde, meist als architektonisches Zeichen einer »perfekten Inszenierung absolutistischer Herrschaft […].« Versailles verstand sich »zugleich als Abbreviatur eines neuen Raumsystems, als Bedeutungsträger für eine neue Staats- und sogar Weltordnung.« Im Schlossgarten von Versailles hatten Bildhauer wie François Girardon, Gilles Guérin, Jean-Baptiste Tuby, Balthasar und Gaspard Marsy und Antoine Coyevox weit in den Mythenvorrat der Antike gegriffen, um Parabeln für den Sonnenkönig zu kreieren. Inmitten dieser gigantischen Bühne agierte Ludwig in einer skurrilen Schauspieler-Rolle als Sonne. Sein Hof war Abbild des Kosmos, er selbst schlüpfte in Verkleidungen von Apoll und Jupiter. Sein gesamtes Leben spielte sich im Gleichklang der Sonne nach einem genauen Protokoll und in ständiger Präsenz des Hofstaates ab. Man partizipierte an der Sonne, wie es der Pharao in Ägypten praktiziert hatte. Man tut sich schwer, an den Ernst dieser Sache, wo jede Handlung symbolisch aufgeladen war, zu glauben. War dies alles nicht vielmehr ein großes Spiel, ein Theater und zeigte damit den Weg zu einer Ästhetisierung der Kunst, welche die Rückbindung an eine ontologische Basis mehr und mehr verlor? Dies auch wenn der König durchaus die Botschaft in die Welt senden wollte, »sich als neues Haupt einer christlichen Welt darzustellen […].« Die geometrische rationalistische Anlage des Schlossgartens von Versailles spielte vermutlich in der Konzeption des Regierungsbezirks der 1790 gegründeten und nach dem ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten benannten Hauptstadt Washington durch den in Versailles geborenen Pierre Charles L’Enfant eine vorbildliche Rolle. Gleichzeitig verlor in Frankreich der Mythos Versailles erstaunlich rasch an Attraktivität. Im 18. Jh. suchten die Fürsten eine intimere Architektur. Sie knüpften an der Form des Stadtpalais an. Louis de Rouvroy, der in Versailles geborene Herzog von Saint-Simon, qualifizierte die Anlage als geschmacklos. Er fühlte sich von der »Vergewaltigung der Natur« abgestoßen. Das zeigt, wie sehr sich die Kunst um die Jahrhundertwende ins 18. Jh. veränderte. Die Regulierung von Kunst und Architektur durch die staatliche Aufsicht begann zu erodieren, der künstlerische Regelkanon verlor an Attraktivität. Wiederum schielte man auf das Unregelmäßige, Asymmetrische, Überladene. Es bildete sich der Dekorstil des Barock, das Rokoko, heraus. Dass dieses Rokoko möglicherweise bereits eine Ästhetisierung der Kunst bedeutete und damit den ersten langen Schatten der Moderne warf, ist eine interessante These und soll im Kapitel 3.6. ausführlicher gewürdigt werden. Hier bleibt nur festzuhalten, dass diesen Vorgang einzelne Ereignisse katalytisch begünstigt haben mögen. Im 18. Jh. waren die Glaubenskämpfe weitgehend überwunden. Die Aufklärung wurde öffentliche Meinung und richtete sich gegen die Reste religiöser Verfolgung.

35

Kontexte

Voltaire goss seinen Spott über emotionale Frömmelei aus. Im gleichen Atemzug, in dem die religiöse Kunst zurückging, gewann die pagane Mythologie an Boden. Religiöse Motive und pagane Mythologie sind in der Tat (und bereits seit dem Mittelalter) »kommunizierende Röhren.« Frankreichs kulturelle Vormachtstellung geriet um die Jahrhundertwende ins Wanken. 1715 starb der Sonnenkönig. Dennoch gab das Französische in Kultur und Lebensstil noch lange den Takt an. Es war aber eine veränderte Melodie. In das absolutistische Barockidyll mischten sich aufklärerische Töne. Kardinal André-Hercule de Fleury war neben Ludwig XV. der starke Mann im Staat und verfolgte eineinhalb Jahrzehnte lang eine tolerante, aufgeklärte und auf Frieden bedachte Politik. Prägnantere Botschaften sandten Figuren wie der Aufklärer und Polemiker gegen das ancient regime, Pierre Bayle aus dem Amsterdamer Exil oder Julien de La Mettrie, ein offenkundiger Atheist, der in Preußen Zuflucht fand. Mit dem Entgleiten der Kontrolle über die Kunst verschob sich der Brennpunkt des kulturellen Lebens vom Hof in Versailles, der schließlich verfiel, zu den Salons in Paris. Überall, ob in Architektur und Ausstattung dieser Salons, wie auch in der Malerei, waren die Sitten freier und ungebundener. Eine Folge der Erosion staatlicher Aufsicht über die Regelwerke der Akademie war eine pragmatische und technische Ausrichtung des Bauwesens. Auch hier setzte Paris noch Maßstäbe in der Gründung neuer Schulen. Sie deckten alle Sparten der technischen Ingenieurskunst ab: 1718 entstand die École des Ingénieurs, 1747 die École royale des ponts et chaussées, 1765 die École du génie marin, 1783 die École des Mines und 1794 die École Polyetchnique. Frankreichs enorme Attraktivität im 18. Jh., durch die es Italien den Rang abgelaufen hatte, strahlte vor allem nach England aus, von wo aus vieles wiederum auf das Festland zurückreflektiert wurde.

1.5.4. England England profitierte von seiner Lage am Atlantik. Lange Zeit an den Rand gedrängt, fand es sich plötzlich in vorderster Position und rivalisierte mit alteingesessenen Ländern wie Spanien und Portugal um Interessenssphären in Übersee. Die Zeit Heinrich VIII., der in der Forschungsliteratur sehr divergierende Einschätzungen erfährt, war aufregend. Weil der Vatikan die Auflösung seiner Ehe verweigerte, spaltete er die Kirche in England von der römischen ab und gründete sie als anglikanische Kirche neu. Die Regierungszeit seiner Tochter aus zweiter Ehe, Elisabeth I., ging als Elisabethanisches Zeitalter in die Geschichte ein. Diese zweite Hälfte des 16. Jh.s war eine Zeit politischer Stärke und kultureller Blüte. Die zahlreichen Theater mit den ersten Berufsschauspielern an stehenden Häusern, die sich formierten, waren nicht mehr an religiöse Themen gebunden. Geerdet mit dem um sich greifenden Empirismus, konnte die ganze Breite des Lebens auf die Bühne gebracht werden. William Shakespeare war der genialste Umsetzer dieser neuen Sicht auf die Welt. Neben ihm brillierten Christopher Marlowe oder Ben Jonson. Um die Mitte des 17. Jh.s hatten freilich die sittenstrengen Puritaner den sündigen Theatern wieder den Garaus gemacht und die Kultur unter ihrer verqueren Ideologie erstickt.

Ebd., 13

die Salons

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Kruft 1985, 370

Dynamischer als die Kultur entwickelte sich das wirtschaftliche Leben. Der protestantische Geist Englands, der Erfolg als Zeichen göttlichen Segens adelte, war ein wesentlicher Katalysator des entstehenden kapitalistischen Systems. England veränderte sich von einem altertümlich regierten Königreich mit Ackerbau und Textilwirtschaft zu einer kapitalistischen Oligarchie, mit Überseehandel und starker wirtschaftlicher Macht, die zunehmend die militärische Stärke ergänzte. Ende des 18. Jh.s begann in England als dem ersten Land Europas die industrielle Revolution. Der kapitalistische Geist hielt sich bis ins 19. Jh. und bildete den Nährboden für die sozial-revolutionären Bewegungen. Dazu kam ein Umbau des politischen Systems. In einer friedlichen Revolution wurde aus einer absolutistischen eine konstitutionelle Monarchie. Dies war eine Wende, die man überall in Europa ab der Mitte des 17. Jh.s (nach)vollzog. 1776 verlor England dreizehn Übersee-Kolonien, deren teilweise ungeregelte Ausdehnung nach Westen Kriege gegen die Ureinwohner und gegen die zweite amerikanische Kolonialmacht Frankreich nach sich zog. Es waren europäische Stellvertreterkriege. England konnte Frankreich auf kleine Gebiete zurückdrängen, wollte weitere Kriege gegen die ansässige Bevölkerung aber vermeiden. Frankreich wurde von den Kriegskosten in den Bankrott getrieben – eine der Ursachen für die Revolution 1789 – und England geriet bei den Siedlern in Verruf. Diese erkämpften sich schließlich die Unabhängigkeit, die am 4. Juli 1776 ausgerufen wurde. 1787 wurde in Philadelphia die älteste einer heute noch gültigen republikanischen Staatsverfassung unterzeichnet, jene der Vereinigten Staaten von Amerika. Erster Präsident eines noch bescheidenen Landes mit wenig Geld, fehlendem Bankwesen, schlechter Infrastruktur und praktisch ohne Bildungseinrichtungen wurde George Washington. 1666 hatte ein Brand große Teile Londons vernichtet. Der Wiederaufbau bescherte der Hauptstadt in der St. Paul’s Cathedral (1675–1711) die erste Kuppel durch Christopher Wren, der 1665 in Paris mit Bernini zusammengetroffen war und sich bei seinem Bau an Michelangelos Entwurf des Petersdoms orientierte. Mit Wren setzte sich der römische Renaissance-Klassizismus, jetzt ins Barocke weitergeführt, in England durch. Auch in den Neuengland-Staaten wurden Wrens Kirchen gerne nachgeahmt. Grundsätzlich gilt allerdings, dass trotz der führenden Rolle, die England bei der Entdeckung der Antike spielte, es zu keinem ausdrücklichen Klassizismus kam. »Die allzu wörtlichen Kopien griechischer Monumente durch James Stuart waren im ›Pittoresken‹ steckengeblieben; dies gilt auch für das ›Gothic Revival‹ eines Horace Walpole.« Philosophisch dominierte der Empirismus. Die Royal Society (1660) in London entwickelte sich zum glänzenden Juwel einer auf empirischen Grundlagen operierenden Wissenschaftsinstitution. Aus Faszination gegenüber den neuen Wissenschaften schenkte Hans Sloane seine Bibliothek und Kunstsammlung dem »englischen Volk«. Zusammen mit der Ägyptensammlung George III. bildete dies die Grundlage für das 1759 eröffnete British Museum, nach dem Ashmolean Museum in Oxford das zweite Museum Englands. Auch der kulturgeschichtliche Dauerbrenner um Genie und Regel wurde in England im Geist des Empirismus abgehandelt. 1768 ent-

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Kontexte

stand die Royal Academy of Arts, deren erster Präsident Sir Joshua Reynolds war, der sich – selbst von 1750–1752 in Rom – ganz der Carracci-Schule verpflichtet wusste und auf feste Regeln des Geschmacks vertraute. Beachtenswert ist der Hinweis, dass England damit eine kontinentale Kunsttradition übernahm, die auf der Insel niemals eine vergleichbare Verwurzelung erfuhr, weshalb dort auch am schnellsten eine Erosion der tradierten Bildersprache auftrat. Die Lehre war geprägt von der Überzeugung der Existenz von Regeln, der Autorität der Meister und dem ethischen Anspruch eines erfundenen Bildes. Vorbildliche Schönheit gibt es nicht in der Natur, sondern nur in der regelgeleiteten Inspiration des Künstlers. Eine regelgeleitete Inspiration setzt die »intuitive Kenntnis dieser großen Prinzipien im Künstler« voraus. Wie bei Platons Demiurgenmythos ist der künstlerische Prozess durch vorgegebene Muster programmiert. Eine solche Nachahmung hat nach Reynolds einen moralischen und pädagogischen Effekt. Reynolds, der Akademievorträge zu einer der ersten englischen Abhandlungen zur Malerei versammelte (Discourses on Art), fand die Historienmalerei als dieser Kunstgattung einzig angemessen. Dort gehe es darum, das ideale Menschliche herauszuarbeiten, und zwar in handwerklicher Wahrheit und nicht durch rhetorische Ornamentik verbrämt. Gegen diese Tradition stand, gewissermaßen als Caravaggist, Thomas Gainsborough, der das Atmosphärische und den Augenblick festhielt und die Landschaft frei komponierte, um Stimmungen zu erzeugen.

4.2.2.

Busch 1993, 11

Kohl Stephan in ÄKPh, 663

1.5.5. Die Niederlande Die Niederlande (zu denen damals auch das heutige Belgien und ein kleiner Teil des nördlichen Frankreich gehörten) wurden nach dem Ende der spanischen Vorherrschaft auf See ein bedeutender Mitspieler im europäischen Kontext. 1602 gründeten die Holländer (ähnlich wie England, Schweden und andere) eine Ostindische und 1621 eine Westindische Kompanie. Vielleicht war es die Weltläufigkeit des Handels, sicherlich jedenfalls der Geist der Renaissancehumanisten Erasmus von Rotterdam und Hugo Grotius, der die Niederlande zum Land der Toleranz und Meinungsfreiheit werden ließ. Es war ein Asylland für anderswo verfolgte Intellektuelle, wie René Descartes, (zeitweise) Samuel Pufendorf, John Locke oder Pierre Bayle. Die Universitäten blühten in diesem günstigen Klima geistiger Unabhängigkeit. Im 17. Jh. entfaltete sich die Barockmalerei, die vermutlich den Höhepunkt niederländischer Kunst überhaupt darstellt. In den reichen Handelsstädten Antwerpen, Haarlem, Amsterdam (lange Zeit der größte Güterumschlagplatz der Welt) oder Utrecht (mit einem nennenswerten katholischen Bevölkerungsteil) gab es viele wohlhabende Familien im Umkreis der Handels- und Bankhäuser, welche die Kunst förderten. Das Land war calvinistisch, die Kirchen schmucklos, im Vordergrund standen daher profane Aufträge. Der römische Barock war mit dem 1577 in Siegen in Westfalen in eine flämische Familie hineingeborenen Peter Paul Rubens in die Niederlande gelangt. Die calvinistischen Eltern mussten aus Antwerpen nach Siegen emigrieren. Rubens wurde schon früh mit den Religionskriegen und einer in einen katholischen (unter spani-

Peter Paul Rubens

38

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

4.2.

471 Rembrandtstatue (1876) umgeben von Figuren (2006–2009), welche Die Nachtwache darstellen; Amsterdam

van Wetering 2005

scher Herrschaft) und protestantischen Teil zerrissenen Heimat konfrontiert und er sparte – vielleicht unter dem Eindruck dieser Lebenserfahrung – in seinem Œuvre nicht mit politischen Kommentierungen. Der welt- und sprachgewandte Maler, der auch diplomatische Missionen erfüllte, gilt als Verkörperung des Barock schlechthin. Er reiste 1600 nach Italien und Spanien, war in Venedig, Mantua – dort trat er kaum fünfundzwanzigjährig in den Dienst des Herzogs Vincenzo Gonzaga –, Rom, Genua und Madrid. Ob der besonnene und angenehme Rubens in Rom den Heißsporn Caravaggio traf, ist unklar, aber nicht unwahrscheinlich. Beide stehen auf der Seite der Naturalisten und gegen den Klassizismus der Carracci. In der Kunstgeschichte gilt diese lange Künstlerreise Rubens’ als herausragendes Ereignis für die Entwicklung der Kunst. Rubens fühlte sich allein der treuen Wiedergabe des Gesehenen verpflichtet, die er mit großer Sinnlichkeit zelebrierte. Er leitete ab 1610 in seinem Wohnhaus (mit einer der größten Bibliotheken der Stadt) in Antwerpen das größte Künstleratelier der damaligen Zeit und beschäftigte eine große Zahl von Assistenten. Man könnte beinahe von einer arbeitsteiligen Produktionsfirma sprechen. In den Verträgen wurde verschiedentlich festgehalten, dass der Meister selbst das Auftragswerk noch einmal eigenhändig überarbeitet und es wurde angegeben, wenn Teile eines Bildes von anderen Spezialisten stammten. Unter seinen Mitarbeitern gab es Kupferstecher, die von den Gemälden Kopien anfertigten und diese zu Katalogen banden, die für den Vertrieb der Kunstwerke warben. Der Kupferstich galt als billiges Verfahren, das sich für solche Zwecke nützen ließ. Stahlstich und Radierung hingegen erreichten bald den Status einer eigenständigen Kunsttechnik, vor allem bei Rembrandt. Rubens wurde zum berühmtesten Künstler Europas, der aus den verschiedensten Ländern Aufträge erhielt. Sein symbolträchtiger Widerpart war der Klassizist Nicolas Poussin. Man sprach dann vom Streit der Rubenisten gegen die Poussinisten, wenn man Genie gegen die Regel stellte. Viele niederländische Künstler waren im Ausland aktiv und fanden dort bedeutende Fortsetzer mit einer eigenen Schul­ identität. Etwa beim wichtigsten Rubens-Schüler, dem Flamen Anton van Dyck, der sich zunächst in Antwerpen in einer eigenen Werkstatt selbständig machte und 1632 nach England ging. Seine sensiblen Naturstudien und die Porträts wurden zum Vorbild für die englischen Porträtisten des 18. Jh.s. Rembrandt Harmensz van Rijn, einer der bedeutendsten Maler überhaupt, und Frans Hals werden häufig als Beispiele für das aufbrechende Interesse am Ich, an der eigenen Identität, genannt. Rembrandt hat sich öfter dargestellt als irgendjemand sonst. Man geht heute von etwa 37 Selbstbildnissen aus. Dabei ging es nicht um eine Selbstanalyse im Sinne Sigmund Freuds, sondern um eine Übung für einen lukrativen Geschäftszweig, der aus dem Interesse am Individuum aufgebrochen war und das Porträt zum wichtigsten Kunstsujet gemacht hatte. Wie es die Caravaggisten vormachten, war ihm die Wahrheit wichtiger als Schönheit und Harmonie. Dafür wurde er noch von Zeitgenossen – man schreibt

39

Kontexte

die Verunglimpfung dem Schriftsteller Andries Pels zu – als pictor vulgaris, als ungebildeter Maler, geschmäht. Jan Vermeer van Delft war für die Genremalerei berühmt, Jacob van Ruisdael für die Landschaftsmalerei, in der der wohl größte Meister dieses Genres im 17. Jh., der Lichtmagier Claude Lorrain, den Standard gesetzt hatte. Obwohl in calvinistischen Ländern die Malerei häufig auf die Porträtkunst reduziert wurde, waren die Niederlande auch ein Hort des Genre- und – durchaus mit erzieherischer Ambition – des Gesellschaftsbildes (Lucas Cranach, Pieter Brueghel d.Ä.).

1.5.6. Deutschland und Österreich Deutlich zum Erliegen kam die Kunst – wie schon gesagt – im Deutschland des 17. Jh.s. Das Land war verwüstet, ein kulturelles Leben konnte sich kaum entwickeln. Anders als die anderen Länder kannte Deutschland auch kein kulturelles Zentrum mit überragender Strahlkraft. Die wenigen bedeutend gewordenen Barockkünstler machten ihre Karriere außerhalb des Kernlandes. Der weitgereiste Joachim von Sandrart, selbst Maler und Grafiker, hinterließ in seinem zwischen 1675 und 1679 in Nürnberg erschienenen Werk Teutsche Academie der Edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste Biographien von deutschen Künstlern des Barock, die in anderen Ländern künstlerisch groß geworden waren. Es enthält auch Übersetzungen älterer kunstphilosophischer Texte, von denen der Autor stark inspiriert war. »Die Teutsche Academie ist zugleich kunsttheoretisches Lehrbuch, mythologisches Lexikon, topografischer Bilderatlas der Stadt Rom, eine Geschichte der Kunst in Biografien und ein Manual der antiken Malerei und Skulptur.« Das Werk ersetzte geradezu eine deutsche Kunstakademie, bis mit Sandrarts Beteiligung erste Akademien in Nürnberg (1662) und Augsburg (1670) gegründet wurden. Berlin und Wien folgten 1696 bzw. 1692/1725.

Deutschland

Im 18. Jh. gewann die architektonische und künstlerische Entwicklung in Deutschland wieder erheblich an Substanz. Dresden mit seinem in ganz unterschiedlichen Traditionen wurzelnden Ensemble (unter August dem Starken), Berlin (unter Friedrich I. von Preußen) und Potsdam (unter Friedrich II. von Preußen), aber auch Eichstätt wurden Zentren barocker Baukunst. Berlin fungierte als kühl-protestantisches Gegenmodell zum üppigen barock-katholischen Hof in Wien und zog alles, was in Gegnerschaft zum Katholischen stand, an sich. Berlin sollte das »Athen des Nordens« werden, hörten die Zeitgenossen vom schöngeistigen Friedrich I., ein Echo

472 / 473 Neues Palais (1796), Detail; Potsdam

Thimann 2008, 520

Mazohl-Wallnig 2005, 194

40

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Rudé 1983, 111f, 167f

Kant 1783, A 491

Kunisch 2004 Burckhardt 2012

474 Brandenburger Tor mit Quadriga (1789); Berlin

der fernen Absichten der Medici mit Florenz. Unter dem Nachfolger, dem Soldatenkaiser Friedrich Wilhelm I., trafen Sparmaßnahmen die Künstler und Architekten hart. Friedrich II. sah unter seinem Vater ein »Sparta des Nordens« entstehen, eine alte, nicht mehr zeitgemäße Stadtfestung. Dem stellte Friedrich ein neues Athen gegenüber, freilich eines à la français. Proben der Freigeistigkeit und Frivolität einer solchen Mischung (zu der dann noch das spätrömische Ingrediens des Stoizismus Marc Aurels kam) hat er selbst in zahlreichen auf französisch verfassten Gedichten der Nachwelt hinterlassen. Und das von ihm geplante Forum Fridericianum in Berlin, in dessen Mitte die dem Pantheon nachempfundene St.-Hedwigs-Kathedrale (Grundsteinlegung 1747) stehen sollte, erweiterte Athen nach Rom. Er verbat sich ausdrücklich ein Denkmal zu seinen Ehren und das Neue Palais (1769) in Potsdam diente nur dazu, nach dem Siebenjährigen Krieg die Augenhöhe Preußens mit den Mächten der Umgebung zu demonstrieren. Er selbst hielt sich in seinem bescheidenen Sanssouci auf, inmitten seiner französischen Bibliothek. Friedrich II., diese Symbolfigur des neuen europäischen Mitspielers Preußen, der mit allen führenden Köpfen seiner Zeit im Briefwechsel stand und den durch seine antiklerikale Polemik berühmten Voltaire, der seinerseits mit 20 000 Briefen eine umfangreiche Korrespondenz mit Intellektuellen Europas unterhielt, in Potsdam aufgenommen hatte, wurde ein ebenso häufig wie widersprüchlich beschriebener Herrscher. Die Bandbreite reicht von den harten Qualifizierungen von Thomas Mann, Lessing und Winckelmann bis zur Verherrlichung des Zeitalters der Aufklärung als das »Jahrhundert Friedrichs« durch Immanuel Kant. Im Gegensatz zur pietistischen Frömmigkeit seines Vaters öffnete er sich in der Tat den neuen Ideen der Aufklärung. Er wurde zum Vorbild des Übergangs von einem höfischen zu einem aufgeklärten Absolutismus. Mit der Frage allerdings, wie sich philosophische Freigeisterei und liberale Aufklärung mit seinem brutalen Feldherreninstinkt vertrugen, tun sich auch neuere Biographen schwer. Bereits Jacob Burckhardt hatte sich in öffentlichen Vorträgen 1852/53 in Basel, die vor einigen Jahren zugänglich gemacht wurden, sehr kritisch zu Friedrichs Missachtung der Menschen geäußert. Sympathischer ist da schon, dass sich Friedrich künstlerische Apotheosen, wie sie etwa bei Ludwig XIV. noch selbstverständlich waren, verbat. Preußen war mit seinem aufgeklärten Selbstverständnis Vorreiter von Reformen, in deren Sog schließlich ganz Europa geriet. Neben der Rationalisierung und Straffung der Verwaltung wurde die Wirtschaft liberalisiert, ebenso das Strafrecht. Folter und Todesstrafe wurden abgeschafft. Berlin wuchs zu einer kulturellen Metropole heran. 1789 baute Carl Gotthard Langhans im Auftrag von Friedrich Wilhelm II. das Brandenburger Tor. Er orientierte sich dabei am Vorbild der in Rotunden- und Propyläen-Form von Claude-Nicolas Ledoux gebauten Zollhäuser in der unter Ludwig XVI. hochgezogenen Zollmauer von Paris. So wie die Akropolis durch die Propyläen sollte man das Athen an der Spree durch ein würdiges Tor betreten.

41

Kontexte

Wilhelms Kunstverständnis – man spricht vom »Wilhelminismus« – orientierte sich an der alten Harmonievorstellung der Antike und beförderte einen krausen Kult um die antike Klassik. Der führende Architekt und Bildhauer am Hof in Berlin war Andreas Schlüter, der aus den historischen italienischen und französischen Anregungen ein zeitgemäßes Konzept zu destillieren wusste. Schlüters Geburtsort und sein frühes Leben sind schlecht rekonstruierbar. Er dürfte seine Tätigkeit in Polen begonnen haben, war vielleicht in Rom (zumindest eine Italienreise von Berlin aus ist belegbar) und Frankreich. 1694 kam er jedenfalls als Hofbildhauer nach Berlin. Zum Schlossbaudirektor ernannt, modernisierte er das alte Stadtschloss für Friedrich I. und baute es zu einer Königsresidenz aus (vollendet vom Schweden Friedrich Eosander). Seine Arbeiten atmen den Geist des italienischen Barock. Eine besonders reichhaltige barocke Architektur brachten das katholische Süddeutschland und Österreich hervor. Mit Cosmas Damian, dem Maler, und seinem Bruder Egid Quirin Asam, dem Stukkateur, beide mit Romaufenthalten, die mit dem Neubau der Benediktinerkirche in Weltenburg auf sich aufmerksam machten, sowie Balthasar Neumann und dem vermutlich bedeutendsten bayrischen Kirchenbaumeister des 18. Jh.s, Michael Fischer, brach sich bereits das Rokoko Raum. Österreich war Peripherie im Dreißigjährigen Krieg. Das verhalf Salzburg zu einem einmaligen im Barock gewachsenen Stadtensemble mit bedeutender italienisch geprägter Architektur. Das Land war aber auch Frontstaat gegen die Türken und den Islam und dies stimulierte im Osten eine eigene Identitätsbildung. Die rege Bautätigkeit strahlte nach Böhmen, Mähren, Sachsen und nach Süddeutschland aus. Viele italienische Architekten, darunter Andrea Pozzo, kamen nach Wien und Salzburg. Im 18. Jh. fehlten in Italien Aufträge, im restlichen Europa waren italienische Architekten jedoch sehr gefragt. Der gebildete Leopold I. legte die Wurzeln für den österreichischen Barockkatholizismus, der unter seinem Sohn, dem »komponierenden Kaiser« Karl VI., zu voller Blüte gelangte. Schloss Schönbrunn (das heute mit dem ursprünglichen Zustand nur mehr wenig gemein hat) von Fischer von Erlach und der Leopoldinische Trakt der Hofburg von Filiberto Lucchese sind das Werk Leopolds. Österreich erreichte unter Karl VI. die größte territoriale Ausbreitung seiner Geschichte. Daniel Gran verherrlichte den Kaiser in der von Fischer von Erlach im Auftrag Karls grandios gestalteten Hofbibliothek. Der Ehrgeiz Österreichs lag darin, aus dem von Sizilien bis Oostende, von Serbien bis Schlesien verstreuten Besitz ein totum zu machen, allerdings zugunsten des Hauses Habsburg und nicht mehr im Sinne des Sacrum Imperium. Sich der Weltmachtrolle bewusst, kursierte auch in Wien die Idee von einem zweiten oder dritten Rom mit der Karlskirche als spirituellem Zentrum. Johann Bernhard Fischer von

Österreich

475 / 476 Bernhard Fischer von Erlach, Karlskirche (1739), Säule mit Reliefs aus dem Leben des Hl. Karl Borromäus; Wien

Knab 1977, 50–73

42

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

II.3.2.2.

Rykwert 1980, 74 ­Naredi-Rainer 1993, 276ff

Hoppe 2003, 30

Erlach begann die Kirche 1713. Ihre Vollendung dauerte bis 1737. Die Symbolik der Architektur macht den Anspruch unübersehbar: zwei riesige Säulen, die man zugleich mit den Säulen des Salomonischen Tempels (Jachin, Boas/er stellt fest, in ihm ist Stärke) wie auch mit jenen des Herkules assoziieren konnte. Die Säulen, die den westlichen Abschluss der bewohnten Welt am Felsen von Gibraltar symbolisierten, waren eine glänzende Idee der Programmierer am Wiener Hof. Der Philosoph Leibniz riet Carl Gustav Heraeus, dem schwedischen Hofantiquar Karls VI. und Freund Fischer von Erlachs, die Säulen, die er mit constantia (Beharrlichkeit) und fortitudo (Tapferkeit, Stärke) bezeichnete, mit Standbildern von Karl dem Großen und Karl von Flandern (einer von Karls Vorläufern in Spanien) zu krönen. Der in Graz geborene Johann Bernhard Fischer von Erlach, der 17 Jahre in Italien verbrachte, ein großartiger Baumeister ebenso wie Johann Lucas von Hildebrandt, in Genua geboren und in Rom bei Carlo Fontana ausgebildet, und der Tiroler Jakob Prandtauer, der bedeutende Klosterbaumeister, hauchten dem österreichischen Barock einen eigenen Geist ein, einen kaiserlichen, mehr pathetischen als libertären wie andernorts zur gleichen Zeit. Allerdings verschwanden die italienischen Vorbilder nie aus dem Blick. Das von Prandtauer ab 1702 im Wesentlichen im heutigen Bestand geschaffene Benediktinerkloster Melk war in seiner riesigen Anlage, die wie ein Schiff über der Donau thront, »weniger aus den konkreten Bedürfnissen der Mönchsgemeinschaft heraus motiviert als aus dem Interesse des Klostervorstehers, dem Kaiserhof und anderen hochrangigen Besuchern eine Architektur vorführen zu können, die mit dem seit der siegreich überstandenen Türkenbelagerung 1683 in Wien anhebenden Bauboom mithalten konnte.« In Klosterneuburg sollte durch Donato Felice d’Allio gar ein österreichischer Escorial realisiert werden. Das Reich Karls musste durch unglückliche Kriege und ungeschickte Diplomatie Federn lassen und verlor Territorien. Nach dem Tod Karls 1740 konnte die älteste seiner drei Töchter, die dreiundzwanzigjährige Maria Theresia, deren Regentschaft als Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn und Böhmen vierzig Jahre (1740–1780) dauerte, das gewaltige Erbe gegen eine europäische Koalition mit dem ehrgeizigen Preußenkönig Friedrich an der Spitze nur mühsam und mit Abstrichen verteidigen. Maria Theresia wurde die kaiserliche Reichskrone verweigert und Preußen setzte im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) seine alten Ansprüche auf das reiche Schlesien durch. Trotz der politischen und militärischen Rivalität genoss Preußen auch in Österreich hohes Ansehen. Auch Maria Theresia orientierte sich an diesem Vorbild, als sie ein eindrucksvolles aufklärerisches Reformwerk umsetzte: Einführung des allgemeinen Strafrechts, Gründung der Höchstgerichte, allgemeine Schulpflicht (1774), Abschaffung von Folter (1776) und Aussetzung der Todesstrafe (1778). Wien wurde auch für die gelehrte Welt attraktiv. Schon Leibniz hatte sich – vergeblich – um die Gründung einer Österreichischen Akademie der Wissenschaften bemüht, erst 1847 kam es dazu. Der Ausbau des Schul- und Universitätswesens, seine Säkularisierung gegenüber dem Bildungsmonopol der Jesuiten in den katholischen Ländern, war ein wichtiges Anliegen. Maria Theresia sorgte auch für Bauaufträge

43

Kontexte

wie die Neugestaltung von Schloss Schönbrunn. Das von Fischer von Erlach 1693 geplante, unvollendet gebliebene Jagdschloss Leopolds I. und Josephs I. wurde nun von Nikolaus von Pacassi 1743–1749 (und danach noch einige Male) umgebaut. Diese Aktivitäten sicherten Maria Theresia eine bis heute andauernde Verehrung, die so manche dunkle Seite, wie ihren Umgang mit Protestanten und Juden oder die skurrile Erfindung einer Keuschheitspolizei, überstrahlt. Nach einem Intermezzo des Wittelsbachers Karl Albert als Karl VII. wurde Maria Theresias Gemahl Franz Stephan als Franz I. zum Kaiser des Reichs gewählt, bis schließlich der Sohn und jahrelange Mitregent Maria Theresias, Joseph II., den Thron bestieg. Er trieb den Staatswerdungsprozess Österreichs mit großer Energie voran. Einerseits regierte Joseph mit absolutistischer Autorität, andererseits förderte der aufgeklärte Herrscher, der sich den Wahlspruch virtute et exemplo (mit Tugend und Beispiel) gegeben und den Geist der Gegenreformation endgültig abgelegt hatte, die modernen Freiheiten gleicher und freier Untertanen. Er drängte den Einfluss von Adel und Klerus zurück, tolerierte die Einwanderung von Protestanten, führte die Zivilehe ein, hob die Leibeigenschaft der Bauern auf, zentralisierte die Verwaltung. Letztes führte vice versa zur Unterdrückung von regionalen Sprachen und Behörden. Die Beschneidung der Macht des Klerus umfasste die Aufhebung von rein kontemplativen Klöstern und kirchlichen Lehranstalten, was zum »umgekehrten Canossagang« führte. Pius’ VI. reiste 1782 als Bittsteller nach Wien. Obwohl der Kaiser – anders als Friedrich II. – gläubig war, blieb Joseph II. unbeeindruckt. Für Kunst und Kultur hatte der aufgeklärte Herrscher ein offenes Ohr. Während seiner Regentschaft wandelte sich unter seinem Hofarchitekten, dem im französischen Vincennes geborenen Isidor Canevale, der barocke Stil zum Klassizismus und zur Romantik.

1.5.7. Russland und Osteuropa Im Schatten der Rivalitäten in Europa begann der Aufstieg Russlands. Das Land war orthodox geprägt, die Kirche verfügte über große Macht. Seit 1547 herrschten Zaren. Diese für das damalige Europa ungewöhnliche Herrschaftsform ist vielleicht am ehesten aus dem platonisch-byzantinischen Hintergrund und dem Fehlen einer mit dem übrigen Europa vergleichbaren nachhaltigen und tiefer verankerten Aufklärung zu verstehen. Die enge Verbindung der Zarenherrschaft mit der Kirche wurde kaum hinterfragt. Russland war geprägt von einer durch verschiedene Kriege bedingten dynamischen Expansion an den Außengrenzen und einer gleichzeitigen Erstarrung im Inneren. Im 17. Jh. packte der nur kurz regierende, dem Westen zugeneigte Fjodor III. einige Reformen an und führte den Krieg gegen die Osmanen zu einem vorläufigen vorteilhaften Ende. Die Bedrohung aus dem Balkan schwächelte mittlerweile. Der

477 Schloss ­Schönbrunn, Garten­ seite; Wien

478 Michaelertor nach Fischer von Erlach (um 1890); Wien

479 Figur am Brunnen beim Michaelertrakt der Hofburg (1897); Wien

44

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Serail war durchzogen von undurchschaubaren Intrigen. Die Armee des Osmanischen Reichs hatte an Schlagkraft eingebüßt, aber sie stand einem zersplitterten Europa gegenüber. Daher musste sich Zar Peter I. wieder mit den Osmanen beschäftigen und der spätere Russisch-Österreichische Türkenkrieg (1736–1739) führte im Frieden von Belgrad 1739 unter Kaiserin Anna zu einer Schwächung Russlands. Peter I., seit 1682 Zar, rief sich 1721 zum ersten Kaiser von Russland aus und führte das – nicht zuletzt durch die Abschottungspolitik der Kirche – rückständige Land aus dem Mittelalter in die Neuzeit. Gegen den Widerstand des alten Rus machte er es zu einem Mitspieler in Europa. Der Zar bereiste Frankreich (Ludwig XV. war gerade sieben Jahre alt und Peter soll ihn bei einem Empfang zum Erstaunen der Umstehenden zupackend geherzt haben), England und die Niederlande. Er interessierte sich für moderne politische Ordnungsmodelle, für zeitgemäße Verwaltungsstrukturen und knüpfte Handelskontakte. Man sagte ihm einen unbändigen Wissensdrang nach und in der Tat ließ er bei den Reisen kaum ein Museum, eine Wunderkammer oder eine Bibliothek aus. Gleich nach seiner Rückkehr gründete er 1724/25 die russische Akademie der Wissenschaften in der Stadt an der Newa. 480 Winterpalast, Akad. d. Wiss. an der Newa, Kolorierter Kupferstich (1753); ER

St. Petersburg

Bereits 1703 hatte das erste niederländische Handelsschiff im neuen Hafen der von Peter I. zu Verteidigungszwecken gebauten Peter-und-Paul-Festungsanlage auf einer Insel vor der Newa-Mündung festgemacht. 1712 designierte er St. Petersburg zur neuen Hauptstadt. Sie war – nach dem Generalplan von Alexej Andrej Kwassow von italienischen und französischen Baumeistern umgesetzt – europäischer und moderner als Moskau. Das vorwiegend aus alten Holzhäusern bestehende Moskau galt Peter als Symbol des rückständigen und unaufgeklärten Russland. Schließlich beanspruchte St. Petersburg die Nachfolge Konstantinopels als drittes Rom. Als Hofarchitekten fungierten einige Zeit der Fontana-Schüler und Studienkollege von Filippo Juvarra, Nicola Michetti, und der Schweizer Architekt Domenico Trezzini, der einige der köstlichsten Bauten wie die Peter-und-Paul-Festung und die dazugehörige Kathedrale realisierte. Man darf dies als einen schönen Beleg für die rege internationale Verflechtung im Barock werten. Auf diese Weise schwenkte das Riesenreich mit einem spätbarocken Baustil auch architektonisch sichtbar in die europäische Entwicklung ein. Alexander Puschkin nannte die Stadt ein »Fenster nach Europa«. 1918 verlegten die Bolschewiken die Zentrale wieder nach Moskau (das von Katharina großzügig umgebaut worden war, darunter der Kremlpalast), denn das imperiale Petersburg (von 1914 bis 1924: Petrograd; von 1924 bis 1991: Leningrad) war mit der aristokratischen Zeit verbunden.

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Kontexte

Schließlich bestieg 1762 die deutsche Prinzessin von Anhalt-Zerbst durch einen Staatsstreich (Ermordung ihres Gatten) als Katharina II. den Zarenthron und setzte die im Westen gepflegten Ideale der Aufklärer und Enzyklopädisten auch in ihrem Reich um. Ihre aufklärerische Ambition war aber nicht so groß, dass sie nicht mit kräftiger Hand alle Bewegungen in Schach hielt, die in Opposition zu ihr standen. Insbesondere richtete sich ihre Repression gegen die Freimaurer. Die in regem Briefverkehr mit Voltaire (große Teile seines Werks ebenso wie jenes von Diderot sind bis heute in St. Petersburg), d’Alembert, Diderot, Montesquieu und anderen aufgeklärten Intellektuellen des Westens stehende Zarin verstand ihr Reich als »philosophische Monarchie«. Diderot beriet sie bei der Sammlung europäischer Kunst. 1764 gründete sie die Kleine Eremitage, wo ein Teil der angekauften Kunstwerke ausgestellt wurde. In den Siebzigerjahren erfuhr der Bau eine Erweiterung. Katharina holte italienische Baumeister, darunter Palladio-Verehrer, an den Hof und förderte den Baustil des Klassizismus, der allein ihren aufklärerischen und rationalistischen Idealen entsprach. Vielen Studenten wurden Stipendien für Aufenthalte in Rom und Paris gewährt, wo sie sich mit antiken Bauten und Theorien befassten. Ob dies alles nur ein »Potjomkinsches Dorf« (Graf Grigori Alexandrowitsch Potjomkin soll einer ihrer vielen Geliebten gewesen sein) einer ungebildeten und skrupellosen Intrigantin war, wie es Anatoli Marienhof in seinem desillusionierenden Roman beschrieb, oder mit Substanz betrieben wurde, ist umstritten. Denn die andere Seite war ihr Ehrgeiz, das Erbe des Byzantinischen Reichs und der orthodoxen Kirche anzutreten. In solchem Kontext kam es 1783 zur Annexion der Krim. Unbestritten ist, dass, aller Verehrung der westlichen Aufklärung zum Trotz, die Kluft zwischen diesen aufklärerischen Ideen und der slawisch-byzantinischen Tradition der russischen Kultur nie geschlossen wurde. Im 20. Jh. eskalierte der Streit zwischen den sogenannten Westlern und Slawophilen bei der Rezeption der Philosophen Hegel und Marx. Glanzvoll war auch der Aufstieg Prags. Rudolf II. hatte seine Residenz beim Regierungsantritt von Wien nach Prag transferiert und damit den Grundstein für eine blühende höfische Kultur in Böhmen gelegt. Rudolf erlebte relativ friedliche Jahre – die feindlichen Mächte waren mit sich selbst beschäftigt – und er wusste sie zu nützen für die Förderung von Kunst, Musik und Wissenschaft. Karel van Mander bezeichnete ihn in seinem Het Schilderboeck als »größten Kunstliebhaber aller Zeiten« und Joachim von Sandrart, der pictor doctus, nannte ihn in seiner Academie einen »rechten Vater und Pflegvater der Künste und Künstler.« Rudolf regierte tolerant, bevorzugte Protestanten in seinem Beraterkreis, während er sich die Jesuiten vom Leib hielt. Seine Lebensgefährtin Katharina da Strada stammte aus gutem Haus mit niederländischen Wurzeln und einer großen Kunstsammlung. Sie war außerordentlich gebildet. Der Kaiser, der selbst fließend die lateinischen Bücher der Wissenschaft lesen konnte, holte eine Reihe von Künstlern und Wissenschaftlern an den Hof – darunter Tycho Brahe und Johannes Kepler – und

Katharina II.

481 Katharinenpalast; St. Petersburg

Marienhof 2003

VIII.1.3./VIII.6.1.2./ IX.2.2.7. Prag

van Mander, zit. nach Prange 2008, 491 von Sandrart, zit. nach Trunz 1992, 131

46

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ashley 1983, 22 Bouwsma 2000, 160ff Trunz 1992, 59 Hager 1968, 138

Polen

baute an seinen Sammlungen, die eine große Bibliothek, Emblematiksammlung, Kunstsammlung und auch die in der Zeit üblichen Kuriositäten beinhalteten. Besonders angetan war Rudolf, »einer jener Sonderlinge, die der habsburgischen Dynastie so oft entsprossen waren«, von Okkultem und Hermetischem, das an seinem Hof breiten Raum fand. Auch wenn er für die Architektur weniger Interesse hatte, tat das einer regen Bautätigkeit keinen Abbruch. In Prag gab es im Jahre 1580 28 italienische und nur 7 deutsche Architekten, zehn Jahre später war das Verhältnis ausgewogen. Ermöglicht wurde dieser Bauboom durch erhebliche Privatvermögen und die hohen Einkünfte vieler Stifte der Benediktiner, Augustiner und Zisterzienser. Der Tod Rudolfs bedeutete einen tiefen Einschnitt im Kulturleben. Zudem wurde auch Prag ein Opfer des Dreißigjährigen Krieges und verödete. Auch in Polen waren überwiegend italienische Künstler und Architekten am Werk. Das Land geriet an mehreren Fronten durch Russland, Schweden und die Türken in schwere Bedrängnis. Dennoch taten sich immer wieder Förderer der Kultur hervor, etwa Sigismund III. Wasa, in dessen Zeit die von Jesuiten geführte Gegenreformation viele sakrale Bauwerke hervorbrachte, meist von Italienern gebaut und gestaltet. Der heldenhafte Türkenbezwinger vor Wien, Jan Sobieski, verhalf als König Johann III. dem Barock zu einem großen Auftritt in Polen. »Sein Versailles« war das Palais Wilanów bei Warschau. Unter Augugst II. und August III., die als polnische Könige auch Kurfüsten von Sachsen waren und bereits Dresden großzügig gestaltet hatten (»Elbflorenz«), wurde Warschau zu einer Architekturmetropole. Ein neues Stadtzentrum und ihr Versailles, der um 1730 errichtete Sächsische Palast (vermutlich unter Federführung Matthäus Daniel Pöppelmanns), entstanden.

2.0. Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des ­Rationalismus

VI.5.1.f.

Wie bereits am Anfang des Abschnitts angedeutet, kennzeichnet der Paradigmenwechsel zum Subjekt, das cogito ergo sum des Descartes, den Eintritt in die Neuzeit. Diese Selbstversicherung des Subjekts, das sich in der Renaissance einen perspektivischen Raum erobert und ein von ihm getrenntes Objekt sich gegenüber gestellt hat, war eingebettet in eine Reihe weiterer Charakteristika: Relativierung des Glaubens an einen Gott, einen Schub der empirischen Wissenschaft, die klare Herausbildung einer linearen Zeitachse. Die philosophischen Schulen, welche die Neuzeit prägten, waren der Rationalismus und der Empirismus. Der Rationalismus setzte in seiner Erkenntnislehre auf die Vernunft, er war systemorientiert, in der Topologie dieses Systems aber sehr differenziert. Es gab monistische (Spinoza), dualistische (Descartes) und pluralistische (Leibniz) Konzepte. Kunstphilosophisch erlaubt der Rationalismus sowohl eine Anwendung auf den (systemorientierten) Barock als auch auf den vernunftorientierten Klassizismus. Der Empirismus setzte demgegenüber auf die (sinnliche) Erfahrung, er war antisystematisch, pragmatisch und aufklärerisch. Er stand für ei-

47

Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des R­ ationalismus

nen Kunststil der Aufklärung, ermöglichte aber in seiner Pragmatik durchaus einen Pluralismus der Stile.

2.1. Zur Legitimitätsfrage der Neuzeit Ich schlage vor, die Neuzeit als jene europäische Epoche zu sehen, die sich aus der alten Haut mediterraner und orientalischer Kultur herausschälte und sich in einer erstaunlichen Dynamik im globalen Wettbewerb den Spitzenplatz eroberte. Während die großen alten Kulturen im Orient und im Osmanischen Reich Patina ansetzten und durch machtpolitische oder religiöse Verengungen, durch Reformunfähigkeit und Moratorien bei Wissenschaften und Kommunikationstechnologien den Anschluss verloren, war Europa erstmals auf sich gestellt und hat diese Chance – immer auch gepaart mit schrecklichen Katastrophen, Rückschritten und Sackgassen – genützt. Man mag die ästhetische Konsequenz bewundern, mit der 1515 Sultan Selim I. die Druckerpresse im Osmanischen Reich verbot, um die Kunst der Kalligraphie und die Verehrung der Schreibfeder zu bewahren, aber solches Tun erstickte jeden Fortschritt. Niall Ferguson machte in einer neueren eindrucksvollen Geschichtsbetrachtung den Erfolg Europas an mehreren Kenngrößen fest: (1) am Wettbewerb zwischen den Staaten und den Individuen, (2) an der sich von ideologischen und machtpolitischen Schranken befreienden und am Experiment sich orientierenden Wissenschaft, (3) am Grundrecht auf Eigentum und (4) an der Vielfalt ästhetischer Darstellungen. Europa hat also das ihm aus dem Orient gereichte Material höchst produktiv und kreativ aufgenommen, daran weiter gearbeitet und sich seit dem 17. Jh. zur globalen Leitkultur entwickelt. Rückblickend wirft auch das ein Licht auf die Renaissance als jene Epoche, in der dieser Umwandlungsprozess der orientalischen zur europäischen Kultur höchst erfolgreich angegangen wurde. Die Beziehung zur eigenen Herkunft aus dem Orient und der Antike war bislang gewissermaßen ein »Arbeitsverhältnis«. Dieses wurde jetzt durch eines der Verehrung abgelöst. Nur so ist der normierte Klassizismus zu verstehen. Hatten die Renaissancekünstler bei ihren Recherchen in Rom die antike Tradition gleichsam mit dem Maßband für sich fruchtbar gemacht, war die Grand Tour zu einer Museumstour für Liebhaber der antiken und orientalischen Kulturen geworden. Gemessen an der lebendigen Kommunikation »auf Augenhöhe« in der Renaissance verklärte die Neuzeit die antike und orientalische Welt nostalgisch und romantisch, suchte in ihr in unsicherer Zeit einen zeitlos gültigen Stabilitätsanker. Man könnte an dieser Stelle eine Flut von geschichtsphilosophischen Betrachtungen zu diesem Thema auflisten. Vor allem im geschichtsbewussten 19. Jh. wurde über die »Individualität« des Zeitalters räsonniert und als »leitende Ideen« und »herrschende Tendenzen« (Leopold von Ranke) für die Neuzeit stets die Überführung von Monarchien zur Volkssouveränität und die Entwicklung der Wissenschaften ausgemacht. Im Grunde haben sich diese Kennzeichen von Ranke über Ernst Troeltsch bis zur heutigen Historikerzunft nicht wesentlich verändert. Sie wurden allenfalls ergänzt durch die komplexe Säkularisierungsthese, die in einer zugespitzten

Ferguson 2011

4.2.3.

­Säkularisierung und ­Rationalisierung

48

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

IX.4.1.

Legitimations­ diskurs der Neuzeit

Ritter 1965, 62

IV.4.2.

Form in der Fortschrittsidee eine verweltlichte (also säkularisierte) Heilsgeschichte erkennen will. Dagegen hat etwa Hans Blumenberg die autonome Selbstbehauptung des vernünftigen Subjekts ins Treffen geführt und nicht akzeptieren wollen, dass die Erklärung der modernen Welt wiederum auf einer christlichen Idee beruhen sollte. Max Weber wird mit dem Begriff der Rationalisierung in Verbindung gebracht. Mit diesem Begriff lässt sich nach Weber die gesamte moderne Welt beschreiben. Was als Emanzipation begann, habe zu einem anonymen System der Vernetzung geführt, die den Menschen in ein »stählernes Gehäuse« eingesperrt und Rationalität geradezu dogmatisch gemacht habe. Horkheimer, Adorno, Jürgen Habermas und andere sprachen von instrumenteller Vernunft und von einem offenen Projekt der Moderne. Darauf näher einzugehen, ist hier nicht der Ort, zumal sich diese Fragen noch drängender im 19. und 20. Jh. stellen und dort nochmals reflektiert werden sollen. Es sei an dieser Stelle nur auf eine spezielle Problemstellung der beginnenden Neuzeit verwiesen, die von Kontinuität und Diskontinuität in der Legitimation der Neuzeit handelt und dabei die Kunst miteinbezieht. Sie thematisiert damit ein Interesse, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Gemeint ist der geschichtsphilosophische Legitimationsdiskurs der Neuzeit aus der Schule des Historikers Joachim Ritter. Dass dabei manchmal die Anmutung transportiert wurde, die Neuzeit sei geschichtslos, ihre Zukunft sei ohne Beziehung zur Herkunft, wird hier nur als Hinweis auf Brüche in der Kontinuität gewertet, nicht als autonome Selbstlegitimation einer völlig neuen Zeit. Interessanter und kreativer scheint der Ansatz der Kompensation zu sein. Inwieweit bei Joachim Ritter, der nach üblichen philosophischen Klassifizierungsschemata in die Linie des Rechtshegelianismus eingeordnet wird, diese Kompensationsthese – sie meint im Wesentlichen eine Kompensation der Säkularisierung durch die Mächte der Tradition – angesichts der heute differenzierten Sicht auf die Säkularisierung noch haltbar ist, soll hier nicht diskutiert werden. Dies zu entscheiden, hängt nicht zuletzt vom verwandten Säkularisierungsbegriff ab. Vielmehr soll auf den aktualisierten und geschärften Ansatz bei Hans Blumenberg und vor allem Odo Marquard verwiesen werden. Blumenberg stellte in seinen Büchern Die Legitimität der Neuzeit und Die Genesis der kopernikanischen Welt die Neuzeit als gelungene Überwindung der spätantiken Gnosis dar, gepaart mit der Rehabilitierung der Neugier und gespeist aus dem Selbstbehauptungswillen des Subjekts, der für ihn das Zentralgestirn der Neuzeit ist. Die Gnosis mit ihrem strengen Dualismus war demnach eine weltvernichtende Ideologie. Sie negativierte die Diesseitswelt und den in ihr verhafteten Menschen. Schon das Christentum – als geschichtliche Periode: das Mittelalter – war durch den in die Welt gekommenen und die Welt erlösenden Gott ein erster Überwindungsversuch der Gnosis. Diesen Versuch sieht Odo Marquard an der Konzeption dieses Gottes als bloßem Willkürgott gescheitert. Das Übel der Welt konnte nach solchem Denken nicht in der Welt, sondern nur durch die Überwindung der Welt behoben werden. Was wir als kunstphilosophisch faszinierenden Impuls der Anagogie kennen gelernt haben, wird, in dieser Weise geschichtsphilosophisch gewendet, ein vormodernes Abwertungsszenario der Welt. Damit musste das Mittelalter an der Überwindung

49

Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des R­ ationalismus

der Gnosis zwangsläufig scheitern. Dem Christentum gelang es nicht überzeugend, das Postulat einer negativen Welt und die dagegen verordnete Weltflucht zu beheben. Anders die Neuzeit! Odo Marquard traktiert hier vor allem den Theodizeegedanken des Leibniz. Die Überlegung, dass der Schöpfergott angesichts der Übel in der Welt rehabilitiert und verteidigt werden musste, zeigt, wie umstürzend sich das Weltbild verändert hatte. Denn: Mit Leibniz muss sich Gott für das Böse in der Welt rechtfertigen, und zwar vor dem Menschen! Das Unglück war ein Unglück in einer an sich guten Welt. Es musste also nicht mehr mit der Welt, sondern in der Welt relativiert werden. Damit ist das Übel in der Welt, als Teil von ihr, gerechtfertigt, ja es wird zur Möglichkeitsbedingung des optimum. Wenn Leibniz von der besten aller möglichen Welten sprach, sei das keine »Jubelmeldung«, sondern eine »haltbare Verteidigungsstellung« gewesen. In dieser Mechanik der Theodizee, der Karriere des Negativen, der »Entübelung der Übel«, sieht Marquard auch für die Ästhetik relevante Entwicklungen, nämlich die Positivierung des Hässlichen. Die Kunst der Moderne rehabilitiert das Hässliche, Destruktive und moralisch Verwerfliche: »Neben die Ästhetik des Schönen tritt zunehmend die Ästhetik des Nichtschönen: des Erhabenen, des Sentimentalischen, des Interessanten, Schockanten, Romantischen, des Symbolischen und Abstrakten, des Häßlichen, des Dionysischen, des Fragmentarischen, Gebrochenen und des Bruchs sowie des Nichtidentischen und Negativen; […].« Geschichtsphilosophisch konsequent führt Marquard den Gedanken fort. Wenn in der klassischen Theodizee das Unglück relativiert wird als Mittel zum Zweck des Glücks, heiligt der Zweck das Mittel. Das aber, diese Schöpfung als »Kunst des Bestmöglichen« wäre dann – so Marquard – ein Vorbild für viele geschichtsphilosophische Konzepte von Philosophen, die zur Gewinnung des höchsten Glücks das Unglück für viele Menschen rechtfertigen: »das Optimalglück als Zweck heiligt das Unglück als Mittel.« Diese verhängnisvolle Folgerung wirft nicht nur ein schlechtes Licht auf die Güte des Schöpfergottes, es scheint auch ein Scheitern des Theodizeeprojekts von Leibniz anzudeuten. Gelingen kann die Theodizee aus dieser Konsequenz nur, wenn Gott vom Schöpfungsprinzip entlastet wird, ihm also sein Nichtsein erlaubt, ja »nahegelegt« wird – zur Rettung seiner Güte. »Aber indem nun geschichtsphilosophisch – die Menschen zum Schöpfer werden, indem sie – als absolutes Ich, als Weltgeist, als revolutionäre Avantgarde – ihre geschichtliche Welt selber machen, werden nun die Menschen zum Täter der Teleologisierung des Unglücks.« Die Konsequenzen sind, dass sich Menschen selbst ihre Sündenböcke suchen, denen sie die Schuld am Unglück in der Welt auflasten. Die These Marquards hat ihre Stärke nicht nur in der wohl zutreffenden Analyse des Paradigmenwechsels zwischen Mittelalter und Neuzeit in der Gottesfrage. Sie schärft gleichzeitig den Blick auf die großen philosophischen Schulen der Neuzeit, namentlich den Idealismus und dessen totalitäre Rezeptionsgeschichte. Davon sind nicht nur geschichtsphilosophische Systemansprüche betroffen, sondern auch die Kunst. Marquard legte seinen Finger auf manche Bewegungen der modernen Kunst, die in ihren künstlerischen und ästhetischen Ansprüchen eine sehr politische Bot-

Marquard 1995, 48

Ebd., 51/16

Ebd., 18; ähnl.: ­Marquard 1989, 75ff

50

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

VIII.5.3.2.3.

Marquard 1989, 79

Nietzsche 1872, 17 Liessmann 1993, 80

schaft transportieren. Das ist sozusagen eine neue Funktion einer scheinbar leer (= ästhetisch) und interesselos gewordenen Kunst. Denn die Entzauberung der Schöpfung hatte bei Hegel zum erklärten »Ende der Kunst« geführt und das hatte – paradox – zugleich den Beginn der Ästhetik zur Folge. Abseits von den eben erwähnten neuen Funktionalisierungen, bietet die Ästhetisierung der Kunst für Marquard eine Neuformulierung von Ritters Kompensationsthese: »Zur Entzauberung der Wirklichkeit gehört als Kompensation die Entwicklung der Subjektivität als Stätte einer ausgleichenden – der ästhetischen – Faszination.« Nietzsche stimmte 1886 in der Vorrede der Geburt der Tragödie ähnliche Töne an und folgte Richard Wagner, nach dem die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen »die Kunst – und nicht die Moral« sei. Konrad Paul Liessmann spitzt diesen gängigen Nietzsche-Topos auf die Bemerkung zu, dass eine »ästhetische Anthropodizee« an die Stelle der ethischen Theodizee getreten sei. Die Rechtfertigung des Menschen angesichts der Grausamkeit des Daseins, könne nur mehr ästhetisch gelingen, wenn denn alle anderen Sinnerzählungen, insbesondere die religiöse und die moralische, abhanden gekommen sind.

2.2. Der Rationalismus Der Satz cogito ergo sum kennzeichnet ganz generell das an einer subjektgetragenen Wissenschaft orientierte Klima der Neuzeit. Es ist ein Satz des Rationalismus. Dieser setzte die Vernunft an die erste Stelle der Erkenntnisgewinnung, postulierte in der radikalsten Fassung sogar eingeborene Ideen, stand ideengeschichtlich also im Kontext des Platonismus. Faszinierend am Rationalismus ist die große Bandbreite der Systemphilosophie, die vom Dualismus des Descartes über den Monismus Spinozas bis zum Pluralismus von Leibniz reichte. Die Balance von göttlicher Legitimierung und menschlicher Selbstbehauptung wird im Rationalismus mehr und mehr zugunsten dieser verändert. Man könnte bei Leibniz eine Radikalisierung des Gedankens vom freien Subjekt und bei Spinoza eine solche der Einbindung des Subjekts in die (pantheistisch verstandene) Welt sehen. Die moderne Zeit begann mit der drängenden Suche nach Gewissheit und nach klarer, ungeschnörkelter und rationalitätsgeleiteter Methode. Das ist eine Haltung, die wir in der Ablehnung der geschwungenen ornamentierten Form des Barock durch den Klassizismus wiederfinden. Die Klarheit und Rationalität der Form ist eine Forderung, die sich einerseits durch das antike Vorbild ergab, aber in der Neuzeit zudem theoretisch (rationalistisch) reflektiert wurde. Die kulturelle Erzählung einer strengen wissenschaftlichen Methode, die auf Klarheit und Gewissheit eingeschworen wurde, löste die schöngeistige, an der Rhetorik ausgerichtete und vom Skeptizismus durchfurchte Gedankenwelt des Humanismus ab. Zugleich ersetzte eine vom Menschen mit Hilfe der Autorität seiner Vernunft gestiftete überzeitliche Gewissheit (im Empirismus gibt es nur mehr eine zeitbedingte Wahrscheinlichkeit) eine ontologische Wahrheit (letztlich göttlicher Abkunft). Rationalität und Klarheit waren die Prinzipien, auf denen der Erfolg der französischen Kultur im 18. Jh. aufbaute. Harald Keller beantwortet die Frage nach dem

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Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des R­ ationalismus

Zauber, den die französische Kunst und Kultur dieses Jahrhunderts auf Europa ausübte, so: »Aus jeder Fabel von Lafontaine, aus einem Gartenentwurf von Le Nostre, aus dem Grundriß einer Maison de plaisance von Boffrand und aus jedem Stilleben von Chardin sprechen Raison und Clarté.« Es gab keine komplizierten Lösungen, sondern jedes Kunstwerk erschien als Variation eines Schemas. »Solche Schemata wurden von den im 17. Jahrhundert gegründeten Akademien festgelegt […].« Keller beschreibt den Rationalismus, insbesondere jenen des Descartes, als Leiterzählung für den Klassizismus. Dem ist freilich anzufügen, dass sich derselbe Rationalismus, insbesondere in der Form, die ihm Leibniz gegeben hat, auch für das Verständnis des Barock fruchtbar machen ließ. Richtig ist jedenfalls, dass im Umfeld des Rationalismus Äußerungen zu den Streitpunkten der Akademieästhetik auftauchen, wie sie im vierten Kapitel näher beleuchtet werden sollen. Der Mitbegründer der Académie français, Jean Chapelain, forderte für Literatur und Dichtung ein vernunftmäßig begründetes Regelwerk und beeinflusste mit dieser klassizistischen Ästhetik die Diskussion. Auch bei Blaise Pascal, Pierre Nicole oder Nicolas Malebranche gibt es spärliche Äußerungen zur Ästhetik, teilweise spiritualistisch angehaucht oder von einem relativistischen Pessimismus, die Begründungsmöglichkeit betreffend, getragen. Damit wird eine schwierige und umstrittene Frage traktiert. Sie könnte lauten: Wie hielt es der Barock mit rationaler Logik und Mathematik? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob man den Barock primär als Ausdruck spontaner und jeder Regel abgeneigter Künstlersubjektivität sieht oder als ein rationales/rationalistisches Systemkonzept, in dem letztlich alle Dynamik einer Gesamtordnung unterworfen bleibt. Erich Hubala wird manchmal als Zeuge für die erste Auffassung angeführt. Das ließe sich relativieren durch den Hinweis, dass Hubala einen großen Teil des Barock als Klassik rekonstruiert. Was übrig bleibt, erscheint ihm dann wirklich als regellos. Trotzdem ist eine Annäherung an den Barock als schlicht regellose und intuitive Kunstrichtung wenig zutreffend. Dazu war der Einfluss des Cartesianismus zu dominant. Und jedenfalls für Frankreich gilt, dass der Schaffensprozess der dortigen Architekten »nicht unbelasteter Intuition« entspringt, sondern »reflektorischen Charakter« hat.

Keller 1971, 68

Müller W. 2002, 10

2.2.1. Die Vertreter des Rationalismus Es war Renè Descartes, der die Selbstvergewisserung des vernünftigen Subjekts in die berühmten Worte kleidete: cogito ergo sum (ich denke, also bin ich). Stephen Toulmin, der eine eindrückliche Kontextualisierung der Philosophie des Renè Des­cartes formulierte, situiert den Antrieb für dessen Forschungsprogramm und damit auch einen Antrieb für die Neuzeit im unversöhnlichen Streit um die religiösen Bekenntnisse, der den Dreißigjährigen Krieg auslöste. 1610 erschütterte die Nachricht von der Ermordung des französischen Königs Heinrich IV. von Navarra die Menschen. Er hatte 1598 im Edikt von Nantes den Pro-

Renè Descartes

482 Frans Hals, Renè ­Descartes (um 1648); LP Toulmin 1991

52

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ebd., 122

testanten in Frankreich eine gleichberechtigte Stellung zugesichert, was zu einem langen Religionsfrieden führte. Durch seine Ermordung sahen die Zeitgenossen die aufkeimende Hoffnung auf eine friedliche Beilegung dieses epochalen Streits in Gefahr. Toulmin geht von einer historischen Schlüsselszene aus, nach der der vierzehnjährige René Descartes am Jesuitenkolleg von La Flèche die Beisetzung des Herzens Heinrichs in einer großen Feier im Juni 1610 miterlebte und bei den jährlichen Gedenkfeiern, den »Henriaden«, daran nachhaltig erinnert wurde. Die Befürchtungen der Menschen trafen zu und Descartes wurde zu einem mitleidenden Zeitzeugen des Dreißigjährigen Krieges. Im Heer des Herzogs von Bayern lernte er den Kriegsschauplatz mit eigenen Augen kennen, bis er sich schließlich in den Dreißigerjahren in den toleranten Niederlanden niederließ. Diese Erfahrung ist zum Verständnis der Bemühung der neuzeitlichen Philosophen nach sicherem Wissen durchaus hilfreich. »Das ›Streben nach Gewißheit‹ bei den Philosophen des 17. Jahrhunderts war kein bloßes Programm zur Konstruktion abstrakter und zeitloser theoretischer Schemata […] Es war vielmehr eine zeitgebundene Antwort auf eine bestimmte historische Herausforderung – auf das politische, gesellschaftliche und theologische Chaos, das sich im Dreißigjährigen Krieg niederschlug.« Descartes legte sein philosophisches Programm in den Meditationes de prima philosophia vor. Ausgangspunkt war ein tiefes Misstrauen gegenüber der sinnlichen Erfahrung und ein Bruch zwischen der sinnlichen und geistigen Welt (res extensa und res cogitans). Mag sein, dass – wie manche meinen – dieser Bruch auch ein Rettungsversuch der Unsterblichkeit der Seele war, die Descartes sozusagen vom verfallenden Körper absetzen musste. Positiv könnte man diesen ziemlich scharfen Dualismus rekonstruieren mit Blick auf das sinnliche Objekt, dem ein freies geistiges Subjekt gegenüberstand. Descartes machte das Subjekt zum Zentralgestirn der Neuzeit. Die Einsichten in unsere Erfahrung schöpfen wir aus uns selbst, aus einem Reservoir eingeborener Ideen. Descartes stützte sein System allerdings durch eine göttliche Ordnung, die uns die Gewissheit gibt, in den letzten Dingen nicht getäuscht zu werden. An die Stelle des mittelalterlichen Willkürgottes war die Erzählung des berechenbaren Gottes getreten. Es ging um einen Gott, der uns nicht täuscht, auch nicht in der Sicherheit, die Außenwelt erkennen zu können. Täuschte uns Gott darin, wäre er nicht vollkommen. In der an der Mathematik Maß nehmenden Neuzeit war kein Platz mehr für einen Gott der Willkür. Ein endliches Wesen kann die unendliche Idee Gottes nur denken, wenn Gott selbst ihm diese eingegeben hat. Beim Eintritt in die Neuzeit mit der Hinwendung zum Subjekt bewegen wir uns zumindest teilweise bei Descartes immer noch in einer Struktur, die jener des mittelalterlichen, von Anselm von Canterbury formulierten ontologischen Gottesbeweises ähnlich ist. Der Vernunft ist es zu verdanken, dass wir angesichts der auf reine Berechenbarkeit und begriffliche Fassbarkeit eingeschränkten Außenwelt nicht in die Irre geleitet werden, wenn man etwas clare et distincte erkenne. Sinnliche Wahrnehmungen, Licht, Farbe, Töne, Geschmack, Wärme, Kälte sind nur verworren und dunkel zu haben. Diese zurückhaltende Einstellung zur Sinnlichkeit hat nicht nur Leibniz

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Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des R­ ationalismus

geteilt, sie wurde bei Alexander Baumgarten zur Grundlage der Ästhetik als philosophischer Disziplin. Unter Ästhetik wird dabei, ausgehend vom griechischen aisthesis eine (noch dunkle und verworrene) Sinnlichkeit verstanden. Bei Descartes liegt eine wesentliche Verschärfung gegenüber der neuplatonischen Tradition vor. Hatte diese die materielle und sinnliche Welt noch als Verdunkelung der eigentlichen angesehen und sie so prinzipiell salvierbar gestaltet, entgeistigt Descartes die Sinnenwelt vollends. Mit ihm ist nicht nur die Subjektivierung deutlich formuliert, sondern auch eine physische Welt, die naturwissenschaftlichen und technischen Zugriffen offen steht. Dies ist eine klare Abkehr von der noch bei Thomas von Aquin vertretenen, aber schon im Nominalismus des Spätmittelalters unter Druck geratenen Vorstellung von Spuren des Rationalen in der (von Gott geschaffenen) empirischen Welt. Damit war auch der Optimismus der Erkennbarkeit des Realen hier aufgegeben. Die platonische Aufforderung, die Natur in die Zahl umzuwandeln, konnte jetzt ohne hemmenden mystischen und sakralen Beigeschmack umgesetzt werden. Mathematik wird zu einer profanen Angelegenheit. Harmonie ist nicht mehr Ausdruck göttlicher Schöpfungsordnung, sondern allenfalls einer durch Rationalität begründeten Regel. »In steigendem Maße wird in der frühen Neuzeit jedoch die Mathematik als Methode aufgefaßt, die weniger feststehende Muster und Regeln überliefert, als daß sie den Weg zu neuen Lösungen bereiten hilft.« Descartes war in der Entmythologisierung des Kosmos weiter gegangen als Spinoza oder Leibniz. So gesehen bildet dieser Bruch zwischen Vernunftsubjekt und Sinnenwelt eine Voraussetzung für eine Ästhetisierung der Kunst. Dieser Bruch war eine Voraussetzung dafür, um Kunst als Teil der Ontologie zu beenden und sie auf eigene (ästhetische) Beine zu stellen. Wohl noch nicht die Klassik, also jene Seite des Barock, die sich an den Formen der Renaissance orientierte und zumindest unterschwellig die alte Harmonieerzählung bewahrte, wohl aber der Klassizismus, der das Regelwerk an die Stelle einer Ontologie setzte, »beendete« die Kunst im Sinne Hegels. Das neuzeitliche Vernunftsubjekt erreichte in Immanuel Kants prinzipieller Verknüpfung von subjektiver Erkenntnis und der Strukturierung von Wirklichkeit die profilierteste Fassung. Dazu verschob Kant die strenge Trennung von Subjekt und Gegenstand auf dessen An-Sich-Sein – in einen Bereich, welcher der Vernunft nicht zugänglich ist. Erst dann wird die Legitimation durch Gott endgültig überflüssig. Erst dann greift die transzendentale Wende, die nicht nur die Wissenschaften bis heute in ihrer Methodik bestimmt, sondern auch die Kunst der Moderne begründete. Dem auf der Leinwand Gestalteten kommt keine Objektivität mehr zu, sondern es ist Ausdruck subjektiver Reflexion. Ausdrückliche Positionen zur Kunst hat Descartes nicht formuliert. In einem Brief an seinen Studienkollegen von La Flèche, den französischen Theologen und Mathematiker Marin Mersenne, hatte er 1630 die Ästhetik als Wissenschaft abgelehnt. Schönheit hielt er für relativ und nicht zu begründen. Trotzdem ist sein Denken, sowohl mit der eingeleiteten Subjektivierung als auch mit der Vernunftphilosophie, kunstphilosophisch interessant. Im Discours de la méthode äußerte sich

5.2.3.

Hoppe 2003, 113

VIII.5.3.2.3.

6.1.

Scheer 1997, 43

54

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Descartes 1637, 9 Le Corbusier, zit. nach Kruft 1985, 462; im Orig. kursiv IX.2.3.5.

5.2.5. Hallyn 2001, 262 Christian Wolff

Wolff 1710, 269

Benn 1947, 23 IX.4.0.ff.

Grünbein 2006

Descartes negativ über die alten Städte mit ihren krummen und verwinkelten Straßen, gerade so als hätte sie der Zufall und nicht der Wille vernunfbegabter Menschen angelegt. Das ist ein Gedanke, den noch Le Corbusier im 20. Jh. so zu fassen vermochte: »Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg des Menschen und der rechte Winkel ist das zum Handeln notwendige und ausreichende Werkzeug.« In der Tat wurden die Städte im Barock von Grund auf erneuert und ihnen eine rationale Geometrie eingeschrieben. Auch in der Gartenkunst verwandelte sich der wilde Garten in einen »französischen« more geometrico. Wenn der englische Garten diesen Rationalismus wieder durchbrach, tat er dies aus Gründen, die in das geistesgeschichtliche Feld des Empirismus und der Romantik gehören. Ein weiteres Motiv, das Descartes ausführlich traktierte, war der Mechanismusgedanke. Für ihn ist »die Natur selbst völlig den unsichtbaren mechanischen Prinzipien unterworfen, welche die Automaten steuern. Die Kunst ahmt die Natur nach, Ars imitatrix natura.« Ein wichtiger Vermittler des Cartesischen Gedankenguts war Christian Wolff, der 1710 ein Lehrbuch für Mathematik geschrieben hatte, in dem ein Kapitel der Baukunst gewidmet war. Auch diese muss nach Wolff im Sinne des Descartes eine Wissenschaft more geometrico sein. Dementsprechend formulierte sie Wolf mit Erklärungen, Lehrsätzen, Aufgaben, Auflösungen, Beweisen und Zusätzen: »Man hat bißher die Bau-Kunst meistens als ein Handwerck getrieben. Daher ist es auch kommen, daß man sie kaum würdigen wollen unter die mathematischen Wissenschaften mit zusetzen. […] Zu dem Ende habe ich […] sie zugleich auf gewisse Gründe setzen wollen, damit sie einer Wissenschaft ähnlich würde und ein jeder Liebhaber derselben zulänglichen Grund von ihren Regeln in diesem Buch finden möchte.« Der Cartesianismus wurde in der europäischen Geistesgeschichte zu einer geradezu mythisch aufgeladenen Position. In der Debatte zwischen Moderne und Postmoderne des 20. Jh.s, die eigentlich eine zwischen Neuzeit und (Post)Moderne war, schob man ihm die Schuld für die Bipolarität und den Dualismus in der Welt sowie der alleinigen Vorherrschaft des Intellekts zu, frei nach dem Wort Gottfried Benns, der Descartes einen »Intellektualverbrecher« nannte. Es gibt aber auch ausdrückliche Verteidiger des großen Rationalisten, die wegen der Befreiung des Subjekts ihr Augenmerk auf Descartes richten. Zu ihnen gehört der Schweizer Lyriker Durs Grünbein. Für ihn ist – ein wenig Kantisch aufgefrischt – Descartes der Entdecker des Ich: »Der Geist spielt fortan mit eigenen Regeln, Intellekt und Imagination stehen einander nicht länger im Weg. […] Ich behaupte, man hat im 17. Jahrhundert, auf Descartes’ Schreibpult gezeichnet, das neue Dreieck schon sehen können, die Figur, die sich aus der Verbindung von Philosophie, Anthropologie und Dichtung ergab.« Descartes’ Gedankenwelt sickerte also über viele Umwege in das zeitgeistige Bewusstsein. Dazu gehörten auch die Grammatiker und Sprachphilosophen Antoine Arnauld und Claude Lancelot, die im Jansenisten-Kloster Port-Royal-des Champs arbeiteten. Sie verfassten, in einem Netzwerk mit Descartes und Leibniz stehend, 1660 eine Grammatik und 1662 eine Logik, die beide einige Berühmtheit erlangten, in unseren Tagen erneut durch den Sprachphilosophen Noam Chomsky. Im Sinne der

55

Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des R­ ationalismus

Aufklärung der Reformbewegung des Jansenismus wurde Logik als Voraussetzung für jeden Wissensgewinn erachtet. In diesem geistigen Kontext gilt: »Vernunft und Schönheit gehören weit mehr zusammen als Schönheit und Leidenschaft (passion), Phantasie (imagination) und Empfindung (sentiment).« Der im Amsterdamer Ghetto 1632 geborene Baruch de Spinoza löste sich 1656 in einem dramatischen Akt vom Judentum und brachte sich als Glasschleifer durch. Als Philosoph blieb er dem methodischen Ideal des Descartes verbunden und wollte eine Philosophie more geometrico entwerfen. Spinoza stand ganz in der Tradition der Kosmotheologie. In seiner Abkehr von jedem Dualismus baute er auf die Gleichsetzung von Gott und Natur (deus sive natura). Gott ist natura naturata und natura naturans, also geschaffen und schaffend gleichzeitig. Gott ist eine Substanz und hat eine unendliche Zahl von Attributen, die gleichsam der Welt entsprechen. Gott entfaltet sich in der Welt in den Cartesischen Kategorien als cogitatio (Denken) und extensio (Ausdehnung). Gott wirkt als immanente Ursache, als Verursachung seiner selbst (causa sui). Spinozas Denken steht unübersehbar in einer platonisch-neuplatonischen und averroistischen Tradition der geist- und formdurchtränkten Materie. Dieser Pantheismus hatte Spinoza die Verfluchung durch die Synagoge eingetragen und seine Distanz zum Judentum beschleunigt. Äußerungen zu kunstphilosophischen Fragen sind kaum vorhanden, dennoch war er ein Anreger und mit seinem Konzept einer geistgetragenen und dynamisch bewegten Materie leistete er einen wichtigen Beitrag für den späteren Materialismus. Die Romantik fand in seinem Gedankengebäude eine Unmenge von Anregungen. Goethes Faust war geradezu eine literarische Umsetzung des Spinozismus. Es war der 1729 in Dessau geborene Moses Mendelssohn, der das Denken Spinozas, namentlich seinen Pantheismus, den Dichtern der Romantik vermittelte. Die pantheistische Naturdeutung war für diese ein zentrales Element. Das hen kai pan und das deus sive natura waren programmatische Losungen in der Romantik. Allerdings blieb diese Programmatik meist im Verborgenen. Denn der Pantheismusvorwurf war eine allzu starke Waffe der Obrigkeit. Mendelssohn schrieb auch Abhandlungen zu Kunstfragen, Briefe über Empfindungen (1755), Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (1757) sowie einige kleinere Essays und diverse Briefwechsel, darunter einen umfangreichen mit Lessing über das Trauerspiel. In den Briefen über Empfindungen sieht Mendelssohn die Ursache für eine angenehme Empfindung in der Vollkommenheit und Schönheit von Gegenständen. Hässliche und schreckliche Gegenstände scheiden dabei ebenso aus wie traurige und die sinnliche Lust. Die Vollkommenheit ist eine vernünftige Ordnung einer Mannigfaltigkeit und es bedarf der Vernunft, um diesen Zusammenhang zu analysieren und ihn dann als angenehm zu empfinden. Dazu breitete Mendelssohn eine komplexe, im Rationalismus gängig gewordene und auf scholastische Wurzeln zurückgehende Erkennt-

Reschke Renate in ÄGB 5, 402 Baruch de Spinoza

483 Baruch de Spinoza (Gemälde um 1665); HAB II.2.3.2.

V.3.3.

Moses ­Mendelssohn

56

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

5.2.3. Barke Antonia in ÄKPh, 553

5.2.1.

4.2.1. Gethmann-Siefert 1995, 137 X.1.3.2.3. VII.5.2.1./X.3.4.

nislehre aus. Er unterschied ein oberes vernünftiges von einem unteren sinnlichen Erkenntnisvermögen. Nur das obere Vermögen ermögliche eine klare und zugleich deutliche Erkenntnis, während das untere Vermögen eine klare, aber verworrene Erkenntnis liefere. Schönheit als Einheit im Mannigfaltigen beginnt mit dem unteren, auf Sinnlichkeit ausgerichteten Erkenntnisvermögen. Das entspricht dem gewöhnlichen Zugang zur Schönheit über eine sinnliche Erfahrung. Die sinnliche Erkenntnis liefert klare, aber verworrene Vorstellungen und widersetzt sich jeder Aufhebung in den Begriff. Alexander Baumgarten hat zur gleichen Zeit von dieser Voraussetzung aus seine Ästhetik entwickelt. »Im Gegensatz zur metaphysischen Vollkommenheit beruht Schönheit auf einem Zusammenspiel von objektiven Gegenstandsqualitäten und der für uns als Menschen charakteristischen psychischen Konstitution.« Es ist die Vernunft, die Vollkommenheit und Schönheit immer wieder herstellen muss, also ein demiurgisches Versammeln einer ursprünglich keineswegs vollkommenen Situation. Daneben exponiert Mendelssohn auch das Erhabene. Dabei handelt es sich um eine Vollkommenheit, die unsere Auffassungsgabe übersteigt (Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften). Gegenstände jenseits der Überschaubarkeit rufen ein Gemisch aus Bewunderung an der schieren Größe und aus Unlust über die Unfassbarkeit des Gegenstandes hervor. Das Verhältnis von Schönem und Erhabenem löst sich in dem vom unermesslichen Gegenstand hervorgerufenen »süßen Schauer«. Mendelssohn kommt nicht umhin einzuräumen, dass auch hässliche Gegenstände eine angenehme Empfindung hervorrufen können. Das sei eine Folge des Unterschieds von objektivem und subjektivem Aspekt einer Vorstellung. In den Hauptgrundsätzen setzte er sich im Gefolge der Wahrnehmungslehre Lockes mit der Frage von Einheit und Verschiedenheit der Künste auseinander. Der theoretische Boden dieser Überlegung war die Frage nach dem Sinn der Naturnachahmung. Anders als bei Charles Batteux, der die Gemeinsamkeit der Künste in ihrem Streben nach Naturnachahmung sah, stand für Mendelssohn das Anliegen der Künste im Vordergrund, die Seele zu sittlicher Vervollkommnung zu führen. Der Künstler setzt an die Stelle der unvollkommenen Natur die Kunst. Dies entspricht einer Befreiung aus einem engen Regelwerk. Insofern ist die Schönheit der Kunst ursprünglich und jene der Natur abgeleitet. »Naturschönheit entspringt nämlich der Seele, die die Natur als eine Art Kunst auf Schönheit hin auslegt.« Nicht eine Regel, sondern die Vollkommenheit der Seelenkräfte ermöglicht dem Künstler, das Ideal zu bilden. Dabei baute Mendelssohn bei Kunstwerken in erster Linie auf die Form, welche die schöne Gestalt ausmacht. Die Einteilung der Künste vor solchem Hintergrund erläutert Mendelssohn mit einer Zeichentheorie, nicht unähnlich jener von Du Bos. Er unterschied natürliche von willkürlichen Zeichen. Die bildenden Künste, Architektur und Tanzkunst setzen (natürliche) Zeichen, die der Natur ähnlich, aber nicht mit ihr identisch sind. Das können Abbildungen ebenso sein wie Gebärden. Die Dichtkunst (Mendelssohn reiht sie unter die belles lettres) mit Sprache und Allegorie geht mit willkürlichen Zeichen um. Sie ist daher freier als die übrigen Künste, die auf das Sinnliche, auf Formen, Farben und Töne, eingeschränkt sind.

57

Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des R­ ationalismus

Von Gottfried Wilhelm Leibniz gingen wesentlich mehr und nachhaltigere Impulse für die Kunstphilosophie, insbesondere den Barock, aus als von Descartes oder Spinoza. Der 1646 in Leipzig geborene Diplomat, Jurist, Historiker, Mathematiker, Physiker und Philosoph war ein echter Universalgelehrter. Friedrich der Große soll ihn eine »Akademie für sich« genannt haben. Ähnlich wie bei Descartes ist auch bei Leibniz die Bemühung unübersehbar, eine Kommunikation zwischen Andersdenkenden zu ermöglichen. Seine persönliche Lust an solcher Kommunikation schlug sich in etwa 15 000 Briefen nieder, eine Korrespondenz mit allen führenden Köpfen der Zeit. Leibniz verfolgte die Vision einer auf mathematischen Symbolen beruhenden Universalsprache. Der neuzeitliche Akzent zeigt sich nicht nur in seinem spezifischen Mechanismusgedanken, sondern in der Rechtfertigungslehre Gottes gegenüber den Übeln in der Welt, der sogenannten Theodizee. Über dieses subtile, typisch neuzeitliche Rechtfertigungsunternehmen Gottes vor dem Menschen wurde bereits berichtet. Leibniz hat für die Kunstphilosophie eine große Bedeutung. Mit großer Kelle angetragen, klingt das so: »Neoplatonism is manifest in Leibniz’ philosophy, as expressed by the Baroque, […] The Baroque aesthetic is manifest in the philosophy of Leibniz […].« Etwas bescheidener kann man die Bedeutung an zumindest drei von ihm bearbeiteten Problemfeldern darstellen: (1) in seiner Monadologie, (2) in der Erkenntnislehre und schließlich (3) in der von Gilles Deleuze mehr oder weniger originell rekonstruierten Figur der »Falte«. (ad 1) In der Ontologie setzte Leibniz dem Monismus Spinozas einen Pluralismus gegenüber. Er entwarf die Lehre der Monade als Kraftpunkt oder Informationszentrum. Sie sollte das eigentliche Wesen der Dinge hinter der sichtbaren Wirklichkeit ausdrücken. Monaden haben keine Gestalt. Sie werden nicht erzeugt und sind streng monistisch. Sie tauschen keine Informationen untereinander aus, sondern sind durch eine geheimnisvolle Fernkraft (prästabilierte Harmonie) synchronisiert. Gegenüber der völligen (mathematischen) Naturabstraktion bei Descartes lag hier ein Substanzbegriff vor. Jede Monade hat einen bestimmten endlichen Zustand an Vollkommenheit (Perzeption). Jede Monade ist »auf ihre Weise ein Spiegel des Universums und da das Universum durch eine vollkommene Ordnung geregelt ist, muß es auch in dem Darstellenden eine Ordnung geben, das heißt in den Perzeptionen der Seele und folglich in dem Körper, demgemäß das Universum in ihr dargestellt wird.« Im Grad der Umsetzung des Informationsgehalts, also der Perzeption, in das reflektierte, damit nutzbare Wissen oder Selbstbewusstsein (Apperzeption) unterscheiden sich die einzelnen Monaden voneinander. In der gesamten Fülle besitzt dieses nur die Gottmonade. In jeder Monade liegt demnach grundsätzlich die gesamte Information der Welt verborgen (wenn auch nicht überall explizit) und ist durch ein Urteil, das vorgegebene Erkenntnis in die Ausdrücklichkeit bringt (und nicht wie ein synthetisches Urteil erweiterbar ist), prinzipiell gewinnbar. Die »fensterlosen Monaden« repräsentieren philosophisch den Prototyp des Individualismus. Man mag darin ein fernes Renaissanceerbe erblicken, das nun zur philosophischen Grundfigur des Liberalismus wurde. Auch hier folgte der Individuierung eine diese entschärfende Metaerzählung: die gerade erwähnte prästabilierte

Gottfried Wilhelm Leibniz

484 Leibniz, Gemälde von Ch. B. Francke (um 1700); HAUM 2.1.

Hendrix 2003, 103

Monadologie

Leibniz 1714, 469

58

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Erkenntnistheorie

Leibniz 1684, 23

5.2.3. die Falte

IX.4.5.6.

Conley 2011, 204

Harmonie. Gott hat alle Monaden wie ein Uhrmacher aufeinander eingestellt und so für Ordnung in der Pluralität gesorgt. Ein vernünftiger Gott hat am Anfang der Zeit die Welt als eine perfekt funktionierende Maschine geschaffen, um die er sich im Weiteren nicht mehr kümmern muss. Die Monadenlehre bietet eine exzellente philosophische Systematik für das Verständnis des Barock. In der Vorstellung der Monade gleichsam als Spiegel des gesamten Kosmos könnte man ein Modell des barocken Gesamtkunstwerks sehen, in dem jeder Teil für das Ganze steht. Der Systemgedanke bei Leibniz wiederum findet sich in den gewaltigen barocken Anlagen, die in ihren Symmetrieachsen auf die Zentralmonade ausgerichtet sind, beim Schloss Versailles war das der König. (ad 2) In seiner Erkenntnistheorie legte Leibniz Fundamente, die für Alexander Baumgarten bei der Begründung der Ästhetik eine wichtige Rolle spielten. Leibniz griff – ähnlich wie Mendelssohn – auf scholastische und frühneuzeitliche Ansichten zurück, die zwischen Verstand und Sinnlichkeit keinen radikalen Bruch wie bei Descartes, sondern einen stufenweisen Übergang annahmen. Der Erkenntnisvorgang beginnt bei einem undeutlichen, diffusen Erfahren, bei dem sich Eindrücke nicht genauer unterscheiden lassen (cognitio confusa), geht dann über in eine klare, aber verworrene (cognitio clara et confusa) Perzeption und mündet in die wissenschaftliche Perzeption (cognitio clara et distincta), bei der die Merkmale einer Sache klar unterschieden werden können. Diese in weiten Kreisen des Rationalismus so gehandhabte Erkenntnislehre bildete die Basis einer Aisthesis-Lehre, mit der das philosophische Genre einer Ästhetik bei Alexander Baumgarten begann. Bereits bei Leibniz stützte sich eine ästhetische Erfahrung auf die zweite Stufe: »So vermögen wir Farben, Gerüche, Geschmäcke und andere besondere Sinnesobjekte zwar mit hinlänglicher Klarheit zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, doch geschieht dies auf das einfache Zeugnis der Sinne hin, nicht aber durch angebbare Merkmale.« Leibniz rehabilitierte gegenüber einer durch Vernunft und Intuition gewonnenen Wahrheit eine solche auf der Basis sinnlicher Wahrnehmung. Diese für den Rationalismus großzügig scheinende Einstufung einer sinnlichen Erkenntnis ist ein durchaus konsequentes Ergebnis des Rationalismus. Die sinnliche Erkenntnis liefert zwar verworrene (also keine klaren wie die begriffliche Erkenntnis) Vorstellungen, aber es sind wahre Vorstellungen der Welt, ein (getrübter) Spiegel der göttlichen Erkenntnis. Baumgarten wertete die cognitio sensitiva insofern auf, als er ihr eine eigene Berechtigung zusprach. (ad 3) Eine eindrucksvolle Arbeit über Leibniz als den Philosophen des Barock stammt von Gilles Deleuze (Die Falte. Leibniz und der Barock; 1988). Für Deleuze ist die Frage nicht, ob der Barock eine Periode vom Konzil von Trient oder vom Beginn der Religionskriege in Frankreich bis zur Vollendung von Versailles oder dem Ende der Politik Colberts 1684 umspannt, es geht ihm überhaupt nicht um eine historische Periode. Barock ist für ihn vielmehr »a prescient way of thinking about space and habitus; as modes of reasoning and of seeing that characterize the modern age, especially point of view; as shimmering waves of vibrations at the very basis of what we call sensation.« Er macht den Barock in der Spielart von Leibniz zu einer univer-

59

Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des R­ ationalismus

sellen Figur bestimmter organischer und fraktal geometrischer Form- und Raumkomplexe. Die Frage stellt sich nach der Generierung dieser beschriebenen Formen. Deleuze lässt sie aus der Linie durch die sogenannte Inflexion herauswachsen: »Die Inflexion ist das wirkliche Atom, der elastische Punkt, ist das, was Klee als das genetische Element der aktiven, spontanen Linie hervorhebt. So bezeugt er seine Affinität mit dem Barock und mit Leibniz, sowie seinen Gegensatz zum Cartesianer Wassily Kandinsky, für den die Winkel hart sind, der Punkt hart ist, durch eine äußere Kraft in Bewegung gebracht.« Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Beschreibung der »Falte« als lebendiges Wesen der Materie an verschiedenen Stellen bei Leibniz. Der Barock ist nicht die Zeit der geraden Linie, sondern der gekrümmten und geschwungenen. »Für uns ist in der Tat das Kriterium oder der operative Begriff des Barock die Falte, in ihrem ganzen Inhalt und ihrer ganzen Extension: pli selon pli.« Pli selon Pli heißt auch eine Komposition von Pierre Boulez (Uraufführung 1960), die sich auf Sonette von Stéphan Mallarmé bezieht. Ein solches Verweisspiel soll zeigen, dass der barocke Faltenwurf alle Genres durchzieht: »Es gibt also eine barocke Linie, die genau der Falte gemäß verläuft und die Architekten, Maler, Musiker, Dichter und Philosophen vereinen könnte.« Materie kommt derart in eine Nähe zum Leben, sie beginnt sich zu verformen, Falten zu werfen und wird zur Gestalterin der barocken Form. »Die gefaltete Materie ist zugleich eine Zeit-Materie, deren Phänomene als kontinuierliche Entladung zu verstehen sind; sie besitzt Spannkraft, die eine fast muskulöse Konzeption von Materie voraussetzt.« Zugleich tritt die Monadenlehre von Leibniz in den Blick, für Deleuze eine Aushöhlung von Welten, die es auch »in den winzigsten Körpern gibt«. Leibniz konnte seinen Begriff der Falte zurückführen auf Nikolaus von Kues, der die Ein- und Entfaltung der Schöpfung aus Gott beschrieb. In Unendlichkeit und Fortschritt (1694) entwarf er eine Unendlichkeitsdimension, die in jedem materiellen Körper komprimiert auf seine Entfaltung wartet. »Das Neue an Leibniz’ Begriff des Unendlichen ist, dass er es mit einer als organisch bezeichneten Materie und der Annahme der Kraftentfaltung verbindet und es solchermaßen als Prinzip entwickelt, das aus der kleinsten Materieeinheit heraus wuchert und im unendlich Kleinen fortgesetzt neue Unendlichkeiten erzeugt.« Was Deleuze an solchen ­Stellen auch wahrnimmt, ist die ­anhebende Lust am Dynamischen, die das 19. Jh. prägen und das Eintrittstor für die Moderne sein wird. »Denn Welle und Woge, Spirale und Wirbel sind ja die stets wiederkehrenden Figuren der Philosophen und Künstler, die seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts die Dynamik und Kreativität des Lebens ästhetisch und kulturkritisch gegen Materialismus und Dekadenz aufboten.« Die barocke Faltung unterscheidet sich von Faltungen vor dem Barock durch ihre grenzenlose Freisetzung. »Die Falten scheinen ihre Träger zu verlassen, Gewebe, Granit und Wolke, um in einen unendlichen Wettstreit einzutreten, […].« Es

Deleuze 1988, 29

Ebd., 60

Ebd., 60

Neuwirth 2015, 241 Deleuze 1988, 17 VI.4.2.1.

Ott 2014, 182 485 Falte und Dynamik, Stuckdekor, Helblinghaus (um 1730); Innsbruck

Hülk 2012, 176

Deleuze 1988, 61

60

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ott 2014, 185

IX.2.3.5./IX.5.3.2. Bal 2001

3.3. Deleuze 1988, 36 IX.5.2.7./IX.6.2.3.

geht also nicht darum, eine Falte zu beenden, sondern sie fortzusetzen. In solcher Fortschreibung von Leibniz bestimmt Deleuze den Barock »als überzeitliche operative Funktion der Faltung und trifft ihn in unterschiedlichen künstlerischen und philosophischen Verfahren an.« Die sozusagen frei flottierende Falte eliminiert unter anderem den Grenzverlauf zwischen Außen- und Innenraum. Dieses Paradigma finde sich wieder bei Le Corbusier und in der dekonstruktivistischen Architektur der Gegenwart. Einen anderen, höchst aktuellen Aspekt macht Mieke Bal fest, indem sie in der Falte das Einbeziehen des Subjekts in die Formung des Gegenstandes sieht. Bal verschiebt die ganze Frage auf die Rezeptionsseite. Das Dynamische offenbare sich im Ereignis des Betrachtens. Barock als Evokation eines Geschehens, in das die Rezipientin verstrickt ist! Als Beispiel eignet sich die Deckenmalerei Pozzos mit mehreren Fluchtpunkten, welche die Betrachterin in einer ständigen Dynamik halten. »Wenn der Gegenstand seinen Status gründlich ändert, dann auch das Subjekt.« Das bringt uns auf die Linie, die im 20. Jh. in der Medienkunst die avancierteste Anwendung findet.

2.2.2. Gracián und der bon goût

Baumeister 2012, 188

Reschke Renate in ÄGB 5, 412 Baumeister 2005, 190 Gracián y Morales

Der Rationalismus war die philosophische Grundlage für Barock und Klassizismus gleichermaßen. Aus dieser Spannung speiste er eine gängige Vokabel des 18. Jh.s, den bon goût. »Der Begriff und das Problem des Geschmacks sind in der Ästhetik und Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts allgegenwärtig.« Neben dem üblichen Harmonievokabular machte dieser Ausdruck eine Karriere innerhalb des klassizistischen Paradigmas. Die Besonderheit dabei ist, dass sich in diesem Begriff, der philosophisch in erster Linie von der sensualistischen Seite des Rationalismus gespeist wurde, auch der Empirismus finden konnte. Rationalismus und Empirismus trafen sich in diesem bon goût im gemeinsamen Anliegen der Aufklärung. Sein großer Auftritt im 18. Jh. hatte – abseits philosophischer Erörterungen – auch zu tun mit einem verbreiteten neuen Bedürfnis nach guten Manieren, nach Höflichkeit und gepflegter Konversation. Er wurde auf alle kulturellen Tätigkeiten, von der Literatur über Malerei, Bildhauerei und Architektur bis zum Produktdesign, angewandt, war also ein Ausdruck von gesellschaftlichen und öffentlichen Konventionen. Es lag an der normierenden Etikette des Hofes in Versailles, dass der Begriff in Frankreich eine große Resonanz fand. Die umfangreiche Geschmacksdebatte war damit Teil der Herrschaftsdiskurse, aber es dürfte dennoch eine Engführung sein, diese Debatte ausschließlich unter politischem Vorzeichen zu sehen und sie auf Herrschaftstechniken zurückzuführen. Immerhin spiegelte sich darin auch die Emanzipation des Individuums, nämlich sein eingefordertes »Recht, selbst zu urteilen und Erfahrungen zu machen, wie es auf beispielhafte Weise in der Kunstkritik Diderots zum Ausdruck kommt.« Der Ausdruck, der wesentlich vom Jesuiten Baltasar Gracián y Morales geprägt worden war, ist ein kunstphilosophischer und ästhetischer Fachterminus. Gracián war ein großer Moralist. Er stellte den Helden seines unter dem Namen seines Bru-

61

Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des R­ ationalismus

ders Lorenzo erschienenen politischen und moralistischen Traktates El Héroe (1639) als tugendhaften Mann mit gutem Geschmack dar. Gracián legte weder eine Systematik der Schönheit noch eine der Kunst vor, vielmehr kultivierte er den Geschmack als Fähigkeit, »immer die rechte Wahl zu treffen.« Ganz im Rationalismus beheimatet, stellte er den Menschen als ein Kunstwerk in einem von Gott geschaffenen vollkommenen Kosmos vor, ausgezeichnet mit dem Streben nach Heiligkeit. Ein platonisierendes Mikro- und Makrokosmos-Verständnis bestimmt die Aufgabe der Kunst, durch die Veredelung der Natur den guten Geschmack zu bilden. Letztlich sei es die Kunst, die den sittlich wertvollen (daher auch schönen) Menschen vom gewöhnlichen Pöbel scheidet. Was den Anschein klerikaler Arroganz auslöst, muss als Ausweis einer höfischen Geisteskultur gesehen werden, zu der gutes Auftreten und intellektuelle Attraktivität gehörte. In diesem bon goût versammeln sich Schönheit und Sittlichkeit. Voltaire, dieser »Libertin mit Stil«, und Montesquieu beteiligten sich prominent in der Encyclopédie d’Alemberts bei einem von mehreren Autoren verfassten größeren Kapitel über den goût an der Diskussion. Die Anforderungen an den Geschmack sind ehrgeizig. Immer wieder wird betont, dass nur eine Minderheit ihm gerecht werden kann. Der Begriff des bon goût drückt seine Nähe zur Sinnesaffektion aus, umfasst aber implizit auch ein Verstandesurteil. Er ist damit ein passendes Produkt des Rationalismus. Von den vielen Bezügen, die ihm zukommen, sollen zumindest drei erwähnt werden: (1) Er vermittelte in der Architekturtheorie zwischen den Aspekten des Klassischen und Barocken. (2) Er schwankte in der Rezeption zwischen der ursprünglichen Bedeutung in der »Akademiediskussion unter Blondel, Abspracheergebnis einer privilegierten sozialen Schicht« zu sein, und dem Anspruch eines subjektiven Geschmacksurteils bei Sébastien Le Clerc. Und schließlich (3) entwickelte sich daraus die Ambition nach einem universellen Geschmacksurteil, wie das Kant dann in Angriff nahm. Für das Kriterium der Schönheit in Form des Genusses bietet die Position von Charles Perrault Anschauungsmaterial. Perrault ging es nicht um Aufhebung des Symmetriebegriffs (certaine proportion), sondern um eine Relativierung desselben durch die Berücksichtigung der Grazie (le grace de la forme) bei einem Bauwerk! Diese Rücksicht auf den Geschmack erlaubte Perrault eine selbstbewusste Freiheit gegenüber der Antike, weniger bei den Proportionsregeln, wohl aber bei den darüber hinausgehenden Formfragen. Perraults Position ermöglicht geradezu eine resümierende Sicht auf den bon goût, der einerseits die klassizistische Regel des Schönen ausdrückte und andererseits, darauf aufbauend, das subjektive Geschmacksurteil beschrieb, das man letztlich als gegenkulturellen Impuls gegen die Regel ansehen kann. Mit den Regeln des Schönen im Sinne des Klassizismus war die regelgeleitete Harmonie im Sinne Vitruvs gemeint, die nun normiert und, von den Akademien als bon goût institutionalisiert, die Vernunft- und Systemorientierung dominierte. Der französische Architekt Jean Courtonne sprach in seinem Traktat Traîté de la Perspective pratique (1725) von »une certaine proportion qui a été d’abord établie par ces grands Architectes de l’Antiquité, […].« Den Gedanken, dass die Proporti-

Felsner 2010, 48

Kruft 1985, 160

Charles Perrault

X.1.3.2.3.

Courtonne, zit. nach Keller 1971, 70

62

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Racine 1674, 48

Kruft 1985, 161

Lüthe Rudolf/Fontius Martin in ÄGB 2, 793 5.2.1. Jean-Baptiste du Bos

David Hume

onen letztlich von den großen Architekten der Antike gefunden wurden, übernahmen zahlreiche weitere Schriften. Beinahe wörtlich findet sich die Passage später bei Jean-François Blondel. Der Aufklärung zuneigende Intellektuelle – etwa der Architekt Germain Boffrand in seinem Livre d’architecture – formulierten die Geschichte von an der Vernunft orientierten Völkern und Personen, wobei diese Vernunftorientierung einer Ausrichtung an der alten Harmonielehre entsprach. Damit war auch für das Genie die enge »Freiheit« innerhalb des Regelkanons abgesteckt. Auch in der Literatur dachte man nicht anders. Jean-Baptiste Racine, Mitglied der Académie français, schrieb im Vorwort seiner Iphigénie über die Übereinstimmung im Geschmacksanspruch von Paris mit jenem von Athen: »Le goût de Paris s’est trouvé conforme à celui d’Athènes […].« In den ersten Jahrzehnten des 18. Jh.s gab es eine Neuadjustierung des Begriffs in der Akademie, der dann weniger Schärfe enthielt und, wie am Beispiel Perraults bereits erwähnt, den Standpunkt der Rezeption einbezog. Die Nachfolger Blondels reicherten den Begriff mit einer Prise Funktionsabhängigkeit des Geschmacks an. Dem bon goût als höchstem Begriff folgten in der Akademiedefinition der Architektur ordonnance, proportion, convenance, die sich allesamt an der usage, also an der Funktion orientieren. Das bedeutete das Praktische, Bequeme, Modische. »Die ästhetischen Kernbegriffe geraten in Abhängigkeit vom Gebrauchswert der Architektur. Die Idee einer normativen Architekturlehre wird von der Akademie in ihren eigenen Definitionen aufgehoben.« Damit wurde der bon goût in die Nähe des subjektiven Geschmacksurteils gerückt, das sich nur zögernd aus der Klammer der akademischen Institution löste. In dieser Bedeutung geschah sozusagen innerhalb des Geschmacksbegriffs selbst ein Umbruch. Kunst befreite sich von politischen, moralischen, religiösen Aspekten hin auf einen rein ästhetischen Gesichtspunkt, der noch dazu im Subjekt sein Kriterium fand. »Der (individuelle) Geschmack wird so zu einem ästhetischen Gewissen, das in Fragen des ästhetischen Wertes die letzte Entscheidung hat.« Jean-Baptiste du Bos stellte Gefühl und Empfindung (sentiment) gegen die Regelästhetik der Akademie. Die Empfindung sei ein Instrument, mit Hilfe dessen man zu einem objektiven ästhetischen Urteil gelangen könne. Die Bedeutung kippte von einer institutionalisierten Regel (Rationalismus) zur Sensibilität gegenüber der Kunst (Empirismus), die man in der Praxis ausbilden konnte. In einer solchen Bedeutung ist der Begriff bis heute aktuell. Zugang zur Kunst und in weiterer Folge zu ästhetischen Erfahrungen verschafft man sich nicht zuletzt durch Beschäftigung mit ihr, durch Ausbildung eines Beurteilungswissens bis hin zur Kennerschaft. Dieser Optimismus, der durch die Erfahrung wohl einige Nahrung erhält, bildet die Grundlage für einen weiteren Optimismus, nämlich den Glauben an die Möglichkeit eines allgemeinverbindlichen Geschmacksurteils. Der bon goût wurde auf diese Weise – z.B. beim Literaturkritiker und Freigeist Charles de Saint-Évremond – dem Wandel der Geschichte unterworfen. David Hume fragte in seinem Standard of Taste (1757), ob der Geschmack zur Natur des Menschen gehöre oder ob er eine willkürliche subjektive Eigenschaft sei,

63

Struktur des Barock

und entschied sich für die erste Variante. Geschmack als Ausstattung der menschlichen Natur wurde jetzt zu einer im Menschen angelegten Fähigkeit zu ästhetischen Urteilen. Auch bei Hume blieb für eine anzustrebende Universalität die Bildung eine notwendige Voraussetzung. »[…] der bloß naturwüchsige Geschmack [musste] zu einem kultivierten Geschmack« werden. Humes Theorie war letztlich eine Theorie des Klassizismus, bei der die Aspekte des bon goût zu verbinden versucht wurden. Damit war die Debatte um das Geschmacksurteil eröffnet, das einerseits eine subjektiv-empirische Komponente haben, andererseits aber einer bloß subjektiven Relativität entkommen sollte. Im 19. und 20. Jh. verlor der bon goût seine Bedeutung. Angesichts der Pluralisierung der Stiloptionen kann das nicht überraschen. Zudem trat das Genie in eine neue Rolle. Es emanzipierte sich aus seiner Demiurgenrolle und wurde zum kreativen Gestalter, der sich von der jetzt als antiquiert geltenden Geschmacksvorgabe zu befreien suchte.

5.1.

Lüthe Rudolf/Fontius Martin in ÄGB 2, 800f

486 Giebelschmuck am Louvre; Paris

3.0. Struktur des Barock Landläufig verbindet man mit dem Barock, der letzten großen Stilepoche, einen überladenen, kulissenhaften protzig-pompösen Kunststil, der zu seiner Zeit noch mit negativen moralischen Konnotationen der Unehrlichkeit, Regellosigkeit und Abkehr von der göttlichen Ordnung zu kämpfen hatte. Er gehört nach dem heutigen Zeitgeschmack nicht unbedingt zu den bevorzugten Stilperioden. Das ist allerdings eine eher vordergründige Sicht. Der Barock zeigt nicht nur sehr verschiedene Gesichter, er ist kunstphilosophisch ein faszinierender Ausdruck der Zeit. Der Barock war europäisch und weltläufig zugleich und er war »geschichtsläufig« in dem Sinne, dass er als einzige Stilform im 20. Jh. in allen Genres eine lebhafte modern-postmoderne Rezeption erfuhr. Dass es auch um den Sinn des Barockbegriffs eine lebhafte Debatte gibt, soll in den folgenden Kapiteln nur am Rande Erwähnung finden, weil sie zum Metadiskurs der Epochenfrage der Geschichtswissenschaft gehört. Die Einschätzungen dazu divergieren zwischen dem Versuch, aus dem Barock einen ähnlichen allgemeinen Kulturbegriff zu machen, wie dies für die Renaissance einigermaßen akzeptiert wird, auf der einen Seite und der brüsken Ablehnung einer solchen Anmutung auf der anderen Seite. Zur Zeit findet der Barock als Epochenbezeichnung im Diskurs wieder einige Fürsprecher.

z.B. Duchhardt 1994

64

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

3.1. Kontexte

Hubala 1970

Bottineau 1986, 211 487 François Girardon, Raub der Proserpina; Versailles

Kruft 1985, 113/116

Auflösung o­ ntologischer Verbindlichkeit

Sucht man nach einer genaueren Definition dessen, was barock ist, stößt man in der einschlägigen kunsthistorischen und philologischen Literatur auf viel Unsicherheit. Nicht nur über die Herleitung des Begriffs wird diskutiert, auch in der Sache selbst gilt es zu beachten, dass zum Barock genauso wie das Überladene auch die Fortschreibung der Renaissance-Klassizität gehört. Erich Hubala beschrieb im 9. Band der Propyläen Kunstgeschichte, der den Barock behandelt, eigentlich seine klassisch-klassizistische Variante. Auch Yves Bottineau ringt in der Darstellung des Barock im einschlägigen Band der Großen Epochen der Weltkunst. Am Beispiel der Skulptur Raub der Proserpina von François Girardon stellt Bottineau fest: Die Skulptur sei »vom Thema und der inneren Kraft her antik, in diesem Sinne also klassisch; und doch ist die Dynamik unbestreitbar. Muß man nun diese Gruppe als barock bezeichnen?« Diese Schwierigkeit der Kunsthistoriker in der Stilanalyse steigert sich noch bei einer kunstphilosophischen Bewertung, denn es gibt nur wenige nennenswerte theoretische Reflexionen dazu. Die Barockkünstler und Barockarchitekten haben sich zwar zu Farbe und Emotion, zur Multiplikation von Fluchtpunkten und zum rhetorischen Ausdruck bekannt, aber nur wenige systematische Abhandlungen dazu formuliert. »Es muß hier auf die eigentümliche Tatsache hingewiesen werden, daß die italienische Architektur des Früh- und Hochbarock keinen theoretischen Ausdruck fand. Die formulierte Kunsttheorie der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts befand sich weitgehend im Gegensatz zur realen Entwicklung der bildenden Künste und Architektur. Als Zentrum der Diskussionen darf man wiederum die Accademia di San Luca in Rom ansehen.«/»Es ist außerordentlich bedauerlich, daß sich weder Bernini noch Borromini oder Pietro da Cortona zusammenhängend über Architektur geäußert haben.« Ganz anders ist dies bei den reichlich reflektierten klassizistischen Positionen. Aus diesem Grund bleibt wenig anderes übrig, als auf den Phänotyp des Barock zu verweisen, seine Üppigkeit und Dynamik, seine theatralische Kulissenhaftigkeit, seine verschwenderische Ornamentik, seine Emotionalität bis hin zur Ekstase. Der Barock entwickelte sich aus der Renaissance, zunächst über den Manierismus, also dem ganz bewussten Bruch mit den klassischen Vorgaben der Harmonie, denen sich die Renaissance verpflichtet fühlte. Die Motive für den Barock entsprechen daher den Motiven für die Verabschiedung der Renaissance im Manierismus, wie sie im Kapitel VI.8. dargestellt wurden. Andererseits kann der Barock auch als konsequente Fortsetzung der Eigenart der Renaissance gelesen werden, die antiken Motive zu einer neuen Synthese zu führen. Barock bezeichnete dann den graduell freieren Umgang mit den Architekturelementen. Das ist reichlich vage. Vielleicht kann in dieser Frage der Blick auf die leitenden philosophischen Erzählungen weiterhelfen. Die Synthese der Renaissance geschah im Kontext einer platonischen Leiterzählung. Diese bildete den ontologischen Rahmen einer auf strenge Harmonie ausgerichteten Ästhetik. Es ist nicht unplausibel, davon auszugehen, dass erst der Verlust der Verbindlichkeit dieser kunstphilosophischen Rahmenerzählung einen

65

Struktur des Barock

freieren Umgang mit den Elementen zuließ. Die Querelle des Antiques et des Modernes wäre dann nichts anderes als ein Test der Verbindlichkeit solcher philosophischer Leiterzählungen. Die philosophischen Schulen der Neuzeit bereiteten nicht zuletzt durch die forcierte Subjektivierung einer Auflösung der ontologischen Verbindlichkeit und der damit verbundenen Ästhetisierung den Boden. Hinzu kam die sowohl im Empirismus als auch im Rationalismus (mit unterschiedlichem Nachdruck) formulierte Würdigung einer sinnlichen Erkenntnis. Bei Letzterem mag überraschen, dass auch der Rationalismus dafür herangezogen wird. Aber dies ist – ideengeschichtlich betrachtet – nicht inkonsequent. Die Behandlung des Sinnlichen und Materiellen in Platons Demiurgen-Gleichnis erfuhr in der Renaissance mit aristotelischen Hintergründen eine Verstärkung. Das Muster, nach dem die demiurgische Bewegung die sinnliche Welt nobilitiert, entspricht der Form (und der Regel) im neuzeitlichen Geniekonzept. Der Streit um Regel und Regelverletzung spielt aus diesen Gründen auch in der Diskussion um die Nachahmung der Natur eine führende Rolle. Dass dieser Streit so lange währte, lag daran, dass die Auflösung der ontologischen Verbindlichkeit durch das Streben nach einer rationalen Verbindlichkeit verzögert wurde, die letztlich in den Regelkanon des Klassizismus mündete. Denn auch der – ich nenne es an dieser Stelle: »geschwungene Barock« – blieb einer systemphilosophischen Rationalität untergeordnet. Gehorchte der Klassizismus schließlich nur mehr einer Regel um der Regel willen, begannen die barocken Formen ein Eigenleben zu beanspruchen. Wenn diese Überlegungen richtig wären, ließe sich die (freiere) klassische Fortsetzung der Renaissance nochmals vom regelgetragenen Klassizismus abheben. Der Klassizismus steht als epigonale Rückkehrbewegung zur antiken Klassik der Romantik näher als der aus der Renaissance gewachsenen Klassik. Wie alle epigonalen Erscheinungen hielt er formale Kriterien hoch, einen Regelkanon, der seine inhaltliche Überzeugungskraft längst eingebüßt hatte. Der Klassizismus setzte sozusagen die Wende in eine Ästhetik voraus, die eine richtungsgebende ontologische Verbindlichkeit verloren hatte. Der Vorschlag der Berücksichtigung philosophischer Leiterzählungen macht die ideengeschichtliche Bewegung verständlicher, er hilft allerdings kaum dabei, den Barock einer genaueren Definition zuzuführen. Fragt man nach dem »Barocken« im Klassischen (in Kunst und Literatur), erhält man meist unscharfe Antworten wie den Verweis auf einen Ornamentüberschuss. Es schien daher geboten, eine Beschreibung der »Struktur des Barock« zu unternehmen, die zunächst Eigenschaften zu begreifen versucht, die man landläufig mit dem Barock verbindet – mit ausdrücklicher Berücksichtigung philosophischer Kontexte. Denn der Barock strahlt nicht nur eine kunsthistorische Faszination aus – manche Kunsthistorikerinnen und Künstler sehen gut nachvollziehbar in der barocken Bildkunst den Höhepunkt der Malerei überhaupt –, sondern er ist auch eine reizvolle Umsetzung philosophischer Systeme, insbesondere des Rationalismus. Dieser philosophische Hintergrund kann auch helfen, weitere Problemkreise zu entschlüsseln, die dem Barock nachhängen, jene des Verhältnisses von Barock und Katholizismus und jene von Barock und Absolutismus.

sinnliche ­Erkenntnis

VIII.3.2.1.ff.

66

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

1.3.f. Stil der ­ egenreformation G

Weisbach 1921, 6

Engelberg 2008b, 231

488 / 489 Basilika Mariae Empfängnis (18. Jh.); Innsbruck

Auf die Beziehung zwischen Barock und Katholizismus wurde bereits hingewiesen. Die Deutung des Barock als Stil der Gegenreformation ist zweifellos nicht mehr zeitgemäß. Werner Weisbach sprach in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts von »gegenreformatorischer Kunst«. Allerdings meinte er damit die Rückwendung der Kirche ins Mittelalter angesichts der in Renaissance und beginnender Neuzeit anbrechenden neuen Zeiten und er konstatierte, dass sich der Barockstil diesem »Reformkatholizismus« »in einem besonderen Maß und Umfang angeschmiegt hat […].« Das wäre eine auch heute noch passable Sicht der Dinge. Den aktuellen Stand dieser Diskussion fasst Meinrad von Engelberg zusammen: »Es ist ein geläufiges Missverständnis, den Barock als einen genuin katholischen Stil zu verstehen. Es war ein Zeitstil, der von beiden Konfessionen als gleichermaßen angemessener Ausdruck der eigenen Glaubenswahrheiten und Raumideale entwickelt wurde. Vielleicht ist der Protestantismus nie selbstbewusster und innovativer mit raumgestalterischen Aufgaben umgegangen als in jenen anderthalb Jahrhunderten: […].« Dem ist kaum zu widersprechen, was die Stiloption selbst betrifft. Allenfalls sollte der Hinweis nicht fehlen, dass es zumindest in der Art des Gebrauchs barocker Stillagen Unterschiede gab. Von Engelberg weist auf die beiden Aufgaben im Sakralbau (im Sinne der beiden Konfessionen) mit »Predigtsaal und Klosterkirche« hin. Wenngleich sich die Bauten im äußeren barocken Erscheinungsbild kaum oder gar nicht voneinander unterschieden, taten sie das meist sehr wohl in der Innenaus-

stattung. Es gab durchaus eine unterschiedliche Sicht des Kirchenraums. Der katholischen Kirche dienten Bau wie Liturgie als Symbol des mystischen Leibes Christi. In der Kirche vollzog sich ein Mysterium der realen Darstellung des Körpers eines Gottes. Kirchen im katholischen Bereich wurden propagandistisch in Kontexte, in jenen der Haptik des »Körpers« der Kirche oder in jenen des Wallfahrtswesens, eingegliedert. In einer theatralischen Liturgie wurden Christusfiguren unter dem Klang von Musik und Glocken in der Kirche feierlich nach oben gezogen und verschwanden in einem eigens dafür vorgesehenen Loch in der Decke, zu Pfingsten schwebte umgekehrt eine Taubenfigur nach unten, am Palmsonntag zog man Palmesel aus

67

Struktur des Barock

Holz durch die Straßen und baute den Altarraum am Karfreitag in eine großes heiliges Grab um. Es ist eine katholische Eigenheit, an Stellen obskurer Wunderberichte durch tiefgläubige Menschen, welche die aufgeklärte Kirchenobrigkeit nicht selten widerstrebend übernehmen musste, üppige Bauwerke zu errichten. Die prächtige Umbauung solch nickender Madonnen, blutender Hostien, magischer, aus dem Himmel wie Feuerwerkskörper niederfahrender Lichtkaskaden trieb manch einen Klosterverband in den finanziellen Ruin. Umgekehrt förderten eine Wunderkammer von Tischtuchteilen des Letzten Abendmahls, Splitter des Kreuzes Jesu und ein Gürtel des Täufers Johannes die Wallfahrtsaktivitäten und brachten Klöstern gleichermaßen Aura und Reichtum. Ignatius von Loyola, dieser Ritter Jesu, gab Anweisungen zu geistlichen Übungen, wo man mit allen Sinnen selbst die Erfahrung der Hölle machen konnte: »[…] mit der Sicht der Vorstellungskraft die Länge, Breite und Tiefe der Hölle zu sehen. […] Um inneres Verspüren der Qual bitten, die die Verdammten erleiden […] Mit den Ohren Gejammer, Geheul, Schreie Lästerungen gegen Christus, unseren Herrn und gegen alle seine Heiligen hören. […] Mit dem Geruch Rauch, Schwefel, Unrat und Faulendes riechen. […] Mit dem Geschmack Bitteres schmecken, wie Tränen, Traurigkeit und den Wurm des Gewissens. […] Mit dem Tastsinn berühren, nämlich auf welche Weise die Gluten die Seelen berühren und verbrennen.« Das ist die Befehlsausgabe zur kontrollierten mystischen Erfahrung. »Es war der Zweck der Geistlichen Übungen, durch ein allgemein anwendbares psychotechnisches Verfahren ein breites Publikum für eine bestimmte Glaubensform zu präparieren und die religiöse Phantasie in geregelte Bahnen zu lenken.« Ich sprach bereits im Mittelalter-Teil über die prägnante Ausbildung der Mystik als Materialisierung des Körpers der Kirche. Das findet in Barock und Rokoko eine Fortsetzung. Matthäus Günther malte im Chor der Kirche im oberbayrischen Indersdorf 1757 ein Fresko mit folgender ungustiöser Szene: In das brennende Herz des hl. Augustinus fließen aus der Seitenwunde Christi dessen Blut und aus der Brust Marias Milch. Vor allem in der spanischen Kunst huldigte man solch mystischen und die materielle Seite betonenden Themen. Francisco de Zurbarán malte im Zyklus von Guadalupe eine blutende Hostie, die in den Himmel schwebt. Ähnlich wie bei den Prunksälen im Bereich der weltlichen Residenzen bot der barocke Kirchenraum einen durch die Versammlung der Künste probaten Rahmen für dieses mystisch-institutionelle Spektakel der Sinne. »Kostbare Materialien und eine delikate Farb- und Lichtregie spielen dabei eine wesentliche Rolle.« Demgegenüber blieb die evangelische Kirche eher (wenngleich nicht immer) ein schlichter Festsaal der Predigt und einer symbolischen Erinnerung. Der katholische Raum musste eine sakrale Würde aus sich selbst haben, während der evangelische Kirchenbau vor dem Wort zurücktrat und sogar den Auftraggeber transportieren durfte. 1791 setzten sich die Autoren der in Augsburg erschienenen Schutzschrift für die Pracht beym katholischen Gottesdienste für die Bewahrung barocker Prachtentfaltung ein. Die »Pracht«, also die alte der Rhetorik entstammende Stillage des ornatus, tauchte in vielen zeitgenössischen Beschreibungen und Briefen als eine Tugend der

Ignatius v. Loyola 1978, 44

Weisbach 1921, 13 V.5.3.2.

Borngässer Barbara in Toman 2010, 648

Büttner 2008, 352

68

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Scott 1914, 25/26 Barock und ­Absolutismus

IX.3.2.4. Hubatsch 1958, 136f

Maravall 1975

Moser Walter in ÄGB 1, 604–617

Hubala 1970, 13ff

Herrschenden auf und wurde dementsprechend auch für die Kirche gefordert. Die Spannweite der prachtvollen Verkörperung des Glaubens reichte von der noch von der Renaissance geprägten Jesuitenkirche St. Michael in München (1597), das ein Nabel der katholischen Gegenreformation war, bis zu den verschiedenen Wallfahrtskirchen und schlossartigen Klosterkomplexen. Eine bewusste Gegenposition zu einer konfessionellen Barockauffassung formulierte Geoffrey Scott bereits 1914, also in etwa zur gleichen Zeit, wie Weisbach genau diese Verbindung beschrieb. Sosehr er die Funktionalisierung des Barock erkannte (»Never, perhaps, has architecture been more successfully or more deliberately made the tool of policy […]«), beharrte er darauf, dass der Barock, den er als humanistischen Stil bezeichnete, nur den Gesetzen der Ästhetik folgte: »The style had an orbit, and an impetus, of its own.« Scott setzte mit seinem Buch einen Meilenstein auf dem Weg einer Revitalisierung des Barock im postmodernen Kontext. Bleibt das Verhältnis von Barock und Konfessionalismus also mehrschichtig, gibt es zwischen Barock und Absolutismus einen eindeutigeren Bezug. Die Tatsache, dass die absolutistisch regierenden europäischen Fürsten barock gebaut haben, hat dem Barock manchmal eine politische Schlagseite und eine negative Bewertung eingebracht. Verächter der alten Periodisierung, damit auch des Barockbegriffs, haben den Vorschlag in die Debatte eingebracht, statt Barock die Ausdrücke Gegenreformation und Absolutismus zu verwenden. Der Stil kannte bei seiner Entstehung in Rom keine politischen Motive. Auch hatten weder der Absolutismus in Europa noch die regierten Gesellschaften ein einheitliches Gesicht. Der Barock als einheitlicher Stil (mit deutlichen lokalen Prägungen) deckte sehr verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen ab. Insofern sind einzelne Deutungen im 20. Jh., die den Barock ausschließlich als politisches (reaktionäres) Repressionswerkzeug instrumentalisieren, wie die Theorie José Antonio Maravalls, eine sehr eingeschränkte Zugangsweise zum (in diesem Fall spanischen) Barock. Solche Deutungen sehen von der ästhetischen Dimension weitgehend ab, erfahren aber besonders in Lateinamerika, das den Barock mit den spanischen und portugiesischen Eroberern mitgeliefert bekam und wo der Barock eine koloniale Kultur begründete, viel Zuspruch. Konterkariert werden sie durch die gegenläufige Beobachtung anderer, wie Octavio Paz. Demnach habe die barocke Kultur letztlich einen Modernisierungsprozess in Gang gesetzt, einen kulturellen Synkretismus ermöglicht und damit dem Barock eine bis heute wirksame verbreitete Akzeptanz und Präsenz gesichert. In dieser Ambivalenz zwischen Kolonialismus, Moderne und Kulturvermischung läuft noch in unseren Tagen eine angeregte Barock-Debatte in Lateinamerika. Barock sei nach einem der Wortführer in dieser Debatte, dem in Frankreich geborenen kubanischen Schriftsteller Alejo Carpentier, nicht nur der prägende Geist Amerikas mit seiner Rassenmischung, sondern barock sei auch der kreolische Geist. Das Verhältnis von Barock und Absolutismus ist demnach ähnlich komplex wie der Barock selbst. Erich Hubala verweist auf mannigfache Konfrontationen zwischen Barock und Absolutismus. Man könnte darunter auch das Scheitern von Berninis

69

Struktur des Barock

Louvre-Entwurf subsumieren (für das die Kunsthistorikerinnen zahlreiche Gründe angeben). Bernini habe nach dieser Leseart eine Verherrlichung des Königs intendiert, doch in Paris wollte man mittlerweile den Staat verherrlicht sehen. Dem kann man zustimmen, unabhängig davon, dass im Detail hierzu Fragen offen bleiben. Etwa ob es dann gerechtfertigt sei, in diesem Fall überhaupt einen Unterschied zwischen König und Staat zu machen? Ist der Louvre als Regierungssitz zu vergleichen mit dem propagandistischen Anspruch, den Ludwig XIV. in Versailles verfolgte? Schon der Blick auf den Umgang mit Nicolas Fouquet, der es gewagt hatte, ein konkurrierendes Repräsentationsschloss zu errichten, macht in dieser Hinsicht nachdenklich. Dass die Höfe im 17. und 18. Jh. meist größere Ausstrahlung hatten als die Städte und dass Individuen »auf einer bestimmten Entwicklungsstufe europäischer Gesellschaften in der Form von Höfen zusammengebunden« wurden und »dadurch ein spezifisches Gepräge« erhielten, zeigte Norbert Elias. Sein soziologischer Befund ließe sich auf die Institutionalisierung von kulturellen Erzählungen erweitern und auch die Form der gewählten Architektur berücksichtigen. Abgesehen davon, dass der Glanz des Barock nichts verliert, wenn man einräumt, dass er sich für einen Staatsabsolutismus (ebenso wie für die absolutistisch regierte Institution Kirche) gut gebrauchen ließ, ebensowenig wie antike Formen dafür verantwortlich sind, dass sie totalitäre Regime noch im 20. Jh. für ihre Propaganda missbrauchten, sprach der Barock zumindest zwei Sprachen: Die große Anlage, die – kunstphilosophisch betrachtet – die Systemphilosophie eines Leibniz widerspiegelt, deckte sich mit den Ansprüchen des Absolutismus, die klassische (und später klassizistische) Linie des Barock hingegen war aufklärerisch und entsprach allenfalls einer Rationalität der Erkenntnis clare et distincte im Sinne des Descartes. Gerade Versailles gilt als ideales Beispiel für die Beziehung von Barock und Absolutismus, zumal eine solche Sicht durch zeitgenössische Berichte bestätigt wird. Der manchmal geäußerte Einwand, dass es die Selbstdarstellung des absoluten Staates auch ohne den Barockstil gegeben hat, sagt nur, dass der Absolutismus keine den Barock erklärende Ursache ist, dass sich aber umgekehrt der Stil hervorragend für die Idee des Absolutismus instrumentalisieren ließ. Zum Unterschied von großen Bauwerken, die den Herrscher oder Kirchenfürsten verherrlichten, wie die Hagia Sophia oder der Petersdom, ist Schloss Versailles die Umsetzung eines Systemgedankens. Die Anlage ist das sprichwörtliche Gesamtkunstwerk, in dem sich ein absolut regierender Fürst darstellt, »daß das System zum Kunstwerk und das Kunstwerk zum System wird.« Odo Marquard mag recht haben, wenn er die Idee des Gesamtkunstwerks im Deutschen Idealismus (genauer: mit Schellings Identitätssystem) beginnen sieht. Das Gesamtkunstwerk selbst beginnt aber wohl bereits im Rationalismus; um es pointierter zu sagen: mit Leibniz’ Monadenlehre. Die Frage nach Barock und Absolutismus ist demnach eine Anfrage an den Systemanspruch von philosophischen Erzählungen, hier des Rationalismus. Und es war ebenso eine philosophische Erzählung, die die Systemambition dieses Gesamtkunstwerks unterminierte: der Empirismus und, besonders im 18. Jh., die Aufklärung. Aus der Front gegen den Ra-

4.2.4.3.1.

Elias 1969, 66

Hoppe 2003, 36f

Marquard 1989, 101

2.2.1./3.3.

70

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

7.0. Ornamentvielfalt

3.6.

2.2.1.

Moser Walter in ÄGB 1, 580–585

Calabrese 1987 IX.4.5.2.

Marquard 1989, 100 Flemming Victoria in Flemming/Kittner 2017, 8; Kat. 2012d; Kat. 2004b Scarpetta 1988, 22–28

Murray 1997

tionalismus und sein System ergaben sich so moderne Forderungen wie jene nach Teilung der Gewalten, wie sie 1749 Baron de Montesquieu in seinem Esprit des lois forderte, oder der Anspruch auf Souveränität und Freiheit des Menschen, was Jean Jacques Rousseau in seinem Contrat social vertrat. Ähnliche Anliegen verfolgten Voltaire und die Enzyklopädisten. Der Klassizismus war nur ein Gesicht, in das sich der Barock verwandelte. Das andere war die reiche Ornamentvielfalt des Rokoko, das besonders in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, dort wiederum vor allem in Bayern, und in Österreich Fuß fasste, während es in Spanien kaum und in England und Italien in zurückhaltender Weise auftrat. Inwieweit die frivolité des Rokoko ebenfalls eine bewusste Ästhetisierung der Kunst und Verabschiedung des Systems war, soll uns weiter unten beschäftigen. Der Gedanke, dass im Rokoko die eigentliche Modernität des Barock zutage trat, baut jedenfalls eine Brücke für die Eigenart des Barock, auch in der Gegenwart eine lebhafte Rezeption in modern-postmodernem Kontext erfahren zu haben. Die kurz vorgestellte Leibniz-Interpretation von Gilles Deleuze kann als postmoderne Barock-Interpretation auch aus dieser Warte betrachtet werden. Diese Rezeption reicht von neobarocken Formen in der Literatur über die Neuentdeckung barocker Musik einschließlich der Bemühung um entsprechende Aufführungspraxis bis zum Film, wo barocke Themen eine besondere Rolle spielen. Daneben bedienten sich Designer und Modeschöpfer dieser Vorlagen. Bei dieser Rezeption kann man zwei Aspekte unterscheiden: Einmal die Bemühungen um wissenschaftliche und historische Rezeptionsforschung, also um das Verstehen des Barock als historische Epoche in seiner Zeit. Zum anderen diverse Anregungen des Barock, die in modernen und postmodernen Diskursen faszinieren. Dazu gehören etwa die Hinwendung zum Sinnlichen und Körperhaften sowie die eindrucksvolle mediale Kompetenz des Barock. Nicht selten wird das kulturelle Crossover der Postmoderne als barocke Form angesprochen. Besser könnte allerdings ein anderes Stichwort das Gemeinte ausdrücken, Lyotards Heterogenität. Dahinter verbirgt sich freilich eine eklektizistische Ambition. Man rettet Motive in das 20. Jh., klammert jedoch das fundamentale Systeminteresse des Barock, das aus einer scheinbaren Vielfalt ein orchestriertes Gesamtkunstwerk macht, völlig aus. Treffender erscheint die Passgenauigkeit des Barock zum postmodernen Begriff des Simulacrums, wiederum eine medienphilosophische Volte, die eine so ungewöhnliche Künstlerreihe unter der Überschrift barock aufstellen lässt wie Gracián, Rubens, Picasso, Danilo Kiš, Luis Buñuel. Mehr als das System spielt bei der Rekonstruktion »barocker« virtueller Räume die Tendenz »zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität« eine Rolle. Das hat heute Konjunktur, weshalb »Vielfalt und Dichte des Barock in der Gegenwart [sind] beeindruckend« sind.« Mit solchen Anleihen lässt sich eine ausgeprägte Abkehr von jeder Art von Mimesis zelebrieren und man kann fugenlos die neuen Medientechniken involvieren. Verschiedentlich wird argumentiert, dass erst die multimedialen Techniken der Gegenwart die wirkliche Einlösung der Vision des Barock ermöglichten, sei es bei Bill Viola oder Peter Greenaway.

71

Struktur des Barock

3.2. Der Begriff barock Die große Spannweite des Barockbegriffs ist einer der Gründe für die lebhafte Diskussion darüber. Ein weiterer ist, dass sich, zwar anders als bei der Renaissance, auch beim Barock die Frage nach der Eigenständigkeit des Kunststils stellt. Erst im 18. Jh. begann man, den Stil, der ursprünglich schlicht als Normenverletzung – gemessen an den klassischen Vorgaben – wahrgenommen wurde, (in aller Regel negativ) von der Klassik abzuheben. Im 19. Jh. bezeichnete man die Epoche zwischen Renaissance und dem Klassizismus als barock. Wenn wir uns hier auf den Barock als Kultur- und Kunstepoche beschränken, wird er verbreitet auf die 200 Jahre zwischen der Reformation um 1600 und der französischen Revolution 1789 eingegrenzt. Der Barock ist demnach insofern ein eigenwilliger Stilbegriff, als er durch Abweichung von einer Norm definiert ist. Seine Begriffsgeschichte ist äußerst komplex. Sie wurde neuerdings von Markus Neuwirth detailliert aufgearbeitet. Die verbreitetste Deutung orientiert sich am Ausdruck barroco, der im Portugiesischen als Fachausdruck des Goldschmiedehandwerks zur Bezeichnung einer unregelmäßigen Perle gebraucht wurde. Eine ähnliche Bedeutung hatte das spanische berrueco, das in der Geologie eine unregelmäßige Gesteinsart bezeichnet. Im Italienischen flaniert der Begriff mit negativer Bedeutung, der Finanzwelt entlehnt, wo baroco für Finanzbetrug stand, durch die Genres. Benedetto Croce führte den Ausdruck auf eine widersinnige Figur der Rhetorik zurück. Den verschiedenen Etymologien (zu denen auch ein Terminus für ein scholastisches Schlussverfahren gehört) ist eine negative Konnotation gemeinsam. Bereits in der Renaissance fand die Bezeichnung für eine bizarre Architektur (etwa für Michelangelos Treppe in der Laurenziana) eine Anwendung. Dies war weniger normativ, sondern schlicht deskriptiv gemeint. Der Ausdruck bizarr, der positiv im Sinne des Extravaganten und negativ im Sinne des Phantastischen und Unbeständigen gebraucht wurde, spielte vermutlich eine wichtige Rolle. Dennoch: das Wort barock bedeutete anfangs schlechter Stil mit einer moralisch negativen Wertung. 1757 verband Antoine-Joseph Pernety in seinem Dictionnaire Portatif de Peinture, Sculpture, et Gravure den Begriff mit der Kunst und definierte barock als Abweichung von den Regeln der Proportion. Antoine-Chrysostôme Quatremère de Quincy klagte 1788 in seinem Dictionnaire d’Architecture über die Exzentrität und Lächerlichkeit der barocken Architektur und nannte Borromini und Guarini Meister eines bizarren Bauens (maîtres du genre bizarre). Ähnlich abfällig äußerte sich Francesco Milizia, der den Ausdruck barock in die Architekturdiskussion Italiens einführte. Die beiden waren die Ersten, die den Ausdruck Barock auf das Werk Borrominis und Guarinis anwandten. Diese negative Bewertung setzte sich in vernichtenden Urteilen jener großen Kunsthistoriker des späten 18. und des 19. Jh.s fort, die durch eine klassizistische Brille den Blick auf die »barocke Verirrung« richteten. Johann Joachim Winckelmann bezeichnete den Barock als Seuche, »welche das Gehirn der Gelehrten mit üblen Dünsten erfüllte und ihr Geblüt in eine fieberhafte Wallung brachte.« Die vorsichtig neutralen oder positiven Zwischentöne etwa des »Rubenisten« Wilhelm

Neuwirth 2015

Ebd., 61–75

4.2.4.3.2. Ebd., 27

Winckelmann, zit. nach Burbaum 2003, 9

72

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Riegl 1908, 12

Burckhardt 1855, 346/348

Burckhardt, zit. nach Neuwirth 2015, 281

Nietzsche 1986b, 437f

Ebd., 438

Wölfflin 1888; Riegl 1908; Schmarsow 1897

Riegl 1908, 3 Moser Walter in ÄGB 1, 586

Wölfflin 1888, 79 VI.8.0.

Heinse oder von Goethe gingen dabei unter. Alois Riegl meinte gönnerhaft: »Gefallen hat ihm die italienische Barockarchitektur nicht, aber sie imponierte ihm. Und damit war schon der Keim der Besserung gelegt.« Bei Jacob Burckhardt wandelte sich die Einstellung zum Barock. Zwar fragte sich auch Burckhardt anfangs in seinem Cicerone, »wie es nur einem Freunde reiner Kunstgestaltungen zuzumuten sei, sich in diese ausgearteten Formen zu versenken, über welche die neuere Welt schon längst den Stab gebrochen«, und sah im Barock einen »verwilderten Dialekt« der Sprache der Renaissance: »Die antiken Säulenordnungen, Gebälke, Giebel usw. werden mit einer großen Willkür auf die verschiedenste Weise verwertet; […].« Aber Burckhardt entwickelte schließlich eine sachliche Sicht auf den Barock. Er sprach von einem Stil und erkannte, wie sehr dieser aus der Renaissance herauswuchs und wie konsequent die ihn begleitende Klassik, die er ebenso wie Goethe als Überwindung von Manierismus und simpler Naturnachahmung außerordentlich schätzte, zur »Sprachenvielfalt« des Barock gehörte. In den Siebzigerjahren des 19. Jh.s hatte sich seine Einstellung erheblich verändert. In einem Brief an den befreundeten Architekten Max Alioth schrieb er: »Mein Respect vor dem Barocco nimmt stündlich zu und ich bin bald geneigt, ihn für das eigentliche Ende und Hauptresultat der lebendigen Architectur zu halten.« Erst nach der Mitte des 19. Jh.s begann die positive Rekonstruktion. Friedrich Nietzsche hielt in einer kleinen Bemerkung fest, dass nur die »Schlechtunterrichteten und Anmaassenden« beim Begriff barock »eine abschätzige Empfindung haben.« Er setzte den Barockstil in den Plural und sah in ihm gleichsam eine Kompensation eines verfehlten Klassizismus, ja eine »eigenthümliche Ersatzkunst«, die durch überbordende Wirkung den Mangel einer unzulänglichen Klassizität ersetzt. »Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des classischen Ausdrucks allzugross geworden sind […].« Aber er bot eben jene »Köstlichkeiten […] als verbotene Früchte am Baume«, die in der klassischen Kunst nicht erlaubt waren. In der Kunstgeschichte erfolgte eine erste ausdrücklich positive Bewertung durch den in der Nähe von Leipzig geborenen Kunsthistoriker Cornelius Gustav Gurlitt. Im Weiteren untermauerten Heinrich Wölfflin und Alois Riegl, aber auch August Schmarsow mit ihren Stilanalysen die Eigenständigkeit des Barock. Trotz dieser grundsätzlich positiven Wendung bleiben die Urteile der genannten Autoren nicht gerade enthusiastisch. Riegl zeigt Verständnis, wenn sich der an die deutsche Kunst gewöhnte Betrachter über das Unklare und Außerordentliche und über unmotivierte »konvulsivische[n] Bewegungen« wundert. Wölfflin, in dem viele den »Begründer eines wissenschaftlichen Barockbegriffs schlechthin« sehen, wandte sich gegen Einschätzungen, die den Barock als Ergebnis eines abstumpfenden Formgefühls wenig schmeichelhaft mit einer verwelkenden Blume vergleichen. Eine Aussage wie: die Renaissance »welkt, sie verliert ihre Form und diesen Zustand nennen wir Barock« greife deutlich zu kurz. Dagegen billigte Wölfflin dem neuen Stil ein eigenes Kunstwollen als Ausdruck eines neuen Zeitgefühls zu. Ich wiederhole dazu eine bereits im Renaissanceteil zitierte Äußerung des Kunsthistorikers: »Die Renaissance

73

Struktur des Barock

musste absterben, weil sie den Pulsschlag der Zeit nicht mehr wiedergab, nicht mehr das aussprach, was die Zeit bewegte, was als das Wesentliche empfunden wurde.« Aus den »Symptome[n] des Verfalls« und der »Verwilderung und Willkür« sollte »womöglich das Gesetz« erkannt werden. Letztlich blieb auch für Wölfflin der Barock ein Stil auf der absteigenden Kurve und ganz ähnlich wie Nietzsche griff auch er schnell zur Psychologie und Kompensationsthese (»das erschlaffte Formgefühl verlangt nach einer Verstärkung des Eindrucks«), allerdings kokettierte er nicht mit den verbotenen Früchten am paradiesischen Baum. Das Formgefühl war immer noch eine Sache des Klassischen. Trotzdem kann man Wölfflins Beschreibungen von den negativen Konnotationen befreien und sie auf eine Formdiskussion, die er selbst immer wollte, reduzieren. Dann bleiben sie für die Eröffnung einer ernsthaften Diskussion um den Barock wegweisend. Aber eben nur für die Eröffnung der Debatte, denn Wölfflin war im Jahr 1888 weit davon entfernt, jenseits einer positiven Bewertung des Barock als eigenständigem Kunststil eine zureichende Beschreibung desselben zu geben. Erst seine Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe von 1915 werteten den Barock als eigenständigen Stil weiter auf: »Der Barock, oder sagen wir die moderne Kunst, ist weder ein Niedergang noch eine Höherführung der klassischen, sondern ist eine generell andere Kunst.« Wölfflin entwickelte den Unterschied von Renaissance und Barock aufgrund seiner historischen Stilanalysen um die Paarungen linear-malerisch, Fläche-Tiefe, geschlossene Form-offene Form, Vielheit-Einheit, Klarheit-Unklarheit. Stephan Hoppe konstatiert mit dem wohl höchsten Maß an Wohlwollen, das man Wölfflin angedeihen lassen kann: »Mit der Anwendung des Wölfflinschen Systems war erstmals die Auffassung des Barock als mißratene Renaissance wissenschaftlich widerlegbar geworden.« Beinahe schon in polemischer Manier verteidigte der Kulturgeschichte-Essayist Egon Friedell den Barock: »Es wird immer Menschen geben, die die Renaissance höher stellen als die Barocke. Es sind dies vorwiegend jene Menschen, die glauben, daß man ein Kunstwerk nur dann erhaben finden dürfe, wenn es langweilig ist, wie ja auch viele annehmen, daß ein philosophisches Werk nur dann tief sein könne, wenn es unverständlich ist.« Walter Moser weist auf einen weiteren Aspekt in der Konzeption Wölfflins hin. Er sieht im Kunsthistoriker einen Vorläufer der Deutung des Barock als Beitrag zur visuellen Kultur. In einer der von Erwin Panofsky entwickelten Vorstellung des mental habit nicht unähnlichen Weise sah Wölfflin eine überindividuelle Art des Sehens, ein »optisches Schema«, das unbewusst eine bestimmte Zeit prägte und als generatives Prinzip wirkte. Das ist aus heutiger Sicht eine erstaunliche Dehistorisierung, die später von Henri Focillon, Walter Benjamin und Gilles Deleuze durchgeführt wurde und die breite Resonanz eines zeitgenössischen Neobarock ausgelöst hat. So wie Ernst Panofsky mehrere Renaissancen in der Kulturgeschichte ausgemacht hat, gibt es auch barocke Phasen in anderen Stil-Epochen. Es ist üblich geworden von einem Barock in der paläolithischen Kunst zu sprechen und man macht auch einen Barock in der osmanischen Baukunst aus, nicht etwa nur in den offensichtlich vom Barock

Ebd., 79/10

Wölfflin 1915, 14

Hoppe 2003, 12

Friedell 1929, II, 58

V.7.4./IX.3.4.2.

3.3.

74

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Goodwin 1993; Goodwin 1971 V.3.4.2.5. Bal 2011, 183 Füssel 2017, 21

3.3.f.

Adorno 1966b, 422 Wundram/Hubala in BSG 5, 219

inspirierten Palästen des 18. Jh.s, sondern bereits in den Moscheen Sinans. Man müsste sich einer Suchbewegung hingeben, wie der Terminus barock »can refer to a vision rather than a style or period.« Die Pluralisierung des Begriffs wird sogar bisweilen positiv bewertet, weil sich dann erübrigt, »eine verallgemeinernde Sammelkategorie« zu etablieren. Eine solche besondere Barock-Rezeption wurde vor allem durch das Interesse an neobarocken Tendenzen in der Gegenwart stimuliert. In den Arbeiten der Philosophin Christine Buci-Glucksmann, der Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen Mieke Bal und Ellen Hills wird eine solche Neusichtung ausführlich diskutiert. Sie kommt an anderen Stellen zur Sprache. Wie nicht anders zu erwarten, waren nicht alle von dem Paradigmenwechsel hin zu einer positiven Sicht des Barock angetan. Kritischen Abstand hielten Benedetto Croce und Theodor Adorno. Adorno sah im Barockrevival eine »regressive Sehnsucht« nach einer mit dem Subjektivierungsprozess verklammerten »dinghafte[n] Ordnung«. Zu ihrer Rechtfertigung ließ sich nach Adornos Meinung der Barock missbrauchen »als intakte Gestalt aus der Vorzeit; von ihm erborgen sie die Aura von Sinn.« Erst Anfang des 20. Jh.s differenzierte man den Manierismus als eine nochmals eigene Epoche, manche nennen das immer noch voreilig. Es gibt aber auch Theoretiker, die, wie Ernst Robert Curtius es in den Vierzigerjahren vorgeschlagen hat, den Barockbegriff zugunsten eines breiten Manierismusbegriffs überhaupt aufgeben. Trotz einer hohen Prägekraft lokaler Einflüsse ist der Barock der letzte gesamteuropäische und alle Gattungen umfassende Stil, bevor es im 19. Jh. zu einer völligen Pluralisierung kam. Diese Pluralisierung war letzten Endes die Folge des Streits um die Form des Barock. Viele wollten sich nicht mit dem Verlust der Klassizität abfinden, die zudem durch den Rationalismus einen Schub erhalten hatte, und hielten Ausschau nach Alternativen, die sie zuhauf in der Geschichte fanden. Es brach die Zeit der Neo-Stile an.

3.3. Dynamik und System – eine Philosophie des Barock Die Barock-Rezeption im 20. Jh. hat den Barock als universelle geistige Bewegung mit einer Fülle von Motiven im Auge und weniger den stilistischen Aspekt. Auch wenn in dieser Untersuchung bildende Kunst und Architektur im Vordergrund stehen, wird das Phänomens Barock erst durch eine Gesamtbetrachtung dieser globalen geistigen Epoche verständlich. Der Barock ist nicht denkbar ohne die gleichzeitigen Entwicklungen der Naturwissenschaften, ohne die neuzeitlichen philosophischen Schulen, in erster Linie der Aufklärung, ohne Beschleunigungsphänomene in Kultur, Wirtschaft und im Verkehr. Wie schon mehrfach betont, nabelte sich Europa in dieser Zeit von seinen (orientalischen) Quellen ab. Während sich das Osmanische Reich von der Entwicklung weitgehend zurückzog, kokettierte Russland damit, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Um einer Phänomenologie des Barock, fokussiert auf einen kunstphilosophischen Kern, näher zu kommen, kann man sich an den zeitgenössischen historischen und philosophiegeschichtlichen Abläufen orientieren. Denn aus den kunsttheore-

75

Struktur des Barock

tischen Schriften dieser Zeit lassen sich zwar einzelne ästhetische Grundprinzipien sowie der Streit um das klassische Erbe rekonstruieren, eine kunstphilosophische Charakterisierung tritt aber nur rudimentär hervor – anders als dies etwa in der Renaissance der Fall war. Es gilt, einen Kernbestand des Barock zu definieren, aus dem die moderne Rezeption sich dann einzelne Aspekte herausgepickt hat, die zwar eine barocke Signatur tragen, ohne aber den Barock als ganzen zu revitalisieren. Zur Kennzeichnung dienen mir die drei philosophischen Erzählungen, welche die Neuzeit vordergründig prägen: (1) Dynamik, (2) System und (3) Subjekt. Im Vergleich zu den drei Kennzeichnungen der Renaissance in VI.3.0. wurde – im Sinne neuzeitlicher Veränderung – der Raum dynamisiert, die Natur systematisiert und das Subjekt im Sinne des cartesianischen cogitare nochmals rational aufgewertet. (ad 1) Die philosophischen Autoren schrieben am Beginn der Neuzeit am Text der dynamischen Seite des Seins. Es war ein Weiterschreiben mit großem Realitätssinn, denn in der Tat gibt es für das Narrativ einer in sich ruhenden Welt nicht den geringsten Anhaltspunkt in der Realität. Solches wurde in kulturellen Erzählungen immer nur imaginiert. Gilles Deleuze beginnt sein Barockbuch mit einer stupenden Feststellung: »Der Barock verweist nicht auf ein Wesen, sondern vielmehr auf eine operative Funktion, auf ein Charakteristikum. Er bildet unaufhörlich Falten. Er erfindet die Sache nicht: es gibt die vielen aus dem Orient stammenden Falten, die griechischen, römischen, romanischen, gotischen, klassischen usw. Falten.« Wenngleich dieser Blick einen Aspekt der Postmodere ins Licht rückt, verweist Deleuze nicht nur auf die breite Herkunft, sondern eben auch auf das, was Wölfflin die »Unruhe des Werdens« genannt hat, als Kennzeichen des Barock. Bereits im Manierismus war die ausbalancierte ruhige Ausgewogenheit der klassischen Harmonievorstellung gekippt. Neben die Erklärung, es handle sich um Innovationsdruck der Künstler nach dem Höhepunkt der Renaissance, trat jene, die den Manierismus – mit Blick auf das abrupte Ende der Renaissance im Sacco di Roma – als »Kunst der Krise« charakterisiert. Der Dreißigjährige Krieg, der am Beginn der Neuzeit wütete, war nicht nur eine neuerliche Krise. Er war zugleich eine starke Motivation für die zeitgenössische Philosophie, in ihren philosophischen Systemen den Ausgleich einer scheinbar ständig aus den Fugen geratenden Welt durch eine dynamische Stabilisierung zu erreichen. Die kulturelle Erzählung der Zeit versuchte, das auseinanderstrebende Einzelne in einem dynamischen System einzufangen. Der statische Etatismus der Staatsutopien der Renaissance wich dem Optimismus, diese Integration mit einer Stabilisierung in der Dynamik zu erreichen. Man könnte hier den fernen Archetypus der ägyptischen Ma’at-Figur erkennen wollen, welche für die Einsicht stand, dass ein Prozess immer eine systemische Regulierung braucht. Statt von einer Kunst der Krise sollte man vielleicht besser von einer Kunst sprechen, die sich an den Verhältnissen orientierte, wie sie wirklich waren und wie sie die neue empirische Erfahrung lehrte. Der Barock wäre dann eine kulturelle Bewegung gewesen, die ein Kapitel realer Weltbeschreibung leistete – immer in der Spannung von gegenläufigen, sich überlagernden Deutungsmustern von Klassizität und dem »eigentlich« Barocken. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, insbesondere der

Dynamik

Deleuze 1988, 11

Hager 1968, 9 VI.8.0.ff.

II.2.2.2.

76

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

1.2.

Riegl 1908, 25 Wetz 2008,185 490 Konvex und konkav, S. Matteo (um 1700); Lecce

Wölfflin 1888, 68/39

Gurlitt 1887, 365

491 Bernini, ­Verzückung der Hl. Theresia (um 1650); Rom

Astronomie (Newtons Entdeckung der Fernwirkung der Kräfte sowie der Stabilität bewegter Systeme), der Biologie (Carl von Linnés Systematisierung der Natur) und der Physiologie (Blutkreislauf) verankerten diese Einsichten in einem breiten Bewusstsein. Die ständige Dynamik in den Griff zu bekommen, sozusagen eine universale Infinitesimalrechnung der Welt (im Sinne Newtons) zu entwickeln, war der verborgene Impuls in den Naturwissenschaften für ihre Ambition der Systematisierung der Natur. Sie verwandelten gleichzeitig damit die rohe Natur zu einer begriffenen, zu einer Natur für den Menschen, indem sie sie in ein System einordneten also im Sinne des demiurgischen Projekts der Natur geometrische Zeichen einschrieben. Spekulativ könnte man feststellen, dass es dem barocken Gestalter einerseits um die Darstellung des gesamten Systems ging, andererseits um die einzelnen Motive des Dynamischen, darunter besonders um Augenblicke des Übergangs, des Transitorischen: Momente des Raubs, das Sterben eines schönen und sinnlichen Märtyrerkörpers oder Augenblicke mystischer Verzückung. »[…] man sieht, es handelt sich dabei um die Grundabsicht aller italienischen Barockmalerei: die Darstellung eines momentanen Affektes.« Die Dynamik wird hier gleichsam eingefroren, denn »der natürliche Feind jedes schönen Augenblicks und damit auch der Sexualität ist die Zeit«. Es ging nicht mehr um strenge Naturnachahmung, sondern es ging um die Durchführung einer psychologischen Analyse, der Herausarbeitung eines inneren Erlebnisses. Das traf sich mit dem Prozesscharakter der mystischen Erfahrung. Ist der mystische Akt selbst als Austauschvorgang bereits hochdynamisch, wird dies jetzt nach außen sichtbar gemacht. Die Motive der ekstatischen Verklärung zelebrierten die Künstler geradezu exhibitionistisch. Zum Unterschied von der ausgewogen-ruhigen Renaissance erzählte der Barock das Ekstatische, Ruhelose, Emotionale. Wölfflin fand es Wert festzuhalten, dass (offenbar deshalb) alle großen Barockkünstler, welche die »Ruhe des Seins« gegen die »Unruhe des Werdens« tauschten, unter Kopfschmerzen litten. Diese Bemerkung ist ähnlich eigenwillig wie jene von Cornelius Gurlitt, der den Selbstmord Borrominis in Zusammenhang brachte mit fehlender »innerer Würde, Uebereinstimmung zwischen Maß und Absicht« in seiner Architektur. Aber, so der große Verteidiger des Barock, man müsse genau hinsehen! »Unzählige Feinheiten, geistreiche Gedanken, Lichtblitze des Genie’s offenbaren« sich dann dem »kundigen Beschauer.« Der Barock begann mit der Emotionalisierung in Farbe und Form im Manierismus und gipfelte in Darstellungen wie jener der Ekstase der Heiligen Teresa durch Bernini, wo mystischer und erotischer Höhe- und Umschlagpunkt untrennbar ineinander gehen – ganz nach den erotisch aufgeladenen Beschreibungen solcher Erlebnisse durch Mystikerinnen. Der Präsident des Parlaments von Dijon, Baron Charles de Brosses, Mitglied verschiedener Akademien, bemerkte 1740 angesichts des Kunstwerks trocken: »Wenn das die himmlische Liebe ist, kenne ich

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Struktur des Barock

sie auch.« Bernini hätte denn auch »zweifellos im Anschluß an gründliche Studien nach dem Leben« gearbeitet, meinte Werner Weisbach und stellt fest, dass »das Mysterium mit einem Theatercoup verquickt wird.« Mag sein, dass die Erotik doch eher weitgehend körperlos entworfen ist, denn der Körper löst sich im Gewühl der Fältelungen des Stoffes auf. »The cost of her experience is the loss of bodily subjectivity.« Dennoch ist bei diesen Beispielen das Domestizierende des Systems kaum mehr auszumachen. Deshalb kann auch Gilles Deleuze an solchen Stellen andocken und von einer eigentlich barocken Kleidung schwadronieren, »die mit den Falten nicht so sehr den Körper wiedergibt, sondern ihn vielmehr mit autonomen, immer vervielfältigbaren Falten umgibt: […].« Der Barock lotete die Grenzen des Systems beständig aus und durchbrach sie ganz bewusst, um das Spannungsgeladene und Dynamische motivisch zu isolieren. Michelangelos David ist in der statischen Balance, Berninis David hingegen kippt aus dem Lot und ist in seiner Spannung festgehalten. System entspricht der Form und diese geht vordergründig verloren. »[…] man kann das Object nicht fassen, formlos möchte man sich hingeben an das Unendliche.« Bernini soll gesagt haben, der Mensch erscheine ihm am echtesten in der Bewegung. Brunelleschis Alte Sakristei blieb als echter Renaissancebau ein in sich ruhendes Gebilde, während im Barock die geometrischen Formen durch Rundungen und durch den Rhythmus von konkav und konvex in Schwingung versetzt wurden. Der Kreis wurde zur Ellipse. Alles geriet scheinbar aus dem Gleichgewicht und zeigte eine extensive Fülle und Verschwendung. Es war viele Jahrhunderte vorher ein Triumph des menschlichen Geistes, als die ersten Philosophen aus einer dynamischen Seinsauffassung den Begriff destillierten. Jetzt drehte sich alles wieder um und man begeistert sich an der befreienden Erzählung vom Dynamischen als der eigentlichen Seinsweise der Wirklichkeit. Auf solche scheinbar willkürliche Häufung von Motiven meint die postmoderne Rezeption sich stützen zu können. Der Barock »krümmt die Falten um, treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte.« Aber dieses dynamische Ausbrechen ist nur die halbe Wahrheit, denn beim Barock ist das Systemganze stets denkerisch zu ergänzen: Im Fall einer mystischen Verzückung ist das die gelungene Einswerdung mit Gott. Stand in der Renaissance das Ergebnis des demiurgischen Projekts, die Harmonie als vollendete Schönheit beim Weltumbau, im Vordergrund und wurde dargestellt, ging es im Barock um die Bewegung selbst. »Es giebt kein glückliches Sein, sondern ein Werden, ein Geschehen; […]«/»Das Abgeschlossene, Fertige ist seinem Wesen zuwider.«/»Die Kunst hält sich überhaupt nur noch an die Darstellung des Bewegten.« Man kann Stephan Hoppe zustimmen wenn er mit Blick auf den in Prag geborenen Schweizer Architekturtheoretiker Sigfried Giedion festhält: »Geometrie ist hier nicht vor allem mit Statik assoziiert, sondern, im Sinne von Sigfried Giedion, mit deren Gegenteil, der Dynamik.« Die von Balthasar Neumann bei Bad Staffelstein in Oberfranken gebaute Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen hat neben der ebenfalls von ihm geplanten Abteikirche von Neresheim (die nicht mehr von ihm vollendet wurde und aus statischen Gründen ein abgehängtes Holzgewölbe erhielt) die vielleicht komplizierteste Raum-

de Brosses, zit. nach Keller 1971, 13 Weisbach 1921, 136

Hills 2011, 28

Deleuze 1988, 197

Wölfflin 1888, 95 Hager 1968, 17

III.2.3.3.1.

Deleuze 1988, 11

Wölfflin 1888, 39/69/87

Hoppe 2003, 133

78

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Müller W. 2004, 24

IX.3.8.2.

Buci-Glucksmann 1996

System

lösung der Barockarchitektur. Es ist ein durch und durch dynamischer Raum, der den Betrachter in Bewegung setzt, damit ihm die Ergründung der wie in einer musikalischen Fuge verschlüsselten Raumstruktur überhaupt gelingt: »Kaleidoskopartige Raumfolgen beziehen ihren ästhetischen Reiz nicht zuletzt aus einem gewissen Spannungsmoment, aus der Unvorhersehbarkeit der Wandlung.« Man hat die Kirche einen »Tanzsaal Gottes« genannt. Trotz alledem bleiben die Einzelelemente klar definiert. Sie fügen sich auf der Grundlage einer komplexen Geometrie zu einer Ganzheit (die zusätzlich unabdingbar wurde, weil Neumann den ursprünglichen Plan wegen eines Fehlers der ausführenden Baumeister korrigieren musste). Die Dynamik erschien manchmal als ordnende, dann wieder als schlicht expressive Bewegung, die ähnliche Angst auslöste wie das sophistische panta rhei bei Platon und zum negativen Ruf des Barock bei den Klassizisten, die der Renaissance nachhingen, beitrug. Der Vergleich mit dem demiurgischen Prozess bei Platon ließe sich weiter strapazieren. Dem Ganzen bleibt das Muster einer grundlegenden Ordnung vorgeschaltet. Die Spannung zwischen diesem Muster und der Form wird dann zur Spannung zwischen dem sogenannten regellosen Barock und dem Klassizismus. Es ist daher auch keine Überraschung, dass der Barock die modern-postmoderne Rezeption mit einer spannenden Ambivalenz versorgt: Schwere und Leichtfüßigkeit zugleich – gleichsam wie die Ambivalenz von klassischem Kern und barocker Schwingung. Aber vielleicht sollte man anstelle der Schwere von einer Melancholie sprechen, die Christine Buci-Glucksmann in ihrer Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Barockdeutung geortet hat. Hatte Benjamin die Melancholie noch auf den Verlust einer transzendenten Ordnung zurückgeführt, sei die heutige Melancholie eine über den Verlust des utopischen Gehalts der Moderne. Aber diese Melancholie wird neuerdings nicht mehr perpetuiert, sondern sie schlägt um in ein leichtes Spiel mit virtuellen Welten. Die Schwere des Barock gewissermaßen als andere Seite seiner Leichtigkeit. Eine solche Sicht ist nachgerade die völlige Antithese zum Zugang José Antonio Maravalls, der die Totalisierung im Barock als politische Repression verabsolutierte. Allerdings bleibt diese These postmodern überformt. Der darin implizierte Widerstreit, die Unaufhebbarkeit zum Ganzen, »widerstreitet« auch der Konzeption des Barock, der stets systemgetragen war. (ad 2) Auf die Bedeutung des Systems für die gesamte Neuzeit, besonders aber für den Barock, wurde bereits mehrfach verwiesen. Die philosophische Position des Rationalismus fing in drei die alten Konzepte neu buchstabierenden unterschiedlichen Varianten – Monismus, Dualismus, Pluralismus – das Einzelne in für die Neuzeit typische Systemambitionen (als Fortschreibung des eben erwähnten »Musters«) ein. In den rationalistischen Systemen blieb die das System als Ganzheit konstituierende Dynamik stets sichtbar, etwa in der prästabilierten Harmonie des Leibniz. In diesem Punkt gab es eine Analogie zum Empirismus. Dieser hatte seine dynamische Seite im Ausgleich durch Bindungen an Verträge innerhalb der frei spielenden Marktkräfte. Anders als beim Rationalismus äußert sich beim Empirismus die aufklärerische Metaphysikkritik auch in einer Systemkritik. Der Empirismus bot kunst-

79

Struktur des Barock

philosophisch eine Basis für eine Relativierung von Einheitskonzepten, von Regeln und von einheitlichen Kunststilen. Das artifizielle, von der menschlichen Vernunft ersonnene System ist das Neue gegenüber dem Mittelalter. Es ist dies der Grund dafür, dass die scheinbare Regellosigkeit des Barock keineswegs so regellos war. Insofern darf man auch von dieser Seite her gesehen davon ausgehen, dass der vom Platonismus gespeiste Rationalismus eine tragende kognitive Rolle im Barock übernahm. Stephan Hoppe exerziert dies probeweise an einem Musterentwurf des bedeutenden Architekturtheoretikers des Barock, Leonhard Christoph Sturm, durch und kommt zum Schluss, dass Axialität und Achsensymmetrie, also typische Motive des Rationalismus, über Werkzeuge des Entwerfens hinaus »kulturelle Kognitionskategorien und habituelle Werte« seien. Hoppe argumentiert hier ähnlich wie Erwin Panofsky unter Zuhilfenahme der Kategorie eines mental habit, indem er eine kulturelle Prägung des Barock anspricht. An die Stelle einer vor allem auf Symboliken beruhenden Architektur trat nun die Ambition des Gesamtentwurfs, also des Gesamtsystems. Dieser Systemgedanke verlangte konsequent, dass die Kunstgattungen sich – anders als in der Renaissance – symbiotisch zu etwas vereinten, was man trotz einiger Vorbehalte wohl nicht unzutreffend als Gesamtkunstwerk bezeichnen kann. Manche sprechen heute lieber von einer »Einheit der Kunstgattungen« oder von »Gesamtbildwerk«. Bernd Euler-Rolle formulierte die Zurückhaltung gegenüber dem Begriff des Gesamtkunstwerks stellvertretend für die Kritiker. Das Gesamtkunstwerk sei erst am Beginn des 20. Jh.s in der Kunstgeschichte aus einem falsch verstandenen, in die Zeit des Barock hineininterpretierten Stilwollens nach Einheit, entstanden. Es sei dann interpretiert worden als »die Synthese aller Kunstgattungen zu einer Gesamtwirkung und darüberhinaus die Übereinstimmung dieser Gesamterscheinung mit einem einheitlichen ikonologischen Bedeutungsgehalt, es ist dies ferner die vielgenannte Synästhesie, das heißt die simultane Erregung mehrerer sinnlicher Empfindungen, […].« Euler-Rolle verweist auf den historischen Kontext um die Geburt dieses Begriffs an der Jahrhundertwende im Geist von Jugendstil und Sezession, die Ähnliches anstrebten. Es sei »mehr oder minder eine freie Assoziation, wenn die Kunsthistoriker des beginnenden 20. Jahrhunderts im Barock dennoch gewissermaßen eine Verwirklichung des ästhetischen Universalismus der Jahrhundertwende sahen.« Die Kunsthistoriker dieser Zeit seien von einem kongruenten Stilwollen im Barock ausgegangen. Dies sei deshalb verfehlt, weil man im Barock hinter dem Kunstentwurf nicht eine einheitliche philosophisch-ästhetische Reflexion voraussetzen könne. Erst die Ambitionen des Jugendstils haben den Begriff des (von Wagner stammenden, der damit aber nichts Barockes gemeint habe) Gesamtkunstwerks »für die Anwendung in der Barockforschung attraktiv« gemacht. Zwar erweitert Euler-Rolle den Gedanken noch auf die Romantik, lässt aber eine Anwendung darauf nicht zu.

Hoppe 2008, 389; Hoppe 2003, 130ff

Gesamtkunstwerk

Engelberg 2008a Rupprecht 1986, 11

Euler-Rolle 1993, 365

492 Illusionistische Räume: Andrea Pozzo, S. Ignazio (um 1690); Rom Ebd., 366/367

80

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ebd., 369

Ebd., 370

VIII.5.2.1.

3.1.

V.7.3.3.

Die bedenkenswerte Pointe des Arguments ist, dass der Barock die Kunstgenres eher unter dem Vorzeichen des decorum vereint, aber kein ästhetisches Gesamtkonzept (wie etwa bei Richard Wagner) entworfen habe. Der barocke Sakralraum spiegle beispielsweise trotz aller anagogischen Ambition bloß eine angenommene Einheit von weltlicher, göttlicher und kosmischer Ordnung wider, während das Gesamtkunstwerk der Jahrhundertwende die Einheit ästhetisch erschafft. Es sei dann so, »daß die sogenannten barocken Gesamtkunstwerke ein Abbild der universalen Einheit geben, wohingegen jene der Jahrhundertwende sie erst schaffen […].« Als ein Beleg gilt Euler-Rolle die Beschreibung seiner Tätigkeit durch den Architekten des Dresdner Zwingers, Matthäus Daniel Pöppelmann, dem es um Integration von plastischen Elementen im Sinne des decorums ging und nicht um ein »benennbares selbständiges Konzept.« Es hat einen gewissen Reiz, in der Frage nach dem Begriff Gesamtkunstwerk Strenge walten zu lassen und erst ein ästhetisch-philosophisches Konzept (wie es etwa Odo Marquard für das Identitätssystem Schellings vorgeschlagen hat) damit auszuzeichnen. Andererseits könnten weitere Untersuchungen zeigen, ob nicht Entwürfe wie sie von Bernini vertreten wurden oder in den Beschreibungen synästhetischer mystischer Erfahrungen auftauchen (mit ihren bildlichen Umsetzungen), einem solchen Konzept sehr nahe kommen. Da sich die Kritik vor allem am deutschen Barock entzündete, wo es Beispiele für relativ gut unterscheidbare Künstlerpositionen gibt, sei der Begriff, allen ausdrücklichen Vorbehalten zum Trotz, wegen seiner Prägnanz für unseren Zweck beibehalten. Das Spiel zwischen dem Gesamtsystem und einer dieses System immer wieder gefährdenden Energie macht den Reiz des Barock aus und ist zugleich ein philosophischer Hintergrund für den Disput zwischen Barock und Klassizismus. Wo das System noch gilt, dort wird es durch eine in sich ruhende Bewegung gleichsam als Summe gegenläufiger Kräfte konstituiert. Dieser prästabilierten Harmonie unterliegt jeder Einzelbereich, ohne dafür ständig eine Korrektur erfahren zu müssen. Die gigantische Schloss- und Stadtanlage könnte kaum besser als mit diesen, von Leibniz stammenden philosophischen Motiven gekennzeichnet werden. Das ist auch der Grund, weshalb zumindest vordergründig der Absolutismus so gut zum System des Barock passt. Alle diese Genres bilden Ebenen für ein jeweiliges Theater, das für das Ganze steht. Tatsächlich war vor allem im 18. Jh. die Stadtentwicklung ein wichtiges Thema. Die Stadt als Bühne war jetzt ein organisierter Raum, vom öffentlichen Leben bespielt. Neben den großartigen Schlossanlagen entstanden Plätze, Gärten und Prachtstraßen. In Rom lässt sich der Übergang von der Renaissance zum Barock direkt an den großen Bauvorhaben nachvollziehen. Stellvertretend könnte die Baugeschichte von St. Peter stehen, die im Renaissanceteil ausführlicher geschildert wurde. Unter Sixtus V. und seinem Baumeister Domenico Fontana entstand ein neues Rom, das die Zeitgenossen in ganz Europa erstaunte. Der Plan für die Umgestaltung war minutiös und systematisch überlegt worden. Das alte System von Decumanus und Cardo machte einer komplexen topographischen Organisa-

81

Struktur des Barock

tion Platz. Die Hauptkirchen Roms sollten miteinander verbunden werden. Das Mittel der Planimetrie im Städtebau war nun »[…] die Straße, der Gegenstand ihrer Vorsorge der Verkehr.« Es laufen noch heute von der Porta del Popolo drei Straßen strahlenförmig stadt­ einwärts, die wiederum (mit einiger Phantasie) Roms Hauptachsen auf die großen Heerstraßen des Reichs verlängern. An den jeweiligen Schnittpunkten der Achsen stehen entweder Kirchen oder ein Obelisk. Wie bereits im Renaissanceteil erwähnt, ließ Sixtus vier Obelisken aufstellen. Stephan Hoppe verweist auf die Funktion der Achse in Schloss-, Stadt- oder Gartenanlagen als Zeichen der Macht: »Die ›visuelle Thematisierung von Länge‹ kann nicht nur als Veranschaulichung des Prinzips der Unendlichkeit und mithin als angewandte Geistesgeschichte verstanden werden […] sondern auch als die Demonstration größter Machtfülle und sozialen Prestiges.« Allerdings würde diese schöne Aussage noch treffender auf die alten Stadtanlagen des Decumanus-Cardo-Systems passen. Im Barock geht der Eindruck der Länge zwar nicht verloren, aber er wird überformt durch die gesamte Organisation. Neben die Länge treten prominent Fläche und Raum. Der Platz ist generell im Barock eine Fundgrube sehr individueller unschematischer, aber dafür äußerst spannender Lösungen. Der barocke Stadtplatz ist »nicht nur eine geometrische Ordnungszone innerhalb einer fallweise ungeordneten Umgebung, sondern in seiner Verbindung von skulpturalem Monument, geometrischer Großfigur, Bezugnahme auf seine Straßenanbindung und Durchgestaltung seiner Fassaden im Grunde ein neuer Bautyp.« Häufig haben gerade die kleinen Plätze im städtischen Konglomerat die bezauberndste Ausstrahlung. Barocke Plätze sind Brennpunkte eines bewegten Lebens, sie sind Orte des Theaters, der Idola fori, der Trugbilder des Marktplatzes (Francis Bacon). Die Hauptstadt wird zum Brennspiegel eines gedachten Gesamtsystems. Jedes dieser Spiegelspiele, ob Stadtanlage, Schlossund Gartenanlage (die als gestaltete jedes Landhaus umgab), Klöster, die wahre Residenzen wurden, ja jedes Stiegenhaus, das Wasserspiel, der Brunnen, ist gleichsam ein kleines Gesamtkunstwerk als Spiegel, in dem sich das große Gesamtkunstwerk abbildet. Eine Monade sozusagen, die potentiell alles, aktuell einen Ausschnitt vom Ganzen enthielt. Das 18. Jh. brachte mit seiner aufklärerischen Motivation eine Gegenbewegung zu den nach rationalistischen Grundsätzen durchkomponierten gigantischen Schloss- und Gartenanlagen des vorhergehenden Jahrhunderts: »War die Architektur des 17. Jahrhunderts kolossal gewesen, so ist die des 18. Jahrhunderts intim.« Ob Fürsten oder Äbte, alle strebten nach der suburbanen Villa, der kleinen Residenz und dem Sommerschlösschen. Die alte Idealisierung Plinius’ des Jüngeren wurde durch Neuausgaben seiner Werke in den Architekturdiskurs eingespeist und diente als Metaerzählung für den Villenbau. (ad 3) In der Neuzeit führt kein Weg mehr am Subjekt vorbei. Auch im Kontext der Systemphilosophie bleibt das Subjekt der Hauptakteur. Die Generalmonade, auf die sich das System von Versailles ausrichtete, war der König. »Die Gemächer Ludwig XIV. stellten sich offensichtlich als Zentrum und Herz des Königreiches dar.«

Hager 1968, 25

Hoppe 2003, 133

Ebd., 134 493 Intimer Platz hinter der Piazza Navona: S. Maria della Pace; Rom

Keller 1971, 16

Subjekt

Bottineau 1986, 240

82

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

2.2.2.

Hoppe 2008, 381

Ebd., 388

IX.6.1.2.f.

Ebd., 382

Die umfangreiche Vitruvrezeption der frühen Neuzeit nahm immer wieder den Gedanken der Angemessenheit (aptum) auf und buchstabierte ihn, so wie es schon Vitruv getan hatte, unter rhetorischen Vorzeichen (z.B. decorum). Entscheidend war in nahezu allen Rezeptionen dieses Begriffs, dass er nicht für eine sklavische Übernahme der antiken Vorgaben, sondern für die Angleichung an den neuen Kontext stand – eine Aufgabe für das kreative Subjekt. Das war die eigentliche Pointe der ästhetischen Kategorien von aptum und decorum. An diesem zwangsläufig unscharfen Begriff kam es zu einer Kollision zwischen einer tradierten Regelästhetik und einer sich ausbildenden subjektlastigen Rezeptionsästhetik, also dem subjektiven Geschmack. Über die Spannung in dieser Frage vor der Institution des Geschmacks wurde bereits berichtet. An dieser Angemessenheit konnte die Formulierung des künstlerischen Ingeniums anschließen – das belebte die bereits in der Renaissance laufende Debatte zum Verhältnis von Naturnachahmung und Genie. Viele Renaissancekünstler verständigten sich darauf, die Natur nach ihrem Ideal und nicht nach ihrer Realität nachzuahmen. Der darin liegende Anspruch, die Natur durch das gestaltende Subjekt zu übertreffen, wurde nun kreativ fortgeschrieben. Die philosophische Erzählung dazu lieferte in erster Linie der Rationalismus mit der Idee der Überformung der Natur durch den Geist. Die oben erwähnte Symbiose von rhetorischer Figur und Mathematik ist gerade unter solchem Hinblick äußerst ergiebig. Zunächst setzte sich die Bedeutung der Mathematik aus der Renaissance fort. Sie war einerseits ein wichtiges (wissenschaftliches) Abgrenzungskriterium der Kunst und Architektur gegenüber dem Handwerk, sie entsprach aber auch der Weltanschauung der Renaissance. Die Mathematik füllte jetzt das weltanschauliche Vakuum, das der Verlust der göttlichen Ordnung hinterlassen hatte: »Mit gravierenden Umbrüchen und den Auflösungserscheinungen mittelalterlicher Gewissheiten konfrontiert, schienen Logik und Mathematik ersatzweise neue beständige Begründungen liefern zu können.« »Die Mathematik«, gemeint ist hier eine stetige Weiterentwicklung der Geometrie, wurde zu einem Instrument des Subjekts und ermöglichte Entwurfstechniken von riesigen Anlagen, die geradezu ornamentalen Figuren entsprachen. Stephan Hoppe fasst die neue pragmatische Aufgabe der Mathematik so zusammen: »In Gestalt der Perspektive war sie in der Lage, dreidimensionalen Raum andernorts illusionistisch zur Erscheinung zu bringen, und als ›Fernregulierungstechnik‹ in Planung und Verwaltung half sie entscheidend, die immer größer werdenden sozialen wie räumlichen Distanzen zwischen Zentrale und Ausführung zu bewältigen.« Im 20. Jh. stößt man auf ein vergleichbares Verhältnis. Neue Software-Lösungen für Entwurfsprogramme führen zu neuen, wiederum dynamischen »barocken« Bauformen. Insofern begegnet uns in den Architekturtraktaten der Neuzeit ein enorm pragmatisches und praxisbezogenes Wissen. Diese Botschaft traf auf einen wesentlich größeren Kreis gebildeter Bauherren als im Mittelalter und selbst in der Renaissance. Aus Korrespondenzen der Zeit lässt sich rekonstruieren, wie sehr sich Bauherren in die Planungen einmischten. »In der Barockzeit beschäftigten sich vermutlich mehr Personen mit Fragen der Architektur, als jemals zuvor in der europäischen Geschichte.«

83

Struktur des Barock

Dieser befreienden Pragmatik der Mathematik als Konstruktionsinstrument des Subjekts stand die platonische Figur der Mathematik noch lange gegenüber, nämlich die Mathematik als (demiurgisches) Vermögen, die Vollkommenheit eines Gegenstandes, gemessen an der kosmischen Harmonie, umzusetzen. Insofern wurde auch immer wieder der Salomonische Tempel beschworen, dessen Baumeister Gott selbst war, der alles nach der Vollkommenheit der Zahl gefertigt habe. In seinen großen Systementwürfen beschrieb der Rationalismus zudem einen Raum. Dieser Raum, der in den bildenden Künsten und in der Architektur eine wichtige Rolle spielte, war vom Rationalismus als Raum eines absoluten (aber eben subjektiven) Bewusstseins (cogito) entworfen. Kant unterstellte ihn schließlich dem endlichen Subjekt. Dies steigerte sich nun insofern, als das betrachtende Subjekt als bewegtes angenommen wurde. Wenn Künstler mehrere Fluchtpunkte konstruierten, trugen sie den sich ständig verändernden Standpunkten dieses sich bewegenden Subjekts Rechnung. Von da her lassen sich die oben erwähnten Zusammenhänge herstellen zwischen der Barockkunst und der Videokunst des 20. Jh.s. Der Raum, den das Subjekt zu seinem Projektionsraum machte, gehörte dem Bildhauer. Es war eine Einsicht des Manierismus, nämlich Benvenuto Cellinis, dass eine Skulptur von allen Seiten betrachtet werden müsse. Die zögernde Ablösung der Figur aus der Fassade im Hochmittelalter, die Entdeckung des (mathematisch konstruierten) Raums durch die Perspektive in der Renaissance, machte nun einem Raum Platz, der vom Subjekt gestaltet wird. Der Künstler inszenierte eine Geschichte in einem von ihm beherrschten Bühnenraum. In den gewaltigen, ins Monströse gesteigerten Schlossanlagen des Barock, Visualisierungen der ebenso monströsen Systemräume von Leibniz bis Hegel, treffen sich das System mit dem dieses organisierenden Subjekt. Wenn man will, kann man auch weniger philosophisch ambitioniert an die Sache herangehen und auf eine Weiterentwicklung der Perspektive im Barock verweisen. War die Mathematik der Linearperspektive in der Renaissance noch auf einen festen Beobachterstandpunkt bezogen, änderte sich das im Barock. Insbesondere der Städtebau war ein Bereich, »in dem das Konzept des unbewegten Betrachters bald an seine Grenzen stößt, da die dem Blick vor allem offenstehenden Straßenachsen des urbanen Raumes prinzipiell auch Räume der Betrachter-Bewegung sind.« Kunsthistoriker wie Schmarsow und Wölfflin haben diese Veränderung identifiziert und damit die Dynamik als Charakteristikum des Barock erkannt. Genau an dieser Linie verlief der Streit zwischen Carracci und Pozzo um die Beibehaltung eines Fluchtpunktes oder die Einführung von mehreren Fluchtpunkten, die der bewegten Betrachterin verschiedene Blickpunkte ermöglichten. An Stel-

Burda-Stengl 2001

VI.6.4.3.

494 Dom Maria Himmelfahrt, Decken­ gemälde v. Paul Troger (1750); Brixen

Hoppe 2003, 212 1.0.

84

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ebd., 234

Cassirer 1932, 402

len wie diesen bemerkt man, wie sehr die Frage nach Dynamik und System auf der einen und dem Subjekt auf der anderen Seite ineinandergreifen und nur schwer zu trennen sind. Besonders ergiebig in dieser Hinsicht ist die Deckenmalerei Tiepolos in der von Balthasar Neumann (mit ständigen Eingriffen seines Konkurrenten Johann Lucas von Hildebrandt) gebauten Residenz in Würzburg. Es bieten sich auf dem gewaltigen, 600 m2 umfassenden freien Gewölbe als Malfläche unzählige Blickpunkte, es »scheinen sogar die gemalten Figuren Tiepolos auf die Bewegung des Betrachters zu reagieren: […].« Damit sind wir auf das Subjekt zurückgeworfen. Ernst Cassirer kam auf die Spannung zwischen Rationalismus und Empirismus im Kontext des Barock und des Subjekts zu sprechen. Während das cartesianische Systemdenken zur objektiven zeitlosen Wahrheit neigte, stellte der Subjektbegriff des Empirismus für Cassirer die raum-zeitliche Erfahrungssphäre in den Vordergrund.

3.4. Die Motive barocker Kunst und Architektur 495 / 496 S. Martino (18. Jh.); Martina Franca, Apulien

Samsonow 2001, 79

Ebd., 80 Architektur und Musik

Alberti 1975, 495ff 4.2.2.

Wittkower 1949, 119

Der Barock bot, wie mehrfach beschrieben, ein einmaliges Kaleidoskop dynamisch-bewegter Motive, denen er seine Faszination für die zeitgenössische Rezeption verdankt: wucherndes Muschelwerk, das Licht brechende Spiegel, rollende und tanzende Kurven, Lichtsäulen und -hüllen, Wellenschlag, Synkopen und schwingende Segel. Ich erinnere an dieser Stelle an die medientheoretische Erklärung der Renaissance durch Elisabeth von Samsonow, wonach die Deformationen der »Verschriftung des Raums« den Introitus in das Barock darstellten, wie sie meinte. Die Verflüssigungen der Renaissance »petrifiziert das Barock.« Barocke Bauwerke folgen nicht klaren geometrischen Formen, vielmehr wird diese Geometrie in komplexe Raummäntel übersetzt, durch Stauchung, Druck und Gegendruck verformt, aber stets in einem Rhythmus von konvexer These und konkaver Antithese in eine harmonische (stehende) Schwingung gebracht. Sie haben zudem »etwas bewegt himmelwärts Strebendes, ein imperatives sursum! Der Ort, nach dem alten leibhaftigen Architekturverständnis Koordinate der unwiderruflichen Immobilie, ist durch diese gebauten Himmelfahrten verächtlich gemacht.« Die Semantik, die an musikalische Begriffe erinnert, ist keineswegs zufällig. Schon Alberti verwandte im Hinblick auf diverse Proportionen der Architektur Begriffe der Musik. Die Musik wurde dabei mit der Mathematik gleichgesetzt, man habe auf die Harmonie zu achten. Der Streit um die Harmonie, also um die Parallelität von Mathematik (damit Musik) und Kunst oder Architektur war auch ein Inhalt der Querelle. Es ging darum, an wie viel Klassizität der Renaissance-Tradition noch festgehalten wurde. »In Wahrheit fanden Spekulationen über die Anwendung von musikalischen Proportionen auf bildende Kunst und Baukunst während der Mitte und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein stärkeres Interesse als allgemein bekannt ist.« François

85

Struktur des Barock

Blondel las die Fassaden Palladios von musikalischen Konsonanzen her. Sein Cours d’architecture war geradezu eine Abhandlung über musikalische Proportionen in der Architektur. Darin vermutete er die Ursache von Schönheit, eine These, der Claude Perrault unter Verweis auf Gewohnheit und empirische Erfahrung widersprach. Inigo Jones war wie auch Henry Wotton ebenfalls überzeugt von der Kraft der Zahlenharmonie, die gleichermaßen für Architektur und Musik Geltung haben. Dies verführte Jones zur Fehldeutung von Stonehenge als Ruine eines römischen Tempels, weil seine Vermessungen eine ideale Harmonie ergaben. Zugleich erhöhte die ausufernde Benützung von Bildmaterial die Anfälligkeit für falsche Zuschreibungen: »Indem der Autor Bild und Text so aufeinander abstimmt, dass alle Hinweise und Vergleichsbeispiele auf einen römischen Rundtempel hinauszulaufen scheinen, und indem er alles auslässt, was auf die ältere Megalithkultur verweisen würde, schafft er eine Antikenfiktion: […].« Eine ähnliche Parallelisierung von Musiktheorie und Architektur verfolgten Bernardo Antonio Vittone, Charles-Etienne Briseux (gegen Perrault), aber auch Maler wie Anton Raphael Mengs. Es waren die Barockkünstler und Barockarchitekten, welche diese Tradition aufgaben. Guarino Guarini hatte mit der Renaissancetradition gebrochen. Ihm folgte später Francesco Milizia mit einer Perspektivierung an der Stelle strenger harmonischer Proportionen. Ebenso war William Hogarth ein vehementer Gegner einer solchen Ansicht. Er gehörte mit dieser Meinung in den Kontext des Empirismus eines David Hume oder Edmund Burke. Tommaso Temanza publizierte 1762 eine Biographie über Palladio (Vita di Andrea Palladio). Darin verwahrte er sich gegen eine Gleichsetzung von musikalischer und architektonischer Harmonielehre, ohne in Frage zu stellen, dass beide von Zahlen bestimmt werden. Sein unmittelbarer Gegner in dieser Diskussion war der geradezu dogmatisch denkende Architekt Francesco Maria Preti aus Treviso. Er arbeitete in einer Gruppe von Theoretikern, die von der Parallelität von Mathematik und Musik überzeugt waren und eine Schule von Treviso bildeten. Temanzas Einwände hoben einerseits auf das Sehvermögen ab, das Länge, Breite und Höhe eines Raums nicht gleichzeitig erfassen könne, und andererseits auf eine grundsätzliche Relativität architektonischer Proportionen. Sie ergäben sich schon daraus, dass beim Blick auf die Proportionen eines Gebäudes stets der Blickwinkel mit berücksichtigt werden müsse. Es ist klar, dass zur kunstphilosophischen Position des Klassizismus die Gleichsetzung von mathematischer Harmonie und Schönheitskonzept gehört. Die Musiktheorie konnte hilfreich sein, »die Anforderung einer ganzheitlichen Proportionierung auf rationalistische Weise zu bewältigen […].« Die Wiederaufnahme der barocken Kunst Ende des 19. Jh.s geschah gleichzeitig mit der Wiederentdeckung der barocken Musik. Stand beim Klassizismus (im Sinne des Pythagoreismus) die den mathematischen Gesetzen gehorchende Harmonielehre im Vordergrund, ging es im Barock vor allem um das Dynamische des Rhythmus, des Taktes und um den Klang der Töne. Auch abseits von der Idee des Gesamtkunstwerks gibt es im Barock schon im Sinn einer Synästhesie eine Konvergenz von verschiedenen Genres der Kunst. In die

4.2.4.3.1.

Ebd., 115

Vöhringer 2010, II, 20f

5.1./5.2.4.

Wittkower 1949, 117f

Hoppe 2003, 159 Kaufmann 2011, 85 III.2.2.3. Einheit der Künste

86

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Wölfflin 1915, 69f Wölfflin 1888, 28f

Ebd., 122

Borngässer Barbara in Toman 2010, 600

Wölfflin 1888, 45ff, 63f

V.6.2.4.

Architektur, so wird oft gesagt, habe die Malerei Einzug gehalten. Man kann ein barockes Gebäude ähnlich beschreiben wie ein Gemälde. Heinrich Wölfflin arbeitete den Unterschied zwischen Renaissance und Barock mit Verweis auf die Bildmächtigkeit des letzteren heraus: »Während im klassischen Stil die bleibende Form den Akzent hat und die wechselnde Erscheinung daneben keinen selbständigen Wert besitzt, ist hier die Komposition von vorneherein auf ›Bilder‹ angelegt. Je vielfacher sie sind und je mehr sie sich von der objektiven Form entfernen, für um so malerischer wird die Architektur geschätzt.« Er sah in diesem Malerischen Schein und Bewegung in die Architektur kommen. Malerisches stehe im Gegensatz zum Symmetrischen und Linearen. Das Malerische – so das aktualisierte Narrativ von disegno und colorire – umfasse nicht Klarheit, sondern das Unabschließbare, Stimmungsvolle und öffne sich der Phantasie. An die Stelle von Linie und Umriss treten Rundung und das Amorphe. War der Sakralraum der Renaissance »klar bis in den hintersten Winkel«, verwischt die malerische Architektur mit den dunklen Kapellen die Grenzen und leitet die Phantasie ins »Unbestimmte«. Die Effekte des Malerischen erzeugen Bewegung und Virtualität. Diese Effekte fanden auf allen Gebieten Anwendung, nicht nur in der Baukunst. Es sind diese »Effekte« barocker Inszenierung, welche die postmoderne Rezeption vor allem speist. Indes unterliegen die barocken Inszenierungen, wie schon gesagt, einer rationalen Planung. Über die dynamischen Motive spannt sich gleichsam die Klammer des Systems. Selbst die ausufernden Feste des Barock folgten einem Ordnungsschema. Versteht man es von der Rhetorik her, bleibt auch unter diesem Gesichtspunkt das Schema der rhetorischen Form, die Pathosformel sozusagen, eine ordnende Klammer. Barbara Borngässer verweist am Beispiel des Innenraums der Kirche Sant’Ivo alla Sapientia in Rom auf dieses System, das die Dynamik einer Ordnung unterzieht: »Seine Kontur scheint zu atmen, sich zu dehnen und sich zusammenzuziehen. Nur schwer wird man gewahr, dass diesem Ein- und Ausschwingen ein ausgeklügeltes geometrisches System zugrunde liegt.« Diesem Schwingen kommt etwas Leichtes zu, trotzdem wird – namentlich von Giulio Carlo Argan und Wölfflin – der Barock neben der Bewegung auch mit Massigkeit und Schwere in Verbindung gebracht, bis hin zum Pathologischen. Das kann aus heutiger Sicht allenfalls an der immer noch an der Klassik orientierten Veränderung der Renaissance nachvollzogen werden, aber kaum an der Rhetorik des geschwungenen Barock. Wie erwähnt eignet sich dieses Bedeutungs-Lastige für Deutungen, die den Barock mit der Melancholie in Verbindung bringen. Auch die Ambivalenzen, die den Barock auszeichnen, scheinen einem Kalkül gefolgt zu sein. Es wurde der Sinnenfreude gehuldigt, zugleich das memento mori zelebriert. Die überschäumende materielle Pracht – man halte sich vor Augen, wie wohl ein Bernhard von Clairvaux eine von Cosmas Damian Asam gestaltete Kirche wie die Johann-Nepomuk-Kirche in München kommentiert hätte – ging Hand in Hand mit einem strengen Glaubensernst. Der Barock kannte in der bildenden Kunst eine ausschweifende Herrscherikonographie. Sie griff zurück auf die Mythologie der Antike, auf deren Heroen wie Her-

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Struktur des Barock

kules und Äneas, Ausdruck von Stärke und Gründermetaphorik, dann auf Apollon mit seiner Licht- und Sonnenmetaphorik, die sich für die Konnotation des Sonnenkönigs und Herrschers eines Goldenen Zeitalters fruchtbar machen ließ. Er vertreibt die Mächte des Dunkels und des Bösen aus seinem Reich. Daneben bleiben die bereits in der Renaissance beliebten Themen der guten Regierung durch den Triumph der Weisheit aktuell. Hier vor allem, bei dieser Phänomenologie der barocken Oberfläche, ist der Ort, wo der Barock seine Faszination für die zeitgenössische Kunst entfaltet. In den vergangenen Jahrzehnten ist allenthalben eine Re-Vision (so ein Symposiumstitel des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien 1996) des Barock in der Kunstszene zu beobachten: going for Baroque! Zur Schau gestellt wird das Sinnliche, Theatralische, die Oberfläche, Erotik, Feminines (gemeint das Vorbild der Madame de Pompadour), das Dynamische, Visuelle und so fort. Zeitgenössische Kunst, die sich mit Raum oder mit Zeit beschäftigt, organische Formen an die Stelle des International Style stellte, arbeitet an Themen des Barock. Barock als Rahmen, in den sich, wie man plötzlich zu bemerken schien, allerlei einfügen lässt. Wo Flammenartiges auftaucht, ist Mystik mit der heiligen Teresa nicht weit, wo sich Falten zeigen, der Barock des Deleuze, wo es kräftig farbig wird, ist man an die Farborgien des Manierismus erinnert. Solche Motive für den »Barock des 20. Jh.s« hat Omar Calabrese zusammengestellt. »Das Barock ist also nicht so sehr eine Epoche, ein Stil oder sogar ein Ort, sondern ein Treffpunkt, dessen Verkehrsampel uns stoppt, uns anhält zum Nachdenken über die (Kultur der) Gegenwart und (einige Elemente der) Vergangenheit.« Oder anders die gleiche Mieke Bal: »The idea of a ›contemporary baroque‹ is, then, a fundamentally baroque one and, hence, a tautology: baroque already entails contemporariness. / Baroque art, then, […] is an art of performance – hence, performance art.« Bei den gegenwärtigen Deutungen von Benjamin, Deleuze, Buci-Glucksmann, Ellen Hills und anderen geht es um die nicht unumstrittene Unternehmung, den Begriff Barock aus dem historischen Kontext zu lösen und ihn als transhistorisches Phänomen zur zeitlosen Charakterisierung von Kunst- und Architekturformen zu verwenden. Solche Deutungen des Barock vertragen sich nun gar nicht mit der provokant vorgetragenen und deshalb mit einiger Bekanntheit ausgestatteten These des Historikers Peter Hersche (Muße und Verschwendung: europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter; 2006). Hersche spricht dem Barock generell jede Aufklärungsambition ab. Da er den Barock an den Katholizismus koppelt, hat für ihn im katholischen Bereich Aufklärung überhaupt nicht stattgefunden und der Barock hat in Protestantismus und Aufklärung seine Gegner gehabt. Diese nun doch ziemlich eindimensionale Sicht der Dinge erhält noch eine Volte dadurch, dass Hersche den Barockkatholizismus zu guter Letzt als Remedium gegen die Modernisierung anpreist.

going for Baroque!

Bal 2011, 185f

Calabrese 1987

Bal 2001, 23 497 Otto Zitko, Informelle Malerei in Barockgebäude; Innsbruck Bal 2011, 188/199

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Buci-Glucksmann 2001, 206f Ebd., 207

IX.3.8.2. Ebd., 206

Ebd., 208

Ebd.

Ebd., 210

Christine Buci-Glucksmann bemüht sich demgegenüber um eine möglichst breite Rezeption und unterscheidet zwei Aspekte, die zwei Paradigmen des Barock entsprechen und die sie Leibniz und Benjamin zuordnet: (1) Der Leibnizsche Komplexitätstypus (neu buchstabiert durch Deleuze) mit der Theorie der Falte und einem Barock mit Kraft und Fülle. Darüber wurde unter 2.2.1. bereits berichtet. (2) Der Benjaminsche Komplexitätstypus mit den Figuren der Ruine, des Fragments, der Melancholie und der Allegorie. Benjamin setze in seiner modernen Allegoriedeutung (z. U. von einer mythischen Einholung des Allegorischen) auf ein destruktives Prinzip, welches die Totalität in Fragmente aufsprengt. Buci-Glucksmann nennt das die »barocke ›Detaillierung‹«. Benjamins Allegorie-Deutung betreibe den Tod der Intention und entspreche der barocken Spannung von Weltorientierung und Transzendenz. Diese zwei Aspekte sind nicht als ausschließender Dualismus zu verstehen, vielmehr bilden sie eine komplexe Beziehung oder – anders ausgedrückt – eine postmoderne Doppelcodierung. Mit Hilfe der Allegorie gelinge Benjamin eine Erweiterung der Bedeutungen und visuellen Vielfalt des Objekts. Benjamins Umgang mit der Allegorie und der Allegorisierung der Welt habe nicht nur die Nachahmung der Natur beendet, sondern auch die Fortschrittsidee zugunsten »derjenigen einer unzeitigen Zeit mit Konstellationen von Vergangenheit und Zukunft in einem ›Gegenwärtigen‹, das von einer Vor- und Nachgeschichte geprägt ist.« Benjamin sah in der Allegorie den Ursprung des Schocks und der Zerstreuung. Bei Buci-Glucksmann wird sie als Kunst des Fragmentarischen und der Dekonstruktion gewürdigt. Die Tätigkeit des Allegorikers bestehe darin, »dieses und jenes Bild mit dieser und jener Bedeutung zu verbinden, wie beim Weben eines Netzes.« Mit Blick auf die Komplexität barocker Anordnungen dechiffriert sie diese als Gesamtheit der Kräfte, die einerseits in Prozessen zwischen dem Virtuellen und dem Realen spielen, andererseits Fraktalität aufweisen, also Selbstähnlichkeit zwischen jedem Detail und dem Ganzen. Der nichtauratische Blick der Allegorie ist Teil eines Theaters »des Trauerns und des Leidens, in welchem eine blendende, spiegelähnliche und kristalline Erscheinung gestattet, dem Tod und dem Nichts zu entfliehen.« Letztlich buchstabiert Buci-Glucksmann die barocke Allegorie in der philosophischen Brechung durch Benjamin als postmoderne Dekonstruktion. Damit liefert sie mit Hilfe der Vorlagen von Walter Benjamin und Gilles Deleuze eine stupende Beschreibung der dekonstruktivistischen Architektur auf der Grundlage einer Universalisierung des Barockparadigmas, das überall anwendbar scheint, wo Falte, Dynamik, Allegorie, System und gesprengtes System auftauchen: »Von den Bahnen der Brownschen Bewegung bis zu den übergeordneten Kurven in einer Dimension existiert ein ganzes Gebiet von unregelmäßigen, sich verzweigenden oder zersprungenen Formen, das mittels Agglutination, Anhäufung und Turbulenz vorgeht und damit eine ganz enge Affinität zu den Modellen einer barocken Ästhetik aufweist, die mittels Inflexionen und ›Falten ins Unendliche‹ vorgeht. […] Das Barock erfindet diesen multidimensionalen Projektionsraum, der alle Formen temporalisiert und sich einer vielfach wahrnehmbaren Ästhetik öffnet, die alle Kunstformen miteinander verbindet.«

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Struktur des Barock

3.5. »Autoren« barocker Universalsprache Im Barock verschmolzen die verschiedenen Künste zu dem, was man – auch unter Berücksichtigung kritischer Einwände – durchaus passend als Gesamtkunstwerk bezeichnen kann. Anders als in der Renaissance war die Architektur ausdrücklich auf Ergänzung durch die anderen Künste angelegt. Aus kunstgeschichtlicher Sicht wären hier die Namen zu rekapitulieren, die bereits im Renaissanceteil Erwähnung fanden. Von Bramante zu Antonio da Sangallo, »ein Hauptträger der Barockentwicklung«, dessen Stil »massig und ernst« gewesen ist, bis zu Michelangelo, den man auch schon als »Vater des Barockstiles« wegen »seiner gewaltigen Art, die Körper zu behandeln« bezeichnet hat, oder Giacomo Barozzi da Vignola. Grundsätzlich gab es im Cinquecento zahlreiche Künstler, die »sich an der Grenze der verschiedenen Kunstrichtungen […]« bewegten. Die kunstgeschichtliche Bewertung der als Renaissancekünstler abgestempelten Personen ist naturgemäß Thema der Kunsthistorikerinnen. Sowohl die bildenden Künstler als auch die Architekten hatten sich im Barock von der handwerklichen Tätigkeit emanzipiert. Sie waren in ihrer eigenständigen Rolle etabliert. Eine definierte Berufsbeschreibung des Architekten gab es freilich nicht. »Baumeister«, »Werkmeister« und »Architekt« wurden als gleichwertige Begriffe gebraucht. Die Ausbildung war denkbar unterschiedlich. Bernini war wie Fischer von Erlach und Andreas Schlüter Bildhauer, Borromini Steinmetz, Balthasar Neumann Glocken- und Geschützgießer, Claude Perrault Mediziner, Christopher Wren Mathematiker. Viele große Barockkünstler waren demnach vielseitige Begabungen. Negativ könnte man (und dies war eine verbreitete zeitgenössische Polemikfigur) von Nebenberuflern und Laien sprechen, zumal die meisten Architekten – ähnlich wie die vielen Künstler – Autodidakten waren, die sich ihre Kenntnisse durch Lektüre und Reisen aneigneten. Nur in den großen Städten setzte sich allmählich ein akademischer Ausbildungsweg durch. Dort gab es bald Architektur-Büros, wie jenes von Carlo Fontana in Rom oder jenes von Jules Hardouin-Mansart in Paris. Nur beispielhaft sollen hier vier Namen von Künstlern herausgegriffen werden, die als vorbildliche Autoren einer barocken Universalsprache gelten dürfen: (1) Bernini, (2) Fontana, (3) Borromini und (4) Piranesi. (ad 1) Gian Lorenzo Bernini, 1598 in Neapel geboren, war – wie Rubens für die Malerei – geradezu die Verkörperung der barocken Architektur und Bildhauerei. Er gab dem »römischen und italienischen Barock seine majestätischste und vollkom-

498 / 499 Palais des Ducs, umgestaltet von Hardouin-Mansart (1689), Ansicht und Westflügel; Dijon Wölfflin 1888, 15 Gurlitt 1887, VIII; Riegl 1908, 31 Wölfflin 1888, 89 VI.7.1. Hauser 1964, 162

Erben 2012, 106ff

Gian Lorenzo Bernini

90

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Bottineau 1986, 47

500 Fontana del Moro von della Porta und Bernini (um 1575/1654); Rom

Morello 2014

Burbaum 2003, 16 4.2.4.3.1.

menste Form.« Seine Apoll und Daphne-Skulptur (1625) gilt als Inauguralwerk des reifen Barock. Die Rekonstruktion der Anliegen muss dabei vor allem aus dem Werk selbst versucht werden, denn anders als in der Renaissance schufen diese Meister zwar die Zeit prägende Werke, schrieben aber darüber keine theoretisch reflektierenden Traktate. Bernini war ein frühreifer Senkrechtstarter, von Hause aus Bildhauer, der das Geschäft der Architektur erst mühsam und mit einigen Misserfolgen erlernen musste. Er begann seine große Karriere in Rom, wohin seine Familie bereits 1605 übersiedelt war – der Vater Pietro Bernini, ebenfalls Bildhauer, hatte einen Auftrag von Papst Paul V. erhalten. Zunächst arbeitete Giovanni Lorenzo zumeist für kirchliche Auftraggeber, darunter mehrere Päpste. Unter Urban VIII., seinem lebenslangen Förderer und Freund, erhielt er freie Hand als künstlerischer Leiter in Rom. Das Ziborium über dem Petrusgrab (1624– 1633), die Grabmäler für Urban VIII. und Alexander VII. sind außergewöhnliche Schöpfungen. Urbans künstlerische und architektonische Ambition förderte zwar den Barock, sie fügte freilich gleichzeitig den antiken Bauten Roms großen Schaden zu. Was man in der Renaissance noch mit Verehrung quittierte, war jetzt zu Steinbrüchen und Ersatzteillagern für die damaligen zeitgenössischen Projekte verkommen, bevor sie für den Klassizismus neuerlich einen nostalgischen Status erhielten. Unter Anspielung auf den zivilen Namen Urbans, Maffeo Barberini, entstand das noch heute kursierende geflügelten Wort: quod non fecerunt Barbari, fecerunt Barberini (was die Barbaren nicht zusammenbrachten/zerstörten, schafften die Barberini). Urban konnte am 18. November 1626 den Petersdom einweihen, an dem über einhundert Jahre gebaut worden war. Bernini, der 1629 nach dem Tod Madernos die Bauleiterstelle in St. Peter übernahm, baute den genialen kolonnadengesäumten, zum Dom hin ansteigenden und auf Kirche und Benediktionsloggia ausgerichteten Doppelplatz allerdings erst dreißig Jahre später. Eine eindrucksvollere Kulisse für die Inszenierungen der Weltkirche (urbi et orbi) hätte kaum erdacht werden können. Bernini war ein in ganz Europa höchst angesehener Mann, der auf seiner wichtigsten Reise nach Paris mit großem Gefolge unterwegs war und in allen Städten, die er durchquerte, gefeiert wurde. In Paris beriet er Ludwig XIV. bei der Gestaltung der Ostfassade des Louvre, wo sein Entwurf freilich nicht zum Zug kam. Er wurde dort wie ein Aristokrat empfangen. Ein Großteil der Verehrung wurde ihm schlicht deshalb entgegengebracht, weil er aus jenem Land stammte, von dem alle große Kunst ausging. Dass unter der virtuellen Weihrauchwolke die Uhren in Paris bereits anders, nämlich klassizistisch tickten, ist freilich auch wahr. Mit Rubens und Bernini hatte die Anerkennung von Künstlern und Architekten einen Höhepunkt erreicht. Bernini selbst legte Wert darauf, dass er nur für die künstlerische Erfindung zuständig sei und nicht etwa für die technische Ausführung. Dafür gab es die Handwerker. Werner Hager beschreibt am Beispiel Berninis die zugrundeliegende Ambition des Barock: »Wäre es nach Bernini gegangen, er hätte ganz Rom in ein Theat-

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Struktur des Barock

rum sacrum et profanum verwandelt, in einen Schauplatz bildhafter Begegnungen zwischen Himmel und Erde, voller Naturgötter und Allegorien.« Dieses Theater der Künste – Bernini entwarf auch Bühnenbilder und trat sogar selbst als Schauspieler auf – schafft ungeheuer suggestive Kräfte durch ein reiches Feld der Illusionen. Die malerische Fortsetzung von architektonischen und skulpturalen Formen öffnet imaginäre Räume, Durchbrüche, Perspektiven und eine enorme Dynamik. (ad 2) Zu Berninis Schülern und Mitarbeitern – er war technischer Leiter in Berninis Atelier – gehörte der 1638 im Tessin geborene Carlo Fontana, der bereits als Kind nach Rom kam und später dort nachhaltige architektonische Spuren hinterließ. Seine Bauten pflegte er mit begleitenden Schriften in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. 1694 brachte er in diesem Zusammenhang eine Baugeschichte von St. Peter heraus (Templum Vaticanum et ipsius origo). Fontana setzte im Laufe seines Künstlerlebens dann allerdings andere Akzente, kehrte dem Hochbarock den Rücken zu und führte ein geradezu puritanisches Ideal ein: für den Palastbau den ursprünglichen Würfel, für den Kirchenbau das Schema des einfachen überkuppelten Raumzylinders über kreisförmigem Grundriss. Es waren die Ideale des Klassizismus, die jetzt Oberhand gewannen. (ad 3) Ein ganz anderer Charakter als Bernini war der etwa gleichaltrige Francesco Castelli, der sich in Rom Borromini nannte. Der 1599 im schweizerischen Bissone am Luganersee geborene Bildhauer und Architekt war ein zurückgezogen lebender Künstler. Borromini verließ die klassischen Vorgaben und baute in einem gewagt barocken Stil, was dem immer in spanisch-schwarzer Kleidung (offenbar um aufzufallen, wie manche Zeitgenossen anmerkten) auftretenden Borromini viel Häme und Ablehnung einbrachte. Es gab kaum einen schlimmeren Vorwurf an einen Architekten als den eines regellosen Bauens. »Borrominis Hauptinteresse blieb immer die Modellierung des Raumes. […] In seinen Händen erhielten alle ererbten Formen eine neue Flexibilität. Nichts schien ihm endgültig, und schon fast von Beginn seines Werkes an wurde er angeklagt, das Bizarre zu kultivieren und sich zu große Freiheiten zu gestatten.« Die Kontroverse um Borromini zeigt, wie schwer sich die Architektur tat, aus dem Regelwerk der Antike – mit anderen Worten: der Rezeption Vitruvs – herauszutreten und einen Schritt zu setzen, den die anderen Kunstgenres bereits hinter sich hatten. Einer der herausragenden Bauten wurde die Kirche San Carlo alle Quattro Fontane (1641; Fassade 1667), ein Fest der Dynamik. Bellori, der gestrenge Klassizist, reagierte geradezu wütend: »brutta e deforme […] infamia del nostro secolo«, blaffte er in einem Brief. Der Kunstsammler Lione Pascoli verteidigte den Meister in seinen Vite de pittori, scultori ed architetti moderni (1730). Er sei ein architetto spiritoso und seine Regelabweichungen genial (ingegnose). Dem Reiz des Geschaffenen konnte sich sogar ein Milizia nicht ganz entziehen (e’ pero mirabil), aber letztlich fand auch er, dass Borrominis Sucht nach der novità geradezu krankhaft sei. Selten brandete an einem Künstler der Richtungsstreit, hier jener von Barock und Klassizismus, so hart aufeinander. Werner Oechslin hat die engagierten gegenseitigen Zuschreibungen gesammelt und gegeneinander gestellt.

Hager 1969, 8

Carlo Fontana

Keller 1971, 39 Francesco ­Borromini

Giedion 1965, 98

Oechslin 2000

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Borngässer Barbara in Toman 2002, 31 Giovanni Battista Piranesi

Ficacci 2011, 19

4.2.4.2.

In Rom war Borromini zunächst Mitarbeiter von Carlo Maderno, einem entfernten Verwandten, und wurde von kirchlichen Würdenträgern mit Aufträgen versorgt: Kirchen, Altäre, Paläste. Virgilio Spada, ein treuer Verehrer und Auftraggeber, schrieb unter dem Namen Borrominis eine (erste) Architekturmonographie über zwei Bauwerke des Meisters (Opus Architectonicum; 1725). Es sind keine theoretischen Reflexionen, sondern – typisch für die Schriften des Barock – Werkbeschreibungen. Trotz seines Ruhms stand Borromini im Schatten des immer heller leuchtenden Sterns Bernini, mit dem ihn nach einem längeren freundschaftlichen Verhältnis in der Jugendzeit schließlich eine heftige Rivalität verband, die sich zur Feindschaft steigerte. Nach dem Tod Urbans VIII. wurde zwar unter dem Nachfolger und Kunstfreund Innozenz X. vorübergehend Borromini bevorzugt, aber der Auftrag für den Vier-Ströme-Brunnen vor Borrominis Kirche auf der Piazza Navona wurde nach einigen Intrigen wieder Bernini zugeschanzt. Unter Alexander VII. war Bernini wieder der ausschließliche Favorit. Diese Rivalität zwischen dem freien Borromini und dem der Klassik enger folgenden Bernini ist als »Konflikt zwischen handwerklicher Kreativität und höfischer Invention« gelesen und als »Inbegriff der divergierenden Kunstströmungen im barocken Rom« gedeutet worden. Borromini nahm sich 1667 in einem Haus in Rom mit Blick auf den Tiber das Leben. (ad 4) Der große Vedutenkünstler Giovanni Battista Piranesi, 1720 als Sohn eines venezianischen Steinmetzes in der Nähe von Treviso geboren, passte wie kaum ein zweiter in dieses Schema der barocken künstlerischen Universalsprache. Nach Ausbildungen in Wasserbau und Architektur perfektionierte er seine Grafiktechnik ab 1740 beim berühmten römischen Kupferstecher Giuseppe Vasi. Er war ein bedeutender Grafiker – Kupferstich und Radierung –, aber er gestaltete auch Theater- und Festdekorationen, vertrieb in ganz Europa Kamine und betätigte sich als Restaurator und Hobbyarchäologe in Herkulaneum und in Rom. Von seinem Selbstverständnis her war er Architekt und sah in diesem Beruf ein Potential »gesellschaftliche Lebensweisen und Lebensräume zu erneuern und verbessern.« Seine idealisierten und überhöhten Darstellungen antiker Ruinen trugen zur Antikenverehrung, der Winckelmann eine wissenschaftliche Grundlage gegeben hatte, wesentlich bei. Die auf Papier gebannte Wucht der römischen Architektur war aber vor allem eine Empfehlung für Rom. Darüber schrieb der bildende Künstler in theoretischer Absicht Reflexionen: Prima Parte di Architetture e Prospettive (1743). Geradezu besessen von seiner Sendung, nahm Piranesi den Kampf gegen den zerstörerischen zeitgenössischen Umgang mit dem antiken Erbe der Ewigen Stadt auf. Das Vermächtnis dieses Kampfes legte er 1748 in einem vierbändigen Opus Magnum, Antichità Romane, vor. Piranesi wehrte sich lange gegen die von Winckelmann und von französischen und englischen Architekten betriebene Aufwertung der griechischen Antike. Er witterte darin eine Konkurrenz zum römischen Erbe, dem er sich verpflichtet fühlte. Allerdings scheinen ihn die nach den Erfahrungen vieler Absolventen der Grand Tour heftig ausgebrochenen Diskussionen über den Primat der römischen oder griechischen Architektur nicht ungerührt gelassen zu haben. Selbst in seinem engsten

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Struktur des Barock

Freundeskreis wurde eine Überprüfung der pro-römischen Haltung als notwendig angesehen. Darunter war auch Allan Ramsay, der in seinem Dialogue on Taste die Überlegenheit der gotischen Architektur propagierte. 1765 nahm Piranesi einen neuen Anlauf in Della introduzione e del progresso delle Belle Arti in Europa ne’ Tempi antichi, ein Werk, von dem nur die Einleitung fertiggestellt wurde. Darin kann man bei genauem Hinsehen einen Schwenk zur Anerkennung des Griechischen erkennen. Rudolf Wittkower vermutet die Ursache in den kritischen Stimmen, die angesichts der griechischen Architektur von einer belle et noble simplicité sprachen. »Piranesi could no longer ignore the fact of the simplicity of Greek and the ornate character of fully developed Roman architecture.« Allerdings begann Piranesi jetzt, eine ornamentierte Architektur gegenüber einer einfachen zu bevorzugen. In seinen letzten Lebensjahren näherte er sich der Idee seiner heftigsten Kritiker, dass die Etrusker griechische Kolonialisten gewesen seien.

Ebd., 26

Wittkower 1938, 153

3.6. Ermüdung des Barock und das Rokoko Die Renaissance endete mit der Infragestellung der idealisierten Harmonie im Manierismus. Die Ermüdung des Barock hatte mehrere Gründe. Das Wiederaufflammen der Klassik im Klassizismus am Ausgang des Barock verweist auf ein resistentes Fortleben klassischer Vorstellungen, die praktisch parallel liefen und die inzwischen nostalgisch verklärt waren. Insofern zeigte der Klassizismus nichts anderes als das Ende der selbstverständlichen Verbindlichkeit eines Zeitstils und war im Grunde eine dem Rokoko formal zwar gänzlich entgegengesetzte, aber inhaltlich vergleichbare Erscheinung. Der Ausdruck Rokoko für einen verfeinerten und überladenen Barock, der um die Jahrhundertmitte aufkam, war ursprünglich spöttisch gebraucht und leitet sich von rocaille ab, was soviel wie Muschelwerk (v.a. in den Grotten und Brunnen der Gärten) und muschelförmiges Ornament bedeutet. In Frankreich sprach man ursprünglich von einer genre pittoresque und von den rocailleurs, die solche Inkrustationsarbeiten ausführten. Für das erste Auftreten der Rocaille gibt man meist die erste Hälfte des 18. Jh.s an. Dem aus Turin stammenden Juste-Aurèle Meissonnier kommt die zweifelhafte Auszeichnung zu, als ihr Schöpfer zu gelten. 1734, ein Jahr bevor Meissonnier mit einem Tischaufsatz für den Duke of Kingston eine Rocaille-Manie auslöste, empfahl Edmonde-François Gersaint, der Insekten, Pflanzen, Schnecken- und Muschelgehäuse und »andere Kuriositäten« (autres curiosités naturelles) vertrieb, Muscheln und Schneckengehäuse als Ideenspender für Architekten und bildende Künstler. Trotz dem Erschrecken vor einer »schändlichen Zerstörung« des französischen Klassizismus durch diese regellose italienische Spielerei, verbreitete sich die Rokoko-Form rasch. Denn die Form symbolisierte die Befreiung aus der rationalen Struktur des Barock und entsprach dem neuen Lebensgefühl eines individualistisch gewordenen feinsinnigen Lebensstils. Sie entstand gegen Ende der Zeit Ludwigs XIV.

VI.8.0.ff.

501 Motiv der Jakobs­ muschel, Helblinghaus (Fassade um 1730); Innsbruck

Neuwirth 2015, 243

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Burbaum 2003, 14

Bärsch 2017, 71

502 / 503 Marien­ münster (1736); Diessen

Hager 1968, 176

in Paris und steigerte sich bei Nicolas Pineau und in den Grotesken von Jean Bérain und Jacques de Lajoue. Es war eine Zeit, in der gepflegte Manieren in Mode kamen, ein Impuls für die Handwerkskunst, die sich nun Mühe gab, feines Porzellangeschirr, Möbel und andere Accessoires vornehmer Lebensführung zu schaffen. Ein beliebtes Material war das 1753 von Jean-Jacques Bachelier in Vincennes erfundene Biskuitporzellan (franz. bis-cuire/zweimal brennen). Das unglasierte Porzellan mit marmorähnlichem Aussehen lässt sich gut modellieren und hat ein weiches Erscheinungsbild. »In deutlicher Abgrenzung von barocker Monumentalität zeichnet sich die Rokoko-Kunst durch zierliche Formen und verfeinertes Ornament aus.« Das galt nicht nur für den profanen Bereich, sondern auch für die Sitten bei der nachtridentinischen kirchlichen Liturgie. »Schlampige Haltung, fahriges und nachlässiges Gebaren bei den Bewegungen und Gesten wie gedankenlose Persolvierung der Riten durch den Klerus wurden immer weniger gebilligt.« Wegen solcher formalen Beschreibungen, aber auch weil die Rolle der Frau im 18. Jh. eine Aufwertung erfuhr, gilt der Barock manchmal als männlich und das Rokoko als weiblich. Da darf als ironisches Aperçu erwähnt werden, dass Wolfgang Joop im Jahr 2000 ein Damenparfüm rococo nannte.

Die Deutschen bezeichneten die Rokoko-Ornamentik bisweilen als »Grillenwerk«. Der Ausdruck fand Eingang in Kunstbücher und tauchte bald in der Architektur auf. Lustschlösser und Gartenhäuser waren ebenso prädestiniert dafür wie private Salons und schließlich Kirchen. Das Ornament, namentlich der konkave Schwung, und die kräftigen Farben zeichneten die arkadische Utopie der Verbindung mit der Natur nach: »Aus Pflanzen, Tüchern, Wolken, Rocaille, Knorpelwerk, Architekturfragmenten mit Figur dazwischen, in Farben und Gold entstehen asymmetrische Phantasiegebilde, die über das Gebaute hinweggehen wie Efeu.« Die Oberfläche wurde durch und durch gestaltet: »Vor allem die bewegte, ganzheitliche Duchgestaltung der Kirchen vom kleinsten liturgischen Gerät bis zum Ornament, das mit der Mauer beinahe untrennbar verschmilzt oder sie gar ersetzt, besitzt eine bezwingende, ge-

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Struktur des Barock

stalterische Verve. Die Materie ist in Bewegung geraten, wenngleich unter anderen Voraussetzungen als bei Borromini, Bernini und Guarini.« Im Motiv der Muschel könnte man eine grundlegende Wertverschiebung herauslesen: »Nicht mehr Jupiter, Apoll oder Helios sind der Mittelpunkt des geistigen und künstlerischen Interesses, sondern der Hirtengott Pan, Herr über die Traumlandschaft Arkadien, und die aus dem Meerschaum geborene Venus. […] Die rocaille ist das abstrahierte Zeichen der Meereswelle, die in immer kleineren Bögen sich aufbaut und schließlich bricht. C- und S-Linien werden infinitesimal gereiht und zunehmend miniaturisiert.« Dazu kamen eine erotische Komponente und Spielereien mit exotischen Formen. Die Frierende (1783) von Jean-Antoine Houdon oder Die verlassene Psyche (1790) von Augustin Pajou seien als Beispiele dafür erwähnt. Auch das Rokoko hatte noch eine europäische Dimension mit lokalen Prägungen. Adorno sprach von einem mit dem Barock mitgeschleiften »Appendix«. Und Wolf von Niebelschütz sieht in einer allzu geglätteten und wenig problembewussten Sicht Renaissance, Barock und Rokoko zusammengehörend »wie Jugend, Mannesreife und mildes Alter eines und desselben Menschen.« Von mildem Alter kann indes kaum die Rede sein. In Rom, der Stadt des Barock, tat sich das Rokoko eher schwer. Man sprach dort wegen der Zierlichkeit einer heiteren und verspielten Architektur von barocchetto. Francesco de Sanctis’ Spanische Treppe (1726) ist ein bezauberndes Beispiel einer entsprechenden Stadt­ inszenierung. In Frankreich nannte man den Stil ab der Mitte des 18. Jh.s Style Louis Quinze. Strenger als in Deutschland konzentrierte sich in Frankreich das Rokoko auf den Innenraum, während die Außenfassade dem klassizistischen Ideal verpflichtet blieb. In Sachsen des 18. Jh.s mit Kurfürst Friedrich August I. und seinem kunstsinnigen Sohn Friedrich August II. sprach man vom Augusteischen Zeitalter. Der Architekt Matthäus Daniel Pöppelmann und der Bildhauer Balthasar Permoser schufen den Rokokobau des Dresdner Zwingers, »ein gebautes Arkadien«, eine »einzigartige Verschmelzung von Architektur und Skulptur.« In Potsdam wiederum

war der Ausdruck Friderizianisches Rokoko geläufig. Friedrich II. selbst war es, der – an Frankreich orientiert – Entwürfe und Korrekturangaben für sein Lustschloss Sanssouci (1745–1747) lieferte. Der Würzburger Spätbarock an der Kippe zum Rokoko – vom genialen Balthasar Neumann gebaut und von der fürsterzbischöflichen

Neuwirth 2015, 248

Felsner 2010, 119

Adorno 1966b, 404

Niebelschütz 1981, 27

504 / 505 Zwinger (18. Jh.); Dresden Borngässer Barbara in Toman 2002, 140 Schedler 2008a, 324

506–508 Sanssouci, Ansicht und Details; Potsdam

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Kern 2008 Engelberg 2008b, 242f Schedler 2008a, 325 Borngässer Barbara in Toman 2010, 638

3.4.

Engelberg 2005

Engelberg 2008b, 243 3.1. zit. nach Büttner 2008, 353

Thimann 2006, 355

Dynastie der Schönborn beauftragt – lebte aus der Synthese des gesamten europäischen Spätbarock. In Venedig schlug sich das Rokoko in der Malerei nieder, ebenso in England, wo es bei dem moralisierenden William Hogarth und bei Thomas Gainsborough selbständige Vertreter fand. Hogarth durchkreuzte jede Parallelsetzung von mathematischen Proportionen und der Schönheit. In Süddeutschland und Österreich war das Rokoko in allen Kunstsparten verbreitet. Franz Ignaz Günther war einer der Hauptvertreter der Rokokoskulptur in Süddeutschland. In dieser Gegend sickerte das Rokoko in die volkstümliche Kunst und erreichte das Bauernhaus und das Bildstöckel. Bis heute dauert die lebhafte Diskussion in der Wissenschaft an, ob zwischen Barock und Rokoko die Kontinuität oder die Divergenz im Vordergrund steht. Die Schwierigkeit einer Einigung hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es auf das jeweilige Genre ankommt. Mit Blick auf den Sakralbau sieht etwa Meinrad von Engelberg gegenüber der Divergenz die Kontinuität im Vordergrund. Das Rokoko ist – ein Zeichen dieser Kontinuität – mit einer Profanierung des Sakralbaus verbunden. Kirchen erhielten ein »höfisches Flair« und wurden zu einem »überirdischen Festsaal«, wie Ute Schedler und Barbara Borngässer für die von den Brüdern Johann Baptist und Dominikus Zimmermann gebaute Wieskirche in Steingaden (1745–1754) anmerkten. Neben der aufregenden Dynamisierung sehen manche Forscher – etwa aus der Schule Hans Sedlmayrs – im Rokoko geradezu eine eigenständige Ästhetik am Werk. Der barocke Architekturraum sei nun durch einen (intensiv bunten) Bildraum abgelöst worden. Es ginge also um eine nochmalige Verschiebung innerhalb der Künste von der Architektur zum Bild (der sich im Rahmen der Architektur vollzog), wie es von Wölfflin bereits für den Barock angemerkt wurde. Weitgehend unbestritten scheint die zunehmende Illusionsmalerei im späten Barock zu sein, also der theatralische Gehalt. Der Kirchenraum wird – nach einem terminologischen Vorschlag von Engelbergs – zum »Erlebnisraum«. Darin drückt sich neuerlich in der Geschichte – und wiederum bei einer Lichtarchitektur, denn Rokoko bedeutet Arbeiten mit dem Licht – ein anagogisches Raumverständnis aus. »Das illusionistische Vorspiegeln kostbarer oder in der realen Welt nicht vorhandener Materialien […] muss als Ringen um die adäquate Darstellung des Überirdischen, alle Vorstellungskraft übersteigenden Heiligen gedeutet werden. […] Der schöne Schein der ›Rokokokirche‹ richtet sich doch wohl eher an ein ehrfürchtig staunendes, begeisterungsfähiges und -williges, nicht gegen ein aufklärerisch zweifelndes, kritisches Publikum.« Es gilt, was in der Schutzschrift für die Pracht beym katholischen Gottesdienste zu lesen stand: »Ein prächtiger Tempel, eine schimmernde Illumination, ein majestätisches Ceremoniell, eine eindringliche Musik reißen unsere Aufmerksamkeit mit Gewalt an sich.« Eine solche anagogische »Mechanik« würde nun doch dem philosophisch-ästhetischen Konzept eines Gesamtkunstwerks entsprechen – gegen den in 3.3. referierten Einwand Euler-Rolles. Trotzdem kann man das auch anders lesen. Hatte die dekorative »Sinnentleerung allegorischer und mythologischer Themen« der Rokoko-Malerei, wie sie etwa Winckelmann beeinsprucht hatte, einen anderen Sinn? Marcus Felsner sieht in sei-

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Struktur des Barock

ner spannenden Untersuchung mit überzeugenden Gründen die kulturhistorische Leistung des Rokoko in der »Objektivierung aller Gegenstände durch die Bewusstmachung ihrer Künstlichkeit. […] Dass Madame de Pompadour parfümierte Porzellanblumen den natürlichen vorgezogen habe, wie oft behauptet wurde, ist wahrscheinlich nicht wahr, aber gut erfunden, zeigt die Geschichte doch, dass das frühe 18. Jahrhundert die Kunst des schönen Scheins verstanden – und enttarnt hat.« Dieser erfrischende Blick auf das Rokoko berücksichtigt, dass es mitten in der Aufklärung spielte. Zwar sah die Architektur darin Verspieltes, Naturfernes, Raffiniertes, bis hin zu dekadenter Intimität, aber in der Aushöhlung der weltanschaulichen Basis sind sich beide geistigen Strömungen näher, als ein erster Eindruck vermuten ließe. Das ist auch der Grund, weshalb jetzt das Theater und die Oper zu den »Kulminationspunkten dieser Ästhetik« wurden – und nicht mehr (wie im Barock) die Wirklichkeit. Das Rokoko »revolutionierte die Kunst, weil es den Genuss seiner besonderen ästhetischen Qualitäten jedermann gestattet. Die Schönheit […] ist frei von jeder Belehrungs- oder Bekehrungsabsicht; sie braucht keine Legitimierung durch ein religiöses oder sittliches Motiv; sie dient nicht der Verherrlichung der Macht eines Herrschers.« In diesem Sinne hatte das Rokoko auch einen egalitären Zug. Jeder hatte gleichen Zugang zur Schönheit. So wie das alte Arkadien Vergils ein imaginärer Garten ist, den nie ein Gott erschaffen und der die ersten Bewohner nach ihren Fehltritten von dort verjagt hat. Es ist kein verlorenes Paradies, für dessen Rückgewinnung man ein gottesfürchtiges Leben führen muss. Arkadien ist nicht mit einem dramatischen Ursprungsmythos verbunden, es ist ein »Reservat der Kunst.« Marcus Felsner fasst den nun einsetzenden Bruch ebenso kenntnisreich wie unterhaltsam am berüchtigten Schaukel-Bild Fragonards zusammen. Das Motiv sei von Baron de Saint-Julien, dem Schatzmeister des Königs, zuerst Gabriel-François Doyen angeboten worden. Er hätte die Maitresse des Barons auf einer Schaukel, die von einem Bischof in Schwingung versetzt wird, malen und ihn selbst in der Nähe der Beine der Dame platzieren sollen. Doyen lehnte das Ansinnen entrüstet ab, Fragonard nahm den Auftrag hingegen ohne Zögern an. »Fragonard leistet sich das Sujet wohl auch, um Spott mit dem offiziellen Kanon der Bildsymbole zu treiben. Hatte Le Brun noch vorgeschrieben, dass religiöse Ekstase durch den steil nach oben gerichteten Blick des jeweils Erleuchteten darzustellen sei, reißt bei Fragonard ein seliger junger Mann die Augen im Angesicht einer ganz anderen Erscheinung auf: Der wie ein Schaf grinsende Abbé, der die Schaukel mit dem hübschen Mädchen aus dem Bildhintergrund in Schwingung versetzt, ahnt nicht, dass im Blickfeld des jungen Galans im Vordergrund der Rock des nach vorn schwingenden Mädchens weit auffliegt. Mit wohligem Schrecken bemerkt die junge Frau zugleich, wie in dem heftigen Schwung ihr linker Schuh in elegantem Bogen dem jungen Bewunderer entgegenfliegt.« Das ist die Welt des Rokoko, das zum Unterschied vom Barock die Künstlichkeit als solche erkennbar machte. Insofern ist das Rokoko eine Bewegung nach und mit der Auf-

Felsner 2010, 155

Ebd., 156

Brandt 2005, 16

509 Fragonard, Die ­Schaukel Ausschnitt (1767); WC

Felsner 2010, 154

98

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ebd., 233

Rombach 1986, 22

klärung. »Fragonard postuliert: Ich kann ein hübsches Mädchen auf einer Schaukel malen, das einen Schuh verliert, obwohl das ein durch keinen öffentlichen Kunstkanon sanktioniertes Motiv ist. Das ist Kunst, weil ich es so will. Dies ist die große zivilisatorische Errungenschaft des Rokoko für Europa.« William Hogarth, der selbst nie in Italien war, rief in seinem Buch The Analysis of Beauty (1753), in dem er wie Lomazzo und andere die S-Linie als herausragend für die Aufmerksamkeit gegenüber Leben und Bewegung auszeichnete, dazu auf, mit eigenen Augen sehen zu lernen (to see with our own eyes). Das reich mit Kupferstichen ausgestattete Werk war zudem eine Schule des Sehens und suggerierte die Lernbarkeit des Geschmacks. Das Ende des Barock war letztlich auch das Ende seiner klassizistischen Variante. Es war einmal die Ermüdung des Systemgedankens, sodass man mit Heinrich Rombach sagen kann, dass »die universale, humanitäre und divinatorische Intention des Barock am Systemgedanken selbst zerbrochen ist. Dieser war zu starr, zu fremd, zu tot.« Die zusätzliche Dynamisierung von Spätbarock und Rokoko unterstreicht diese Sicht. Zusätzlich nahm der Einfluss des Empirismus mit seiner enzyklopädischen Wissensvermittlung zu, was Naturalismus und Sensualismus stärkte. Auf religiösem Gebiet gewann die Idee einer natürlichen Religion Oberhand, die den Weg zum Toleranzdenken ebnete. Die Menschen am Ende des 17. Jh.s interessierten sich für die Geschichte aller großen Kulturen und relativierten den Anspruch auf zeitlose Wahrheit. Die Abneigung gegen die sogenannte exakte Wissenschaft griff um sich, wie sich schön an Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1697) ablesen lässt. Dieser Geist ließ auch die Ästhetik nicht unberührt und unterzog den Glauben an ewig gültige ästhetische Normen einer grundlegenden Kritik. Es wurde verbreitete Praxis, Traditionen zu negieren und auf das Neue zu setzen. Mit Jacques Bénigne Bossuets Werk Défense de la tradition et des Saint Pères (um 1693), der darin die Tradition gegen die Kritiker verteidigte, verfügen wir über ein aussagekräftiges Dokument eines Verteidigers des Alten, das zeigt, wie heftig diese Auseinandersetzung geführt wurde.

4.0. Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität Dass eine Ästhetik des Barock schwierig zu fassen ist und durch die heftige Kontroverse zwischen Barock und Klassizismus nicht einfacher wird, wurde bereits angesprochen. Die Entartungsthese ist nur eine – vielleicht vordergründig sich nahelegende – These, um dem Problem beizukommen. Ähnlich wie beim Übergang von der Gotik in die Renaissance wuchs der Barock in der künstlerischen Praxis aus der Renaissance hervor. Eher als auf eine Entartungs- und Verfallsthese könnte man auf eine Theoriebildung achten, die sich aus originären Aspekten der Renaissance ergab. Wie bereits angedeutet, ließe sich der Barock dann als konsequente Fortsetzung des klassischen und antiklassischen Aspekts der Renaissance verstehen. Man könnte



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

in ihm eine zunehmende Souveränität im Umgang mit den Motiven antiker Kunst durch das erstarkende Subjekt sehen, was zugleich einer zunehmenden Befreiung aus der Gebundenheit an ontologische Konzepte entspricht. Das Scheitern von griffigen Definitionen des Barock auch in der Kunstgeschichtsschreibung hat naturgemäß auch seine Gründe in der methodischen Vielfalt, mit der man dem Problem zu begegnen trachtet. Stilanalyse oder Ideengeschichte? Motivforschung oder Blick auf die Bautechnik? Ich habe versucht, dem Problem durch eine breitere Skizzierung dessen, was ich Struktur des Barock nannte, einigermaßen gerecht zu werden. Darin wurden bewusst etliche Sichtweisen zusammengezogen: der Barock als Ausdruck der neuen Rationalität, als Kapitel der dynamischen Seinsbeschreibung, als rhetorische Wende in der Baukunst – zugleich als Rückwendung zur Klassik und zur Renaissance, Stichwort: Re-Renaissance; schließlich als Versammlung der Künste im Gesamtkunstwerk und damit als synästhetisches Medium, »das Botschaften transportiert.« Sinnlichkeit und Rationalität als Verbindung des Empirismus mit dem Rationalismus und schließlich mit der Aufklärung führten uns mit Marcus Felsner im Rokoko bereits in eine erste Moderne der Neuzeit, die den Illusionismus des Mediums durch Übertreibung außer Kraft setzte. Vielleicht kann die Beachtung dieser vielen Anknüpfungspunkte mithelfen, im Barock eine spannende und intellektuell anregende Stilepoche zu sehen, auch wenn er nicht den heutigen Zeitgeschmack trifft. Dazu könnte auch die nun in der Tat reichlich vorhandene zeitgenössische Reflexion in Kunst- und Architekturtraktaten – überwiegend aus der klassizistischen Position – beitragen. Die Wende durch den Buchdruck brachte schon seit dem 16. Jh. eine neue Qualität des Kunst- und Architekturdiskurses. Die Traktate waren theoretisch und normativ. Sie waren um die Vermittlung von Stiloptionen bemüht und boten ganz praktische Darstellungen von modellhaften Baulösungen. Daneben entstanden Kunst- und Architekturreisebeschreibungen, teilweise mit ausführlichen Bildteilen. Dabei kann man zwei mediale Kategorien unterscheiden: »[…] zum einen die materiellen Trägertechniken wie Gemälde, Federzeichnungen, Kupferstiche, Holzmodelle oder der Buchdruck, zum anderen die immateriellen Darstellungsarten (Dispositive) wie Grundrisse, Schnitte, orthogonale Ansichten, perspektivische Darstellungen und dreidimensionale Modellierungen.« Die Druckwerke blieben nicht nur auf Fachleute, Künstler und Architekten, beschränkt, sondern wurden für ein Laienpublikum zugänglich gemacht. Beispiele dafür haben wir bereits in der Renaissance kennen gelernt. Seit Ende des 18. Jh.s kamen in Deutschland auch Architekturzeitschriften dazu. Eine der ersten war das von Gottfried Huth herausgegebene Allgemeine Magazin der Bürgerlichen Baukunst. Im Folgenden soll der breite Diskurs an einigen prominenten Beispielen quer durch Europa nachgezeichnet werden, um dem, was Barock sein mag, ein weiteres Stück näher zu kommen.

Hoppe 2003, 243

Hoppe 2008, 383

VI.6.4.ff.

100

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

4.1. Die ästhetischen Theorien des Barock

Wölfflin 1888, 21

4.2.4.1.

VIII.5.3.2.2.

VIII.5.3.ff.

Guarino Guarini

Kruft 1985, 117

Wie bereits mehrfach betont, waren die Vetreter des Barock zum Unterschied von den Klassizisten mit theoretischen Reflexionen äußerst sparsam. »Den Barock begleitet keine Theorie wie die Renaissance.« Wo es solche Reflexionen gibt, drehen sie sich vorwiegend um zwei Themenkomplexe: Sie loten das geforderte Ausmaß an Klassizität im Sinne des Regelwerks aus und sie beschreiben die Rolle des Künstlersubjekts im Hinblick auf dessen Kreativität. Es war der klassizistische Code von Bellori, 1664 in der Akademie San Luca in Rom verkündet, dessen Normsetzung die Diskussion für das erste beendete. Die Frage nach der Einhaltung der Regel war im Grunde genommen jene nach dem Ausmaß der Naturnachahmung. Mit Blick auf die beiden formalen Figuren, Klassizismus und »geschwungener Barock«, kann man den Unterschied folgendermaßen festmachen: Wurde im Spiel von Kraft und Gegenkraft, in der Ausbalancierung der Dynamik, ein Naturalismus im Klassizismus rational überformt, wurde er im »geschwungenen« Barock emotional übersteigert. Die Debattengrenze könnte man darin festmachen, dass diese emotionale Übersteigerung einem Cartesianismus dann widerspricht, wenn man mit diesem Klarheit der Form (clare et distincte) verbindet. So wurde dies von Hegel verstanden, wenn er das Schöne allein für menschliche Artefakte reserviert, weil nur dort die Natur durch den Begriff auf die Ebene der Vernunft gehoben wurde. Dieselbe Geschichte entspricht jedoch einem Cartesianismus, wenn man das kreative Subjekt (cogito ergo sum) im Auge behält, das mit Hilfe der Vernunft die Regeln bestimmt (oder eben auch bricht) und nicht mehr die Regeln das Subjekt determinieren. Ein Subjekt, das sich von vermeintlich vorgegebenen Regeln absetzt, liegt auf dem Weg zur Ästhetisierung der Kunst, also auf dem Weg zur Moderne. Die analoge Spannung von (moderner) Formulierung des Subjekts und (prämoderner) Formulierung des Systembegriffs wird uns in der philosophischen Konzeption Hegels begegnen. Seine Einordnung als Philosoph der Moderne ist dementsprechend umstritten. Von der Seite des sich befreienden Subjekts her gelesen, liegt darin eine Verschärfung des Geniebegriffs, den bereits Zuccaro und Lomazzo, die Theoretiker des Manierismus, formuliert hatten: Den göttlichen Ideen trat die menschliche Vernunft gleichberechtigt zur Seite. Auf der anderen Seite stand der universalistische und das Subjekt diskriminierende Vernunftbegriff des Rationalismus. Der empirische Anteil wurde sozusagen durch das System überformt. Der Streit zwischen Barock und Klassizismus ist einer um den Spielraum des Subjekts. Dieser Hintergrund scheint mir bei der Rekonstruktion einiger kunstphilosophischer Positionen fruchtbar zu sein. Guarino Guarini, Angehöriger des Theatiner-Ordens in seiner Geburtsstadt Modena, war ein führender, vielleicht der wichtigste italienische Theoretiker des Barock. Von ihm stammt die »einzige italienische Architekturtheorie des 17. Jahrhunderts nach Scamozzi (1615), die wirklich diesen Namen verdient […].« Auch in der Philosophie war er bewandert, denn er war wie sein Bruder Eugenio Lektor für dieses Fach. Bei Studienaufenthalten in Rom lernte er die klassische Ausrichtung an



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

Vitruv und Alberti ebenso kennen wie das Werk Borrominis. In Paris wurde er mit dem – nicht zuletzt im Licht des cartesianischen Rationalismus – freieren Umgang mit der Tradition konfrontiert. Ein Schwerpunkt der Tätigkeit Guarinis als Architekt lag im frankophilen Turin, wo er mit Kuppelkonstruktionen – besonders spektakulär jene der Capella della Santissima Sindone – hervortrat. Möglicherweise bereiste Guarini auch Spanien. Dort könnte er jene islamischen Motive gefunden haben, die in seinen Bauten an verschiedenen Stellen auftauchen. In seinem Traktat Architettura civile (1737) rief er dazu auf, die Regeln der Antike zu korrigieren und neue zu erfinden. Der Bruch mit der Antike war zugleich ein Bruch mit den Harmonie-Regeln, damit mit der Renaissance und mit der Gleichsetzung von Architektur und Musik, insoweit diese als Harmonie interpretiert wurde. Diese Neuerfindungen samt einer mathematischen Rationalisierung mussten als ihren Bezugsrahmen zwar stets den alten Regelkanon haben, veränderten sich aber nach den Schönheitskonventionen der Zeit. Eine Haltung, die in der Betonung der Geometrie ähnlich jener Fréart de Chambrays war. Anders als der an der normativen Kraft der Antike hängende Chambray, relativierte Guarini allerdings die Antike. Trotz der Rolle der Mathematik, die er nicht zuletzt deshalb hoch schätzte, weil sie die Architektur zu einer Wissenschaft machte, wies er dem Urteil des Betrachters einen hohen Stellenwert zu: »Obwohl die Architektur von der Mathematik abhängig ist, ist sie trotzdem eine schmeichelnde Kunst, die keineswegs aus lauter Vernunft die Sinne enttäuschen will.« Das markiert gleichsam seine Programmatik, mit der er die antiken Vorlagen ins Auge fasste. Anders als etwa Vincenzo Scamozzi, der geschwungene Linien für unnatürlich hielt, regte Guarini eine Befreiung von der Autorität Vitruvs an. Wie frei sich der Baumeister bewegte, zeigt eine Kommentierung von Werner Müller zu Guarinis Kombination der Säulenordnung mit den gebogenen Raummänteln von San Lorenzo in Turin: »Vom Standpunkt des Stilrigorismus aus grenzte diese Verwendung des Palladio-Motivs allerdings ans Zerrbildhafte.« Von den sechs vitruvianischen Kategorien wählte er vier aus, die für ihn das Disegno, also den Entwurf, beschreiben: firmitas (Festigkeit), eurythmia (Ornament), simmetria (Proportion) und distribuzione. Im Begriff distribuzione versammelte er sein gesamtes Anliegen und verstand darunter die im Sinne ihrer Funktion richtige Anordnung der Räume. Das Ergebnis sollte sowohl Bequemlichkeit (comodità) als auch Schönheit (venustas) erzeugen. Das Ornament musste, wie es bereits Palladio gefordert hatte, in Übereinstimmung mit der Architektur stehen (eurythmia/guter Rhythmus) und dem Zweck Ausdruck verleihen. Diese Forderung tauchte immer wieder auf, etwa im dreibändigen Lehrbuch der Architektur des der antiken Formensprache verpflichteten Autodidakten Friedrich Weinbrenner. Weinbrenner, der fünf Jahre lang in Rom und Latium die Antike studierte, konnte einen ideal-klassizistischen Straßenzug und etliche Monumentalbauten in Karlsruhe realisieren. Er gründete ein privates Institut, dessen Lehrbücher er selbst verfasste, in denen er eine Verbindung von Kants Ästhetik mit dem Funktionalismus Durands versuchte. Als Lehrer bildete er eine ganze Generation von Architekten aus, darunter den dem Historismus zuneigenden Heinrich Hübsch.

Guarini, zit. nach Grönert Alexander in ATh, 130 VI.8.3.

Müller W. 2002, 84

Grönert Alexander in ATh, 130

Kat. 2015

102

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Bernardo Antonio Vittone

VI.7.1. Filippo Juvarra

Ferdinando Galli Bibiena

Andrea Pozzo

Eine erstaunlich große Sympathie brachte Guarini der Gotik entgegen. Er erklärte sie sogar zu einer eigenständigen Ordnung und legte damit den Grundstein für ein späteres Gotik-Revival. Der Traktat Guarinis blieb zunächst unvollendet und wurde von den Theatinern unter kräftiger Mithilfe von Bernardo A. Vittone erst 1737 in zwei Bänden herausgebracht. Bernardo Antonio Vittone war ein Turiner Architekt, der im Geiste Guarinis baute. Besonders in seiner Raumbehandlung blieb er dem Barock Guarinis verpflichtet. Die Zurückhaltung bei der Ornamentik entsprach dem Klassizismus und seine Traktate atmeten den Geist Vitruvs. Sein Hauptaugenmerk lag auf dem Bau von Kirchen. Er schrieb über die Säulenordnung und stellte spekulativ Zusammenhänge zwischen Zahlenverhältnissen, Menschlichem und Göttlichem her (Istruzioni elementari; 1760; Istruzione diverse; 1766). Auch er sah eine Parallele zwischen Architektur und Musik. Die Oktave entspreche der Göttlichkeit, die Quinte einer Verbindung von Göttlichem und Menschlichem. Als strenger Verfechter des Zentralbaus, der jede Kombination mit dem Langhaus ablehnte, berief er sich auf die von Juan Bautista Villalpando formulierte Geschichte einer unmittelbaren Einflussnahme Gottes auf den Bau des Jerusalemer Tempels. Eine nicht minder wichtige Gestalt war der aus Messina stammende Filippo Juvarra, ein Schüler Carlo Fontanas und ein in Rom bekannter Bühnenbildner. Er wirkte vorwiegend in Turin, am Ende seines Lebens dann in Madrid. Juvarras Raumbehandlung orientierte sich an der Renaissance, aber er belebte seine klassizistische Grundform mit barocken Elementen. Sie erhält dadurch Kraft und Dynamik. Die trägen Mauermassen erscheinen geradezu schwerelos. Zahllose Bauwerke stammen aus seiner Hand. Ausgedehnte Reisen quer durch Europa schlugen sich in eklektizistischen Zügen in seinem Werk nieder. Die drei, Guarini, Vittone und Juvarra, begründeten für einige Zeit die Vorherrschaft des Piemont im italienischen Barock. Juvarra, der von Guarini weniger stark abhängig war als Vittone, ist vor allem wegen dieser führenden Rolle als Architekt des Barock im Piemont zu erwähnen, theoretische Schriften finden sich kaum, obwohl er einige Jahre an der Accademia di San Luca in Rom unterrichtete. Aus dieser Zeit stammt ein Lehrbuchentwurf (Galleria Architectonica), in dem er neben der Säulenlehre etliche andere Fachgebiete (Geometrie, Perspektive und sogar eine Theorie der Schatten) beschrieb. Ferdinando Galli Bibiena aus Bologna war Maler und wie sein Sohn, der bereits erwähnte Giuseppe, Bühnenbildner. In seiner Architettura civile (1711) beschrieb er ausführlich die Gesetze der Perspektive. Die Bühnenbildnerei war ein Genre, das dazu führte, dass wichtige Architekturtraktate von Malern geschrieben wurden. Bibiena bemühte sich um eine vereinfachte Darstellung der komplexen Theorie der Architektur (per le persone medrioce ingegno). Grundlagen bleiben Vitruv und – für die Säulenlehre – Vignola. Andrea Pozzo absolvierte in seiner Geburtsstadt Trient eine Malerlehre, trat in Mailand als Laienbruder in den Jesuitenorden ein, verbrachte dann die meiste Zeit seines Lebens in Rom. Hier entstanden seine Hauptwerke, das Deckenfresko von



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

510 S. Ignazio, Deckengemälde von Andrea Pozzo; Rom

Sant’Ignazio, »the culmination of a tradition of illusionistic painted architectures begun by Mantegna« und der Grabaltar für den Ordensgründer Ignatius von Loyola in der Ordenskirche Il Gesù. 1703 gelang es Leopold I., den inzwischen begehrten Künstlerarchitekten nach Wien zu holen, wo er bis zu seinem Tod 1709 blieb. Er verfasste mit seiner Perspectiva pictorum et architectorum (1693) eine viel beachtete Schrift, deren ersten Teil er Leopold I., den zweiten dessen Sohn Joseph I. widmete. Neben lehrbuchartigen Inhalten und vielen in Kupferstichen dargestellten Entwürfen (Kirchen, Altäre, Theaterkulissen, Säulendetails, Kuppeln) beschrieb Pozzo die Perspektive im streng klassischen und wissenschaftlichen Sinn und beharrte gegenüber anderen Meinungen, etwa jener Annibale Carraccis, auf einem einzigen Fluchtpunkt. Es ging dabei nicht nur um eine Pluralisierung von Sehpunkten, es ging auch um Besucherführung. Der auf Schrägsicht berechnete Punkt leitet die Betrachterin dorthin, wo sie den natürlichen Betrachtungspunkt einnimmt. Diese scheinbar technische Aufgabe hatte eine erhebliche mediale Funktion. Es war ein bewusstes Spiel mit Regel und Regelverletzung und eine Bemühung um rhetorische Wirkung. »Die Perspektive, wesentliche Grundlage illusionistischer Wirkung, hatte im Kontext der barocken Wirkungsästhetik einen eminent rhetorischen Charakter.« Die rhetorische Regel der persuasio (Überredung), nach der – auch inhaltlich – die Bilder programmiert wurden, folgte dem klassischen Dreiklang von docere (belehren), delectare (erfreuen) und movere (innerlich bewegen). Pozzo, für den die »Täuschung des Augensinns« erklärte Absicht war, arbeitete auch als Bühnenbildner. In Sant’Ignazio ist der Standpunkt, von dem aus sich die Illusion der Deckenmalerei optimal erschließt, sogar markiert. »Der Standpunkt des Betrachters wurde zu einem Ort der Erkenntnis. Von diesem Punkt aus gesehen koinzidiert in S. Ignazio der Fluchtpunkt der illusionistischen Architektur mit dem ikonographischen Zent-

Kubovy 1986

4.2.2.

Büttner 2008, 359

Belting 2008, 213

104

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Grönert Alexander in ATh, 140 3.3./3.6.

VI.4.2.1.

Kruft 1985, 202

Büttner 2008, 357f

rum der allegorischen Darstellung, und gleichzeitig verschmilzt der reale Raum der Kirche mit dem überirdischen Raum des Deckenbildes zu einer Einheit.« Alexander Grönert unterstützt mit der Herausarbeitung des Aspekts eines anagogisch-ästhetischen Raums eher die Theorie eines barocken Gesamtkunstwerks. Neben dem Fluchtpunkt verhalf auch die Illusion eines natürlichen Lichteinfalls von oben zur Einheitlichkeit der dargestellten Szenerie. Dazu gilt es nicht zu übersehen, dass Pozzo mit seiner Strenge durchaus der klassizistischen Linie des Barock verbunden blieb, auch wenn er sich von den bizarren Entwürfen Francesco Borrominis angesprochen fühlte. Aber es war nichts anderes zu erwarten als eine Zustimmung zur klassizistischen Linie, denn der imaginäre Fluchtpunkt ist zugleich jener Punkt, der symbolisch für Gott steht – wie das seinerzeit bereits Nikolaus von Kues angedacht hatte. Die »Erkenntnis« des Betrachters vollendet sich sozusagen in einer gelungenen Einswerdung mit Gott selbst. Dieser Zauber wäre mit mehreren Fluchtpunkten zwangsläufig zerbrochen. Der Traktat Pozzos fand große Verbreitung und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, 1737 sogar ins Chinesische. Er regte weitere theorieinteressierte Architekten zu Architekturbüchern an, wo bisweilen die Darstellungen wichtiger waren als die Ausführungen. Ein herausragendes Beispiel ist Der Fürstliche Baumeister von Paulus Decker, »eines der aufwendigsten Stichwerke, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts veröffentlicht wurden.« Der nach dem Tod Deckers 1713 erschienene zweite Teil erreichte durch ausklappbare Tafeln eine Breite von zwei Metern. Ebenso im Geiste Pozzos stand der vermutlich aus Nürnberg stammende Barockbaumeister Johann Jacob Schübler, der die Bedeutung der Perspektive verabsolutierte. Seine zweibändige Perspectiva, pes picturae (1719/20) ist eine Sammlung von perspektivisch perfekten Architekturdarstellungen. Wie groß die Bedeutung von Pozzos Traktat für die Entwicklung der Deckenmalerei tatsächlich war, ist umstritten. Einerseits wurde die Illusionsmalerei im Deckenbild in Kirche und Festsaal – im erwähnten Sinn zu einer Einheit verschmolzen – mit Pozzo zu einem Höhepunkt geführt. Das Deckengemälde eroberte ganz Europa. Neue Armierungstechniken (Holzgewölbetechnik am Beginn des 18. Jh.s) ließen weite Ziegelgewölbe zu und schufen die Möglichkeit immer größerer Bildflächen mit einem Höhepunkt bei der 600 m2 großen Gewölbe-Malfläche in Balthasar Neumanns Würzburger Residenz. Allerdings bleibt im Hinblick auf die oben erwähnte Gesamtkunstwerk-Theorie die Frage offen, wie weit sich die hier vorliegende anagogische Funktion noch mit jener des Neuplatonismus in Byzanz vergleichen lässt. Zwar war die Apotheose im Anblick des geöffneten Himmelfensters (finestra aperta), das eine Schau in das reine göttliche Licht ermöglicht, ein zentrales Sakralthema des Barock. Aber ging es hier um Anagogie oder nicht eher um bloße Rhetorik? Verträgt sich dieser massive Einsatz einer anregenden Illusion in der Malerei mit echter Erhebung der Seele, die doch eine emotionslose Ruhe voraussetzt? Zwar ist die Anregung Pozzos für die Verbreitung der Deckengemälde kaum zu bestreiten, ganz gegen seine Absicht könnte man diese Kunstform jedoch eher als rhetorische Vereinigung von Kunstgenres sehen und weniger als Gesamtkunstwerk im



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

strengen Sinn. In dem barocken Welttheater unterlag der Künstler keinem Nachahmungszwang mehr, sondern er schuf kreativ »wie die Natur«. Diese Frage führte bei der Überlegung zur spätbarocken Übersteigerung bereits zur These, dass damit eine verbindliche Stilform überschritten worden sei. Auch der Grazer Johann Bernhard Fischer von Erlach, der in Rom bei Carlo Fontana gelernt hatte und mit Gianlorenzo Bernini, Athanasius Kircher und Pietro Bellori Kontakte unterhielt, schrieb einen Entwurf einer Historischen Architektur in Abbildung unterschiedener berühmter Gebäude des Altertums und fremder Völker (1721). Dies war kein architekturtheoretischer Traktat, sondern eine erste (mit Stichen bebilderte) vergleichende Weltgeschichte der Architektur vom Tempel Salomos und den antiken Weltwundern über den arabischen Raum, Persien, Japan, China bis zum Vertrauten in Griechenland und Rom. Es galt weniger den Fachleuten, sondern sollte das »Auge der Liebhaber ergötzen«. Dabei leistete der Autor, dem Hanno-Walter Kruft ein »erstaunliches historisches Einfühlungsvermögen« attestiert – wie im Barock nicht unüblich – auch fiktive Rekonstruktionen und Ergänzungen. Das Mittelalter und seltsamerweise auch die Renaissance und der Barock (Ausnahme: Isola Bella der Grafen Borromeo im Lago Maggiore mit dem frühbarocken Palast und der terrassenförmigen Gartenanlage), blieben ausgespart. Seine eigenen Entwürfe fügte er an und reihte sie so in die von ihm beschriebene Geschichte ein. Das Verdienst des in mehrere Sprachen übersetzten Buches war der Blick über die europäische Tradition hinaus, ein zur damaligen Zeit ziemlich einmaliges Unterfangen, auch wenn es ihm um das vermeintlich Gemeinsame und gerade nicht um die Unterschiede ging.

X.2.6.3.

3.6. Johann Bernhard Fischer von Erlach

Kruft 1985, 206 511 Isola Bella im Lago Maggiore (17. Jh.)

4.2. Barock und Klassizismus Der Barock war (wenn man vom Jugendstil absieht) der letzte große flächendeckende Stil der Kunstgeschichte. Der Klassizismus, der ihm folgte, war nicht mehr bloße Antikenrezeption der Renaissance. Ging es dort darum, aus antiken Vorlagen ein (neues) Ganzes zu machen, hing der Klassizismus nostalgisch an einem strengen Nachbau der alten Vorlagen, die dann eklektizistisch pluralisiert wurden. Man kann so weit gehen, den Klassizismus de facto als eine romantische Bewegung zu taxieren. Um die komplexe Rezeptionsgeschichte des Klassischen in den Griff zu bekommen, unterscheide ich eine an der Renaissance orientierte Klassik und einen romantischen Klassizismus. Ich blicke dabei auf die Literaturwissenschaft, in der die Begriffe Klassik und Klassizismus am intensivsten gebraucht wurden. Dort bevorzugt man seit geraumer Zeit den Begriff Klassizismus statt Klassik, um der unglücklichen Weimarer Antikenrezeption auszukommen. Mit dieser Begriffsverschiebung ist bereits die Konnotation einer nicht mehr authentisch verstandenen (wie in der Renaissance), sondern romantisch verklärten Wiedergeburt der antiken Welt getroffen und sind die scheinbar widersprüchlichen Begriffe aufeinander bezogen. Man kann im Klassizismus in der Tat ein ideologisches Epochenkonstrukt und eine bewusste Stilpolitik sehen.

512 Santa Maria della Grazia (1590); Lecce

Beyer 2006a, 10

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Oechslin 2000, 115

Werner Oechslin hat genau an diesem Punkt einen blinden Fleck in der Barockrezeption ausgemacht, wo sie nämlich den Unterschied zwischen einer »positiven Empfehlung, sich an der antiken Architektur zu orientieren«, und einer »schulmeisterlich angelegten Liste architektonischer Verfehlungen durch Milizia […]« übersieht.

4.2.1. Die Nachahmung der Natur

VI.4.1.2.

Seiler 2012

Aristoteles, Physik II, 2, 194a III.2.4.3.2.5.

Genieästhetik III.2.4.3.2.3.

VI.4.2.1.

VIII.3.2.1.f. Begriff der Natur

Ein Schlüsselthema in der Frage Barock-Klassizismus ist, wie bereits unterstrichen, jenes der Naturnachahmung. Es war in der für die Neuzeit aktuellen Brisanz in der Renaissance aufgetaucht und schrieb sich jetzt fort. In der Renaissance ließ sich das Thema an den aus der Befreiung der vermeintlich dunklen Zeit des Mittelalters gefeierten Triumph der Kultur über die Natur knüpfen, symbolisch ausgedrückt in der Bergwanderung Petrarcas. Bereits dort begann man sich von der Naturnachahmung zu lösen und das Künstlergenie von dieser Einschränkung freizuspielen durch die Nachahmung antiker Werke (imitatio auctorum). Diese spielte jetzt eine zentrale Rolle, aber weniger als Terrain der Freiheit, sondern als ein streng reguliertes Spielfeld. Den Weg dahin bereitete unter anderem Cennino Cennini in seinem Libro dell’arte. Für dieses zentrale Thema der Kunstphilosophie stehen zeichenhaft Zeuxis und Parrhasios am Beginn einer großen Debatte, aber eben auch die Kurzformel des Aristoteles, Kunst sei Nachahmung der Natur. Der entscheidende Meilenstein in der Frage der Naturnachahmung war aber nicht Aristoteles, sondern Platon mit seinem »demiurgischen Projekt«. In dem Moment, in dem nach dem Mittelalter wieder das Subjekt eine Rolle zu spielen begann, wurde es in die Rolle eines Demiurgen gedrängt. Aus dem »Muster« Platons wurde in der Renaissance die »Idee« und in der Neuzeit die »Regel«. Deren Legitimität wurde sukzessive ausgehöhlt und konnte nur mehr mühsam verteidigt werden. Dagegen etablierte sich die Emanzipation des Subjekts in Form einer gegenüber Platon veränderten Genieästhetik. Nicht mehr Entmächtigung, sondern Ermächtigung des Genies! Dazu passt die Metapher vom Laien bei Cusanus, der sich selbstbewusst seine Fertigkeit ohne Naturvorbild aneignet. Parmigianinos Selbstportrait im Zerrspiegel ist die Botschaft eines Subjekts, das im Blick auf sich selbst die Natur verzerrt. Diese Ambivalenz war der Stoff für die Querelle zwischen Barock (dann gar Rokoko) und Klassizismus. Geistesgeschichtlich wenig überraschend siegte schließlich die Aufklärung, was zum Ende des Klassizismus mit seiner Regelästhetik und zur Ablösung jeder Ontologie in der Rezeptionsästhetik führte. Das Thema fügt sich als ein Stück Legitimationsdiskurs der Neuzeit gut an dieser Stelle ein. Dazu kommt, dass neben dem Subjekt auch der Begriff der Natur in dieser Debatte instabil und mehrdeutig ist, was diese Diskussion unübersichtlich macht. Denn sowohl die Regelästhetik als auch die Kritik daran berief sich auf die Natur. Denn der Naturbegriff changierte zwischen einer empirischen Auffassung des Tatsächlich-Realen, was Aristoteles nahe kam, und einer platonischen Deutung einer Identifikation der Natur mit der Vernunft nach den rationalistischen Grundlagen des



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

Klassizismus. Für den Klassizismus bedeutete der Ruf »Zurück zum Naturvorbild (der Antike)« in Wahrheit die Abkehr vom freien Barock und die Rückkehr zu einer Regelästhetik auf der idealisierten Basis einer von der Vernunft konstruierten Natur, wobei im 18. Jh. »die doctrine classique Natur mit Vernunft gleichsetzte und sie überdies noch mit dem bon sens identifizierte.«. Das ist die konsequente Fortschreibung des Naturbegriffs bei Platon im Sinne des Demiurgenmythos. Auf diese Weise war Natur für eine rationalistische Kunstphilosophie und eine idealistische Genieästhetik encodierbar. Nachahmung der Natur bei Aristoteles bedeutete den Nachvollzug eines produktiven Vorgangs (poiesis). Das aber ist kaum aufregend, weil für Aristoteles – mit den Worten Hans Blumenbergs – alle generativen Prozesse der Natur »durch einen unverrückbaren eidetischen Bestand reguliert sind.« Damit ist auch der häufige Verweis auf die Antike in der Nachahmungsdiskussion nur bedingt hilfreich, denn man muss stets auf den Unterschied zwischen Naturnachahmung und Antikennachahmung achten. Bernard le Bovier de Fontenelle, Schriftsteller und Aufklärer aus Rouen, der unerschrocken Vorträge über das Kopernikanische Weltbild hielt und die Existenz außerirdischer intelligenter Wesen annahm, stellte sich in der Querelle auf die Seite der Modernen. Sein Naturbegriff war empirisch und stand der realen antiken Kunstpraxis näher als den im Geist des Klassizismus erfolgten Idealisierungen der Antike. »Da für Fontenelle die Natur das Primitive ist, verliert die Gleichsetzung von Natur und Antike ihren ästhetischen Sinn.« Dass die Barockkünstler ihr Tun so wenig theoretisch reflektierten, mag auch mit dem reduzierten philosophischen Überbau ihrer Naturauffassung zu tun haben. Die spärlichen Hinweise – etwa die Aussage von Bernini, der Mensch erscheine ihm am echtesten in der Bewegung oder die Bedeutung der Farbigkeit, auf die Rubens und die Rubenisten abhoben – deuten darauf hin, dass man sich auf eine empirisch gewonnene, realistische Natur bezog. Der ständige Bezug zur Naturnachahmung klingt eher nach einer Schutzmetapher des sich Autonomie erobernden Menschen. Sie hatte den Vorteil, die genaue Struktur dieser Nachahmung sowie das Verständnis der Natur nicht gleich offenbaren zu müssen. »Das schöpferische Selbstbewußtsein, das an der Grenze von Mittelalter und Neuzeit aufbrach, fand sich ontologisch unartikulierbar: […].« Gerade deswegen könnte man vermuten, dass der aufkeimende Geniekult einzuhegen versucht wurde, indem man zwar die Nachahmung der Natur als Nachahmung der Idee von der Natur auf das Subjekt verschob, aber gleichzeitig eine ontologische Artikulation behielt. Nicht das freie Genie vom Schlage Borrominis, das sich über die Regel hinwegsetzte, war damit gemeint, sondern jenes, das in demiurgischer Weise die schlechte Natur nach dem Ideal verbesserte. Nicolas Boileau-Despréaux schätzte die antiken Künstler, weil ihre Regel in der Natur begründet war. Wo die Natur das Vorbild für die Regel abgab, steckte immer noch ein großes Stück Platonismus (jetzt: Rationalismus) in der Theorie. Boileau-Despréaux hatte die Imitation »nicht als Reproduktion, sondern als Inspiration verstanden, als Funke, der über das Sublime des Modells auf den beeindruckten Imitator überspringt und diesen seinerseits zum Sublimen befähigt. […] Demzufolge erschließt sich der Zugang zum Erhabenen nicht über die rohe Natur, sondern über

Dieckmann 1964, 31

Blumenberg 1957, 72 III.2.4.3.3.2 Naturnachahmung und Antiken­ nachahmung

Dieckmann 1964, 38

Blumenberg 1957, 62

4.2.4.1.

108

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Scholl Dorothee in ÄKPh, 128

Blumenberg 1957, 93

Kant 1790, A173 Ebd., A181 6.3.ff.

VIII.6.1.1.f.

4.2.2.

die im Kunstwerk ästhetisch sublimierte Natur […] Nicht Originalität und freie Erfindungsgabe, sondern Disziplin und Kontrolle sind daher die Bedingungen für die Annäherung der Kunst an die Natur und das ästhetische Gelingen eines Werkes.« Das Zitat bezieht sich auf Boileaus Übersetzung des Traktats von Pseudo-Longinus über das Erhabene. Mit Hilfe des Erhabenen konnte Boileau eine allzu platte Imitationslehre scheinbar anspruchsvoll überwinden. Die Vorboten der Moderne unterminierten demnach die jahrhundertelange Identität von Sein und Natur. Was verschiedentlich argwöhnisch als Nihilismus verdächtigt wurde, führte im Weiteren zur zukunftsorientierten Zuversicht, dass diese Welt nicht die einzig mögliche ist. Kunst bezog sich dann nicht mehr auf ein anderes exemplarisches Sein, sondern stand plötzlich für sich selbst. Sie war selbst »dieses für die Möglichkeiten des Menschen exemplarische Sein: das Kunstwerk will nicht mehr nur etwas bedeuten, sondern es will etwas sein.« Immanuel Kant überhöhte die Nachahmung auf die Zeugung von Kunst durch die Kunst. Die Natur ist produktive Urinstanz der Kunst, aber nicht als Nachahmung, sondern Hervorbringung aus Freiheit. Genie ist »dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen.« Letztlich gab es im Kontext des Rationalismus keinen Ausbruch aus dem metaphysischen Rahmen. Vernunft blieb in diesem Paradigma stets mit einer alten göttlichen Konnotation verschränkt. Erst der Empirismus und die Aufklärung lösten das Subjekt aus solchen ontologischen Verbindlichkeiten. Im 19. Jh. wurde die Natur dem technischen Zugriff endgültig untergeordnet, entnaturalisiert, zum Experimentierfeld des Menschen. Philosophisch könnte man pointiert bei Karl Marx in diesem Zusammenhang den endgültigen Abschluss der Naturnachahmungs-Debatte sehen. Im 20. Jh. schwenkten die Kunstströmungen von der Naturnachahmung auf die Nachahmung der technisch und industriell umgeformten Natur. Der Mensch ahmt sich gleichsam nun selbst nach. Im Kontext der Naturauffassung, die sich aus dem Rationalismus befreite, kann man so weit gehen wie Filippo Buonanni. Der in Rom geborene Naturforscher, Zeichner und Verwalter des Kuriositätenkabinetts von Athanasius Kircher schrieb eine Ricreatione dell’occhio e della mente nell’Osservation delle Chioccole. Diese erste Systematik der Muscheln und Seeschnecken, die bis Linné die Naturforscher beeindruckte, hatte neben ihrem wissenschaftlichen Wert noch eine andere Pointe. Es geht um die bei den antiken Politikern und Philosophen vorgespurte Erholung von der Kultur beim Wandern in der Natur, besonders beim Flanieren und Schneckengehäuse-Sammeln am Strand. Buonanni hatte kein Sistieren der Kultur im Sinn, sondern im Gegenteil ihre Bereicherung durch Einbezug der Seite der Muße in der Natur. Im 18. Jh. wurden diese Positionen nun lebhaft debattiert. Sie waren der Inhalt der Querelle des Anciens et des Modernes. Der aus Paris stammende Schriftsteller Antoine Houdar de La Motte polemisierte gegen den Antikenkult und forderte vom Dichter Erfindung und Neuschaffung. Die inventio habe an die Stelle der imitatio naturae zu treten. Die Diskussion rankte sich nicht zuletzt um die Porträtmalerei, die als besonderer Anwendungsfall der Naturnachahmung anzusehen ist. Es gab erhebliche Zweifel, ob aus der Darstellung des Äußeren auch das innere Wesen eines



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

Menschen erfasst werden könne. Der Philosoph Johann August Eberhard zählte aus diesem Grund die Porträtmalerei nicht zu den schönen Künsten. Dieses Verdikt blieb akademisch, denn die Porträtmalerei sicherte wegen ihrer Beliebtheit den einschlägigen Künstlern ein gutes Einkommen. Einen nochmals neuen Aspekt brachte die Gefühlsästhetik des 18. Jh.s in die Diskussion. Jean-Baptiste Du Bos versuchte eine Vermittlung zwischen einer rezeptionsästhetischen Priorität des Gefühls und der Nachahmung. Zwar könne man sich im Theater oder bei der Rezeption einer Malerei an eine scheinbare Illusion verlieren (Gefühl), eine nüchterne Betrachtung weiß aber, dass es sich um eine Illusion der Wirklichkeit handelt (Nachahmung). Das ist der Grund, weshalb uns Kunstwerke als Kunstwerke gefallen, obwohl wir wissen, dass sie nicht Abbilder der Wirklichkeit sind.

5.2.1.

4.2.2. Die Querelle des Anciens et des Modernes Die Querelle des Anciens et des Modernes war ursprünglich und primär ein Streit um die Literatur, der in zahlreichen Schriften und Gegenschriften lebhaft ausgetragen wurde. Der Disput hatte freilich eine geistesgeschichtliche Dimension und begleitete die Periode des Barock. Es handelte sich um ein Ringen zwischen dem Alten und dem Neuen. Neu war ein solches Ringen um Nachahmung versus Übertreffen der Naturvorbilder nicht. Es reichte zurück bis in die Antike (etwa die Konfrontation in Athen zwischen den Sophisten und Platon) und erlebte immer wieder Neuauflagen. Daher wurde der Streit selbst zu einem Klassiker. Es ging um eine Konkurrenz von Weltbildern. Aufgeklärte Moderne, für die der Mensch das Maß aller Dinge ist, stand gegen die konservative Konvention, die alles menschliche Tun nur als Kopie einer göttlichen Ordnung zuließ. Für die Neuzeit gilt Bernard de Fontenelle als Motivgeber und Charles Perrault mit seinem Werk Parallèle des Anciens et des Modernes (1688–1697) als einer der wichtigsten Protokollanten des Streits. Die umstrittene Frage drehte sich zunächst um die Gültigkeit der antiken Vorlagen für die zeitgenössische Literatur. Der Streit umfasste die gesamte Intellektuellenszene. Er lässt sich jedoch griffig und plakativ an einzelnen Figuren festmachen. Eine solche Konstellation war der Streit zwischen Charles Perrault und Nicolas Boileau. Charles Perrault, der jüngere Bruder von Claude Perrault, war eigentlich Jurist und Schriftsteller, aber durch seine Tätigkeit in der Bauverwaltung hatte er gute Kenntnisse der Diskussion in der Architektur. Perrault trug 1687 in der Académie français sein das Zeitalter Ludwigs XIV. verherrlichendes Gedicht (Le Siècle de Louis le Grand) vor, in dem er die Vorbildfunktion der Antike, auch mit Verweis auf die Errungenschaften der modernen Wissenschaften, in Frage stellte. Nach Perrault sollte die doctrine classique eine französische und keine antike sein. Ludwig XIV. sei sein eigener Augustus! Neben die Regel müsse das Genie treten. Einer der schärfsten Kritiker gegen diese Unterminierung des Alten war Nicolas Boileau-Despréaux. Der Streit zwischen den unversöhnlichen Positionen endete vordergründig in einer öffentlich inszenierten Umarmung der beiden am 30. August

III.2.4.3.ff.

4.2.4.3.1. 4.2.4.1.

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

1.5.5. Caravaggio

1694 in der Akademie, doch der Streit hatte sich längst in allen möglichen Bereichen des Geisteslebens verselbständigt. Neben die nationale Frage trat verschiedentlich auch die Forderung nach einer echten christlichen Kunst und Literatur, die aus der heidnischen Antike nicht zu gewinnen sei. Wenn bei dem Streit von den Modernes die Rede ist, muss das cum grano salis genommen werden. Manchmal wurden den Alten Fehler vorgeworfen, die es nun, aus aufgeklärter Position, zu korrigieren gelte. So gesehen gerierten sich die »Modernen« als die »besseren« Alten. Antoine Houdar de La Motte (der angeblich kein Griechisch konnte) beseitigte in einer Übersetzung von Homers Ilias die dort gemachten »Fehler«. Mit Perrault und Boileau-Despréaux stehen wir in der uns interessierenden Abteilung bildende Kunst und Architektur. Die Exerzierfelder der Scharmützel waren die Frage von Regel und Regelverletzung, die Vision einer »Re-Renaissance« (Hubala) und die Konfrontation von Naturnachahmung versus Genie. Der Ruf nach der (neuerlichen) Rückkehr zum Vorbild der Natur richtete sich gegen die (genialischen) Extravaganzen eines Borromini, Pietro da Cortona oder Carlo Rainaldi. Dabei war aber, wie oben angedeutet, keineswegs ausgemacht, wie der Naturbegriff zu interpretieren sei: empirisch, rationalistisch oder nach einem idealisierten vorgegebenen Regelwerk. Der römische Maler Andrea Sacchi sagte sich von seinem Lehrer Pietro da Cortona los und verfocht einen klassischen Stil, der von Einfachheit und Klarheit geprägt sein sollte. Cortona hielt unbeirrt dagegen, dass eine komplexe Malerei höherwertig sei und viele Details berücksichtigen könne. Mit anderen Worten: dass nur in dieser Freiheit die echte Nachahmung der Natur gelinge! Bekanntere Schriften dafür waren der Il Riposo (1584) des Florentiners Raffaelo Borghini und der 1604 gedruckte Het Schilderboeck eines der führenden Kunstgeschichtsschreiber der Jahrhundertwende aus Flandern, Karel van Mander. Obwohl van Mander in der antik-römischen Kunst die Norm schlechthin erblickte, stellte er erstmals die niederländischen Meister mit ihrem Empirismus als Gegenentwurf zur antiken Norm vor. Dazu bewertete der Flame die Farbe als einen wichtigen Ausgleich gegenüber einer einseitigen Konzentration auf das disegno. Die Venezianer Paolo Pino (Dialogo di pittura), Lodovico Dolce (Dialogo della pittura intitolato l’Aretino), der aus Verona stammende Maler, Kartograph und Architekt Cristoforo Sorte sowie der in der Nähe von Vicenza geborene Maler und Künstlerbiograph Carlo Ridolfi verteidigten ihren (venezianischen) Kolorismus (colorire) gegenüber dem toskanischen disegno. Weitere konkrete Positionen, an denen man diesen Streit festmachen kann, waren die stets zitierten Reibebäume. Auf der einen Seite stand der ungeschminkte Realismus, wie ihn Michelangelo Merisi, nach seinem Geburtsort Caravaggio genannt, sowie in den Niederlanden der schon erwähnte Peter Paul Rubens und Rembrandt vertraten. Auf der anderen Seite positionierten sich die Brüder Carracci und Nicolas Poussin. Der in Polizeiberichten und Gerichtsakten einschlägig bekannte Caravaggio revolutionierte die Malerei. Die Karmelitermönche in Rom waren konsterniert, als sie das bei ihm für Santa Maria della Scala in Trastevere bestellte Bild Der Tod Marias



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

zum ersten Mal sahen. Sie wiesen es brüsk zurück, weil es zu wenig Würde und Schönheit (con poco decoro) im Sinne der Klassik aufwies. Das war nicht der erste Ärger, den der unkonventionelle Caravaggio mit seinen klerikalen Auftraggebern hatte. Es fehle ihm an disegno, scienzia und invenzione, kritisierten seine Zeitgenossen. Ausgebildet in Mailand, ging Caravaggio um 1592 nach Rom – vielleicht über Venedig, dessen Kunstszene ihm gut bekannt war. Wahrscheinlich ist ein Aufenthalt in Bologna, wo er auf Agostino und Annibale Carracci traf, die zunächst an der Klassik orientierten, später selbst barock malenden Rivalen. 1595 wurde er vom kunstsinnigen Kardinal Francesco Maria Del Monte in dessen Palazzo Madama aufgenommen, was ihn unabhängig machte und ihm ein hohes Ansehen verlieh. Dies schlug sich in zahlreichen Aufträgen für Privatleute und die Kirche nieder. 1606 geriet er – nicht zum ersten Mal – in eine Schlägerei, bei der er dem Sohn des Kommandanten des Staatsgefängnisses tödliche Verletzungen zufügte. Caravaggio floh aus der Stadt nach Neapel, Malta und Sizilien. Er starb als noch nicht Vierzigjähriger unter nicht geklärten Umständen. Trotz des kurzen Lebens hinterließ er ein großes Werk und hatte eine erhebliche Nachwirkung. Es war ein künstlerisches und kein theoretisch reflektiertes Werk, wie es für die barocken Künstler typisch ist. Caravaggio malte realistisch, mit kräftiger Farb- und Hell-Dunkel-Wirkung (chiaroscuro), was die Dramatik und Emotionalität extrem steigerte. Er scheute dabei nicht vor falscher Lichtführung zurück, stellte vor eine solche etwa den Betrug einer Wahrsagerin, die einem jungen Mann während ihrer Weissagung den Ring klaut (Die Wahrsagerin; 1594). Auch die Darstellung des Hässlichen gehörte zum Repertoire Caravaggios. Er widmete sich dem neuen Genre von Alltagsszenen und Stillleben. Das Sujet wurmstichiger Äpfel und faulender Tauben war eine revolutionäre Neuerung und musste – gemessen an den klassischen Vorstellungen – geradezu als Hohn aufgefasst werden. »Kaum etwas an Caravaggios Werken entspricht dem, was seine Zeitgenossen zu sehen gewohnt waren.« Im künstlerischen Geiste Caravaggios konnte eine selbstbewusste Frau die Phalanx der Männer in der Kunstszene aufmischen. Die Tochter des bedeutenden Barockmalers Orazio Gentileschi, Artemisia Gentileschi, malte gerne in kräftigem Chiaroscuro starke Frauengestalten. Wie schmal der Grat des Geduldeten war, zeigte sich bei Annibale Carracci aus Bologna. Über das wahrscheinliche Zusammentreffen mit Caravaggio wurde gerade berichtet. Annibales gemeinsam mit seinem Bruder Agostino ausgeführte üppige Freskierung des Stadtpalastes der Dynastie Farnese unter Kardinal Odoardo Farnese in Rom – die Götterliebschaften sind Ausdruck einer überschäumenden Sinnlichkeit – bietet mehrere Flucht- und Betrachterstandpunkte. Dies sei nötig, um vielen Betrachtern von verschiedenen Standorten aus einen ruhigen Anblick zu ermöglichen und eine ganzheitliche Wirkung zu erzielen – so seine ganz ins Barocke passende Erläuterung. Über den Protest dagegen von Andrea Pozzo, der an einer klaren Auto­ rität festhielt und in streng klassizistischem Geist auf einem einzigen Fluchtpunkt beharrte, wurde bereits berichtet. Allerdings war Annibale Carracci keineswegs ein

513 Caravaggio, Judith und Holofernes (1599); GNAA

Rosen 2009, 1

Annibale Carracci

4.1.

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Borngässer Barbara in Toman 2002, 206

Nicolas Poussin

514 Poussin, Die arkadischen Hirten (1640); LP

Rebell gegen die klassische Sicht. Im Gegenteil: Die gemeinsame Werkstatt mit seinem Bruder Agostino und seinem Cousin Ludovico in Bologna ging zunächst von den klassischen Vorgaben aus. Aber sie wandelte sich bald zu einem Zentrum progressiver Malerei. Für Annibale galt, dass die Künstler mit ihren Händen zu sprechen hätten und nicht mit hochtrabenden kunsttheoretischen Erörterungen. Aus der Werkstatt wurde eine Akademie, die sich blumige Namen gab, zuerst um 1580 Accademia dei Desiderosi (der ungeduldig Strebenden), später Accademia degli Incamminati (des In-Gang-Bringens). Sie war eine der ersten Kunstakademien in Italien und Kunsthistorikerinnen sehen deshalb in Bologna die Ursprünge der Barockmalerei. Die Carracci orientierten sich an den Vorbildern Raffael und Michelangelo. Mit Letztgenanntem verbanden sie die Naturnachahmung mit der Bewegtheit. Eine Figur Raffaels hingegen erschien ihnen wie ein Stück Holz, hart und schneidend (una cosa di legno, tanto dura e tagliente). Sie wurden trotz ihrer barocken Tendenzen immer der Klassik zugerechnet. Gestaltete Caravaggio einen dramatischen Naturalismus, begründeten die Carracci die Tradition der klassischen Barockmalerei. Das klassische antike Ideal mitsamt der platonisierenden Ästhetik konvergierte mit dem zeitgenössischen Rationalismus. In den Schriften der Künstler werden beide Aspekte des Rationalismus sichtbar: Einerseits das strenge Methodenideal und der Wissenschaftsanspruch, was ganz auf der Linie der Akademie lag, andererseits die Reflexionspotenz des Subjekts, das zwar noch göttlich legitimiert war, aber doch bereits den neuzeitlichen Keim der Säkularisierung in sich trug und in die neue Zeit wies. In der Akademie prallten die Streitthemen aufeinander zwischen dem typisch Barocken und der klassischen Gegenströmung. Soll Kunst vor allem erfreuen und genussvolle Farbigkeit und Affekte bieten oder ist Kunst an den denkenden Vollzug gerichtet? Welche Nachahmung ist die richtige? Das ist letztlich eine Neubuchstabierung der Paarung disegno und colorire. Disegno stand für die Tugenden der Akademie, für die alte musikalische Moduslehre, die in die bildende Kunst und Architektur übertragen worden war und für die geordnete Mitte zwischen Nachahmung und künstlerischer Expression zu sorgen hatte. Farbe hingegen war das Signal der Sinnlichkeit und Emotion, des vom strengen Entwurf sich Befreienden. Genau das schätzten die »Rubenisten«, weil nur die Farbe der Natur entsprach. Nicolas Poussin, neben Claude Lorrain einer der bedeutendsten Maler Frankreichs, kam 1624 nach Rom (wo er bis zu seinem Tod blieb), um dort, in der Stadt des barocken Pomps, die Meisterwerke der Klassik zu studieren. Er wurde ein führender Vertreter der Akademieästhetik. Poussin unterstützte Francisco Junius und bot Peter Paul Rubens, dem großen Widerpart der Akademie, Paroli. Dies nicht nur als Künstler, sondern – wie die Klassizisten dies zumeist machten – auch in seinem Traktat Beobachtungen zur Malerei. Die beiden Protagonisten wurden geradezu zu Symbolfiguren des Streits, der nun mit neuen Bezeichnungen versehen wurde. Man sprach vom Streit zwischen Rubenisten und Poussinisten. Im Französischen prägte man dafür den Ausdruck Querelle du dessin et de la couleur. Man knüpfte ausdrücklich an die Frontstellung der



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

Renaissance zwischen disegno und colorire an. Es sei an dieser Stelle an die Untersuchungen der Kunsthistorikerinnen zum Thema Farbe in Venedig erinnert. Noch einmal anders könnte man von einem Streit zwischen dem Anspruch auf eine beauté universelle und der Gültigkeit eines bloßen beau relatif sprechen. Die langsame Akzeptanz einer nur zeitbedingten Schönheit war wohl auch eine Folge der Entdeckung fremder Kulturen und führte zu einer Aufwertung der sogenannten Primitivkulturen. Im Geiste Dürers, dessen Schriften er kannte, war Kunst für Poussin vor allem Gelehrsamkeit. Es kursiert die Geschichte, dass Poussin, bevor er zum Pinsel griff, das geplante Bild (zu mythologischen Themen und zur dramatischen jüdischen Geschichte) durch ausführliche Lektüre von Büchern vorbereitete. Dementsprechend waren seine Kunden vor allem gebildete, meist private Auftraggeber. Für die Rezeption forderte er den gelehrten Kenner. Roger de Piles widersprach ihm prompt und führte zusammen mit André Félibien unter Hinweis auf die Ausstattung jedes Menschen mit Vernunft den »Topos der Laienkennerschaft« ein. Ziel der Kunst sei es, das eigentliche Wesen der Dinge zum Ausdruck zu bringen. Aber auch seine Theorie konnte die moderne Zeit nicht völlig verleugnen. Das Kunstwerk ist nie in sich vollendet, es ist kein vom Betrachter unabhängiges Objekt, sondern übt eine suggestive, ja expressive rhetorische Macht aus. Es soll den Betrachter dazu bringen, am Dargestellten zu einem bewussten Sehen zu gelangen. Poussin flüchtete sich nie in vorgegebene ikonografische Muster, sondern konzipierte jedes Bild individuell. Die Forderungen an die Werkästhetik sind zwar Gemeingut der antiken Rhetorik, aber man hat zu Recht auf den im Rationalismus formulierten Reflexionsgedanken verwiesen, der sich in dieser Argumentation unübersehbar zu Wort meldet. Zudem griff Poussin gerne auf die Musiktheorie, insbesondere auf die emotionale Wirkung griechischer Tonarten zurück. Die sinnliche Wahrnehmung hat ihren Wert dann als Kategorie des Bewusstseins. Waren seine früheren Werke in Rom noch vom Kreislauf der Natur inspiriert (zu dem Gedanken kehrte er in den letzten Lebensjahren wieder zurück), blieb die Natur später nahezu seelenlos wie die res extensa des Descartes und die Nachahmung umfasste die künstlerische Gestaltung, die sich auf Vorstellungen im Bewusstsein bezieht. Das weist in die Richtung, die der Rationalismus dann im Idealismus Hegels einschlug. Poussins Werke hatten in der Académie Royale in Paris Vorbildstatus und wurden entsprechend diskutiert. Der eben erwähnte Roger de Piles war ein Rubenist, der sich im Streit auf die Seite des Kolorismus schlug. Sein engagiertes Eintreten für Rubens richtete sich gegen Le Brun und André Félibien, die die Lanze der Akademie brachen und sich gegen die einfache Nachahmung der Natur auf der einen und eine barocke Malweise auf der anderen Seite stellten. Rubens hätte ein schlechtes disegno und erreiche keine Schönheit. In seinem Dialogue sur le colorit (1673) bewunderte de Piles die farbenfrohen Venezianer, in denen sich der Geist des Rubens zeige, der seine Größe der Missachtung der klassizistischen Doktrinen und der römischen Vorbilder verdanke. Das Genie Rubens konnte »aus sich heraus, ohne Hilfe von irgendwelchen Regeln, außerordentliche Dinge zustande[zu]bringen […].« Im Künstler verbinde sich das

VI.6.4. Jauß 1970, 32

Hubala 1970, 75

Kernbauer 2012, 184f

Pochat 1996, 315

Roger de Piles

de Piles, zit. nach Ebd., 354f

114

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Bornscheuer 2005

Großartige und Unerhörte. De Piles hatte, wie die Edition der Akademiereden offenbart, einen Vorläufer mitten in der Akademie (er war sogar einer der Gründungsväter), nämlich den Maler und Theoretiker Sébastien Bourdon. Er trat für Farbe und Licht als Mittel der Malerei ein. In einem eher seltsam anmutenden Punktesystem versuchte de Piles, die Qualität der Maler seit der Renaissance zu klassifizieren. Dabei legte er auch auf die bei den Klassizisten gering geschätzte Farbe als Qualitätskriterium Wert. Praxisnäher waren schon seine Anstöße für die Landschaftsmalerei, die die Natur entweder heroisch, das heißt in ihrer erhabenen Form, so wie sie sein sollte, oder aber pastoral, in größter Einfachheit und natürlicher Wirkung, darstellte. Das Schrifttum von de Piles, der durch seine Sammlertätigkeit zu einem großen Wissen über die zeitgenössische Kunst gelangt war – es folgte 1708 noch der Traktat Cours de peinture par principes, in dem er die Malerei als Nachahmung mit den Mitteln von Farbe und Form (zum Unterschied von der Nachahmung in der Literatur) definierte – hatte eine große Resonanz. Er tauchte in den zahlreichen Traktaten des 17. Jh.s auf, in denen es neben der geschilderten anspruchsvollen Prinzipienästhetik auch um Künstlerviten ging, die ihrerseits den Wert der Künstler der Antike in das beste Licht rückten.

4.2.3. Die Grand Tour als Voraussetzung des Klassizismus

Hibbert 1987

In Frankreich und England war das Maß aller Dinge die Klassik der Antike. Immer noch galt Vitruv als der Polarstern jeder Architektur. Er wurde bisher unbekümmert durch die Brille Palladios und deshalb mit manieristischen Akzenten gelesen. Die Neuigkeiten aus Herkulaneum und Pompeji machten darauf aufmerksam, dass es bei Vitruv vermeintlich einen erheblichen Korrekturbedarf gab im Sinne einer sich am klassizistischen Ideal ausrichtenden Authentizität. Auch das war Stoff für die Querelle. Um sich eine Orientierung zu verschaffen, begann man im 18. Jh. in den Süden zu reisen. Es waren keine Ausbildungs- und Forschungsreisen von Künstlern und Architekten wie in der Renaissance, sondern gesellschaftliche Ereignisse für wohlhabende Kulturinteressierte. Bessere Reisemöglichkeiten als in der Renaissance und die billiger und umfangreicher gewordene Literatur über die fremden Länder und Kulturen wecken die Neugier, sodass nun nicht nur forschungsbegeisterte Profis, sondern auch bildungshungrige Touristen in Bewegung gesetzt wurden. Solche Reisen, die viele Monate dauern konnten, wurden zu einem Symbol für Wohlstand, Freiheit, Aufklärung und Bildung. Ab der Mitte des Jahrhunderts bürgerte sich für diese neue, von eigenen Gesellschaften geförderten Mode der Ausdruck Grand Tour ein. Man besuchte die antiken Stätten, nicht nur jene Roms, sondern jene in Athen und im Nahen und Mittleren Osten. Zusätzlich raffte man alles zusammen, was wertvoll schien, und schaffte es in die Heimat. Einer der Ersten, von dessen auf solchen Reisen erworbener Antikensammlung wir Kenntnis haben, war Thomas Howard, Earl of Arundel and Surrey. Die Grand Tour war eine wichtige kulturgeschichtliche Voraussetzung für die Kenntnis und die Publikation sowohl der griechischen Kunst und Architektur als



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

auch jener des Mittleren Ostens. Joshua Reynolds spottete in seiner Persiflage auf Raffaels Schule von Athen (1751), der ersten Parodie der Kunstgeschichte, über den Eifer der Bildungsreisenden, die sich trotz aller Studien der antiken Monumente in Wahrheit nur in ihrer englischen Neogotik wohl fühlten. Andere wie der Frankfurter Maler Johann Zoffany prangerten in ihren Bildern die Plünderung der antiken Stätten an, deren Schätze nun das heimatliche Wohnhaus schmückten. Und Horace Walpole goss seinen Spott über die Gesellschaften aus, welche die »Absolventen« der Grand Tour versammelten, die 1707 gegründete Society of Antiquaries oder die wichtigere, um 1732 ins Leben gerufene Society of Dilettanti. Walpole erklärte 1743 trocken die Aufgabe der Gesellschaften als »nominal qualification [of] having been in Italy, and the real one, having been drunk.« Motive für das Reisen gab es viele, wohl auch das, was Jas Elsner und Joan-Pau Rubiés mit Blick auf den Orientforscher Richard Burton, der sich 1853 (wie andere vor ihm) als Araber verkleidet bei der Hadj in Mekka unter die Pilger mischte, »the private exploration of Oriental sexuality« nannten. Mag sein, dass, wie die Autoren weiter ausführen, die Attraktivität hier weniger in dem von Edward Said beschriebenen Orientalismus lag, sondern im Versuch, das durch Säkularisierung und Modernisierung unwiederbringlich Verlorene wieder einzufangen. Dazu passt, dass in der wissenschaftlichen Literatur diese Reisetätigkeit stets in Verbindung mit der Aufklärung gebracht wurde, insofern die Kenntnis der fremden Welt das Potential an Toleranz gefördert habe. Die europäischen Eliten hätten in der Grand Tour – zusammen mit der humanistischen Bildung – geradezu ein institutionalisiertes pädagogisches Instrument für einen toleranten Kosmopolitismus gehabt. Zuhause förderte es die Sache der Architektur, gerne den palladianischen Stil. In den geräumigen Landhäusern gab es – ganz im Geist der Renaissance-Humanisten – reichlich Platz für Bibliotheken und für die großzügige museale Aufstellung der mitgebrachten Skulpturen und Architekturfragmente. Eine delikate und zeitlose (und schlecht untersuchte) Frage in solchem Zusammenhang ist allerdings, inwieweit (falsche) Stereotypen, welche die Reisen auslösten, durch die ansässige Bevölkerung ganz bewusst unterstützt wurden, was dem hohen Ziel der Grand Tour zuwiderlief. In Rom machten Kupferstecher wie Giuseppe Vasi und Giovanni Piranesi mit ihrer Produktion von bei den Touristen beliebten Veduten zu den Klischees der ewigen Stadt ein gutes Geschäft. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges nahm die Zahl der Reisenden nochmals sprunghaft zu. Die philosophische Schulrichtung des Empirismus beförderte die Reisetätigkeit zudem, insofern er nahe legte, dass man Erfahrungen nur mit empirischer Anschauung vor Ort machen könne. Der Besuch im Süden förderte nicht nur die antike Klassizität in England, sondern war kurioserweise auch Auslöser für das gotische Revival, denn die Reiseroute führte an den großen Kathedralen der französischen Gotik vorbei. Was man dort sah, war den meisten dann doch vertrauter als die fremden Eindrücke in der Ferne. Die Begegnung mit den in den Himmel ragenden Kathedralen regte die Wiederentdeckung des Mittelalters an, in erster Linie der idealtypischen Gotik, die in England zudem nie so negativ gesehen

Hofmann 1998, 138

Walpole, zit. nach Kruft 1985, 234; im Orig. kursiv

Elsner/Rubiés 1999, 1

Opper 2003, v.a. 60ff

Calaresu 1999 1.5.1.

116

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Keller 1971, 80

worden war wie in Italien. Die Begeisterung für die Geschichte führte zuerst in England zur Auflösung eines flächendeckenden, den geistigen Gehalt der Zeit ausdrückenden Stils. In diesem Vakuum reüssierte die Neugotik. Verbreitet sah man darin nichts weiter als eine hübsche Schmuckform, vergleichbar mit den sich aus der China-Begeisterung ableitenden Ornamenten. Nur wenige wie Christopher Wren oder Nicholas Hawksmoore bemühten sich um ein systematisches und historisches Verständnis des gotischen Stils. Frankreich, das Geburtsland der Gotik, nahm dieses Revival nur zögerlich auf. Die meisten, die ihm folgten, interpretierten die Gotik als Stil der Natur oder als idealen Ausdruck des katholischen Kults – so empfand es jedenfalls Montesquieu bei einem Aufenthalt in Venedig.

4.2.4. Positionen des Klassizismus

Klassik und ­Klassizismus

Hitchcock 1958, XXI

Oechslin 2008, 9

4.2.

Oesterle 1984, 119

Stierle 1984, 83

Zum Unterschied von den typisch barocken Positionen sind jene des Klassizismus besser dokumentiert. Viele der involvierten Künstler und Architekten lehrten selbst an den Akademien, eine theoretische Reflexion war ihnen demnach nicht fremd. Gegenüber der Re-Renaissance war der Klassizismus ein romantisierender Historismus, der den philosophischen Ernst der Renaissance verloren hatte und sich nicht mehr auf die reale Antike bezog, sondern auf eine idealisierte Fiktion. Völlig zu Recht prägte Henry-Russell Hitchcock den Ausdruck »romantic classicism«. Die strenge (platonische) Ontologisierung der Ästhetik war abhanden gekommen. Philosophisch war man in der Neuzeit angekommen und das Subjekt löste sich aus der alten Harmonielehre. Umso mehr hielt man nun an Regeln fest, die der Klassizismus »aus einer ideal gedachten und deshalb fiktiven antiken Architektur mitsamt ihrem – reduzierten – Formenkanon« bezog. So rekonstruiert Werner Oechslin dies am Beispiel der vermeintlich rigorosen Vorstellungen Francesco Milizias. Zu erinnern ist hier an den von Oechslin konstatierten blinden Fleck in der Barockrezeption, die den Unterschied von der an der Antike orientierten Klassik und dem an idealisierten Regeln orientierten Klassizismus verwischt. Günter Oesterle, der am Beispiel der Arabeske den Übergang vom Klassizismus in die Romantik nachzeichnete, nannte die klassizistische Kunst eine »Rechtfertigungskunst, weil sie ständig die Möglichkeit einer Verlebendigung und Vergegenwärtigung der Antike beweisen muß; sie ist eine Reflexionskunst, weil sie sich ihrer Gegenwartsdiagnose gemäß kritisch auf die Abstraktheit der Gegenwart einläßt, und sie ist drittens eine Grenzziehungskunst, weil sie sich als autonome Kunst gegen die Übermacht des Zufälligen, Amorphen, Ungebildeten und Geschmacklosen der zeitgenössischen Umwelt abschirmen will und muß.« Oesterle machte damit den deutlichsten Unterschied der »Grenzziehungskunst« Klassizismus zu der ins Leben reichenden Kunst der Avantgarde am Beginn des 20. Jh.s fest. Auch Karlheinz Stierle sah in der Kunst des Klassizismus eine »Kunst der Ausgrenzungen und Verdrängungen.« Kunsthistoriker wie Louis Hautecœur, Emil Kaufmann oder Erich Hubala, die eine scharfe Trennung von Renaissance und Barock ablehnten, hatten dabei die Ansätze einer Klassik (hier bewusst gewählt, eben nicht Klassizismus) oder einer (barocken) Architektur der Aufklärung im Blick. Aus dieser Perspektive könnte man dem



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

Klassizismus insofern eine positive Komponente abgewinnen, als er erst aus einer aufgeklärten, die ontologische Begründung hinter sich lassenden Position formuliert werden konnte, damit allerdings gegenüber »Regelverletzungen« nicht unbedingt toleranter war. Der Wittkower-Schüler Joseph Rykwert begann seine umfangreiche, wenngleich stark selektierende Studie zur Architektur des 18. Jh.s mit einem solchen Verständnis: »The words classic and classical suggest authority, discrimination, snobbery – class distinction, in fact. Neoclassical is associated with revolution, objectivity, enlightenment, equality.« Dabei dürfen aber die romantischen Gehalte nicht übersehen werden, welche die aufklärerische Position wieder relativieren. Die zwei wichtigsten, den Streit um Barock und Klassizismus begleitenden kulturellen Motive waren einerseits der Rationalismus, andererseits die Idealisierung der griechischen Antike, die man den empirischen Ergebnissen der eben begonnenen Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji überstülpte. Es ist in der Tat erstaunlich, dass man die Erforschung der klassischen Monumente anfangs den Engländern und Franzosen überließ. James Stuart und Nicholas Revett schrieben über die Antiken in Athen (The Antiquities of Athens) – ihre Zeichnungen waren die ersten exakten Aufnahmen der wichtigsten Monumente von Athen, darunter des Parthenon – und Robert Adam untersuchte im Rahmen seiner Grand Tour den Diokletianspalast in Split. Das Gesagte gilt auch für den Orient. Es war der englische Politiker und Reisende Robert Wood, der – zusammen mit James Dawkins – große Werke über Palmyra und Baalbek herausgab. Woods Publikationen regten lebhafte Diskussionen an. Einmal irritierte, dass die gefundene Architektur nicht den Idealvorstellungen der griechischen Klassik entsprach, zum anderen wurden seine Entdeckungen gefeiert, weil sie die Nostalgie zu den Chinoiserien und zur Gotik verdrängten. Spärliche Berichte waren wohl bereits früher in den Westen gesickert, sodass der Architekt und Kupferstecher Jean Marot oder Fischer von Erlach einschlägige Vorlagen kannten. Anne-Claude-Philippe de Tubières-Grimoard de Pestels de Lévis, Comte de Caylus, publizierte zwischen 1752 und 1756 seinen siebenbändigen Recueil d’antiquités égyptiennes, étrusques, greques, romaines et gauloises. Als französischer Botschafter in Byzanz kannte der Graf den Orient gut. Er strich auch als einer der Ersten die Bedeutung der Etrusker hervor, wenngleich seiner Ansicht nach die Griechen die Kunst Etruriens nochmals überboten hätten. Die griechische Kunst erklärte Caylus (etwa zur gleichen Zeit wie Winckelmann) zum Ideal, an dem man nach wie vor Maß nehmen sollte. Weitere Studien in Kleinasien unternahmen Richard Chandler, Nicholas Revett und der Maler William Pars im Rahmen einer Reise, die von der im letzten Kapitel erwähnten Society of Dilettanti in Auftrag gegeben worden war. Die Erforschung namentlich von Mesopotamien war ungleich schwieriger. Die Wege waren weit, die Reiserouten durch den schwindenden Einfluss der Osmanen unsicher und schließlich waren die Monumente durch die Bauweise mit Lehmziegeln in einem schlechten Zustand. Manch ein zerfallener Tempel oder Palast wurde von den wenigen Forschern, die sich in diese Gegend verirrten, für einen natürlichen Hügel gehalten. Einer der ersten, dem der Durchbruch auch in diesem abgelegenen Gebiet gelang, war Claudius James Rich.

Rykwert 1980, 1

Jenkins 2003, 173f

Simpson 2003, 196ff

118

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

In der Auswertung dieser Forschungen vermischten sich zwei Ebenen. Einerseits stand die objektive Erforschung der alten Bauwerke im Vordergrund. Andererseits schob sich eine Ebene der Verehrung und Idealisierung dazwischen. Und es ist kaum abwegig, in dieser Idealisierung eine empfundene Schwäche der eigenen Situation gegenüber zu erkennen. War die Diskussion zwischen Renaissance (Klassik) und Barock noch von einer ernsthaften und selbstbewussten Formdiskussion geprägt, gilt für den Historismus (damit den Klassizismus) das von Klaus Jan Philipp Gesagte: »Die Rückversicherung an historischer Architektur – sei es die griechische oder römische Antike, das Mittelalter, die Renaissance – oder auch an exotischer Architektur ist verbunden mit dem latenten Eingeständnis der Unfähigkeit, unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen einen neuen, der Zeit gemäßen Stil zu entPhilipp 2006, 207 wickeln.« Insofern gehört zu jeder Diskussion um den Klassizismus gleichzeitig das Umschlagen in die Romantik. »Es geht hier nicht mehr primär um die Suche nach klassischen Vorbildern oder um eine Stellungnahme im griechisch-römischen Streit, Kruft 1985, 240 sondern die ruinöse oder staffierte Antike wird zum Träger eigener Stimmungen.« Das 19. Jh. war dadurch gekennzeichnet, dass eine universelle konzeptuelle Antiken-­ Leit­idee bei Künstlern und Architekten geschwunden war, wie solch führende PerNachahmung sonen wie Gottfried Semper oder Leo von Klenze zeigen. Die Generation nach Winckelmann hatte ihre theoretische Erdung nicht mehr in den Fakten der Antike und Renaissance, sondern in Verklärungen der Antike und in den großen philosophischen Erzählungen des Idealismus. Dazu kam politischer Sukkurs in den Proklamationen des bayerischen Königs Ludwig I., der – wie Friedrich I. in Berlin – in München ein »Isar-Athen« realisieren wollte. Friedrich sah in dieser Absicht wohl ein Stück Aufklärung, Ludwig vielleicht eher »ein spezifisches Gegengewicht wider Philipp 2006, 208 revolutionäre Neuerung und wider ungeduldiges Experimentieren […].« Die Rückwendung zur Antike war also ambivalent. Sie mag manchmal die aufklärerischen Gehalte einer Befreiung des Menschen ausgedrückt haben, wie dies die frühen Humanisten der Renaissance noch optimistisch vertreten hatten. Aber diese Rückwendung diente auch der politischen Restauration und dazu, jede Zukunftsorientierung in nostalgischer Verklärung des Vergangenen zu ersticken. Das erste Aufblühen der Denkmalpflege an der Wende vom 18. ins 19. Jh. darf unter solchen Rücksichten durchaus auch kritisch gesehen werden. Trotz alledem sollte man nicht übersehen, dass neben diesen politischen Interessen die romantisch-idealistischen Gedankengebäude auch Zukunftsvisionen Raum gewährten. Romantik war eben VIII.7.1.2. nicht nur ein rückwärtsgewandtes Geschäft. Eine genau definierbare Trennung von klassischer und klassizistischer Theorie ist eine Herausforderung für ein kunstgeschichtliches Know How und nicht Thema dieser Untersuchung. Manchmal sollte sich eine solche Differenzierung allerdings auch aus kunsttheoretischen Äußerungen ablesen lassen. Dabei scheint ein nicht uninteressanter Vorschlag zu sein, zwischen Architekten zu unterscheiden, die den Klassizismus als Ideologie vertraten und solchen, die in ihm »lediglich eine KonvenBenevolo 1960, 66 tion« sahen. Der Weg des Klassizismus reicht jedenfalls in die Anfänge des Barock zurück. Mit dem Tod Berninis hatte Italien die Führung in Architektur und Kunst



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

verloren und zuerst an Frankreich, dann an England mit seinem Palladio-Revival abgetreten. Der Höhepunkt des Klassizismus fand zur Blütezeit Frankreichs im Style Louis Quatorze statt. Dieser klassizistische Barock als Stil war wunderbar kompatibel mit dem Absolutismus des Sonnenkönigs. Die Impulse aus Italien – es waren die Impulse aus der Renaissance und nicht jene des Manierismus und des italienischen Barock – wurden in eine patriotisch-französische Form gegossen und prägten nun ihrerseits ganz Europa. Mit Blick auf die formale und stilistische Seite könnte man den Beginn dieser epochalen Situation am 6. Mai 1682 sehen, als der französische Hof das noch unfertige Schloss Versailles bezog. Mit Blick auf den Klassizismus im engeren Sinn sind die Gründungen der verschiedenen Akademien zu erwähnen, die zu den Hütern der Regeln wurden. Gut ein halbes Jahrhundert nach der 1648 in Paris entstandenen Académie Royale de Peinture et de Sculpture begann der Klassizismus in Spanien. 1752 gründete Ferdinand VI. die Real Academia de las Tres Nobles Artes de San Fernando (seit 1873: Real Academia de Bellas Artes de San Fernando) in Madrid. Der Klassizismus war für ein Jahrhundert in Spanien Staatskunst. Die Akademie, und damit der Königshof, griffen regulierend ein. Trotzdem machte diese Schule Madrid zu einem Anziehungspunkt für ausländische Künstler. Unter ihnen waren die Gestalter des königlichen Palastes: Giovanni Tiepolo und Anton Raphael Mengs. Wie sich seinerzeit die Manieristen aus dem Korsett der Renaissanceordnung zu befreien suchten, war der Umschlag vom Klassizismus in das Rokoko in der späten Zeit Ludwigs – vielleicht besonders markant mit Antoine Watteau – eine Reaktion auf die Doktrin der Akademie; ein Befreiungsschlag, der in manchen Gebieten zu einem eigenständigen Kunstideal wurde. Das führte zu der paradox anmutenden Tatsache, dass der Style Louis Quatorze sowohl klassizistische als auch Rokoko-Elemente enthielt. Im schlechtesten Fall feierte der neue, verspielte Stil nur mehr die Ornamentik um der Ornamentik willen und setzte den horror vacui an die Stelle einer einstigen großen kunstphilosophischen Vision. Man könnte ihn, in der Literatur genauso wie in der bildenden Kunst, als unpolitisch und auf Unterhaltung ausgerichtet einstufen. Die Klassizisten sahen das Rokoko jedenfalls so und sie fanden darin einen willkommenen Sündenbock für einen bevorstehenden Untergang der Kultur nach der Glanzzeit Ludwigs XIV. »Die Akademiker, welche auf die klassizistische Baukunst der Mansart und Le Vau als auf gültige Leitbilder zurückblickten, waren glücklich, mit dem Aufkommen des Rokoko einen Sündenbock gefunden zu haben, an dem sich Entartung und Verfall der Architektur demonstrieren und bekämpfen ließen.« Was die Klassizisten am Ornament des Rokoko so störte, »war nicht nur die groteske Zusammenfügung heterogener Bildmotive, für welche es in der Natur kein Vorbild gebe, sondern vor allem die Durchdringung verschiedener räumlicher Logiken, die Verschmelzung von Wandstruktur und Dekoration, […] das Oszillieren zwischen räumlicher und flächiger Auffassung, ungegenständlichen und bildwertigen Qualitäten des Ornaments. Solcher Irrealität gegenüber muß eine im epistemischen Rahmen der rationalistischen Schulphilosophie argumentierende klassizistische Geschmackslehre verständnislos bleiben.«

Akademien

Klassizismus-­ Rokoko

Keller 1971, 72

Schneider 2002, 345f

120

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

3.6.

Auf die intelligente Deutung des Rokoko durch Marcus Felsner habe ich bereits verwiesen. Danach wäre die Katastrophe für die Klassizisten noch größer, denn nach dieser These wäre das Rokoko die Entlarvung des Klassizismus als romantische kulturelle Erzählung.

4.2.4.1. Die Verschiebung des Demiurgischen zur Vernunft in den bildenden Künsten

Hubala 1970, 23–31

Giovanni Pietro Bellori

VI.8.3.

4.2.1.

Hansmann Martina in ÄKPh, 87

Erich Hubala schwärmte in seiner Darstellung der Kunst des 17. Jh.s von der Stilbildung der römischen Malerei in diesem Jahrhundert. Er meinte freilich nicht den geläufigen barocken Stil, sondern die »Re-Naissance der Renaissance«, also das, was ich als Klassik bezeichne. Dieser Position ging es um Naturnähe und nicht primär um die Einhaltung eines formal gewordenen Regelkanons. Spätestens mit Poussin hatte auch in Rom der Klassizismus Fuß gefasst und es begann ein Wandel vom Barock zum französischen Klassizismus. Er wurde weiterhin von kommentierenden Diskussionen begleitet. Die herausragende Figur für die Konzeption des Klassizismus wurde der in der Lombardei geborene Giovanni Pietro Bellori. Der Antiquar unter Clemens X. und Bibliothekar bei Christine von Schweden rankte seine Kunstbeschreibungen Vite de’ Pittori Scultori ed Architetti moderni (1672) um ein klassizistisches Kategorienrepertoire. Epochal wurde die Einleitung des Werks (L’Idea dello Pittore, dello Scultore e dell’Architetto), die Bellori im Mai 1664 als Rede in der Accademia di San Luca in Rom gehalten hatte. Die unter der Kurzform Idea berühmt gewordene Rede gilt als programmatische Inkunabel der klassizistischen Kunstauffassung und wurde zu einer Programmschrift dieser 1593 gegründeten Akademie, die wegen ihrer streng klassizistischen Ausrichtung als französische Nationalakademie in Rom galt. Belloris Text handelt von der schwierigen Frage der Verträglichkeit der Idea des Architekten mit der Autorität der Regel. Anders gesagt: von der Idealisierung der Naturnachahmung. In platonischem Geist ging er von einer kosmischen Ordnung aus, wo Harmonie und Schönheit des Kosmos übereinstimmen und irdische Welt wie menschlicher Mikrokosmos als Abbild dieser Ordnung angesehen werden. Davon leitete Bellori die Rolle des Künstlers als Zweitschöpfer ab, der in der (göttlichen) inneren Idee sein Muster findet. Er verkörpert die Rolle des Demiurgen, der die vorbildliche Schönheit des göttlichen Erstentwurfs (Gott als der buono architetto) in der irdischen Welt freilegt und nachbaut. Treffender als mit den Worten Martina Hansmanns könnte man diesen platonischen Zusammenhang nicht ausdrücken: »Unter Ausschaltung der durch die Wandelbarkeit der Materie hervorgebrachten Defekte ähneln sich die wahrgenommenen Formen in der künstlerischen Nachahmung an die aus der inneren Vorstellung bezogene Idealform an.« Wie Platon es uns im Timaios-Dialog vorführte, beschrieb Bellori auch die falsche Alternative. Falsch wäre es nämlich, allein auf die künstlerische Praxis (ohne Theorie) ausgerichtet, eine unkritische Nachahmung fehlerhafter Vorbilder durchzuführen. Der Künstler partizipiert also keinesfalls bloß passiv an einer göttlichen Welt­ seele, wie es der ursprüngliche Entwurf des Platonismus lehrt, sondern es ist – im



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

Sinne des cartesianischen Einflusses – das Vermögen der Vernunft, das diese Einsicht ermöglicht. Ein Sachverhalt, den Platon im Hinweis auf das Ordnung schaffende »goldene und heilige Leitzeug der Vernunft« bereits entworfen hatte. Der Unterschied liegt in der Ausstattung des Individuums in der Neuzeit. Passive Inspiration verschiebt sich zu einem aktiven Vernunftgebrauch, zu einer planenden demiurgischen Tätigkeit. Diese Vernunft vermag die Wirklichkeit vom täuschenden und fehlerhaften Anteil an empirischer Natur zu scheiden, um hinter ihr eine zeitenthobene allgemeingültige Wahrheit, die zugleich Schönheit ist, zu gewinnen. Bellori schaffte damit in der Tat »ein merkwürdiges Gleichgewicht zwischen Naturstudium und Idealität; seine Suche nach Urbildern ist zugleich das Streben nach Normen für die Gegenwart.« Guido Reni, der die Leitung der Carraccischule in Bologna übernahm und nach einem Romaufenthalt mit den Carracci auch wieder dorthin zurückkehrte, bestach damals die Betrachter durch Schönheit und Idealisierung, mit der er zugleich die hässlichen Seiten aussparte. Bellori schätzte an Reni, dass er nicht nach der Schönheit vor seinen Augen, sondern nach jener in seinem Inneren malte. Dies allein sei der richtige Weg zwischen der plumpen kopierenden Naturnachahmung und der manieristischen Verfremdung des Naturvorbildes. Bellori verwies auf die antiken Statuen und die antike Architektur, die für den Kreis um Carracci und Reni – von der Moduslehre und der idealen Harmonie getragen – die wichtigsten Vorbilder waren. In der Renaissance seien viele Künstler und Architekten diesem Ideal treu gefolgt, während manche Zeitgenossen – eine Anspielung auf die großen Barockkünstler – davon abgewichen seien. Der Einfluss des mit Poussin befreundeten Bellori bezog sich nicht nur auf die Weitergabe des Gedankenguts in den Akademien. Bellori war bei vielen Theoretikern und Künstlern vor allem in Frankreich und England geschätzt und auch auf Winckelmann lässt sich ein Einfluss nachweisen. Auf einen cartesianischen Vernunftbegriff, der den Platonismus in sich aufgesogen hat, setzte auch der Klassizismus des Nicolas Boileau-Despréaux. Der Schriftsteller und Cartesianer gilt als Begründer des französischen Klassizismus in der Dichtung. Er war ab 1678 am Hof Ludwigs XIV. Hofgeschichtsschreiber und ab 1683 Mitglied der Akademie. Sein in Alexandrinern geschriebenes umfangreiches Regelwerk für die Literatur (L’Art poétique; 1674) gründete er auf der Gleichsetzung von bon sens und raison und beschwor idealisierend die Gültigkeit von Gesetzen der Rationalität, die zeitlos und in der Antike vorbildlich realisiert worden seien. Dabei vergaß er auch nicht, auf die Funktion der Naturnachahmung durch die Dichtung zu verweisen. Die Pointe dabei war stets, dass die Antike einerseits der neuen, am Rationalismus geschärften Vernunft entspreche, andererseits einen französischen Nationalstil begründete. Es ging nicht um Nachahmung der Antike um der Antike willen, sondern um die dort realisierte Vernunft. Boileau war denn auch einer der schärfsten Kritiker Perraults, der den Paradigmenwechsel vom Barock zum Klassizismus in der Architektur zwar vollzogen hatte, für manche aber immer noch zu wenig klassizistisch war. Boileau hielt in der Querelle die Sache der Anciens hoch. Aus Graciáns bon goût wurde bei ihm, wie bereits berichtet, der bon sens, das Gefühl für

Nomoi 644d-645a.

Kruft 1985, 114 Guido Reni

Pochat 1986, 347 Nicolas ­Boileau-Despréaux

4.2.4.3.1.

122

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

2.2.2.

Dieckmann 1964, 34

III.3.4.4.

5.2.1. Kliche Dieter in ÄGB 1, 318 Franciscus Junius

IV.1.2.

Anton Raphael Mengs

das Schöne. Indem er den guten Geschmack (als Abbild der antiken Ästhetik) in polemischer Abhebung gegen den Barock auf ein Vermögen der Vernunft hin auszog, legte Boileau erste Fundamente eines ästhetischen Urteils. Er tat dies mit Hilfe der alten platonischen Harmonievorstellungen, die er jetzt als (cartesianische) Gesetze der Rationalität rekonstruierte. Boileau »erkennt die Autoren der Antike nur an, weil ihre Regeln in der Natur gegründet sind.« Einer Natur, so muss man hinzufügen, die längst durch den Rationalismus eine abstrakte Form angenommen hatte und die als Regel vor sensualistischen und subjektivistischen Tendenzen (die in die Nähe des Pathologischen und moralisch Verwerflichen gerieten) schützte. Andererseits war Boileau – allerdings unbewusst – ein wichtiger Meilenstein antiklassizistischer Tradition. Er übersetzte den Traktat des Pseudo-Longinus über das Erhabene (Traité du sublime). Dieser Traktat, der die ästhetischen Gesetze der Rhetorik behandelte, prägte eine Strömung im 18. Jh., die das Erhabene im Sinne des Überwältigenden mit dem Schönen verband. Bei Boileau diente das Sublime dazu, eine reine Imitationslehre zu überwinden. Imitation nicht als Reproduktion, sondern als Inspiration und als das Auslösen des Gefühls des Erhabenen. Auf die Rolle bei Joseph Addison in diesem Zusammenhang wird weiter unten hingewiesen. Das Erhabene spielte eine wichtige Funktion in den Kunsttheorien des 19. und 20. Jh.s. Die beiden wichtigen Schriften Boileaus »stehen als Ikone des Klassizismus und als deren Subversion unvermittelt nebeneinander.« Franciscus Junius war als gebürtiger Heidelberger ein vorwiegend in den Niederlanden und in England tätiger führender Kunsttheoretiker, Philologe und Humanist. Mit seinem Werk De pictura veterum (1637), das er für Thomas Howard, den Grafen von Arundel, geschrieben hatte, gehörte er zu den eifrigsten Verfechtern des klassischen Ideals der Akademie, aber mit einer liberalen Schlagseite. Er wollte die antike Kunst in ihrem ganzen Reichtum zu neuem Leben erwecken. Daneben entwickelte er ein großes Interesse an der Gotik, schrieb Studien über den Codex argenteus aus dem 6. Jh., der in gotischer Schrift verfasst war. Ganz im Sinne Boileaus forderte er gelehrte Maler, die mit Hilfe ihrer Inspiration die vollkommene Nachahmung der Natur schaffen. Die Idee dieser Inspiration sei allerdings – die cartesianische Aktualisierung wird sogar durch Aspekte des Empirismus verschärft – nicht von Gott eingegeben, sondern man gelangt zu ihr über langes Studium der idealen Proportionen an klassischen Kunstwerken. Die Idea kam gewissermaßen a posteriori, empirisch gewonnen, ins Spiel. Junius war bei den ersten, welche die Überlegungen zur Inspiration und zum Erhabenen des Pseudo-Longinus nach Boileaus Übersetzung in seinem Kunsttraktat De pictura veterum (1637) aus dem Feld der Rhetorik auf die bildenden Künste übertrugen. Der 1728 in Böhmen geborene Anton Raphael Mengs legte in seinem berühmten Parnass-Deckengemälde in der Villa Albani in Rom einen Klassizismus mit barocken Zügen vor. Das 1760/61 entstandene Fresko gilt als Initiation des Klassizismus in der bildenden Kunst. Der gefeierte Maler, der zwischen Spanien, wo er Erster Hofmaler des Königs war, und Italien pendelte, schrieb von Winckelmann inspirierte Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack der Malerei (1762). Es war der



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

erste Kunsttraktat der Neuzeit in deutscher Sprache. In der anonym erschienenen Schrift, die er vermutlich während seiner Arbeiten in der Villa Albani verfasste, versuchte er, Kriterien zu finden, um die Qualität von Bildern zu klassifizieren. Solche Kriterien sind Erfindung, die alte inventio aus der antiken Rhetorik und dem Kriterienkatalog der Renaissance, Zeichnung und Farbe (also disegno und colorire), das Hell-Dunkel (chiaroscuro) und die Anordnung. Mengs griff viele Gedanken älterer Kunsttheorien des 17. Jh.s auf, darunter auch Aspekte des Sensualismus. Zudem teilte er in der Einschätzung der Bedeutung der Nachahmung der Antike als wichtigstes Qualitätskriterium die Meinung Winckelmanns. Für die Malerei empfahl Mengs allerdings auch die Vorbilder der großen Renaissancekunst. Karl Philip Moritz, der als Gymnasiallehrer und Schriftsteller begonnen hatte und schließlich nach einer Reise nach Rom, wo er sich mit Goethe anfreundete, eine Professur für die schönen Künste an der Universität in Berlin erhielt, beschrieb in seinen Schriften eine ästhetische Theorie des Klassizismus. Moritz definierte Schönheit als »in sich selbst vollendet«. Dies floss in den Titel einer ersten Schrift ein: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785). Eine Präzisierung erfolgte in der in Rom 1788 entstandenen Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen, für die Goethe in seiner Italienischen Reise eine Mitautorschaft beanspruchte. Ein ästhetischer Gegenstand sei im Vergleich zu einem Alltagsgegenstand um seiner selbst willen. Er verfolge keinen anderen Zweck. Man kann hier an die Interesselosigkeit als Auszeichnung der Kunst bei Kant denken und einen Schritt zu einem autonomen Kunstverständnis sehen. Die gewählte Formulierung von der »bildenden Nachahmung« zeigt das Verständnis der Naturnachahmung, das sich gegen eine Wirkungs- und Rezeptionsästhetik richtete und Mimesis und Inspiration zu versöhnen trachtete. Nachahmung sei ein schöpferischer, ja Welt-erzeugender Akt und zudem will das Schöne bzw. das Kunstwerk »eben sowohl bloß um sein selbst willen betrachtet und empfunden, als hervorgebracht seyn.« Das autonome Kunstwerk spiegelt wie die Leibnizsche Monade das Universum und erhält so auch erkenntnismetaphysisch einen hohen Rang. Neben Leibniz wirken der Demiurg-Gedanke und die natura naturans-Konzeption nach. Moritz spricht häufig von der »thätigen Kraft«, der Natur, die gleichsam die »rezeptive Empfindungs- als auch die produktive Bildungskraft (die komplementären Prozesse in der Konstitution des Schönen)« zu »abgeleitete[n] Aspekte[n]« macht. In der Kunstbeschreibung hielten sich bis ins 18. Jh. die bereits in der Renaissance gängigen äußeren Kennzeichnungen. Moritz beschritt in Die Signatur des Schönen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können (1788) einen neuen Weg. Ausgehend von seiner Überzeugung, dass die Werke der Kunst sich selbst genügen, also bereits die »vollkommenste Beschreibungen ihrer selbst« sind, können verbale Beschreibungen von Kunstwerken nur in einer Angleichung an diese funktionieren. Beschreibungen von Werken der bildenden Kunst werden daher – ebenso zweckfrei wie diese selbst – zwangsläufig zur Dichtung. Wäre eine über Poesie hinausgehende Erklärung notwendig, verwiese dies auf Schwächen des Kunstwerks.

Karl Philip Moritz

VIII.4.2.

X.2.5.

Moritz, zit. nach Steiner Uwe C. in ÄKPh 566

Steiner Uwe C. in ÄKPh, 567

124

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Oesterle 1984, 126

1.5.6.

Eine Theorie des Klassizismus, die als Bildung gegen Unbildung, als Ordnung gegen Chaos stand, musste sich in dieser Zeit auch mit dem Ornament befassen, zumal Moritz ja als Professor an der Akademie der Künste in Berlin wirkte. Nach den Ausgrabungen von Pompeji sowie diverser Thermenanlagen tauchten Ornamente allenthalben als beliebtes Gestaltungselement in Architektur und bildender Kunst auf. In der Aufsatzsammlung Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente (1793) blieb Moritz sehr zurückhaltend. Er sah im Ornament ein zweckfreies und autonomes Zeichen, weshalb er es im Rahmen seiner Theorie legitimieren konnte, wenn es dem Grundsatz des Isolierens der Kunst genüge. Moritz verweist auf den Bilderrahmen, der ein Bild verschönere, indem er es aus der Umgebung absondert. »Das Ornament wird zum Grenzhüter der Autonomie der Kunst nach innen und außen: […].« In Deutschland herrschte in den bildenden Künsten eine klassizistische Grundhaltung vor und es gab manch ehrgeizige Darstellung von den Entwicklungen ganzer Kunstarten. Auf Joachim von Sandrarts dreibändige Teutsche Akademie habe ich bereits hingewiesen. In Holland widmete sich Arnold Houbraken mit seinem De groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en schilderessen einem ähnlichen Anliegen. Die Kunsttheorie wurde dort überwiegend von Humanisten mit klassischer Bildung vertreten, die dem Klassizismus anhingen. Heftige Kritik am Verlust dieser Bildung, damit an Wahrheit und Schönheit, übte Jan de Bisschop in seinem Signorum veterum Icones (1668f). Ähnlich denunzierte Samuel van Hoogstraeten den neuen Stil als kurzlebige Mode. Die Feinadjustierung des Streits, wie er in 4.2.2. an einzelnen Beispielen vorgestellt wurde, zeigt, dass der rationalistische Reflexionsgedanke der Modernen bei den klassizistischen Überzeugungen subversiv wirkte. Mehr und mehr kam die Vernunft des Einzelnen ins Spiel, die freilich zunächst auf ihre vermeintliche Aufgabe, Darstellung unverrückbarer Wahrheit zu sein, instrumentalisiert blieb. Noch stärker wurde die Vormachtstellung des von den Akademien bewirtschafteten strengen Regelkanons am Ende des 17. Jh.s durch die Kraft des Empirismus unterminiert. Das beschleunigte die Emanzipation der schönen Künste von den freien und wissenschaftlichen. Die Sinnlichkeit erhielt einen neuen Rang und an die Stelle der Wahrheit traten Wahrscheinlichkeit und common sense, also der gesunde Menschenverstand, der sich an den Fakten der sinnlich erfahrbaren Welt orientierte. Die Vielfältigkeit und Relativität dieser Welt beschrieben die Enzyklopädisten mit Rückgriff auf die Einsichten der Naturwissenschaften und das neu aufbrechende Interesse an der Geschichte der großen Weltkulturen relativierte jeden strengen Wissenschaftsanspruch. Diese Überlegungen galten grundsätzlich für alle Künste, auch für Architektur und Literatur. Aber der Hang zum Klassizismus war bei einigen Gattungen, beispielsweise in der Bildhauerkunst, stärker ausgeprägt. In diesem Kunstgenre markierten die Schriften Johann Joachim Winckelmanns den Wendepunkt in den deutschsprachigen Gebieten zum Klassizismus und zugleich zur Romantik. Er stellte den »Verwirrungen des Formensinns« des Barocks die »edle Einfalt und stille Größe« des antiken Griechenland entgegen und seine Gedanken über die Nachah-



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

mung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) wurden geradezu die offizielle Programmschrift des Klassizismus bis weit in das 19. Jh. hinein. Es ging um Ernsthaftigkeit und Würde und um die zeitlose Gültigkeit der alten Harmonievorstellungen, waren doch die klassischen Formen der alten Baukunst auch in Barock und Rokoko im Gebrauch, aber aus dieser Sicht zu unernstem Spiel verkommen.

4.2.4.2. Johann Joachim Winckelmann, Johann Georg Sulzer, Gotthold Ephraim Lessing und der Streit um die Griechenverehrung Johann Joachim Winckelmann ist der prägnanteste Theoretiker, der den Weg aus Barock und Rokoko in den Klassizismus wies. In der für ihre Backsteingotik berühmten Hansestadt Stendal in Sachsen-Anhalt 1717 geboren, studierte der Sohn eines Schuhmachers in Halle und Jena, ging dann nach Dresden und 1755 für den Rest des Lebens nach Rom – nicht ohne vorher zum Katholizismus konvertiert zu sein. Seine berühmte Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) schrieb er in der Villa von Kardinal Alessandro Albani, eine von mehreren römischen Anlagen, welche die Villenidee in barocker Spielart weiterführten. Der als Begründer der Archäologie gefeierte Gelehrte wurde am 8. Juni 1768 in Triest von einem Kriminellen namens Francesco Arcangeli unter nie völlig geklärten Umständen ermordet. Berühmt geworden ist Winckelmann – angeregt durch seinen Dresdner Lehrer, den Maler und Bildhauer Adam Friedrich Oeser, der in den Sechzigerjahren auch Goethe Zeichenunterricht gegeben hatte – durch die zu einem geflügelten Wort des Bildungsbürgertums gewordene Bemerkung von der »edlen Einfalt und stillen Größe« der griechischen Kunst. In seinem schmalen Werk Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, 1755 noch in Dresden mit Blick auf die dort befindlichen Fundstücke aus Herculaneum erschienen, das bald eine französische und englische (diese vom jungen Johann Heinrich Füssli) Übersetzung erfuhr, legte er eine pathosgefüllte, idealisierende und rückwärtsgewandte Klassikdeutung vor. Die Reduktion auf die alte (apollinische) Harmonie blieb bis zu Schlegels und Nietzsches Entdeckung des Dionysischen und Tragischen bestehen. »Die edle Einfalt und stille Grösse der griechischen Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der griechischen Schriften aus den besten Zeiten, der Schriften aus Socrates Schule; […].« Er forderte die Orientierung an der unübertroffenen Qualität der antiken Kunst, namentlich der Skulptur. Aber nicht mehr, wie (v.a. in Frankreich) üblich, die römische Kunst galt nun als Vorbild, sondern die griechische, an der Winckelmann die edelste Schönheit normierte. »Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden.« Mit dieser Feststellung beginnt er seine Gedanken. Winckelmanns enorme Wirkung führte dazu, dass in Humanistenkreisen das (an Athen und nicht mehr wie in der Renaissance an Byzanz ausgerichtete) Griechische nun mehr geschätzt wurde als das Lateinische. »Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet […]. Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen; […].« Nicht selten wurde Winckelmanns Idealisierung dabei zu einem platten nos-

Johann Joachim Winckelmann

515 Winckelmann, Porträt von A. R. Mengs (1755); META

Winckelmann 1755, 24

Ebd., 1

Ebd., 2

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Scholtz 1990, 20

Beyer 2006a, 10

Lang 1950

talgisch-romantischen Programm. In der Tat lässt »Winckelmanns rhythmisierte, hymnische Prosa [läßt] die antike Kunst nicht mehr als Werk der Menschen, sondern des Himmels erscheinen, […].« Kunstphilosophisch wichtig war seine Nachahmungstheorie, die sich – konsequent aus seinem Griechen-Verständnis – nicht auf die Natur, sondern auf das ideale Werk der Antike bezog. Die Natur müsse der Kunst weichen. Nachahmung bedeutete hier nicht das »bloße Kopieren antiker Kunstwerke«, sondern die »Übernahme des Prinzips der Idealisierung.« Hier verbergen sich in platonischem Geist einerseits die tiefe Verehrung einer idealisierten Gestalt von Klassizität und außerdem ein kräftiges Stück cartesianischer Rationalismus. In Rom, das für ihn deshalb ein akzeptabler Ersatz für Athen war, weil er in der römischen Kunst ohnehin nur eine Nachahmung der griechischen sah, arbeitete Winckelmann, als er 1755 in der Stadt eintraf, zuerst als Reiseführer und Bibliothekar, bis ihn der Papst 1763 mit der Aufsicht über die im Vatikan befindlichen antiken Kunstwerke betraute. Dort verfasste er – zur Zeit der Ausgrabungen in Paestum und Herkulaneum – sein Hauptwerk: Die Geschichte der Kunst des Altertums (1764). Schon 1758 und danach noch öfters hatte Winckelmann die Ruinen von Paestum besucht und sich über die Nachlässigkeit der Ausgräber gewundert, die diese Entdeckungen noch nicht beschrieben hatten, während sich die englischen und französischen Architekten und Reisenden dafür ausgiebig interessierten. 1764 erschien in Paris ein Werk mit Stichen von den antiken Tempeln von Gabriel Pierre Martin Dumont. Winckelmann machte die Situation in einem Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen (1762/1764) in ganz Europa bekannt und brachte Klärung in die vielen kursierenden Gerüchte über die Ausgrabungen am Golf von Neapel. Der Zugang zu den Grabungsstätten war streng beschränkt und der König von Neapel und Sizilien, Carlo V. (der spätere Karl III. von Spanien), ließ 1757 seine Sammlung in einem aufwendig illustrierten Werk (Le Antichità di Ercolano) publizieren. Es konnte nicht käuflich erworben werden, sondern diente als Staatsgeschenk. Der Einzige, den Winckelmann in diesem Zusammenhang mit großem Lob bedachte, war der Schweizer Militäringenieur Karl Weber, der in den Vesuvstädten Grabungen mit wissenschaftlichen Methoden und einem exakten Grabungstagebuch durchführte. Aus heutiger Sicht muss man sich fragen, ob sich die Anlagen nicht besser erhalten hätten, hätte man sie unter den Lava- und Bimssteinschichten belassen, denn in unseren Tagen nehmen sie aus Geldmangel des italienischen Staates zum zweiten Mal erheblichen Schaden. Die Tempel von Paestum waren die einzige griechische Architektur, die Winckelmann aus eigener Anschauung kannte. Allerdings war die Zuschreibung der dorischen Tempel bis Ende des 18. Jh.s unklar und umstritten. Es gab eine Diskussion größeren Ausmaßes zu diesem Thema. Die Geschichte der Kunst des Altertums ist eine Erzählung der griechischen Kunst nach dem kulturphilosophischen Muster von Ursprung, Wachstum, Reife und Verfall. Winckelmann sprach vom »älteren Stil«, dem »großen Stil« und »schönen Stil« und dem »Stil der Nachahmer«. Die Einteilung der griechischen Kunst in Epochen war ebenso neu wie die deutliche Trennung von griechischer und römischer



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

Kunst. Das Werk hatte durchaus eine pädagogische Absicht. Es ging ihm um die Etablierung einer neuen Kunstnorm nach dem Maßstab des Griechischen. In den meist nur in römischer Kopie erhaltenen, überwiegend aus hellenistischer Zeit (wenngleich Winckelmann die Werke in der Regel in die klassische Zeit datierte) stammenden Kunstwerken sah er das vorbildliche Schönheitsideal – für ihn programmatisch exemplifiziert im vatikanischen Apoll vom Belvedere (die römische Kopie hielt er für das griechische Original, das aus dem 4. Jh.a stammt). Die Ursache dieser Schönheit liege im Idealbild des menschlichen (männlichen) Körpers. Es ging ihm also nicht primär um die Statue, sondern um das geistige Konzept, das ihr zugrunde lag. Neben der reichen griechischen Dichtung und dem Mythos, die diese Kultur so einzigartig machten, reihte Winckelmann die einst als schweißtreibend abgewertete Bildhauerei auf der Grundlage dieses geistigen Gehalts an die oberste Stelle im Paragone der Künste. Der Grieche sei durch seine Menschenliebe, durch geistige und sportliche Erziehung, durch seine Gesundheit bis hin zur ungezwungenen Kleidung und dem idealen Klima, in dem er lebte, zu solcher Schönheit fähig gewesen. Solch anthropologische Charakterisierung bediente sich ähnlicher Überlegungen, wie sie auch Jean-Baptiste Du Bos anstellte. Die Ruhe der Seele des Griechen läutere alle Leidenschaften zu eben dieser »stillen Größe«. Schönheit verbindet sich mit dem Eros des Männlichen und in der Beschreibung des Apolls vom Belvedere kann Winckelmann in der Unsterblichkeit des Gottes auch gleich die Unsterblichkeit der Schönheit beschreiben, die sich in der Kunstwerdung ereignet: »In der Ruhe und Stille des Körpers offenbart sich der gesetzte große Geist […] Diese vorzügliche und edle Form einer so vollkommenen Natur ist gleichsam in die Unsterblichkeit eingehüllt, und die Gestalt ist bloß ein Gefäß derselben; ein höherer Geist scheint den Raum der sterblichen Teile eingenommen.« Gewirkt hat diese Sicht auf ein antik-humanistisches Bildungsideal. Goethe, der an Winckelmann schätzte, dass er das Christliche aus der Antike entfernt und diese endlich heidnisch interpretiert hat, gab eine stupende Erklärung zur waghalsigen Griechen-Deutung: Demnach habe der homosexuelle Winckelmann in der antiken männlichen Figur seine eigene Befreiung aus der muffigen moralisierenden Klerikerwelt zelebriert und der Weg zum Heidentum habe ihn zu einer ästhetischen Sicht befreit. Winckelmanns Beurteilungen basierten auf einer empirischen Basis. Er untersuchte und vermaß die Kunstwerke ausführlich. In einer an die Gestaltpsychologie erinnernden Methode setzte er als Erster den Teil für das Ganze, indem er gefühlvoll rekonstruierend die Teile zu einer Einheit fügte. Die harmonische Verbindung schöner Teile in einem Ganzen mache Schönheit schlechthin aus. Sie sei das Gegenteil von Vereinzelung und Teilhaftem: »In jedem Theile dieses Körpers offenbart sich, wie in einem Gemälde, der ganze Held in seiner besonderen That, und man sieht, so wie die richtigen Absichten in dem vernünftigen Baue eines Palastes, hier den Gebrauch, zu welcher That ein jedes Theil gedient hat.« Der Einzelne wird nicht als Individuum genommen – die karikierenden Charakterköpfe Franz Xaver Messerschmidts standen dafür als Beispiel –, sondern als

516 Apollo von Belvedere, Kopie eines Bronzeoriginals (350–325a); MV

X.1.3.2.3./X.2.6.2.

5.2.1.

Winckelmann 1847, 69

Goethe 1805b, 285ff

Winckelmann 1847, 68

128

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Maaz 2006, 285

zit. nach Winckelmann 1847, 410

Winckelmann 1764, 130

Winckelmann 1734, 147

Winckelmann 1764, 430

Teil der Gattung Menschheit. Ihr ist die pädagogische Absicht in der Kunst entgegen zu bringen. »[…] die artifiziellen Überhöhungen des Barock weichen der lauteren Ästhetik des Klassizismus, die zuallererst Reinheit der Formen fordert, da sich in ihr die Reinheit des Denkens ausspricht.« Besonders bekannt, weil darauf verschiedentlich, von Herder, Goethe, Anselm Feuerbach bis zu Gotthold Ephraim Lessing, reagiert worden ist, wurde Winckelmanns Deutung der Laokoongruppe. Die berühmte Figur wurde 1506, im Jahr der Grundsteinlegung von St. Peter, vom Weinbauern Felice de Fredi auf dem Esquilin gefunden. Winckelmann war »geneigt, dasselbe für ein Erzeugniß aus der schönsten Blüthezeit der griechischen Kultur zu halten«, wie der Kommentator in der Werkausgabe von 1847 anmerkt. Er insinuierte eine Autorschaft des Phidias. Nach heutigem Stand handelt es sich freilich um eine römische Arbeit aus der Zeit von Kaiser Tiberius. Es ist die Kopie eines verlorenen späthellenistischen Originals im Umfeld Pergamons (um 200a/140a). Die Figurengruppe bildete eine Grundlage für die später zum größten Museum der Welt gewordene Vatikanische Sammlung. Winckelmann sah in der Skulptur – ähnlich wie in dem ähnlich emphatisch beschriebenen Torso und dem bereits erwähnten Apoll im Statuenhof des vatikanischen Belvedere – das klassische Ideal der Vermeidung jeder Emotion, der edlen Haltung selbst angesichts extremster Empfindungen. Sie versammelt (seiner Meinung nach) fehlende Emotion, antikische Nacktheit, edle Materialien (dazu zählten weißer Marmor und Bronze), Linie und Kontur statt Expression. Die Linie steht für Wahrheit und Unveränderlichkeit, für Vernunft und Schönheit des Gebildeten. Demgegenüber sei die Farbe Ausdruck des Frivolen und Sinnlichen. Maßstab für die Schönheit bleibt Gott als höchste Schönheit, während jede endliche Schönheit daran zu messen ist: »Die höchste Schönheit ist in Gott und der Begriff der menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden […].« Solche ideale Schönheit entspricht nach platonischer Üblichkeit der Harmonie und Einheit, wird also zum Gegenentwurf des Geteilten und Einzelnen. Daher lässt sich die Schönheit nicht begrifflich definieren, sondern nur in Annäherungen einkreisen. Zu ihrer Erfahrung gehört eine besondere Fähigkeit, die durch Ausbildung gestärkt werden kann. »Die Schönheit wird durch den Sinn empfunden, aber durch den Verstand erkannt und begriffen […].« Man könnte in solchen Äußerungen die gelungene Synthese von Platonismus, Rationalismus und Klassizismus erkennen: Die Klarheit der Vernunft in der Sinnlichkeit als demiurgisches Programm, das sowohl im Rationalismus als auch im Klassizismus eine Umsetzung erfuhr. Der Augenschein der von diesem Ideal abweichenden zeitgenössischen Kunst brachte ihn in seiner Geschichte der Kunst des Altertums zur Klage über den Abschied von der Kunst – »So wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hofnung ihn wieder zu sehen, mit bethraenten Augen verfolget […].« Das klingt ähnlich wie bei Hegel, war aber anders gemeint. Während Hegel auf den ontologischen Charakter der Kunst anspielte, ging es Winckelmann um das Ende der idealisierten Schönheit, die eine Vollendung der unzulänglichen Natur meinte. Auch Winckelmann stand



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

in der Tradition von Platons Prozessverständnis, dem ständigen Umbau der aus der Harmonie gefallenen Natur in eine idealisierte Gestalt. Besonders die Architektur und Kunst seiner Zeit betreffend, ging es Winckelmann um einen nachhaltigen Revisionismus. Sie habe mit ihrer Relativierung und ihrer Pluralisierung aus seiner Sicht den Kompass klarer Regeln verloren. In einem Brief aus Rom schrieb er (vermutlich) 1756 an einen Freund: »Die Neueren sind Esel gegen die Alten, von denen wir gleichwohl das allerschönste nicht haben, und Bernini ist der größte Esel unter den Neueren, die Franzosen ausgenommen, denen man die Ehre in dieser Art lassen muß.« Winckelmanns erhebliche Wirkung beschränkte sich auf die Idealisierung und festigte eine eigenwillige Sicht der griechischen Antike für lange Zeit. Der 1720 in Winterthur geborene Theologe und Geistliche Johann Georg Sulzer, der seine Laufbahn in Berlin absolvierte, war ein Enzyklopädist aller denkbaren Genres der Kunst. Er gab eine Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771–1774) heraus, die erste deutschsprachige Enzyklopädie zur Ästhetik, in der er in etwa 900 Artikeln den Stand des kunstphilosophischen Wissens der Zeit zusammenfasste. Die Beiträge versammeln Ideen der Aufklärung und haben im Geiste Winckelmanns eine klassizistische Ausrichtung. Schönheit zeigte sich für Sulzer im Sinnlich-Vollkommenen. In der Kunst sah er das Bemühen um Veredelung des Menschen und die Förderung des Wahren und Guten sowie höchster Sittlichkeit. Zur »höchsten Classe« zählte er jene Künstler, die aus den Gegensätzen der Natur »durch die schöpferische Kraft ihres Genies eigene idealische Formen« bilden. Das Anliegen hat eine ähnlich pädagogische Ausrichtung wie jenes von Claude-Nicolas Ledoux, der sein Werk allerdings erst 1804 publizierte. Vermittelt wird dies bei Sulzer im kontemplativen Genießen des Schönen. Dieses Genießen ist nicht nur eine sinnliche Rezeption, sondern – vielleicht im Sinne der antiken Muße – eine Verbindung von Empfinden und Erkennen. Die Darstellung des menschlichen Körpers muss bedenken, dass der Körper nur die Form der Seele ist. Die Seele wiederum ist ein Bild des höchsten und vollkommensten Wesens. Vor allem die Bildhauerei muss der Wahrheit dienen, mehr als die zur Illusion neigende Malerei. Dem Hässlichen schrieb Sulzer die Funktion zu, Abscheu vor dem Bösen auszulösen. Und um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, empfahl er eine staatliche Regulierung der Kunst und der Sprache: »Wichtiger wäre es, in einem gesitteten Staat Gesetze zur Verhütung grober Fehler gegen die Baukunst einzuführen.« Sulzers Ansichten erregten bereits bei den Zeitgenossen Anstoß, spielte die Kunst doch bereits mit dem Gedanken der Autonomie. Gegen eine so massive Idealisierung und strikte Ausrichtung am Griechischen, wie sie Winckelmanns verfocht, gab es bereits zeitgenössischen Einspruch. 1755 traf Winckelmann in Rom ein und löste eine heftige Debatte über seine Griechenverehrung aus. Giovanni Piranesi steuerte mehrere polemische Schriften zu diesem Streit bei, darunter Della magnificenza ed architettura de’Romani (1761). Die Schrift richtete sich neben Winckelmann auch gegen andere Kunsthistoriker, die eine ähnliche

Winckelmann in Goethe 1805a, 86

Johann Georg Sulzer

Sulzer, zit. nach Rauch Alexander in Toman 2009, 330 VIII.3.2.3.1.

Sulzer 1771, 317

130

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Humboldt 1934, 42

Gotthold Ephraim Lessing

Scholz Oliver in ÄGB 1, 652 Anglet Andreas in Majetschak 2005, 147

Meinung vertraten, den schottischen Maler Allan Ramsay und den französischen Architekten und Archäologen Julien-David Le Roy, der als Stipendiat der französischen Akademie ein Werk über die Ruinen der schönsten Monumente Griechenlands verfasst hatte (Ruines des plus beaux monuments de la Grece; 1758). Für Le Roy waren die Römer reine Kopisten und ihre Architektur sei, gemessen an der griechischen, dekadent. Piranesi hingegen stellte mit Berufung auf die römische Geschichtsschreibung die Römer als Erben der (viel talentierteren) Etrusker dar, die ihre orientalischen Vorbilder funktional weiterentwickelt hätten, während die Griechen bloß in Ornamentik abgeglitten seien. Da Piranesi die Etrusker als Erben Ägyptens sah, umging er elegant die Griechen als Vorbilder Roms. Seine Veduten der Paestum-Tempel verschleierten in der damaligen allgemeinen Unsicherheit der Zuschreibungen die griechische Herkunft. Er legte eine römische Form nahe. Gleichsam zur Fundierung seiner These sparte er nicht mit ägyptisierenden Motiven. Zwar war die Griechen-Lobby eher in der französischen Gelehrtenwelt angesiedelt – von dort bekam Piranesi auch ordentlich Widerspruch –, in der weiteren europäischen Rezeption fand das römische Paradigma dann allerdings eher in der französischen, das griechische in der deutschen Klassik Widerhall. Dort wurde immer wieder eine Wesensverwandtschaft des Deutschen mit dem Griechischen beschworen. »Griechischer Geist auf deutschen geimpft« ergibt das, »worin die Menschheit, ohne Stillstand, vorschreiten kann.« Der Streit um Harmonie und Dauer wiederholte nicht nur den alten Zwist zwischen Renaissance und Manierismus, sondern er war auch ein Einspruch gegen die hinter dieser Ästhetik vermutete Legitimierung von politischen Verhältnissen. Es kann daher nicht überraschen, dass vor allem in Kreisen der Aufklärung das Engagement groß war. In seiner fragmentarisch gebliebenen – vielleicht durch einen Brief seines engen Freundes Moses Mendelssohn angeregten – Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) setzte sich Gotthold Ephraim Lessing allgemein mit der Eigenart des Poetischen gegenüber den übrigen schönen Künsten und hart und ironisch mit Winckelmanns Antikendeutung im Einzelnen auseinander. Lessing hatte eine große Bedeutung und das »Anregungspotential des Laokoon hat sich bis heute nicht erschöpft.« Sein Anliegen als Theoretiker der Literatur und Schriftsteller war die Aufhellung der gesellschaftlichen und politischen Relevanz von Literatur. Er thematisierte in seinen Dramen das »Individuum in Konflikten zwischen seinem moralischen Gewissen und den Abhängigkeiten und Zwängen, in die es aufgrund seiner sozialen Stellung und seines Geschlechts […] gerät.« Solcher Realismus machte ihn sensibel für die wahren Beweggründe individuellen Handelns und zum Kritiker von Winckelmanns Deutungen. Gegenüber der Sicht der gedämpften Affekte verwies Lessing, der als Erster die falsche Zuschreibung der Laokoon-Gruppe an Phidias revidierte, auf Vergils emotionsgeladene Schilderung der Szene im 2. Buch der Aeneis. Auch an anderer Stelle der griechischen Literatur fand Lessing die Beschreibung von Gefühlsausbrüchen. Dass der trojanische Priester Laokoon nicht brüllte, sei nur ein ästhetisches Zugeständnis an die »schöne Kunst« und habe nichts mit der vermeintlichen Gelassenheit der



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

griechischen Seele zu tun. Die unübersehbare Differenz war nicht nur eine Abkehr vom alten Prinzip des ut pictura poesis. Lessing verweigert sich der Verpflichtung der Poesie, »Bilder« zu schaffen, ihrer »Schilderungssucht«, sowie jener der Malerei, »zu reden«, ihrer »Allegoristerei«. Er stellte sich damit gegen eine verbreitete Mode von »malerischen Beschreibungen« in der Literatur. Und er stellte sich gegen die Präferenz der Malerei und verteidigte die Überlegenheit der Literatur. Körper sind die Gegenstände der Malerei, während Handlungen jene der Dichtung sind. Weil Körper ebenfalls in der Zeit stehen, »kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper«, wie er im »16 seines Laokoons schreibt. Auf der anderen Seite brauchen Handlungen Körper. Ein anderer Punkt ist, dass Dichtung nicht nur Sukzession, sondern auch das Schreckliche darstellen kann. »Bewegungen können durch Worte lebhafter ausgedrückt werden als Farben und Figuren; folglich wird der Dichter seine körperlichen Gegenstände mehr durch jene als durch diese sinnlich zu machen suchen.« Demgegenüber bliebe Winckelmanns Diktum von der edlen Einfalt und stillen Größe allenfalls (und nur!) für die bildenden Künste ästhetisch rekonstruierbar. Denn mit Verweis auf die griechische Tragödie könne gefolgert werden, dass das Stoische allenfalls ein Prinzip des nordischen Menschen sei, während der Grieche »fühlte und fürchtete«. Lessings Kritik an Winckelmanns Deutungstheorie (die man zugleich als frühes Plädoyer für die Kunst der Performance lesen könnte) richtete sich unterschwellig auch gegen den französisch geprägten Klassizismus und wollte den Raum bereiten für eine deutsche Nationalliteratur. In seinem Laokoon entwarf Lessing auch eine in der folgenden Kunstgeschichte immer wieder aufgegriffene Unterscheidung der Künste in Raum- und Zeitkünste. Zu den Raumkünsten gehörten Architektur, Plastik und Malerei, zu den Zeitkünsten Literatur und Musik. Gestalten die erstgenannten Künste allesamt einen Raum (wenngleich in der Malerei nur illusionistisch auf einer zweidimensionalen Fläche) und haben eine deutliche Materialität, sind Literatur und Musik weitgehend immateriell und auf einer Zeitkoordinate entschlüsselbar. »Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.« Damit stünde sie über den bei Lessing weitgehend statisch und starr gedachten »bildenden Künsten«, die Körper im Raum schildern, während die Poesie die rezeptive Wahrnehmung der Menschen besser beschreiben kann. Nur die Poesie vermag sozusagen die Einbildungkraft für die Geschichte um die in der bildenden Kunst dargestellten Körper in Bewegung zu setzen. Dass diese Sicht die bildenden Künste nicht angemessen beschreibt, ist unbestritten. Selbstverständlich kommt auch den bildenden Künsten ein dynamischer Aspekt zu und ebenso selbstverständlich vermögen bildende Künste die Einbildungskraft im Sinne Lessings Poesie-Deutung zu beschäftigen. Den Ausdruck »bildende Künste« für Malerei und Bildhauerei führte Lessing ein und ersetzte damit den bislang üblichen der »schönen Künste«. Dennoch blieb ihm Schönheit ein wichtiger Begriff, den er in die Richtung einer Rezeptionsästhetik verschob. Es ist weniger bedeutsam, was man sieht, als wie man es sieht. Wichtig ist ihm die Wirkung in der produktiven Rezipientin. »[…] was wir in einem Kunstwerke schön finden, das findet nicht unser Auge, sondern unsere Einbildungskraft

Lessing 1766, 215/224

Ebd., 217

X.2.6.

Ebd., 215, 238 Ebd., 103

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ebd., 64

durch das Auge schön.« Bliebe die Malerei rein nachahmend, müsste sie Hässliches zeigen, aber die Malerei als schöne Kunst vermeidet das. Das sei ja der Grund, weshalb Laokoon keinen Schmerz zeigt und nicht etwa seine vermeintlich schöne Seele. Lessings Distanz zur Idealisierung der Antike war zugleich eine historische Kontextualisierung der Kunst, was letztlich eine neue Form der Kunstkritik prägte. Er vertrat eine Gleichwertigkeit von Gegenwart und Antike, ja entschied sich im Zweifel für die Gegenwart. Lessing unterschied drei Ebenen der Auseinandersetzung mit Kunst. Der »Liebhaber« erfreut sich am Schein der Kunst, der »Philosoph« reflektiert über dieses Phänomen des Gefallens und findet als Grund die Schönheit und der »Kunstrichter« vermittelt zwischen diesen beiden Positionen. Dabei verfolgt dieser auch eine pädagogische Absicht der Schärfung der Urteilsfähigkeit der Rezipientin.

4.2.4.3. Vom Barock zum Klassizismus in der Architektur In der Architektur geschah der Paradigmenwechsel vom Barock in den Klassizismus in Frankreich und in England. Zwar lagen die Wurzeln für die klassische Sicht – die Formensprache der Renaissance-Klassik – naturgemäß in Rom. In Frankreich und England begann jedoch mit der Verehrung Vitruvs und Palladios ein Klassizismus, der nach ganz Europa und damit auch nach Italien zurückreflektierte. Nun war Palladio, der bereits manieristische Tendenzen hatte, kein problemloses Vorbild. Genau an dieser heiklen Stelle entbrannten heftige Debatten darüber, inwieweit »Fehler« Palladios einer (klassizistischen) Korrektur bedürften.

4.2.4.3.1. Höhepunkt und Erosion des Klassizismus in Frankreich und England Kruft 1985, 133 VI.7.1. VI.2.0.

Claude Perrault

»Die Anfänge der Architekturtheorie in Frankreich waren zunächst ausschließlich durch italienisches Denken bestimmt.« Hanno-Walter Kruft untermauert diese These mit mehreren Hinweisen: Um 1500 hielt Fra Giovanni Giocondo in Paris Vorlesungen über Vitruv. 1511 erschien die erste bebilderte italienische VitruvAusgabe, 1546 folgte eine französische Übersetzung von Colonnas Hypnerotomachia Polyphili, 1547 wurde Vitruvs Traktat und 1553 jener Albertis ins Französische übertragen. Nun war Frankreich gleichzeitig neben England das Ursprungsland des Klassizismus in der Architektur. Als ein erster Name wird gerne jener des 1598 geborenen François Mansart genannt. Er war nie in Italien und legte seine Gedanken nicht schriftlich nieder. Seine Bauwerke zeichnen sich durch Klarheit und Einfachheit aus, wie es nur jemand im Kraftfeld des Cartesianismus umsetzen konnte. Doch richtig in Schwung geriet die Klassizismus-Debatte mit dem 1613 in Paris geborenen Claude Perrault. Perrault war von Hause aus Mediziner und Physiker, was ihm die Nachrede eines Dilettanten einbrachte. Dies war freilich eher eine Polemik jener vielen Neider, denen der in der Querelle des Anciens et des Modernes verhedderte Perrault zu wenig klassizistisch ausgerichtet war. Ihm wurde (unter tatkräftiger Mithilfe von Colbert) das große Prestigeprojekt der Neugestaltung der Ostfassade des Louvre (allerdings unter der Bauaufsicht des mitwirkenden Le Vau und des vermutlich primären Ideengebers François d’Orbay) anvertraut. Er setzte sich gegen



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

den großen Bernini durch, der eine großartige, aber eben sehr barocke Lösung angeboten hatte. Perrault wählte mit einer doppelten Säulenstellung (colonnes couplées) auf glattem Gebälk (gegen Blondel) zwar keine antike, wohl aber eine klassizistische Lösung. Klassizismus bedeutete für ihn jedoch kein strenges, unveränderliches Regelwerk, sondern die sich im Klassizismus manifestierende Abweichung von der Antike führte er auf den sich ändernden bon goût zurück. Eine solch pragmatische Haltung löste in der Akademie bereits einige Aufregung aus. Die Säulenordnung, die man anhand von Palladios Traktat ausschweifend kom­mentierte, blieb der Stoff für die Gretchenfrage: barock oder klassizistisch? Am Louvre war dies erstmals durchexerziert und normiert worden. Die antike Säulenordnung mit ihren fünf Varianten (dorisch, ionisch, korinthisch, toskanisch und komposit, eine Mischung aus ionisch und korinthisch) bildete eine Grammatik, die nach gewissen Regeln kombiniert werden musste. Eine ionische (also die einfachere) Säule durfte nicht über der korinthischen Ordnung stehen, sondern blieb ihr untergeordnet. Das Gesamtarrangement der Säulen prägte den Charakter eines Gebäudes. Wurde in der Militärarchitektur, beispielsweise bei Zeughäusern, gerne die kraftvolle dorische Ordnung verwandt (Borromini wählte sie auch für den römischen Palast der Glaubenspropaganda, jener Institution, die Stärke und Macht des Glaubens verteidigte), so galt für Kirchen die höchste und schmuckreichste, die korinthische Ordnung, als erste Wahl. In der Dehnung dieses Gesetzes entschied sich, ob eine Ordnung barock oder klassizistisch ausfiel. Man konnte Züge verstärken oder schwächen. Schönheit war dann jedenfalls eine Frage der jeweiligen Proportion. Dabei galt, dass die harmonischen Säulenstellungen eine Nachahmung der idealen Proportionen der Natur, damit auch des menschlichen Körpers, sein mussten. Ohnehin hatte die Säule mittlerweile nur mehr rhetorischen Charakter und diente nicht mehr dem Tragen einer Last. Sie war ein ideales Bauglied, um einerseits der klassischen Ordnung zu entsprechen, andererseits dem jeweiligen Geschmack Genüge zu tun. 1673 erschien eine auf Anregung Colberts in Angriff genommene Vitruv-Übersetzung von Perrault (die die Unklarheiten der Übersetzung von Jean Martin aus dem Jahr 1547 beseitigen sollte). Perrault, der wenige eigenständige theoretische Schriften verfasste, verbarg seine kunstphilosophischen Ansichten in den Erläuterungen zur Übersetzung. Er präsentierte einen romantisierend-klassizistisch übersetzten Vitruv mit einer gehörigen Prise Nationalismus, denn das hatte in der Bevorzugung des Franzosen gegenüber Bernini eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. De facto lässt sich in Perraults Version kein dogmatisches Regelwerk für eine normierte Proportion mehr finden. Vielmehr obliege es »einer gesellschaftlichen Absprache, was als ›schön‹ zu gelten habe.« Er mahnte neben der normativen Seite der Proportionslehre die Berücksichtigung von Gewohnheit und Tradition (par un consentement des architectes) an.

2.2.2.

517 / 518 Louvre, Blick durch den Arc de ­Triomphe du Carrousel; Paris

Freigang Christian in ATh, 248

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Rykwert 1980, 23

4.2.4.1.

Petzet 2000, 319ff Jean-Louis de Cordemoy

Kruft 1985, 158

Auf welche Seite des Streits gehörte dieser Perrault nun, der wie seine Vorbilder in der Antike – sogar mit Berufung auf Augustus und dessen reiche Bautätigkeit in Friedenszeiten – Ludwig XIV. dafür lobte, Frankreich die führende Stellung in der zeitgenössischen Architektur ermöglicht zu haben? Die »Übersetzung« der antiken Autoren in eine nationale Sprache ging einher mit einer Erosion des »alten« Klassikideals, was Perrault in der Querelle vordergründig auf die Seite der Modernen rückte. Trotzdem ist die Antwort nicht trivial und noch immer Gegenstand der Diskussion. 1683 folgte ein Werk zur Säulenordnung (Ordonnance des cinq espèces de colonnes selon la méthode des anciens). Auf dem Buch ist die Allegorie der Architektur abgebildet, die auf Vitruv weist. In der Tat bröckelte auch in dieser Abhandlung die glatte Fassade der Akademieästhetik und ihre Festschreibung auf Vitruv. Der französische Priester, Schriftsteller und Musiker René Ouvrard bemerkte dazu, Perrault habe Vitruv französisch zu sprechen gelehrt. Ouvrard stand freilich mit seinem strengen Klassizismus und der Gleichsetzung von Architektur, Körperproportionen und Harmonielehre der Musik gegen Perrault, bei dem sich Tradition und Konvention vor eine kosmische Grundlegung schoben. Der Mediziner Perrault, der sich in der Wahrnehmungslehre auskannte und einen Empirismus im Sinne John Lockes (es gibt Mutmaßungen über ein persönliches Treffen der beiden in Frankreich) vertrat, legte auf Phantasie und empirische Erfahrung ebensolchen Wert wie auf die universellen Regeln der klassischen Harmonielehre. Hier tat sich die in die Moderne weisende Spaltung von Schönheit als universelle dogmatische Regel (basierend auf ihrer ontologischen Grundlegung) auf der einen und Schönheit als bloße Konvention auf der anderen Seite auf. Die Schönheit eines Gebäudes hing aus solcher Sicht unter anderem mit seiner Funktion zusammen, zu der auch der Wert des Baumaterials und seiner Verarbeitung gehörten. Bereits diese Abweichung galt als Skandal und es formierten sich Verteidiger der reinen Lehre, etwa François Blondel, der zu Perraults Gegenspieler werden sollte, oder Boileau-Despréaux. Perrault zog trotzig die Gegenwart der Antike vor und das Französische den antiken Sprachen. Doch seine Aufgeschlossenheit änderte nichts daran, dass er seine meisterliche Holzbrücke über die Seine verkleiden lassen wollte, um sie vornehmer zu machen. Zimmermannsarbeiten hatten den Geruch des Handwerklichen und waren nicht Ausdruck der Bildung des Architekten. Perrault hatte einige Gefolgsleute, die sich von der Akademiedoktrin befreiten. Jean-Louis de Cordemoy, über dessen Leben wir schlecht unterrichtet sind, schrieb dazu einen wichtigen Traktat: Nouveau Traité de toute l’Architecture (1706). Die Ästhetik eines Gebäudes (die aus der klassischen Literaturform abgeleitete bienséance) entsprach nicht mehr einem vorgegebenen Schema, sondern war Resultat von Gewohnheit und Funktion (usage und commodité). Mit diesen Bestimmungen kollidiert zwangsläufig die alte Symmetrieforderung. Allerdings erhob Cordemoy auch den vermeintlich gegenläufig klingenden Vorschlag nach geometrischen Formen und einer rationalen und logischen Architektur. In der Kunstgeschichte wird Cordemoy dafür sogar als Wegbereiter des Funktionalismus angesehen. Er stellte die griechische und die gotische Architektur im Hinblick auf logische Stringenz und



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

konstruktive Wahrheit auf eine Stufe. Im Kirchenbau konnte er sich eine Verbindung von Gotik und griechischen Formen vorstellen, ohne freilich die griechische Architektur im Original zu kennen. Seine Beispiele stammten alle aus dem frühchristlichen Kirchenbau. Besonders vehement zog François Blondel gegen Perrault und seine Gefolgsleute in seinem fünfteiligen Cours d’architecture (1675–1683) zu Felde. Es war die Publikation seiner Vorlesungen an der 1671 gegründeten Académie Royale d’Architecture, deren erster Direktor er lange Zeit war. Die Akademie war dazu gegründet worden, um einerseits den vermeintlich erreichten Höhepunkt antiker Harmoniekonzeption unter Ludwig XIV. zu kodifizieren und andererseits – davon ausgehend – einer Architekturtheorie universell gültiger Schönheitsnormen den Weg zu bereiten. Dazu gehörten auch empirische Antikenvermessungen. Als Perraults Vitruv-Übersetzung dort öffentlich vorgetragen wurde, erkannte man anfangs die den Klassizismus unterminierende Sprengkraft noch kaum. 1673 fand dort auch eine Lektüre von Palladios Quattro Libri statt. Aus einem Protokoll einer solchen Sitzung vom 30. Mai, an der unter anderem Blondel und Félibien teilgenommen hatten, lässt sich entnehmen, dass man den Finger auf den wunden Punkt der Abweichung zwischen Theorie und Praxis legte. »An palladianischen Kompromissen und Neuerfindungen ist man an der Pariser Akademie nicht interessiert.« Blondel, der weite Reisen nach Italien, Griechenland, Ägypten und in die Türkei unternommen hatte, war eigentlich Mathematiker. Als Architekt ist er nur mit einer Arbeit (Port Saint-Denis; 1672) dokumentiert. Insofern überrascht sein Interesse an der Forschung der Proportionen nicht. Die Fassaden Palladios las Blondel von den musikalischen Konsonanzen her. Sein Cours war geradezu eine Abhandlung von musikalischen Proportionen in der Architektur. Darin vermutete er die Ursache von Schönheit und grenzte sich damit klar gegen Claude Perraults Hinweis auf Gewohnheit und empirische Erfahrung ab. Blondel berief sich gegen Perrault auf die verbindliche und vorbildhafte Harmonie einer jeden Architektur. Er leitete sie inklusive der entsprechenden Säulenordnung aus der Natur, das heißt in diesem Fall: von der Urhütte Vitruvs, ab. Ebenso übernahm er die Zuordnung der Säulenordnung von Vitruv und charakterisierte »die toskanische Ordnung als gigantisch, die dorische als herkulisch, die ionische als matronal, die komposite als heroisch und die korinthische als jungfräulich.« Schon Sebastiano Serlio war der Überzeugung, dass sich die toskanische Ordnung für den Festungsbau, die dorische für Bauaufgaben, die sich auf Christus und männliche Heilige beriefen, die ionische für weibliche Heilige und die korinthische für die Jungfrau Maria und Heilige mit unbeflecktem Lebenswandel eigneten. Eine nachgerade ideale Umsetzung seiner Vorstellungen war für Blondel das Pantheon in Rom. Dennoch war nach seiner Meinung die ideale Harmonie bereits in der Antike (das galt selbst für das Pantheon) mit Fehlern behaftet gewesen, was ihn – in diesem Fall ähnlich wie Perrault, aber in anderem Sinn – zu einer Lobeshymne auf den regierenden Sonnenkönig veranlasste. Unter Ludwig XIV. sei Architektur und Kunst der Antike noch überboten und das Ergebnis endgültig kodifiziert worden.

François Blondel

Freigang Christian in ATh, 258 Kruft 1985, 150

Oechslin 2008, 42

Hoppe 2003, 163 III.3.4.3.

Kruft 1985, 83

136

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Fréart de ­Chambray

de Chambray, zit. nach Kernbauer 2012, 188

Pierre Le Muet

VI.7.1. 4.1. Charles d’Aviler

Freigang Christian in ATh, 264ff

Germain Boffrand

Roland Fréart de Chambray war ein Kunsttheoretiker ohne praktische Erfahrungen und vertrat einen strengen Klassizismus. Bei einem mehrjährigen Romaufenthalt pflegte er Kontakte zu Nicolas Poussin. Fréart de Chambray studierte in Rom die klassischen Denkmäler und fertigte Zeichnungen und Abgüsse an. Anschauungen von griechischer Architektur hatte er nicht, was ihn aber nicht von großer Griechenlandbegeisterung abhielt. Seinen Klassizismus gründete er auf Palladio, dessen Quattro libri er ins Französische übersetzte (erschienen 1650). Er führte seine Haltung in einem Traktat über einen Vergleich der antiken und modernen Architektur näher aus. Aus der vitruvianischen Säulenordnung machte er (unter Auslassung der »römischen« Ordnungen toskanisch und komposit) einen ästhetischen Dreiklang, der wenig mit der realen, aber sehr viel mit einer idealisierten griechischen Architektur zu tun hatte, die nun noch dazu als Grundlage eines französischen Nationalstils dienen sollte. In dem 1662 erschienenen Traktat Idée de la perfection de la peinture setzte er sich kritisch mit der Kunstrezeption von Laien auseinander. Weil es beinahe niemanden gibt, der keine Neigung zur Malerei habe, mische sich das Volk in derart diffizile Themen ein und könne sich nicht zurückhalten, »seine Meinung dazu zu sagen: so dass es gar scheint, dass sie auf eine Art die Angelegenheit aller sei.« Dass sich ein kodifizierter Klassizismus auch für die praktische Umsetzung eignet, ja dass man daraus zu einer Rationalisierung des Bauens, namentlich des städtischen Hausbaus gelangt, wollte Pierre Le Muet mit zwei Handbüchern, wovon eines vom Bauen für jedermann (Manière de bien bastir pour toutes sortes de personnes; 1623) handelt, belegen. Darin gab es übrigens keine Spuren eines Palladianismus, obwohl Muet eine Kurzfassung Palladios, ein »Best-Of« sozusagen, herausbrachte. Die strenge Regel wurde bei Muet durch die Gebrauchbarkeit (commodité, bei Vitruv: utilitas) relativiert. Ganz auf den Spuren Vignolas wandelte neben dem Piemonteser Bernardo Antonio Vittone, der seine Traktate Gottvater (dem Stifter jeder Architektur) und der Muttergottes gewidmet hatte, auch der in Paris geborene Augustin Charles d’Aviler. Bei seinem zweibändigen, in mehreren Auflagen erschienenen Cours d’architecture qui comprend les ordres de Vignole (1691) handelt es sich um eine kommentierte Säulenlehre Vignolas, die er nach der Rückkehr von einem mehrjährigen Aufenthalt in Rom herausgab. Er verstand diese Arbeit offenbar als eine patriotische und als Unterstützung der konservativen Bemühung der Kodifizierung einer Architekturdoktrin für die Akademie. Neben Vignola schätzte er Blondel und kritisierte Michelangelo wegen seiner Abweichungen. Allerdings genehmigte sich d’Aviler größere Freiheiten in der bei den Zeitgenossen üblich gewordenen Stilvielfalt der Säulenordnungen gegenüber der rigiden vitruvianischen Ordnung. Neben theoretische Überlegungen treten praktische Hinweise, Musterentwürfe für ein rationalisiertes Bauen bis zu Vorschlägen zur Architektenausbildung. Ähnlich argumentierte Germain Boffrand in seinem zweisprachigen (franz./lat.) Livre d’architecture (1745). Der gebildete Architekt, der sich gerne auf die Dichtung des Horaz berief, war bei Hardouin-Mansart in die Lehre gegangen und hatte üppige Rokoko-Ausstattungen für Innenräume entworfen. Später brandmarkte er überflüs-



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

sige Ornamentik als Entartung. Er suchte nach einem Weg vernünftiger Architektur zwischen völlig regelloser Dekoration auf der einen und einer rigorosen Doktrin auf der anderen Seite hindurch. Dies spiegelte sich in seinem bon-goût-Begriff, den er im Sinne der seit 1734 an der Akademie geltenden moderneren Auffassung an die historische Entstehung von Architekturprinzipien knüpfte. Die Antike sei nur ein Weg der Naturnachahmung, die Gotik, deren Formen er vom Wald ableitete, ein anderer. Dazu passt der möglicherweise durch Boffrand eingeführte Begriff des caractère, der ein Gebäude zu seinem Bauherrn in Beziehung setzt. Diese Anforderung an eine Architektur bildet die Grundlage einer architecture parlante, einer sprechenden Architektur, wie sie namentlich sein Schüler Etienne-Louis Boulleé umsetzte. Zugleich wehrte er sich gegen eine völlige Subjektivierung des Geschmacks und verteidigte die Aufgabe der Akademie, über die Prinzipien der Architektur zu wachen. Musterbücher waren ein verbreitetes Genre der Literatur. Ein besonders aufwendiges hinterließ der in Nürnberg geborene Paulus Decker d. Ä. (Fürstlicher Baumeister Oder: Architectura Civilis; 1711–1716). Aus französischen Quellen, vor allem aus jenen Perraults schöpfend, empfahl Decker den Herrschenden gleichsam einen Mustervorrat an Herrschaftsgebäuden. Das zweibändige Werk blieb mit 130 großformatigen Stichen unvollendet, den geplanten dritten Band verhinderte der frühe Tod. Eine ähnliche Sammlung eines klassizistischen Mustervorrats – darunter Entwürfe für das Muster-Landhaus – hinterließ Charles-Étienne Briseux. Die zweibändige, anonym erschienene Schrift L’Architecture moderne (1728), die Pierre Le Muets einschlägiges Werk ersetzen wollte, sollte den Bauherrn eine praktische Handreichung für Bauvorhaben bieten. Zu dieser Zeit spielte Briseux noch mit Formen des Rokoko. In seinem letzten, 1752 in Paris erschienenen Traktat Traité du Beau essentiel dans les arts stellte er sich gegen jede Rezeptionsästhetik, also gegen die modernen Züge eines Perrault und vertrat vehement eine klassizistische Schönheitskonzeption, die an der Natur selbst Maß nimmt. Dabei hatte er nicht wie Blondel die Urhütte im Auge, die bereits bei den Griechen Abweichungen vom Ideal erfahren habe, sondern er stand dem mittelalterlichen Gedanken von Makro- und Mikrokosmos nahe. »Das Gesetz der harmonischen Proportion dient dazu, Schönheit als Naturprinzip erkennbar zu machen.« Es wird hier eine geradezu physikalische Schönheitskonzeption strenger Proportion vertreten. Das Problem der verbreiteten Regellosigkeit führte Briseux auf die Unkenntnis rationaler Standards zurück. Aber diese allein vermögen aus einer emotionalen Oberflächlichkeit, die an der Regellosigkeit Gefallen findet, zu befreien. »Briseux ist eine Übergangsfigur, als Entwerfer noch weitgehend der Stilsprache der ersten Jahrhunderthälfte verpflichtet, als Theoretiker der Wegbereiter eines neuen Klassizismus.« Ganz im Geiste Perraults verfasste Marc-Antoine Laugier einen Essai sur l’architecture (1753) und Observations sur l’architecture (1765). Beide viel beachteten Schriften hatten eine erhebliche Auswirkung vor allem auf den Sakralbau. Laugier forderte – obwohl selbst Angehöriger des Jesuitenordens (1756 wechselte er zu den Benediktinern) – die Abkehr vom Il Gesù-Barock und im Geiste Rousseaus eine Hinwendung zum Ursprungszustand des Urhüttenparadigmas. Der Ansatz vermied die

Kruft 1985, 162f

Paulus Decker d. Ä.

Charles-Étienne Briseux

Freigang Christian in ATh, 280

Kruft 1985, 165 Marc-Antoine Laugier

138

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

III.2.3.2./VI.7.1.

Jöchner 2008, 397

Freigang Christian in ATh, 311

Kruft 1985, 172

VIII.6.1.1.

Einseitigkeit der hippodamischen Regulierung auf der einen und der Pluralisierung bei Filarete auf der anderen Seite. Laugier redete einer weitgehenden Typisierung der Häuser einer Stadt das Wort, forderte aber gleichzeitig Unterscheidendes, sogar Überraschendes, damit die Stadt Lebensfreude bereiten kann. Das führte nicht inkonsequent dazu, dass Laugier Vergleiche zwischen Stadt- und Gartenbau ziehen konnte. Eine Stadt sollte man mit ähnlichem Vergnügen an überraschenden Wendungen durchstreifen können wie einen französischen Garten, wo sich wiederum der Cartesianismus mit dem Zufälligen paarte. So ließ sich das Zufällige mit der Begeisterung verbinden, die Laugier geometrischen Grundrissen entgegen brachte. Zu seinem Programm einer neuen Stadtplanung gehörte auch Rücksichtnahme auf Fragen von Hygiene und Sicherheit. Bei all dem blieb das Urhüttenparadigma die Grundlage der Architekturnorm. Gemeint war damit die Säulenstellung mit horizontalem Gebälk, wie sie Perrault beim Louvre verwandte. Säulen seien nicht einfach als Schmuck zu verwenden, sondern sie gehörten konstitutiv und logisch zu einem Gebäude. Die zweite Auflage seines Essais zierte am Frontispiz eine Urhütte in der Natur. Die antiken Formen sollten sich weder barock verkleiden noch spielerisch vermehren oder gegen ihre »natürliche« Funktion gestellt werden, sondern an der Leichtigkeit und Klarheit der Gotik Maß nehmen. »Hier wirkt nicht mehr das überbrachte undifferenzierte Geschichtsmodell, das pauschal das mittelalterliche Bauen mit Verfall gleichsetzte […] Laugier bewertet vielmehr konsequent die mittelalterliche Architektur gemäß dem Prinzip der Veranschaulichung von naturgemäßer Konstruktion und kommt dabei zu einer neuen Unterscheidung von dunkler, massiver älterer mittelalterlicher Baukunst, entsprechend wohl der Romanik, und ihrer lichten neueren, eben gotischen Variante.« Dass Goethe bei seiner Beschreibung des Straßburger Münsters von Laugier angeregt wurde, über den er sich freilich auch ironisch äußerte und ihn einen »neufranzösischen philosophierenden Kenner« nannte, mag sein. Aber Laugier argumentierte in dieser Frage der Naturnähe ähnlich wie Amédée François Frézier, der seinerseits Cordemoys Rationalismus heftig attackiert hatte. Fréziers Rückkehrforderung zu einer sich an der Natur orientierenden Architektur, was für ihn Regelkonformität bedeutete, dürfte konsequenter gewesen sein als Laugiers Konzept. Denn bei diesem war die Naturdeutung der Gotik eher vorgeschoben und es ging weniger um wirkliche Naturnähe als schlicht um die »Logik« des Natürlichen, um einen Cartesianismus mit festen Prinzipien, aber weder mit starren Regeln noch mit unbeherrschbarer freier Phantasie. Laugiers Kombination von Natur und Rationalismus klingt wie eine Vorwegnahme Hegels, wo Realität – um mit Ludwig Feuerbach zu sprechen – stets in den Gedanken von der Realität aufgehoben wurde. Laugiers Schriften, in denen letztlich ein Kapitel Genieästhetik geschrieben ist, wurden in den Fünfzigerjahren ins Englische übersetzt und beeinflussten dort palladianische Architekturtheoretiker wie Isaac Ware. Das von Jacques-Germain Soufflot, der zwei Jahre durch Italien gereist war, gebaute Panthéon in Paris (urspr. Ste-Geneviève; 1764–1790) gilt als kongeniale Umsetzung von Laugiers Ideen und zugleich als Standard für weitere Bauten. Die



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

gewaltige antikisierende Kreuzkuppelanlage sollte sowohl St. Peter in Rom als auch St. Paul’s in London übertreffen. In Deutschland arbeitete Leipzigs Stadtbaudirektor Johann Carl Friedrich Dauthe im Geiste Laugiers, indem er den spätgotischen Innenraum der Nikolaikirche in einen Palmenhain mit ägyptisierenden Motiven und »Palladio-Öffnungen« verwandelte. François Blondels Enkel, JacquesFrançois Blondel, der 1739/40 eine eigene von der Académie anerkannte Architekturschule (École des Arts) gründete (in der z.U. von der königlichen Akademie auch regulärer Unterricht erteilt wurde), hieb mit seinem Cours d’architecture ou Traité de la Décoration, Distribution & Construction des Bâtiments (ab 1771), dem umfangreichsten Architekturtraktat des 18. Jh.s, in dieselbe Kerbe. Er verfocht ein rationales System von Normen und verteidigte die antike Säulenordnung gegen die Verspieltheit des Rokoko. Eine solchen Vorgaben folgende Architektur finde – so meinte er – dank eines dem Menschen angeborenen Geschmacksvermögens bei allen Menschen Gefallen. Es war ein Rekurs auf den alten bon goût, wie ihn Gracián, Courtonne und andere formuliert hatten. Er ergänzte die Vorgabe Vitruvs mit Rückgriff auf Boffrand, indem er einem jeden Gebäude einen je eigenen Charakter (caractère) zusprach. Basiliken komme der Charakter der sublimité zu, öffentlichen Gebäuden jener der grandeur, Promenaden eine élegance. Daraus leitet er erstmals einen Stilbegriff ab, der in die Architektur eingeführt wurde. Jaques-François Blondels Kenntnis der französischen Architekturgeschichte, die er in einem mit Kupferstichen opulent bebilderten Buch (Architecture françoise; 1752–1756) darstellte, ließ ihn zu manch einer Relativierung allzu rigoroser Akademiedogmen kommen. Immer wieder machten klassizistische Autoren den Vorstoß, den Geschmack des Menschen auf die Rezeption eines harmonischen, den Gesetzen der Natur entsprechenden Gegenübers auszurichten. Reine Regellosigkeit und modisches Abweichen können nichts mit gutem Geschmack zu tun haben. Diese Überlegungen zeigen, wie drängend das Problem eines Geschmacksurteils geworden war, das Immanuel Kant schließlich aufgriff. »Blondel war nicht nur der letzte Theoretiker, für den die überbrachte Säulensyntax ihre volle Gültigkeit besaß und der diese gegen die ›unvernünftige‹ und regellose Rocaille-Architektur des Rokoko reaktivierte. Er war auch der letzte Autor, der vor dem Sturz des Ancien Régime eine große Architekturlehre entwarf.« Marie-Joseph Peyre knüpfte am jüngeren Blondel an, dessen Schule er besucht hatte, und prägte mit seinen Überlegungen die französische Akademieästhetik bis

Karn Georg Peter in Toman 2009, 69

Boerner Maria-Christina in Toman 2010, 693 Jacques-François Blondel

519 Panthéon, Innen­ ansicht (1764–1790); Paris

2.2.2.

Kruft 1985, 167

Freigang Christian in ATh, 298 Marie-Joseph Peyre

140

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

5.2.5. Thomas Hope

Inigo Jones

Wittkower 1949, 115 Hubala 1970, 21

Ruhl Carsten in ATh, 400

ins 20. Jh. Peyre war als Gewinner des Grand Prix der Akademie von 1753 bis 1756 in Rom, wo er Thermenanlagen vermaß und Kontakte knüpfte. Die kaiserzeitlichen Bauten wurden ihm zur Norm. Seine Vermessungen richteten sich weniger nach den realen Maßen, vielmehr suchte er in den Gesamtanlagen Symmetrien festzumachen. Seine Kolossalprojekte könnten von Giovanni Battista Piranesi inspiriert worden sein. Die Muster dafür bildeten Zentralbauten. 1762 hatte er – für Frankreich eher ungewöhnlich – eine palladianische Villa gebaut (sie wurde 1909 abgerissen). Peyre stand im klassizistischen Kontext, indem er nicht nachahmen, sondern den Geist der Alten überbieten wollte. Eine besonders starke Hinwendung zur Antike trat in England auf. Auf der Insel war der geschwungene Barock nie angekommen. Er wurde gleich in der klassischen Form rezipiert. Dabei war die Zuneigung zur Renaissance und zur vor allem griechischen Antike (ein Greek Revival) eine Grundlage. Trotzdem blieb der englische Klassizismus in aller Regel pittoresk und erreichte nie die Strenge des französischen oder deutschen. Der aus den Niederlanden stammende Thomas Hope, der zwischen 1787 und 1795 auf einer umfangreichen Grand Tour bis nach Ägypten und Syrien gereist war, gilt als Vater des Greek Revival in England. Er polemisierte gegen die römische Ordnung zugunsten eines reinen griechischen Stils. Für sein eigenes Haus, das seine Sammlungsstücke beherbergte, griff er auf verschiedene Stile zurück, die jeweils einen Raum prägten. Es war ein Paradebeispiel einer pittoresken klassizistischen Architektur. Für Handwerk und Kunstgewerbe setzte sich Hope besonders ein und warnte bereits 1807 vor den Folgen der Produktion mit der Maschine. Für Jahrhunderte war ein anderer prägender Filter das Werk Palladios. Im 16. und 17. Jh. orientierte man sich ohnehin noch stark an den italienischen Vorlagen. Der Architekt und Landschaftsmaler Inigo Jones, der abseits des als katholisch und absolutistisch verbrämten Barock bei zwei Italienreisen die Klassik Palladios entdeckte und eine größere Zahl von Zeichnungen Palladios besaß, baute als Erster in England in seinem Sinne. Neben Jones war Vincenco Scamozzi ein wichtiger Anreger. Mit dem Palladianismus und den alten Harmonievorstellungen im Kopf identifizierte Jones Stonehenge als römisch und legte einen harmonischen Grundriss eines antiken Theaters in die prähistorische Anlage. Er war noch tief im »metaphysischen Glauben an die allgemeine Wirksamkeit und Schönheit der Zahlen« verwurzelt. Erich Hubala sah in Jones den ersten und zugleich einen der wichtigsten Klassizisten nicht nur für England. Dem gingen allerdings andere Theoretiker voraus. Carsten Ruhl verweist auf John Shute, der in seinem The first and Chief Grounds of Architecture (1563) den klassischen Architekturdiskurs – im Wesentlichen eine Säulenlehre als Paraphrase Vitruvs und Serlios – in England eingeführt hatte. Solche Einschätzungen sind Aufgabe der Kunsthistorikerinnen, aber zumindest zwei Dinge bleiben für unser Interesse bemerkenswert: Einmal, dass Jones seinen Klassizismus am Architekturtraktat Palladios entwickelte, was – neben dem unvermeidlichen Vitruv – für die gesamte Bewegung des englischen Klassizismus leitend blieb. Zum zweiten ist der Hinweis Hubalas zu würdigen, dass Jones eine Stelle aus Plutarchs Moralia notiert habe, nach der Extreme durch ein Mittelmaß ausgeglichen



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

werden sollten. Man könnte diese Trouvaille in der Tat als Motto über das klassische Barockverständnis stellen und dieses damit unschwer an den Vorstellungen der Renaissance andocken. Und man könnte insbesondere den römischen Barock mit einer solchen Formel beschreiben, der in größter Würde die Ikonographie des Barock, Energie und Kraft, ausdrückte und damit als Abgrenzungskriterium gegenüber dem gleichsam ungezügelten Manierismus gelten kann. Noch bedeutender als die Äußerungen von Jones und Shute war die Schrift von Henry Wotton. Sie wurde während der Zeit der englischen Palladio-Verehrung immer wieder aufgelegt. Der 1624 in London erschienene gelehrte Essay The Elements of Architecture war eine intensive Auseinandersetzung mit Vitruv und Palladio und eine Hommage an die alte Harmonielehre. Wotton, selbst kein Architekt, verbrachte zwanzig Jahre als Diplomat in Venedig und eignete sich eine gründliche Bildung in Architekturtheorie an. Er leistete einen wesentlichen Beitrag bei der Verbreitung des Palladianismus in England. In den Elements finden sich der Pragmatismus und Funktionalismus Bacons. Für Wotton ist Architektur Nachahmung der Natur und zwar in dem Sinn, dass neben der Funktion eines Bauwerks Klima und regionale Einflüsse jede Architektur prägen. Aus dem Geist dieses originellen Gedankens wird Vitruv an mehreren Stellen kritisiert, etwa in der Verehrung der Kreisform, die Wotton für den Privatbau als ungeeignet empfand (unprofitable figure). Das private Herrenhaus stand bei seinen Überlegungen im Vordergrund. Er beschrieb es mit Garten und Ausstattung im Sinne einer kritischen Rezeption der italienischen Villenarchitektur. Dabei übte er erste vorsichtige Kritik an der Geometrisierung des französischen Gartens. Er fand den Kontrast zwischen regelmäßigen Gebäuden und einem unregelmäßigen Garten reizvoller. Wotton wurde zu einem Anreger der englischen Gartenarchitektur, indem er das Prinzip des Betrachters in den Vordergrund rückte und den Garten geradezu als Bild interpretierte. Auch was die Kompositionsregel der Säulenstellungen bei Vitruv betraf, vertrat Wotton eine eigene Meinung. In der Ästhetik verkürzte er Vitruvs sechs Kriterien der Architektur und konzentrierte die Schönheit eines Gebäudes auf die Eigenschaften eurythmia (Harmonie), symmetria (Proportion), decor (Angemessenheit) und distributio (Bauökonomie). Ordinatio und dispositio dagegen seien nur Phasen im Entwurfsvorgang. Die Zweckmäßigkeit war ihm ein besonderes Anliegen und er sah darin geradezu ein göttliches Prinzip. Dies gehört wiederum zur Bodenhaftung, welche er aus seiner Neigung zum Empirismus der vitruvianischen Theorie gab. Einen großen Betrag zum Klassizismus leistete der schottische Architekt Colen Campbell mit seinem dreibändigen Tafelwerk Vitruvius Britannicus (1715–1725). Darin übte er heftige Kritik am Barock eines Bernini und Borromini, während Palladio an die erste Stelle trat. Der Venezianer Giacomo Leoni hatte die erste vollständige englische Übersetzung von Palladio und eine weitere von Alberti auf den Markt gebracht und damit die Palladio-Begeisterung angeschoben. Campbell, der in Inigo Jones einen kongenialen englischen Nachfolger Palladios sah, baute das Wanstead House in Essex (er schlug drei Entwürfe dafür vor), das ein Gründungsbau palladianischer Landhäuser in England wurde, sowie eine Kopie der Villa Rotonda, das

Hubala 1970, 20f

Henry Wotton

X.2.2.

III.3.4.3.

Colen Campbell

142

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Mereworth Castle in Kent (1723). Als Musterbeispiel einer schlechten Architektur bildete Campbell am Anfang seines erfolgreichen Werkes den Petersdom ab, in dem er ein Symbol für den Verfall der italienischen Architektur sah. Den Überblick über die englische Architektur des 18. Jh.s verstand er gleichsam als Alternative zur regellosen Architektur. Die englischen Architekten sollten nun die Führung der qualitätvollen, klassiShaftesbury schen Architektur übernehmen. Der Aufklärer Earl of Shaftesbury, der den Whigs 5.2.1. angehörte, die nach seinem Tod 1714 in England an die Macht kamen, hatte 1712 aus Neapel einen Brief (Letter concerning the Art, or Science of Design) an Lord John Somers geschrieben. Darin drückte er die Erwartung aus, dass England den Rückstand in der Kunst gegenüber Frankreich und Italien aufholen und zum europäischen Zentrum der Kunst werden könne. Dies auf der Grundlage einer an Rationalismus und Aufklärung orientierten, antibarocken Nationalarchitektur. Ohne seinen Namen zu nennen, sah er in Christopher Wren (one single Court-Architect) die Antithese einer Kunst, wie sie ihm vorschwebte. Wren nahm letztlich »eine Zwischenposition zwischen Perrault und Blondel ein, was einer bei ihm häufig anKruft 1985, 263 zutreffenden Flexibilität des Denkens entspricht.« Wren kannte die Architekturgeschichte gut und in seinen Bauten spiegelt sich ein historischer Eklektizismus. Er führte bei der St. Paul’s Kathedrale »zu einer Synthese von Elementen Bramantes (Tambour), Madernos (Fassadendisposition), Perraults (Doppelsäulen der Fassade), Borrominis (Fassadentürme) und Piero da Cortonas (Querhausportale) […]. Diese Andeutungen sollen genügen, deutlich zu machen, daß Wrens nicht geschriebener Architekturtraktat zu den bedauerlichsten Versäumnissen in der Geschichte der Ebd., 264 Architekturtheorie gehört.« In der Zeit nach Christopher Wren wandten sich seine Gefolgsleute, die seinen Stil noch monumentaler auslegten, wie John Vanbrugh und Nicholas HawksmooBorngässer Barbara in re, von der römischen Klassizität ab und einem »Vorbild ›founded in truth and naToman 2002, 100 ture‹, um eine Architektur frei von schalen Äußerlichkeiten, bemüht« zu. Campbell richtete sich weniger scharf gegen Wren als Shaftesbury und gemeindete ihn in die englische Architektur ein. Sein Feindbild war vielmehr der kontinentale Barock. Der Earl of Shaftesbury unterstützte die erstarkende Rolle des aufgeklärten kritischen Publikums in der Bewertung von Malerei, Skulptur und Architektur. Die Neo-­ Öffentlichkeit vermöge diese Aufgabe wesentlich besser wahrzunehmen als eine Palladianismus staatliche Behörde. Das war in die Zeit einer grassierenden Vitruv- und Palladiobegeisterung gesprochen. Ein wachsendes reich gewordenes Bürgertum verlangte nach Landsitzen. Es kam hinzu, dass »der Landadel der Whigs seine republikanisch-oligarchischen Vorstellungen im politischen System der Stadtrepublik Venedig wiederKruft 1985, 266 erkennen konnte, unter dem Palladio gearbeitet hatte.« Hanno-Walter Kruft knüpfte den Aufschwung des Palladianismus an die politische Entwicklung, darunter auch an den Aufstieg der Freimaurerei. England gewann mit dieser Stiloption, die zugleich einer politischen Position entsprach, eine führende Rolle in der Architektur. Der Palladianismus war die ideale Alternative zum Barock, dem man sich nie wirklich zuwenden wollte. Es ging vielmehr um Rückkehr zu den klassischen Regeln.



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

Der Architekt Richard Boyle, Dritter Earl von Burlington, baute eine weitere der Rotonda nachempfundene Villa, das Chiswick House (1729). Es wurde eine Ikone der englischen Palladio-Rezeption. Boyle hatte in Italien einen Teil des Nachlasses von Palladio erstehen und nach England bringen können. Der Neopalladianismus bot Klassizität, Naturnähe und die Patina einer edlen Vergangenheit sowie den Flair des Humanismus. Der Stil war angesichts der erwähnten sozialen Veränderung geradezu ein englischer Stil geworden. Es gab bei den Bewohnern eine ähnliche Aufteilung wie seinerzeit in Venedig. Den Winter verbrachte man in London, im Sommer zog man auf das Land ins Country House. Im Umkreis von dem mit Colen Campbell befreundeten und von ihm zu Palladio gebrachten Earl von Burlington bewegten sich mehrere streng auf den Palladianismus eingeschworene Architekten, darunter Isaac Ware, der 1738 eine (Lord Burlington gewidmete) Übersetzung von Palladio und 1756 eine gewaltige Enzyklopädie der Architektur (A Complete Body of Architecture) publiziert hatte, darin nicht zuletzt auf Marc-Antoine Laugier und Robert Morris zurückgreifend. »So wurde ganz England in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit palladianischen Bauwerken überzogen, bestehend aus klar definierten Kuben, nach einem strengen Proportionssystem entworfen und im Äußeren äußerst sparsam dekoriert, die Fassaden markiert durch einen großen Portikus nach Art antiker Tempel über einem rustizierten Sockelgeschoß.« Einen tiefschürfenden, auf unzähligen Quellen aufbauenden Überblick über das Bauen im Geiste Palladios hat Werner Oechslin zusammengestellt. Der Palladianismus fand auch in der Neuen Welt regen Zuspruch und förderte dort das klassizistische Ideal. Peter Harrisons Redwood Library (1758) auf Rhode Island ist eines der Eröffnungswerke dazu. In den Vereinigten Staaten waren die ersten Architekturtraktate – ebenso wie die frühe amerikanische Architektur – nahezu ausnahmslos Übernahmen aus englischen Vorbildern. Thomas Jefferson, der hochgebildete dritte Präsident der Vereinigten Staaten, der zwischen 1784 und 1789 Europa bereist hatte, war nebenbei ein wichtiger Architekt, der einer klassizistischen, an Palladio und den zeitgenössischen Stil in Frankreich angelehnten Architektur in den Vereinigten Staaten den Weg bereitete. Bemerkenswert blieben seine Einmischungen zu den Kapitolsbauten in Virginia und in Washington sowie eine Pantheon-ähnliche Rotunde in der Bibliothek der Universität von Virginia und sein eigenes Landhaus bei Charlottesville. Die Villa Monticello in palladianischer Formensprache wurde zum Ausgangspunkt des Federal Style. Für Hanno-Walter Kruft war Jefferson »der geistig bedeutendste Exponent des amerikanischen Palladianismus, […].« Robert Morris, ein Verwandter des an Palladio orientierten Architekten Roger Morris, schrieb ausdrücklich über Architekturästhetik und nicht nur über Architektur als Bautechnik. Auch sein Maßstab blieb der Palladianismus. Er griff für seine Theorie auf Anthony A. Cooper, Shaftesbury, Hutcheson und Addison zurück. Ihm wird zugestanden, dass er den Palladianismus in einen englischen Nationalstil verwandelte. Im Titel seines 1728 publizierten Essay In Defence of Ancient Architecture zitiert er die Querelle, wobei er die verschärfte Position Fréart de Chambrays einnahm.

Engel Ute in Toman 2009, 15 Oechslin 2007

Vereinigte Staaten

Kruft 1985, 398 Robert Morris

Ebd., 273

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Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

5.2. Ruhl Carsten in ATh, 430

Kruft 1985, 274 James Gibbs

Es ging letztlich um die Fragestellung Kants: Wie lässt sich ein universelles Geschmacksurteil mit dem zunehmend in den Vordergrund drängenden Subjekt in Verbindung setzen? Bei Morris wird dies noch mit rationalistischer Schlagseite durch einen angeborenen Sinn – es handelt sich um einen moralischen Sinn, Schönheit und Moralität gehen in eins – zu lösen versucht. Dieser Moralsinn entspricht den klassischen Ordnungsregeln von Harmonie und Symmetrie, wie sie im Klassizismus gepflegt wurden. Die Handschrift eines Platonismus, der sich im Rationalismus fortsetzte, etwa so wie Shaftesbury das entworfen hatte, ist hier nicht zu übersehen. »Die Symmetrie, Proportion und Stereometrie klassischer Architektur spiegelten somit in letzter Instanz die Komponenten der schönen Seele wider […].« Demgegenüber wird dem Barock mit seiner Regellosigkeit konsequent auch eine moralische Deformität unterstellt, unterschwellig auch jenen, die an diesem Stil Gefallen finden. Zudem schwingt stets das Argument des mit dem Barock verbundenen Absolutismus mit. Fehlende Moralität und fehlende Verstandeskraft treffen sich im falschen Geschmacksurteil. Das spätere Stichwort »Ornament und Verbrechen« ist nicht weit von solchen Überlegungen entfernt. Allerdings entdeckte Hanno-Walter Kruft in Vorträgen von Morris auch einen gewissen englischen Pragmatismus, wonach die Funktion von Gebäuden wichtiger sei als ihre Ästhetik. Dieser sprichwörtliche englische Pragmatismus prägte auch die Haltung von James Gibbs. Der Architekt des palladianischen Senat House in Cambridge sorgte sich um das Wissen der Provinzarchitekten. Für sie und potentielle Bauherrn legte er einen Folioband vor (A Book of Architecture, Containing Designs of Buildings an Ornaments), der eines der einflussreichsten Musterbücher des 18. Jh.s wurde. Er enthielt etliche Beispiele, die auf Vorbilder des italienischen Barock, den er als Mitarbeiter von Carlo Fontana kennen gelernt hatte, beruhten. Gibbs ist kein reiner Palladianer, sondern ein Vermittler zwischen den Stilen, inklusive dem Barock. Das Ringen um den ästhetischen Geschmack wurde zumeist mit dem Kopieren der Vorlage Vitruvs und Palladios grundiert. Aber es gab auch Stimmen, welche die strenge Regelästhetik in Frage stellten. Der Dichter Alexander Pope schrieb 1731 einen Brief über den Geschmack, in dem er Gefühl und Emotion über den gebildeten Geschmack stellte. Das bloße Kopieren der klassischen Vorgaben wäre demnach zu wenig. 1731 warnte er in einem offenen Brief an Lord Burlington vor einer Reglementierung der Architektur nach den Vorgaben Palladios. James Gibbs sprach in seinen Traktaten gar von einer »Diktatur des Geschmacks« (dictatorship of taste), welche der strenge Palladianismus landauf landab darstelle. Gegen solche Normierung und Einschränkung des Geschmacks müsse vorgegangen werden. Gibbs warb für Studienreisen nach Italien, war man doch in England inzwischen in eine Engführung geraten und baute nur mehr den vorherrschenden Klassizismus nach. Alexander Pope entwarf 1715 eine Architekturvision, in der er einen Tempel mit vier Fronten beschrieb: griechisch, assyro-persisch, ägyptisch und gotisch, das er gleich als barbarisch titulierte. Diese Relativierung des Geschmacks leitete auch seinen Essay on Criticism (1711), in dem es im Grunde um eine Verlagerung des normierten Geschmacks zu einem Geschmacksverständnis ging, das die Öffentlichkeit prägte.



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

4.2.4.3.2. Die Rückkehr des Klassizismus nach Italien und Spanien Als Fazit kann gelten, dass der Klassizismus in England (und Frankreich) unter Zugrundelegung Palladios reifte. Zugleich wurde er nach Italien gleichsam reimportiert. Der Klassizismus in Italien begann um 1732 mit Nicola Salvi und seiner klassizistischen Fassadengestaltung am Palazzo Poli (von Martino Longhi d.Ä. ab 1566 gebaut) hinter der ebenfalls von Salvi geplanten rokoko-verspielten Fontana di Trevi (1735). Als Durchbruch des Klassizismus in Rom sieht man meist die Gestaltung der Fassade von St. Giovanni in Laterano durch Alessandro Galilei zwischen 1733 und 1736 an, eine »offizielle Absage an Hochbarock und barocchetto.« Es war ein veritabler Streit um das Wesen des Barock vorausgegangen. Der späte Beginn des Klassizismus in Italien führte dazu, dass ein Großteil klassizistischer Architektur erst im 19. Jh. entstand. Eine Flurbereinigung für den Eintritt des Klassizismus war der Kampf gegen das Ornament, das als pars pro toto für den Barock herhalten musste. Nicht selten kann man in der einschlägigen Argumentation Gedanken des Funktionalismus des 20. Jh.s erkennen. Ein treffendes Beispiel ist der Franziskaner Carlo Lodoli, der »revolutionärste Architekturtheoretiker Italiens im 18. Jahrhundert.« Seine Theorie ist auf indirektem Weg über seine Schüler auf uns gekommen. Als systematischer Sammler von Bildern und Architekturfragmenten gilt er als Vorläufer einer grundlegenden Stilkritik. Für uns interessanter ist sein kunstphilosophisches Eintreten für eine vernunftgetragene Architektur, die – so meinte der »philosophischer Reiniger« (Kruft) – gegen Missbräuche gefeit ist. Das bedeutete zunächst eine gründliche Kritik an der hergebrachten Theorie inklusive der Säulenordnung. Lodoli stellte das alles in Frage und sprach einer neuen Konzeption (nuove forme e nuovi termini) das Wort. Eine solche Neubewertung betraf die gesamte Architektur. Diese soll formen, schmücken und zeigen (formare, ornare, mostrare), aber als oberstes Prinzip figuriert die Funktion. Ein freies Ornament hat keine Funktion und muss daher eliminiert werden. Schönheit und Funktion gehören unmittelbar zusammen. Letztere wird auf das jeweilige Material reduziert. Das Vortäuschen eines anderen Materials als des verwandten sei eine Lüge. Das kommt in die Nähe der Ansichten von Cordemoy, Laugier, auch von Perrault, wurde aber mit radikalerer Konsequenz als dort vertreten. Vermutlich wurden die hier formulierten Gedanken über Zwischenstationen wie Francesco Milizia zu Nicolas-Louis Durand transferiert, der mit Horatio Greenough ein Begründer des modernen Funktionalismus war. Francesco Milizia ist ein klingender Name des italienischen Klassizismus. Dazu trug sein Traktat Principi di architettura civile (1781) prominent bei. Bereits 1768 hatte er in seinen Vite de’più celebri architetti d’ogni nazione e d’ogni tempo umfangreiche Lebensbeschreibungen von Architekten verfasst und Palladio darin einen Raf-

520 Pzo. Poli beim Trevi-Brunnen (1762); Rom 521 S. Giovanni in Lateran (18. Jh.); Rom

Borngässer Barbara in Toman 2002, 41

Carlo Lodoli

Kruft 1985, 221

Francesco Milizia

146

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Hills 2011, 14f

Grönert Alexander in ATh, 186

Kruft 1985, 230

2.2.2.

Ebd., 228

fael der Architektur (nulladimeno è il Palladio il Rafaello dell’architettura) genannt. Dem großen Lob folgte allerdings gleich eine Liste der Regelverstöße (abusi), derer sich Palladio schuldig gemacht habe. Er habe in der Baupraxis Lösungen realisiert, die im Widerspruch zur klassizistischen Theorie standen. 1797 wetterte er in seinem Dizionario delle Belle Arti del disegno gegen die Barockarchitekten, die einen Höhepunkt des Lächerlichen geschaffen hätten. Erstmals wurde der Begriff barock im Italienischen auf die Architektur angewandt. Milizias Architekturtraktat ist im Stil der französischen Enzyklopädisten gestaltet. Wieder gab Vitruv den Ton an und musste für eine Normbildung herhalten. Milizia drehte die Rangordnung der ästhetischen Attribute Vitruvs (firmitas, utilitas, venustas) geradewegs um: bellezza, comodità, solidità. Dabei ordnete er die Schönheit, die er im Sinne der platonischen Kategorien von Symmetrie und gutem Rhythmus (euritmia) definierte, vor alle anderen Kategorien (insbesondere die Bequemlichkeit). Die platonische Symmetrie als Grundfigur des Klassizismus wird angereichert mit einem Cartesianismus des Rationalen. »Die planmäßig angelegte Stadt, in der sich die vernünftige, auf das Gemeinwohl gerichtete Ordnung der aufgeklärten Gesellschaft spiegelt, stellt für Milizia den Höhepunkt des architektonischen Gestaltens dar.« Dieses rationale Element ließ Milizia Abstand halten von einer bloßen Nachahmung der Antike. Nicht darum ginge es, vielmehr gäbe es natürliche Prinzipien, die nicht nur im Barock, den er regelrecht mit Beschimpfungen eindeckte, sondern – so der idealisierte Blick des Klassizisten – manchmal in der Antike selbst verletzt worden seien. Mit Milizia lässt sich die vorgeschlagene Unterscheidung von Klassizität und Klassizismus schön demonstrieren. Sein Blick richtete sich jedoch nicht nur auf die Welt der Klassik, sondern auch auf jene der Gotik, die er auf das Vorbild des Waldes (also auf die Natur) zurückführte, ein Zusammenhang, der in der Romantik gerne gebraucht wurde. Wie er die Gotik als Nachahmung des Waldes verstand, sah er in der griechischen Architektur – hier gibt es Parallelen mit Laugier – die Nachahmung der Urhütte. »Milizia vertritt eine Geschichtsvorstellung, die der ›griechischen‹ Position nahesteht, die aber versucht, auf die bereits beschriebene Weise die Gotik in seine Konstruktion einzubeziehen.« Milizia befasste sich ausführlich mit der Stadtarchitektur, wo er mit Plädoyers gegen Uniformität und für Abwechslung und sogar Unordnung aufhorchen ließ. Dass in den Städten zu errichtende Akademien die dortige Bautätigkeit überwachen sollten, hat ihm zu einer schlechten Nachrede verholfen. Die verbreitete Praxis strenger Regulierung durch die Akademien war für Milizia jedoch kein Gegensatz zum bon goût. Elemente der Sinnlichkeit und Emotion ließen sich über die Theorie des guten Geschmacks in einen klassizistischen Kontext einordnen. An dieser Stelle kollidierte auch immer wieder das Regelsystem mit der Schöpferkraft des künstlerischen Genies. Man begegnet bei Milizia »jeder nur denkbaren architekturtheoretischen Position in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, meist maßvoll und oft kompromißlerisch vorgetragen. Die heterogenen Wurzeln seines Denkens waren ihm voll bewußt, […].« Milizias Regularismus, durch diese Offenheit scheinbar gemildert, erfuhr in Europa eine weite Verbreitung.



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Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität

In Spanien hinterließ der Augustinermönch Fray Lorenzo de San Nicolás einen nachhaltig wirkenden Traktat (Arte y Uso de Architectura; 1639). Fray Lorenzo war selbst ein angesehener Architekt, kannte und kommentierte die Tradition, natürlich Vitruv, und setzte sich für den (besonders in der Mathematik) gelehrten Architekten ein. Er entwarf einen an italienischen Vorbildern ausgerichteten idealtypischen gegenreformatorischen Kirchentyp. Die effiziente kostensparende Bauweise, wozu auch die Konstruktionslehre für eine sogenannte »falsche Kuppel« (cúpula encamonada) – innen Kuppel, außen Oktogon – gehörte, machte Lorenzos Traktat zu einem idealen Musterbuch für die Bauaufgaben in den Kolonien. Außergewöhnlich waren seine differenzierte Beschäftigung mit den Materialien und die Forderung nach ständiger Baukontrolle. Mit beidem setzte er »Standards, die das moderne Bauwesen entscheidend prägen.« Der weit gereiste Zisterzienser Juan Caramuel de Lobkowitz aus Madrid, selbst nur amateurhaft als Architekt tätig (Fassade des Doms von Vigevano), schrieb neben zahllosen anderen wissenschaftlichen Werken einen stark cartesianisch geprägten Traktat (Architectura civil recta, y obliqua; 1678), der eklektizistisch ältere Schriften versammelte. Im Geiste Villalpandos stellte er die Rekonstruktion des Tempels in Jerusalem direkt neben die Darstellung des Escorial. Architektur war für Lobkowitz ein Geschäft der Wissenschaft und auch bei ihm fehlte nicht die Berufung auf Vitruv, dessen drei Kategorien er aufnahm (comodidad, hermosura, perpetuidad) und das Urhütten-Paradigma vertrat. Dieses glaubte er in den westindischen Kolonien empirisch belegen zu können. Die Säulenordnung erweiterte Lobkowitz auf nicht weniger als elf, darunter auch die gotische Ordnung. Allerdings unterschied er zwei Arten von Architektur, die architectura recta, das Bauen mit rechten Winkeln und strengen Linien, und die architectura obliqua, die Barockbauweise. Im 6. Band seines Traktats wird diese zu einer eigenen, von Gott gestifteten Kunst, die achte ars liberalis. Auch diese Architektur unterlag festen Regeln und sie konnte richtig oder falsch angewandt werden. Gott (als primer Architecto) selbst habe sich bei der Gestaltung der Planetenbahnen dieser Architektur bedient. Die Ellipse war für ihn bloß eine geometrische Ableitung des Kreises. Er betrachtete den architektonischen Raum unter dem Gesichtspunkt der Optik. Architektur wurde zu nichts weniger als zu einem »Betätigungsfeld zur Anwendung optischer Gesetze.« Als Folge davon verlangte er eine relative Proportion, die sich am Blick der Betrachterin orientiert. Dieser Angriff auf die alte Proportionslehre brachte ihm von den Zeitgenossen, darunter selbst ein Guarino Guarini, viel Kritik ein. Kein Geringerer als Bernini verfuhr bei den Kolonnaden in Rom genau so. Obwohl Lobkowitz in ganz Europa Aufgaben erfüllte, mehrere Sprachen beherrschte und viel publizierte, blieb seine Wirkung gering.

Borngässer Klein Barbara in ATh, 378

Müller W. 2004, 96

148

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

5.0. Der Empirismus

Safranski 2007b, 64

Die zweite philosophische Strömung der Neuzeit und Gegenrichtung zum Rationalismus bildete der Empirismus. Er bevorzugte gegenüber der Vernunft zur Erkenntnisgewinnung die Sinnlichkeit. »Wie auch immer, das Denken lernte sich selbst zu mißtrauen. Was man dem Denken nahm, gab man der Erfahrung.« Beide Strömungen kamen in ihrem Interesse nach Wissenschaftlichkeit überein. Blieb jedoch der Rationalismus einem strengen rationalen und durch angeborene geistige Ideen rekonstruierbaren Regelsystem verpflichtet, das zur Wahrheit führt, so stand im Empirismus die aus der Materialität induktiv abgeleitete Erkenntnis im Vordergrund. Der Empirismus unterminierte schließlich mit der Herabstufung von Wahrheitsansprüchen auf bloße »Wahrscheinlichkeit« und seiner enzyklopädischen Wissensanhäufung die Systemambition und das Methodenideal des Rationalismus. Das war ein aufklärerischer Impuls, dem sich der Empirismus noch stärker als der Rationalismus verpflichtet wusste. In der Gottesfrage waren die Empiristen eher Agnostiker denn Atheisten und dort, wo sie noch ein Gottesbild duldeten, war dieses in das Bild eines Weltbaumeisters gekleidet, der Bewegungen und Kräfte in die Natur implementiert hat. Die Unterschiede zwischen den Religionen wurden unter dem Generalkapitel einer natürlichen Religion eingeebnet, ein Gedanke, der einer religiösen Toleranz den Weg bereitete.

5.1. Philosophische Positionen des Empirismus Francis Bacon

Iser 1993, 174

Die neu sich stellenden Aufgaben ging der 1561 in London geborene Francis Bacon in seiner Magna instauratio imperii humani in naturam an, einem gewaltigen Projekt der Erneuerung der menschlichen Herrschaft über die Natur, von dem zwei Bücher ausgeführt wurden. Berühmt geworden ist das 1620 verfasste zweite Buch mit dem Titel Novum organum. Es ist eine polemische Verabschiedung der alten Systeme des Platonismus ebenso wie des Aristoteles und der scholastischen Schulen des Mittelalters. Die neue Wissenschaft sei nicht zuletzt dazu da, die Irrtümer der alten zu beseitigen. Gleichsam am Beginn des neuen wissenschaftlichen Zeitalters stand Bacons Klärung eines objektiven und vorurteilslosen Zugangs zur Wissenschaft. Dazu formulierte er die Lehre von den vier Idolen, meist mit Trugbilder oder Vorurteile übersetzt. Wolfgang Iser interpretiert sie als »Zeichen mangelnder Trennschärfe zwischen Geist und Natur.« Bacon listet angeborene und erworbene Trugbilder auf, die aus den dunklen Tiefen des Individuums stammen (idola specus). Er kritisiert die aus der Scholastik bekannte unkritische Orientierung an Autoritäten (idola theatri), weiters die Irrtümer, die sich aus einem falschen, meist durch gesellschaftlichen Umgang veränderten Gebrauch der Sprache (besonders war der Sprachrealismus der Scholastik gemeint) ergeben (idola fori) und die Vorurteile, die in der Gattung Mensch verborgen liegen, in den Emotionen und Affekten, die für so manche Fehlsteuerung des Verstandes verantwortlich seien (idola tribus). Dem Verstand kann man nämlich

149

Der Empirismus

keineswegs einfach trauen. »Den Geist aus der von Bacon beklagten Vermischung mit der Natur herauszunehmen und die ständige Erfindung von Kunstgriffen zur Naturbefragung sind parallele Operationen, um eine ansonsten verschlossene Natur zu entriegeln.« Bacons bereits erwähnte Staatsutopie Nova Atlantis über den Inselstaat Bensalem im Stillen Ozean, offenbart einen Wissenschaftsbetrieb der Unterwerfung der Natur durch den Menschen, ganz nach seinem Programm der großen Erneuerung der Wissenschaft. Der Wissenserwerb – und das gilt ganz allgemein beim Empirismus – diente nicht mehr der Kontemplation und philosophischen Muße (wie teilweise im Rationalismus), sondern der Praxis. Die Feststellung in seinen Meditationes sacrae wurde zu einem geflügelten Wort: »Wissen ist Macht« (nam et ipsa scientia potestas est). Bacon verfasste einen Essay über Architektur (Of Building; 1625). Er gehört zusammen mit dem oben erwähnten The Elements of Architecture von Henry Wotton zu den ersten bedeutenden architekturtheoretischen Äußerungen in England. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen standen Funktion und Zweck von Gebäuden, die wichtiger waren als die Schönheit. Das war insofern eine typisch empiristische Position als sich Funktionalität empirisch ableiten ließ, während Schönheit als Harmonie einen metaphysischen Anspruch hatte, sich gar auf göttliche Vorgaben zurückführte. Der 1588 in Westport/Wiltshive geborene Thomas Hobbes formulierte den Menschen als freies Individuum, das nicht wie die Monade bei Leibniz durch eine kosmische Ordnung ferngesteuert ist. Der Einzelne ist radikal auf sich selbst gestellt und von seinen eigenen Interessen geleitet. Hobbes stellte dem rationalistischen Optimismus sein realistisches Menschenbild gegenüber: »der Mensch ist dem Mitmenschen ein Wolf« (homo homini lupus est). Die derart auseinanderstrebenden, auf ihren Vorteil bedachten Individuen können nur durch einen gemeinsam akzeptierten Vertrag einen Ordnungsrahmen erhalten. Dass die Idee des Vertrags wesentlich von der Freiheit der Individuen angeregt war, damit einen Pfeiler liberaler politischer Philosophie bedeutete, dem neben Hobbes auch andere, beispielsweise John Milton und John Locke verpflichtet waren, ist einigermaßen unbestritten. Umstrittener ist die Frage nach dem Vertragspartner bei Hobbes. Die meisten Autoren sind der Meinung, dass bei Hobbes ein mächtiger Partner als Vis-à-vis eingeschlossen ist, also eine monarchische oder absolutistische Regierung. Demgegenüber bürdete John Locke beiden Vertragspartnern ausdrücklich Pflichten auf, wobei dem Herrscher die Pflicht zukam, die Freiheiten der Bürger zu sichern. Die in der Physik entdeckten Bewegungsgesetze von actio und reactio, von Zentrifugal- und Zentripetalkraft, fanden bei Hobbes ebenso einen Widerhall wie in den zeitgleichen Bemühungen der Politik um ein Gleichgewicht der Mächte in Europa. Gab es im Rationalismus in der Selbstwertigkeit der Wahrheit noch einen Rest der alten philosophischen Muße, dominierte im Empirismus der pragmatische Aspekt der Wahrheitssuche, die jetzt kein Selbstzweck mehr war, sondern Grundlage für die (wissenschaftliche oder politische) Beschäftigung mit der realen Welt. Damit war die Suche nach der einen, geschichtsenthobenen, unverbindlichen Wahrheit obso-

Ebd., 183

VI.4.2.6.

4.2.4.3.1.

Thomas Hobbes

150

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

John Locke

6.1.

George Berkeley

let. Der Empirismus setzte auf den pragmatischen Umgang mit der Wahrheit. Dazu passt Hobbes’ Meinung, dass alle ästhetischen Regeln und Urteile von Individuen stammen und sich nicht aus der Natur ableiten lassen. Jede metaphysisch begründete Regelästhetik ist auf diese Weise vom Tisch gewischt. Ebenso klare Konsequenzen aus dem empiristischen Methodenideal zog der 1632 geborene John Locke. Sein Hauptwerk An Essay concerning human understanding (1690) ist eine Untersuchung über den Verstand. Locke, der in Oxford noch eine scholastisch (nominalistisch) gefärbte Ausbildung genossen und sich später bei einem Frankreichaufenthalt eingehend mit Descartes beschäftigt hatte, argumentierte gegen jede Konstruktion eingeborener Ideen und schlug sich auf die Seite reiner Erfahrungserkenntnis. Der Verstand ist eine leere Tafel (tabula rasa), bereit für die Aufnahme von Erfahrungen durch sinnliche Wahrnehmung. Äußere Wahrnehmungen nennt er sensations, Wahrnehmungen, die sich auf innere Erfahrungen beziehen, reflections. Bereits in die Richtung von Kant gehen Lockes Ansichten, dass der Verstand Wahrnehmungen in irgendeiner Weise verarbeitet. Im politischen Kontext gehörte Locke zu den Vordenkern des Liberalismus. Er vertrat die Toleranzidee ebenso wie das Konzept eines freien Handels. Die Legitimität der Regierenden sei durch die Regierten zu sichern und jede Regierung habe die Grundrechte Leben, Freiheit und Eigentum ihrer Bürger zu schützen. Gewaltenteilung und die Rolle des Staates als bloßer Rahmen für die Sicherung des freien Güteraustauschs wurden nun philosophisch herausgearbeitet und erhielten eine nachhaltige Bedeutung. Später sprach man in solchem Zusammenhang vom Nachtwächterstaat. George Berkeley gehört nur sehr bedingt zum Empirismus. Er lehrte am Trinity College in Oxford im Geiste Lockes, aber auch Descartes’ und Malebranches’. 1713/14 sowie 1716–1720 machte er zwei Bildungsreisen nach Italien, bei denen er aufmerksam Kunst und Architektur studierte. 1734 wurde er Bischof der anglikanischen Kirche. Bereits 1732 hatte er in sieben Dialogen unter dem Titel Alciphron: or, the Minute Philosopher gegen Freidenker und Atheisten und den aus seiner Sicht modernistischen Zeitgeist angeschrieben. Zwar war für Berkeley alles Erkennen ein Wahrnehmen (esse est percipi), aber es handelte sich um ein Wahrnehmen von (göttlichen) Ideen. Berkeley stand einem Platonismus näher als einem Empirismus und insbesondere Schönheit hatte bei ihm eine ontologische Dimension. Sein Alciphron, ein fiktives Gespräch zwischen dem aufgeklärten Alciphron und dem christlichen Apologeten Euphranor, ist auch ein Werk über Ästhetik, wobei das Ästhetische im Moralischen geborgen blieb. Berkeley sah im Empfinden von Schönheit ein menschliches Universale und führte es (platonisierend) auf die harmonische Ordnung der Natur zurück. Der intuitive ästhetische Sinn ist zugleich ein moralischer Sinn (moral sense) innerhalb des Verstandes. Moral und Ästhetik fallen zusammen und gründen auf dem Schöpfungsplan Gottes. Da Schönheit auf die Wahrnehmung von Symmetrie durch das Auge eingeschränkt wird, entfällt für Alciphron bei Musik und Literatur ebenso wie bei anderen Sinneserfahrungen das Kennzeichen der Schönheit. Euphranor hält dagegen, dass das Auge keine Symmetrie erkennen könne, sondern nur

151

Der Empirismus

der Verstand. Ordnung, Angemessenheit, Symmetrie beziehen sich auf einen (durch Gottes Vorsehung hergestellten) Zweck und begründen so einen ästhetischen und moralischen Wert. Erst dann könne man von Schönheit sprechen. Aus der »Sprache« der Symmetrie leitete Berkeley sogar einen Gottesbeweis ab. Den Empirismus Lockes verstärkend formulierte Abbé Étienne Bonnot de Con­ dillac eine beinahe moderne, sensualistisch inspirierte Zeichentheorie. Der Sensualismus war die Gegenthese gegen die völlige Trennung von Geist und Materie bei Descartes, der den Geist als von eingeborenen Ideen konstituiert annahm. Für Thomas Hobbes war das Denken von materiellen sprachlichen Zeichen abhängig. Bei Condillac gründen Sprache und Denken in einem gemeinsamen sinnlichen Ursprung, der von den Sinnes- und Sprachorganen bis zur Perzeption von Sinneseindrücken reichte. »Condillac lässt das Denken und die Sprache aus einem Prozess der Wechselwirkung von Sinneserfahrungen und Zeichen hervorgehen, eine Entwicklung, die mit den ersten rudimentären Formen der menschlichen Gesellschaft und ihren Kommunikationsbedürfnissen beginnt und dank der Fähigkeit zur Zeichenverwendung als ein Prozess der Selbstvervollkommnung des Menschen verläuft.« Das heißt nicht, dass Condillac die Position des Realismus vertreten hätte. Er stand eher dem Nominalismus nahe. Begriffe waren für ihn gedankliche Abstraktionen von in den Gegenständen vorhandenen Eigenschaften. Eine der profiliertesten Gestalten des Empirismus war der 1711 geborene schottische Adelige David Hume. Er unterstrich Lockes Meinung, dass alle nicht in der Erfahrung begründeten Grundsätze dogmatisch seien. Hume war in seinem Empirismus äußerst konsequent und sah keine Möglichkeit, Kausalität oder Substanz empirisch festzustellen. Ebenso waren für ihn, wie er in An Enquiry concerning Human Understanding (1748) ausführte, Vorstellungen und Begriffe nur Produkte der Sinneswahrnehmung. Trotzdem wollte der Anhänger Newtons einen sinnvollen Zusammenhang in der Welt nicht aufgeben. Dieser gründe in der Gleichförmigkeit der Natur. Eine Annahme, die er ziemlich ungeschützt voraussetzte. Hume, der in den aufgeklärten Pariser Salons herumgereicht wurde, nahm auch Stellung zu ästhetischen Themen. Neben Of beauty and deformity als Teil des Treatise of Human Nature (1739/40) waren vor allem die Essays of the Standard of Taste (1757) diesem Thema gewidmet. Im Vordergrund standen, wie bereits unter 2.2.2. beschrieben, die Fragen nach dem Geschmack und dem ästhetischen Urteil. Für Hume schob sich der sensualistische Anteil am goût in den Vordergrund. Dies richtete sich gegen die alte Parallelisierung von mathematischen und musikalischen Harmonien mit dem Konzept von Schönheit. Schönheit liege nicht im Objekt (mit seiner Bindung an die kosmischen Harmonien), sondern, von Eigenschaften im Objekt ausgelöst, entstehe sie als Empfindung im Betrachter. Schönheit (beauty) und Hässlichkeit (deformity) werden zwar Objekten zugesprochen, ergeben sich aber aus den Gefühlen (sentiments) des Gefallens oder Missfallens. Die Wahrheit eines ästhetischen Gefühls bleibt weitgehend subjektiv. Hume unterscheidet die Anwendung dieser Gefühle auf die Natur, wo es zu einer spontanen Reaktion kommt, oder auf Werke der bildenden Künste, wo die Rezipientin erst einer gewissen Vorbereitung zur Rezeption bedarf.

de Con­dillac

Ricken Ulrich in ­Kreimendahl 2000, 176

David Hume

522 David Hume, Porträt v. Allan Ramsey (1766)

152

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Hume 1757, 269 Kulenkampff Jens in Kreimendahl 2000, 138 Kulenkampff Jens in ÄKPh, 415

Gethmann-Siefert 1995, 62

Ebd., 63f, 68f

Hume 1757, 272

Ebd., 278 X.2.8.

Allerdings wissen wir aus Erfahrung, dass wir nicht jedes Urteil zu tolerieren bereit sind, weshalb Hume doch auf zumindest ein objektives Kriteriums für Schönheit setzt. Dieses ist eine sich nur in langen Zeiträumen wandelnde, daher scheinbar einigermaßen konstante gesellschaftliche Übereinstimmung zu Schönheit und Hässlichkeit. Dieses Kriterium begründet keine Einheitlichkeit der Geschmacksurteile, aber doch eine gewisse Universalität, die letztlich in der Natur des Menschen verwurzelt ist. Eine Regel des Geschmacks lässt sich nach Hume, wenn überhaupt, nur auf empirischem Weg finden (general rules of art are found only on experience). Solche Regeln wären »general observations, concerning what has been universally found to please in all countries and in all ages.« Hume ist überzeugt, »dass sich aus der universellen Gleichheit der menschlichen Natur allgemeine Gesetze des Geschmacks und der Kunst ergeben.« Inhaltlich blickte Hume dabei auf den Klassizismus: »Die gesuchten Regeln sind nämlich keine anderen als die Prinzipien klassischer Komposition, für die die Kunstwerke des Altertums die maßgeblichen Beispiele sind.« Solche Meinungen bilden einen Konsens, auf dem Kant später seinen Gemeinsinn begründen konnte. Allerdings musste dabei geschärft werden, dass solche Regeln nicht mit universellen Gesetzen verwechselt werden durften. Beobachtung führt »nicht automatisch zur Allgemeinheit des Gefallens am Schönen.« Humes Empirismus lebte vom Optimismus, dass die Induktion eine vollständige Erfassung der Fakten ermöglicht und von da her letztlich auch zu einem gültigen Geschmacksurteil führt. Die Sinnlichkeit – bei Baumgarten ein unteres, aber selbständiges Erkenntnisvermögen – war für Hume der (positiv bewertete) Ausgangspunkt für die Induktion. Sinnlichkeit ist kein Hindernis, wohl aber andere Verstellungen des Kunstwerks. Es gilt daher, das Kunstwerk in einen ungestörten Rezeptionsrahmen zu stellen (to a suitable situation and disposition). Annemarie Gethmann-Siefert verweist in diesem Zusammenhang auf die zu Beginn des 19. Jh.s entstandene Institution des Museums, das die von Hume formulierten Bedingungen erfüllte: ungestörte Wahrnehmung der Kunstwerke durch ihre Isolierung von der Alltagswelt und die Auszeichnung der Werke als schön – ihre Musealisierung. Was in dieser Weise induktiv erfahren wird und über längere Zeit und mit großer Verbreitung gilt, davon lässt sich schließlich die Idee vollkommener Schönheit ableiten, »[…] we may thence derive an idea of the perfect beauty; […].« Dass es dennoch zur Uneinigkeit bei den Geschmacksurteilen kommt, hängt nach Hume mit der Unterschiedlichkeit der Ausbildung der Feinheit des Geschmacks zusammen. Wie es feinere oder gröbere Sinnesempfindungen gibt, lässt sich durch Training der ästhetischen Urteilskraft eine feinere Sensibilität der Kunst gegenüber erreichen. Die Feinheit des Geschmacks ist demnach lehr- und lernbar. Letztlich gewinnt erst der gelehrte und geschulte Kenner, bei dem sich feiner Geschmack mit klarem Verstand verbindet, ein Urteilsvermögen. Hume nennt die Voraussetzungen solcher Erkenntnisleistung: »Strong sense, united to delicate sentiment, improved by practice, perfected by comparison, and cleared of all prejudice […].« Man könnte diese Überlegungen als erste Anmerkungen lesen zu dem, was man modern als Institutionentheorie der Kunst ausgebaut hat. »Kultivierter Geschmack,

153

Der Empirismus

personifiziert im idealen Kritiker, wird zu einer typisch aufklärerischen Institution. Sie ersetzt in ästhetischer Funktion traditionelle Institutionen wie Kirche und Staat und bewahrt das von Fremdherrschaft befreite ästhetisch urteilende Individuum davor, mit seinen Wertungen bloßer Beliebigkeit anheimzufallen.« Im Endeffekt hat man hier ein ähnliches Ergebnis wie im Geniekult des Rationalismus, aber auf der Basis einer empirischen Begründung. Die alten Institutionen wurden von einer neuen, aufgeklärten Institution abgelöst. Eine solche Theorie ließ sich freilich »nur in Zeiten eines ungebrochenen Klassizismus« verstehen. Schon von der philosophischen Systematik her wird klar, dass für den Empirismus das Problem der Freiheit keineswegs trivial ist. Willensfreiheit wird durch die Macht der Triebe durchkreuzt, Erkenntnisfreiheit durch die Macht der Sinneseindrücke. Umso mehr nahm der Empirismus die Herausforderung des neuen selbstbewussten Individuums an. Das vermutlich wichtigste Beispiel dafür war Adam Smith und sein Konzept des Mechanismusgedankens in der empiristischen Variante. Die dynamische Seinskonzeption im Rationalismus offenbarte sich als geistgetragene prästabilierte Harmonie. Dahinter verbarg sich die alte, Harmonie schaffende kosmische Bewegung, im Innersten von göttlichem Sinn durchzogen. Im Empirismus wurde diese Dynamik gleichsam säkularisiert. Bei Smith wird sie als ausgleichende Kraft des Marktes fruchtbar gemacht. Der Markt ist jener ein Gleichgewicht herstellende Prozess, der die Summe von Einzelinteressen mit Zauberhand zu einem bestmöglichen Gut für alle verwandelt. Smith, Inhaber einer Professur für Moraltheologie in Glasgow, verband mit dem von ihm formulierten Gedanken des Marktes einen ethischen Anspruch. Der Markt wurde zu einem wichtigen Baustein in der Konzeption des modernen gewaltenteiligen, antietatistischen Staates und dessen Basis, dem Liberalismus. Smith, der bei einer zweijährigen Frankreichreise mit den führenden Aufklärern der Zeit zusammentraf, trug wesentlich zur Wende von einem mit Monopolen befestigten Merkantilismus zu einer freien Wirtschaftsordnung bei. Dabei war auch der (von John Locke formulierte) Gedanke des Privateigentums eine wichtige Voraussetzung. Trotz dieser liberalen Grundstimmung formulierte auch der Empirismus – vor allem am Anfang – noch Utopien und Visionen eines perfekt funktionierenden Staates. Bacons Nova Atlantis oder Hobbes’ Leviathan sind die bekanntesten Beispiele.

5.2. Kunstphilosophische Positionen zwischen Empirismus und Rationalismus Für die Position des Empirismus waren Ästhetik und Kunstphilosophie kaum Themen mit besonderer Priorität. Aber es wurden dort für die Kunstphilosophie wegweisende Grundlagen formuliert, namentlich für jede Art sensitiver Ästhetik und für eine Genieästhetik des Regelbruchs. So gesehen ist der Empirismus, der sich weitgehend mit der Aufklärung deckte, ein ausgeprägterer Schritt in Richtung Moderne als der Rationalismus. Im Folgenden werden einige Positionen vorgestellt, die sich auf diesem Weg in die Moderne bereits vom Klassizismus abwandten, ohne noch in der Moderne angekommen zu sein. Diese Positionen im »Herbst des Klassizismus« lassen sich kaum eindeutig einer der beiden neuzeitlichen philosophischen Schulen zuordnen.

Lüthe Rudolf/Fontius Martin in ÄGB 2, 801

Kulenkampff Jens in Kreimendahl 2000, 139

Adam Smith

2.2.1.

154

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

5.2.1. Auf dem Weg zur Begründung einer philosophischen Ästhetik Shaftesbury

4.2.4.3.1.

Coreth/Schöndorf 1983, 87; Tabarasi 2007, 82

Shaftesbury 1709, 81 Wittkower 1949, 114 Sprute Jürgen in ­Kreimendahl 2000, 33

Von Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, der schlicht als Shaftesbury in die Geschichte der Philosophie einging, war bereits kurz die Rede. Sein Erzieher war kein Geringerer als John Locke, der zudem der Familie mit hausärztlichen Ratschlägen diente. Drei Jahre lang bereiste Shaftesbury in der üblichen Weise Italien, Frankreich und Deutschland, studierte Literatur, Kunst, Philosophie und ging auf Seiten der Whigs in das Unterhaus. Später übernahm er den Sitz seines Vaters im Oberhaus. Philosophisch fühlte sich Shaftesbury vom Platonikerkreis in Cambridge angezogen, eine Kuriosität im empirisch und aristotelisch geprägten England. Shaftesbury legte seine ästhetischen Theorien verstreut in mehreren Werken vor. Das nicht zuletzt deshalb, weil Kunst für ihn eine kulturelle Äußerungsform des Menschen schlechthin war, weshalb er sie nicht von anderen philosophischen Bereichen trennen und isoliert darstellen wollte. In seiner Anthropologie bestimmte er den Menschen als Wesen mit ästhetischen, moralischen und sozialen Anteilen. Zum Unterschied von seinem Lehrer hing der Schüler an der neuplatonischen Lehre. Er vertrat einen »ästhetisch-ethischen Pantheismus«, der den Menschen als Spiegel der göttlichen Kosmosordnung sah – Shaftesbury sprach vom Weltgeist, der Einheit (Great One of the World) oder vom Selbst der Natur (Original Self) und von einer Natur, die grundsätzlich schön ist. Schönheit hatte die alte ontologische Bedeutung der göttlichen Weltharmonik, wie sie die Renaissance so üppig formuliert hatte und noch Keplers Harmonice mundi prägte. Schönheit finde sich nicht im Materiellen und Sinnlichen, vielmehr gehe es darum, zu versuchen, »ob wir nicht wenigstens einen schwachen Anblick eines allerhöchsten Genius und der allerhöchsten Schönheit erlangen können.« Dabei werden »jene niederen Züge und Mißgestaltungen der Natur sowohl als auch des menschlichen Geschlechts augenblicklich verschwinden […].« Auch Tugend und Moral ließen sich nach diesen ewigen Harmonien des Kosmos und der Musik messen. Man kann in der Tat Shaftesbury eine »schönheitstrunkene Philosophie« zusprechen. Grundlage seiner Kunstphilosophie war die Vorliebe für die Griechen, bei denen aus seiner Sicht die klare Einfachheit begründet wurde. Daraus leitete er die Gestalt einer englischen Nationalarchitektur ab, die sich aus der Kritik am Barock definierte und sich im Gegenzug an der klassischen Harmonievorstellung orientierte. Auf dem Hintergrund einer solchen metaphysischen Option unterschied Shaftesbury in den unter dem Titel Characteristics (1732) zusammengefassten Schriften drei Klassen von Ausdrucksformen (characters): (1) alphabetische oder numerische Zeichen, also Buchstaben und Ziffern der Sprache und Mathematik, (2) plastische Nachahmungen der Natur und des Menschen, die Werke der bildenden Künste und (3) Mischformen aus den beiden ersten, gemeint sind emblematische Darstellungen. Die second characters, also die Werke der bildenden Künste, fördern – weitab davon, bloß als Schmuck zu dienen – die ästhetische und moralische Bildung des Menschen. »Über ihre verschiedenen Stufen – vom Stilleben über Landschafts- und Schlachtenbilder bis hin zu ihrer höchsten Gattung, der Historienmalerei – kann sie den Menschen zur höchsten, auf Vernunft und Moral gründenden geistigen Schön-

155

Der Empirismus

heit führen: […].« Man kann in dieser für das 18. Jh. nicht untypischen Hierarchie der Malerei noch immer einen platonischen Aufstiegsgedanken erkennen. Shaftesburys Schönheitsverständnis operiert weder mit angeborenen Ideen noch ist Schönheit Ergebnis der sinnlichen Wahrnehmung, sondern sie liegt als Teil einer göttlichen Welt im Geist des Menschen. Angeboren ist ein Sinn (sense of beauty), eine Liebe und »vernünftige Ekstase« (reasonable ecstasy) für das Schöne. Schönheit ist geistig, die formlose Materie demgegenüber schlicht hässlich. Als geistige Idee ist sie eine schönmachende (beautyfying) Kraft, die überall, in der Natur, im Menschen, in Handlungen, Gesetzen, Künsten und in der Wissenschaft existiert. »Nur eine schöne (gute und wahre) innere Form vermag eine schöne, durch Ordnung und Harmonie der Teile, Symmetrie und Proportion ausgezeichnete äußere Form zu wirken, die als solche dann wiederum dem geistigen Schönen, Wahren und Guten sinnlichen Ausdruck verleiht.« Schönheit ist Ausdruck einer unverletzten organischen Ganzheit, ihre stetige Regeneration geschieht letztlich nach dem demiurgischen Modell Platons. In einem genaueren Hinblick spezifizierte Shaftesbury die Aspekte der schönen Formen in drei Klassen: Es gibt (1) von der Natur oder vom Menschen gebildete Formen ohne Geist und eigene Formkraft, sogenannte dead forms (Metalle, Kristalle, Gesteinsformationen und vom Menschen geschaffene Artefakte). Es gibt (2) Schönheit jener Formen, die selbst Geist und formende Kraft besitzen (double beauty). Das ist der Mensch, der – im Ziel selbst ästhetisch durchformt – in seinen Handlungen und im Schaffen von Kunstwerken Schönheit erzeugen kann, und schließlich gibt es (3) die höchste Schönheit – pantheistisch gedacht – im göttlichen Wesen. Sie ist Quelle und Ursprung aller Schönheit. Im Verständnis von Shaftesbury verkörpert der Künstler die Rolle eines Zweitschöpfers (second maker) und Prometheus. Kunstwerke sind äußerlicher Ausdruck der geistigen Welt des Künstlers. Reinold Schmücker sieht an dieser Stelle eine Wende von der imitatio-naturae-Lehre zur Genieästhetik. Inwieweit man eine solche Entwicklung, die es ja schon lange, auch in der Renaissance, gab, als Wende stilisieren sollte, mag dahingestellt bleiben, aber der Sache nach ist die Einschätzung durchaus zutreffend. Aus kunstphilosophischer Sicht besitzt Kunst eine privilegierte Wahrheit und der Vermittler dafür ist das Genie. Shaftesbury formulierte einen Geniebegriff, der sich am Vorbild Shakespeare, damals der »Inbegriff des schöpferischen Genies«, orientierte. Einerseits steht das Genie für das Originelle, die Entdeckung des Neuen, andererseits ist dieses Originelle dann doch eine verborgene Wahrheit, zu der das Genie dank seiner herausragenden schöpferischen Kraft im einsamen Selbstgespräch (soliloquy) exklusiven Zugang hat. Die Chiffre dafür wird bald der Ausdruck Natur. Kant sprach später von der Natur, die (im Genie) der Kunst die Regel gibt. Das Kunstwerk löst im Betrachter ein angenehmes Gefühl aus und darüber hinaus das Bewusstsein der objektiven Verwirklichung von Schönheit. Bei der Betrachtung dieser Schönheit empfindet der Betrachter den interessenlosen Genuss (disinterested pleasure). Interesselosigkeit meint hier zwar die Freiheit von Formen externer Beschränkung, darüber hinaus aber auch den Genuss, »[…] not so much the mani­

Mirbach Dagmar in Majetschak 2005, 79

Ebd., 80

Schmücker 1998, 24

Safranski 2007b, 48

156

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Guyer Paul in Kivy 2004, 21 Stolnitz 1961b, 132

Ebd., 22

Mirbach Dagmar in Majetschak 2005, 84

Joseph Addison

Stolzenberg Jürgen in ÄKPh, 1

4.2.1./III.3.4.4.

festation of order and proportion in the object […], but rather […] the divine intelligence which is behind all order and proportion […].« Das interessenlose Wohlgefallen – auch wenn der Ausdruck in der Luft gelegen haben mag (»Interest and interestedness were very much in the air […]«) – ist hier noch unmittelbar gekoppelt mit einer neuplatonischen Ontologie: »Shaftesbury’s conception of the disinterestedness of our sense of beauty is thus not yet a modern conception of the freedom of imagination […] it is but a step toward his deeply traditional, neo-Platonic identification of beauty and goodness […].« Shaftesbury lieferte auch detaillierte Beschreibungen und Bewertungen von Kunstgenres im Hinblick auf das Gesagte. In der Malerei unterschied er die üblich gewordenen Aspekte wie Invention, Proportion, Kolorit, Emotion und Komposition. Interessanter als die formalästhetischen Fragen, die er freilich stets am Inhalt bemaß, waren die inhaltlichen Bewertungen selbst. Im Sinn der oben bereits dargestellten Hierarchie der malerischen Kunst eignet sich das Historienbild am besten für die moralische Hochrüstung der Betrachterin. Hier gibt es kaum eine Naturmimesis, sondern einen großen Rahmen, in den die Handlung eingefügt werden muss. Er beschrieb in einem eigenen Essay unter solchen Vorzeichen das Bild Herkules am Scheideweg von Paolo da Matteis (1712) nach »der ethisch relevanten Situation seiner [des Herkules; BB] Entscheidung zwischen Tugend und Lust […].« Shaftesbury verband bekanntes platonisierendes Gedankengut mit der Aufklärung und übertrug es in die Ästhetik. Seine Anregungen reichten über Winckelmann in die deutsche Klassik und der dortigen Verehrung eines »Kalokagathia-Griechentums« (schöne und gute Seele). Seine vitalistische Naturauffassung erreichte noch die Romantik und artikulierte das zeitlose Thema des Geistigen in der Kunst. Gerade wegen der aktualisierten Genieästhetik stand der ebenfalls von Locke beeinflusste Joseph Addison zwischen Klassizismus und Moderne. In der antiken Literatur und Kunst, in der er hervorragend gebildet war, fand der englische Schriftsteller seinen Regelkanon, sah aber im Genie eine Instanz des legitimen Regelverstoßes. Er neigte bei seinen Urteilen zur Kunst, die er in der zusammen mit Richard Steele um 1711 gegründeten Wochenschrift The Spectator äußerte, mehr zu dem von Regeln unbeeinträchtigten Kunstwerk. Geplante Unordnung und Gefühl seien im Kunstwerk wichtiger als unbedingte Regeltreue. Die Abweichung von der Regel war bei Addison – anders als bei Shaftesbury – der empirischen Wahrnehmung geschuldet. Er löste Kunst aus jedem metaphysischen Rahmen. Für Jürgen Stolzenberg begann mit den von Addison für den Spectator verfassten Essays on Taste and the Pleasures of the Imagination (1712) ausdrücklich die Ästhetik der Neuzeit. Neben die klassischen Kriterien Proportion und Symmetrie traten jene aus dem Kontext des Erhabenen: das Überraschende (novelty), Gefühlsgeladene (passionate) und Phantastische (immaginative). Addison kommt das Verdienst zu, das Erhabene (great/sublime) nach Einführung in die Debatte durch Boileaus Übersetzung des Pseudo-Longinus als erster im Rahmen einer Ästhetik auf die Phänomene der Natur angewandt zu haben. Dem Überwältigenden in der Natur gebührt gegenüber Kunstwerken der Vorzug, weil diese niemals derartig angenehmes Erstaunen auslö-

157

Der Empirismus

sen können. Aus der negativen Erfahrung des Unbegrenzten wird eine positive, die darin das Erlebnis der Freiheit unterbringt. In weiterer Folge wird das Erhabene zu einem eigenständigen Paradigma des Ästhetischen. »This is, of course, what would become one of the twin pillars of almost all later eighteenth-century theories under the name of the sublime.« Lockes Einfluss wird besonders deutlich bei Addisons Versuch einer ästhetischen Systematik: Primäre Gefühle der Lust (primary pleasures) entstehen bei sinnlichen Eindrücken und führen zu den erwähnten Erfahrungen rund um das Erhabene. Die sekundären Lustgefühle (secondary pleasures) sind Ergebnis des assoziativen Vermögens der Phantasie und der Erinnerung, die zwischen den natürlichen Gegenständen und deren Repräsentation im Kunstwerk vergleicht. Dieses Vermögen ist die Einbildungskraft, dessen entscheidende Rolle er in den Essays beschrieb. Einbildungskraft ist eine »komplexe kognitive Fähigkeit, deren Funktionen darin bestehen, Vorstellungen (›ideas‹) von vor allem visuell wahrnehmbaren Gegenständen zu erzeugen, im Gedächtnis zu bewahren, zu verändern bzw. zu neuen Vorstellungskomplexen zusammenzusetzen, die von einem spezifischen interesse- und begriffslosen Vergnügen begleitet sind.« Es handelt sich um die bisher profilierteste Beschreibung dieses alten Topos und sie löste einen regelrechten Ästhetikdiskurs in der englischen Architektur aus. Der empiristische Hintergrund mag Addison angeregt haben, die Einbildungskraft aus dem Kontext bloßer Erkenntnistheorie auf das Sinnliche der Ästhetik zu übertragen. Dies baute er zu einer Theorie der Katharsis aus. In der assoziativen Phantasie können selbst negative primäre Lustgefühle zur positiven Lust werden (pleasing astonishment), indem sich beispielsweise der Betrachter bei Betrachtung des Furchtbaren seiner eigenen Sicherheit bewusst wird. Das gelinge nur in der Natur, nicht im Fall von Kunstwerken. Allerdings bietet nur die Kunst durch ihre beliebige Kombinationsmöglichkeit eine die Natur übersteigende Lusterfahrung. Die Literatur orientiere sich nicht nur an der Natur, sondern »makes new worlds of its own, shows us persons who are not to be found in being, […].« In der Betrachtung der Natur und im Kunstschaffen oder in der Rezeption lassen sich die primären und sekundären Lustgefühle kombinieren. Schönheit ergibt sich aus der Wahrnehmung von Konstellationen materieller Qualitäten oder aus dem Verhältnis der Teile zum Ganzen. Diese Reste eines Harmoniedenkens waren Addisons klassische Plattform, die er nicht verlassen wollte. Diese Plattform verhinderte auch, dass Addison nicht dem völlig freien Umgang in der Kunst einschließlich des Schaffens des Unnatürlichen das Wort redete. Das Erhabene sollte demnach mit Formen verbunden werden, die dem klassischen Ideal entsprachen. Trotz der Gebundenheit an den großen Rahmen des Klassizismus sprach Addison durch das Hervorkehren der Einbildungskraft dem Subjekt eine hohe Autorität der Beurteilung ästhetischer Sachverhalte zu, was ihn zu einem Wegbereiter der Kunstkritik werden ließ. Vor allem Diderot griff diese Anregung auf und entfaltete sie in seinen Salons zu großer Meisterschaft. Einer der wichtigen Fortsetzer von Addisons Werk war Francis Hutcheson in seiner Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue, dessen erster Teil

Guyer Paul in Kivy 2004, 32

Stolzenberg Jürgen in ÄKPh, 1

Addison 1712, 150

Francis Hutcheson

158

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Guyer Paul in Kivy 2004, 24

Du Bos

hieß: Concerning Beauty, Order, Harmony, Design und der zweite: Concerning Moral Good and Evil (1725). Obwohl sich Hutcheson ausdrücklich auf Shaftesbury bezog (welcher Hinweis allerdings ab der vierten Auflage fehlte), zeigt die Trennung von Schönheit und dem Moralisch-Guten in zwei Teile seiner Inquiry die Differenz zu Shaftesbury auf. Auch Hutchesons Ästhetik ruhte auf einer sinnlichen Basis. Das Schöne setzt eine sinnliche Erfahrung voraus. Ästhetik hat seiner Auffassung nach eine ethische Funktion. Sie führe zum Erleben großer Freude. Dies solle wiederum Motivation für entsprechendes Handeln sein. Schönheit und Hässlichkeit sind nach Hutcheson keine Eigenschaften von Gegenständen, sondern bilden sich im Subjekt. Ganz im Sinne Addisons ist eine Vorstellung dann ästhetisch, wenn die Wahrnehmung von Eigenschaften eines Gegenstandes Lustempfindungen hervorruft. Dem schönen Gegenstand liegt eine Einförmigkeit (uniformity) der Vielfalt (variety) zugrunde. Wenn sich an einem Gegenstand eine solche Ordnung zeigt, reagiert der wahrnehmende Geist mit der Vorstellung der Schönheit. Hutcheson wollte das ästhetische Empfinden von anderen lustvollen Sinneseindrücken unterscheiden und postulierte dazu einen eigenen inneren Sinn für Schönheit (internal sense, sense of beauty). Dieser ästhetische Sinn ist ein passives Vermögen, Vorstellungen von Schönheit zu erhalten von Gegenständen, in denen es Einförmigkeit in der Vielfalt gibt. Der Schönheitssinn hat einen »non-cognitive character« und er ist »not a form of cognition or volition.« Wie kann es dann zu verschiedenen Urteilen über die gleichen Gegenstände kommen? Für Hutcheson erklärt sich das durch die unterschiedliche Entwicklung dieses Sinns und durch verschiedene persönliche Erfahrungen und Vorurteile. Hutcheson sprach zudem von ursprünglicher Schönheit, die wir an Gegenständen wahrnehmen, ohne dass wir diese mit etwas vergleichen, dessen Nachahmung sie sind. Das kann in der Natur, in der Musik, in geometrischen Formen, ja selbst in wissenschaftlichen Lehrsätzen vorkommen. Für Gegenstände, die Nachahmungen von einem Urbild sind, gibt es (neben der ursprünglichen Schönheit) eine komparative Schönheit. Wie sehr Hutcheson, der ein großer Liebhaber der Griechen war, immer noch von der alten Maß- und Ordnungslehre der Schönheit beeindruckt war, wird deutlich, wenn er ein gleichseitiges Dreieck als schöner ansah als andere Dreiecke. Hässlichkeit ist daher schlicht ein Mangel an Vollendung. In dieser Konzeption tritt unübersehbar ein auf dem Boden des Empirismus gepflegter Sensualismus neben die klassische Lehre der Schönheit. Jean-Baptiste Du Bos legte seine kunstphilosophischen Anliegen, die in den Pariser Salons diskutiert wurden, in seinen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture 1719 nieder. Auch in England kursierte das Buch bereits vor der englischen Übersetzung 1748 durch den irischen Schriftsteller und Übersetzer Thomas Nugent, der nebenbei 1749 einen mehrbändigen Reiseführer für die Grand Tour verfasste. Es sind in der Tat Reflexionen, besser noch: Es ist ein philosophierender Essay, in dem Du Bos das Schöne beschrieb und es ganz bewusst von der Forderung nach System befreite. Er formulierte Gedanken, die wir von Addison her kennen. Der antisystematische Impuls richtete sich aus einem empirischen Feld gegen den ratio-

159

Der Empirismus

nalistischen Hintergrund und gegen eine mathematisierende Schönheitsdefinition. Demgegenüber optierte er für eine Ästhetik der Sensibilität, also für Gefühl und Emotion im Zusammenhang mit der Schönheit. Du Bos schrieb mit Rückenwind von Rousseau ein Kapitel an der Geschichte um die Gefühlsästhetik des 18. Jh.s, die sich gegen die klassizistische Rationalität richtete. Diese wiederum war eine Vorbereitung auf eine Rezeptionsästhetik, indem die Wirkung des Kunstwerks auf die Betrachterin im Vordergrund stand. Du Bos wertete das Empfindungsvermögen (sensibilité) sogar noch auf zu einer wichtigen Grundlage der Gesellschaft ganz generell, womit er Gedanken der Romantik vorweg nahm. Die Kunst löst in der Imagination Leidenschaften aus, die eigenen Gesetzen unterliegen. Solche ästhetische Leidenschaften haben einen eigenen Geltungsbereich und beziehen sich nicht auf eine zugrundeliegende Realität. Mit dieser Differenzierung konnte Du Bos die scheinbare Paradoxie erklären, dass grausame Bilder ein ästhetisches Vergnügen bereiten können. Sie führen zu einem »interesselosen Genuss«, der von der Realität des Lebens absieht. Die Entkoppelung von ästhetischer und materieller Ebene brachte ihn trotz mancher Zugeständnisse in Opposition zum Mimesisgedanken der Klassik. Generell galt für die Künste dann die »Sprache der Leidenschaften« (langue des passions). Mimesis war für ihn kein Wettstreit um die täuschende Nachahmung einer realen Vorlage, sondern Mimesis zielt auf die Nachahmung der Leidenschaft. »The strength of the effect of a work of art does not depend upon formal properties, such as the degree of conformity between imitation and what is imitated; it depends upon the emotional force of its effect on the imagination.« Zunehmend wird in diese Mimesis der Betrachter einbezogen, was einer erheblichen Aufwertung des Kunst-Publikums gleichkam. Es ist nachgerade die Aufgabe der Kunst, die Leidenschaften in der Rezipientin sichtbar zu machen. Maßstab für den ästhetischen Wert ist die Intensität der Wirkung des Gefühls, manchmal sprach er vom »Sechsten Sinn«. In einer schwankenden Begrifflichkeit blieb dieses ästhetische Vermögen vage. Es war weder objektiv noch rein subjektiv. Es war einerseits eine Art von Organ, zugleich war es abhängig von klimatischen Umweltbedingungen. Wie Boileau begnügte sich auch Du Bos weitgehend mit der Allgemeingültigkeit eines sich in der Zeit herausbildenden Geschmacks. Bei Du Bos gibt es eine Zeichenlehre (Semiotik) in Bezug auf die Kunst, mit deren Hilfe er der Überlegenheit der Malerei gegenüber der Poesie eine Grundlage gab. In der Malerei werden »natürliche Zeichen« benützt, in der Poesie »künstliche Zeichen«, denen eine schwächere Wirkung zukommt (sekundäres Zeichensystem). Die Malerei kann dem Betrachter ein Ganzes im Sinne der Gleichzeitigkeit aller Teile darbieten. Dafür kann die Literatur Bewegung und Unsichtbares in der Sprache darstellen. Du Bos äußerte sich auch zum Geniebegriff. In dieser Frage stand er Addison nahe und er erklärte das Genie, das sich gängigen Kriterien entziehe, durch physiologische Disposition und klimatische Bedingungen. Der platonische Enthusiasmos wird durch den Empirismus an realen Fakten angedockt. Das Geniekonzept widerspreche deshalb nicht zwangsläufig der Naturnachahmung. Vielmehr war der

Ebd., 28

X.3.4.

160

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Charles Batteux

Kristeller 1952

Müller W. 2004, 218

Giambattista Vico

Croce 1902, 229

Begriff der Naturnachahmung elastisch genug, um diese Herausforderung in der bereits mehrfach angesprochenen Art zu bewältigen. Viele Gedanken dieses großen Anregers wurden weitergeführt, der Autor selbst hingegen geriet weitgehend in Vergessenheit. Charles Batteux, Professor für Rhetorik und der griechischen und lateinischen Dichtung in Paris, wurde mit seiner Schrift Les Beaux Arts réduits à un même principe (1746) bekannt. Noch immer rang man um einen Kanon der Künste. Generell entsprechen Künste einem Bedürfnis des Menschen. Sie gliedern sich in nützliche, angenehme und schöne Künste. Insbesondere den beiden letztgenannten kommt eine Autonomie zu und eine Rezeption ohne Interesse (sans intérêt). Zu den mechanischen Künsten zählte Batteux Rhetorik und Architektur, zu den schönen Künsten, die dem Genuss dienen, Musik, Dichtung, Malerei und Tanz. Diese ahmen die Natur nach (l’imitation de la belle nature). Mit weiteren kunstphilosophischen Schriften schlug er sich in der Querelle auf die Seite der Anciens und wurde so zu einem Objekt der Angriffe der Modernes. Sein dem Rationalismus entstammendes Anliegen war die Formulierung einer Metaregel, eines allgemeinen Prinzips, mit welchem sich die unterschiedlichen Kunstregeln nochmals begründen ließen. Er glaubte, solches bei Aristoteles’ Prinzip der Nachahmung gefunden zu haben und sprach von einer schönen Natur (belle nature) und von gutem Geschmack (le bon goût). Worum es ihm vor allem ging, war die Abwehr des Architektur-Capriccios, also einer eklektizistischen Architekturphantasie (zumeist gar nicht gebaut, sondern nur auf Papier entworfen), die sich nicht mehr um Plausibilität scherte, von der Orientierung an der Natur ganz abgesehen. Rippenfänger in den Gewölben, hängende Treppen, Trompen waren solche jeder Wahrscheinlichkeit widersprechende Erfindungen. »Das Kunstwerk kann mehr sein als die Natur, indem es deren Mangel ausgleicht, es ist aber weniger als die Natur, indem die Kunst nur täuschend nachzubilden in der Lage ist.« Maßstab hat stets die Natur zu bleiben und nicht die Phantasie. Batteux’ Naturnachahmung exponiert abermals das schwierige Thema des 18. Jh.s. Und selbst in diesem empiristischen Umfeld bleibt ein Platonismus leitend, denn er sah in den Künstler Nachahmer der idealen Vorbildern der Dinge der Natur. Dennoch ist dieser Platonismus durch sensualistische und materialistische (wenn man will: aristotelische) Aspekte und die Betonung der Rezeptionsseite überformt, ein Klassizismus somit durch den korrigierenden Stellenwert der Natur unterlaufen. Durch den eklektizistischen Aspekt dieser Kunsttheorie ist eine Zuordnung schwierig und es finden sich viele Motive, die vor allem bei Kant eine avancierte Formulierung finden werden. Giambattista Vico, der in seiner Heimatstadt Neapel eine (schlecht bezahlte) Professur für Rhetorik innehatte, versuchte sich an einer umfangreichen Kultur- und Kunsttheorie: Principii di una scienza nuova interno alla natura della nazioni (1725). Das Buch gewann erst nach seinem Tod größeren Einfluss. Vielen heutigen Autorinnen gilt Vico – Benedetto Croces Einschätzung aufgreifend – als Begründer der Ästhetik im neuzeitlichen Sinn. Vico wandte sich vom strengen Cartesianismus ab. Er vermochte in der Welt keine Wahrheit mehr zu finden, sondern bestenfalls noch

161

Der Empirismus

Sicherheit. Er ersetzte das Urteil des Descartes durch die Allgemeinvernunft des Menschen. Vicos (rhetorisch angehauchte) Kulturtheorie basierte auf der Überzeugung, dass der Mensch über die von Gott geschaffene Natur – er nennt sie die stumme göttliche Sprache – nichts wissen und aussagen könne. Der göttlichen Sprache am nächsten komme die heroische Sprache, die in Sinnbildern und Metaphern spricht. Darunter verstand er nicht eine mythische Form, sondern eine eigenständige symbolische und poetische Sprache. Die eigentlich wahre Rede sind die Metapher und das sprachliche Bild, die das gewöhnliche prosaische Sprechen des Menschen übersteigen, das Vico als dritte Sprachform menschliche Sprache nennt. »Die göttliche und die heroische Sprache zusammen bezeichnen das ursprüngliche poetische Tun der Sprache selbst, die menschliche Sprache die uns geläufige Prosa ihres Gebrauchs.« Dies entwickelte Vico auf dem Hintergrund einer mehrfach verschränkten Sicht der Geschichte. Mit den Zeitaltern der Götter, der Heroen und der Menschen lassen sich die (geheime und aus stummen Gebärden bestehende) hieroglyphische und die symbolische (in der die stumme Sprache der Natur in Zeichen übertragen wird) mit der gewöhnlichen Sprache verknüpfen. Die Alltagssprache bleibt bloßes Instrument des Informationsaustauschs. Hier liegt kein historischer Fortschrittsgedanke vor, sondern die genannten Stadien verstand Vico synchron. Daher ist Sprache stets offen ausgerichtet auf das Poetische und ihre Metaphern. Die sinnbildende Kraft wird in dem universale fantastico, dem in der Phantasie erzeugten Allgemeinbegriff, offenbar. Damit versteht er »jenes ursprünglich kreative Tun, dessen Subjekt und Objekt Sprache als Sinnübertragung ist.« Dort fallen Erinnerung, Phantasie und Ingenium zusammen. Das sind produktive Begriffe, welche eine Brücke vom Geist zur Sinnlichkeit schlagen. Und diese Verbindung ist nichts anderes als Ästhetik. Die delikate Theorie Vicos wurde von den Zeitgenossen kaum rezipiert.

Kreuzer Johann in ÄKPh, 801

Ebd.

5.2.2. Denis Diderot und der Beginn der Kunstkritik Über das Leben des 1713 in der Champagne geborenen Denis Diderot sind wir schlecht unterrichtet. Er studierte Theologie und war wohl von seinen Eltern für den Priesterberuf vorgesehen. Es kam allerdings anders. Er wurde ein aufgeklärter Intellektueller, Atheist und Schriftsteller. Er begann seine einschlägige Tätigkeit mit der Übersetzung englischer Werke ins Französische. Darunter war Ephraim Chambers’ zweibändige, in London 1728 veröffentlichte Cyclopaedia, die erste englischsprachige Enzyklopädie. Aus dieser Übersetzerarbeit erwuchs ein gigantisches eigenes Projekt. Zusammen mit Jean le Rond d’Alembert arbeitete er an einer großen Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Das Projekt verfolgte die Absicht, in einer gegen Systemambitionen gerichteten Weise das Wissen der Zeit in Naturwissenschaft, Kunst und Literatur zu sammeln. Mehrere hundert Einträge in diesem opus magnum verfasste allein Diderot. Das Werk, an dem 142 namentlich bekannte Mitarbeiter über 25 Jahre lang arbeiteten, umfasste zuletzt 17 Text- und 11 Bildbände mit über 70 000 Artikeln. Die Arbeit daran war ein ständiger Kampf mit der Zensur, viele Mitarbeiter warfen entnervt das Handtuch. Um 1770 gab es einen Hoffnungsschimmer. Die erbittert gegen

523 Denis Diderot, Porträt v. Louis-Michel van Loo (1767) Enzyklopädie

162

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Blom 2010, 294

1.5.7.

Ebd., 315

Ebd., 317 Abbt 2017

Kunstkritik

Keller 1971, 71

Blom 2010, 95

das Werk kämpfenden Jesuiten hatten sich in skandalöses Weise bei Handelsspekulationen verzockt und damit ihre Reputation schwer beschädigt. Das Werk konnte – zwar offiziell verboten – durch Stillschweigen des Chefzensors ausgeliefert werden. »[…] eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Philosophen hatte einen enormen Sieg gegen die geeinten Mächte von Kirche und Staat errungen.« Es wurde ein europäischer Bestseller und Diderot damit als le philosophe überall in Europa berühmt. Sein Glanz strahlte bis in das damals mit der Aufklärung kokettierende Russland. Zarin Katharina II. erstand nicht nur Diderots Bibliothek, sondern sprach, wie berichtet, 1762 eine Einladung nach St. Petersburg aus. Als Diderot schließlich 1773/1774 in St. Petersburg weilte, kam es monatelang zu regelmäßigen Aussprachen. Seine ungewöhnliche, sich um keine höfische Etikette kümmernde Art scheint Katharina amüsiert zu haben und seine im wahrsten Sinne des Wortes ausholende Argumentationsweise hinterließ auf den Oberschenkeln der Majestät blaue Flecken, wie sie in einem Brief an eine Vertraute klagte, sodass als Schutz ein Beistelltisch zwischen die beiden geschoben wurde. Sosehr sich die Zarin an Philosophie und Kunst delektierte, Diderot scheiterte krachend darin, der absoluten Monarchie aufklärerische und konstitutionelle Elemente zu implementieren. Er habe in Russland »den Gestank des Despotismus« riechen müssen, klagte er. »Die Gegner der Aufklärung hatten ihn in Paris ins Gefängnis gesetzt, die Freundin der Aufklärung liess ihn sich als Narr begreifen.« Diderot blieb von dieser Erfahrung nicht ungerührt, sondern schärfte seine Sicht auf die Aufklärung dort, wo sie nicht abgehobene Theorie bleiben, sondern als politisches Werkzeug funktionieren sollte, erheblich (Observations sur le Nakaz; geschrieben 1774). Philosophisch bekannte sich Diderot zum Empirismus, namentlich zu Shaftesbury, dessen Werk er übersetzte. Damit wird nicht überraschen, dass sich auch Anleihen bei neuplatonisch-spinozistischen und rationalistischen Traditionen finden lassen. Seine literarischen Werke ließ Diderot wegen der Zensur nicht mehr erscheinen. Er hielt sie zurück oder präsentierte sie nur in Lesungen vor ausgewähltem Kreis in diversen Salons. Auch die philosophischen Schriften wurden wegen ihrer materialistischen Ausrichtung gleich verboten und erschienen anonym. Mit Diderot begann die große Tradition der Kunstkritik. Erstmals hatte 1747 Étienne La Font de Saint-Yenne aus Lyon eine Pariser Gemäldeausstellung im Sinne heutiger Kunstkritik besprochen. Diderot begann 1759 mit einer Salons genannten Serie in der handgeschriebenen (um die Zensur zu umgehen) Zeitschrift Correspondance littéraire von Friedrich Melchior Grimm, die einen Abonnentenkreis von wenigen Dutzend Fürsten (darunter Zarin Katharina II.), adeligen Damen und Kulturschaffenden in ganz Europa umfasste. Sie war »bei weitem die verlässlichste und offenste Quelle über das intellektuelle Leben der Zeit in Frankreich.« Diderot bediente die Zeitschrift mit Lücken wegen seiner Auslandsaufenthalte bis 1781 und kommentierte darin ab 1759 kritisch acht Ausstellungen der Académie Royale de Peinture et de Sculpture im Louvre. Die Ausstellungen waren von Ludwig XIV. im Sinne der öffentlichen Präsentation der Akademie in Auftrag gegeben worden

163

Der Empirismus

und Colbert versuchte sie umzusetzen, was anfangs nur schleppend gelang. 1667, 1669, 1671 und 1673 fanden die ersten Ausstellungen statt. Der Sitz der Akademie befand sich im Louvre, in dem auch Wohnateliers von Künstlern untergebracht waren. Zudem wurde er zu einem Museum ausgebaut. Am Ende einer langen Galerie (Grande Galerie) befand sich der von Le Vau nach einem Brand 1661 gebaute Salon Carré, nach dem die Ausstellungen Salons genannt wurden. Im Jahr 1725 fand die Ausstellung in der Grande Galerie statt, die folgenden dann regelmäßig (in der Regel biennal) im Salon Carré mit breiter Beteiligung von Mitgliedern der Akademie. Nicht-Mitglieder durften gelegentlich à la porte ausstellen. Diderots Salons – die Texte sind vollständig überliefert – wirkten als Vorbild. Bald führten auch andere prominente Autoren Besprechungen der Salons durch: Heinrich Heine (1831), Charles Baudelaire (1845/1846), Émile Zola. Daneben verfasste Diderot Abhandlungen zu Kunstfragen, die bildende Kunst und die Literatur betreffend (Essais sur la peinture). Entsprechend seiner Lebensphase zwischen Rokoko-Kultur und dem Vorabend der Französischen Revolution sieht Peter Bexte seine Schriften zur Kunst einen Weg von »rosigen Putti bis zum republikanischen Pathos« durchmessen. Diderot geht in seinen kunstphilosophischen Überlegungen von der Doppelnatur des Menschen als Gefühls- und Verstandeswesen aus. Tritt beim Genie eher das Emotionale in den Vordergrund, ist es beim Schauspieler das rationale Kalkül. Über das Schöne schrieb er in einem Artikel der Encyclopédie. Darin destruiert er die alte Harmonielehre. Sie sei eine Weise des Schönen von vielen. Denn es gibt keine Norm idealer Schönheit. Allerdings sind es durchaus bestimmte Formen, die einen Gegenstand schön machen (beau réel), unabhängig von einem rezipierenden Subjekt. Dieses beau réel löst die alte Kompromissformel der Teilung in beau absolu und beau relatif ab. Bei Shaftesbury fand er dazu den Naturzweck als Grundlage. Darauf ließe sich das Schöne, abseits von subjektiver Willkür, aufbauen. Neben dem in der Sache verorteten beau réel gibt es Schönes der Rezeption (beau aperçu). Eine Rezipientin stellt im Denken Beziehungen her, die von der Wahrnehmung ausgelöst wurden. »Ein Kunstwerk muß also eine Wirkung ausüben – das ist von Bedeutung für den Zweck, den Diderot der Kunst zuschreibt.« Die Urteile des Geschmacks sind abhängig von individuellen Wahrnehmungsarten, von klimatischen, gesetzgeberischen und anderen äußeren Bedingungen und der je unterschiedlichen Konstruktion der Beziehungen. Diderot nahm sich in der Ausdeutung der Naturnachahmung mehr Freiheit als viele Zeitgenossen, namentlich als Du Bos. Wie sehr eine konstruktive Rolle des Subjekts, die Kant so nachhaltig formulierte, in dieser Zeit Thema war, zeigen Äußerungen in der Encyclopédie, wonach die Natur nur eine traurige und stumme Szene sei, wenn man den Menschen ausschließt. Diderot bevorzugte gegenüber den alten heroischen Bildern eine Malerei, die er zwar noch zum Genre der Historienbilder zählte, die aber eigentlich zur Genredarstellung gehört. In den Salons besprach er in diesem Sinn enthusiastisch die Werke von Jean-Baptiste Greuze: »Das ist moralische Malerei.« Sie dienten ihm, dessen erster Roman (Les Bijoux indiscrets) ein erotischer war (angeblich um das einfälti-

Kernbauer 2012, 178f

die Salons

Bexte 2005, 307f

Ebd., 292

das Schöne

Graeber Wilhelm in ÄKPh, 228

Dieckmann 1969, 57

Diderot 2005, 94

164

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Kofman 1986, 15

Diderot 2005, 132

Bexte 2005, 316

4.2.1.

Ebd., 298

Achermann Eric in Majetschak 2005, 103

ge Strickmuster der einschlägigen Romane der Zeit zu entlarven), als exemplarische Verbindung von Ästhetik und Moral. Kunst soll die Emotionen anregen und dadurch eine moralische Wirkung entfalten. Greuze wurde als Peintre de genre bezeichnet. Um 1766 war der Ausdruck Genremalerei entstanden, dem Diderot alles zuordnete, was nicht unter Historienmalerei zu führen war. Sarah Kofman griff in ihrer Kunstdeutung auf die bezwingende Interpretation zurück, die Diderot dem Bild von Greuze Ein junges Mädchen, das um seinen toten Vogel weint, widmete, und gab ihr eine postmoderne Pointe. Nicht den Verlust des Vogels beweine das Mädchen, sondern den Verlust der Bedeutung. Es sei die fehlende Bedeutung, der Ausstieg aus der mimetischen Abbildung, der gegenständlichen Verdoppelung der Welt, der »einer Apathie des Betrachters oder zumindest einer Verwandlung seiner Affekte mit kathartischem Wert« entspreche. Diderot ging es um Leidenschaft im Sinne der Moral und nicht im Sinne der Lust. Über Boucher, den Diderot nun gar nicht mochte, schrieb er: »Dieser Mann greift nur zum Pinsel, um mir Busen und Hinterpartien zu zeigen. Ich sehe sie ganz gern, aber ich vertrage es nicht, daß man auf sie hinzeigt.« Darin entfernte sich Diderot von Barock und Rokoko und wandte sich einem Klassizismus zu, der moralische Anstalt sein sollte und den er etwa am jungen Jacques-Louis David feierte. Peter Bexte resümiert darüber launig: Diderots Schriften zur Kunst »markieren den Durchgangspunkt von rosigen Hinterteilen zum republikanischen Pathos eines Jacques-Louis David.« Diderots Überlegungen liegt die Forderung nach Naturnachahmung zugrunde. Allerdings meinte er damit die Abbildung der »schönen Natur«, die es nur im Inneren gebe. Er schloss mit diesem Ausdruck bei Batteux an, beklagte aber die unklare Definition dessen, was »schöne Natur« sein soll. Der Topos der Naturnachahmung war im 18. Jh., wie bereits gezeigt, sehr komplex. Es gibt bei dieser Frage, die Diderot im Vorwort zum Salon 1767 ausführte, einen rationalistischen Zungenschlag oder sogar mehr: »Nirgends ist Diderot der Philosophie Platons näher gewesen als in diesem Text, der von Natur als einem ideellen Wesen, von wahren Linien, von Urbildern nebst Schattenbildern ihrer Schattenbilder spricht.« Aber über das Ganze legt sich eine empirische Ausgangssituation. Vom realen Modell muss der Künstler das Zufällige und Individuelle wegnehmen. Das hätten die Künstler der Antike mit Bravour geschafft. Sie seien nicht von einer idealen Vorstellung der Schönheit ausgegangen, sondern hätten die Fehler der Natur korrigiert. Es ist eine aisthesis, eine sinnliche Erfahrung, die dieser Diderotschen Ästhetik zugrunde liegt. Es geht um Wahrheit der Kunst, nicht um unklare Allegorisierung. Das ist nun wahrlich keine klassizistische Position mehr, sondern schlicht Aufklärung! In seiner Zeit misst Diderot das Verfahren eher an den zeitgenössischen Wissenschaften. Die einschlägige Forschung hat denn auch Bezüge Diderots zu Bacon, Locke und Condillac nachgewiesen. Seine Kunsttheorie, ganz besonders aber die Artikel der Encyclopédie fanden vor allem in Deutschland aufgeschlossene Leser und eine engagierte Rezeption.

165

Der Empirismus

5.2.3. Alexander Baumgarten und der Beginn der Ästhetik Auf Drängen seines Schülers Georg Friedrich Meier veröffentlichte der durch die rationalistische Schule Christian Wolffs geprägte Alexander Gottlieb Baumgarten 1750 den ersten Teil (der zweite Teil erschien 1758) des fragmentarisch gebliebenen Werks Aesthetica. Der Buchtitel des 1714 in Berlin geborenen Philosophen wurde zum Gattungsbegriff einer neuen philosophischen Disziplin. Das lateinisch verfasste Werk gilt als Wende von der vormodernen zur modernen Ästhetik. Diese in der Forschungsliteratur verbreitete Einschätzung, die sich vor allem auf das (für einen rationalistisch geprägten Gelehrten überraschende) Interesse Baumgartens an sinnlicher Erkenntnis stützt, ist zweifellos nicht falsch. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass von einem wirklichen Durchbruch zu einer modernen Ästhetik erst im Kraftfeld von Kant und Hegel gesprochen werden kann. Aber Baumgarten bleibt der wichtige Meilenstein, bei dem (zumindest im deutschsprachigen Raum) ein philosophisch-ästhetischer Diskurs begann. Die Gewährsleute für den in der rationalistischen Tradition stehenden Baumgarten waren neben Aristoteles Dichter der Antike. Philosophisch unmittelbar knüpfte er an der spätscholastischen Behandlung der niederen Erkenntnisvermögen und bei Leibniz an. Leibniz verfolgte das Anliegen, die strenge Trennung von Substanz und Geist bei Descartes zu überwinden, indem er zwischen diese Pole gestufte Erkenntnisweisen setzte. Erkenntnis steige von einer dunklen (obscura) über eine klar-verworrene (clara-confusa) und zu einer deutlich-inadäquaten (distincta-inadaequata) zur vollkommenen, nämlich einer adäquat-intuitiven (adaequata-intuitiva) auf. Eine ästhetische Erfahrung im Sinne Baumgartens müsste hier am ehesten bei der klar-verworrenen Erkenntnis ansetzen. Für Leibniz bedeutete das: Wir erkennen »zwar Farben, Gerüche, Geschmacksempfindungen, und andere den Sinnen eigentümliche Gegenstände hinreichend klar und unterscheiden sie voneinander, aber auf Grund des einfachen Zeugnisses der Sinne, nicht jedoch auf Grund aussagbarer Kennzeichen.« Neben Leibniz hinterließen auch Locke, Shaftesbury und Hutcheson Spuren. Baumgarten selbst verwies übrigens auf den ebenfalls aus der Wolffschen Schule stammenden Georg Bernhard Bilfinger,als denjenigen, der bereits 1725 noch vor ihm selbst eine Ästhetik als eigenständige Wissenschaft gefordert hatte. Neben der Aesthetica ist für das Verständnis seines Anliegens seine Doktorarbeit, die Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts; 1735) von Bedeutung. Dort nahm er einen ersten Anlauf, das Empfinden und Fühlen mit einem Wahrheitsanspruch auszustatten und eine Wissenschaft des sinnlichen Erkenntnisvermögens zu formulieren. »Auch die Sinneserfahrung erlaubt Wahrheitsvermittlung.« Das ist – von Annemarie Gethmann-Siefert kurz zusammengefasst – die Botschaft. Es ging in dieser Arbeit, in der er zum ersten Mal den Terminus Ästhetik verwandte, nicht mehr um die alten Fragen der Poetik, also um formale Regeln eines Gedichts, sondern – allgemein – um das Wesen der Poetik schlechthin. Es ging um das, was ein Gedicht darstellt, wenn es sensitive, nicht-begriffliche Vorstellungen vermittelt. Das

X.1.2.1.

2.2.1.

Leibniz 1684, 22f

Gethmann-Siefert 1995, 41

166

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

III.2.4.3.2.5.

Kant 1781, A21

Scheer 1997, 56, 71 Franke 1972

VIII.6.0.

Bonsiepen 2005, 2f

Gedicht nannte Baumgarten eine vollkommene sensitive Rede (oratio sensitiva perfecta). Dass den Sinnen hierbei zum Unterschied zu Descartes und der langen platonischen Tradition eine Erkenntnisfähigkeit zugesprochen wird und wie dies zu verstehen ist, ist Gegenstand der Aesthetica. Allerdings ist die Frontstellung gegen Platon nicht ganz eindeutig, denn Platon selbst hat im Timaios die Materie vorsichtig rehabilitiert. Freilich ging es um eine Materieauffassung, die von der Vernunft gesteuert wurde. Von da her lässt sich die philosophische Position Baumgartens erklären, dass nämlich die Hinwendung einer vernunftbasierten Materialität seiner eigenen Herkunft aus einer rationalistischen Philosophenschule wenig widerspricht. Dass man an dieser Stelle auch Aristoteles mit ins philosophische Boot holen konnte, wird nicht überraschen. Johann Gottfried Herder nannte deswegen Baumgarten einen »wahren Aristoteliker«, während Kant ihn wegen seines vermeintlichen Empirismus und seiner Nähe zu Empfindung und Rührung kritisch sah. Jedenfalls war diese Wende in der Scholastik vor- und sie wurde im neuzeitlichen Rationalismus weitergedacht. Leibniz kannte einen der Vernunft analogen Charakter (analogon rationis) für das triebartige, assoziative »Denken« der Tiere. Er und Wolff formulierten den erwähnten enen Übergang von dunklen, verworrenen Vorstellungen des Sinnlichen zu klaren des Verstandes. Vielleicht ist es deshalb richtig zu sagen, dass bei Baumgarten das Interesse für eine Wissenschaft des sensitiven Erkennens, ja gar »Rationalitäts- und Wissenschaftskritik« im Vordergrund stand und nicht so sehr eine Theorie des Schönen. Brigitte Scheer folgt mit dieser Einschätzung der Untersuchung von Ursula Franke, die eine wichtige Relativierung dieses meist nur als Begründer der modernen Ästhetik rezipierten Philosophen durchgeführt hat. Andererseits ist gerade die Anwendung auf das Feld des Schönen ein konsequentes Fortschreiben Platons und die eigentliche Neuerung eines alten Stoffes. Die Philosophie hat sich mit der Ästhetik dem Sinnlichen und dem Gefühl zugewandt, ein bisher »unbestelltes Feld«. Baumgartens Buchtitel ist in eine Zeit gesprochen, in der der Terminus Ästhetik keineswegs gefestigt war, sondern wo verbreitet von der Wissenschaft oder Theorie der schönen Künste geredet wurde. Insbesondere in Frankreich blieb der Ausdruck belles lettres noch lange Standard, der Begriff Ästhetik setzte sich nur zögernd durch. So nachhaltig Baumgarten für die Geschichte der Ästhetik war, so wenig wurde er von den Zeitgenossen beachtet. Seine Position gewann erst Einfluss über die Vermittlung seines Schülers Georg Friedrich Meier, der in den Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften (1748–1750) und in seiner Vernunftlehre (1752) die Gedanken Baumgartens aufgriff und sie (schon durch die Wahl der deutschen Sprache für seine Schriften) popularisierte. Meier sah kaum eine Möglichkeit, Kunst definitorisch durch den Schönheitsbegriff von Ethik und Erkenntnistheorie abzusetzen. Grund dafür war das Niemandsland zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Wie baute Baumgarten sein Gebäude nun auf? Gleich am Anfang der Aesthetica bezeichnet er die Ästhetik als Wissenschaft (scientia) und als Kunst (ars), letztere in der alten Bedeutung einer Fertigkeit. Diese bezieht sich auf Kunstwerke, wäh-

167

Der Empirismus

rend die Ästhetik als Wissenschaft auch natürliche Gegenstände umfasst. Sie ist eine »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« (scientia cognitionis sensitivae), zugleich eine »Theorie der freien Künste« und eine »Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens.« Es fallen sogar Ausdrücke wie »Wissenschaft des Schönen«. Ästhetik bei Baumgarten meint sinnliche Erfahrung per se, der ein Selbstwert zukommt und die nicht zur Vervollkommnung durch eine Vernunfterfahrung eliminiert werden muss. Baumgarten sah in der Vorherrschaft eines einseitigen mathematisch-logischen Wissenschaftsbegriffs eine Einschränkung der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen, zum Schaden auch für die Naturwissenschaften. Insofern kümmerte er sich um die bislang eher für dunkel gehaltenen Seiten des Menschen, seine Sinnlichkeit und Gefühlswelt, nobilitierte diese Seiten und setzte damit auch einen Gegenpol zum Rationalismus. Ziel war die »Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis« selbst. Gelingt dies, entsteht Schönheit. »Schönheit ist weder objektive Dingeigenschaft noch subjektiver Empfindungsinhalt, sondern gelungene Erkenntnis im Bereich des Sensitiven […].« Zum Unterschied davon bedeutet »Unvollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis« Hässlichkeit (deformitas). Unverkennbar ist das ein platonisches Konzept. Die Aufwertung der Sinnlichkeit war für das pietistische Umfeld Baumgartens ein Ärgernis und ein nicht ungefährliches Unternehmen. Christian Wolff war einige Jahre zuvor schon wegen seines Rationalismus und dem Bekenntnis zur Fähigkeit der menschlichen Vernunft aus dem pietistisch geprägten Halle vertrieben worden, in dem Baumgarten ab 1727 die Schule besuchte und anschließend Theologie, Philologie, Poetik und Rhetorik studierte. Die Geschichte um Wolff erregte in Europa großes Aufsehen, ein »Galilei des Protestantismus« war geboren. Georg Friedrich Meier fühlte sich daher bemüßigt, Baumgarten, der nun nicht nur eine aufklärerische Vernunft, sondern sogar die Sinnlichkeit stark machte, gegen jene zu verteidigen, die beim Wort Sinnlichkeit an »nichts weiter denken, als an die Erbsünde, und dasjenige, was die Schrift Fleisch nennt.« Dass solche Verteidigungsgesten nicht grundlos waren, zeigten die wütenden Reaktionen mancher Zeitgenossen. Selbst ein Christian Wolff polemisierte ebenso wie Johann Christoph Gottsched und andere gegen das »neumodische Kunstwort« (Ästhetik!) und die damit verbundene Aufwertung der dunklen Sinnlichkeit und des Gefühls. Gegen solchen Verdacht half wieder der Verweis auf das Leitbild der Naturnachahmung. Baumgarten schrieb also dem Sinnlichen eine eigene Logizität zu. »Mit Baumgartens philosophischer Ästhetik wird ein eigener Bereich für die Philosophie der Kunst eröffnet, nämlich die Rekonstruktion der Sinneserfahrung als Weise der Erkenntnis.« Wie es eine Logik des Verstandes gibt, gibt es eine solche der Empfindung. Diese Wahrheit ist weder mathematisch-logisch, noch reine Mimesis des Sinnenhaften. Die Rezeption des Sinnlichen durch ein »unteres Erkenntnisvermögen« ist das Geschäft des »Ästhetikers«. Das war durchaus als Einschränkung der logischen Erkenntnis gemeint. Ein »aesthetischer Horizont« habe an die Seite eines »logischen Horizonts« zu treten und diesen in Schranken zu weisen. Georg Friedrich Meier nützte dies zur Polemik gegen die »schulfüchsische und düstere Creatur« des »prac-

Baumgarten 1750, §1/§533

Reschke Renate in ÄGB 5, 398 Baumgarten 1750, §14

Schwaiger Clemens in Kreimendahl 2000, 48

Meier, zit. nach Scheer 1997, 57

Gethmann-Siefert 1995, 29

168

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Meier 1748, 9/27 X.1.0.

Kliche Dieter in ÄGB 1, 326

z.B. Baumgarten 1750, §36

Ebd., §14 Franke Ursula in ÄKPh, 75

Braun 1995, 32–41

tischen Logicus«, ein »Baum ohne Blätter und ohne Blüthen«, dem er den menschlichen »Aestheticus« gegenüberstellte. Die »schönen Wissenschaften« machten »die Wege eben, worauf die Wahrheit in die Seele ihren Einzug halten kann.« Ansatzweise ist hier die im gegenwärtigen Diskurs um Ästhetik eingebettete Debatte um das Verhältnis von Philosophie und Kunst (hier als sinnliche Erkenntnis) begonnen. Jedenfalls kann man sagen, dass Baumgarten das beim cartesianischen Vernunftbegriff Ausgegrenzte rehabilitierte. Er erweiterte den Vernunftbegriff auf das in der Erfahrung vorherrschende Dunkle und Verworrene. Diesen felix aestheticus zeichnet eine besondere Sensibilität des unteren Erkenntnisvermögens mitsamt anderen Dispositionen aus, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei um einen Theoretiker, Künstler oder Schriftsteller handelt. Die Figur steht im »Kreuzungspunkt von (alter) Rhetorik/Poetik und (neuer) Ästhetik […], weil Baumgarten in diese Figur eine Synthese von Kultur der Vernunft und Kultur der Sinne projiziert.« Es scheint um eine Naturanlage zu gehen, die prinzipiell jedem zukommen kann. Der felix aestheticus verfügt neben einer genauen Wahrnehmungsgabe über scharfen Verstand, dichterische Anlage und einen guten Geschmack. An verschiedenen Stellen in seinem Werk spielt Baumgarten im Hinblick auf diese Kunstfigur mit dem alten Schauvermögen des Genies. Daneben gibt es auch Handfesteres wie Gesundheit, Geld, Muße, was sich zur Größe einer entsprechenden Gesinnung verbindet, nämlich eine Hochgestimmtheit der Seele, die im einzelnen Menschen zur Wirkung kommt. Anders als bei Kants Konzentration auf die Vernunft können bei Baumgarten auch die Sinne Urteile des Geschmacks fällen. Der Zugang zur Wahrheit sinnlicher Erkenntnis durch die Sinne führt also zu einem Urteil mit eigenständigem Wert. Sinnliche Erkenntnis ist – Rückgriff auf Leibniz – zunächst verworren (confuse). Das bedeutet, dass ein ursprünglicher Zusammenhang der gesamten Vorstellungen noch sichtbar bleibt, der im Weiteren bei einer klaren und exakt-begrifflichen Wahrnehmung verloren geht. Der Kunst bzw. Ästhetik kommt nun die Aufgabe zu, verworrene Vorstellungen in Klarheit zu überführen (perfectio cognitionis sensitivae, qua talis), ohne dass die Sichtbarkeit dieses Zusammenhangs verloren geht. Zwar bleibt hier eine sinnliche Erkenntnis leitend, aber das Kunstwerk repräsentiert letztlich »den zweckvoll geordneten Zusammenhang und die Harmonie der Dinge ästhetisch […].« Das Kunstwerk ist eine Repräsentation und nicht etwa eine konstruktive subjektive Setzung. Die gelingende Rezeption entscheidet über die Schönheit. Diese wiederum gewinnt ihren Maßstab aus einer vorgegebenen Harmonie. Ein rationalistisch-platonischer Hintergrund bleibt tonangebend. Der Künstler ahmt in seinem Schaffensprozess durchaus den göttlichen Schöpfungsakt nach und gestaltet etwas in der Natur bereits Angelegtes. Auch ein Gedicht ist eine Nachahmung der Natur. Noch über Leibniz hinaus weisen Spuren solchen Denkens in den frühneuzeitlichen Rationalismus. Bereits der Thomist Thomas de Vio, Cajetan, hatte ein solches Erkenntnisschema – freilich ohne jedes Interesse an einem ästhetischen Aspekt – ausführlich beschrieben. Trotz dieser dominanten, in großen Teilen noch scholastisch geprägten Leitphilosophie muss die Rehabilitation nicht nur des Sinnlichen, sondern auch des In-

169

Der Empirismus

dividuellen als der große »Fortschritt« bei Baumgarten im Auge behalten werden. Es geht schließlich »um eine möglichst reiche Bestimmung der Gegenstände, was einer möglichst großen Individualisierung gleichkommt, denn Individuen sind, wie Baumgarten sagt, durchgängig bestimmt.« Wie bereits angedeutet erzeugen nach Baumgarten auch die Sinne ein Urteil (iudicium sensuum). Lust und Unlust entstehen in den Sinnen, jede Kunstart kennt den ihr adäquaten Sinn. Dieses Urteilsvermögen der Sinne nennt er Geschmack. »Alles Beurteilen durch die Sinne (Augen, Ohren) wird gemeinhin Geschmack genannt. Wenn es aber um ein ästhetisches Urteil im engeren Sinn geht, muß zusätzlich gewährleistet sein, daß nicht voreilig und damit falsch geurteilt wird […].« Ziel der Ästhetik nach Alexander Baumgarten ist eine Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis, wobei Vollkommenheit einer Bestimmung des Schönen entspricht. Schönheit ist jedoch keine »Eigenschaft der Dinge, sondern der Art und Weise, wie diese erfaßt werden.« Als Übereinstimmung von Vorstellungen ist ihre Bemessungsgrundlage die geordnete Harmonie des Kosmos. Darin kann man Thomas von Aquins integritas sive perfectio ebenso wiedererkennen wie die platonische, später im Rationalismus weitergeführte kosmische Harmonielehre. Damit ist auch der Geschmack orientiert auf eine sinnliche Beurteilung der Vollkommenheit eines Gegenstandes. Es geht um Einheit einer Mannigfaltigkeit, um ein Zusammenklingen des Heterogenen. Weil das Erfassen am Sinnlichen hängt, ist das Schöne nicht einfach eine rationale Erkenntnisleistung des Subjekts. Daher hat Baumgarten keine Probleme, das alte Adäquationsprinzip in seiner Vollkommenheitskonzeption unterzubringen, also die scholastische Gleichung, dass die Ordnung nicht nur in sich selbst, sondern mit den Sachen übereinstimmen muss. Es geht darum, dass jemand »die objektiv gegebenen ästhetischen Merkmale möglichst vollkommen sinnlich erkennt.« Schönheit ruht auf einem ontologischen Modell des ens et unum auf (das Seiende und die Einheit gehören zusammen). Diese Art von Realismus wird manchmal als vormodern eingestuft, weil das kritische Subjekt nur eine abbildende, aber keine gestaltende Kompetenz hat. Bei Kant wandelte sich das gründlich. Was tun wir nach Baumgarten mit dem Deformierten, Widersprüchlichen, Unbegründbaren? Dieses gibt es zwar, aber es ist ebenso ästhetisch falsch bzw. hässlich wie die Chimäre und das Absurde. Ästhetik muss demgegenüber wahr bleiben. Es wird kaum verwundern, dass Baumgartens Ästhetik mit ihren weit in der Scholastik wurzelnden Bestimmungen für eine Kunst wenig Verständnis aufbringt, die nicht mehr am Schönen, Wahren und Guten ausgerichtet ist. Mit seiner Hinwendung zur sinnlichen Erkenntnis im ursprünglichen Sinn der aisthesis setzte er zwar einen bedeutenden Schritt zur Ästhetisierung der Kunst, aber eben nur einen ersten Schritt. Baumgartens Theorie ließ sich letztlich für eine Ästhetik, eine Kunstphilosophie und eine Wahrnehmungsmetaphysik fruchtbar machen. Was die Ästhetik im engeren Sinn betrifft, blieb diese vorerst auf den deutschsprechenden Raum begrenzt. Zudem hatte er sich zwischen zwei Stühle gesetzt: In England verhinderte der Empirismus, in Frankreich verhinderten Sensualismus und Aufklärung die Übernahme solch metaphysischer Konzepte noch bis zum Ende des 19. Jh.s.

Hauskeller Michael in Majetschak 2005, 120

Gethmann-Siefert 1995, 48

Hauskeller Michael in Majetschak 2005, 123

Baumgarten 1750, §19 Neumaier 1999, 167

6.1. Baumgarten 1750, §21/§477

VIII.6.0.

170

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

5.2.4. Edmund Burke und das Erhabene

Strube Werner in ÄKPh, 152ff

Kliche Dieter in ÄGB 1, 318

Die zweite Hälfte des 18. Jh.s brachte erhebliche Bewegung in die Ästhetik. Nicht nur Baumgartens Begründung ist an dieser Stelle festzumachen, sondern es wurde von Edmund Burke und Nicolas Boileau das Konzept des Erhabenen formuliert, was geradezu eine eigenständige Ästhetik ins Spiel brachte. Der 1729 geborene irische Schriftsteller und Politiker Edmund Burke schrieb mehrere Abhandlungen zu staatspolitischen Themen, zu Steuerrecht und zur Kolonialpolitik. Als Aufklärer gehörte er philosophisch zur Bewegung des Empirismus, war Freimaurer, lehnte jedoch, wie schon erwähnt, die Französische Revolution ab (Reflections on the Revolution in France; 1790) und gilt aus diesem Grund auch Konservativen als wichtiger Vordenker. Kunstphilosophisch epochal ist Burke wegen seiner als noch nicht Zwanzigjähriger geschriebenen Abhandlung A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime an Beautiful, die 1757 erschien. Darin traf er eine Unterscheidung von Schönem und Erhabenem. Schönes hat mit Rundem, Glattem und Weichem zu tun, das geschwungen und von heller Farbe ist. Es hat nichts gemein mit Harmonie und Proportion – diese alte Tradition wird von ihm unsanft zerpflückt –, eher zitierte er das alte venustum (angenehm, lieblich) als das pulchrum. In der Tat könnte man hier den kulturellen Hintergrund des Rokoko ausmachen. In dieser Hinsicht steht Burke gegen den Klassizismus. Ebenso wird das Erhabene gegen den Klassizismus in Stellung gebracht, das mit dem Gegenteil zu tun hat, dem Rauen und Eckigen, Überdimensionalen und Unheimlichen. Gemeint sind damit in erster Linie Objekte der Natur. Burkes Ästhetik des Erhabenen korrespondiert insofern mit Baumgartens Konzept, als die Grundlage für das Erhabene eine sensualistische und empirische Basis hat. Kant knüpfte unmittelbar hier an und nicht am alten Schönheitskonzept. Das Entstehen beider ästhetischer Qualitäten erklärt Burke mechanisch (im Sinne der Newtonschen Gesetze in der Physik und der mechanistischen Psychologie von Hobbes und Locke). Die physiologische Wirkung löst die entsprechenden Reaktionen aus. Demnach verursache das Schöne eine Erschlaffung der Nerven, was wiederum zu gelöster Stimmung und zärtlicher Zuneigung zu schönen Gegenständen führt. Diese Zuneigung hat auch eine soziale Perspektive, sie fördert die Geselligkeit. Das trifft sich mit Burkes empiristischer Gesellschaftstheorie, die den Menschen nur in der Gemeinschaft des Staates aus seiner Unvollkommenheit erlöst sieht. Obwohl Burke für Kant eine wichtige Referenz war, ging er im Unterschied zu Kants auf der Vernunft basierenden Urteilen von den Empfindungen aus, von der Affektion des Sinnlichen und der Leidenschaften. »Mit der Nobilitierung und neuen Relevanz der Affekte erfuhren Anschauung, Einbildungskraft, Sinne, Sinnlichkeit und sinnliche Wahrnehmung im Rahmen der Begründung bürgerlicher Daseinsordnung und im Fahrwasser des Sensualismus und Empirismus eine immense Aufwertung.« Das Gefühl des Erhabenen hingegen wird durch die Erregung der Nerven ausgelöst, die durch den Schrecken in eine unnatürliche Spannung versetzt werden. Das schlägt sich in körperlichen Reaktionen nieder. Burke formuliert hier das Phänomen

171

Der Empirismus

des angenehmen Schauders, der als delightful horror erlebt werden kann, weil der Betrachter der Szenerie sich in sicherem Abstand befindet. Solch Erhabenes kann neben den Naturobjekten auch die Dichtung durch die uferlose Kombinationsmöglichkeit von Worten auslösen. Die Malerei unterliegt demgegenüber den Zwängen des Figurativen. Man könnte von einer doppelten Struktur des Erhabenen reden: drohender Schrecken, genügende Distanz. Zweifellos gibt es hier eine Brücke zu Kants Entwurf des Erhabenen. Diese Feststellung müsste freilich durch den Hinweis ergänzt werden, dass es dort um eine transzendentale und hier um eine empirische Begründung ging. In einer der späteren Auflagen der Enquiry fügte Burke eine Geschmackstheorie dazu. Geschmack als ein Vermögen, das sowohl auf Sinneserfahrung beruht wie auf Einbildungskraft und Verstand. Geschmack versammelt die beschriebene Qualität von Schönem und Erhabenem. Burkes Sensualismus bildet die (empirische) Basis für die Allgemeingültigkeit eines solchen Geschmacksurteils, die wiederum Voraussetzung einer Ästhetik ist, die bloß private Urteile über Schönheit überbieten kann. Verletzungen solcher Allgemeingültigkeit sind allenfalls auf Nichtwissen zurückzuführen. Dass Burke aus dem Deutschen Idealismus viel Kritik entgegen gebracht wurde, wird kaum überraschen. Er sehe die Idee im Schönen nicht und nehme das Erhabene nur als Furchtbares und nicht als Erhöhung der Seele wahr, war der Hauptvorwurf.

Portune 2003 6.3.4.

5.2.5. Das Pittoreske und die Architektur des Gartens Beim Erhabenen ging es auch um eine Rehabilitation des Emotionalen, also jenes Bereichs, der seit Platon negativ beleumundet war und der in der jetzigen Diskussion als Gegensatz zum Klassischen und für das Barocke stand. Das Erhabene war eine ästhetische Qualität, die das Klassische und den rationalistischen geometrischen Ordo unterlaufen konnte. Eine ähnliche Funktion hatte das Pittoreske. Der Begriff dürfte aus Frankreich stammen und kam über Alexander Popes Letter to Caryll in die Debatte nach England. Der klassizistisch orientierte Schriftsteller Pope beschäftigte sich auch mit Landschaftsgestaltung. Die Vorgeschichte greift allerdings weiter aus. Im 17. Jh. bereiste William Temple China und lernte dort den naturnahen chinesischen Garten kennen. Temple nannte diesen ungeordneten Garten sharawadgi (nach dem japanischen Wort für Asymmetrie). Auch die Kritik am geometrisch-cartesianisch gestalteten Barockgarten Frankreichs gab es schon länger, etwa von Henry Wotton. An diesem Übergang vom französischen Garten more geometrico in den naturnahen englischen Garten im Rahmen der Gartenarchitektur entwickelte sich die Diskussion um die Qualität des Pittoresken. Der englische Garten wurde letztlich zu einem Symbol für die Erosion des Klassizismus. Häufig wird Stephen Switzer genannt, der »den Bogen vom französischen Barockgarten zum naturorientierten Landschaftsgarten zog.« Joseph Addison stimmte in diese Diskussion im Hinblick auf einen antiklassizistischen Befund ein. Der anglikanische Geistliche und Landschaftsmaler William Gilpin, ein Freund von Horace Walpole, führte in seinem Essay on Prints Burkes Gedanken vom Er-

Wiebenson 1978

Tabarasi 2007, 31–61

4.2.4.3.1.

Kluckert 2008, 392 5.2.1. das Erhabene VIII.3.2.2.1.

172

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

5.2.1.

Busch 1993, 478

Gray, zit. nach Hooper 2001, 176

habenen in anderer Weise fort. Das Pittoreske (picturesque) sei Schönheit, die das Raue (roughness) und Unregelmäßige (irregularity) einschließt. Der Begriff nahm so eine Zwischenstellung zwischen den ästhetischen Begriffen des Schönen und des Erhabenen ein. Gilpin sah darin eine Verbindung von Gartenarchitektur und Landschaftsmalerei. Der Garten sei ein dreidimensionales Gemälde. Den Park von Stowe/ Buckinghamshire betrachtete er wie eine Bildersammlung – stets das Erhabene der Landschaft für den Betrachter im Blick. Landschaft fungierte hier als genaues Gegenteil von dem, was im Barock die mathematisch-rationale Gestaltung des Landschaftsgartens forderte. Die Diskussion erhielt einen erheblichen philosophischen Überbau durch Shaftesbury, der im geometrischen Garten einen die Natur diktatorisch unterwerfenden Absolutismus sah. Er plädierte demgegenüber für eine wilde Natur. Thomas Whately führte den politischen Zungenschlag Shaftesburys fort. Mit dem neuen englischen Garten verband er den Gedanken der Freiheit. Whately, in seiner Profes­sion Politiker und als solcher für koloniale Angelegenheiten zuständig, betätigte sich amateurhaft als Gartentheoretiker (Observations on Modern Gardening Illustrated by Descriptions). Auch er hob die Erlebbarkeit des Gartens durch seine Dreidimensionalität und seine Ausgesetztheit gegenüber dem Zyklus der Jahreszeiten und den Wetterlagen hervor. Anders als Gilpin sah er in der Ästhetik des Gartens ein Resultat eigenständiger Kreativität und kein Abbild von Gemälden. An der Konfrontation dieser beiden Gartentypen lässt sich eine über die Gartenkunst hinausgreifende Entwertung der »Verbindlichkeit überlieferter Sinnbilder« festhalten, welche die Kunst ganz allgemein in die Moderne führte. »Die Historisierung mit ihrer Infragestellung überlieferter Bildersprache treibt die Ästhetisierung des Bildes hervor.« Der Großgrundbesitzer Uvedale Price wurde mit seinen Schriften zur Landschaftsgestaltung zu einer der wichtigsten Stimmen in der Pittoresken-Debatte. Er schrieb einen Essay on the Picturesque as compared with the Sublime and the Beautiful (1794). Price übernahm darin die alte Gleichung für das Pittoreske als Zwischenbereich zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. Auch er bezog sich auf die Form der Landschaftsmalerei, die sich gerade nicht an der alten Symmetrieforderung messen soll. Der Gelehrte und Erforscher von Phallus-Kulten, des Erhabenen und Pittoresken, Richard Payne Knight, der mit Price befreundet war, wollte die Landschaftsgestaltung ganz der Landschaftsmalerei angleichen und forderte Vorder-, Mittel- und Hintergrund von einem Beobachterstandpunkt aus. Den Begriff des Pittoresken leitete er aus der venezianischen Malerei des 16. Jh.s ab. Damit war nicht die Qualität des Malerischen gemeint, sondern die antiklassizistische Pointe der sinnlichen Erregung (im Sinne des Sublimen). Das Pittoreske wurde schließlich zu einem ästhetischen Ideal der Romantik, es war subversiv antiklassizistisch und antirationalistisch. Thomas Gray schrieb 1765 über die schottischen Highlands und die Besucher dort: »None but those monstrous creatures of God know how to join so much beauty with so much horror.« Dieses neue Ideal fand Eingang in die Architektur und diente als aktueller Interpretations-

173

Der Empirismus

rahmen – nicht zuletzt für das Reisen. Die einschlägigen Autoren schrieben Reiseführer, welche die alte Bedeutung der Grand Tour veränderten. Jene Bildungs- und Initiationsreise, die wohlhabende Briten in den Süden führte, um die klassische Antike kennen zu lernen, sollte nun in diesem neuen Schönheitsideal reflektiert werden. Es ging sozusagen um die Eingliederung des vorgefundenen Antiken und Exotischen in eine Gartenarchitektur, welche das alte Schönheitsideal der Harmonie und Symmetrie in Malerei und Landschaftsgestaltung zugunsten des Wilden, Natürlichen, Verfallenden und Unsymmetrischen aufgegeben hatte. Das Pittoreske wurde zu einer Sammelcharakterisierung überall dort, wo der Bruch mit der Klassizität unübersehbar war. Somit lässt sich eine solche Charakteristik auch bei den großen Architekten bis ins 19. Jh., Robert Adam, William Chambers, oder bei John Soane und seinem Rivalen John Nash mit seinen malerischen Bauernhäusern (cottages) samt idealisierter Vorstellung vom Landleben anwenden. Selbstredend gab es auch Widerstand gegen den Bruch des Schönheitsideals, der sich in einem durch die Traktate von Gilpin und Price ausgelösten »Pittoresken-Streit« entlud. Wie schon erwähnt spielten dabei politische und moralphilosophische Aspekte hinein. Das Pochen auf einen freien natürlichen Garten konnte sich nicht nur auf die Traditionslinie der alten Gartenliteratur, sondern auf die Ideen Rousseaus berufen. Er hatte den Garten – jenen wild-romantischen ohne Symmetrie – als Naturereignis beschrieben, welches dem Menschen die Rückkehr zu seinen natürlichen Ursprüngen erlaubt. Kunstphilosophisch kommt dem Garten immer auch eine Analogie und zugleich Kritik der Stadt, ja der Zivilisation ganz generell, zu. Dies nahm Shaftesburys auf, der die Idee der Natur als Ideal der Moralität kennzeichnete. In diesem Kontext wird es kaum überraschen, dass viele Gartenarchitekten Freimaurer waren und für ihren Anti-Absolutismus in der Gartentheorie ein Anwendungsgebiet fanden. Vermutlich könnte man in der Tat manchen verschlungenen Weg durch die Gärten, auf dem man einen Tempel Salomons passierte oder durch ein Gewirr aus Grotten und Spiegeln zum Licht schreiten konnte, in übertragenem Sinn als Erkenntnisweg des Menschen, und damit in freimaurerischer Aufklärungsabsicht, deuten. Die auf Freiheit pochenden und von da her den englischen Garten verteidigenden Whigs (denen Shaftesbury angehörte) stießen auf Widerstand etwa von Seiten des Tory William Chambers, der den englischen Garten ablehnte, weil er zu wenig Kunst enthalte. Er sei Ausdruck einer idyllischen Whig-Ideologie. Die Kontroverse richtete sich gegen Lancelot Brown, der über 170 Parkanlagen gestaltet hatte, und Humphrey Repton, der als Berater auftrat und auf dessen Konto eine noch größere Zahl von Anlagen ging, wenngleich er sie nicht detailliert durchgestaltet hat. Der begeisterte China-Reisende Chambers füllte seine Gärten, wie vor ihm der erwähnte William Temple, mit Chinoiserien und sah darin offenbar die not-

4.2.3.

VIII.3.2.1.1. Pittoresken-Streit

VII.7.1.

Tabarasi 2007, 44

VIII.3.2.1.1.

524 / 525 Chinesisches Haus im Park Sanssouci (um 1760); Potsdam

174

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Kult der Ruine

Keller 1971, 53 Kruft 1985, 294

Keller 1971, 46

der englische Garten

wendige Ausstattung mit Kunst. Obwohl bei Chambers der französische Garten einem ähnlichen Verdikt unterlag, freute man sich in Frankreich über jede Kritik am englischen Garten, galt der Kult um ihn dort ohnehin als nationalistisch. Das ästhetische Konzept des Pittoresken hatte Auswirkungen auf die Architektur von Gebäuden. Sie wurden nicht mehr isoliert betrachtet, sondern als Teil einer Landschaft. Unabhängig voneinander begann in ganz Europa der präromantische Kult der Ruine. Einer der ersten, der die Ruinenvedute zur Kunstform machte, war der in Venedig tätige, in Belluno geborene Marco Ricci. Er war »eine romantische Natur, mehr als ein halbes Jahrhundert vor der Romantik.« Der erste Theoretiker, der »die Möglichkeit sieht, durch gebaute Ruinen den Stimmungswert einer Situation zu steigern, […]«, soll der oben erwähnte Stephen Switzer gewesen sein. In seinen Schriften begründet Switzer die Funktion der Ruine sensualistisch. Hatte die Renaissance noch die Ambition perfekter Städteveduten, malten die englischen Architekten des 18. und 19. Jh.s Entwürfe in Form von Ruinen. Von Joseph Michael Gandy, einem Partner John Soanes, gibt es eine aquarellierte Federzeichnung von Soanes Bank of England als Ruine. Schließlich kam die Idee auf, eine malerische Ruine in einem verwilderten Wald neu zu bauen. Solches führte Sanderson Miller mit gotischem Formenrepertoire durch. Michele Marieschi vereinte seine venezianisch inspirierten Ruinen mit gotischen Relikten, Minaretten, Moos und Laubwerk. Canaletto und Piranesi folgten. In Italien, wo man den klassischen Ruinen eigentlich näher gewesen wäre, baute der römische Architekt und Bildhauer Carlo Marchionni in den Fünfzigerjahren des 18. Jh.s eine Ruine im Garten der Villa Albani. Wilhelm IX., Landgraf von Hessen-Kassel, ließ sich 1791 von Heinrich Jussow im italienisch-barocken Garten des Schlosses von Kassel (den er in einen englischen Landschaftsgarten verwandelte) die Löwenburg als künstliche Ruine bauen, die sich im Inneren jedoch als luxuriöses Landhaus entpuppte. Dies machte Schule und es gibt eine Reihe solcher Bauten, die in ihrem ruinösen Zustand bis heute überlebt haben. Der romantische englische Garten fasste ab der Mitte des Jahrhunderts auf dem europäischen Festland Fuß und erfreute sich eines höheren Zuspruchs als der geometrische französische Garten. Eines der ersten berühmten Exemplare in Deutschland, geradezu ein Wallfahrtsort für Künstler und Architekten, war um 1790 jener des Friedrich Franz, Fürst von Anhalt-Dessau in Wörlitz. Der aufgeklärte Fürst hatte den Landschaftsgarten auf seinen zusammen mit seinem Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff durchgeführten Reisen nach Italien, Frankreich und vor allem England kennen gelernt. 1775 kam es in Paris zu einer Begegnung mit Rousseau, den der Fürst als Anreger für seine Naturliebe betrachtete. Der Wörlitzer Garten ist neben dem klassizistischen Schloss (1769–1773) gefüllt mit Natur- und Architekturzitaten aus aller Herren Länder, sowie etlichen Kopien von Kunstwerken aus Antike und Renaissance. Neben englischen Traktaten zum Garten gab Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Professor der Philosophie und schönen Künste in Kiel, eine Theorie des wild-romantischen Landschaftsgartens im Gefolge von Addison und William Chambers heraus.

175

Der Empirismus

In seiner Theorie der Gartenkunst (1779) führte er eine Klassifikation der Gärten ein, einerseits nach emotionalen Stimmungen (der heitere oder melancholische Garten), andererseits nach Funktion, vom Kloster- über den Friedhof-, Akademie-, Hospital- und Schlossgarten bis zum Volksgarten. Ein Garten des letztgenannten Typs ist der Englische Garten in München, der 1789 weitgehend nach Hirschfelds Vorgaben durch den Gartenarchitekten Friedrich Ludwig von Sckell entstand. Der chinesische Turm sollte entfernt werden, da Hirschfeld nur Bauten im klassizistischen Stil (»im guten und reinen Styl«), aber nicht solche exotischer Art zuließ, er blieb jedoch stehen. Den französischen Garten verurteilte er scharf, der Garten von Versailles rufe ihm zufolge nur Langeweile hervor. Unbeschadet der Tatsache, wie man streng geometrisch konstruierte Gärten bewerten mag, war dieses Urteil zudem unberechtigt, weil sich der Geschmack unter Ludwig XVI. verändert und in Versailles die Typik des englischen Landschaftsgartens Eingang gefunden hatte. Es entstanden Tempelruinen, chinesische Kioske und pastorale eingebettete Weiler. »Aus dem berühmtesten europäischen Barockgarten entwickelte sich fast harmonisch der erste ausgeprägte englische Landschaftsgarten auf dem Kontinent.«

Kluckert 2008, 208

5.2.6. Kunst und Erkenntnis Spätestens nach Baumgarten wurde die Fragestellung aktuell – und sie verstärkte sich in der zeitgenössischen Philosophie –, ob und inwieweit Ästhetik als Erkenntnislehre betrachtet werden muss. Dazu kursieren zwei Varianten: entweder die Formulierung von Ästhetik und Kunstphilosophie als Erkenntnistheorie, oder die Postulierung einer spezifischen Erkenntnismethode für die Sinnlichkeit der Kunst. Diese würde einen bewusst anderen Zugang zur Kunst sicherstellen und die Kunst in Opposition zu jeder strengen Begriffsarchitektur einer klassischen Erkenntnistheorie belassen. Kunstphilosophie in einem solchen Sinn wäre eine Theorie von Phänomenen und Symbolen, die eine Auseinandersetzung mit der Welt in einem anderen als erkenntnistheoretischen Kontext ermöglichte. Kunst würde dabei zu einer kritischen Alternative gegenüber der Reduktion von Welterfahrung auf Rationalität und auf die Gesetze der Logik. Stellvertretend dafür stehen Baumgarten und in seinem Gefolge neuerdings mehrere Bemühungen zur erkenntnistheoretischen Rehabilitierung der Sinnlichkeit. Dass sich Konstanten im Fluss des Sinnlichen, wo sich überhaupt ein erkenntnistheoretisches Instrumentarium anlegen ließe, schwer ausfindig machen lassen, zeigt sich bei den Schwierigkeiten, wie sie sich Baumgarten stellten. Von Kant bis zur Analytischen Philosophie der Gegenwart blieb indes der Reiz einer erkenntnistheoretischen Bewältigung von Kunst und Ästhetik ungebrochen. Dass ein Reduktionismus philosophischer Begrifflichkeit für die Sache der Kunst unangemessen sein könnte, ist zumindest eines der Probleme eines solchen Programms. Angesichts dieser Zwickmühle erscheint die Formulierung eines Geschmacksurteils, wie es von Baltasar Gracián erstmals in Ansätzen probiert wurde, wie ein Vermittlungsversuch. Die Idee war, mit dem Geschmacksurteil ein spezifisches Vermögen zu begründen, in dem Verstand und Gefühl zusammenwirken: die Urteilskraft. Das Geschmacksurteil hat insofern eine demokratische Komponente,

X.1.0.ff.

Welsch 1987b

2.2.2.

176

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

als es der Kunst das Pathos entzieht, nur etwas für Auserwählte zu sein. Es öffnet die Kunst einem universellen Urteil. »Über Geschmack lässt sich (nicht) streiten« – so wird das vielfach auf den Punkt gebracht. Das will heißen, dass der Geschmack am Schönen sich in einem Urteil ausspricht und damit Teil eines regelgeleiteten Diskurses ist. Bemühungen, ein solches Urteil zu formulieren, gab es mehrere. Sie wurden in einer Zeit als Desiderat erkannt, in der ein vorgegebener Regelkanon, der vorgefertigte Antworten auf die Frage nach der Schönheit lieferte, zerbrach und man sich gleichzeitig nicht mit einer Gefühlsästhetik und dem verordneten Kriterium des guten Geschmacks zufrieden geben wollte. Der Historiker Ludovico Antonio Muratori setzte (in Delle reflessioni sopra il buon guste; 1708) einer bloß gefühlsmäßigen Erfassung des Schönen, wie es viele Engländer (v.a. Shaftesbury) nahelegten, das mit Hilfe der Urteilskraft gebildete Urteil entgegen. Auch in Deutschland gab es die Ambition, eine Theorie des Geschmacks auf der Grundlage des urteilenden Verstandes zu entwickeln. Es war dies eine Reaktion auf den von Nicolas Boileau bis Charles Du Bos präferierten Ästhetizismus der delicatesse. Johann Christian Gottsched entwarf in der guten alten Tradition eine Geschmackslehre als wissenschaftliches Regelsystem des Schönen und der Künste. Allerdings ging er insofern einen Schritt weiter, als er über die reine Nachahmung der Regeln die Urteilskraft des Verstandes ins Spiel brachte. Der bedeutendste Beitrag zu dieser Frage stammt jedoch aus der Feder des großen deutschen Philosophen Immanuel Kant, der das Urteil und die Urteilskraft einer grundlegenden Kritik unterzog.

6.0. Immanuel Kant

Düsing Klaus in ­Kreimendahl 2000, 189 526 Kant-Porträt v. J. G. Becker (1768)

Der 1724 in Königsberg als Sohn eines Sattlers geborene Immanuel Kant ist mit seinen berühmtesten Werken, den drei Kritiken (Kritik der reinen Vernunft, 1781; Kritik der praktischen Vernunft, 1788; Kritik der Urteilskraft, 1790) zum bedeutendsten Vertreter der neuzeitlichen Philosophie geworden. Die Aufklärung erreichte mit ihm ihren »Scheitelpunkt«. Mit seiner Kritik der reinen Vernunft trat Kants Philosophie in die sogenannte kritische Phase. Erstmals in der langen Geschichte des Denkens werden dieses Denken selbst, seine Methode und vor allem seine Reichweite ausdrücklich Thema des Philosophierens. Kant entstammte einem streng pietistischen Elternhaus. Der Pietismus war eine Bewegung gegen den kalten Rationalismus des Protestantismus, der nach einer vom elsässischen lutherischen Theologen Philipp Jacob Spener 1675 verfassten Schrift Pia Desidera (Herzliches Verlangen) nach persönlichem Engagement und guten Werken verlangte. Er hatte zeitweise eine große Wirkung in Deutschland und in Skandinavien. Die Ausbildung genoss Kant am Collegium Fridericianum und dann an der Universität in Königsberg. Er studierte Philosophie, Mathematik und die Naturwissenschaften; ob auch Theologie, ist nicht ganz klar. Er wurde im Studium ebenso vom alten Schulrationalismus Christian Wolffs wie auch von der Physik Newtons

177

Immanuel Kant

geprägt. Wolff war einer der produktivsten philosophischen Schriftsteller überhaupt und er wird in der Philosophiegeschichtsschreibung meist weit unter seinem Wert gehandelt. Es gab kein Gebiet, zu dem Wolff sich nicht geäußert hat, weshalb sich die Spuren seines Denkens auch in zahlreichen Beiträgen in Diderots Enzyklopädie finden. Zudem – vielleicht wichtiger noch – begründete Wolff eine philosophische Terminologie in der Wissenschaftssprache Deutsch, in der sich Kant ganz selbstverständlich bewegte. In mehrjähriger Studienunterbrechung arbeitete Kant als Hauslehrer in der Umgebung von Königsberg. Nach Abschluss des Studiums erfüllte er Lehraufträge an der Universität und arbeitete an der Universitätsbibliothek. 1764 erhielt er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Dichtkunst, den er allerdings ablehnte, ebenso wie Berufungen nach Erlangen, Jena und Halle. Er blieb in Königsberg, wo er ab 1770 an der dortigen Universität die Professur für Logik und Metaphysik übernahm. In seinen letzten Lebensjahren führte er einen ständigen Kampf mit der Zensurbehörde wegen seiner angeblich deistischen Anschauung. Kant entfaltete in der Geschichte der Philosophie eine kaum zu überschätzende Wirkung. Neben seiner Vernunftphilosophie und der praktischen Philosophie spielte die Kunstphilosophie meist nur eine Nebenrolle. Das entspricht der gängigen Rezeption, aber vielleicht geschah nichts Geringeres, als dass mit Kant tatsächlich die immer wieder beschworene »Wende zur Ästhetik« vollzogen wurde.

Marquard 1962, 21 Bonsiepen 2005, 21

6.1. Das Subjekt als Basis der kritischen Philosophie Kant gehört in die Aufklärung und sein berühmtes Diktum in der Preisschrift Was ist Aufklärung, das er um den Spruch Sapere aude des Horaz rankte, kann als Motto seines Lebenswerks dienen: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Diesen Mut fasste Kant auch in einer Wende seiner Philosophie zu einer kritischen Philosophie. Lothar Kreimendahl vergleicht die Bedeutung von Kants kritischer Philosophie mit der Französischen Revolution: »So wie mit der Französischen Revolution eine Zäsur in der Weltgeschichte gegeben ist, hinter die es kein Zurück mehr geben konnte, so ist auch mit Kants Kritizismus ein Markstein gesetzt, an dem sich alle künftige Philosophie messen lassen muss.« Angekündigt war sein Kritizismus bereits in der Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766), in der er in einer Kritik an Emanuel Swedenborg die traditionelle Metaphysik weitgehend verabschiedete. Diese Schrift war nur eine originelle Abrechnung der Aufklärung mit den Phantasten und geistigen Harlekinen der Zeit, die ein Reservoir gemütlicher Gefühlswelten gegen die Aufklärung abschotten wollten. Metaphysik auf eine neue, kritische Basis zu stellen und in diesem Zusammenhang die Reichweite der subjektiven Vernunft zu testen, wurde nun Kants Anliegen. Dabei ist vor allem die avancierte Gestalt der philosophischen Formulierung des

Kant 1783, A 481

kritische ­Philosophie

Kreimendahl 2000, 12

178

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Pascher 1997, 20

VI.5.0.

Hoffmann 2005, 72

das erkennende Subjekt

Kant 1781, B 25 transzendentale Methode

Ebd., B 352

Problems, weniger jedoch das Anliegen selbst neu. Die Konfrontationen zwischen sophistischem Relativismus und platonischer Ideenlehre in der Antike, zwischen Realismus und Nominalismus im Mittelalter oder zwischen Rationalismus und Empirismus in der beginnenden Neuzeit kreisten nicht zuletzt um diese Frage. Kant wollte Klarheit darüber, was der Mensch wissen kann und – in weiterer Folge – inwieweit Auskunft über das Sollen und das Schöne auf der Basis vernünftiger Urteile möglich ist. Dabei soll dieser Verstand als »reiner«, das heißt: frei von jeder empirischen Erfahrung, inspiziert werden. Selbstverständlich ist Kants Theorie eher eine der Wirklichkeitserkenntnis als eine der Wirklichkeit. Der Verstand wird zu einem unendlichen, leeren Raum, dessen Gestaltung vor allem vom Subjekt ausgeht. Kants Erkenntnistheorie gehört in die Neuzeit, operiert mit einem offenen Raum, der sich vom Subjekt her perspektivisch erschließt, und löst so eine geistesgeschichtliche Weichenstellung ein, die bereits in der Renaissance eingeleitet wurde. Es ist ein Raum, in dem das Subjekt eine (empirisch erfahrene) Mannigfaltigkeit von Gegenständen ordnend verbindet. Auch wenn sich dieser Zugang von der alten Abbildlehre des Mittelalters deutlich unterscheidet, kann man in der Deutung Kants auf die Analogie zum Bild zurückgreifen. »Die Bildung dieses Bildes ist nun aber ein Verstehensakt im Rahmen der in der Einheit der transzendentalen Apperzeption gegründeten Form des Bewusstseins überhaupt; […].« Die Aneignung des Sinnlichen geschieht unter den Auspizien der Einheit des Selbstbewusstseins. Es ging Kant um die kritische Sondierung von all dem, was jeder Erfahrung – sie als Erfahrung unseres Bewusstseins bedingend – voraus liegt (apriori). Da die Antwort auf diese Frage ihrerseits auf der Basis eben dieses Verstandes erfolgen muss, scheint die Untersuchung in einen Zirkel zu führen. Die Selbstauslotung des Verstandes mit seinen eigenen Mitteln stößt zwangsläufig an dessen Grenzen. Genau in der Einsicht über diese Beschränkung des Anspruchs der wissenschaftlichen Vernunft liegt einer der wichtigsten Charakterzüge der Moderne. Kritik bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie Unterscheidung und Abgrenzung – auch Abgrenzung dessen, was wissenschaftlich erfahrbar ist, von dem, was sich dem wissenschaftlichen Zugriff zwangsläufig entzieht. Kant geht die Frage nach der Möglichkeit der Gegenstandserkenntnis an, indem er sein Augenmerk nicht auf den vom erkennenden Subjekt getrennten Gegenstand richtet, sondern auf das erkennende Subjekt selbst. Angesichts dieser gegenüber dem Empirismus umgedrehten Fragerichtung sprach Kant etwas emphatisch von einer kopernikanischen Wende gegenüber der bisherigen Erkenntnistheorie und nannte diese neue Sichtweise Transzendentalphilosophie: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, beschäftigt.« Die transzendentale Methode ist ein Rückgang auf die Erkenntnisbedingungen des Subjekts und hat nichts zu tun mit Transzendenz, welche die Grenzen unserer Erfahrung übersteigen würde. Dieses Begriffspaar sorgt bisweilen für Verwirrung, wie bereits im (zwar anders gelagerten, aber doch vergleichbaren) Fall von Platons

179

Immanuel Kant

Bestimmung des höchsten Einen angemerkt wurde. Solche Bedingungen im Subjekt, die diesem Subjekt die Erkenntnis von Gegenständen ermöglichen, sind zugleich zwangsläufig strukturierende Elemente des Gegenstandes selbst, denn zu diesem Gegenstand kommt man nur durch das Subjekt und niemals unabhängig davon. Die transzendentale Frage impliziert daher zugleich einen Rückgang auf die Möglichkeitsbedingungen des Gegenstandes als erkanntem. Wir kommen zum Gegenstand nur, wenn wir ihn als erkannten Gegenstand akzeptieren. Anders gesagt: Weil der Ausgangspunkt das Subjekt ist, erkennt das Subjekt den Gegenstand immer »nur« so, wie ihm dieser Gegenstand erscheint, und nicht in seinem (vom Subjekt unabhängigen) An-sich-Sein. Das Subjekt erkennt jeden Gegenstand demnach als Erscheinung und nicht als Ding an sich. Die Erkenntnisbedingungen sind zugleich die Möglichkeitsbedingungen des Gegenstandes, freilich nur – und das ist entscheidend – soweit dieser Gegenstand ein Gegenstand möglicher wissenschaftlicher Erkenntnis ist. In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt es, dass keinerlei Aussage über ein allfälliges An-sich-Sein eines Gegenstandes möglich ist. Darüber, wie ein Gegenstand unabhängig von jeder menschlichen Intentionalität an sich sein mag, kann kein menschlicher Verstand Kenntnis erhalten. Jedes Medium des Erkennens drückt der Welt zwangsläufig einen sie formenden Stempel auf. Nach Kant konturieren wir Welt nach Anschauungsformen und Begriffen, nach dem linguistic turn konturieren wir Welt nach der Sprache und nach dem symbolic turn konturieren wir Welt nach unseren Symbolsystemen. Das ist – zumindest aus der Sicht der Moderne – unstrittig und eigentlich trivial. Schwieriger nachzuvollziehen ist aber, dass Kant trotz der Unerkennbarkeit größten Wert auf das An-sich-Sein eines jeden Gegenstandes legte. Dieses widersprüchliche und innerhalb der transzendentalphilosophischen Methode nicht mehr plausibel zu machende Postulat diente Kant einzig dazu, eine Subjekt-Objekt-Relation aufrecht zu erhalten und eine Konstruktion des Gegenstandes durch das Subjekt, wie es der Deutsche Idealismus, namentlich Fichte, dann formulierte, zu verhindern. Zur Gegenstandserkenntnis braucht es also zweierlei: ein Subjekt, das immer schon (apriori) eine Syntheseleistung des Verstandes im Gepäck trägt, und einen vom Subjekt unabhängigen (an sich) Gegenstand, dessen ungeordnete Sinneseindrücke gleichsam das »tote« Material für die Synthese des Verstandes sind, an dessen Ende der Begriff steht. Der Gebrauch der Kategorien bleibt, »wiewohl diese dem transzendentalen Bewusstsein entstammen, dennoch auf eine Anwendung auf das empirische Bewusstsein« beschränkt. Kant verbindet einen Empirismus, dem die ordnende und identifizierende Kraft des Verstandes fehlt, mit einem Rationalismus, dem die Realität des in der Anschauung gegebenen Gegenstandes abgeht: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Kants Transzendentalphilosophie versöhnt, unter Vermeidung der jeweiligen Schwächen, rationalistische und empiristische Erkenntnistheorie. Der Rationalismus arbeitete mit dem (apriorischen) analytischen Urteil, das ein Erläuterungsurteil ist und ein nur implizites Wissen ausdrücklich macht und keinen Erkenntnisfortschritt bringt. Der Empirismus hingegen basierte auf dem (aposteriorischen) synthetischen

III.2.4.3.2.4.

Hoffmann 2005, 71

Kant 1781, B 75

180

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Coreth/Schöndorf 1983, 105

Hub 2008, 319

IX.3.5.2.

Kant 1781, B 103 demiurgischer Ordnungsvorgang

III.2.4.3.2.5. Kaulbach 1969

Urteil, das ein Erweiterungsurteil ist, auf Erfahrung beruht und nur Einzelnes und Zufälliges liefert. Nach Kant will Wissenschaft jedoch allgemeine und notwendige Erkenntnisse gewinnen. Daher braucht es für die Wissenschaft das synthetische Urteil a priori. Das Urteil ist somit »nicht nur in der Einzelheit und Zufälligkeit der Erfahrung begründet, sondern in einer vorgängigen, erfahrungsunabhängigen Einsicht von allgemeiner und notwendiger Geltung.« Mit einer Reihe von mathematischen Urteilen will Kant diese seine Ansicht belegen. Zusammenfassend gesagt ist das Revolutionäre der Kantschen Erkenntnismetaphysik zunächst die im Grunde triviale Tatsache, dass der Mensch im Sprechen über seine Welt (damit auch im Erkennen) immer schon bei dieser Welt ist. Zurückgespiegelt auf eine Perspektiventheorie bedeutet dies, dass ein perspektivischer Blicktausch den Gegenstand in den Wirkungsbereich des Subjekts stellt. »Das raumperspektivische Bild bedeutet Wiedergabe der Wirklichkeit so wie sie uns erscheint, und nicht so wie sie ist. […] Jedenfalls bedeutet Raumperspektive eine Subjektivierung der Gegenstandeswelt. […] Mit anderen Worten, Raumperspektive bedeutet Anpassung der Dinge an das Auge des Betrachters; ihr objektives Für­ sichbestehen wird zu einem subjektiven Fürmichbestehen.« Maurice Merleau- Ponty sah demgegenüber im Verzicht auf die Perspektive eine rohe und wilde, also ungeordnete Sinneserfahrung. Eine kulturelle Erzählung, die dem Subjekt eine Schauerfahrung des ganz Anderen ermöglichen will, müsste selbstredend jede Perspektivierung des Blicks zurückweisen (wie dies die Theoretiker der Ikone betrieben). In der Subjektivierung der Erkenntnisleistung wird die uns umgebende Welt letztlich eine Welt für uns. Das Vertrauen in die Möglichkeit der Erkenntnis einer subjektunabhängigen Welt von Gegenständlichkeit, wie das der mittelalterliche Realismus in seinem unerschütterlichen Vertrauen auf die Konformität einer von Gott geschaffenen Welt noch hatte, ist aufgegeben. Eine große kulturelle Erzählung, jene von der Unabhängigkeit des Objekts vom und seiner Erkennbarkeit durch das Subjekt, ist zu Ende. Das markiert nun – anders als bei Baumgarten – tatsächlich eine Zeitenwende. Die detaillierte Beschreibung der speziellen Erkenntnismetaphysik bei Kant muss festhalten, dass bei jeder Begegnung eines erkennenden Subjekts und eines Gegenstandes sich eine ungeordnete Fülle von empirischen Daten dieses Gegenstandes auf unser Sinnesorgan richtet. Dieses Datenmaterial wird durch die Syntheseleistung des Verstandes nach Mustern (= Kategorien, die dem Verstand nicht eingeboren sind, sondern von ihm spontan hervorgebracht werden) geordnet. Auf dieser Basis kann ein Begriff des erkannten Gegenstandes gebildet werden. Diese »Synthesis des Mannigfaltigen« ist ein prozesshafter spontaner (also aus sich selbst laufender) Ordnungsvorgang, dessen Struktur wir in der Philosophiegeschichte in anderem Zusammenhang bereits als demiurgischen Ordnungsvorgang kennen gelernt haben. Man kann sagen, dass in Kants kritischer Vernunftphilosophie eine ganze Menge von Prozessphilosophie steckt. Dieses spontane Ordnen strukturiert den Gegenstand als einen bestimmten Gegenstand in Raum und Zeit. Raum und Zeit sind für Kant nicht objektiv, sondern sie sind apriorische Bedingungen der Wahrnehmung, also Teil

181

Immanuel Kant

unserer Erkenntnis (was vom Empirismus bis zur modernen Physik heftig in Abrede gestellt wird). Überall dort, wo ein demiurgischer Ordnungsvorgang stattfindet, wird auch an einem Kapitel Bildphilosophie geschrieben. Daher sei der Hinweis angefügt, dass – abseits der üblichen kunstphilosophischen Erörterungen – Kants erkenntnistheoretische Exposition auch als eine des Bildes gelesen werden kann. Das Erkennen eines Gegenstandes bildet eigentlich ein Bild dieses Gegenstandes, denn das Erkennen eines möglichen An-Sich-Seins des Gegenstandes bleibt uns verwehrt. Wir erfahren unsere Welt immer medial, subjektiv vermittelt, also als Bild der Welt. Vermutlich hätten wir dann bei Kant einen produktiven Ansatz für seine Fortschreibung in den Deutschen Idealismus gefunden, der ausdrücklich ein Bild der Welt erzeugt hat. Wie heikel die ganze Konstruktion Kants war, zeigt sich nicht nur in den Fortsetzungen der Denker des Deutschen Idealismus, sondern auch bei denen, die sich ausdrücklich zu einem Neukantianismus bekannten. Ernst Cassirer etwa führte Kant konsequent konstruktivistisch weiter. Nach Cassirer erkennen wir die Welt nicht nur, sondern »wir konstruieren demnach die Welt mit Hilfe von Anschauungsformen, Begriffen und Theorien.« Bei der Beschränkung wissenschaftlicher Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Erfahrung und der Unmöglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen in ihrem An-Sich-Sein übersteigt wissenschaftliche Erkenntnis die realen Bedingungen eines speziellen Individuums, was einer Art wissenschaftlicher »Faktenzensur«, einem »numerus clausus für Tatbestände«, also einer wissenschaftlichen Voraussetzungslosigkeit, ja gar einer ersten Art von Dezentrierung, nahe kommt. Dieses Übersteigen des Individuellen auf einen universellen Wissenschaftsanspruch, was nicht anders denn als neuzeitlicher Rest in Kant bezeichnet werden muss, wird ein Erbe, das die Idealisten, allen voran Hegel, als Spontaneität einer allgemeinen, überindividuellen Subjektivität fruchtbar machten und zu einer Metaphysik des An-Sich-Seienden schlechthin ausbauten. Denn aus der Sicht des Deutschen Idealismus war das Problem jenes, dass Kant mit dem Postulat einer vom Subjekt unabhängigen und von ihm unerkennbaren Seinsweise von Gegenständen diese aufklärerische Wende in die Neuzeit scheinbar konterkarierte. Dass Kant trotz der Unerkennbarkeit dennoch an der Existenz solcher vom Subjekt unabhängiger (in Kants Terminologie: an sich seiender) Gegenstände festhielt, ist nicht nur ein von ihm in Kauf genommener Widerspruch, es verleiht der Kritik der Idealisten eine gewisse Plausibilität. Allerdings stürzten sich diese nach dem Durchbrechen der Schranken des Dinges an sich ungehemmt in neue metaphysische Abenteuer, bis hin zur Konstruktion eines Absoluten.

6.2. Kants kritische praktische Philosophie Analog zur Beantwortung der Frage »Was kann ich wissen« geht Kant auch jene des »Was soll ich tun« an und formuliert eine Ethik unter dem neuen Topos einer kritischen Philosophie in der Kritik der praktischen Vernunft (1788). Die praktische Philosophie erlebte ganz generell im späten 17. und im 18. Jh. eine Blütezeit. Ethik und Moral waren bevorzugte Themen in beiden großen Schulen der Neuzeit. Auch hier

VIII.5.3.3.

Margreiter 2007, 69 IX.3.3.1.

Marquard 1962, 26

VIII.5.3.ff.

182

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

formales ­Sittengesetz

Kant 1788, A 54

Ebd., A 154

Schiller 1796, 188

Kant 1785, A 66f

Marquard 1983, 103

war übrigens Christian Wolff ein Pionier, der eine philosophische Grundlegung der praktischen Philosophie angestrebt hatte (philosophia practica universalis). Ausgangspunkt war für Kant allerdings zum Unterschied von Wolff nicht mehr die Faktizität der Erfahrung, sondern das Sollen der sittlichen Vernunft. Da es auch im Falle der praktischen Vernunft um eine erfahrungsfreie (reine, also apriorische) Vernunft ging, gibt es bei Kant kein materiales, sondern ein rein formales Sittengesetz, das sich aus dieser reinen Vernunft ableitet. Dieses soll – in einem wieder universellen Anspruch – allgemeingültig und für alle Handlungen der Menschen verbindlich sein. Dieses Gesetz nennt Kant Kategorischer Imperativ: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen können.« Die im englischen Eudaimonismus diskutierten Zwecke wie Neigung, Glück, Wohlfahrt, Interesse, Geschmack, sind für Kant bloßer Ausdruck von Subjektivismus und Relativismus. Um ein Handeln moralisch zu gestalten, muss es einem objektiven Gesetz und nicht einer Neigung folgen. Gegen diese rigorose Ethik der Pflicht, die er auch noch schwelgerisch pries: »Pflicht! Du erhabener großer Name, der du […] Unterwerfung verlangst«, waren die Einwände massiv. Schiller, Schopenhauer, Scheler, sie alle kritisierten den Logizismus und wiesen darauf hin, dass das Wichtigste am Sittlichen letzten Endes der materiale Gehalt sei. Am bekanntesten wurde Schillers origineller, in ein Distichon verpackter Spott: »Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu’ ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.« Zur Ehrenrettung Kants muss daran erinnert werden, dass er Neigung und Menschlichkeit dort ablehnte, wo diese zum alleinigen Antrieb moralischen Handelns werden, dass er aber gegen Neigungen, die der Pflicht folgen, nichts einzuwenden hatte. Dass Kant selbst in seiner vorkritischen Zeit durchaus eine Gefühlsethik vertreten hatte, sei hier nur der philosophiegeschichtlichen Vollständigkeit halber hinzugefügt. Und dass entgegen dem strengen Rigorismus durchaus auch materiale Inhalte eine Rolle spielten, zeigt eine andere, die wohl bekannteste Version des kategorischen Imperativs, jene, wo von der Zweck-Mittel-Relation beim Menschen die Rede ist: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jedes andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« Trotz solch materialer Anklänge gilt Kants Ethik in der wissenschaftlichen Rezeption als ein Unternehmen eines kollektiven gesetzesartigen Universalismus und eines nicht-empirischen Prinzips der Sittlichkeit. Die selten gestellte Frage, was von Kant über seine Zeit hinaus Bestand hatte, lässt gemischte Antworten zu. Die wohl grundsätzlichste Weichenstellung Kants, die nicht mehr hintergehbar ist, bleibt, dass »das endliche Wissenschaftswissen unbeschränkte Neugierlizenzen erhielt, weil es aufhörte, häresiefähig, d.h. an theologisch absoluten Relevanzgesichtspunkten meßbar zu sein.« Kant hatte das endliche Wissen vom absoluten Wissen getrennt und den Menschen auf dieses eingeschränkt. Ein solches Denken war in der Neuzeit angekommen und wies in die Moderne. Die

183

Immanuel Kant

theoretische Vernunft blieb genau wegen dieser klaren Wende zur Moderne epochal. Andererseits ist sie das – aus Gründen der Ideengeschichte – auch wegen der Weichenstellung für den Deutschen Idealismus. Von den detaillierten erkenntnistheoretischen Vorschlägen hingegen überlebte kaum etwas. Besser sieht es mit Kants Ethik aus. Zwar ist sein Optimismus eines allgemeingültigen Sittengesetzes inzwischen gründlich verflogen, aber manche Versionen des kategorischen Imperativs sind nach wie vor beeindruckende Beiträge wie das klare Bekenntnis zur Würde des Menschen. Man kann bei einer distanzierten Kantexegese sogar zum Schluss kommen, dass sich am meisten Bleibendes in Kants Ästhetik findet.

6.3. Ästhetik Kants Ästhetik, in die Anregungen des Empirismus, von Baumgarten, aber auch von Rousseau einflossen, entwickelte sich ähnlich wie seine Erkenntnismetaphysik aus der vorkritischen Zeit. Deshalb verwandte Kant den Ausdruck Ästhetik in mehrfacher Bedeutung. In der vorkritischen Phase befasste er sich in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) mit der zeitgenössischen Ästhetik und Kunst. Dabei koppelte er Ästhetik an das Geschmacksurteil, das ebenfalls Thema in dieser Schrift war. Er vermochte aber nicht, Geltungsansprüche ästhetischer Urteile zu begründen. Verschiedentlich kam sogar die Überzeugung zum Ausdruck, dass solche Ansprüche unbegründet bleiben müssen. Dieses im Banne des englischen Empirismus (Burke, Shaftesbury, Hume) stehende Werk hatte noch eine psychologisierende Tendenz. Das Dilemma, das sich Kant stellte, ist das Dilemma einer jeden philosophischen Ästhetik. Der lebensweltliche Spruch »Über Geschmack lässt sich (nicht) streiten« deutet an, dass es keine allgemeinverbindliche Gültigkeit des ästhetischen Urteils gibt. Andererseits werden faktisch ständig Geschmacksurteile der Form »das ist schön« gemacht und implizit Zustimmung erwartet. In der Kritik der reinen Vernunft verwahrte er sich schließlich ausdrücklich vor einer Verwendung des Begriffs Ästhetik im Sinne eines Geschmacksurteils und benützte den Ausdruck auf der Basis von Alexander Baumgarten als sinnliche Anschauung. Denn er sah keine Chance, das Geschmacksurteil gleich zu behandeln wie das Vernunfturteil. Deshalb sprach Kant bei jenem Teil, der die transzendentalphilosophische Erkenntnis beschreibt, von transzendentaler Ästhetik. Hatte sich Schönheit bei Baumgarten aus einer ontologischen Funktionalisierung befreit, wurde die Ästhetik bei Kant mit diesem Schritt endgültig modern, weil auf das Subjekt bezogen. In der Kritik der Urteilskraft von 1790 änderte Kant seine Ansicht und führte den Ausdruck ästhetisch in größerem und lebensnahem Kontext ein: »Seit geraumer Zeit aber ist es Gewohnheit geworden, eine Vorstellungsart ästhetisch, d.i. sinnlich, auch in der Bedeutung zu heißen, daß darunter die Beziehung einer Vorstellung nicht aufs Erkenntnisvermögen, sondern aufs Gefühl der Lust und Unlust gemeinet wird.« Das ist nun eine klar andere Bedeutung von Ästhetik (nämlich jetzt in Verbindung mit der subjektiven Urteilskraft) als jene in der Kritik der reinen Vernunft. Impuls für dieses Werk war vielleicht die große Distanz zwischen der Notwendigkeit des (phänomenalen) Naturgeschehens und der Freiheit der (noumenalen) Ver-

Bonsiepen 2005, 2f

5.1.

Kant 1781, B 36

X.2.3.

Kant 1790, 35

184

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Kant 1790, B XXV

Baumeister 2012, 196

Düsing Klaus in ­Kreimendahl 2000, 206

nunft, also zwischen der vom theoretischen Verstand gefundenen Kausalität und den Zielen und Zwecken der praktischen Vernunft, namentlich der Freiheit. Die Einheit des Menschen scheint in diese zwei Welten zu zerbrechen. Diese Einheit wäre dann zu bewahren, wenn der Natur eine Zweckmäßigkeit zukäme in dem Sinn, dass sie eine Angemessenheit in Bezug auf unsere Erkenntnismöglichkeit auszeichnete. Zweckmäßigkeit ist aber ein Terminus der Urteilskraft, nämlich eine Fähigkeit, »das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.« Die Urteilskraft sollte zwischen dem Verstand als dem Vermögen, Naturbegriffe auszubilden, und der Vernunft als dem Vermögen, den Freiheitsbegriff als Grundlage praktischer Vorschriften zu bilden, vermitteln. Sie sollte aber auch helfen, die (natur)wissenschaftliche Eigenart zu bewältigen, in der Vielheit der Erscheinungen ein allgemeines Gesetz zu entdecken, und das Besondere auf das Allgemeine und das Allgemeine auf das Besondere zu beziehen. In dieser Aufgabe (das Besondere unter ein allgemeines Gesetz zu subsumieren) entspricht die Urteilskraft ganz generell dem Anliegen von Kants Philosophie. Sie sucht als bestimmende Urteilskraft zur apriorischen Regel den empirischen Fall. Sie sucht gleichsam den besonderen Fall zum allgemeinen Gesetz. Als reflektierende Urteilskraft gibt sie an, wie eine gegebene Vorstellung auf ihren Begriff bezogen werden kann. Sie sucht gleichsam das Allgemeine (den Begriff) für den besonderen Fall. Ein Beispiel dafür wären die Newtonschen Gesetze, die so verschiedene Vorgänge wie die Bewegung der Himmelskörper und jene der Erde durch ein allgemeines Gesetz miteinander verbinden. »Kant zufolge ist nun das ästhetische ›Wohlgefallen‹ eng mit dem Gefühl der Genugtuung verwandt, das uns solche wissenschaftliche Leistungen verschaffen. Auch das ›ästhetische Vergnügen‹ sei ein Vergnügen der ›Urteilskraft‹, denn auch das Schöne konfrontiere den Betrachter mit der Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Wahrnehmung zu einem Ganzen.« Aus diesem Grund wirken in der ästhetischen Betrachtung die Erkenntnisvermögen zusammen, »und zwar diejenigen, die die reflektierende Urteilskraft ausmachen, nämlich Einbildungskraft als Vermögen in sich strukturierter sinnlicher Anschauung und Verstand als Vermögen der Begriffe.« Allerdings stieg Kant sozusagen aus dem methodischen Programm des Rationalismus aus, das die Fragen der Ästhetik, also der Sinnlichkeit, letztlich epistemologisch auf eine vernunfttheoretische Ebene heben wollte. Kant machte eine klare Unterscheidung zwischen dem vernünftigen und dem ästhetischen Urteil. So gesehen war es ausgerechnet Kant, der mithalf, das ästhetische Urteil aus den Fängen der Philosophie zu befreien. Die Kritik der Urteilskraft umfasst eine Kritik der ästhetischen Urteilskraft (ästhe­tische Vorstellung der Zweckmäßigkeit in der Natur) und eine Kritik der Teleologie (logische Vorstellung der Zweckmäßigkeit in der Natur). Beim Sprechen von Zwecken und Zielen in der Natur macht der Mensch nichts anderes, als dass er seine Vorstellungen auf Naturgegenstände überträgt. Das ist einerseits ein Kapitel Naturphilosophie, aber auch – in geringerem Maß – eines der Kunstphilosophie, weil es ein Reich der Zweckmäßigkeit auch in der Kunst gibt. Auch Geschmacksurteile bilden die Zweckmäßigkeit des Urteils über den Gegenstand ab.

185

Immanuel Kant

Im ersten Teil der Kritik der Urteilskraft, der Untersuchung der ästhetischen Urteilskraft, unterscheidet Kant eine Analytik des Schönen (Verhältnis von Verstand und Sinnlichkeit) und eine Analytik des Erhabenen (Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit). Analog zu dem in der kritischen Vernunft Erarbeiteten geht es dabei um eine Analyse des Geschmacksurteils, in Kants Worten: des »Geschmacksvermögens, als ästhetischer Urteilskraft, […] in transzendentaler Absicht […].« Ergänzt wird das Unternehmen mit Äußerungen zu Kunst, Kunstwerk und Künstler.

Kant 1790, B IX

6.3.1. Das Geschmacksurteil Die Ästhetik erhält jetzt (in der Kritik der Urteilskraft) die Aufgabe, das Vermögen der reflektierenden Urteilskraft zu untersuchen und die Universalisierbarkeit des Geschmacksurteils zu prüfen. Das ist eine analoge Aufgabe, wie es die Untersuchung des Erkenntnisvermögens des vernünftigen Subjekts in der Kritik der reinen Vernunft war. Das Geschmacksurteil ist als Urteil darüber, ob etwas schön ist oder nicht, ein ästhetisches Urteil. Weil aber Schönheit sowie Lust und Unlust nichts am Objekt, sondern ein (von einer Vorstellung ausgelöstes) Gefühl des Subjekts beschreiben, unterscheidet sich das Geschmacksurteil vom Erkenntnisurteil. Bedenkt man indes, dass es auch beim Erkenntnisurteil eher um den Bezug des Subjekts zum Gegenstand geht als um eine Beschreibung des Gegenstandes selbst, erscheint der Unterschied zwischen beiden Urteilen, zumindest in Hinsicht auf die Rolle des Subjekts, keineswegs mehr so groß. Die ästhetische Kategorie der Schönheit lässt sich nicht vom Geschmacksurteil trennen, trotzdem soll versucht werden, im Folgenden zuerst das Geschmacksurteil und dann die Schönheit in den Fokus zu nehmen. Kant setzt das Geschmacksurteil sowohl vom sinnlichen als auch vom logischen Urteil ab, denn die Urteilskraft enthält »für sich ein Prinzip a priori.« Er tut dies, ohne freilich die Analogie zu diesen Urteilen aufzugeben. Es geht beim Geschmacksurteil um ein Urteil über das Schöne und die Frage richtet sich wie beim Erkenntnis­ urteil auf die Möglichkeitsbedingungen dieses Urteils. Das Geschmacksurteil muss (analog zum Erkenntnisurteil und in weiterer Folge zum Sittengesetz) ohne Interesse funktionieren, also gilt, dass Geschmack »um des Schmeckens willen« schmeckt, »es soll kein Hunger und kein Durst, also kein Interesse befriedigt, kein Bedürfnis gestillt werden.« Wären Interessen im Spiel, käme es nicht zu einem Urteil, sondern bloß zu einem Genuss. »Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.« Es ist daher richtig, zu sagen, dass Kant beim ästhetischen Material die Form im Auge hatte, und daraus zu folgern: Die Goldberg-Variationen von Bach wollen »nicht in ihrer jeweiligen Harmonik und Kontrapunktik (dem Wechselspiel der Stimmen) gehört werden, sondern als wohlgestalte Form.« Bei einem ästhetischen Urteil wie dem Geschmacksurteil werden die Vorstellungen durch die Einbildungskraft in ähnlicher Weise auf das Gefühl von Lust und Unlust im Subjekt bezogen, wie im Erkenntnisurteil die Vorstellungen über den Verstand auf einen Gegenstand. »Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht,

Geschmacks­ urteil und ­Erkenntnisurteil

Ebd., B XXIV

Liessmann 1994, 22

Kant 1790, B 17

Bertram 2005, 121

186

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Kant 1790, B 3f Werkästhetik – ­Rezeptionsästhetik

Bonsiepen 2005, 13f

Scheer 1997, 80

Allgemein­ verbindlichkeit des Geschmacksurteils

Kant 1790, B 26

Ebd., A XLIf

beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft […] auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben.« Die Schönheit einer Blume ist nach Kant nicht die Eigenschaft derselben, sondern die »Eigenart des Geschmacksurteils besteht darin, dass wir etwas nur schön nennen in Bezug auf unsere Art der Aufnahme des Gegenstandes.« Hier vollzieht sich ein sehr prononcierter Schwenk von einer Werkästhetik zu einer Rezeptionsästhetik. Mit dieser Pointierung der transzendentalen Subjektivität verlässt Kant auch den Grund, auf dem Baumgarten seine Ästhetik errichtet hatte. Baumgarten kann als Begründer der Ästhetik als eigenes philosophisches Fach angesehen werden, Kant war hingegen mit der Bindung der Bedingungen ästhetischer Erfahrung an das Subjekt der Begründer der modernen Ästhetik. Ein objektives Schönheitsideal ist endgültig und nachhaltig verlassen, Ästhetik wird autonom und braucht keine externen Bestimmungen mehr. Man könnte davon sprechen, dass das Ästhetische entgrenzt und in die Rezeptionsseite verlegt wird, ein Anspruch, der ins 20. Jh. vorausweist. Subjektivierung auf der einen und Formalisierung (besser vielleicht: Allgemeinverbindlichkeit) auf der anderen Seite heißen die Formeln, die für die Ästhetik Kants anwendbar sind. Das Geschmacksurteil ist eben kein Urteil über einen Gegenstand und Schönheit keine Eigenschaft desselben, sondern die Beurteilung von etwas, das der Gegenstand im Subjekt (nämlich Wohlgefallen) auslöst. Andererseits hält Kant gegen subjektivistische Willkür (im Sinne eines empirischen Subjekts) an der Allgemeinverbindlichkeit des Geschmacksurteils fest. Aber ihm ist auch klar, dass die Qualität der allgemeinen Gültigkeit des Geschmacksurteils nicht mit jener eines Erkenntnisurteils zu vergleichen ist: »Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun); es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an […].« Bei ästhetischen Urteilen stützt sich die Allgemeinverbindlichkeit nicht auf Begriffe, daher ist diese nicht logisch, sondern nur ästhetisch. Trotzdem sind ästhetische Urteile mehr als nur subjektive Aussagen, sie wollen Verbindlichkeit im eben erwähnten Sinn – als solche durch die Urteilskraft hergestellt. Die Urteilskraft wiederum erstellt im Fall schöner Gegenstände kein ein für allemal gültiges begriffliches Ergebnis des Urteils, sondern fasst die Mannigfaltigkeit der Anschauung (in einem unabschließbaren Prozess) zusammen. Das »Ergebnis« wäre dann der kontemplative Zustand eines interesselosen Wohlgefallens. Diese Fähigkeit ist allen Menschen gemein, weshalb ein solches Urteil grundsätzlich allgemeingültig sein kann. Darin zeigt sich der transzendentale Charakter der Urteilskraft. Ähnlich wie beim Erkenntnisakt, müssen mannigfaltige empirische Gesetze durch ein apriorisches Prinzip zu einer Einheit der Erfahrung finden. Diese Einheit zu erreichen ist aber mit dem Gefühl der Lust verbunden, es ist eine »ästhetische Vorstellung der Zweckmäßigkeit«. Die angestrebte Allgemeinverbindlichkeit, die für Kant der Angelpunkt bleibt, gründet in der nach wie vor ungebrochenen (neuzeitlichen) Dominanz einer vereinheitlichenden Rationalität. Kants Ambivalenz – sie parallelisiert die Ambivalenz der

187

Immanuel Kant

kritischen Vernunft der Erkenntnis – wird später im Lichte des Duchamp-Skandals aufgedeckt: Einerseits kann man Kants Subjektivierung auf das Spiel der Institution des Kunstbetriebs im Hinblick auf die Bestimmung von Kunst ausdehnen. Andererseits setzt Duchamp jede Regel, die ein Geschmacksurteil unterstützt, außer Kraft, damit auch einen – wenn man so will – traditionellen, vormodernen Rest in Kant. Der Preis dafür ist insofern hoch, als Kunst nur mehr appellativ bestimmbar wäre. Alles ist Kunst, was beansprucht, Kunst zu sein. Diese vor allem von Joseph Kosuth vertretene Folgerung aus Duchamp kann sich nicht mehr auf irgendeine Art von »Qualitäts-« oder »Geschmackskriterium« stützen. Philosophiegeschichtlich könnte man die transzendentale Wende in der Ästhetik indes interessanter finden als jene in der Erkenntnismetaphysik. Dort gab es transzendentale Aspekte bereits im Mittelalter, vor allem aber in der Suarez-Schule, von der auch Descartes abhängig war. In der Ästhetik ist das »Kopernikanische« der Wende ausgeprägter, denn mit dieser Wende endet die vom Realismus des Mittelalters bis zu Baumgarten reichende Erkenntnisoption, die sich ontologisierend an den realen Gegenständen orientiert. Da sich in der Geschichte jedoch kaum etwas endgültig verabschieden lässt, lebt in Zeiten offenbar werdender Schwächen der Rationalität auch jener Strang von Erkenntnis wieder auf, wenn auch mit neuer Legitimation, die postmodern verstanden und sich nicht als prämodern denunzieren lassen will.

IX.2.2.10./IX.5.2.4.

Welsch 1987b IX.4.1.ff.

6.3.2. Das ästhetische Urteil und das Schöne Es ging bei der Bestimmung des Schönen, das Kant vom Angenehmen und vom moralisch Guten absetzte, um es nicht Interessen auszuliefern, um Prinzipien einer apriorischen, also erfahrungsunabhängigen Ästhetik. Dies löste die Analyse des Geschmacksurteils ein. Als transzendentales Verfahren konzentriert sich die Suche nach dem Schönen analog der Erkenntnismetaphysik auf das Vermögen des Subjekts. Indem sich Kant von jedem empirischen, erfahrungsgestützten Urteil absetzt, kann Schönheit keine Eigenschaft der Objekte mehr sein, sondern ist Ausdruck eines Urteils über Gegenstände. Gegenstand ist hier im weitesten Sinn zu verstehen. An erster Stelle steht das Naturschöne, weil die Urteilskraft ja primär das Verhältnis von Naturkausalität und Freiheit klären soll. Aber Gegenstände sind auch Kunstwerke, Musik, Tanz, Theater. Man kann davon ausgehen, dass bei der Schönheitsauffassung Kants die alte materielle Bestimmung einer Einheit des Mannigfaltigen nachwirkte, ohne dass es zu einer dezidierten Bestimmung eines schönen Gegenstandes gekommen wäre, wie dies Schiller dann nachzutragen versuchte. Schiller führte zudem die Funktionsbedingtheit der Schönheit von Gegenständen ein. Die Schönheit einer Kirche genügt anderen Prinzipien als jene eines Palastes. Die Subjektzentriertheit hat – wie schon aus der Analyse des Geschmacksurteils klar geworden ist – nichts zu tun mit Willkür und Subjektivismus. Vielmehr liegt die Quelle für Schönheit (analog der kritischen Philosophie) in der Wechselwirkung von Subjekt und Objekt. Das bedeutet – wie oben gesagt –, dass nicht das Kunst-

Kulenkampff Jens in ÄKPh, 450

188

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

interesseloses Wohlgefallen

Kant 1790, B 15/B 16 X.2.5

Lüthe Rudolf/Fontius Martin in ÄGB 2, 804 Kant 1790, B 38

Lüthe Rudolf/Fontius Martin in ÄGB 2, 805 Kant 1790, A 60

Ebd., B 42

werk im Vordergrund der Betrachtung steht, sondern die ästhetische Erfahrung als solche. Bei der Beurteilung des Gegenstandes als schön geht es nicht um den Gegenstand, sondern um die Wirkung des Gegenstandes auf die Betrachterin. Im Sinne völliger Erfahrungsunabhängigkeit muss für die Beurteilung von etwas als schön jedes Interesse ausgeschlossen werden. Wäre nämlich das Wohlgefallen unmittelbar an die Existenz eines Gegenstandes gebunden, damit interessegeleitet, wäre das Geschmacksurteil nicht mehr rein und widerspräche der Universalität. Zum Interesse kann auch der Warencharakter von Kunstwerken gezählt werden. Das Schöne bezeichnet ein »uninteressiertes und freies Wohlgefallen [sei]; denn kein Interesse, weder das der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab.« Schön heißt damit der Gegenstand eines Wohlgefallens »ohne alles Interesse.« Das reine ästhetische Urteil ist interesseloses Wohlgefallen. Löst sich die Einbildungskraft von der Aufgabe, Erkenntnis zu produzieren, beginnt ein freies Spiel und mit ihm das Gefühl der Schönheit. Freiheit des Spiels ist Interesselosigkeit der Einbildungskraft. Sie steht weder unter moralischen Imperativen noch ist sie auf Erkenntnisgewinn aus. »Zweckmäßig ist das schöne Objekt also in dem Sinne, daß es dazu geeignet ist, im Subjekt dieses freie Spiel der Erkenntniskräfte auszulösen. Nur wenn ein solches Spiel stattfindet, wird ästhetische Lust erlebt; und nur dann formuliert ein Subjekt auch ein (positives) Geschmacksurteil. Dieses ist Ausdruck der spezifisch ästhetischen Lust.« Ein reines Geschmacksurteil, »auf welches Reiz und Rührung keinen Einfluß haben […]«, hat »bloß die Zweckmäßigkeit der Form zum Bestimmungsgrunde […].« Alle Gegenstände, auf die die Urteilskraft mit interesselosem Wohlgefallen reagiert, werden als schön bezeichnet. Das gilt – ich sagte es bereits – sowohl für die Natur als auch für Kunstwerke. Gegenüber Gegenständen der Natur kommt Kunstwerken zu, dass es ihr einziger Sinn ist, interesseloses Wohlgefallen auszulösen. Man könnte paradox formulieren, dass ihr Zweck die Zweckfreiheit ist. Für Kant ging es nie um einen bestimmten materiellen Zweck oder um Nützlichkeit, sondern um »Zweckmäßigkeit ohne Intention auf einen konkreten Zweck.« Schönheit in dieser Leseart ist dann eine »[…] Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.« Vor solchem philosophischen Hintergrund verwundert es nicht, wenn Kant die Gattung der Zeichnung besonders schätzt: »In der Malerei, Bildhauerkunst, ja allen bildenden Künsten, in der Baukunst, Gartenkunst, sofern sie schöne Künste sind, ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt, sondern bloß, was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz […].« Es ist die Zeichnung, die »den eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurteils« ausmacht. Die Linie, das alte disegno, wird auch hier wieder als die reinste Form der Kunst hoch ehalten, denn sie kommt ohne Interesse und Zweck aus. Das darf jedoch nicht etwa dazu verleiten, das Mathematische als schön anzusehen: »Alles Steif-Regelmäßige (was der mathematischen Regelmäßigkeit nahe kommt) hat das Geschmackwidrige an sich: […] Dagegen ist das, womit

189

Immanuel Kant

Einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns jederzeit neu, und man wird seines Anblicks nicht überdrüssig.« Fruchtbar machen ließe sich dieser Gedanke für die spätere ungegenständliche Kunst, die von jedem »Interesse« einer mimetischen Nachahmung frei ist. »Niemand wird leichtlich einen Menschen von Geschmack dazu nötig finden, um an einer Zirkelgestalt mehr Wohlgefallen, als an einem kritzligen Umrisse […] zu finden.« Insofern lässt sich die Frage aufwerfen, ob Kants Konstruktion durch die Kunst der Moderne, wo zahlreichen Meisterwerken anfangs jeder Kunststatus abgesprochen worden ist, ins Wanken gerät. Ekel und Lächerlichkeit sind unvereinbar mit einem Geschmacksurteil. Aber ist ein ästhetisches Urteil »Das ist ein Kunstwerk« gleichzeitig ein Geschmacksurteil? Thierry de Duve versucht, mit einer Trennung dieser Urteile der »Antikunst« Herr zu werden, wie sie etwa die Vertreter des Dadaismus produziert haben, die »Ekel und Lächerlichkeit ganz bewußt in ihr ästhetisches Urteil« einbezogen haben, das dann »allerdings notwendig kein Geschmacksurteil mehr sein kann«. So hätte etwa Marcel Duchamp mit seinem Urinoir zwar einen ästhetischen, aber keinen Akt des Geschmacks vollzogen. Zwar liegt im Urteil »Das ist (keine) Kunst« ein Universalitätsanspruch, aber unabhängig vom Geschmack. Eine solche Überlegung bringt gegenüber Kant einen nur geringfügigen Gewinn zum Ausdruck; eigentlich nur die Trennung von Ästhetik und Geschmack, das heißt die Ablösung des Urteils »das ist schön« durch jenes: »das ist Kunst«, also die Möglichkeit einer »anästhetischen Ästhetik.« Die Frage steht immer noch im Raum, worauf sich denn die gewünschte Notwendigkeit des Urteils gründet, wenn nicht auf den Begriff. Es muss ein subjektives, aber trotzdem allgemeingültiges Prinzip sein. Kant spricht vom Gemeinsinn bzw. vom sensus communis, er meint damit aber etwas anderes als Aristoteles. Dieser Gemeinsinn ist die Voraussetzung der »Anmaßung«, überhaupt ästhetische Urteile zu fällen, und er ist eine »idealische« Norm des Schönen, die in allen Menschen vorkommt. Letztlich handelt es sich dabei um ein Postulat, dem nichts in der Empirie entspricht. Im mildesten Sinn könnte man schlicht von der menschlichen Urteilsfähigkeit im Hinblick auf Ästhetik sprechen. Hanno Rauterberg interpretiert das Gemeinte als Geschmack im Sinne einer »Form von Sozialkompetenz.« Vor einer letzten und exakten Beschreibung scheut Kant selbst zurück: »Diese unbestimmte Norm eines Gemeinsinns wird von uns wirklich vorausgesetzt: das beweiset unsere Anmaßung, Geschmacksurteile zu fällen. Ob es in der Tat einen solchen Gemeinsinn, als konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung gebe, […] das wollen und können wir hier noch nicht untersuchen, […].« Kant scheint sich hier nun doch in dem ihm wenig bekannten Gelände der Kunst zu verheddern. Geschmack verlangt, so scheint es, Reiz, doch dieser widerspricht einer strengen Form. Dass diese Überlegungen an der Rezeptionsschiene von disegno und colorire verlaufen, ist eine zutreffende Beobachtung. Dieser Gemeinsinn bleibt als reines Postulat der schwierige Versuch, eine Analogie zwischen dem ästhetischen und Erkenntnisurteil zu retten. Er dient als Voraussetzung dafür, ästhetische Urteile zu objektivieren, sie weitergehend als nur em-

Ebd., A 71

Ebd., A 69

de Duve 1989, 192

Gemeinsinn

Rauterberg 2008, 194

Kant 1790, B 67f

Zimmermann 1991, 109

190

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Kant 1790, B 68/B 180

Franke 2000

Kant 1790, B 192f

Ebd., B 237f

IX.3.8.1.

Ebd., B 28

pirisch (wie Baumgarten – so fügt er kritisch hinzu) zu begründen. Die Gültigkeit und Universalität des logischen Urteils wird niemals in Zweifel gezogen, vielmehr stellt es die anzustrebende Norm für jede weitere urteilsgestützte Weltorientierung dar. Eigentlich gehört der Gemeinsinn in das Genre eines Gefühls, bleibt jedoch eine allgemeine Art und Weise, das Spiel der Erkenntniskräfte zu regeln. Die Universalität des Gemeinsinns vermittelt die Sicherheit, dass ästhetische Urteile keine Privaturteile sind, sondern universell. Von da her erscheint die Entgegensetzung von begriffslos und begrifflich trotzdem notwendig und ebenso widersprüchlich wie berechtigt: »Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird.« Schön ist das, »was in der bloßen Beurteilung (nicht in der Sinnenempfindung, noch durch einen Begriff) gefällt.« Widersprüchlich deshalb, weil ein Urteil erst mit dem Begriff allgemeingültig sein kann. Die Tatsache, dass das Geschmacksurteil keinen Begriff von einem Gegenstand liefert, hat zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen des Geschmacksurteils geführt. Zu diesem Absehen von einer begrifflichen Ebene passt Kants Vorstellung einer »ästhetischen Idee«. Das ist eine Vorstellung der Einbildungskraft, die »viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht […].« Das ästhetische Urteil ist – sehr zum Unterschied vom logischen – niemals endgültig in die Begrifflichkeit umsetzbar. Es bleibt ein Widerstreit, der mit der Verschiebung auf das Übersinnliche beseitigt werden soll. »Mehr, als diesen Widerstreit in den Ansprüchen und Gegenansprüchen des Geschmacks zu heben, können wir nicht leisten. […] Das subjektive Prinzip, nämlich die unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns, kann nur als der einzige Schlüssel der Enträtselung dieses uns selbst seinen Quellen nach verborgenen Vermögens angezeigt, aber durch nichts weiter begreiflich gemacht werden.« Manches von dieser Einsicht wird bei Theodor Adorno als schöpferische, die Logifizierung unterwandernde Funktion der Kunst wieder auftauchen. Kants Lavieren durch alle Klippen eines vorschnellen Empirismus oder Rationalismus hindurch hat seinen Preis. Seine Ästhetik ist, aller Weichenstellung einer Modernität zum Trotz, ein labiles Konglomerat paradoxer oder zumindest spannungsgeladener Strukturen. Das ästhetische Urteil ist ein solches ohne alles Interesse. Es drückt ein begriffsloses Wohlgefallen am Schönen aus, soll aber dennoch notwendig und universal sein, welche Universalität sich wiederum auf ein subjektiv-allgemeines Prinzip des Gemeinsinns gründet. Der Gemeinsinn ist keine psychologische, sondern eine transzendentalphilosophische Größe. Nach Kant handelt es sich beim Geschmacksurteil nicht um ein Erkenntnisurteil, aber es zielt auf eine »Erkenntnis überhaupt«. Verbreitet wird diese unscharfe Bestimmung nur als eine Vorstufe angesehen, die philosophisch in den Rang einer echten Erkenntnis übergeführt werden muss. Kant hingegen gibt dieser »Erkenntnis überhaupt« durchaus einen eigenständigen Wert als Inhalt ästhetischer Reflexion. Als Fazit könnte man resümieren, dass Kant das ästhetische Urteil so eng wie nur möglich entlang der Struktur des logischen Urteils formulierte und damit die Ästhetik in die Erkenntnisstrukturen eingemeindete (ohne dass dies völlig gelang).

191

Immanuel Kant

Derartige Versuche sind seitdem nicht mehr abgerissen und sind nicht zuletzt auch von der Absicht geleitet, den subversiven Charakter der Kunst gegenüber der Vernunft in Schach zu halten. Es gibt aber auch die gegenteilige Bemühung. Mit Bezug auf Kants Betonung des eigenständigen Werts des ästhetischen Urteils wird dieser subversive Charakter gestützt und die Kunst ebenbürtig neben die Wissenschaft gestellt. Das geht schließlich so weit, dass sie als kreative Weltdeutung das durch den Verlust des Rationalitätsmonopols entstandene Vakuum füllt. Vorsichtiger formuliert: Dass Kant dem ästhetischen Urteil so viel Mühe zukommen ließ und es ausdrücklich neben dem Erkenntnisurteil situierte, könnte man als Erweiterung der Erkenntnisleistung auf »weichere« Erkenntnisformen deuten. Das Erkenntnisurteil bliebe auf Gegenstände der Erfahrung beschränkt, was aber weitere Urteile, denen eine jeweils andere Struktur eignet, nicht ausschließt. Man hat Kant also nicht automatisch zum Gegner, wenn man sich um die Legitimität anderer Welterfahrungen als nur solche logischer Gesetzmäßigkeit bemüht, sofern man auf der anderen Seite bereit ist, über die jeweilige Bedeutung von Wissenschaftlichkeit zureden.

5.2.6./X.1.0.

6.3.3. Das Erhabene Am erfolgreichsten in der nachfolgenden Rezeption bis zur Gegenwart konnte die subversive Kraft der Kunst am Begriff des Erhabenen anknüpfen. Es ist ein Gegenbegriff zum Idealschönen und eine eigenständige Kategorie. Das Schöne bildete das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand ab, das Erhabene jenes von Sinnlichkeit und Vernunft. Ist Schönheit etwas Begrenztes, eine Form, hat das Erhabene mit dem Unbegrenzten und Formlosen zu tun. Der Begriff selbst stammt aus der Schrift des Pseudo-Longinus Über das Erhabene (peri hypsous). Nicolas Boileau vollendete eine von seinem Bruder begonnene Übersetzung dieses Werks und publizierte sie 1674 unter dem Titel Traité sur le sublime. Über Edmund Burke kam der Ausdruck zu Kant. Ursprünglich ein Begriff der Rhetorik, erhielt er sukzessive weitere Zuschreibungen. Das Erhabene bezeichnet bei Kant die Reaktion des Subjekts auf Ereignisse, vor denen die Sinne und die Einbildungskraft kapitulieren, die das Vorstellungsvermögen schlicht überfordern. »Die ›Analytik des Erhabenen‹ handelt von Gegenständen, die die in der Kritik der reinen Vernunft etablierte Wahrnehmungslehre in Frage stellen, weil sie den dort konstruierten menschlichen Wahrnehmungsapparat übersteigen.« Das kann mit der schieren Größe (Mathematisch-Erhabenes) oder mit der machtvollen Wirkung der Kräfte der Natur, die Unterwerfung erzwingt (Dynamisch-Erhabenes), zusammenhängen. Inhaltlich ist damit etwa das Schreckliche, Gefährliche, Phantastische, das Unbegrenzte und – im Gegensatz zum Schönen – eben das Formlose gemeint, wie es sich in »ungestalten Gebirgsmassen«, in der »düsteren tobenden See«, in »am Himmel sich auftürmenden Donnerwolken […] Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane […]«, im schlicht Kolossalen verdinglicht. Otto Neumaier wies auf die Herkunft dieser Beispiele von Moses Mendelssohn hin. Jedenfalls ist das Erhabene eine Gemütsbewegung, welche durch Gegenstände und Vorkommnisse der Natur ausgelöst wird, irgendeine sakrale Bedeutung des Erhabenen gibt es bei Kant nicht mehr.

III.3.4.4. 4.2.1. 5.2.4.

Pries 1991, 157

Kant 1790, B 95 Neumaier 1999, 315

192

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Hegel 1796, 618

Kant 1790, B 93/B 80/A 94

Ebd., B 102

Baumeister 2012, 215 IX.4.5.2./IX.5.2.1.

Schneider 1996, 56

Kat. 2002a

Hegel hat in einer Tagebucheintragung anlässlich einer Wanderung ins Berner Oberland, als er sein Geld als Hauslehrer im Landhaus von Karl Friedrich Steiger in Bern verdienen musste, ein prägnantes Beispiel einer Empfindung des Erhabenen geliefert. Hegel schrieb beim Anblick des Grindelwaldgletschers: »Weder das Auge noch die Einbildungskraft findet auf diesen formlosen Massen irgendeinen Punkt, auf dem jenes mit Wohlgefallen ruhen oder wo diese Beschäftigung oder ein Spiel finden könnte.« Unsere Einbildungskraft scheitert schlicht daran, das Mannigfaltige der Anschauung zu einer Einheit zu synthetisieren. Diese Erfahrung löst schließlich das Gefühl des Erhabenen aus. Weil das Erhabene »allen Maßstab der Sinne übertrifft«, ist es eine Gemütsbewegung darüber, »was schlechthin groß ist.« Denn die Erhabenheit liegt »nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung desselben veranlaßt […].« Die Erfahrung der Endlichkeit angesichts des schlechthin Großen löst in uns nicht wie das Schöne Lust aus, sondern einerseits Unlust – die Gegenstände müssen »als Furcht erregend vorgestellt werden« –, andererseits lassen sie uns aber in der Erfahrung der Macht der Naturgewalten unsere Überlegenheit als vernünftiges und moralisches Wesen erleben. Erhabenheit erhält dadurch eine ambivalente Bedeutung. Einerseits die geschilderte Form des Überwältigenden, andererseits das Gefühl der Überlegenheit über die Mächte der Natur, die sich in blinder Naturkausalität erschöpfen. Damit ist auch ein Übergang von der Ästhetik in die Ethik vorgespurt. »Ganz in Übereinstimmung mit der ethischen Ausrichtung seines Denkens versteht Kant die Lust am Erhabenen als eine moralische oder jedenfalls vernünftige Lust. […] Lust an der eigenen geistigen Unabhängigkeit.« Bei den Vertretern des Abstrakten Expressionismus im 20. Jh. wird dies ein zentrales Thema sein. Der Begriff des Erhabenen liegt in einer ideengeschichtlichen Spannweite vor uns, die Norbert Schneider so zusammenfasst: »Kant hat das Sublime, das bei Pseudo-Longinus noch eine Stillage bezeichnete, im 17. und 18. Jahrhundert dann zum ›grand goût‹ wurde, im Anschluß an Edmund Burke in eine Objektqualität der Natur verwandelt, um es zu einer Quelle für Reflexionen des Subjekts zu machen.« Die Geschichte ging freilich noch weiter. Im 19. Jh. verschrieben sich einige Maler der heroischen und monumentalen Landschaft. Joseph Anton Kochs Schmadribachfall (1821/22) ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Es ging nicht um Abbildung, sondern um Idealisierung der Landschaft. Die Romantik nahm das Monumentale zurück. Ludwig Richters Watzmann (1824) ist beinahe schon ein biedermeierliches Bild, das jede Anmutung des Erhabenen hinter sich lässt. Mit dem Erhabenen ist ein – obwohl Kant dieses Kapitel nicht sehr wichtig war – reizvolles Tor geöffnet, durch das der Mensch durch gewaltige Dimensionen auf eine Unbegrenztheit von Ideen verwiesen wird, für die jedes vernunftgeleitete Instrument zur Darstellung versagt. Es gelingt keine Harmonie von Einbildungskraft und Verstand mehr wie im ästhetischen Urteil, sondern es bleibt ein Widerstreit. Dieser Widerstreit ermöglicht eine Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Vernunft gegenüber der Einbildungskraft, was man mit »Fassungslosigkeit« umschreiben könnte. Gemeint ist die verborgene Fähigkeit der Vernunft, das, was nicht mehr

193

Immanuel Kant

in ein begriffliches Raster zu bringen ist, als Idee im Sinne Kants noch zu fassen. Jean-François Lyotard beschreibt den Zusammenhang bei Kant zutreffend: Das Gefühl des Erhabenen tritt auf, »wenn die Einbildungskraft nicht vermag, einen Gegenstand darzustellen, der mit einem Begriff, und sei es auch nur im Prinzip, zur Übereinstimmung gelangen könnte. […] Wir können uns das absolut Große, das absolut Mächtige vorstellen, aber jegliche Darstellung eines Gegenstandes, die darauf abzielte, jene absolute Größe oder Macht ›sehen zu lassen‹, erscheint uns schmerzlich unzureichend.« Zum Unterschied von der Ästhetik des Schönen (dem ein Verstandesbegriff entsprach) kommt es in der Ästhetik des Erhabenen zu einer Bestimmung der Vorstellung durch die Vernunft. Sie erreicht die Koppelung zum Oxymoron, wenn der schöne Schauder beschworen wird. Lyotard nimmt das später auf, radikalisiert das Übersteigen jedes Fassungsvermögens und sieht im Erhabenen die Möglichkeit der Darstellung des Nichtdarstellbaren. Er kann sich dabei auf Kants Verweigerung jeder Form und seine Sympathie für das Bildverbot berufen: »Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis, weder dessen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist u.s.w.« Lyotard destillierte daraus eine Grundlegung des Erhabenen-Verständnisses der künstlerischen Avantgarde. Das ist eine originelle Fortschreibung von Kant, man sollte sich aber der Veränderung, die Lyotard durchführte, durchaus bewusst bleiben. Die erhabene Malerei vermeide alles Gegenständliche, sie wäre weiß »wie ein Quadrat von Malevitsch, sie würde nur sichtbar machen, indem sie zu sehen verbietet. Sie würde nur Lust bereiten, indem sie schmerzt.« Eine solche Aktualisierung nimmt den Gedanken Kants auf, dass das Formlose eine Charakterisierung des Undarstellbaren ist – Hegel hatte von formlosen Massen gesprochen. Lyotard baut eine Brücke, wie das Erhabene (the sublime) in der Kunst des Abstrakten Expressionismus geradezu als Sinn dieser Kunst aufgenommen worden ist. Für Kant konnte nur die Natur diese Auszeichnung tragen, nicht ein Kunstprodukt, das ja stets mit der subjektiven Vernunftsphäre eines Künstlers verbunden ist. Schon Schiller hat das korrigiert. Über die Ungereimtheit, dass Kant die Pyramiden in Ägypten und den Petersdom in Rom ebenfalls zu Naturerscheinungen zählte, soll hier hinweggesehen werden. Die Rücknahme des Erhabenen auf das Subjekt, die Tätigkeit der Vernunft, verstärkt noch die Subjektivierung der ästhetischen Theorie und rückt – wenn wir jetzt von der Kunst und nicht mehr von der Natur reden – das Kunstwerk selbst noch weiter zurück als in der bisherigen ästhetischen Theorie. Neben der Formlosigkeit legt diese Subjektivierung eine Spur zur Avantgarde der Moderne, wo das Werk gegenüber dem, was es im Betrachter auslöst, nur mehr eine geringe Rolle spielt. Das Motiv des Erhabenen wird so zum Schlüssel der Selbsterfahrung, die ihrerseits unendlich dynamisch erscheint. Nach der Ablösung vom Mimesiszwang erhält unter solchen Rahmenbedingungen Kunst eine neue, allenfalls an die mystischen Gehalte der Ikone anknüpfende Funktion. Dazu zählt auch die destruktive Tendenz des Erhabenen. So wie Destruktion, besser sollte man wohl von

Lyotard 1988, 199

Darstellung des Nichtdarstellbaren

Kant 1790, A 123

Lyotard 1988, 200

Kant 1790, A 75 Ebd., B 87f

194

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Dekonstruktion sprechen, die sinnliche Einbildungskraft trifft, so überwältigt eine Selbsterfahrung auslösende Kunst den Betrachter. Nicht umsonst brachte Jackson Pollock seine Kunst in die Nähe der Ethik. Kunst erhält einen radikal kathartischen (in manchen Fällen ist dies verbunden mit einem gesellschaftskritischen) Charakter.

527 / 528 ­Ästhetisierung des Schreckens: Reichs­ parteitag der NSDAP 1934; Anschlag auf das WTC in New York 2009

6.3.4. Die Kunst und das Genie

Ebd., A 165

Ebd., B 170/B 179

Ebd., B 183

Bei Kant ist es ein besonders weiter Sprung von seiner Ästhetik zu einer Philosophie der Kunst. Das ästhetische Urteil ist so weit formalisiert und ungeschichtlich entworfen, dass ein Rückschluss auf die Individualität eines Kunstwerks gar nicht einfach ist. Das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand lässt sich kaum auf das Spezifische eines Kunstwerks herabbrechen. Mehr noch: Ein solcher Bezug zu einem konkreten Kunstwerk brächte die vorausgesetzte Interesselosigkeit in Gefahr. Am ehesten greifbar bleiben einzelne Aspekte wie jener, der die Naturschönheit vor der Kunstschönheit rangieren lässt. In der Natur entstehen die Gegenstände aus sich selbst, in der Kunst versammelt sich all das, was vom Menschen gemacht ist. Dem Naturschönen kommt – anders als dem Kunstschönen – eine absichtslose Zweckmäßigkeit zu. Allerdings muss sich die Natur als Kunst zeigen, so als ob ihre Schönheit »gleichsam absichtlich […] und als Zweckmäßigkeit ohne Zweck« hervorgebracht würde. Diese Dialektik funktioniert nach Kant so: »Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.« Man kann darin Kants durch alle Kritiken sich hindurchziehendes Bekenntnis zum Gegenständlichen herauslesen. Hegel verschärfte als Konsequenz aus dem Geiste der Kantschen Philosophie die Priorität des Bewusstseins insofern, als er die Naturschönheit gegenüber der Kunst klar zurückstuft. Ein weiterer Aspekt betrifft die Produktion der Kunst, die nach Kants Auffassung des Genies die Naturnachahmung ablehnt. Das Genie ist »dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen […].« Kant setzte bei diesem absichtsvollen Tun gegen jeden Regelkanon auf das Schöpferische, Kreative und auf die Zweckfreiheit, welche die »schöne Kunst« ausmachen. Damit formulierte er neben seinem Geschmacksurteil auch eine Theorie der ästhetischen Produktion, eine Genieästhetik. Die produktiven Kräfte konzentrieren sich im Genie: »Zur Beurteilung schöner Ge-

195

Immanuel Kant

genstände, als solcher, wird Geschmack, zur schönen Kunst selbst aber, d.i. der Hervorbringung solcher Gegenstände, wird Genie erfordert. Die schönen Künste müssen »notwendig als Künste des Genies betrachtet werden.« Das Genie ist es, das schöne Kunst, das heißt schöne Darstellungen, hervorbringt. Dies gilt auch für Hässliches in der Natur, das schön dargestellt werden kann. Nur das Ekelerregende bleibt ausgeschlossen, weil dieses auch keine schöne Darstellung erfahren kann. Der Begriff Genie hatte – freilich in anderer, fortentwickelter Weise – in der Literaturtheorie des Sturm und Drang Konjunktur. Er meinte »eine von Natur gegebene originale Schöpferkraft, die sich ihrer Regeln nicht bewusst versichern kann, die aber über intuitive Fähigkeiten verfügt, die anschaubare Wahrheit aufzufassen und zu gestalten.« Für Kant gibt das Genie der Kunst die Regeln. Da das entsprechende Vermögen im Künstler selbst Teil der Natur ist, spitzt sich der Satz Kants zu: »Genie ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.« Damit ist die Nachahmung nun doch nicht völlig vom Tisch. Sie ist als Verbesserung der Natur zu verstehen. »Die Einbildungskraft […] ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir […] bilden diese auch wohl um […] nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen […], nämlich dem, was die Natur übertrifft […].« Kunst gibt keine natura naturata wider, sondern »sie verkörpert als originale Hervorbringung des Genies das Prinzip der natura naturans.« Norbert Schneider weist auf die philosophischen Hintergründe dieses Denkens bei den sogenannten Physiokraten hin. Die Ökonomen und Aufklärer François Quesnay und Jacques Turgot entwickelten eine Volkswirtschaftslehre nach dem Vorbild der alten Zyklen in der Natur und im menschlichen Körper. Dieser Ansicht nach »basiert die Erzeugung von Mehrwert in der Produktion auf der Erdfruchtbarkeit, also nicht auf der menschlichen Arbeit: die Natur selbst ist es, die den Wertüberschuß organisch schenkt.« Nach dieser philosophischen Vorgabe ließe sich der Geniebegriff so lesen, dass das Genie nach der Vorgabe der Natur handelt, ja dass sich die Natur durch den Künstler neu schafft. Kant ringt augenscheinlich im Kontext der Verschiebung des demiurgischen Prozesses von einem vorgegebenen Muster (bei Platon) zur Vernunft (im Sinne des Klassizismus) mit der Rolle des Genies. Es ist der kreative Umgang mit den Regeln, was das ingenium des Menschen vermag. Das bedeutet zugleich aber nicht, dass das Genie die Regeln völlig brechen darf. Der Zufall kann keine Werke der schönen Kunst erzeugen. Diesen Originalitätsbegriff führte die sogenannte Sturm und Drang-Bewegung weiter und schrieb dem Genie durchaus auch den Bruch der Regeln zu. Der Anknüpfungspunkt bei Kant war der produktive Aspekt seiner Ästhetik. Kant ließ sich mit seinem unscharfen Geniebegriff sowohl vom Klassizismus als auch vom progressiven Teil der Romantik in Anspruch nehmen. Es ist ihm hier nicht anders ergangen als in seiner kritischen Philosophie, die im Deutschen Idealismus gegen Kants Intentionen, aber »in seinem Geist«, wie die Protagonisten nicht müde wurden zu betonen, fortgeführt worden ist. Die Subjektivität des Genies vertiefte die seiner Ästhetik eingeschriebene Subjektivierung. Die Theorie geht nirgends auf einzelne Kriterien eines möglichen

Ebd., B 187/B 181

Genie und ­Nachahmung

Scheer 1997, 101

Kant 1790, A 179

Ebd., B 193 Recki Birgit in ­Majetschak 2005, 138f

Schneider 1996, 51

Kant 1790, B 186

196

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Ebd., B 60

Pöltner 2008, 115f

Marquard 1962, 22/25, 32

VIII.5.0.–VIII.5.3.3.

Kunstwerks ein, sondern interessiert sich vorwiegend für die Wirkungen des Gegebenen. Es könnte sich demnach ohne Weiteres auch um eine Kunst ohne Werk handeln – allein angelegt in der ästhetischen Reflexion eines Subjekts. Das mag für die zeitgenössische Kunst ein interessanter Aspekt sein. Im Rahmen der Ästhetik Kants hingegen bleibt diese Absage eines jeden empirischen Moments ein Problem vor allem deshalb, weil Kant in der Kritik der Urteilskraft durchaus auch inhaltliche Aussagen trifft, ja gar von einem Ideal des Schönen spricht, das er zu einem Muster und Urbild des Geschmacks hochstilisiert. Die konkreten Beispiele, die er bringt, stammen aus dem Klassizismus, sind also zeitgebunden und konnotieren eine eindeutige Vorliebe. Weitere Wertungen folgen: Die Zeichnung sei wertvoller als die Farbe, das Monochrome wertvoller als Polychromie. Die griechische Skulptur gilt ihm – ganz im Gefolge Winckelmanns – als ideale schöne Kunst. Mehr noch: Solche Kunst wird zum »sichtbaren Ausdruck sittlicher Ideen«. Wie verträgt sich das mit der Souveränität des Genies? Und wie lässt sich so argumentieren, wenn doch das ästhetische Urteil ohne jeden empirischen Bezug sein soll? Damit wird jeder Anspruch auf eine Allgemeinverbindlichkeit eines Geschmacksurteils ad absurdum geführt. Wenn zudem Kunst mit Naturnachahmung und Sittlichkeit in Verbindung gebracht wird, wertet dies das Kunstschöne doch wieder auf. »Die Symbolik des Kunstschönen dechiffriert die Symbolik des in Chiffren sprechenden Naturschönen.« Kants Kritik der Urteilskraft hat der Ästhetik als philosophischem Genre (sogar mit eigener Erkenntnisart) eine feste und nachhaltige Basis gegeben. Von einer Wende zur Ästhetik zu sprechen, erscheint freilich als überraschende Beurteilung. Odo Marquard hat dies vielleicht am pointiertesten formuliert: Die Ästhetik sei seit Ende des 18. Jh.s »dem Anspruch nach bis heute zur diensthabenden Fundamentalphilosophie« geworden. Der Blick Marquards, der in der Ästhetik einen Ausweg sieht überall dort, »wo das wissenschaftliche Denken nicht mehr und das geschichtliche Denken noch nicht trägt«, richtete sich dabei allerdings mehr auf den Deutschen Idealismus, auf Schiller, die Romantiker, Schopenhauer und Nietzsche. Bezogen auf diese Tradition kann man Marquard zustimmen. Kants Wende zur Ästhetik parallelisiert seine philosophische Wende zum Subjekt, das in der Romantik zum Absoluten wurde, was nun freilich nicht mehr im Sinne Odo Marquards ist. Hat Kant versucht, die Ästhetik als gleichberechtigt mit wissenschaftlicher Vernunft zu verstehen, nützt der nachfolgende Idealismus die Kunst als bewusste Alternative dazu. Mit Kant begann die Philosophie der Moderne in ihrer Gesamtheit aber keineswegs, ästhetisch zu werden, sein spezifischer Vorschlag einer Erkenntnislehre der Ästhetik ist auch von niemandem in der vorliegenden Form weitergeführt worden. Allenfalls hatten einzelne Aspekte eine nachhaltige Wirkgeschichte. Das Geschmacksurteil diente als Reibebaum für avantgardistische Ansätze in der Kunst, der Gedanke der Interesselosigkeit der Kunst, den Kant nicht als einziger, wohl aber am prononciertesten formulierte, wurde zu einem großen Thema der Kunstphilosophie, das Erhabene spielte als Erklärungsmuster für Richtungen der modernen Kunst, die noch einen emphatischen Werkbegriff vertraten, eine wichtige Rolle.

197

Die Aufklärung

7.0. Die Aufklärung Aus den großen philosophischen »Kulturen« der Neuzeit, dem Rationalismus und dem Empirismus, wuchs als eigenständig identifizierbare geistige Bewegung die Aufklärung. Nach Anfängen bei Spinoza drückte sie dem 18. und beginnenden 19. Jh. ihren nachhaltigen Stempel auf und wurde im Unterschied zur vielfältigen Szene im 17. Jh. zu einer weitgehend einheitlichen Signatur der Philosophie des 18. Jh.s. Sie ist der Höhepunkt einer nahezu zwingend erscheinenden Konsequenz der geistesgeschichtlichen Entwicklung, zu der Nominalismus, Renaissance, Luthers Freiheitsappell für den Christenmenschen, Rationalismus und Empirismus beitrugen. Sie basierte auf der neuen, unabhängigen Wissenschaft, auf Isaac Newtons Mathematisierung sowie der Weltdeutung und dem Methodenstandard der Empiristen. Sie erfasste schrittweise ganz Europa und Amerika, das 1776 in seiner Unabhängigkeitserklärung die universellen Menschenrechte definierte, und durchdrang alle Kultur- und Wissensbereiche. Als ein Höhepunkt wird üblicherweise die von Diderot und d’Alembert herausgegebene Encyclopédie angesehen. Es ist richtig, dass die aufklärerischen Beiträge des Rationalismus weniger gesellschaftskritisch relevant wurden als jene des Empirismus. Sie blieben politisch »stumpf«. In England bildete die unblutige Glorreiche Revolution 1688/89 mit dem vom Parlament am 16. Dezember 1689 verabschiedeten Bill of Rights die Grundlage für ein parlamentarisches System (King-in-parliament), das zum Vorbild weit über die Grenzen des Landes hinaus wurde – erwähnt seien die lettres écrites de Londres sur les Anglais von Voltaire. Eine neue Orientierung an Massenmedien förderte die rasche Verbreitung der Ideen der Aufklärung. Die Schriften der Aufklärer erreichten hohe Auflagen und wurden rasch übersetzt. Erstmals spielte die Presse eine wichtige Rolle. Monatszeitschriften und Tageszeitungen begannen im 18. Jh. ihren Siegeszug. Daneben verbreiteten sich die Ideen an Akademien und (zögerlich) an den Universitäten, besonders lebendig jedoch in literarischen Salons und Freimaurerlogen. Berühmt wurden die intellektuellen Salons in Paris, die von Damen der vornehmen Gesellschaft geführt wurden. Die Kommunikation der Ideen der Aufklärung geschah wegen der Überwachung und strengen Zensur zwangsläufig unter dem Schutz des Konspirativen. Die oben bereits zitierte Beantwortung der Frage nach der Aufklärung durch Immanuel Kant ist bis heute das Programm jeder Aufklärung: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Ihre Lichtmetaphorik in Ausdrücken wie lumières, enlightenment, illuminismo beschwört dieses erhellende Licht der Vernunft. Die Bewegung zeichnet das Vertrauen in die Vernunft, die Wissenschaften und den seit der Renaissance freigesetzten Fortschritt aus, sowie das Vertrauen darauf, dass ein von Vorurteilen und religiösen Einschränkungen befreiter Geist zur Wahrheit findet. Es handelt sich in der Tat um eine Bewegung, ja um eine gelebte Erfahrung und nicht so sehr um ein philoso-

5.2.2. Kreimendahl Lothar in Kreimendahl 2000, 14

Kant 1783, A 481 Lichtmetaphorik

198

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Sloan 2003b, 13 Cassirer, zit. nach Rudé 1983, 286 nackte Wahrheit

Blumenberg 1998, 62–76

III.2.1.3.ff. Hadot 1982; Assmann 1998, 196–205

VIII.5.3.1.

Fischer 2012

phisch-systematisches Gedankengebäude, wie dies Ernst Cassirer zusammenfasste, als er unterstrich, dass der Mensch »aus eigener Kraft und ganz ohne Zufluchtnahme zu übernatürlichen Dingen durchaus in der Lage ist, das ganze Weltsystem zu begreifen.« Eine andere, mit der Aufklärung in Verbindung gebrachte Metapher ist jene der »nackten Wahrheit«. Über sie hat Hans Blumenberg gelehrte Überlegungen angestellt. Sie erfuhr eine Umsetzung in Literatur und Kunst. In der Literatur äußerte sich das Streben nach der »nackten Wahrheit« im Angriff auf die vermeintlich kulturellen und machtpolitischen Verkleidungen im pornografischen Roman. Jean-Baptiste d’Argens, der – in Aix-en-Provence geboren – fast drei Jahrzehnte bei Friedrich dem Großen in Berlin verbrachte, schrieb den erotischen Roman Thérèse philosophe, in dem er den sexuellen Akt als Akt der Erkenntnis und Aufklärung lobte. John Cleland, der Autor des erotischen Romans Fanny Hill, verfolgte ähnliche Absichten. Die Wahrheit verträgt keine Bemäntelung mehr, erklärt Fanny Hill, nein, die Wahrheit der Aufklärung ist nackt! Diese vorrevolutionäre Pornografie trägt sozialreformerische Absichten, die Motive selbst sind alt. Es ist das Motiv der von Richard Wagner verarbeiteten Parsifal-Kundry-Begegnung und erinnert an archaische Stoffe, wie der Begegnung von Penis (Phanes) und Dunkelraum (Höhle) im orphischen Derveni-Papyrus, der ebenfalls zu Aufklärung, Licht und Einsicht führte. Über die mannigfache Allegorik einer verhüllten Natur, welche die Wissenschaft (oder alternativ: die Poesie) zu entschleiern versuchte, hat uns Pierre Hadot und in seinem Gefolge Jan Assmann aufgeklärt. Eine Reihe von Frontispizen, vor allem zu naturkundlichen Werken im 18. und 19. Jh., zeigt das Motiv einer verschleierten Frau, die von der personifizierten Naturwissenschaft, der Philosophie oder der Poesie entkleidet wird, um zur Wahrheit der Natur durchzudringen. Faszinierend bleibt der Akt der Entschleierung, welcher auf die eben erst begonnene und noch zu leistende Arbeit an der Aufklärung hinweist. Auf Hegels Optimismus der Gewinnung einer hüllenlosen Wahrheit (am Ende eines mühsamen Weges des menschlichen Geistes durch die Zeitläufte) wird noch hinzuweisen sein. In diesem Spiel mit der Wahrheit und der Funktionalisierung der neuen Wissenschaft auf die Wahrheit könnte man, wissenschaftsgeschichtlich gesehen, ein voraufklärerisches Relikt ausfindig machen. Wissenschaft muss ein offenes Geschäft bleiben und bei der Beantwortung einer Frage stets neue Fragen generieren. Insofern hätte die zugespitzte These einiges für sich, dass die Ursprünge der modernen Wissenschaft weniger in der Aufklärung als vielmehr in der Romantik liegen. Denn im Sinne der Romantiker wäre die Wissenschaft »die Umwandlung einer geheimnisvollen Welt in eine noch geheimnisvollere.« Es waren in der Tat die Romantiker, welche die Welt radikal offen sahen und die mit widersprüchlichen Antworten leben konnten. Die Entzauberungstendenz der Wissenschaft wird durch ihre beständige Zunahme an Komplexität daher konterkariert, eine Erfahrung, die jedoch nur in der scientific community als solche wahrgenommen wird. Dass diese Entzauberung auch abseits wissenschaftstheoretischer Überlegungen Unbehagen auslöste, ist vielfach dokumentiert. Selbst Schiller klagte über die unvermeidlichen Verluste: »Da der Dich-

199

Die Aufklärung

tung zauberische Hülle sich noch lieblich um die Wahrheit wand.« Für Schiller war bereits der Monotheismus eine verlustreiche Entzauberung des Kosmos. »Alle jene Blüten sind gefallen / Von des Nordes schauerlichem Wehn; / Einen zu bereichern unter allen, / Mußte diese Götterwelt vergehn.« Goethe sah das nicht anders: »Und der alten Götter bunt Gewimmel / Hat sogleich das stille Haus geleert. / Unsichtbar wird einer nur im Himmel […].« Politisch war die Aufklärung ein Humanismus, der auf Freiheit des Individuums (Liberalismus) setzte, auf die Toleranzidee, ökonomisch auf den Markt als Regulator und einen Freihandel. Pietro Verri kämpfte in seiner Schrift Meditazioni sulla economia politica (1771) für die Beseitigung von Privilegien und die Freiheit der Wirtschaft und des Individuums zugunsten von Wachstum und Fortschritt. Theologisch setzten die Aufklärer sowohl auf Religionskritik (Voltaire) als auch Religionsfreiheit (Lessing) im Sinne der Toleranzbestimmung des Westfälischen Friedens. Oder sie setzten auf eine allenfalls noch vertretbare natürliche Religion, also eine Religion ohne Transzendenz und Jenseits. In der Einschätzung von Religionsstiftern waren sich die Aufklärer uneins. Während Voltaire in seinem Mahomet Mohammed als Täuscher und Betrüger darstellte, sahen Goethe, Lessing und Herder in dem Propheten eine wertvolle geistige Führergestalt. Die Aufklärer waren Vorläufer des späteren Positivismus als auch des Materialismus. Sie setzten sich wie der Mailänder Graf Cesare Beccaria in seiner in ganz Europa als Sensation empfundenen Schrift Dei delitti e delle penne, 1764 anonym erschienen, für die Abschaffung von Folter und Todesstrafe ein. Die Aufklärung förderte neben einem umfassenden Bildungswesen getreu der Formel von Francis Bacon »Wissen ist Macht« die Gewaltenteilung. Hinter der Überlegung, die vor allem Charles de Montesquieu als Staatsdenker in seinem Werk Vom Geist der Gesetze (De l’esprit des lois; 1750) formuliert hatte, das in Frankreich allein bis 1751 satte 22 Auflagen erlebte, steht ein dynamischer Aspekt des Ausgleichs der Kräfte. Montesquieu war zudem Schriftsteller und seine Persischen Briefe (Les lettres persanes; 1721) dürfen als ein Schlüsseltext aufgeklärter Toleranz gelten. Die Umsetzung dieser Inspiration in Reformen wurde bereits erwähnt. Die Französische Revolution im Zeichen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war es schließlich, wo sich die Ambivalenz der Aufklärung zeigte. Der aufgeklärten Revolution folgten Terror, Gewaltherrschaft und die Despotie Napoleons. Als Ursprungsländer der Aufklärung gelten England und Frankreich mit der Metropole Paris. John Locke, John Toland, von dem der Ausdruck »Freidenker« (freethinker) stammen dürfte, Anthony Collins, Henry St. John, Lord of Bolingbroke, und der oben mit seiner ästhetischen Theorie vorgestellte Shaftesbury traten alle mehr oder weniger für die Freiheit des Denkens ein und für eine von jedem übernatürlichen Charakter gereinigte Naturreligion. Pierre Bayle hielt die Moral für ein von der Religion unabhängiges Geschäft und Atheisten für moralischer als abergläubische Christen. Diderot ließ allenfalls noch eine Vernunftreligion gelten. Adam Smith entwickelte mit seiner marktwirtschaftlichen Ordnung ein zu einer neuen liberalen Gesellschaftsordnung passendes freiheitliches Wirtschaftssystem.

Schiller 1788, 101

Ebd., 104 Goethe 1798, 142 Liberalismus, Toleranzidee

Gewaltenteilung

England

200

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Frankreich

529 Statue Voltaires im Panthéon; Paris

Blom 2010, 32

In Frankreich waren die berühmten Gestalten Jean-François Arouet, der sich ab 1718 Voltaire nannte, Denis Diderot, Julien de Lamettrie, der in seinem Skandalwerk L’homme machine mit einer drastischen Metapher den Menschen zu einem seelenlosen Apparat machte und ihn auf die Funktionalität der Organe reduzierte. Ein Ansatz freilich, der für die Medizin fruchtbar war. Voltaire bewunderte in seinen Philosophischen Briefen (Lettres philosophiques), auch Briefe an die Engländer genannt, nach dem Exil in England (1727/28) die dort herrschende Freiheit des Individuums, die Religionsfreiheit und das parlamentarische System. Er opponierte mit dieser Schrift gegen den Würgegriff der Kirche und der Adelscliquen in Frankreich, was ihm prompt einen Haftbefehl eintrug, dem er sich durch eine Flucht nach Lothringen entziehen konnte. Erwähnt sei die frühe Kämpferin für die Emanzipation der Frauen, Olympe de Gouges, die voller Sarkasmus das Recht der Frauen einklagte, auf das Schafott steigen zu dürfen. Eine andere beeindruckende Aufklärerin war die Physikerin und Philosophin Émilie Marquise du Châtelet. Von ihrem exzentrischen Vater in Sprach-, Naturwissenschafts-, Fecht-, Reit- und Gesangsunterricht außerordentlich gefördert, übersetzte sie Newtons Principia Mathematica ins Französische, eine Übersetzung, die noch heute Verwendung findet. Sie trat in Voltaires Theaterstücken als Schauspielerin auf und gab den Sekretär der Académie des Sciences Dortous de Mairan in einem öffentlichen und viel beachteten Streit der Lächerlichkeit preis, indem sie seine sture Verteidigung des alten Cartesianismus zugunsten der lebendigen newtonschen Theorie mit wissenschaftlicher Argumentation destruierte. Voltaire soll einer ihrer Liebhaber gewesen sein und ihre Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften von Bologna (die französischen Akademien verweigerten die Aufnahme von Frauen standhaft) führt uns in diese Stadt nach Oberitalien zu einer anderen bemerkenswerten Frau: Laura Maria Caterina Bassi pflegte Kontakte zu Voltaire. Die hochgebildete Dame, die fließend in lateinischer Sprache wissenschaftliche Unterhaltungen führte, wie Zeitgenossen bewundernd feststellten, wurde an die Universität ihrer Heimatstadt Bologna zur ersten Professorin für Naturphilosophie berufen. Allerdings war damit die Auflage verbunden, ihre Vorlesungen zuhause abzuhalten, damit sie auch ihren häuslichen Pflichten (sie gebar acht Kinder) nachkommen könne. Das tat sie umstandslos in ihrem Salon, wo sie zahlreiche angesehene Gelehrte empfing. Sie schüttelte die verbreitete theologische Grundierung der Wissenschaften ab, entdeckte Newton und revolutionierte die Naturwissenschaften in Italien. Auch die eine oder andere Künstlerin konnte in der Männerwelt reüssieren – wenn sie außerordentlich gut war, muss man hinzufügen. Ein Beispiel dafür ist die klassizistische Malerin Angelika Kauffmann, Tochter eines mäßigen Wandmalers und einer Hebamme aus Chur. Nach ihrem Tod in ihrem Palazzo an der Piazza di Spagna in Rom trauerten die Kunstinteressierten in ganz Europa. Zwar waren Salons eher »Frauensache, die einzige Möglichkeit für eine gutsituierte und intelligente Frau, aktiv am kulturellen und intellektuellen Leben teilzunehmen.« Trotzdem ging der Salon des Baron Paul-Henri von Holbach in Paris, wo David Hume, Jean Jaques Rousseau, Denis Diderot und etliche andere Aufklärer

201

Die Aufklärung

verkehrten – Edward Gibbon verglich diesen Salon mit einem griechischen Symposion – besonders in die Geschichte ein. Holbach wies den Weg zum Materialismus und rief die Menschen auf, nicht außerhalb der Welt ihren Trost- und Wohnplatz zu suchen. Einer der zentralen Texte für die Aufklärung war das von Holbach ins Französische übertragene De rerum natura des antiken Epikureers Lukrez. Die Aufklärung zehrte besonders von den Bibliotheken. Doch die Bücher damals waren nicht nur sehr teuer, sie mussten auch mit hohem Aufwand durch das Land geschmuggelt werden. Autoren schrieben unter Pseudonymen. Wer als Autor entlarvt oder mit aufklärerischer und atheistischer Literatur entdeckt wurde, entging kaum körperlichen Strafen und dem Gefängnis. Die Aufklärung praktizierte weitherum eine gepflegte Kirchenkritik und einen Bildungsatheismus. Dies musste keineswegs immer nur für den privaten Bereich gelten, wo manch einer sich ins Gebet vertiefte. In Deutschland war die Aufklärung, was die Religion betraf, ohnehin weniger radikal. Christian Wolff, dessen Rückkehr nach Halle nach seiner Vertreibung 1723 ein Sieg der deutschen Aufklärung war, forderte die Nützlichkeit der Philosophie. Hermann Samuel Reimarus wollte die Forderungen der Vernunft durchgesetzt wissen. Gotthold Ephraim Lessing bereitete mit seinem schriftstellerischen Werk die spätere deutsche Religionskritik vor. »Gegenüber dem theozentrischen Trauerspiel des Barock fordert Lessing ein anthropozentrisches Drama.« In jedem Fall wurzelt in der Aufklärung die dialektische Einheit von Religionsfreiheit und Religionskritik als ein wichtiges europäisches Kulturgut, das dazu beitrug, Absolutheitsansprüche von Religionen hintanzuhalten und deren politische Ambitionen zu zügeln. In kunstphilosophischem Kontext trat Lessing als Literaturtheoretiker gegen den Regelzwang der Franzosen an. Ihm stellte er das natürlich Gewachsene gegenüber. Es ist das Genie, das nur seiner Natur folgt und von seiner Anlage her im Besitz der Prinzipien des Kunstschaffens steht. Dies hatten bereits Shaftesbury und Diderot so gesehen. Zudem bekämpfte Lessing Winckelmanns idealisierende Antikendeutung, wie in 4.2.4.2. berichtet. Gegen die Verehrung der statischen Harmonie, die als Legitimation des Bestehenden gelesen wurde, sah Lessing in der Antike vor allem die Emotion und das Dynamische. Die Aufklärung erhielt manche Anregung durch die Entdeckung der Welt. Die Reiseliteratur und reiche Märchenerzählungen, vor allem aus dem Orient, verstärkten ihre Anliegen. Den märchenhaften Bericht der Südsee- und Haiti-Expedition des Louis-Antoine de Bougainville lasen manche Aufklärer als Bestätigung eines ursprünglich freien Genusslebens ohne die Repression kirchlicher und gesellschaftlicher Moral und er förderte die Figur des »edlen Wilden«, was zu einem Beitrag für die Bekämpfung der Sklaverei wurde. Kulturgeschichtlich war eine Folge einer aufgeklärten Öffentlichkeit ein redimensionierter Barock. Dazu passt die originelle Beobachtung Harald Kellers, dass das Grundprinzip einer aufgeklärten Bürgergesellschaft: no taxation without representation auch das Ende des Barock einleitete. Kein Parlament konnte es sich mehr leisten, die gigantischen Ausgaben für Bau und Pflege barocker Kolossalanlagen zu beschließen. Das heißt zugleich, dass auch die Ressourcenfrage als Argument für die behauptete Nähe von Barock und Absolutismus gelten kann.

Ebd., 127f Deutschland Felsner 2010, 62ff

Anglet Andreas in Majetschak 2005, 156

Keller 1971, 24

202

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Die Ermüdung der Aufklärung Ende des Jahrhunderts wird häufig in einen Zusammenhang mit der aufkommenden Romantik und der Philosophie des Deutschen Idealismus gestellt. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit. Weder die Romantik noch die Philosophie des Deutschen Idealismus waren schlicht rückwärtsgewandt, sondern durchaus von aufklärerischen Ideen durchdrungen.

7.1. Jean Jacques Rousseau

Hülk 2000b, 177 Blom 2010, 250

Voltaire, zit. nach Felsner 2010, 71

Es mag berechtigt sein, auf die Sonderstellung des Jean Jacques Rousseau, zugleich Vertreter und Kritiker der Aufklärung, der sich mit allen prominenten Aufklärern überworfen hatte, hinzuweisen. Von seiner Mutter hatte der 1712 geborene Genfer Philosoph eine Romansammlung, von seinem Vater, einem Uhrmacher, der einige Jahre im Serail in Konstantinopel gearbeitet hatte, eine reichhaltige Bibliothek wissenschaftlicher Autoren der Antike und Neuzeit geerbt. Beide Genres nützte Rousseau, beschäftigte sich anfangs jedoch ausführlich mit Musiktheorie und legte der Académie des Sciences in Paris nach der Ablehnung einer neuen Notenschrift eine Musikästhetik vor. Im Weiteren arbeitete er schriftstellerisch und schließlich schrieb er philosophische Abhandlungen. Er kritisierte darin die Einseitigkeit der empiristisch-materialistischen Naturauffassung mit kulturpessimistischem Gestus und forderte mit dem berühmt gewordenen Ruf »Zurück zur Natur« eine Ausrichtung beim Naturrecht. Wieder ein Erfinder der Landschaft sozusagen – nach Petrarca, gar ein »Landschaftsmaler der Literaturgeschichte«, der die Schweizer Berge »sich erwandert, erträumt und geformt hat als utopische Gegenwelt der von ihm verhaßten Zivilisation, welche er verantwortlich macht für das Unglück seines eigenen Lebens und das der von Natur aus guten Menschheit.« Jedenfalls einer, der es schaffte, »die von der Aufklärung in ihrer nackten Gesetzmäßigkeit dargestellte Natur wieder zu verzaubern.« Seine Kulturkritik á la Sokrates ist zugleich ein Anti-Optimismus gegenüber der Aufklärung. Gleichwohl blieben seine Schriften aufklärerisch, gepaart mit einem anstößigen Bekenntnis zur Ungleichheit und Geschlechterdifferenz, aber auch zur Durchsetzung des allgemeinen Willens mit deutlich repressiven Aspekten. Angesichts des katastrophalen Erdbebens mit nachfolgendem Tsunami von Lissabon am Allerheiligentag 1755, das 100 000 Menschen in wenigen Minuten tötete, attackierte Voltaire im Poème sur le désastre de Lisbonne den Optimismus von Leibniz. Der religiöse Jean-Jaques Rousseau hielt kräftig dagegen, was der streitsüchtige Voltaire erst 1759 mit seinem Candide ou l’optimisme konterte, nicht ohne Rousseau noch einigen Spott zukommen zu lassen: »Man hat nie so viel Geist aufgeboten, um uns dumm zu machen, und man hat nicht übel Lust, auf allen Vieren zu laufen, wenn man Ihr Werk liest. Da ich jedoch seit mehr als sechzig Jahren diese Gewohnheit verloren habe, fühle ich unglücklicherweise, dass es mir unmöglich ist, sie wieder aufzunehmen, und ich überlasse diesen natürlichen Gang denen, die würdiger dazu sind als Sie und ich.« 1756 zog sich Rousseau auf den Landsitz L’Hermitage der Madame d’Epinay im Wald von Montmorency nördlich von Paris zurück. Von dort aus frönte er der Naturverehrung, die als Seelenstimmung den Bogen zur Romantik schlug.

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Die Aufklärung

Auf dem Gebiet des Staatsrechts entwarf er in Du contrat social 1762 den Staat als Gesellschaftsvertrag. Darin schlug er eine ideale Gesellschaft mit stabiler Religion (deren Verletzung die Todesstrafe nach sich zieht) vor, zumal den Menschen für eine demokratische Regierung die dazu nötige Bildung fehle. Hegel lobte Rousseau dafür, dass er »den Willen als Prinzip des Staats« aufgestellt habe. Rousseaus Schrift wurde postwendend in der Genfer Republik verboten. Im Erziehungsroman Émile, 1762 erschienen und vom Parlament in Paris ebenfalls gleich mit einem Verbot belegt, träumte Rousseau angesichts eines eher pessimistischen Blicks auf die Fähigkeiten der Menschen von der ursprünglichen Reinheit und Unverdorbenheit der Natur in pädagogischer Absicht: »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.« Nach dem Erscheinen des Émile musste er vor der geballten Kritik das Weite suchen. Zuerst ging er mit Hilfe Diderots in die Schweiz, dann nach England, wo ihn David Hume unterstützte. Trotz dieser breiten Zuneigung verhedderte sich der misstrauische Rousseau in heftige Streitereien und brach die Brücken zu den Aufklärern ab. Eine ganz andere Erfolgsgeschichte war sein 1761 erschienener Briefroman Nouvelle Héloise (mit Seitenblick auf das Liebesleben des aufmüpfigen Abaelard), der Erschütterung und Begeisterung auslöste und dessen unzählige Auflagen nachhaltige Spuren im kulturellen Leben hinterließen. Eine neue Empfindsamkeit und das Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt bahnten sich ihren Weg durch Europa und bildeten eine Grundlage für das neue Gefühl des Rokoko. Rousseau demaskierte in aufklärerischer und kulturkritischer Manier die Fassade der Höflichkeitsrituale der höfischen Gesellschaft und suchte nach deren Eliminierung sozusagen einen Nullpunkt einer neuen Pädagogik. Er selbst wollte die Probe aufs Exempel freilich nicht machen und steckte seine eigenen Kinder in ein Waisenhaus, was manche Zeitgenossen als veritablen Skandal werteten. Rousseaus Erbe an Europa war eine neue Empfindsamkeit, welche die harte Aufklärung milderte. Der Konflikt zwischen Rousseau und Voltaire mag durchaus von diesen verschiedenen Auffassungen her, in denen sich die Spannung von Aufklärung und Rokoko spiegelt, gelesen werden. Dazu passt der Hinweis Marcus Felsners auf Mozart, der zwar den Tod Voltaires seinem Vater gegenüber mit üblen Worten kommentierte, ihm aber geistig näher stand als Rousseau. Anders gesagt: Mozart war ein Künstler der Aufklärung mehr als einer des Rokoko. Auch der Mozart-Biograph Alfred Einstein sah das so: »Mozart ist niemals nur lieblich und niemals niedlich; er ist kein Watteau und noch weniger ein Greuze oder Boucher.« Es wird kaum verwundern, dass Rousseau die übliche Formel von der Kulturwerdung der Natur umdrehte. Kultur war für ihn ein Menschenwerk, das die in der Natur angelegte Harmonie nur stört, der Natur ins Handwerk pfuscht. Die Kunst als die Spitze der von ihm kritisierten Kultur kam besonders schlecht weg. Ausgelöst durch einen Encyclopédie-Artikel d’Alemberts, der das Fehlen eines Schauspielhauses in Genf bedauerte, zog ein aufgebrachter Rousseau geradezu mit einer Anti-Ästhetik gegen ihn und Diderot vom Leder. Kunst habe keinerlei moralischen Wert, Schauspiel sei – und er machte diese Schelte gerne an Molière fest – ganz im Gegen-

Hegel 1821, 400

Rousseau 1762, 9

V.7.2.2.1.

Felsner 2010, 70–82 Einstein 2006, 111f

204

Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution

Recki Birgit in ÄKPh, 675

teil Ausdruck von Luxus, Vergnügen und Verweichlichung. »Wohl nirgends wird so deutlich wie in diesem Text, daß neben der sentimentalen Naturorientierung auch der calvinistische Purismus zum Syndrom des Rousseauismus gehört.«

7.2. Johann Gottfried Herder

Seubert 2015, 199

Scholtz 1990, 16f

Lotter Konrad in ÄKPh, 392

Der 1744 im ostpreußischen Mohrungen geborene Domprediger Johann Gottfried Herder studierte bei Kant in Königsberg und war mit Goethe gut bekannt (bevor es zwischen beiden nach 1795 zum Bruch kam). Herder teilte Winckelmanns Begeisterung für die Antike und würdigte dessen ästhetische Methode der Ableitung des Geistigen aus dem Sinnlichen. Dieses war Herder wichtig und mit diesem Sinnlichen wandte er sich von einer reinen Verstandes- und Geistphilosophie ab. Auch die Ästhetik dürfe keine Wissenschaft vom Schönen sein, sondern Teil der Anthropologie im Sinne eines leibgebundenen Philosophierens. »Wahrheit könne gar nicht anders denn leibhaftig, Schönheit nicht anders denn als Schönheit in der Erscheinung verstanden werden.« Das Schöne lasse sich greifen und in die Form könne man sich einfühlen. Herder wurde eine der wichtigsten Schnittstellen der Trennung der jahrhundertlangen Verbindung von Kunst mit Wissen und Regel. »Herder konzentriert sich nicht mehr auf die Kunst als Fertigkeit und Habitus des Künstlers, sondern auf die ›Gegenstände‹, auf die ›Werke‹.« Durch diese Distanz wird die Kunstphilosophie »zur denkenden Betrachtung von Gattungen und Werken, […].« Aus solchem Geist übte Herder Kritik an Winckelmanns seiner Meinung nach ungeschichtlicher Verabsolutierung der griechischen Kunst. Durch die Destruktion dieses Maßstabs verlor Winckelmanns kunstphilosophische Theorie ihr normatives Gewicht zugunsten einer geschichtlichen Relativierung. In Herders Kommentaren zu den Dramen Shakespeares trieb er das stets gebrauchte Argument, dass Shakespeare der Poetik des Aristoteles folge, in eine ganz andere Richtung. »Nicht die Antike, sondern das ›Leben‹, das nationale Leben, das Leben des Volks, wird bei Herder zum letzten Bezugspunkt der Kunst.« Herder formulierte mit diesem Gedanken des Nationalen und Historischen eine ungewöhnliche Deutung, die die Romantik bereitwillig aufsog. Shakespeare (ähnlich wie Homer oder Dante) sei kein Klassiker gewesen, sondern Volksdichter, Vorläufer der Nationalliteratur. Nur solche Poesie sei Naturpoesie und unterscheide sich von einer an einem ungeschichtlichen Regelkanon orientierten Kunstpoesie. Herder wurde zu einem ersten Erforscher der Nationalliteraturen, während er die für die Klassizisten wichtige Einheit der Literatur vernachlässigte. Mit solchem Blick auf das Nationale begrüßte er die Einigung Deutschlands als Voraussetzung für eine deutsche Nationalliteratur. Zwischen 1768 und 1770 verfasste Herder eine wichtige Schrift zur Bildhauerei: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum (1778). Im Gefolge der Publikation des von Diderot hoch gelobten Pariser Bildhauers Étienne-Maurice Falconet, Réflexions sur la sculpture (1768), und in Fortsetzung seiner eigenen, 1769 im vierten der Kritischen Wäldchen verfassten kunsttheoretischen Gedanken, war seine Absicht, eine Theorie der Bildhauerei zu

205

Die Aufklärung

entwickeln, die sich nicht von jener der Malerei ableitete. Solches sei bisher aus Überbewertung des Sehsinnes immer üblich gewesen. Malerei gehöre dem (jüngeren) Augensinn, die Bildhauerei dem (älteren) Tastsinn an. Die Stärke der skulpturalen Kunst sei der Raum und sie operiere mit den alten Sinnen, dem Fühlen und Tasten. Damit sei eine Skulptur wesentlich komplexer als ein Bild. Wie Pygmalion müsse der Bildhauer die Skulptur aus dem ursprünglichen Material herausfühlen. Damit könne sie weitgehend auf illusionistische Mittel wie etwa die Farbe verzichten. Wie Winckelmann sprach sich auch Herder für die Reinheit des weißen Marmors aus. Denn die Farbe öffne sich nicht dem Tastsinn. Der weitgehende Verzicht auf Illusion macht es dem Bildhauer unmöglich, das Dynamische und vergängliche Erscheinungen wie Feuer, Blitz, Wasser darzustellen. Sowohl die Bedachtnahme auf die Eigenständigkeit jeder Kunst als auch das Verdikt gegenüber dem Illusionismus ist als Kritik an den Barockkünstlern zu lesen, die Dynamisches darstellten, die Skulptur entmaterialisierten und in den Illusionsraum einbauten. Auch Falconet hatte die Verlebendigung im bildhauerischen Werk zu seinem Thema gemacht, und das sei ihm, wie Diderot in seinen Kritiken attestierte, meisterhaft gelungen. 530 Villa d’Este, Deckenfresko (um 1570); Tivoli

VIII ­Aufklärung und ­Moderne – das lange 19. ­Jahrhundert

208

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

◀ 531 William Turner, Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway (1844); NGL

Beyer 2006a

Hofmann 1995a

In den eigenwilligen und unterschiedlichen Charakterisierungen, die das 19. Jh. erfuhr, spürt man die Verunsicherung eines Urteils über eine der Gegenwart noch allzu nahe stehende »Epoche«. Das Reden von einer Epoche ist gewagt, handelt es sich doch im Unterschied zu allen bisherigen Epochen um nur ein einziges Jahrhundert, ohne jede stilistische Einheitlichkeit. Die Geschichtsschreibung hat für dieses Jahrhundert noch keine allgemein anerkannte Nomenklatur gefunden. Mit Eric Hobsbawm teilen die meisten Historiker die Einschätzung, dass es sich um ein »langes Jahrhundert« handelt. Das 19. Jh. ist jedenfalls das Jahrhundert der Entstehung der modernen Welt. Die Voraussetzungen dafür reichen in das 18. Jh., namentlich in die Aufklärung, zurück. Die Moderne hingegen trat vor dem Ersten Weltkrieg zwar in der Kunst, aber noch kaum in der philosophischen Reflexion auf. Insofern mögen uns für diesen Abschnitt als grobe Markierungspunkte die Französische Revolution auf der einen und das Ende des Ersten Weltkriegs auf der anderen Seite dienen. Mit diesen in der Historiographie durchaus üblichen Begrenzungen innerhalb von »zwei Enden einer Epoche« kann das 19. Jh. in der Tat als ein langes Jahrhundert bezeichnet werden. Mit Blick auf die Kunst begann nach Werner Hofmann die Zeit zwischen spätem 18. und frühem 19. Jh. als »entzweites Jahrhundert«, das sich nicht auf ein Erscheinungsbild der Künste bringen lässt. Gemeint ist einerseits die seltsame Dialektik von Klassik und Romantik und andererseits die Auflösung eines einheitlichen Stils, sodass das 19. Jh. erstmals keine eigenständige Kunstepoche mehr umfasste. Die Kunsttheorie des 19. Jh.s hatte lange den Geruch eines undurchschaubaren und verworrenen Allerleis. Auf Grundlage dieser Einschätzung konnte manche Polemik wie Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte eine gewisse Plausibilität beanspruchen. Erst seit kurzem ist eine Neusichtung und Strukturierung dieser Frage in Gang gekommen.

1.0. Kontexte

Osterhammel 2009, 20

Unter kulturgeschichtlichem Vorzeichen geschah im Europa des 19. Jh.s die endgültige Umsetzung der im 18. Jh. erfolgten Abnabelung vom bislang stets speisenden Orient. Die Achse Orient-Europa, so scheint es, sprengte sich an ihrem eigenen Erfolg. Europa versorgte von nun an seinerseits den Globus mit Ideen, politischen Modellen und Technologien und wurde von manchen Weltgegenden durch noch effizienteren Gebrauch seiner eigenen Instrumente überholt. In diesem Sinn war kein anderes Jahrhundert als das 19. ein so ausgeprägt europäisches Jahrhundert. Dies eben deshalb, »weil die Anderen Maß an Europa nahmen.« Aber zugleich war es das letzte europäische Jahrhundert der Weltgeschichte. »Doch das Jahr 1917 markiert mit dem weltpolitischen Debüt der beiden globalen Flügelmächte in dramatischer Koinzidenz das Ende der weltpolitischen Dominanz Europas, die mit der kolonialen Expansion des ausgehenden 15. Jahrhunderts begonnen und im weltumspannenden

209

Kontexte

Imperialismus der europäischen Mächte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt gesehen hatte.« Die vom 5. Präsidenten der Vereinigten Staaten James Monroe 1823 aufgestellte Doktrin einer endgültigen Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von der Alten Welt samt einer gegenseitigen Nicht-Einmischung beendete weitgehend die europäischen Interessen jenseits des Großen Teiches und begründete den amerikanischen Führungsanspruch im Westen. Europa und Russland waren empört, hielten sich aber öffentlich zurück. Die Abnabelung vom Mutterland war vollzogen. Franz J. Bauer versammelt all die Früchte, die seit der Renaissance reiften und nun zur Ernte standen und die Kennzeichen des 19. Jh.s bilden, in einem einzigen dichten Satz: »Man kann es als das Zeitalter des Liberalismus und der Verfassungsbestrebungen bezeichnen, der Ausbildung des bürgerlichen Rechtsstaats und der Parlamentarisierung, der nationalen Bewegungen und Bestrebungen, des nationalstaatlichen Chauvinismus, des Imperialismus; es ist, mehr vielleicht als alles andere, das Zeitalter des Kapitalismus, des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, des Aufstiegs der Industrie und des strukturellen Wandels, der Urbanisierung und des Aufkommens der Großstadt […] es ist das Zeitalter der freien Bewegung des Kapitals und zugleich seiner Konzentration unter den Bedingungen einer immer schärfer werdenden Konkurrenz auf nationalen und internationalen Märkten […] es ist eine Zeit dramatischer Beschleunigung von Transport und Verkehr sowie von Nachrichtenübermittlung durch Eisenbahn und Dampfschiff und Telegraphie, wie überhaupt der Intensivierung aller Formen von Kommunikation, der Massenmobilität in Binnenwanderung und Auswanderung.« Dieser Auflistung in einem dem langen Jahrhundert angemessenen langen Satz ist kaum etwas hinzuzufügen. Es bleibt nur noch, Teile davon ein wenig zu entfalten, ihre philosophische Bedeutung zu vertiefen und die angebotene Liste mit den Entwicklungen in Kunst und Architektur – Thema dieses Buches – zu ergänzen. Immer dann, wenn man sich schwer tut, eine Zeitepoche klar abzugrenzen, flüchtet man gerne in Transitionsmetaphorik und nennt eine Epoche eine Periode des Übergangs. Im Fall des 19. Jh.s verdoppelt man das Transitorische sogar, wenn man durchaus zutreffend die das Jahrhundert kennzeichnende Konstante in der »Dynamik der historischen Veränderungsprozesse« festmacht. In diesem 19. Jh. organisierte sich die moderne Welt und stellte sich Europa auf sich selbst. Dass dieses Projekt offen und verletzlich war und Rückschläge im 20. Jh. einstecken musste, ließe sich ebenfalls aus diesen Veränderungen des 19. Jh.s, namentlich dem sich bildenden Nationalismus, verstehen.

1.1. Die Französische Revolution und der Aufstieg Napoleons Der politische und kulturelle Stellenwert der Französischen Revolution 1789 und der revolutionären Umbrüche in der Mitte des 19. Jh.s ist kaum zu überschätzen, auch wenn die große Revolution selbst als großes Minenfeld der Aufklärungsgeschichte nur mit großer Mühe in einen geschichtswissenschaftlichen Griff zu bringen ist. Fest zu stehen scheint jedoch, dass die Französische Revolution ein paradigmatisches

Bauer 2004, 14

Ebd., 16f

Bauer 2004, 31

210

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Französische Revolution

Winkler 2009, 319

Muster für den Verlauf von Revolutionen vorgab. In Paris erklärte sich 1789 das Volk, der dritte Stand, gegenüber einer zaudernden Regierung als volonté général, ja als »vollständige Nation« (Abbé Sieyès). Der Absolutismus von Gottes Gnaden war zu Ende – dokumentiert durch das starke und von den Zeitgenossen (bis ins ferne Königsberg des Immanuel Kant, der nach Eintreffen der Nachricht seinen Nachmittagsspaziergang verschob, um damit die Weltbedeutung des Ereignisses zu würdigen) als epochal gewertetes Symbol des Sturmes auf die Bastille in Paris am 14. Juli, dem heutigen Nationalfeiertag Frankreichs. Dass diese spontane »Eroberung« eines alten, mit einem halben Dutzend Gefangenen (darunter vielleicht auch der Maquis de Sade) und ein paar Wächtern besetzten Festungsgefängnisses durch eine Handvoll bewaffneter Aufständischer zum Symbol der Revolution wurde und die neue Macht des Volkes, das sich von den durch Kirche und Adel dominierten Strukturen befreite, vor Augen führte, gehört zur bisweilen kuriosen Logik solcher Ereignisse. Solches erklärt sich allein auf der Ebene der Symbolik. Ebenso bemerkenswert ist, dass einer der letzten großen Aufklärer, Baron d’Holbach, im Januar desselben Jahres gestorben war. Er ersparte sich damit die abstoßenden Wirren der Revolution, derweil die Ideen, die unter anderem in Holbachs berühmtem Salon in Paris gereift waren, jetzt in die politische Praxis umgesetzt wurden. In einer denkwürdigen Sitzung der Nationalversammlung am 4. August wurde nicht nur die Erklärung der Menschenrechte (nach amerikanischem Vorbild) der neuen Verfassung vorgestellt (die offizielle Proklamation erfolgte am 26. August), es kam zu einem kollektiven Verzicht auf alle Privilegien zugunsten der neu empfundenen französischen Nation. In der Tat sprach die Déclaration nicht von der Souveränität des Volkes, sondern von jener der Nation. »Die Nation und die Individuen standen sich also, ganz anders als im angelsächsischen politischen Denken und in den nordamerikanischen Verfassungen, unmittelbar und unvermittelt gegenüber.« Die Sitzordnung in dieser Versammlung sah die Monarchisten rechts und die Revolutionäre links. Seit damals operieren praktisch alle demokratischen Parlamente mit den politischen Zuordnungen von rechts für konservativ und links für progressiv. Ein Sturm des Patriotismus hatte die Versammlung quer durch alle Stände erfasst. Der zögernde Ludwig XVI. verweigerte sich den Zeichen der Zeit und blieb eine Stimme des Ancien régime. Er wurde 1792 abgesetzt und ein Jahr später zum Entsetzen der aufgeklärten europäischen Intelligenz guillotiniert. Die beiden Seiten, Königtum und Revolution, standen sich unversöhnlich gegenüber. Es gehört zur Logik von Revolutionen, dass realpolitische Stimmen (wie jene Graf Mirabeaus, der eine konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild anstrebte) kein Gehör finden und einem Maximalismus utopischer Ideale gefrönt wird. Revolutionäre Umbrüche bieten zwar die historische Chance, die Dynamik steuernd zu nutzen, aber das gelingt allenfalls wenigen herausragenden Persönlichkeiten. Meist werden solche Chancen verspielt – nicht selten mit katastrophalen Folgen. Noch schwieriger abzuschätzen sind die Fernwirkungen solcher abrupter Umbrüche. Man kann allenfalls hinterher versuchen, eine solche Wirkung zu beschreiben: »Die Prinzipien von 1789 haben ungeahnte Kräfte freigesetzt und wandelten die Ge-

211

Kontexte

sellschaft in höchst wirksamer Weise; ohne diese Befreiung wären die ungeheuren technischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts meist unmöglich gewesen. Aber sie gefährdeten auch das Individuum, indem sie es dem Druck des Staates isoliert überließen. Eben dieses war eine der Voraussetzungen für die spätere terroristische Phase der Revolution, in der die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit zugunsten der Gleichheit aufgehoben wurde.« Die Revolution hatte unmittelbare Folgen für Kunst und Kultur. Der die Revolutionen begleitende Bildersturm war nicht nur eine Üblichkeit, welche mit revolutionären Umbrüchen meist einhergeht. Er hatte in diesem Fall sehr spezifische Ursachen. Die krasse Geldnot der Regierung führte zu Maßnahmen wie Enteignung und Verkauf von Kirchengütern. Die Abschaffung aller Privilegien wurde gegenüber der Kirche rigoros ausgelegt und diese wurde der staatlichen Verwaltung untergeordnet. Die wütende Reaktion von Papst Pius VI., der 1791 Revolution und Menschenrechtserklärung verdammte, folgte auf dem Fuße. Die Vorgänge zeigen, wie weit man auf politischem Terrain jenen Stand erreicht hatte, den Hegel mit dem ihm zugeschriebenen Diktum vom »Ende der Kunst« ausdrückte, also die Befreiung der Kunst aus einer metaphysischen Legitimation. Sakrale Kunst und Architektur brachten niemanden mehr dazu, »das Knie zu beugen«, sie wurden schlicht als Anlageobjekt bewertet. Der Bildersturm setzte auf der anderen Seite aber auch Impulse in Kunst und Kultur, die für die Moderne eine stimulierende Wirkung hatten. Die neue, utopische Architektur, die sogenannte Revolutionsarchitektur, ist davon nur einer und nicht einmal der bedeutendste Aspekt. Der Ausdruck ist unglücklich, denn die Ideen zu dieser Architektur sind vor der Revolution entstanden. Sie stammten nicht von Revolutionären. Der Begriff kam vielleicht auf, weil Formen der Architektur ins Extreme gesteigert wurden. 1792 mündete die wirre Lage in die Kriegserklärung gegen Österreich als Repräsentanten eines – wieder einmal – alten Europa. Dieser Erste Koalitionskrieg verklärte sich für viele im Klang der vom Oberpfälzer Claude Joseph Rouget de Lisle in der Nacht auf den 26. April 1792 komponierten Melodie des Chant de guerre pour l’armée du Rhin (Marseillaise) zu einer universellen revolutionären Befreiungsvision der Menschheit. Am 20. September 1792 gab sich Preußen, das mit Österreich verbündet war, in Valmy und im November Österreich bei Jemappes geschlagen. Der Sieg wurde als einer der Aufklärung und Revolution in Europa und damit als ein konstruktiver gegenüber der bloß anarchischen Revolution verstanden. Derweil begann in Frankreich (bis 1794) die »Schreckensherrschaft« unter Maximilien Robespierre. Der blutige jakobinische (der Ausdruck leitet sich von einem Kreis von Abgeordneten des dritten Standes ab, die sich im Refektorium des Klosters Sankt Jakob trafen) Terror (la Grande Terreur) ab 1793 legitimierte sich vordergründig dadurch, die Restauration endgültig auszumerzen. »Der Terror verselbständigte sich; er war nicht mehr nur ein Mittel zu dem begrenzten Zweck, ein Scheitern der Revolution zu verhindern, sondern wurde zum Selbstzweck.« Radikalismus, ideologische Verblendung und Anarchie richteten sich auch gegen die Kirche, ihren liturgischen und materiellen Körper. Öffentliche Zur-Schau-Stellung konfessioneller Zugehörigkeit

Nürnberger Richard in PWG VIII, 74 Bildersturm

5.3.2.3.

3.2.3.f.

Winkler 2009, 356

212

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Napoleon ­Bonaparte

Hobsbawm 1983, 135

wurde ebenso verboten wie Prozessionen. Zahlreiche sakrale Bauwerke wurden zerstört. Nur die hohen Kosten verhinderten einen Abbruch der Kathedrale von Chartres. Die Königsgräber in St. Denis fielen jedoch der Zerstörung anheim. Auch die Einführung eines neuen Kalenders, der den christlichen Sonntag nicht mehr kannte, sollte den Sonderweg Frankreichs gegenüber aller Welt demonstrieren. Am 10. November 1793 feierte Paris das Fest der Vernunft mit einer Schauspielerin, welche die Göttin der Vernunft mimte. Der Deist Robespierre wollte allerdings auch keinen atheistischen Staat und ließ 1794 ein Fest für das Höchste Wesen abhalten, bei dem der klassizistische Maler Jacques-Louis David, der Propagandabilder für die Revolution gemalt hatte, die Gestaltung übernahm. 1793 wurden Ludwig XVI. und seine Gemahlin Marie Antoinette hingerichtet, was in Europa Entrüstung auslöste und für England Anlass war, in einer europäischen Koalition mit einer Seeblockade in den Krieg gegen Frankreich einzutreten. Die Revolution wandte sich schließlich – auch dies eine Konstante von Revolutionen – gegen ihre eigenen Vollstrecker. Robespierre und seine Handlanger wurden am 28. Juli 1794 hingerichtet. Das Volk versuchte, die verratene Revolution zu retten, allein Stabilität war nicht zu gewinnen. Das förderte die Sehnsucht nach Restauration. Nur mehr wenige Anhänger der Revolution blieben in Europa übrig. Unter denen, die angesichts des Terrors die Ideale nicht aufgeben wollten, waren Kant und Hegel. Auf dem Kriegsschauplatz Europa begann nach dem Ausscheiden Preußens aus der Koalition der kometenhafte Aufstieg eines Generals, Napoleon Bonaparte, der das französische Heer von einem Sieg zum nächsten führte. Um England unter Druck zu setzen, betrat Napoleon am 1. Juli 1798 Ägypten – damals ein Teil des Osmanischen Reichs. Weil er sich für eine direkte Konfrontation zur See nicht stark genug fühlte, bemühte er sich um eine Kontrolle des Landwegs nach Indien. Der Feldzug erlangte auch eine kunsthistorische Bedeutung. Militärisch endete das Abenteuer für Frankreich nach einer Niederlage der französischen Flotte bei Abukir verheerend. Napoleon selbst nahm daran keinen Schaden, obwohl er seine Armee in Ägypten in Stich gelassen hatte. Sein Ruf war so intakt, dass er sich im Staatsstreich am 9. November 1799 (der berühmte 18. Brumaire VIII) als Erster Konsul installierte – durch ein Plebiszit legitimiert und später durch weitere Volksabstimmungen mit überwältigenden Mehrheiten bestätigt. »Er kam zur Macht, teils weil sie ihm gegeben, teils weil er sie ergriff […].« Napoleon war zeitlebens überzeugt, der Revolution zu ihrem Recht verholfen zu haben und in den ersten Jahren könnte man diese Meinung noch bestätigt sehen. Epochal waren die Rechtsbestände, die er setzte (darunter der berühmte Code civil von 1804) mit denen er einer aufgeklärten Bürgergesellschaft einen Rahmen gab, was für Europa Vorbildcharakter hatte. Der Kampf um die Revolution tobte nicht nur in der realen Geschichte, sondern auch in den Rezeptionsdiskursen der Intellektuellen. Selbst das Ringen zwischen der konservativen Akademieästhetik und den neuen Aufbrüchen, das das gesamte Jahrhundert durchzog, wurde von der Einstellung zur Revolution überformt. Dabei spielte Edmund Burkes Konzept des Erhabenen – vermutlich ohne dass er dies realisierte

213

Kontexte

– den Fortschrittlichen in die Hände. Anders sah seine politische Kommentierung der Revolution aus. Bei den Intellektuellen war die Einschätzung der Revolution sehr unterschiedlich. Sie kannte Schuldzuweisungen mit verschwörungstheoretischen Aspekten gerne an Freimaurer und Juden, welche angeblich für Angriffe auf Kirche und Aristokratie den Mob auf der Straße mobilisierten. Diese von Burke in seinen Reflections on the Revolution in France (1790) vorgetragene Meinung floss in das Standardrepertoire aller Revolutionsgegner ein. Dem widersetzten sich national und republikanisch gesinnte, die Revolution glorifizierende Historiker. Jules Michelet sah in der Revolution einen überfälligen Aufstand des Volkes gegen Despotismus und Unterdrückung durch das Ancien Régime, gespeist aus Armut und empfundener Ungerechtigkeit und getrieben von Kleinbauern, die kaum genug zum Überleben hatten und durch Missernten in den späten Achtzigerjahren vor dem Nichts standen. Alexis de Tocqueville erweiterte den Gesichtswinkel und trug zu subtileren Reflexionen bei. Weder Unterdrückung noch Armut hätten im Frankreich dieser Zeit so unerträgliche Ausmaße angenommen, dass sich davon geradezu kausal eine Revolution ableiten ließe. Tocqueville, für den sich Geschichte grundsätzlich in den Chef­ etagen abspielt, machte das revolutionäre Potential vielmehr beim Bildungsbürgertum fest. Es habe mit Kenntnissen der philosophischen Ideen der Aufklärung sich aus der geistigen Vormundschaft der Religion gelöst und die Fähigkeit gewonnen, utopische Gehalte zu erkennen und zu artikulieren. Ressentiment und die Beschneidung des aufstrebenden Bürgertums, sowie eine Situation, in der die französische Bourgeoisie »von der Regierung ebenso wie von der Aristokratie in entwürdigender und erniedrigender Weise behandelt wurde«, führte demnach zur Explosion. Tocquevilles Überlegungen waren eine frühe Reflexion über die Errungenschaften der Moderne. Er warnte vor den Bedrohungen der Freiheit durch Individualismus, Zentralstaat und Bürokratie. Man musste dieses historische Ereignis also nicht auf die Wut armer und durch Missernten geschädigter Kleinbauern zurückführen. Vielmehr konnte man auch »die philosophes für die Revolution verantwortlich« machen. Damit ließ sich die Revolution in einer dem 19. Jh. angemessenen und philosophisch reflektierten Weise retten und in den Grundbestand der Aufklärung einbetten. Immerhin kam der Französischen Revolution das Verdienst zu, nichts weniger als die reale Umsetzung von abstrakten philosophischen Begriffen wie »Bürger«, »Nation«, »Gesellschaftsvertrag«, »liberal«, »Menschenrechte« gewesen zu sein. Die Französische Revolution avanciert so zu einem konzentrierten Erbe der Aufklärung und zum unumgänglichen Eingangstor in die Moderne. Schließlich war die Revolution von 1789 ein Impuls für die revolutionären Bewegungen in ganz Europa. Sie war aber auch in dieser Hinsicht eine Warnung, dass sie ihre eigenen Kinder fraß. Das »unaufhörliche Geräusch der fallenden Guillotine erinnerte die Politiker daran, daß niemand sicher war.« Die Umsetzung wurde nicht von einer Demokratie erwartet, sondern von einer an die Nation gebundenen Staatsform, die, wie auch immer organisiert, den Willen des Volkes ausdrückte.

VII.5.2.4.

Rudé 1983, 447

Hobsbawm 1983, 107

Ebd., 130

214

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

1.2. Die Befreiung von Napoleon und die Revolutionen von 1848

Leonhard 2006 Hobsbawm 1983, 134

532 Blick auf den Louvre; Paris

Besinnung auf eine Nation

V.5.1.

Die napoleonischen Kriege durchzogen am Beginn des Jahrhunderts ganz Europa. Historiker sehen in Napoleons Eroberungsambition, die sogar im Land selbst mit Hinweis auf die Gefahr einer Überdehnung des Kaiserreichs Frankreich argwöhnisch kommentiert wurde, eine nahezu schon kausale Notwendigkeit, um das Reich stabil zu halten. »Diese Armee eroberte Europa in kurzen, heftigen Vorstößen nicht nur, weil sie es konnte, sondern weil sie dazu gezwungen war.« 1804 hatte sich Napoleon zur Demonstration seiner errungenen Macht gegenüber dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs zum Kaiser der Franzosen gekrönt. Mit der kurzen Begeisterung über die neue Lichtgestalt, die in ganz Europa aufflammte, erlebte Paris einen glänzenden Höhepunkt des Ansehens. Napoleon inszenierte sich als neuer Karl der Große und besuchte im Krönungsjahr Aachen. Seine kulturellen Raubzüge in und außerhalb Europas (praktisch alle großen Museen Italiens wurden von der napoleonischen Armee geplündert) brachten die größte und qualitätsvollste Sammlung von Kunstschätzen in die Hauptstadt. Die Objekte wurden in dem bereits 1793 noch von der Revolutionsregierung in der mittelalterlichen Zwingburg an der Seine gegründeten Louvre-Museum zur Schau gestellt. Seit dem Umzug von Louis XIV. nach Versailles konnte der Louvre zu einem Komplex umgewidmet werden, der die Akademie und Künstlerateliers enthielt und dann sukzessive zu einem Museum ausgebaut wurde. Ab 1861 (mit der Erweiterung zum Grand Louvre durch Napoleon III.) hieß dieses größte Museum der Welt cité impériale (Kaiserstadt). Goethe mahnte in einer programmatischen Einleitung zur 1798 gegründeten Schriftenreihe Propyläen zur Eile bei der Sichtung und Beschreibung der Kunstschätze Italiens, denn Napoleon würde durch seinen Kunstraub den Kunstkörper des Landes zerstören. Es war Napoleons Absicht, in Paris das Gedächtnis Europas zu installieren. Auch für das Nationalarchiv wurden Schriftstücke aus Italien und Deutschland in die französische Hauptstadt gebracht. Das neue Kaiserreich brachte erstmals eine Besinnung auf eine Nation. Siege und Niederlagen waren solche der Nation und nicht mehr solche des Herrschers und seines Hauses. Allerdings war der Nationenbegriff noch unklar. Es ging nicht um eine gemeinsame Sprache oder um ein identifizierbares Volk, sondern Franzose war zunächst jeder, der sich zu den Idealen der Französischen Revolution bekannte. Das konnten durchaus auch Deutsche sein, von denen viele im Heer Napoleons dienten. Auch andernorts trat das nationale Denken in den Vordergrund. In Wien war Franz II. durch den Coup Napoleons als römisch-deutscher Kaiser unter Druck geraten. Am 6. August 1806 legte er – äußerlich veranlasst durch die Gründung des Rheinbundes (mit dem Bundestag in Frankfurt) und dem Austritt der Fürsten aus dem Reich – die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reichs, das seit 962 (Kaiserkrönung Ottos des Großen) bestanden hatte, nieder. Bereits 1804 nahm er in unmittelbarer Antwort auf Napoleon als Franz I. den Titel eines Kaisers von Österreich

215

Kontexte

an. Es war auch insofern ein folgerichtiger Schritt, als den Habsburgern ihre Hausmachtpolitik längst wichtiger geworden war als die Identität mit dem Reich und nur wenige trauerten dem traditionsreichen Gebilde nach. Wenn man wie viele Historiker dieses Datum als Zeitenwende sehen will, dann im Hinblick auf die Schärfung des nationalstaatlichen Profils. Der Krieg gegen Napoleon vereinte viele Intellektuelle der Zeit in der Propaganda gegen den Franzosen: Schlegel, Schleiermacher, Fichte. Der Sieg über Napoleon gelang endgültig im Oktober 1813 in der mehrere Tage dauernden Völkerschlacht bei Leipzig, der bislang größten Schlacht der Weltgeschichte. Dabei musste Napoleon mit ansehen, wie verbündete Deutsche sich weigerten, auf »Landsleute« zu schießen, und sich mitten im Kampf gegen die Franzosen stellten. Ein erstes Fanal eines neuen nationalen Denkens. Am 6. April 1814 dankte Napoleon in Fontainebleau ab. Seine hunderttägige Draufgabe nach der Flucht von Elba nach Paris 1815, die im belgischen Waterloo endgültig beendet wurde, brachte für Frankreich nur eine Verschlechterung seiner Lage in der Regelung der Nachkriegsordnung. Als er nach St. Helena im Südatlantik gebracht wurde, endete das Handeln einer der wirkmächtigsten Gestalten der Weltgeschichte, »ein Produkt der Revolution und ein Unterdrücker der Freiheit, die sie verheißen hatte.« Ab dem Herbst 1814 suchte man auf dem Wiener Kongress nach einer nachnapoleonischen Friedensordnung. Im heutigen Jargon könnte man von der Kerngruppe der G5 sprechen. In Europa hatte sich seit dem 18. Jh. eine Pentarchie aus England, Preußen, Österreich, Russland und – dank des Geschicks von Charles de Talleyrand, der der bourbonischen Restauration als Außenminister diente – auch Frankreich herausgebildet. Keine wichtige Rolle mehr spielte seit dem Frieden von Karlowitz 1699 das Osmanische Reich. Der Nationalismus war freilich nicht gleich in eine Nationenordnung umzusetzen. Zur Enttäuschung mancher (unter ihnen der Herr von Stein) war das Ergebnis des großen europäischen Kongresses für Deutschland kein deutscher Staat, sondern der Deutsche Bund mit drei Dutzend Fürsten. War das Reich an den Nationalstaaten zerbrochen, so misslang die Nationalstaatsbildung zunächst an der föderalen Kleinstaaterei. Auch wenn die Geschichtsschreibung mit diesem Ereignis gerne die Restauration beginnen lässt und »flüchtige Fürsten« zurückkehrten, die begannen, »das Werk der Napoleonischen Modernisierung in Handel und Wandel wieder zu zerstören«, war es nicht einfach eine Wiederherstellung der alten Ordnung. Golo Mann nannte das Werk des Wiener Kongresses »nicht unweise«. Aber, so fügte er hinzu, es hörte »im Laufe der Zeit, in vielen Gegenden mit überraschender Schnelligkeit, auf, passend zu sein.« Die nationale Perspektive – erstmals stellte sich auf einem Friedenskongress die Frage der Staatsbürgerschaft – verschob die Gewichte gegenüber der vornapoleonischen Ordnung deutlich. Die Bildung der Nationalstaaten in Europa war mittelfristig nicht mehr aufzuhalten. Daher konnte sich auch unmittelbar nach dem Kongress ein Protestpotential sammeln, das sich in der Mitte des Jahrhunderts in Revolutionen entlud. Nationale Emotionen gingen nun hoch. 1814 kehrte die von Napoleon 1806 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt nach Paris entführte Quad-

Winkler 2009, 430 Wiener Kongress

Nürnberger Richard in PWG VIII, 178 Mann Golo in PWG VIII, 390 Revolutionen von 1848

216

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

533 / 534 Arc de Triomphe du Carrousel mit der Kopie der Quadriga des Markusdomes samt Siegesgöttinnen (1807); Paris

Le Normand-Romain Antoinette in SK IV, 23

Mann Golo in PWG VIII, 439

Winkler 2009, 672 Mann Golo in PWG VIII, 482

riga Schadows mit großem Pomp nach Berlin zurück. Sie sollte eigentlich auf dem im Andenken an den Sieg von Austerlitz gebauten (dem Severus- und Konstantinsbogen nachempfundenen) Arc de Triomphe du Carrousel stehen. Aber dort zog man die erbeuteten Pferde vom Markusdom in Venedig (auch sie wurden 1815 zurückgegeben und vor den Augen des österreichischen Kaisers Franz I. wieder aufgestellt) vor, die Quadriga blieb in den Kisten verpackt. Sie erhielt nun auf ihrem Platz am Brandenburger Tor die preußische Kriegsauszeichnung, das (von Schinkel entworfene) Eiserne Kreuz mit Eichenlaub-Siegeskranz und Preußenadler. Aus der Frieden bringenden Wagenlenkerin wurde eine Siegesgöttin Victoria. Die Skulptur etablierte sich endgültig im öffentlichen Raum, diente der Erinnerung und scheute nicht einen belehrenden Gestus. Eine Fülle von Reiterstandbildern bevölkerten die Plätze. »Die meisten der wiedererrichteten Königsstatuen waren Reiterstandbilder. Diese Häufung hatte zum einen politische Signalwirkung, war aber auch Ausdruck der zeitgenössischen Verbundenheit zur Antike über die Grenzen Frankreichs hinaus […].« In Paris kam es 1830 zur dreitägigen (Les Trois Glorieuses) »Julirevolution«. Karl X., der sich auf die Seite der Ultraroyalisten gestellt hatte, stürzte. Das Ende des ersten Kaiserreichs (1815–1830) und mit ihm jenes der Bourbonen war besiegelt. Die Revolution stärkte quer durch Europa die liberalen Bewegungen. Der Aufstand endete in einer konstitutionellen Monarchie (1830–1848) nach dem Vorbild von England, mit dem letzten Monarchen Frankreichs, dem weltläufigen und republikanisch gesinnten Louis Philippe von Orléans. »Unlogisch das alles, aber bezeichnend für den historischen Moment«, kommentierte Golo Mann. Unter dem nüchternen Louis Philippe prosperierte die wirtschaftliche und technische Entwicklung. Inzwischen hatte sich die Kaiserzeit nostalgisch verklärt. Die Biographien der Zeitzeugen wurden eifrig gelesen. In den Galerien bestaunte man die Schlachtengemälde. 1840 wurde der Sarg Napoleons feierlich von St. Helena in den Invalidendom in Paris überführt. Im Februar 1848, im nächsten revolutionären Wirbel, entmachtete man Louis Philippe, dessen Liberalismus Sprünge erhalten und der sich der vom restaurativen Metternich-Österreich dominierten Heiligen Allianz angeschlossen hatte. Die kurze Republik (1848–1852) begann mit schlimmen Szenen der Verwüstung von Königsschlössern samt ihrem wertvollen Inhalt. Die Barrikaden, auf denen es im Juni zu Arbeiteraufständen (der Juniaufstand markiert die Spaltung zwischen Proletariern und dem liberalen Bürgertum) gekommen war, wurden unter hohem Blutzoll zurückerobert. Dieser Umgang mit der Revolution machte in Europa Schule. Insofern war 1848 tatsächlich der Prototyp einer europäischen Erhebung, zwar »nicht die letzte Revolution in Europa, aber es war die erste und letzte europäische Revolution.« »Wenn es je eine europäische Revolution gab«, meinte auch Golo Mann, »so war es die von 1848; nicht die von 1789 […]«. Zweifellos war die Symbolwirkung

217

Kontexte

der auf Frankreich beschränkten Revolution von 1789 ungleich größer – dies auch in globaler Sicht, denn zum Unterschied von der großen Revolution hatten jene von 1848 »keine neuen universalen Prinzipien formuliert.« Auch Österreich griff mit Hilfe Russlands – Zar Nikolaus wollte, wie er sagte, nicht untätig zusehen, dass Europa von Arbeitern regiert werde – zu brutaler Härte bei der Niederschlagung vor allem des ungarischen Aufstandes 1849. Der österreichische Kaiser Franz Joseph verlangte zuletzt die Auslieferung der in die Türkei Geflohenen, was der Sultan aber verweigerte. Golo Mann bemerkte dazu: »Eine einzige christliche Tat beendete die Revolution von 1848; sie kam von dem Kalifen des Islam.« Die Aufstände von 1848 waren ungleich mehr als andere Revolutionen mit dem Wunsch nach republikanischen Verfassungen verbunden. Der Plural ist hier wichtig, denn es ging um Nationenbildung, um eine Zerstückelung Europas. Es war auch der Bruch des austarierten Systems, das Ende des Rationalismus in der Politik. Der als Sonderling und Lebemann bekannte Neffe des Kaisers, Louis Napoléon Bonaparte, wurde 1848 zum Präsidenten der neu ausgerufenen Zweiten Republik gewählt. Er war das erste vom Volk gewählte Staatsoberhaupt Europas. Er bereitete einen Staatsstreich vor, den er 1851 durchführte, eine Diktatur errichtete und sich 1852 – durch Volksabstimmung scheinbar legitimiert – als Napoleon III. zum Kaiser ausrufen ließ und das 2. Kaiserreich (1852–1870) begründete. Die industrielle Entwicklung erreichte neue Höhepunkte, sie war während des 1. Kaiserreichs und der Zeit der Restauration nur mühsam vorangekommen. Kulturelle Interessen (mit Ausnahme der Archäologie) waren weniger eine Sache dieses zweiten Napoleon als vielmehr versponnene Visionen wie der Traum eines Kanals in Nicaragua und diverse Liebhabereien. 1863 gründete er neben den altehrwürdigen Salons in Paris einen Salon des Refusés (Salon der Zurückgewiesenen). Er diente als Podium der Avantgarde. Das Motiv war freilich weniger ein Interesse an moderner Kunst, sondern das Gegenteil: das Bemühen um Ausgrenzung mit der Akademieästhetik inkompatibler Werke. Denn dass Napoleon viele dieser Bilder als anstößig betrachtete, wurde bald kolportiert. Daher ist unklar, ob Napoleons Entscheidung ein Affront gegen die Akademie und die dortigen Intrigen war oder nicht vielleicht der Versuch, durch Zur-Schau-Stellung von unakzeptabler Kunst die offizielle Jury zu rehabilitieren. Für die Hauptstadt verfolgte er die Ambition der radikalen Erneuerung durch das Projekt seines Baumeisters Baron Haussmann. Die gewaltigen Investitionen stimulierten die Wirtschaft spürbar. Die Bewertung der Verhältnisse zwischen Aufklärung, Nationalismus und Revolution von 1848 sind komplexe Fragen der historischen Wissenschaften. Immerhin wurden die wichtigsten Ideen des neuen Denkens von den Philosophen der Aufklärung vorgedacht. Die Aufklärung war ein kleiner innereuropäischer Globalisierungsschub. Ihre Ideale legten sich über die buntscheckige Landkarte nationaler Entitäten. Im Jahr 1848 erschien auch das Gründungsdokument des 1847 in London zusammen mit Friedrich Engels gebildeten Bundes der Kommunisten, das Kommunistische Manifest von Engels und Marx, das die Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Klassenkämpfe deutete. Neben den neuen Interessensbewegungen

Osterhammel 2009, 781

Mann Golo in PWG VIII, 501

Napoleon III.

2.2.

218

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hobsbawm 1983, 363

wie Gewerkschaften und Genossenschaften bildete sich ein (1789 noch ganz unbekanntes) Klassenbewusstsein erst allmählich aus (working class in England). In den Dreißigerjahren tauchten erstmals die Ausdrücke »Sozialismus« und »Generalstreik« auf. Erst nach 1815 war eine sichtbare Bruchlinie zwischen Arbeitern und dem liberalen Bürgertum entstanden. Die Wirkung des Manifests ließ länger auf sich warten. Die Achtundvierziger-Revolution war weniger eine proletarische als vielmehr eine nationale und auf eine freiheitliche Ordnung ausgerichtete. Als sich am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche die gewählte deutsche Nationalversammlung konstituierte, waren von den 585 Abgeordneten 550 Akademiker, aber kein einziger Arbeiter.

1.3. Die Idee des Nationalismus in der Politik Europas

Leonhard 2006

deutscher ­Nationalismus

Letztlich war es Napoleon selbst, der ein rasches Abklingen der europäischen Napoleonbegeisterung und die Flucht in den Patriotismus förderte. Die Menschen waren enttäuscht, weil sie statt der erhofften Freiheit Despotie, statt Frieden Krieg und statt Gleichheit eine neue Adelshierarchie bekamen. Viele Fragen, die seit 1789 auf dem Tisch lagen, waren zu beantworten: Fragen der Legitimität von Herrschaft nach dem Ende des Ancien Régime und die damit einhergehenden Reformnotwendigkeiten, Fragen nach einer der neuen Zeit und der napoleonischen Bedrohung angemessenen Form des Heeres. In England lautete eine verbreitete Formel: »We must have arms and reform.« Als Rahmen einer Lösung für all dies schien sich damals der Nationalismus anzubieten, als ein Weg zu den jeweiligen Wurzeln, zu einem heimatlichen Ort gegenüber der Orientierungslosigkeit, welche die Machtspiele der europäischen Fürstenhäuser erzeugt hatte. Ambivalent zu seinen universalistischen Motiven hat gerade auch die Romantik diese Tendenz sehr gefördert. Besonders in Heidelberg trug man Sammlungen von Volkssagen und Märchen zur nationalen Identitätsstiftung zusammen. Wie genau das zu verstehen sein sollte, war noch nicht so klar. Was in der Romantik patriotische Verklärung der eigenen Herkunft war, wurde jetzt zu einem aggressiven Nationalismus. »Was ist des Deutschen Vaterland« – fragte der Dichter Ernst Moritz Arndt, der 1813, noch vor der Völkerschlacht in Leipzig, Hasstiraden gegen alles Französische (und nebenbei auch gegen alles Jüdische) schleuderte, verherrlichte als verbindendes Element die gemeinsame Sprache: »Was ist des Deutschen Vaterland? Ist’s Preußenland? Ist’s Schwabenland? Ist’s wo am Rhein die Rebe blüht? Ist’s wo am Belt die Möwe zieht? […] Ist’s Land der Schweizer? Ist’s Tirol? Das Land und Volk gefiel mir wohl. O nein, nein, nein! Sein Vaterland muss größer sein! […] So weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt: Das soll es sein! Das soll es sein! Das, wackrer Deutscher nenne dein!« Arndt und der Turnvater Friedrich Ludwig Jahn waren »zwei Gründerväter des deutschen Nationalismus«. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der neben vie-

219

Kontexte

len bekannten Kinder- und Volkliedern auch antisemitische Gedichte schrieb, pries – Deutschland, Deutschland über alles – mit dem 1841 auf Helgoland geschriebenen Deutschlandlied ein großes Deutschland »von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt […].« Auf dem gegen die Restauration des Deutschen Bundes gerichteten »Allerdeutschenfest« radikaler Liberaler 1832 in der Ruine des Schlosses von Hambach wurden von den 30 000 Anwesenden viele schwarz-rot-goldene Flaggen geschwenkt. Diese Farben waren 1813 vom Freikorps des Majors von Lützow ausgewählt und von den Burschenschaften auf Anregung des Turnvaters Jahn verwandt worden. Franz J. Bauer sieht in solcher national-patriotischen Publizistik zum Unterschied von einem kosmopolitisch und menschheitlich angelegten Volksbegriff des 18. Jh.s wegen der »Konfrontationserfahrung der Deutschen mit dem napoleonischen Frankreich eine zunehmend exklusiv-hermetische, xenophobisch-aggressive und missionarisch-fanatische Tendenz.« Dass bei dieser Sache auch der Deutsche Idealismus, namentlich Fichte, kräftig mitgemischt hat, ist leider wahr. Fichte hatte in seinen frühen Schriften das universelle Ich stark gemacht. In den von 1807 ab gehaltenen Reden an die deutsche Nation wandelte sich dieses Ich zur mit großem Sendungsbewusstsein ausgestatteten deutschen Nation. »Die ›Reden‹ sind das Manifest des deutschen Nationalismus – eines modernen Nationalismus, sofern für diesen die systematische Umdeutung von religiösen Bindungen in nationale Loyalität, also Säkularisierung, typisch ist.« Die Geschichtsschreibung des 19. Jh.s war ganz auf die Nationalstaaten ausgerichtet, sodass die Reichsidee bald in Vergessenheit geriet. Es gab wenige, die das größere Ganze nicht aus dem Blick verloren. Zu ihnen gehörte der Freiherr von Stein, der reformorientierte Berater des preußischen Königs und des Zaren Alexander I. in Sankt Petersburg, der sich um eine gemeinsame Allianz von Russland, Preußen und Österreich gegen Napoleon bemüht hatte. Er tat dies mit Blick auf eine deutsche Nation. Aber er dachte auch europäisch. Der etwas antiquiert wirkende Schöngeist, der der alten Romantik viel näher stand als dem Nationalismus mancher Zeitgenossen, kämpfte für die Befreiung Europas und dessen Gestaltung. Der Patriotismus der neuen Nationalisten speiste noch die Begeisterung, mit der in Deutschland der Erste Weltkrieg anfangs bedacht wurde – sozusagen als deutsche Antwort auf 1789. Allerdings scheiterte der deutsche Nationalstaat vorerst an der Ablehnung der ihm von der Frankfurter Nationalversammlung während der (schließlich niedergeschlagenen) Revolution 1849 angebotenen Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. Erst 1871 gelang nach dem Sieg Preußens über Österreich 1866 bei Königgrätz die Gründung des Deutschen Reichs. Die Rivalität um die Führung Deutschlands (des Deutschen Bundes) zwischen Wien und Berlin war in diesen sieben Kriegswochen beendet. Der deutsche Nationalismus war von nun an preußisch gestimmt. Entsprechend schwer taten sich die katholischen süddeutschen Staaten, damit umzugehen. Der Preußenkönig Friedrich Ludwig Wilhelm von Preußen wurde als Wilhelm I. 1871 zum Deutschen Kaiser proklamiert. Mit Blick auf Italien wünschte man sich

Winkler 2009, 606

Bauer 2004, 66

Winkler 2009, 398

IX.1.2.

220

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Mann Golo in PWG VIII, 561 Österreich

Schnerb 1983, 491 Blom 2009, 74 Wolf Norbert in Kohle 2008, 243 Ebd., 244

Naumann, zit. nach Blom 2009, 317

Italien

die »Einigung des deutschen Vaterlandes« als Identität von Staat und Volk, was in Deutschland wesentlich einfacher zu realisieren war als im Vielvölkerstaat Österreich. »Österreich selber besaß kein tragfähiges deutsches Programm […] Das Lebensprinzip des Habsburger-Reiches stimmte mit dem des Nationalstaates nicht zusammen […].« Das riesige Gebiet Österreich konnte sein buntes Völkergemisch nur zusammenhalten, weil keine der Nationen eine andere zu dominieren vermochte. Trotzdem begannen gegen Ende des Jahrhunderts die Völker ein nationales Selbstbewusstsein zu entwickeln. Gegen einen drohenden Zerfall des Vielvölkerstaates entstand 1867 die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn (bis 1914) mit zwei gleichberechtigten Partnern. In Wien lebte eine »liebenswürdige, gebildete, ja frivole, kultur- und musikbegeisterte Gesellschaft, […]«. In der Tat wurde nirgendwo sonst »das Begräbnis eines Künstlers zu einem Staatsereignis […]«. Die deutsche Reichsgründung schlug »ein neues Kapitel der Denkmalgeschichte auf.« Eine neuerliche Schwemme von Standbildern des Kaisers ergoss sich über das Land, was auch vom Nachfolger, Wilhelm II., dem »Kunsttölpel auf dem Thron«, fortgesetzt wurde. Allein an der Siegesallee in Berlin schufen 27 Künstler zwischen 1895 und 1901 32 Apotheosen des Kaisers. Um 1900 existierten in ganz Deutschland über 1000 Kaiser-Wilhelm- und an die 300 Bismarck-Denkmäler, meist in neobarockem Pathos. Das passte, denn Wilhelm II. war ein rastloser Mensch, der die Schnelligkeit und Abwechslung liebte. Der protestantische Theologe Friedrich Naumann nannte ihn einen »Virtuos des modernen Verkehrszeitalters« und eine »Verkörperung der in uns allen wirksamen elektrischen Tendenzen.« Der über weite Strecken bescheidene künstlerische Anspruch brachte der deutschen Bildhauerkunst der zweiten Jahrhunderthälfte einen eher zweifelhaften Ruf ein. 1918 musste Wilhelm abdanken und machte den Weg frei für die Ausrufung einer Republik. Die folgende, aus linken und rechten Sozialdemokraten gebildete Regierung vermochte nicht, die reaktionären Kräfte, unter ihnen die Armee, die nie eine republikanische wurde, einzuhegen, was schließlich in das Debakel der Dreißigerjahre des 20. Jh.s führte. Man hatte in Deutschland in der Sache Nationenbildung den Blick durchaus auf das Italien des 19. Jh.s gerichtet. Dort war der als eher schlichter Geist geschilderte Genueser Giuseppe Mazzini in den Dreißigerjahren der Visionär der Einigung Italiens. Als eine Besonderheit Italiens galt es, die Frage nach der Identität des Landes zu klären. Italien war seit Jahrhunderten das Land des Papstes. Sollte man nun den säkularen Weg wagen? Was blieb für Italien dabei übrig? 1846 ließ sich der feinsinnige Aristokrat Pius IX. feierlich als letzter Papst-König die Tiara auf das Haupt setzen. Dieses längste Pontifikat der Kirchengeschichte, das bis 1878 reichte, hatte einen frömmelnden und rückwärtsgewandten Charakter – die Dogmen von der unbefleckten Empfängnis Marias (1854) und das gegen viel Widerstand von Seiten der Bischöfe durchgedrückte Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes (1870) sind die bekanntesten Beispiele für die restaurative Haltung. Pius sträubte sich entschieden gegen die politische Einigungsbewegung Italiens. Vor der Revolution 1848/49 floh er aus dem Vatikan nach Gaeta. Die 1849 ausgerufene Republik wurde von französischen Truppen, die Napoleon III. entsandte, gleich wie-

221

Kontexte

der aufgelöst. 1850 kehrte Pius im Schutze der französischen Besatzung nach Rom zurück und errichtete dort ein autoritäres Regime. 1859 trat der Abenteurer und Guerillero in Südamerika, Giuseppe Garibaldi, an die Spitze der Bewegung (Risorgimento) und begann 1860 mit dem berühmten »Marsch der Tausend« (es waren gut elfhundert) von Genua aus in Richtung Sizilien den Freiheits- und Einigungskampf. 1861 konnte der liberale Savoyer Vittorio Emanuele II. – nicht ganz im Sinne des Demokraten Garibaldi, aber mit dessen Einverständnis – an die Spitze eines vereinigten Italien (noch ohne Rom und Venetien) treten. Das erste Parlament Italiens trat in Turin zusammen. Der eigentliche Gründer Italiens, der aus dem Piemont stammende Camillo Benso di Cavour, wurde 1861 unter Vittorio Emanuele – beide verband bei persönlicher Abneigung hohe Wertschätzung der Fähigkeiten – erster Ministerpräsident. Cavour starb überraschend noch im gleichen Jahr. 1870 endete die Herrschaft des Papstes über die Stadt Rom. Er zog sich unter hinhaltendem Widerstand in den Vatikan zurück und bezeichnete sich dort als Gefangener. Das Dogma der Unfehlbarkeit könnte als Entschädigung für die verlorene politische Macht angesehen werden. Rom war die endgültige Hauptstadt Italiens, die letzten französischen Truppen verließen das Land. Die Spuren der französischen Präsenz in Italien erhielten sich aber auf vielfache Weise. Auch im anderen Land der großen antiken Kultur, in Griechenland, tobte (ab 1821) ein grausamer Unabhängigkeitskrieg – gegen die osmanische Herrschaft. Während man in Amerika die Türken für zivilisierter hielt als die Griechen, schickten die philhellenischen Europäer, die in den Griechen die Wiederkehr der hellenischen Kultur imaginierten, organisiert in Vereinen von »Griechenfreunden«, Geld und Söldner zur Unterstützung. Lord Byron steckte in seiner Griechenbegeisterung sein Vermögen in den Aufstand und sich selbst in eine Uniform, in der er 1823 sogar das Kommando über die griechischen Streitkräfte übernahm. Dem 1824 in Missolunghi an der Malaria gestorbenen Dichter widmete Delacroix das Bild Das sterbende Griechenland auf den Trümmern von Missolunghi. »Das denkende, schreibende Europa war progriechisch, bevor seine Regierungen es wurden […].« Diese öffentliche Meinung war ein starker Machtfaktor, »den die Regierenden bei ihren politischen Entscheidungen zu berücksichtigen hatten.« 1829 war Griechenland unabhängig, nachdem 1827 die Flotten von Großbritannien, Frankreich und Russland bei Navarino zugunsten der Aufständischen eingegriffen und eine Vorentscheidung herbeigeführt hatten. 1832, im Todesjahr Goethes, wurde der Wittelsbacher Otto I. König von Griechenland. Dies förderte das Interesse am Land weiter. Es war aber stets (und bis heute) eine Verehrung des antiken Hellas. Daher kann es wenig überraschen, dass die Reisen dorthin für die Künstler enttäuschend verliefen. Die romantisierenden klassizistischen Beschreibungen in der Heimat hatten kaum etwas mit den profanen Trümmerresten gemein, die man dort, verwachsen in die Natur, vorfand. »Das in der Literatur des 18. Jh.s beschworene überzeitliche Paradigma der antiken Kultur existierte nicht.« Nicht der Antike, sondern der klassizistischen Romantik galt die Demaskierung. Diese realitätsferne Verehrung wurde im Licht der realen Situation zum Gegenstand des Spotts. Honoré

535 Statue Giuseppe Garibaldis (1890); Todi

Griechenland

Mann Golo in PWG VIII, 397 Winkler 2009, 479

Kepetzis Ekaterini in Kohle 2008, 325

222

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Ebd., 326

10.1.

6.1.1./IX.1.3. IX.2.2.7.

Russland

Daumier und Moritz von Schwind (Das antike Knie; 1850) machten sich über die triefende Rückwärtsgewandtheit lustig. Das Jahrhundert war selbstbewusst, man interessierte sich mehr für den Aufbruch in die Zukunft. Der Begeisterung der Massen für die Fundstücke der Archäologen, die auf diversen Weltausstellungen zur Schau gestellt wurden, tat dieser aufgeklärte und geläuterte Blick auf die Antike freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil: Das Interesse an der Erforschung der Antike wuchs nach der Überwindung des ersten Schocks. Die Antike wandelte sich »von einem entrückten Ideal zur fassbaren, historischen Vergangenheit.« Man erfuhr nun endlich, was sich dort »wirklich« abgespielt hatte. Ende des Jahrhunderts gerieten die Grabungen von Ernst Curtius in Olympia und Heinrich Schliemann in Troja zu Sensationen. Dass sich das alte Gedankengut der klassizistischen Antikendeutung nicht völlig verflüchtigte, zeigte sich nicht nur in der Kunstszene, sondern auch im Streit etwa um das neu entdeckte Ästhetikverständnis des Hellenismus oder im heftigen Schlagabtausch, den sich Friedrich Nietzsche und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf lieferten. In der Architektur spielte das antikisierende klassizistische Ideal für passende Bauaufgaben immer noch eine Rolle, meist wurde allerdings ein Verschnitt mit Neorenaissance oder Neobarock daraus. Besonders schwer mit der Dynamik des europäischen Jahrhunderts tat sich das byzantinisch geprägte Russland. Von der aufgeklärten Stimmung des 18. Jh.s war dort nicht mehr viel übrig geblieben. Im Krimkrieg 1853–1856 rang ein im nationalistischen Pathos außer Rand und Band geratenes Russland gegen die Türkei, während für Frankreich und England (an der Seite der Osmanen) das Interesse an der Vorherrschaft im Nahen Osten treibende Motivation war. Russland erlitt eine verheerende Niederlage. Der Fall von Sewastopol 1855 machte offenbar, dass mit der Wirtschaft und Wissenschaft auch das Militär den Anschluss an den Westen verloren hatte. Die Abschottung vom westlichen Fortschrittspfad durch Nikolaus I. entpuppte sich als eine Sackgasse. Dieser schwierige Umgang mit dem Fortschritt in der russischen Politik war ein Spiegel des kulturellen Hintergrundes. Denn das Land war in dieser Frage zwischen »Westlern« und »Slawophilen« gespalten. Waren jene der Öffnung zu den westlichen Ideen – in erster Linie hier freilich jenen zum Sozialismus und Anarchismus – zugetan, plädierten diese für die russische Tradition des Zusammenhalts von Zarismus, orthodoxer Kirche und dem (in Literatur und Kunst idealisierten) Bauerntum. Diese Konfrontation spielte in der Rezeptionsgeschichte der Gedanken von Hegel und Marx in Russland eine große Rolle. Sie reichte noch in die Avantgarde der Kunst im 20. Jh. Faszinierend daran war keineswegs die revolutionäre Dynamik (der Dialektik), sondern der (statische) utopische Gehalt. Trotz einiger Industrieunternehmen – in der Regel zur Ausbeutung der Bodenschätze – blieb Russland ein bäuerliches und sozial zerrissenes Land. Neben großen verarmten Massen führte eine kleine gebildete Elite ein gepflegtes, kultursinniges Leben. Die anspruchsvolle Literatur, aber auch manche wissenschaftliche Entwicklung wurden in Europa mit Bewunderung zur Kenntnis genommen. Weniger zur Bewunderung Anlass gaben Kunst und Architektur, die westliche Vorbilder kopierten. Allein die Musik stützt sich auf russische Originalität.

223

Signaturen des 19. Jahrhunderts

Der Nachfolger Nikolaus’, Zar Alexander II., zog die Lehre aus den Erfahrungen und öffnete mit einem großen Modernisierungsprogramm Russland gegenüber Europa. Er legte sich in der Frage der Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern mit dem Adel an. Zwar wurden die Bauern tatsächlich von ihren Gutsherren befreit, sie blieben aber in kollektivistisch organisierte Ordnungen eingezwängt, die von den Slawophilen als Modell einer neuen menschlichen Gesellschaft idealisiert wurden. Die neue Freiheit wurde zu Unruhen, ja revolutionären Aufständen genützt, was wieder die staatliche Ordnungsmacht auf den Plan rief. Mit dieser Dialektik von mehr Freiheit und daraus folgend mehr Unterdrückung – Alexander II. fiel 1881 einem Anschlag zum Opfer – schleppte sich die russische Geschichte ins 20. Jh. Nach dem Tod Alexanders II. erlahmten die Reformen wieder. Alexander III. stärkte die Säulen der Slawophilen: Kirche, Russentum und Adel. Um die Jahrhundertwende wurde die Industrialisierung angekurbelt, was Nähe zu Europa bedeutete, aber zugleich zur Proletarisierung großer Bevölkerungsteile führte. Das Zarentum erschien mehr und mehr als der Zeit unangemessen, sein Ansehen bröckelte. Trotzdem konnten sich in den zwei ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s Moskau und St. Petersburg als Metropolen einer Kunstavantgarde in bildender Kunst und Musik, die viele utopische Gehalte in ihrer Tätigkeit transportierten, hervortun. Es war eine utopische Avantgarde, die über den Bruch mit dem Hergebrachten die Vision einer neuen Welt verfolgte.

2.0. Signaturen des 19. Jahrhunderts Die schon zum Narrativ gewordene Länge des 19. Jh.s lässt es zwangsläufig in mehrere, weniger zeitliche als vielmehr systematische Abschnitte zerfallen. Da ist einmal die Französische Revolution mit den Folgen napoleonische Kriege, Nationalismus und die Revolutionen von 1848. Zum zweiten ist das 19. Jh. das Jahrhundert der Wissenschaft, der Technik, der Fortschrittsidee, der Internationalisierung und der städtischen Metropolen mit dem beginnenden modernen Leben. Jürgen Osterhammel hat ihm wohl wegen dieser Eigenheit den Generaltitel »Verwandlung der Welt« gegeben. Vieles dabei widerspricht ebenso dem revolutionären wie dem nationalistischen Gedankengut. Zum dritten liegt mitten im Jahrhundert der Beginn der ausdrücklichen Moderne, die ins 20. Jh. führt. Diese drei Ideenkreise reiben sich gegenseitig, ergänzen sich aber auch. Wenn wir nun das 19. Jh. unter dem zweiten Gesichtspunkt näher betrachten, ist die Rückschau auf es nicht zuletzt deshalb reizvoll, weil nahezu alle modernen Errungenschaften in Wissenschaft, Technik, Industrie und Kultur dort grundgelegt wurden. Die Wissenschaft, die im 18. Jh. entwickelt worden war, explodierte geradezu. »Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des Zählens und Messens. Erst jetzt steigerte sich die Idee der Aufklärung, die Welt vollständig beschreiben und taxonomisch ordnen zu können, zum Glauben an die wahrheitserschließende Kraft der Zahl […].«

Osterhammel 2009

Ebd., 62

224

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

2.1. Die neue Welt der Maschine und die ersten Global Players Paris und London

536 Blick auf die Konstruktion des Eiffelturms

Ebd., 41

Ebd., 46

Zeitler 1966, 23

Osterhammel 2009, 386

De Maistre, zit. nach Blom 2009, 28

Hitchcock 1958, 53

Blom 2009, 27f

Die Internationalisierung, die das 19. Jh. zum letzten europäischen und ersten globalen machte, spielte genauso wie Wissenschaft und Technik, Ökonomie und Kunst in der städtischen Metropole. Zwei Städte beanspruchten den Titel einer Hauptstadt – diesmal nicht mehr nur Europas, sondern der Welt: Paris und London, das als erste Stadt Ende des 18. Jh.s die Millionengrenze bei den Einwohnern überschritt. Beide waren typische europäische Metropolen, die sich als Weltstädte inszenierten. London richtete 1851 eine Weltausstellung im Hyde-Park aus, Paris 1855 eine erste von mehreren. Jener von 1889 verdanken wir den Eiffelturm. Das 324 Meter hohe Bauwerk, das den hohen Rang der französischen Stahlindustrie dokumentieren sollte und formal-architektonisch bewusst ohne historisierende Fassade entworfen war, hatte Künstler und Intellektuelle auf die Palme gebracht, die Protestbriefe gegen diese »Schande von Paris« schrieben, die »wie ein riesiger, düsterer Fabrikschlot Paris überragt« und alle Monumente demütigt. Der durch verschiedene gebaute Eisenbahnbrücken erfahrene Hauptkonstrukteur Alexandre-Gustave Eiffel, der das Kostenrisiko übernommen und dafür die alleinigen Nutzungsrechte hatte, wurde zum mehrfachen Millionär. Die Weltausstellungen, »der sichtbarste Ausdruck der Vereinigung von panoramatischem Blick und enzyklopädischem Dokumentationswillen«, waren eine Erfindung des 19. Jh.s. War Paris unbestritten die Hauptstadt des 18. Jh.s, wie Louis-Sébastien Mercier das in seinem Tableau de Paris (1782–1788) – »ein gigantisches Gemälde vom Innenleben der Metropole« – in der neuen Weise einer ungeschminkten Wahrnehmung eines lauten und schmutzigen großstädtischen Lebens beschrieben hat, könnte man für das 19. Jh. (gegen Walter Benjamins Wahl) London zur Hauptstadt küren: »Es war die Metropole des am meisten industrialisierten Landes und das Zentrum eines Weltreichs. […] London bestimmte die Mode, die Art des Reisens und des Sports.« Jürgen Osterhammel entscheidet salomonisch: »Erst im 19. Jahrhundert jedoch entstand die im Weltmaßstab hegemoniale Stadt, die es nur in einem einzigen Exemplar gab: London.« Aber: »So etwas wie eine ›Kulturhauptstadt‹ der Welt, auch weithin als solche anerkannt, ist im 19. Jahrhundert eher Paris als London gewesen, mit starker Konkurrenz um 1800 und um 1900 von Wien, […].« In der Tat war in Kunst und Kultur Paris der Nabel der Welt. Joseph de Maistre schrieb, Künstler aus aller Welt »sind zu einer bloß lokalen Bekanntheit verdammt, bis Paris sich dazu herabläßt, sie berühmt zu machen […].« Henry-Russell Hitchcock machte ebenfalls auf die Verschiebung der Quellen für Kunst und Architektur in den Norden aufmerksam, nachdem bereits seit Piranesi Italien nicht mehr den Ton angab: »At the opening of the nineteenth century doctrine flowed from Paris, not from Rome; increasingly, moreover, architects turned to England and Germany for still newer ideas.« Für Philipp Blom war aus diesem Grund Paris bis zum deutsch-französischen Krieg 1870/71 die wichtigste Schaltstelle, bevor London die Früchte der Globalisierung einstrich. Beide Metropolen waren schon seit den napoleonischen Kriegen auf sich selbst gestellt. Der Austausch mit der französischen Kunst war in England weitgehend

225

Signaturen des 19. Jahrhunderts

zum Erliegen gekommen. Doch mit der 1786 gegründeten Royal Academy verfügte London über einen internen Motor der kulturellen Entwicklung. Das Land stellte schließlich herausragende Künstler mit dem in der Schweiz geborenen Johann Heinrich Füssli, dem Mystiker William Blake, dem unkonventionellen William Turner und mit John Constable. Besonders köstlich wird das erzählende Bild in der Kunst der Engländer, das auch über Alltagsthemen ausschweifend und nicht selten ironisch berichtet. Mit dem Sieg bei Trafalgar am 21. Oktober 1805 über die französisch-spanische Flotte sicherte sich England, das dann zudem 1814/15 am Wiener Kongress die Früchte für seinen Beitrag beim Ringen gegen Napoleon ernten konnte, die Herrschaft auf See als Grundlage für den Status des ersten global players. Diese günstige Ausgangslage am Beginn des Jahrhunderts und ein beherztes Zugreifen bei den sich bietenden Chancen brachte das Land nach vorne. Eine wichtige Rolle dabei spielte König George IV. aus dem Hause Hannover, der de facto wegen einer Geisteskrankheit seines Vaters George III. bereits seit 1810 regierte. Der extravagante Schöngeist, der wegen seiner Körperfülle und seiner zahlreichen Affären zum Ziel von Spott und Verachtung wurde, war nicht nur ein großer Förderer von Kunst und Architektur, sondern unternahm alles, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Die Grundlage für das Prosperieren des Empires – nach dem Zusammenbruch der spanischen und portugiesischen Besitzungen in Amerika das einzig verbliebene Weltreich – war die Dampfmaschine. Sie war 1712 von Thomas Newcomen erfunden worden und erfuhr um 1769 als Niederdruckdampfmaschine durch James Watt eine wesentliche Verbesserung. Die Dampfmaschine war eine epochale Technologie, welche die Phantasie der Menschen anregte. Der in Nancy geborene französische Zeichner und Karikaturist Jean Ignace Isidore Gérard, der den Künstlernamen seiner Großeltern annahm und sich Grandville nannte, illustrierte Eine andere Welt (Un autre monde). Darin warnte er mit gesellschaftskritischer Ambition in eindringlichen Bildern vor einer Welt der Maschine und des Geldes. Grandville war bald in Vergessenheit geraten, nicht zuletzt deshalb, weil Baudelaire das Licht seines Freundes Honoré Daumier so hell erstrahlen ließ, dass daneben kein zweites mehr leuchten konnte. Aber Grandville gab einer verbreiteten Stimmung Raum, die in der Dampfmaschine ein schier unheimliches Potential vermutete. Die skurrilen Pläne umfassten Prügeldampfmaschinen, dampfbetriebene Luftschiffe, die nach einem Absturz als Dampfschiffe weiterfahren konnten. Selbst ein Orchester funktionierte in dieser Welt der Phantasie wie eine große Dampfmaschine. Die bunte Fülle an Ideen zeigt, wie viel utopisches Potential man mit der neuen Technologie verband. Sogar die eben erst erfundene Eisenbahn verabschiedete man bereits voreilig mit Hinweis auf die baldige Eroberung der Lüfte. Waren auch die Ideen manchmal seltsam, in der Folgewirkung der neuen Technologie waren die Einschätzungen gar nicht so falsch. Die Dampfmaschine bildete die Grundlage eines neuen, des industriellen Zeitalters, dessen Entstehung mit der Revolutionsvokabel (»Industrielle Revolution«) bedacht wurde. 1830 verfügte England über 15 000, Frankreich nur über 3000 Dampfmaschinen. Mechanische Web-

die ­Dampfmaschine

Böhmer 1968, 236ff

Schnerb 1983, 53

226

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Eisenbahn

Hobsbawm 1983, 82

Stahlproduktion

Schnerb 1983, 67 Gurland A.R.L. in PWG VIII, 322 von Laue Theodor in PWG VIII, 601

Entwicklung der Demokratie

Schnerb 1983, 460

stühle revolutionierten die Verarbeitung des neuen Produkts Baumwolle, das auf dem Markt auf Anhieb Erfolge feierte. Die Dampfmaschine wurde zur Antriebstechnologie der Eisenbahn. Die ersten Eisenbahnen nach dem »Pferdeantrieb« wurden von Dampfwagen gezogen, auf zerbrechlichen Holz-, dann Gusseisenschienen, bis man die gewalzten Stahlschienen erfand. Die Geschichte der Eisenbahn begann Anfang des Jahrhunderts. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren konkurrierten mehrere Eisenbahnen um die Ehre, die erste gewesen zu sein. In England, wo die Eisenbahn ein Kind des Bergbaus war, verband 1825 eine Linie den Kohledistrikt von Durham mit der Küste. In Deutschland verkehrte 1835 die erste Bahn zwischen Nürnberg und Fürth. 1869 war die Transversale durch den amerikanischen Kontinent von New York nach San Francisco geschlossen. In einem Eisenwerk in Zöptau (heute Sobotín) in Mähren produzierte die Industriellenfamilie Klein Schienen und Brücken für 3500 Kilometer Eisenbahnlinien durch die k. u. k. Monarchie, einschließlich der spektakulären, von Carl von Ghega geplanten Strecke über den Semmering, die 1854 freigegeben wurde. 1867 fuhr der erste Zug von Innsbruck über den 1370 Meter hohen Brennerpass nach Bozen, was zwar die diversen Dienstleister an der Straße ins Unglück stürzte, aber die durch die neuen schnellen Transportkapazitäten konkurrenzfähigere Landwirtschaft und der sich durch die Bahn entwickelnde neue Fremdenverkehr konnten die Einbrüche nach wenigen Jahren überkompensieren. Die Eisenbahn wurde eines der erfolgreichsten Technologieprojekte des Jahrhunderts. Sie löste vielfältige technische Innovationen aus und schuf neue Industriezweige. Der Steinkohleabbau erfuhr eine rasante Steigerung, weil die Stahlproduktion sprunghaft anstieg und man in den Hochöfen Steinkohle und dann den aus der Steinkohle erzeugten Koks verfeuerte. Nur solche Geschäftsfelder rechtfertigten die hohen Investitionen in eine Lokomotive, welche ihre Wagons mit einer Geschwindigkeit von sieben Kilometer pro Stunde ziehen konnte. Die Weltproduktion von Roheisen stieg zwischen 1860 und 1910 von 7,6 auf 66,3 Tonnen. In England war die Eisenproduktion zwischen 1800 und 1860 um das Vierundzwanzigfache gestiegen. In der gleichen Zeit hatte sich die Produktion in Russland gerade einmal verdoppelt. Auch diese Zahl zeigt, wie sehr die Industrienationen die Staaten an der Peripherie Europas abgehängt hatten. Die Nachhaltigkeit des Wirtschaftsaufschwungs im British Empire, das Anfang des 20. Jh.s in den Commonwealth of Nations übergeführt wurde, sicherten einige ordnungspolitische Maßnahmen: Privatisierung der Kapitalgesellschaften, Deregulierung des Handels mit Abbau von Zollschranken, Steuersenkung und Innovationen bei neuen Produktionsmethoden. Im Wesentlichen umfasste diese Periode die 64-jährige Regierungszeit der Königin Victoria, die man als Viktorianisches Zeitalter bezeichnet, das vielen als »glücklichste Epoche in der englischen Geschichte« gilt. Der Einfluss der Krone auf die Regierung, damit auch auf die Gestaltung der Politik, war allerdings bereits sehr gering. In England festigte sich das bis heute dominierende Zwei-Parteien-System der Tories und Whigs, deren Wurzeln in das 17. Jh. zurückreichen. Umfangreiche demokratische Reformen unterliefen die Motivation für Revolutionen. Es war keine Revo-

227

Signaturen des 19. Jahrhunderts

lution, sondern die durch den Wegfall der Zollschranken ungeschützte Wirtschaft, die den bislang dominierenden Adel in die Bedeutungslosigkeit zwang. 1884 legte erstmals ein Kühlschiff in Liverpool an und es ergoss sich eine Flut billiger landwirtschaftlicher Produkte aus Übersee nach England und stürzte die die Landwirtschaft kontrollierenden Adeligen in die Krise. Auch wenn Historiker die demokratischen Impulse für das restliche Europa nicht überbewerten wollen, gingen von England entscheidende Beiträge für die Entwicklung der Demokratie aus: die konstruktive Rolle von Parteien, die gestiegene Durchlässigkeit der Grenze zwischen Bürgertum und Adel oder die Ausbildung eines im Handel und herstellenden Gewerbe tätigen Bürgertums. Trotzdem behielt eine führende Schicht ihre Kontrolle über das Volk, und die soziale Ungerechtigkeit der frühindustriellen Gesellschaft wurde nicht behoben. Trotz zahlreicher gesicherter Rechte der Individuen war die Einkommensschere in England größer als sonst irgendwo in Europa. Die Produktivitätsfortschritte quer über den Kontinent kannten eben auch Verlierer: jene Arbeiter, die der Rationalisierung zum Opfer fielen oder sich in ihrem Einkommen deutlich verschlechterten. Die Dynamik reichte noch nicht aus, sie andernorts wieder zu binden, bzw. fehlte die Einsicht in die Zusammenhänge der unerschöpflichen Arbeitsplatzgenerierung durch neue Technologien. Die eher träge Reaktion auf diese Zustände in England hing auch mit der puritanisch-calvinistischen Prädestinationslehre zusammen, wonach wirtschaftlicher Erfolg eine Gnade Gottes sei. Auf dieser Lehre baute im 20. Jh. Max Weber seine Kapitalismustheorie auf. Die Armut der durch Rationalisierung freigesetzten Arbeitskräfte wurde dort verschärft, wo Regierungen ihre vor allem durch Kriege angehäuften Staatsschulden durch Inflation finanzierten. Hungersnöte und Seuchen waren am Kontinent immer noch präsent und verschlimmerten die Lage. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gelang es, die Geißeln von Cholera und Hunger zu besiegen. Deshalb ließen sich auch nicht alle durch Gottes Vorsehung besänftigen und es kam zu Maschinenstürmerei in England und Deutschland. Ein durch Künstler und Schriftsteller ausführlich begleitetes Fanal in dieser Hinsicht war 1844 der aussichtslose Aufstand der Leinenweber gegen die Industrie in Schlesien, wo neben der sozialen Misere auch noch der Hungertyphus wütete. Das Aufbegehren der Unzufriedenen und Armen hatte verschiedene Gesichter. Im Österreich, dem Land einer die habsburgische Obrigkeit verehrenden Bevölkerung, kanalisierte die launige Literatur diesen Unmut. Johann Nestroys Satiren waren bissige Anklagen, er selbst wurde 1848 zum Revolutionär. Eine andere Strategie war die Auswanderung in die Vereinigten Staaten, wo es »keine Könige gibt«, wie ein geflügeltes Wort damals lautete. Von mehreren Seiten, Regierungen, religiösen Gemeinschaften, den Staaten in Übersee selbst (die dringend Arbeitskräfte und Konsumenten brauchten), wurden durchaus Anreize gesetzt, sozial schwächere Schichten, die der Arbeitsmarkt nicht absorbieren

Blom 2009, 47f

Maschinen­ stürmerei

537 Carl Wilhelm Hübner, Abschied der Auswanderer (1846); NGO

228

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

9.2.1.

Fortschrittsidee

Bauer 2004, 53f

VII.7.1.

Turgot, zit. nach Ebd., 23

konnte, zur Auswanderung zu bewegen. Das Thema bot den Genremalern willkommene Motive. Die Daheimgebliebenen organisierten sich in proletarischen und sozialistischen Bewegungen, vor allem in England und Frankreich, aber auch in Deutschland. Dabei kam es anfangs zu aus heutiger Sicht ungewöhnlichen Interessenskoalitionen zwischen Arbeitern, Intellektuellen und liberalen Großbürgern. Utopische Sozialrevolutionäre wie Claude de Saint-Simon, Charles Fourier oder Étienne Cabet hatten wenig Interesse an einer politischen Revolte. Rheinische Industrielle machten Karl Marx zum Schriftleiter ihres radikal-liberalen Organs Neue Rheinische Zeitung. Die Kehrseite des wissenschaftlich-technischen Erfolgs ließ auch die Kunstszene nicht unbeeindruckt und löste die Bewegung des Realismus aus, die wiederum den Weg der Kunst in die Moderne bahnte. Charles Fourier, der auch ein Vorreiter des Feminismus und der sexuellen Befreiung war, legte theoretische Überlegungen zur Stadtarchitektur vor. Sie (architecture unitaire) sollte das Spiegelbild einer harmonischen (gemeint waren sowohl wirtschaftliche wie sexuelle Harmonie) Gesellschaft sein. Bezeichnenderweise erinnern solche vermeintlich sozialrevolutionären Stadtkonzepte nicht nur an die Utopie-Städte der Renaissance, sie hatten auch Ähnlichkeit mit absolutistischen Anlagen. Letztlich richtete sich die Kritik gegen jene Aspekte, welche den Lauf der Geschichte zu hemmen drohten, gegen statische metaphysische Sinnstiftungen, gegen Einschränkungen der Verfügungsmöglichkeiten über Eigentum, also gegen feudalistische Reste, ganz generell »gegen die Beschränkung der Freizügigkeit und Mobilität von Personen und Sachen.« Das war eigentlich ein liberales Credo, das mit den Utopien der Sozialrevolutionäre weitgehend übereinstimmte. Hinterlegt war dieser Fortschrittswunsch in der Technik durch die Aufklärung und eine materialistische Philosophie. Auf der anderen Seite hallte Rousseaus Ruf nach der Rückwendung zur Natur als Kompensation ihrer zunehmenden Verdrängung nach. Der berühmte Autor aus dem kosmopolitischen Genf meinte mit seiner Fortschrittskritik die Rückkehr zu den ursprünglichen Tugenden der Moral und Freiheit. Dies löste teilweise eine Schäferromantik aus, die zur neuen Intimität der Landhäuser ebenso passte wie zur Gartenverehrung. Leute, die Rousseau noch ernster nahmen – oder sollte man sagen: noch mehr missverstanden –, wanderten gleich in die Inselparadiese im Pazifik aus. Rückkehr zur Natur und die Idee des Fortschritts scheinen sich diametral zu widersprechen. Aber sie drücken nur die Eigenart Europas aus, die Ambivalenz von Beschleunigen und Beharren. Zwar war man sich durchaus der hohen Verantwortung menschlichen Handelns angesichts einer Geschichte, die unumkehrbar und von einer Nicht-Wiederkehr des Gleichen geprägt ist, gewahr geworden, trotzdem schien der Impuls für das Handeln immer noch in Vorstellungen der Vollendung zu liegen, welche die verschiedenen Weltanschauungen anboten. »Die Gesamtheit des Menschengeschlechts geht stets, wenn auch mit langsamen Schritten, auf eine größere Vollendung zu.« Das schreibt ausgerechnet der der Aufklärung zuzurechnende Ökonom Baron Robert Jacques Turgot.

229

Signaturen des 19. Jahrhunderts

England wurde mit diesen Herausforderungen weitgehend fertig und die erste Weltausstellung 1851 zu einer selbstbewussten Selbstdarstellung. Es war übrigens die einzige profitable Ausstellung; von ihrem Gewinn konnte das Victoria and Albert-Museum gebaut werden. Erst gegen Ende des Jahrhunderts holten die europäischen Staaten auf dem Festland gegenüber England auf. Viele Ideen der englischen Philosophen, Dichter und Künstler wurden in Europa publik. Auf der anderen Seite des Atlantiks rang Amerika um seine Konsolidierung in einem Bürgerkrieg 1861 bis 1865, der mit mehr als 600 000 Toten verlustreichste Krieg der amerikanischen Geschichte. Die Südstaaten waren aus den Vereinigten Staaten ausgetreten. Ursache war nicht zuletzt das Ringen um die Souveränität der Einzelstaaten in der Union, veranlasst durch den Streit in der Sklavenfrage, die für die Südstaaten mit ihrer arbeitsintensiven Plantagenwirtschaft essentiell war. In Amerika trafen zwei unterschiedliche Wirtschaftsweisen aufeinander. Eine halbkoloniale Baumwollproduktion, die, um die Produkte in aller Welt absetzen zu können, eine Liberalisierung des Handels brauchte, im Süden und eine florierende kapitalistische Industrie im Norden, die sich im vermeintlich sicheren Hafen des Protektionismus verbunkerte. Der Krieg, der als einer der ersten fotografisch dokumentiert wurde, endete mit dem Sieg des »nördlichen Kapitalismus.« Die Südstaaten wurden bis 1877 wieder eingegliedert (reconstruction) und 1865, in einem der wenigen Zusätze zur amerikanischen Verfassung von 1789 die Sklaverei mit knapper (dazu notwendiger) Zweidrittelmehrheit abgeschafft. 1886 wurde in New York zum 100jährigen Jubiläum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die Freiheitsstatue eingeweiht. Das Motiv, das in mehreren kleineren Exemplaren existiert (eines davon im Jardin du Luxembourg in Paris), hatte eine Vorgeschichte. Den in Colmar geborenen Frédéric-Auguste Bartholdi inspirierte eine Ägypten-Reise 1856 zur Idee einer Kolossalfigur, einer fackeltragenden Ägypterin, die als Leuchtturm am Eingang zum Suezkanal stehen sollte. Das Projekt scheiterte. Als der französische republikanische Politiker Édouard René Lefebvre de Laboulaye zum Jubiläum der amerikanischen Unabhängigkeit ein Monument stiften wollte, trat Bartholdi wieder auf den Plan und realisierte die als Freiheitsstatue berühmt gewordene 46 Meter hohe neoklassizistische Figur. Die Stahlarmierung stammte von Gustave Eiffel und seinem Konstrukteur Maurice Koechlin.

Amerika

Hobsbawm 1983, 313

538 Kopie der Freiheitsstatue im Jardin du Luxembourg; Paris

2.2. Beschleunigung und Konservierung – Aufbegehren und Rückzug Die Pariser Weltausstellungen der Jahre 1889 und 1900 brachten ein Revival des Barock. Philipp Blom nennt die Ausstellung von 1900 eine »historistische Orgie«. Dieses Revival mag auf den ersten Blick überraschen, aber mit Anne Pingeot kann man darin eine philosophische Signatur der Zeit identifizieren: »Die dynamischen Formen des beleuchteten Brunnens der Weltausstellung von 1889 oder die Quadrigen von Georges Recipon (1900), die von den Kranzgesimsen des Grand Palais loszuspringen scheinen, scheinen zu signalisieren: Es lebe die Bewegung, es lebe der Fortschritt, es lebe die Zukunft.«

Blom 2009, 90

Pingeot Anne in SK IV, 92

230

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hülk 2012, 7 Burckhard, zit. nach Ebd. Schnerb 1983, 365

Osterhammel 2009, 451 Großstädte

Schwartz 1999

Osterhammel 2009, 460

Boulevards und Passagen

In der Tat gehören zur kulturellen Signatur jenes 19. Jh.s, das unter dem Gesichtspunkt des Fortschritts und der städtischen Metropolen an der Moderne baute, Dynamik und Bewegung. »Das Faszinationsmuster Bewegung hat sich sicherlich nicht erst in den europäischen Metropolen der Jahrhundertwende 1900 herausgebildet. Aber zweifellos ist es so, dass in dieser Zeit der hochtourigen Moderne Beschleunigung, Geschwindigkeit und Flüchtigkeit die Wahrnehmungsdisposition namentlich des Großstadtmenschen bestimmten und Phänomene der Bewegung und Dynamik alle Lebensbereiche prägten und veränderten.« Max Burckhard machte 1899 »die Bewegungstendenz gegenüber der Beharrungstendenz« zur anthropologischen Signatur des modernen Menschen. 1807 hatte London in einigen Straßen die erste Gasbeleuchtung, 1815 führten sie Paris und 1826 Berlin ein. Die Städte, die im 19. Jh. eine »zuvor nie dagewesene Bedeutung« erlangten (wenn man von denen der Antike absieht!), erstrahlten buchstäblich in neuem Glanz. »Sobald die neue Technik massenwirksam wurde, brach eine richtige Lichtmanie aus. Die europäischen Städte wetteiferten um den Titel der ›Lichtstadt‹«. Die Orte, wo man die neue »Erfahrung dieser Bewegungstendenz« machen konnte, waren die Großstädte. Die großen Boulevards, die von Georges ­Eugène Baron Haussmann, dem für Paris (und mehrere Dutzend Umlandgemeinden) zuständigen Präfekten (Préfet de la Seine) und Baumeister Napoleons III., in die Stadt geschlagen wurden, boten die Bühne für das, was Vanessa R. Schwartz mit Blick auf die neuen visuellen Ordnungen von Paris im 19. Jh. »spectacular reality« nennt. Es ging um Verbesserung des Verkehrs und Beseitigung der Wohnungsnot, um Hygiene, aber auch um das Umsetzen einer neuen visuellen Ordnung der Linie und der Geraden, kurzum: um ein modernes Stadtbild. Entlang der Boulevards wuchsen fünfstöckige Mietshäuser aus dem Boden. Auch das alte Künstlerviertel Quartier du Doyenné musste um 1850 dem Projekt der Louvre-Tuilerien weichen. Das Projekt der »Hausmannisierung« war letztlich die Absicht, Verkehr, Menschen, Kapital zum Fließen zu bringen. Die Umgestaltung veränderte die gesamte Stadtsoziologie, weil sich die ursprünglichen Bewohner das neue Wohnen in den großen Häusern nicht mehr leisten konnten und die Bourgeoisie in das Zentrum zurückkehrte. »Haussmann wurde von drei Passionen getrieben: der Liebe zur Geometrie, vor allem zur schnurgeraden Linie; dem Wunsch, Räume des Nutzens und des Vergnügens zu schaffen, Boulevards etwa, auf denen der Verkehr rollen und der Spaziergänger erholsam flanieren könnte; schließlich von dem Ehrgeiz, Paris an die Spitze aller Metropolen zu setzen.« Der Begriff des Boulevards verschob sich um die Jahrhundertwende. Was eine Lebensader des Städtebaus war, wurde zu einer Metapher für die Massen- und Unterhaltungskultur, was sich im Begriff der Boulevardisierung widerspiegelt und, auf Medien angewandt, die Strategie der Auflagensteigerung durch Simplifizierung der Botschaft bedeutete. Haussmanns Ideen wurden von Eugène Hénard theoretisch vertieft. Hénard ent­ wickelte eine Typologie des Verkehrs und legte diese seinen »Städten der Zukunft« zugrunde. Diese wurden auf mehreren vertikalen Ebenen angelegt, was eine Vision

231

Signaturen des 19. Jahrhunderts

abgab, die direkt in das 20. Jh. führte. Ähnliche Projekte, die umfassendste Stadterneuerungswelle seit dem Barock, nahm man in vielen europäischen Metropolen in Angriff: Amsterdam, Brüssel, Neapel, Florenz, Rom, Turin, Wien. In Wien erging nach der Schleifung der Stadtmauern 1857 der Auftrag zum Bau der Ringstraße. Stammte die Stadt ursprünglich aus dem Orient, ahmten nun alle möglichen Städte der Welt – auch jene im Orient – in »präventiver Selbstverwestlichung« die funktionale und ästhetische Revolution der europäischen Metropolen nach. Nach dem verheerenden Brand in Istanbul 1870 wurde Haussmann für den Wiederaufbau zu Rate gezogen. Dabei entstanden die Paläste entlang des Bosporus. Die Modernisierung von P ­ aris (Trans­formation de Paris) ­erfolgte in nicht einmal zwei ­Jahrzehnten ab 1853. Die Boulevards waren die Arterien des Flanierens und der neuen Konsumwelt, ein »gesellschaftlicher Tummelplatz der ›Monde Parisien‹.« Überall in den europäischen Städten entstanden Passagen, wo man durch präsentierte Konsumartikel flanieren konnte, Kathedralen des Konsums, von Émile Zola in seinem Roman Au Bonheur des Dames (1883) eindrucksvoll beschrieben. Wie das von Georges Dufayel gebaute Magasin Dufayel in der Nähe zum Montmartre in Paris waren es »Tempel der Konsumententräume«, die »alle sakralen Elemente vereinigte[n]: […].« Bevölkert wurden sie von »jener Menge der zum Publikum eines Spektakels versammelten Privatleute, die Schaulust und Lust am Gesehen-Werden, curiositas und Selbstdarstellung zum Kern eines neuen Lebensstils machen. Sie sind nicht nur die Adressaten der großen Zeitungen, Theater, music-halls, sondern auch das Material des ›modernen Malers‹, das er zum einen aus der ästhetischen Distanz beobachtet. Sie sind aber zum anderen die Masse, in die er immer wieder eindringt, um aus der Doppelbewegung von Assimilation und Distanzierung eine neue Art des Sehens zu gewinnen, die nicht mehr zentralperspektivisch angeordnet ist.« Die neue Stadtarchitektur bot den Bildhauern ein reiches Betätigungsfeld. Die öffentlichen Plätze und Bauten hatten eine mediale Funktion und wurden großzügig mit Skulpturen bestückt. Allein für die Cour Napoléon des Louvre wurden zwischen 1853 und 1857 mehr als 335 Bildhauer engagiert. »Ihre Auftraggeber […] kennen nur ein Ziel: ›auffallen‹.« Zur städtischen Lebensweise gehörte die Öffentlichkeit. Dazu zählte ein ausgeprägtes Pressewesen. Es gab jetzt erstmals eine flächendeckende Presselandschaft. Chemie und Metallurgie hatten Technologien für neue

VII.1.5.3/VII.2.2.1.

Ebd., 424

539 / 540 Dolmabahçe-­Palast, Neor­enaissance und Klassizismus (19. Jh.); Istanbul Padberg Martina in Kohle 2008, 390

Blom 2009, 370

541 Galeries Lafayette (1896); Paris 542 Galleria Vittorio Emanuele II (1867); Mailand Hülk 2012, 27

Cachin 1991, 209 Pressewesen

232

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Baudelaire 1863, 222

Padberg Martina in Kohle 2008, 381

9.1.2.ff.

Ebd., 384f

Chesneau Ernest zit. nach Ebd., 390

Vaughan 1990, 25

VII.3.3.

Drucktechniken entwickelt. Die Konstruktion der Rotationspresse um die Jahrhundertmitte ermöglichte die ersten wirklich hohen Auflagen von Zeitungen. Ende des Jahrhunderts entwickelte Ottmar Mergenthaler die Linotype-Setzmaschine, bei der man mit einer Tastatur arbeiten konnte. Sie gilt als eine mit Gutenbergs Erfindung vergleichbare Revolution. Auch Baudelaire war von der modernen Lebensweise fasziniert. Es ist die Geburtsstunde des Flaneurs als Mensch der Metropole. »Für den vollendeten Flaneur, den leidenschaftlichen Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, Aufenthalt zu nehmen in der Vielzahl, in dem Wogenden, in der Bewegung, in dem Flüchtigen und Unendlichen.« Die ebenso alte wie faszinierende Ambivalenz der Stadt tat sich in erneuerter Form wieder auf. Es war die Stadt, in deren Institutionen die alte konservative Regelästhetik verwaltet wurde, welche die Künstler der Moderne schließlich auf das Land trieb; aber diese Stadtflüchtigen trugen die Prägung der neuen Erfahrungen der Stadt mit sich: »Die Großstadt als komplexer, indifferenter, widersprüchlicher Erfahrungsraum der Moderne wurde zur zentralen Herausforderung für die Kunst. Sehgewohnheiten, Bildtraditionen und die Verortung der Kunst in der Gesellschaft gerieten im Kontext veränderter Wirklichkeitserfahrungen grundsätzlich auf den Prüfstand.« Die Mode der Künstlervereinigungen, häufig außerhalb der Stadt, waren Projektionsunternehmen aus dem Blick der Großstadt. Barbizon wurde groß als kreativer und Experimenten gegenüber aufgeschlossener Schutzraum, dessen Neuerungen nur Provokationen gegenüber dem an die Akademieästhetik gewöhnten Städter waren. »Die unerschöpfliche Zirkulation von Verkehr und Gütern, eine permanente, sich durch die elektrische Beleuchtung selbst in der Nacht fortsetzende Ruhelosigkeit, das virtuell grenzenlose Netz sozialer und kommunikativer Kontakte, der nachhaltige Verlust von stabilen Perspektiven und Sichtachsen, die Aufhebung von Hierarchien – all das führte zu einer ›Demontage der Sinne‹. Die Kunst stand vor der Aufgabe, für dieses fremdartige ›Naturschauspiel‹ eine Bildsprache zu erfinden.« Der Kunstkritiker Ernest Chesneau schrieb im Paris-Journal am 7. Mai 1874 über Monet, einem jener kongenialen Umsetzer der neuen Erfahrungen in das Bild: »[…] niemals wurde das Unbestimmbare, Flüchtige Augenblickliche der Bewegung in all’ seiner gewaltigen Veränderlichkeit besser eingefangen und fixiert […].« Der gesamte Komplex der Kunst stellte sich um. Kunst wurde privatisiert. Sie wurde Gegenstand eines Betriebs mit Ausstellungen, Kunsthandel und blühender Kunstkritik in den omnipräsenten Tages- und Wochenzeitungen. Das Sammeln war nicht mehr allein ein Steckenpferd vermögender Privatleute, die zudem ihre Sammlerleidenschaft mit der Grand Tour untermalten, sondern es kam zur Gründung bürgerlicher Kunst- und Musikvereine. Die Käufer von Kunst waren oftmals anonym und breit gestreut: »[…] als Gesamtheit bot das Bürgertum eine erheblich größere Kaufkraft an.« Zudem gab es erstmals staatliche Kunstförderung. Aus kulturphilosophischer Sicht handelt es sich hier um eine andere Gestalt der Dynamik als etwa im 17. Jh. Dort ging es um eine Dynamisierung zur Systemerhaltung. Der Barock zeigte eine Bewegung, die seltsam gefroren erscheint. Nun

233

Signaturen des 19. Jahrhunderts

hat die Bewegung eine Richtung. Es ist jene, die der neue Begriff des Fortschreitens in der Geschichte, den Hegel und Darwin so epochal formuliert hatten, zum Ausdruck brachte. Jean-Baptiste Lamarck stellte 1809 die Konstanz der Arten in Frage (Philosophie zoologique) und entwickelte eine erste Evolutionslehre im Sinne einer Höherentwicklung der Arten. Die sauber geordnete Schöpfungswelt war ins Wanken geraten. Damit waren auch Rationalismus und Systemphilosophie, die hinter Linnés Theorie stand, instabil geworden. Die Evolutionslehre, wie sie sich in der Form von Charles Darwin schließlich durchsetzte, war eine Theorie, zu der es eine Fortschrittsfigur brauchte. Weder das Mittelalter und noch weniger die Antike hatten ein entsprechendes Gedankenrepertoire und es fehlte die Vorstellung einer linearen Zeitachse. Der Evolutionstheorie ähnliche Gedanken bei den Vorsokratikern mündeten in Figuren von Metamorphosen. Fünf Jahre vor Darwins Buch hatte Auguste Comte eine Geschichte menschlicher Erkenntnis vorgelegt (Système de politique positive; 1851– 1854). Diese Geschichte sei eine des Aufstiegs vom theologisch-mythischen über das abstrakt-metaphysische zum wissenschaftlich-positiven Stadium. Darwin publizierte seine weltstürzenden Innovationen im Essay on the Origin of Species (1859) überdies in einer Zeit, die gerade dabei war, im Sinn des 1835 erschienenen Lebens Jesu von David Friedrich Strauß die Biographie Jesu auf eine weltliche Grundlage zu stellen. Die von Darwin in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückte Vielfalt der Arten regte zum Nachdenken über die wirkliche Welt an und hatte Auswirkungen auf alle Bereiche der Geisteswissenschaften. Darwins Schüler, Herbert Spencer, gründete seine Sozial- und Gesellschaftsphilosophie auf dem Prinzip des Evolutionismus. Historiker und Philologen in Tübingen, unter ihnen Friedrich Wilhelm Lachmann, begannen mit einer historisch-kritischen Methode der Textedition, die man auch auf die Bibel anwandte und die Zeugenschaft der Autoren der Evangelien bestritt.

Evolutionslehre

2.2.1. Dynamisierung Als der französische Historiker Jules Michelet mit der Eisenbahn von London nach Manchester fuhr, konnte er seine Begeisterung nicht mehr zurückhalten: »Fünfzig Meilen in vier Stunden. Nichts kann eine zureichende Vorstellung von der blitzartigen Geschwindigkeit geben, mit der – wie in einem Märchen – dieses überwältigende Panorama vorüberzieht. Wir eilen nicht, sondern wir fliegen an Feldern, Hügeln, Mooren vorbei, über Brücken, […].« Die Sätze drücken die Faszination vor den schier grenzenlos scheinenden Möglichkeiten der neuen technischen Errungenschaften aus. Philosophen und Künstler verbanden damit einen enormen utopischen Gehalt, negativ wie positiv, ähnlich wie dies bereits mit der Dampfmaschine verbunden wurde. Die Maschine, welche die mühsame Handarbeit ersetzte, war für Karl Marx ein Grundtopos seiner Gesellschaftsutopie. In seinem Kommunistischen Manifest protokollierte Karl Marx die Erwartungen, die er mit dem neuen Dynamismus verband, den Umbruch alles Bestehenden: »Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.« Und Friedrich

Michelet, zit. nach Schnerb 1983, 73

Marx/Engels 1848, 465

234

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Engels, zit. nach Schnerb 1983, 651

Engels 1844, 517/521 Rosa 2005; Braun/­ Neumaier 2015 6.1.1. Hommes 1955; Hommes 1958; Braun 1990

9.2.1./IX.2.2.6.

Osterhammel 2009, 445

Engels wies darauf hin, dass die neue Lehre kein Dogma sei, sondern die »Darstellung eines Entwicklungsprozesses«. Gebannt von den neuen Möglichkeiten verklärte er die Wissenschaften: »Die der Menschheit zu Gebote stehende Produktionskraft ist unermeßlich. Die Ertragsfähigkeit des Bodens ist durch die Anwendung von Kapital, Arbeit und Wissenschaft ins Unendliche zu steigern. / […] was ist der Wissenschaft unmöglich?«. Positiv ist in der Moderne längst nicht mehr das Feste und Haltgewährende, sondern die Veränderung. Die damit einhergehende Veränderung der Zeitstrukturen gehört zur Signatur der Moderne in Wissenschaft und Kunst. Im Gefolge Hegels wurde bei Marx das »demiurgische Projekt« Platons am überzeugendsten auf die technische Seite angewandt. Eine der vielleicht interessantesten Marx-Rezeptionen abseits streng politischer Kategorien war jene, die Marx als Protagonisten eines technischen Eros interpretierte. Diese neue Dynamik und mit ihr die Möglichkeiten der Industrie wurden von Marx wegen ihres emanzipatorischen Potentials gefeiert. Erst bei Horkheimer, Adorno und Marcuse wandte sich das Blatt und wurden Wissenschaft und Technik auch als Instrumente gesellschaftlicher Repression analysiert. Diese ambivalente Einstellung lässt sich in Kunst und Literatur bis weit ins 20. Jh. verfolgen. Rückte der sozialkritische Realismus die Schattenseiten des neuen Booms in den Vordergrund, verherrlichten andere Strömungen wie der Futurismus Technik und Fortschritt. Die Dynamisierung umfasste die Erhöhung der Reichweite, die Beschleunigung der Informationsübertragung durch neue Technologien und die Akzeleration in Verkehr und Transport. Diese Technologien ließen einen effizienten weltumspannenden Austausch von Nachrichten, Gütern und Ideen zu. Eine neue Ära hatte begonnen, Europa war nicht mehr auf den alten Kontinent beschränkt. Im Hintergrund dieser technischen Entwicklungen stand eine neue Qualität von Grundlagenforschung. Die hoch entwickelte Mathematik mit Pierre-Simon Laplace, Carl Friedrich Gauß, Leonhard Euler, Joseph Fourier war eine unersetzliche Hilfe für die anderen Wissenschaften, die Astronomie, die Elektrizitätslehre, die Optik, wo die alte Wellentheorie des Lichtes von Christian Hygens durch Auguste Jean Fresnel gegenüber der Korpuskulartheorie Newtons wieder die Oberhand gewann. Nach zähen Versuchen konnte Thomas Alva Edison um 1880 die erste elektrische Glühbirne mit dauerhaftem Glühfaden (er experimentierte mit japanischer Bambusfaser und Kohlefäden) erzeugen. 1882 gründete er in New York das erste öffentliche Elektrizitätswerk. Michael Faraday entdeckte die Induktion, die eine Grundlage für den Elektromotor bildete, André-Marie Ampère schuf die physikalischen Grundlagen der Telegraphie. Sie wurde in mehreren Schritten in den Dreißigerjahren erfunden. 1866 verband die erste Telegraphenleitung Europa mit Amerika. 1876 folgte das Telefon durch Alexander Graham Bell. Die Welt wurde kleiner und mit einem spürbaren Ruck schneller. Das empfanden auch die Zeitgenossen so. Als 1863 in London die erste U-Bahn der Welt eröffnet wurde, stürmten am ersten Betriebstag 30 000 Menschen die Garnituren. 1842 lief der erste Ozeandampfer aus Eisen mit Schraubenantrieb, die heute als Museumsschiff in Bristol noch existierende Great Britain, vom Stapel. Erst mit dieser

235

Signaturen des 19. Jahrhunderts

Antriebstechnik, die die ineffizienten Schaufelraddampfer ablösten, wurde es möglich, große Distanzen zu überbrücken. Dennoch standen die neuen Ozeandampfer noch bis zum Ende des Jahrhunderts im Wettstreit mit den optimierten Segel-Klippern, die bis zu 18 Knoten Geschwindigkeit erreichten und im Interkontinentalverkehr lange konkurrenzlos waren. Große Kanalprojekte sparten dem internationalen Seeverkehr viel Zeit. 1869 wurde der 162 Kilometer lange Suezkanal mit einem pompösen Fest eröffnet, der die Handelsroute zwischen Europa und Asien erheblich verkürzte. Seit 1895 konnte man den Nord-Ostsee-Kanal befahren und 1914 folgte der Panama-Kanal, der die Umrundung des gefürchteten Kap Hoorns überflüssig machte. Energie wurde zur wichtigsten Ressource der Zeit und zum Schmiermittel der modernen Gesellschaft. Neben der Dampfmaschine und der Elektrizität rückte das Erdöl immer mehr in den Fokus. 1859 fand die erste kommerzielle Bohrung nach Öl in Pennsylvania statt, 1870 gründete John D. Rockefeller die Standard Oil Company. Die Firma machte ihn zu einem der reichsten Männer der Neuzeit. Um die Jahrhundertwende exportierten die Vereinigten Staaten Erdöl im Wert von 60 Mio. Dollar. Das Öl bildete die Grundlage der neuen Technik der Benzinmotoren. An der Entwicklung dieser Motoren für Kraftfahrzeuge und Motorboote waren Nikolaus Otto, Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach beteiligt. Die Großproduktion von Automobilen fand dann allerdings in Amerika statt. Henry Ford erfand dazu 1913 das Fließband (assembly line) und begann die Massenproduktion billiger Autos mit höchstmöglicher Produktivität. 1899 schrieben Orville und Wilbur Wright mit ihren im Geiste des abgestürzten Pioniers Otto Lilienthal durchgeführten Flugversuchen mit Doppeldecker-Gleitapparaten in North-Carolina Geschichte. Am 25. Juli 1909 gewann Louis Blériot einen mit 1000 Pfund dotierten Preis des Daily Mail für den ersten Flug über den Ärmelkanal. Das beschleunigte Leben hatte Konsequenzen für Mensch und Gesellschaft. Überall lauerten Untiefen. Selbst die Erfindung des Fahrrads ließ nicht nur eine neue Erfahrung von Geschwindigkeit zu, sondern stellte gleich die gesamte moralische Ordnung auf eine harte Probe. »Moralisten waren entsetzt über die potentiellen Auswirkungen dieser anarchischen Gefährte auf die öffentliche Moral, ganz besonders für Frauen, die ohne Korsetts in Reformkleidern in die Pedale traten und die Warnungen von Ärzten ignorierten, daß ihre Position auf dem ledernen Sattel sie über das Maß des Erträglichen hinaus erotisch stimulieren und unfruchtbar oder hysterisch machen könne.« In der Tat wurde der Zusammenhang von Geschwindigkeit und sexuellem Exzess in einigen literarischen Schöpfungen thematisiert. Der Verlust eines größeren Ganzen als Preis der zunehmenden Geschwindigkeit wurde durchaus beklagt. Darunter fiel auch der Verlust der Privatsphäre durch die verschiedenen Technologien, die sich offenbar alle am Menschen zu schaffen machten: »Heutzutage ist man bei sich selbst nicht mehr zu Hause. Es wird immer schlimmer werden. Röntgenstrahlen durchdringen dich, Kodaks photographieren

543 Great Britain, Längsschnitt (1845)

Blom 2009, 292f

236

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Mugnier, zit. nach Ebd., 364

Simmel 1903, 116

Blom 2009, 306/313

IX.4.7.1.ff.

dich im Vorbeigehen, Phonographen zeichnen deine Stimme auf. Flugzeuge bedrohen uns von oben.« Das notierte der französische Priester Abbé Mugnier im Jahr 1900. Diese zeitlose Klage wurde erhoben, als auch der menschliche Körper standardisiert wurde. Die in ganz Europa aus dem Boden sprießenden Kaufhäuser boten Kleidung in Konfektionsgrößen an. Wie etliche andere stellte auch Sigmund Freud Untersuchungen zum Zusammenhang von Kultur und Nervosität an. Und Georg Simmel sprach von einer »Steigerung des Nervenlebens« in der dynamischen Atmosphäre von Großstädten. George Miller Beard beschrieb eine neue Krankheit, die sich epidemisch ausbreitete. Er nannte sie nicht Burnout, sondern Neurasthenie, Erschöpfung der Nerven. Beard berichtete mit Stolz von dieser Krankheit, die eine Folge einer fortgeschrittenen Zivilisation sei. In Russland sah man diese Sache weniger enthusiastisch, vielmehr wurde sie als Krankheit des degenerierten Westens abgehandelt, der unrussische Menschen ohne Gott und Moral geschaffen habe. Die Reizkunst des Impressionismus passte dafür auch noch hervorragend ins Bild. Im 20. Jh. knüpften Medientheoretiker wie Marshall McLuhan und Paul Virilio, der von einer »dromologischen Revolution« sprach, an den damals in der europäischen Ideengeschichte entstandenen Fortschrittsgedanken Heilserwartungen oder Untergangszenarien.

2.2.2. Der Hygiene-Diskurs

Scheffler 1910, 157 Stadt und ­Entwurzelung

Padberg Martina in Kohle 2008, 381

Der Diskurs um die Beschleunigung generierte gleichsam als gegenkulturellen Ausgleich jenen um das Konservieren, um Hygiene, um das Speichern und Reproduzieren. Diese kulturelle Gegenerzählung basierte zunächst auf jener für Europa typischen Dialektik von Dynamik und Beharrung. Wo eine Fortschrittsdynamik auftauchte, folgte die Verlustanzeige auf dem Fuß. Der deutsche Kunstkritiker und Architekt Karl Scheffler gab 1913 diesem Einspruch eine Stimme: »Es gibt natürlich Alles in Berlin, was zum Bestand der modernen Großstadt gehört. […] Dafür fehlt in Allem und Jedem der groß gerichtete synthetische Sinn, die gestaltende Phantasie und die kunstvolle Organisation.« Die Klage wirft ein Schlaglicht auf die dominante Wahrnehmung der Beschleunigung im 19. Jh. gegenüber der Systemerhaltung. Das alte Organismus-Verständnis des Barock war Geschichte. Das Gleichgewicht schien aus dem Ruder zu laufen. Die Stadt verlor das über Jahrhunderte Identität stiftende Zentrum mit Kirche und Rathaus, sie wurde gesichts- und konturlos. Also wurde ein neues »Gesicht« für die Stadt gesucht, weniger progressiv, vielmehr bewahrend, indem man Bahnhöfen, Bankgebäuden, Theatern, Museen und Musikhallen der neuen Kunstvereine, Warenhäusern und Boulevards eine historisierende Fassade anpasste. Zitate aus dem alten Schloss- und Kathedralbau fanden sich nun an den Frontseiten der Bahnhöfe wieder, diesem »Inbegriff für den Fortschrittswillen, für die Mobilität und Aufbruchseuphorie der Gründerzeit«, mit einer »Schleusenfunktion zwischen Stadt und Umland«. Sie ersetzten gleichsam die alten Stadttore. Die Gleichförmigkeit der kilometerlangen Boulevards, die sich nach Haussmanns Eingriff ergab, wurde ebenfalls durch die Fassaden erreicht, die »nur noch als ein

237

Signaturen des 19. Jahrhunderts

dünner Überzug, dazu bestimmt« waren, »einer neuen Art von Milieu ein annehmbares Aussehen zu verleihen, einem Milieu, wo die Straßen und Plätze ihre Individualität einbüßen und ineinanderfließen, während die Räume ihre Eigenart weit mehr durch das wechselvolle Hin und Her von Menschen und Fahrzeugen erhalten, als durch die umstehenden Gebäude.« Dazu begann man, die alte Substanz, an der man das Heimatgefühl festmachte, dort, wo sie noch bestand, unter Schutz zu stellen und zu konservieren. Es gab viele Stimmen, welche die »Zerstörung« des (malerisch) verfallenen, mittelalterlich anmutenden Herzens von Paris durch den von Haussmann veranlassten Kahlschlag beklagten, unter ihnen Baudelaire 1860 in seinem Gedicht Der Schwan: »Das alte Paris ist nicht mehr (die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach! als das Herz eines Sterblichen).« Man kann in diesen Protesten die übliche ambivalente Meinung zu Modernisierungen lesen. Die Intellektuellen gingen dabei »nicht über die üblichen ästhetisierenden Klagen hinaus, die auf der Abneigung gegen die industrielle Zivilisation und ihrer Gesamtheit gegründet sind; so hat Haussmann ein leichtes Spiel, wenn er dem Verlust einiger malerischer Partien den Gewinn an technischen und hygienischen Verbesserungen gegenüberstellt.« Im gleichen Jahr 1860, in dem Baudelaire den Verlust bedauerte, erteilte die Commission municipal du Vieux Paris den Auftrag, das alte untergehende Paris fotografisch zu dokumentieren. Charles Marville erstellte sein Album du Vieux Paris. Berühmt wurden die späteren Serien Paris pittoresques und Le vieux Paris des Eugène Atget, eines begnadeten Foto-Künstlers, der systematisch und mit archivalischem Interesse das übrig gebliebene alte Paris abfotografierte. Paradoxerweise dürfte das Montmartre-Viertel seinen Reiz dem Kahlschlag Haussmanns verdanken. Das kleine Dorf auf dem höchsten Punkt von Paris wurde zum Fluchtort der Vertriebenen, der Freigeister und Künstler und bildete die Grundlage für einen neuen Lebensstil, die Bohème. Die Anklage gegen die Großstadt gebar diese selbst: Verlust der Identität, der Moral, Zerfall der Familie und des Wertsystems. Ja, das Großstadtleben sei gesundheitsgefährdend, indem es chronische Nervosität fördere. Es ist die altbekannte Ambivalenz der Stadt zwischen göttlicher Ordnung und der gegen diese gerichteten Aufklärung, die hier eine Neuauflage erlebte. Der deutsche Kulturhistoriker Heinrich Riehl führte über die Zerstörung von Natur (gemeint durchaus die »Wildnis«) und der Familie durch die Stadt bereits Klage, noch bevor es überhaupt eine echte Großstadt gab. Die Großstadt existierte als Konstrukt in den Vorstellungen und wurde als solches gelobt oder verteufelt. In der Literatur und der Bildhauerei schlug sich dies nieder im Einfangen des Augenblicks und in der Klage über die Vergänglichkeit. Aus einem anderen, zunächst pragmatischen Kontext entfaltete sich der Hygiene- und Konservierungsdiskurs. Auslöser dafür war der Kampf gegen Krankheiten und Seuchen vor allem in der Stadt mit ihren katastrophalen hygienischen Zuständen. Die Wissenschaft mühte sich, diese Geißel zu besiegen. Robert Koch identifizierte 1882 mit dem Erreger der Lungentuberkulose und 1883 jenem der Cholera

Benevolo 1960, 127

Baudelaire 1857, 183

Benevolo 1960, 122

I.4.3.4./III.2.4.3.2.4.

Riehl 1854–1869

Hygiene und ­Konservierung

238

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schnerb 1983, 371 Osterhammel 2009, 362

Ebd., 1011

Benevolo 1960, 107

Wagner 2013

Lux 1908, 19

IX.2.3.5.

erstmals pathogene Mikroorganismen und Louis Pasteur entwickelte Techniken zur Abtötung von Keimen. Ignaz Semmelweis führte die Desinfektion ein. 1866 erlebte London die letzte Cholera-Epidemie. Konservierungstechniken ermöglichten die Erhaltung von Lebensmitteln, ohne sie in ihrem Geschmack wesentlich zu verändern, wie dies beim Einsalzen oder Trocknen der Fall war, was zu einer neuen Vielfalt der Produkte führte: Fleisch, Fisch, Früchte. Konservierung, Hygiene und Geschwindigkeit – so könnte man verkürzt sagen – beendeten die jahrhundertealte Plage des Hungers in den europäischen Städten. Man rief auf breiter Front den Krieg gegen die Bakterien aus. Eine Hygienebewegung (Sanitary Movement) setzte sich für sauberes Wasser ein, was zu einer Herausforderung der Stadtplaner und Ingenieure wurde. Die alte Aquädukt- und Abwassertechnik wurde wiederbelebt. In der zweiten Jahrhunderthälfte sprang der Pro-Kopf-Wasserverbrauch in Paris von 68 auf 240 Liter. Die Städte legten sich »eine mysteriöse Unter-Welt zu, die zu Angst- und Fluchtphantasien aller Art Anlass gab.« Es etablierte sich parallel zur Fortschrittsfigur an der Oberfläche sozusagen ein »systemerhaltender« Anteil des Prozesses, anonymisiert und verborgen im Untergrund. Die alte Autarkie des Wohnhauses wich dem Anschluss an die Vernetzung mit Wasser, Abwasser, Strom, Gas. Jürgen Osterhammel sieht in der Metapher des Netzes eine typische Anschauungsform des 19. Jh.s. Leonardo Benevolo sah den eigentlichen Beginn des modernen Städtebaus um 1850, »nicht in den Ateliers der Architekten – wo diese darüber streiten, ob man klassisch oder gotisch bauen soll […], sondern ganz eigentlich aus den Erfahrungen mit den Mängeln der Industriestadt, durch das Verdienst der Techniker und Hygieniker, die bestrebt sind, diesen Mängeln abzuhelfen.« Der neue Hygienediskurs spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Moderne. Man verkündete eine Reinheitsarchitektur, die alles mit Bann belegte, was mit Staub, Schmutz und Lärm in Verbindung gebracht werden konnte. Der Wiener Schriftsteller und Architekturkritiker Joseph August Lux, der bei der Gründung des deutschen Werkbundes dabei war, bekämpfte Draperien und jede Art von überflüssiger Dekoration, indem er sie als »Staubfänger und Bazillenherde« denunzierte. Einige Zeit vor dem Futuristen Antonio Sant’Elia forderte er, dass ein Haus »maschinenmäßig« funktioniere. Le Corbusier stellte in den Zwanzigerjahren des 20. Jh.s seine Visionen von Haus und Stadt nach der Maschinenmetapher, eine Stadt mit in Abstand voneinander stehenden Wolkenkratzern aus dem sterilen Stoff Glas, der gegenwärtigen »Normalstadt« gegenüber. Dort seien die Häuser zu niedrig und zu eng verbaut, die Stadt sei durch ihre fehlende Hygiene gesundheitsgefährlich. Architektur hat nach Le Corbusier eine hygienische Aufgabe zu erfüllen. Hygiene gehörte zur neuen Architektursprache des 20. Jh.s, die endgültig mit dem Eklektizismus brach und eine Sprache der Aufklärung war. In gewisser Weise kann man von einer neuen Form der in der Renaissance entworfenen Stadtutopien sprechen, jetzt allerdings im Kontext der neuen industriellen Gesellschaft. Anfang des 20. Jh.s gab es Städtebauausstellungen. Es herrschte eine Kultur, »die sich zutraut, die Probleme der modernen Stadt analytisch zu lösen und die Lösun-

239

Signaturen des 19. Jahrhunderts

gen mit beinahe wissenschaftlicher Präzision zu formulieren, und die zugleich von einer aufklärerischen Begeisterung für die vom Fortschritt bedingten Geschicke des menschlichen Zusammenlebens erfüllt ist, […].« Der Hang zur Sterilität wirkte bei Loos’ Ornamentkritik und weiter in der Lehre von Bauhaus und Werkbund. Hygiene wurde zum Ideal klinischer Sterilität des White Cube. Diese Imagination eines kontextfreien, sterilen Raums war die Grundvoraussetzung des Museums als einer typischen Einrichtung des 19. Jh.s. Nach der Befreiung der Kunst aus den funktionalisierenden Kontexten der kirchlichen und adeligen Auftraggeber konnte und musste man sie ihrer Selbstreferenz überlassen, was nur in einem White Cube gelingen konnte. Erst neuerdings gibt es wieder die Gegenbewegung, die Staub und Schmutz, Ausdünstung und Körperprodukte gegen die Abstraktion und Lebensfeindlichkeit des Sterilen stellt. Georges Bataille und Michel Foucault bereiteten diesen Paradigmenwechsel theoretisch vor. In Lust und Sexualität könnte man die Auferstehung des Körpers gegenüber der Diätetik und Hygiene der rationalisierten Entzauberung der Welt sehen. Auch in der Museumstheorie sucht man heute wieder eine (manchmal krampfhafte) kulturgeschichtliche Kontextualisierung, in die man die sonst vermeintlich nur schwer verständliche Kunst einbaut. Die Techniken der Geschwindigkeit und des Konservierens schufen erstmals eigene Welten, die ihre eigene Raum- und Zeitdimensionen entwarfen, unabhängig von der Zeit des natürlichen Taktes. Die neuen Zeitdimensionen waren Teil einer universellen Zeit. Viele Städte hatten im 19. Jh. noch ihre eigene Lokalzeit, was für die neuen Kommunikationsmittel und naturgemäß bei den Fahrplänen der Eisenbahn erhebliche Probleme verursachte. 1884 teilte man die Weltzeit in die bis heute gültigen 24 Zeitzonen ein und 1890 wurde die Greenwich Mean Time (GMT) amtlich. Lewis Mumford merkte einmal an, dass mehr als die Dampfmaschine die Uhr die entscheidende Apparatur des industriellen Zeitalters gewesen sei. »Zweifellos war die minutengenau messende Uhr überall auf der Welt, wo sie eingeführt wurde, das Werkzeug einer Mechanisierung oder gar ihrer gesteigerten Form, einer Metronomisierung der Produktion und anderer Lebensvorgänge.« Die Zeit war damit dynamisch und linear und sie bot scheinbar kein bergendes Refugium im Zyklus des Immer-Gleichen mehr. Diese Verlustanzeige wurde konterkariert durch die Techniken des Speicherns. »Keinem früheren Jahrhundert war das Archiv wichtiger als dem neunzehnten.« In ganz Europa bemächtige sich der Staat mit seiner Archivtätigkeit des Erinnerungsmonopols. Auch die Fotografie galt zunächst als Speicherbzw. Reproduktionstechnik. Sie wurde 1839 in der Französischen Akademie der Wissenschaften vorgestellt. Ein besonderer, der Hygiene-Ordnung diametral widersprechender Ort war die Prostitution. Sie nahm namentlich in den Städten sprunghaft zu. Das Mittel dagegen war die Pathologisierung der weiblichen Sexualität. Der Reiz der Szene für die Maler der Moderne war aber erheblich. Man fand in der Prostituierten eine »Identifikationsfigur einer männlichen Künstlerschaft, vor allem der Symbolisten, deren Selbstbild rauschhafte Erfahrungen jenseits moralischer Normen, also ein Entrückt-

Benevolo 1960, 409

IX.5.2.6.4. IX.4.5.3.f. Schmid 1987, 109

Raum und Zeit

Osterhammel 2009, 124

Ebd., 32

3.1.2. Frauenbild

240

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Ruby Sigrid in Kohle 2008, 512

Ebd.

Böhmer 1968, 312

Lorenz 1985

Monbart 1990

sein von der gesellschaftlichen Realität zwingend vorsah.« Die Prostitution war Teil eines neuen Frauenbildes, das als Aufbegehren gegen eine vermeintlich naturgegebene Ordnung angesehen werden kann. Der Geschlechterdiskurs im 19. Jh. führte den sozialen Aspekt des Geschlechts (gender) mit naturalistischen Argumenten auf das biologische Geschlecht (sex) zurück. Die typische Rollenverteilung basierte demnach vermeintlich auf natürlicher und wissenschaftlicher Grundlage. Sie wurde auch von der Hierarchielehre der Evolutionstheorie gestützt, welche der Frau eine größere Naturnähe attestierte und sie auf eine niedrigere »Lebensstufe« stellte als den Mann. Demnach ist die Emanzipation ausdrücklich als Ausbruch aus einer vermeintlich wissenschaftlich zementierten Ordnung zu sehen. Sie brach vor allem im Umfeld der Romantik auf, deren revolutionäre Ansätze sich darin wiederfanden. Die Romantik gestand den Frauen die gleichen Rechte zu wie den Männern, auch jene über den Körper. »Als ein Gegenbild zur ehrbaren, sich in Passivität und Ergebenheit bescheidenden Ehefrau wurde die Femme fatale entworfen, eine sexuell aktive und verlockende Frau, die eine ständige Gefahr für den Mann und die gesellschaftliche Ordnung darstellte.« Der Kampf der Geschlechter wurde in Literatur und Malerei ausgetragen. 1835 wurde die 1799 erschienene Lucinde von Schlegel, gemeinsam mit Schleiermachers Vertrauten Briefen und einem Vorwort des »jungdeutschen« Berliner Dramatikers Karl Gutzkow, neu aufgelegt und erregte abermals große Aufmerksamkeit. Gutzkow doppelte mit Wally, die Zweiflerin, »eine exaltiert romantische Absage an die Bürgerlichkeit«, nach. In der Bewegung des Biedermeier, welche die heile Welt der vermeintlichen Naturordnung wieder herstellen wollte, wurde die Frau wieder die Garantin des Hauses. Das biedermeierliche Bild lebte aus dem Schema der Familienidylle, wo die Frau ihren angestammten Bereich zu besetzen hatte, während der Vater und die ihm nacheifernden Söhne sich um die Dinge der Welt kümmerten. Das Schema wurde zu enthistorisieren und naturalistisch zu universalisieren versucht. Diese Universalisierung, also der Hinweis auf das immer schon Dagewesene, ließ sich freilich auch für das provokante Bild der Femme fatale mit Verweis auf die alte Tradition der Mänaden, Hetären und Amazonen in Anspruch nehmen. Gegen die vermeintlich naturgegebene Ordnung standen nun andere Frauentypen auf, jener der Sportsfrau und jener der militanten, revolutionären Frau. 1820 hob die erste Aeronautin, die Deutsche Wilhelmine Reichard, in einem Heißluftballon im Wiener Prater vor staunendem Publikum in den Himmel ab. Sie wurde die große Vorreiterin einer ganzen Reihe von Pilotinnen, die um die Wende ins 20. Jh. in die Lüfte stiegen. Einen ersten Höhepunkt erlebte die Frauenrechtsbewegung nach der Jahrhundertwende. In England und den USA kämpften die sogenannten Suffragetten (von suffrage/Wahlrecht) um Emmeline Pankhurst und ihre Tochter Christabel für das Frauenwahlrecht, ein Kampf, wo man auf beiden Seiten (Frauen und Polizei) nicht vor Gewalt zurückschreckte. In ganz Europa bekam die Frauenrechtsbewegung Unterstützung. Selbst in Russland rannten Frauenrechtlerinnen wie Anna Filosofowa und Anna Nikitschna Schabanowa gegen die Wand einer erzkonservativen orthodo-



Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

xen Kirche und von Teilen der Intelligenz. Viele von ihnen kapitulierten oder schlossen sich anarchistischen und terroristischen Organisationen an. Die Journalistin Marguerite Durand unterstrich in Frankreich ihre emanzipatorischen Anliegen, indem sie mit einem zahmen Löwen an der Leine über die Boulevards von Paris flanierte. Die Psychiaterin Madeleine Pelletier kleidete sich in Männerroben und forderte in ihren Schriften das Recht auf Abtreibung und eine Reform der Pädagogik im Sinne des Feminismus. Ihr pflichtete in Deutschland Anita Augspurg bei, die in München mit ihrer Lebensgefährtin ein Fotostudio betrieb. Neben diesen Kämpferinnen für die Gleichberechtigung gab es um die Wende ins 20. Jh. so viele erfolgreiche Frauen wie selten zuvor in der Geschichte. Die Physikerin Marie Curie, die es schwierig genug hatte, als Frau anerkannt zu werden, Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Frauen, die in der Gesellschaft ganz selbstverständlich eine oftmals die Männer erschreckende emanzipierte Rolle spielten. Eine Reihe von Künstlerinnen bemühte sich um eine neue Ordnung der Geschlechter, insofern sie selbst über das Bild der Frau bestimmen wollten. In Wien, wo Frauen wie Bertha von Suttner mit ihrem autobiographischen Roman Die Waffen nieder (1889), Alma Mahler oder Berta Zuckerkandl Ansehen oder als Skandalfrau eine gewisse Akzeptanz genossen, entbrannte ein Kampf gegen die Antifeministen wie Karl Kraus oder Otto Weininger, dessen Geschlecht und Charakter (1903), mit welchem Pamphlet er Triumphe feierte, vor Frauenhass und Antisemitismus strotzte. Der Publikationserfolg Bertha von Suttners darf nicht vergessen lassen, dass ihr auch viel Gegenwind entgegenblies. Friedensaktivismus war zu dieser Zeit ein eher absurdes Genre, der Krieg galt als Notwendigkeit und Treiber des Fortschritts, eine Sicht, die im Vorfeld des Ersten Weltkriegs das vorherrschende Narrativ war.

3.0. Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur Im 18. Jh. begann der lange Anlauf der Kunst zum Sprung in die Moderne. Dies führt uns neben den anderen Signaturen zu einem weiteren Aspekt, unter dem das lange 19. Jh. gesehen werden muss: dem Anheben der Moderne mit der Ästhetisierung von Kunst und Architektur. Dies wird ausführlich Thema in den Kapiteln 9.0.ff. sein. An dieser Stelle geht es um Hinweise auf das Umfeld dieser Weichenstellung, die als wichtige Signatur des Jahrhunderts gelten darf. Besser als an den klassischen Jahrhundertgrenzen ließen sich für diesen langen Anlauf die hundert Jahre zwischen 1750 und 1850 identifizieren. Auf diesem Weg in die Moderne legte die Kunst ihre Jahrhunderte währende ontologische Funktion ab und befreite sich zur Ästhetik. Mehr und mehr klassifizierte man die Weltbildentwürfe von Religion, Mythologie, aber auch die klassizistischen Vorgaben der Akademieästhetik als restaurativ, was letztlich zu ihrer regelrechten Sprengung führte. Schon in der neuen Bildersprache der Malerei wurde diese Subversion sichtbar. Es verschwanden religiöse, mythologische und historische Themen,

241

242

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

544 Adolph Menzel, Das Eisenwalzwerk (1875); NGB Padberg Martina in Kohle 2008, 387

8.1.f.

Museums- und ­Musikvereine

Jooss Birgit in Ebd., 189

das Heroische und Erhabene. An ihre Stelle trat eine neue Kunst, die sich mit Licht und Farbe, mit dem Transitorischen und Flüchtigen beschäftigte. Die Landschaft trat ebenso ins Bild wie die Stadt. Aber es waren nicht Sujets wie in den alten Veduten und Panoramen, sondern man wählte Motive des sozialen Lebens, der Peripherie und der Hinterhöfe, des Boulevards sowie der Faszination der Technik und Geschwindigkeit, die sich an Dampfwolken von Lokomotiven und Schloten begeisterte. Dazu trat das Alltagssujet, später in hartem Realismus die Arbeitswelt der Industrie. Es entstanden skizzenhafte Protokolle der städtischen Dynamik, wie sie uns etwa von Adolph von Menzel überliefert wurden, der die »entscheidenden Motive, Themen und Perspektiven« entdeckt hat. Seine Leistung liegt in »der Betonung des Dynamischen, nicht nur im Motiv der fahrenden Eisenbahn, sondern eben auch in der die Wahrnehmung von Bewegung antizipierenden Malweise«. Aufklärung und Säkularisierung waren bestimmende Kräfte. Dessen ungeachtet kam es – wieder als Gegendiskurs – zu Revitalisierungen des Religiösen bis hin zu eigentlicher Restauration. Insofern ist die religiöse Malerei auch noch in diesem Jahrhundert ein Faktor. Teilweise entwickelte sie sich allerdings abseits der Institution der Kirche, die sich Ende des Jahrhunderts in einen Kampf gegen die Moderne verbiss, was das Verhältnis zur Kunst zerrüttete. Der Kunstbetrieb hatte sich nicht nur auf der Produktionsseite, sondern auch auf der Rezeptionsseite verändert. Druckwerke, Bücher und Zeitungen mit ihren Feuilletons für die anwachsende Schicht eines Bildungsbürgertums kümmerten sich neben politischer Berichterstattung, den üblichen Klatschgeschichten auch um Kultur und Kunst. Der freie und gebildete Bürger war ein aufmerksamer Rezipient. Für die Künstler setzten nun nicht mehr die alten Institutionen wie Kirche oder adelige Mäzene die Norm, sondern einerseits der Massengeschmack, andererseits die neuen Institutionen der Museums- und Musikvereine, wo ein kunstinteressiertes Bürgertum den Ton angab. Diese Museen waren als bürgerliche Vereine organisiert, orientierten sich an einigen großen Vorbildern aus dem 18. Jh. wie dem Louvre in Paris. Drei Aufgabenbereiche standen gleichberechtigt nebeneinander: Neben das Sammeln und Bewahren traten das Erforschen und Vermitteln der Kunst. Das war der neue Gedanken eines wissenschaftlichen Universalmuseums, das in seiner vielleicht eindrucksvollsten Form auf der Museumsinsel in Berlin 1830 mit dem von Schinkel entworfenen Alten Museum realisiert wurde. Auch die zeitgenössische Kunst (freilich nur die ausgesuchte) erhielt Aufmerksamkeit; eines der ersten Museen dafür war die 1853 errichtete Neue Pinakothek in München. Architektonisch standen die neuen Einrichtungen im »Konflikt zwischen Historisierung und aktueller Funktionsbestimmung«, wollten sie doch durch ihre äußere Form die einschlägige Funktion sichtbar machen.



243

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Es gab Künstler, die gut am Massenpublikum verdienten und solche, die unbeirrt einen Weg in die Moderne einschlugen. Diese sammelten sich in den neuen Gründungen der Sezessionen, die mit den der alten Regelästhetik verbundenen Akademien im Wettbewerb standen. Es etablierte sich ein neues Bild des Künstlers, jenes des Bohémien, wie ihn Henri Murger in seinen berühmten, Giacomo Puccini und Ruggero Leoncavallo als Opernvorlage dienenden Szenen aus dem Leben eines Bohémien (1847–1849) beschrieb. Das Künstlerleben spielte sich am Rande der bürgerlichen Existenz ab und wurde in den Cafés und nicht mehr in den Salons und Akademien zelebriert. Auch dafür gab es Vorläufer. Es waren der Salon des Refusés und die 1884 geschaffene Société des Artistes Indépendants, (auch Salon des Indépendants), die sich vollständig von offiziellen Institutionen frei machten. Zusammen mit den neuen Künstlergemeinschaften, die sich bis weit ins 20. Jh. zogen, waren es die Orte der neuen Kunst, des Impressionismus und Fauvismus und anderer avantgardistischen Strömungen. Solche Alternativinstitutionen entstanden außer in Paris auch in anderen großen Städten: München, Wien, Berlin. Auch formal sorgten die neuen Einrichtungen für einen neuen Standard, indem die Werke einreihig auf weißen schmucklosen Wänden präsentiert wurden. Es war die buchstäbliche Umsetzung des White Cube. Mit Alexander Baumgarten wurde nicht nur die Ästhetik ein eigenes Fach der Philosophie, sondern auch die Erforschung der Kunst löste sich als eigenständiges Genre aus anderen Diskursen. Die Kunstgeschichte als wissenschaftliches Spezialgebiet der Geschichtswissenschaft, die ihre Vorläufer in Giorgio Vasari und Johann Joachim Winckelmann hatte, etablierte sich als universitäres Fach, Kunstkritik und Kunstmarkt wurden zu ständigen Einrichtungen. Die Kunstgeschichte war begrifflich zumindest seit Francis Bacon als historia artium (bei ihm als Teil der historia naturalis) geläufig und brachte bereits im 18. Jh. einschlägige Werke hervor, in denen freilich bloße Kunstkritik im Vordergrund stand. Jetzt sahen es die Kunsthistoriker als ihre erste Aufgabe an, Stile zu definieren, und zwar im Hinblick auf einen Individual-, einen National- und einen Epochenstil. Die Basis dafür bildeten empirische Methoden: philologisches Quellenstudium und die Analyse von Kunstwerken. Die ersten Lehrstühle entstanden in Göttingen (1799), Königsberg (1830), Berlin (1844) und Wien (1852). Daneben verstand sich die empirische Wissenschaft der Archäologie nun als Kunstwissenschaft. Die Archäologie feierte vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts große und populäre Erfolge wie die Grabungen in Troja, Mykene oder – bereits im 20. Jh. – in Knossos. Die Grabungsexpeditionen in Griechenland erschütterten das alte Bild von Winckelmanns Antike, was zu »ästhetischen Irritationen« führte. 1873 fand in Wien ein Kongress der Kunstwissenschaften statt, bei dem auch terminologische Fragen in größerem Zusammenhang diskutiert wurden. In den Methoden der Kunstgeschichte spiegelte sich der Stand der Geschichtswissenschaften wider. Ihre Methodendiskurse waren jenen in der Geschichtswissenschaft durchaus ähnlich. Der Blickwinkel war universalhistorisch und positivistisch (sprich: Gang zu den Quellen). Dazu gesellten sich in der Kunstgeschichte andere methodische

Akademien und Sezessionen

Kunstgeschichte

VII.4.2.4.2.

Kunze 1998, 77

244

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

10.3.

10.3

Ansätze, organische etwa, die mit vitalistischer Periodisierung von Geburt, Blüte und Niedergang arbeiteten, wie das bereits Winckelmann inauguriert hatte und von Heinrich Brunn (Geschichte der griechischen Künstler; 1857) an Jakob Burckhardt weitergereicht wurde. Burckhardt hat dagegen allerdings Stellung bezogen. Abseits von den großen teleologisch-metaphysischen Systemen stand nun eher die politische, soziologische und kulturelle Diversifikation des Menschen im Vordergrund. Es entstanden bahnbrechende Werke: Jean Baptiste Séroux d’Agincourts klassizistische Kunstgeschichte mit einer Abwertung des Mittelalters, Luigi Lanzis Storia pittorica dell’Italia (1789) oder die prächtig bebilderte Storia della scultura (1813– 1818) des Klassizisten Leopoldo Cicognara, eine Geschichte der Bildhauerei mit Anleihen bei Winckelmann. Ebenso wegweisend waren Joseph Archer Crowes’ zusammen mit Giovanni Battista Cavalcaselle erstellten Werke zur flämischen und italienischen Malerei. In Deutschland eröffnete Carl Friedrich von Rumohr die Kunstgeschichtsschreibung mit einem Schwerpunkt auf der italienischen Kunst, die seiner Meinung nach mit Raffael ihren Höhepunkt erreicht hatte. Rumohr war dem Klassizismus und der Theorie des guten Geschmacks samt dem dabei vorausgesetzten Regelwerk gegenüber kritisch eingestellt. Dem stellte er die Forschung am konkreten Objekt entgegen. Franz Kugler und der als Autodidakt zur Kunstgeschichte gekommene Karl Schnaase verfassten große mehrbändige Handbücher. Zahlreiche Bücher wurden ausdrücklich für das breite Bildungs-Publikum geschrieben, darunter die Jahrhundertwerke von Jacob Burckhardt (Cicerone; 1855; Die Cultur der Renaissance in Italien; 1860).

3.1. Die bildenden Künste

Waetzoldt Stephan in Zeitler 1966, 9

Im Jahr 1966 überschrieb Rudolf Zeitler seinen Beitrag über das 19. Jh. in der Propyläen-Kunstgeschichte mit dem Titel »Das unbekannte Jahrhundert«. Er spielte damit auf die schon erwähnte Schwierigkeit an, die bildende Kunst des 19. Jh.s vor der Wende zur Moderne für die Kunstgeschichtsschreibung auf Begriffe zu bringen. Stephan Waetzoldt nahm in seiner Vorbemerkung im gleichen Band darauf Bezug: »Es bedurfte nicht erst der Streitschrift Hans Sedlmayrs vom Verlust der Mitte und seines Aufrufes, ›das Werturteil der Epoche herzustellen‹, um die gegenüber anderen Jahrhunderten offenbar ungleich komplizierteren Phänomene und Probleme der Kunst des 19. Jahrhunderts bewußt zu machen.« In diesem Problem spiegelt sich die oben erwähnte Vielfalt des langen Jahrhunderts wider. Daher kommt man weder mit Attributen wie bürgerlich oder revolutionär sehr weit, noch hilft angesichts der Stilpluralität dieses Jahrhunderts der Stilbegriff weiter.

3.1.1. Die traditionellen Genres der bildenden Künste Rudolf Zeitler selbst versuchte mit einem Zugang, der auch kunstphilosophisch interessant ist, mehr Klarheit und Systematik in diese Epoche zu bringen. Er sah in vielen Werken der bildenden Kunst und der Architektur einen »Dualismus«, der etwa ab 1800 nachweisbar sei. In Analysen von Landschafts- und Architekturbildern und



245

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

in den typischen Sujets wie dem Blick aus dem geöffneten Fenster erkannte er einen beherzten Zugriff auf die Alltagsrealität auf der einen sowie eine Verzauberung derselben auf der anderen Seite: »Es gibt auf diesen Gemälden keine übernatürlichen Erscheinungen, keinen geöffneten Himmel, aus dem Engel herabschweben, und keine Flußgötter; nichts erhebt die topographische Realität ins Mythische, und dennoch verstehen wir ohne weiteres, daß die Maler dieser Bilder etwas erlebten, das über die Wirklichkeit hinausragt. […] Die Verzauberung ist auch Entfremdung; die Offenbarung der Schönheit enthält auch etwas, das über sie hinausreicht.« Das Jenseitige wird geahnt – aber dieses Jenseitige ist jetzt eher ein Erlebnis der Innerlichkeit. Auch in Bildhauerei und Architektur macht Zeitler in dem »Wandel vom Meßbaren ins Unfaßbare« ähnliche Tendenzen aus. Wie weit dieser Vorschlag generell trägt, mögen die Kunsthistorikerinnen beurteilen, zumindest für Teile der bildenden Kunst könnte ihm vom Zeitgeist her eine gewisse Unterstützung zukommen. Diese beginnt mit dem Verschwinden äußerlicher Religiosität und endet in der offensichtlichen Artikulation von inneren Stimmungen in der Kunst des Impressionismus. Besonders passgenau wäre naturgemäß das philosophische System Hegels, das auf eine Ambivalenz von Realem und Idealem gebaut ist. Es geht bei dem behaupteten Dualismus letztlich darum, dass der generelle Charakterzug der bildenden Künste, das, was ich an anderer Stelle anagogischen Mehrwert genannt habe, nicht mehr religiös, sondern profan gestimmt war. Einer weiteren Differenzierung Zeitlers ist schwieriger zu folgen, nämlich jener eines statischen und dynamischen Dualismus. Einen dynamischen Dualismus (eine Bewegung in der Diesseitswelt) macht er an Künstlern wie Antoine Jean Gros, Théodore Géricault, Eugène Delacroix und Alfred Rethel fest, also bei den Romantikern. »In Géricaults ›Floß der Medusa‹ zum Beispiel wächst aus Tod und Schmerz eine Bewegung zum Licht und zur Befreiung hinauf […] in der Ferne, vor dem sich lichtenden Himmel, ist ganz klein ein Segel zu erkennen.« Hier gewinnt man den Eindruck, dass die zumal in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts verbreitete Ansicht, Dualismus sei automatisch mit Statik verbunden, die Beobachtung präformiert. Den Dualismus sieht Zeitler um 1850 zu Ende gehen. Dann sei ein im 18. Jh. wurzelnder Monismus aufgetreten, der das »Jetzt und Hier ohne jede Jenseitsbeziehung« darstelle. Die geistesgeschichtliche Parallele läge in den Theorien von Auguste Comte und Ludwig Feuerbach. Die Impressionisten und die russischen Maler des späten 19. Jh.s hätten »ihren Glauben an die irdische Welt auf verschiedene Weise ausgedrückt.« Die Beobachtungen Zeitlers lassen sich freilich auch anders kommentieren. Auch in einer irdischen Welt gibt es nirgends die Monokultur eines vulgären Empirismus, sondern stets auch eine geistige Welt, die jeden einfach konstruierten Monismus durchkreuzt. Vermutlich eignen sich die Begriffe Dualismus und Monismus nicht besonders gut für das, was Zeitler zeigen wollte und vermutlich treffender, wie gerade vorgeschlagen, mit dem Begriffspaar Mimesis und Expression darstellbar wäre. Bemerkenswert an Zeitlers Vorschlag bleibt eine positive Bewertung der Stilvielfalt, die das 19. Jh. kennzeichnet. Darin hätten sich Kunst und Architektur von der alten

Zeitler 1966, 36f

Ebd., 38

X.2.2.ff.

Ebd., 40

Ebd., 41

3.2.2.1.

246

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Ebd., 50

Kunst und Theorie

Thimann 2006, 353

Kreul Andreas in Kohle 2008, 349

Thimann 2006, 355

3.2.2.

Normierung freigespielt, was es ermögliche, eine gleichsam säkulare Innerlichkeit, ja eine psychologisierende Verallgemeinerung in die Kunst zu bringen. Zeitler demonstriert das am Beispiel von Manets Erschießung Kaiser Maximilians: Das Bild lässt uns nicht nur »ein bestimmtes Ereignis erkennen […], das zwar die Zeitgenossen erregte, für uns aber hundert Jahre zurückliegt«, sondern es lässt ewige Gegensätze der Geschichte augenfällig werden: »Übermacht und Untergang, Brutalität und Würde, Stumpfheit und Feinnervigkeit, Masse und Individuum.« Diese nachvollziehbare Überlegung Zeitlers ist mit einem Monismus kaum in Einklang zu bringen. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie weit die Künstler von den philosophischen Theorien der Zeit überhaupt Kenntnis hatten. Vermutlich gab es eine solche in größerem Ausmaß kaum. Kenntnisse philosophischer Positionen dürften eher, neben vereinzelter Lektüre von Philosophen, über ein in solchen Kreisen verbreitetes Bildungswissen transportiert worden sein. Immerhin waren Schlüsselschriften wie jene Lessings weitherum bekannt und es gab zahlreiche Gesprächsverbindungen zwischen Künstlern und Gelehrten. Dabei spielte Rom eine wichtige Rolle. Wegen des Fehlens einer deutschen Nationalakademie lag das »exterritoriale deutsche Kunstzentrum« in Rom. Dort hatte sich um Joseph Anton Koch, Carl Wagner, Adrian Ludwig Richter, Franz Ludwig Catel und anderen in der Umgebung der Spanischen Treppe – ganz oben stand die Villa Malta des bayrischen Königs Ludwig I. – eine namhafte deutsche Künstlerkolonie versammelt. 1803 entdeckte Joseph Anton Koch das östlich von Rom gelegene Dorf Olevano Romano in malerischer Landschaft; es wurde zur Sommerresidenz der Maler. »Allein bis 1885 hatten über 150 Künstler das Dorf besucht […].« In den römischen Häusern der Dichter und Denker, etwa in jenem von Wilhelm und Caroline von Humboldt, verkehrten Künstler und Philosophen. Die theoretischen Debatten wurden mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein von 26 Künstlern verschiedener Stilrichtungen im Jahr 1814 unterzeichneter Apell an Fürst Metternich forderte angesichts der Neuordnung Europas nach Napoleon die Errichtung einer deutschen Kunstakademie in Rom als Gegengewicht zur dominierenden französischen Akademie in der Villa Medici. Die Antwort Metternichs war ausweichend. Ebenso wie viele Künstler scheinen die führenden Vertreter der diversen Akademien mit theoretischen Schriften vertraut gewesen zu sein, etwa der überaus belesene langjährige Akademiedirektor und führende Bildhauer Berlins, Johann Gottfried Schadow. Zahlreiche öffentliche Kontroversen, etwa zur Reinheit des Klassizismus, setzten Kenntnisse der kulturphilosophischen Positionen der Tradition voraus und erregten in den einschlägigen Kreisen durchaus Aufmerksamkeit. Über solche Kanäle waren besonders die deutschen Künstler mit den ästhetischen Theoriegebäuden des 18. Jh.s vertraut, mehr als ihre Kollegen in Frankreich und England. Für die bildenden Künste firmierte Winckelmann als Leitstern, während die Architektur zwischen Antike, Renaissance und einem gotisch-nationalen Stil changierte und letztlich einen eklektizistischen und historistischen Weg einschlug. Ab der Jahrhundertmitte machte Paris der italienischen Hauptstadt Konkurrenz. Viele deutsche Maler erweiterten ihren Horizont lieber in Paris als in Rom, um



247

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

der nun als Last empfundenen Vergangenheit auszuweichen. Der Begriff Impressionismus hatte in Deutschland bereits Furore gemacht – häufig diente er als unspezifischer Sammelbegriff einer neuen Kunst, der in etablierten Kreisen viel Ablehnung entgegenschlug. Manche Künstler wurden mit philosophischen Theorien sozusagen über den Umweg der politischen Praxis konfrontiert. Gustave Courbet etwa verdankte seine Herkunft aus einer begüterten Bauernfamilie der vorangegangenen Befreiung der Bauern durch die Revolution, die zudem die Ursache dafür war, dass der Stand fern aller kirchlichen Institutionen lebte. Man kann davon ausgehen, dass in solchen Kreisen über die Ursachen des Daseins reflektiert wurde. Die aufgeworfene Frage nach der Verbindung von Künstlern mit philosophischen Theorien ist also stets im Einzelfall zu prüfen. Wir wissen auch deshalb wenig über die auf welchen Wegen auch immer aufgelesenen theoretischen Konzeptionen, weil im 19. Jh., ähnlich wie im 18., die Architekten ausgiebigere Abhandlungen vorlegten als die bildenden Künstler. Die noch weit über die Hälfte des Jahrhunderts hinaus sich hartnäckig haltende Orientierung am Klassizismus war letztlich der Not des Stilpluralismus geschuldet. Halt gewährte auf diese Weise die Nachahmung der großen Leitsterne wie Antonio Canova, dem Herder und Ludwig I. von Bayern Gedichte widmeten, oder der strengere Bertel Thorvaldsen, der vor allem im protestantischen Norden zum Idol wurde. Christian Daniel Rauch schuf eine Naturalismus und Klassizismus verbindende Figur, der viele folgten. Sie fand Anwendung in der Flut von Denkmälern in ganz Europa, die die sich bildenden Nationalstaaten identitätsfördernd unterstützten. Die sich aus dieser Nachahmung ergebende Einheitlichkeit der stilistischen Darstellung verweist allem Stilpluralismus zum Trotz darauf, dass das Regelsystem noch stark wirkte. Dieses wurde tradiert und dagegen konnte man opponieren. In Italien blieb kaum überraschend bis ins 19. Jh. die klassische Stilrichtung führend. Ebensowenig wird man sich darüber wundern, dass die Künstlerinnen in Italien die verbreitete Griechenbegeisterung durch Werbung für das Römische konterkarierten. Das hatte im 18. Jh. etwa mit Giovanni Battista Piranesi und Angelika Kauffmann begonnen. Kaufmann hatte 1782 in Rom das Haus von Anton Raphael Mengs übernommen und war von Goethe als »vielleicht kultivierteste Frau in Europa« bezeichnet worden. Die in Chur geborene Tochter eines österreichischen Porträt- und Freskenmalers war eine Vertreterin der Winckelmannschen Antikendeutung, aber eben mit Sinn für das Römische. Und sie war als Frau nicht mehr allein in den Künstlerkreisen. Neben ihr, der bedeutendsten, emanzipierten sich eine ganze Reihe von professionellen Künstlerinnen. Der Konstanzerin, im Stil der Nazarener malenden Marie Ellenrieder kam die Ehre zu, als erste Frau zum Studium an der Königlichen Akademie in München zugelassen worden zu sein. Trotz der Widerstandskraft des Klassizismus verlor er in der ersten Hälfte des 19. Jh.s in Europa an Boden. Das Schaurige, ein altes, bereits unter anderem vom Italiener Salvator Rosa traktiertes Thema war in England eine Zeit lang beliebt. Der Autor von Schauerromanen, Horace Walpole, wird uns als Auslöser der Neugotik begegnen. Der

Ermüdung des Klassizismus

3.2.2.1.

248

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Vaughan 1990, 48

Rauch Andreas in Toman 2009, 362

Ebd.

Reschke Renate in ÄGB 5, 419f

Marx 2008 das Panorama

Stoff wurde vom schweizerischen Wahlengländer Johann Heinrich Füssli dramatisch ins Bild gebracht. Er lieferte gleichsam in der Kunst, was Edmund Burke in seiner philosophischen Konzeption des Erhabenen vorgedacht hatte und diverse Romanautoren literarisch umsetzten. Dass man das Schaurige gerne im Dunkel des Mittelalters finden mochte, mag Auslöser für Walpoles extravagantes gotisches Landhaus gewesen sein. Das Schockierende dieser Kunst richtete sich selbstverständlich auch gegen die Tradition der Akademieästhetik und verursachte entsprechende Aufregung. In Spanien war Francisco de Goya y Lucientes eine Figur des Übergangs und für manche atmet seine Kunst »den Geist der Moderne […] Denn er war der anerkannte Führer des künstlerischen Establishments in Spanien und zugleich dessen subversivster Kritiker.« Der eigenwillige und rebellische Kopf, in Italien an der Renaissancemalerei geschult, wurde zur Idealfigur der spanischen Malerei. Der aufgeklärte Künstler ironisierte die Königsfamilie in den offiziellen Porträts ungeniert. Zeitlos ist seine Erschießung der Aufständischen (1814). Das Bild zeigt, wie sich eine gesichtslose Todesmaschine gegen einfache Menschen richtet, die sich in starrer Todesangst dem Schicksal fügen. Goya markiert »eine Zäsur in der Geschichte der Malerei Europas.« Der antiklerikale Künstler befreite die Malerei von ihrer religiösen Grundstimmung und tat etwas, was bisher verpönt war: er gab moralische Stellungnahmen ab. »Damit hat sich Goya von den ›Alten Meistern‹ gelöst, er gehört der Moderne, sein Werk redet die Sprache von heute.« Mit seiner Grafikserie Los Caprichos betrieb er ätzende Kritik und Aufklärung mithilfe der Karikatur (auch wenn der Verkaufserfolg äußerst bescheiden ausfiel). Vor allem die Kleriker wurden in fast schon brutaler Weise bloßgestellt. Das künstlerische Vermächtnis Goyas wurde in Frankreich aufgenommen, bei Eugène Delacroix, Gustave Courbet, Honoré Daumier, dessen mehr als viertausend karikierende und satirische Blätter die Abweichungen des menschlichen Charakters vom idealen Vorbild zelebrierten und damit zu einer Sammlung der Unmoral und Niedertracht wurden – ein epochales Werk der Satire und ein ideales Feld der Sozialkritik. »Die Künste reagieren massiv sozialkritisch auf die bürgerliche Realität mit der Entlassung des Schönen in die Karikatur.« Mit diesen Künstlern stehen wir bereits in der anhebenden Moderne. Deutlich aus der gefügten Ordnung des Klassizismus fiel die Landschaftsmalerei in monumentalen Dimensionen, von denen kaum mehr welche erhalten ist. Eine köstliche Ausnahme ist das Salzburg-Panorama (1825–1829) von Michael Sattler. Das Panorama bot sich nicht nur für Schlachtenschilderungen, sondern auch als Form der Stadtdarstellung an, es wurde neben der traditionellen Vedute zum Massenmedium. Die Vedute war mit ihrer Konzentration auf repräsentative Architektur angesichts der Heterogenität und Unüberschaubarkeit der modernen Großstadt ins Abseits geraten, während das Panorama einen einschneidenden Medienwechsel in der bildenden Kunst markierte. Aber es baute eben noch auf der überblickbaren Gesamtschau auf und konnte der rasanten Entwicklung der dynamischen Stadt auf der einen und den technischen Entwicklungen von Fotografie und Film auf der anderen Seite schon bald nicht mehr folgen.



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Auch in der Bildhauerei gab es in Ansätzen einen Stilpluralismus (Mittelalter, Renaissance), aber in den hundert Jahren zwischen 1750 und 1850 dominierte der idealisierende Rückgriff auf die Antike, der Klassizismus. Im Geiste Winckelmanns und Johann Georg Sulzers kam den Kunstwerken eine Bildungs- und Erziehungsaufgabe zu, sie hatten zur Beruhigung der Leidenschaften beizutragen. Viele Themen der barocken und Rokoko-Skulptur, wo Sinnlichkeit im Mittelpunkt stand, fielen nun weg, dionysische und erotische Erzählungen etwa. Das traf sich mit der bürgerlichen Prüderie der Zeit, die zu den Vorgaben der klassizistischen Pädagogik passte. »Puritanischer Pragmatismus siegt hier über die Akzeptanz der Vielfalt natürlicher Erscheinungen, die Idee über die Realität.« Die Bildhauerei im 18. Jh. brachte wenige große Gestalten hervor, obwohl (vielleicht besser: weil) Winckelmann seine Theorie vor allem auf der Grundlage der Bildhauerei entwickelt hatte. Antonio Canova, der sich spätestens ab 1779 an Winckelmanns Schönheitsideal orientierte, ragte mit seinen makellos proportionierten Körpern als große Künstlerpersönlichkeit des Klassizismus heraus. Jede Emotion, das Alltägliche, sind in perfekter Harmonie überhöht. Am Beispiel des TheseusMinotaurus-Stoffes kann man mit Uwe Geese festhalten: »Den melancholisch sinnenden Moment nach der Tat zu zeigen entsprach den Anforderungen der neuen Kunstanschauung mehr als der traditionelle Aspekt des dramatischen Kampfes mit dem kretischen Ungeheuer.« Auch in der Baukunst engagierte sich Canova und plante eine Tempio Canoviano genannte Kirche für seine Heimatgemeinde Possagno im Veneto, die 1819–1832 vermutlich von Giovanni Antonio Selva gebaut wurde. Sie ist eine Kopie des Pantheon. Neben Canova gilt vielen der Däne Bertel Thorvaldsen als genialster klassizistischer Bildhauer Europas. Freunde nannten ihn einen »dänischen Phidias«. Er kam 1797 nach Rom und feierte den Tag seiner Ankunft fortan als seinen »Geburtstag« und mit ihm den Beginn seiner Künstlerlaufbahn. In Rom war Thorvaldsen Nachbar von Christian Daniel Rauch, der eine Zeit lang im Atelier von Johann Gottfried Schadow gearbeitet hatte. Das Atelier Thorvaldsens war ein Manufaktur-Betrieb, wo sich der Meister zuletzt nur mehr um die kleinen Modellvorlagen kümmerte, die seine Mitarbeiter mit einer ausgeklügelten Kopiertechnik in das große Marmorstandbild übertrugen. Auf diese Weise konnte ein gewaltiges Auftragspensum abgearbeitet werden, ein Œuvre, das heute großenteils das Thorvaldsen-Museum in Kopenhagen füllt. Eine solche bereits ins Serielle gehende Produktion gab es auch bei anderen. Ludwig Schwanthaler etwa war dafür berüchtigt, dass er alle Aufträge annahm und

VII.4.2.4.2.

Maaz 2006, 284 die Bildhauerei

545 / 546 ­Antonio Canova,­Theseus­ gruppe, Ausschnitte (1819); KHM

Geese Uwe in Toman 2009, 264

Ebd., 272

250

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Maaz 2006, 301f Klassizismus und Realismus

Winckelmann, zit. nach Geese Uwe in Toman 2009, 272

1.2.f.

Maaz 2006, 283

Ebd., 303

IX.2.0.

Konersmann 2017

sie dank der Hilfe eines großen Mitarbeiterstabes und mancher schematisierender Abkürzungen auch termingerecht ablieferte. Auch in der Bildhauerei spielte die Kontur, das alte disegno, eine große Rolle. Sie hielt die Stellung des Geistigen und der Klarheit hoch und erfüllte damit ein zentrales ästhetisches Anliegen des Klassizismus – bereits von Winckelmann beschrieben: »Der edelste Kontur vereiniget oder umschreibet alle Teile der schönsten Natur und der idealischen Schönheit in den Figuren der Griechen; […].« Im 19. Jh. kippte der Klassizismus schließlich in den Realismus, ein schwierig zu bewertender Vorgang, der in die Kompetenz der Kunsthistorikerinnen fällt. Der Tiroler Franz Anton Zauner verfolgte einen gemäßigten Klassizismus, während Gottfried Schadow oder Ludwig Schwanthaler eine Nähe zum Griechischen zeigten. Dieses Kippen begann durch das Andrängen nationaler Eigenarten gegen den internationalen Klassizismus. Die Besetzung Europas durch Napoleon war ein Auslöser für nationalistische Gegenbewegungen. Eine deutsche Nationalkunst entstand, freilich eine durch Winckelmanns Griechenland hindurchgegangene, die sich dadurch der französischen überlegen fühlte. Nach dem Revolutionsjahr 1848 wichen die ideale Körperhaltung und die offensichtliche Bemühung um ethische Vorbildwirkung einem neuen »Bekenntnis zur Sinnlichkeit der Menschen, zur Vitalität der Bewegung, zur haptischen Konkretheit der sichtbaren Oberflächen […]«. Die Bildhauerei machte sich auf den Weg in den Realismus. Der schon erwähnte Christian Daniel Rauch, groß geworden im Klassizismus Johann Gottfried Schadows, war neben August Kiss oder Ferdinand August Fischer eine der Übergangsfiguren in der ersten Hälfte des 19. Jh.s. Temperament, Dynamisierung, Leidenschaft prägen seine späten Skulpturen, die mit jenen in der Übergangssituation von der Renaissance in den Manierismus vergleichbar sind. Wie es in Frankreich Delacroix und Antoine-Louis Barye vorgemacht hatten, erscheint die Natur nicht mehr als idealisierte Poesie, sondern als Kampfplatz der besonderen Art. Mit einer Skulptur von Theodor Kalide, ebenfalls ein Schadow-Schüler, könnte man den Klassizismus endgültig beenden und den Übergang in Realismus und Moderne einleiten. Die 1848 vollendete, nur mehr als Torso erhaltene Arbeit Bacchantin auf dem Panther schlug in der Tat ein neues Kapitel auf, eines, das besser zu Ludwig Feuerbach passte als zu Goethe. »Diese Gruppe markiert das Ende klassischer Ruhe und Gefasstheitsideale, überwindet alle romantische Rückwärtswendung und jegliche lyrisch-genrehafte Weltabgewandtheit. Sie formuliert ein nie zuvor dagewesenes Bekenntnis zur Körperlichkeit, zum Lebensgenuss, zur Überwindung sozialer Grenzen und zur Negation falscher Moral.« Der Sprung in eine neue Form der Skulptur geschah mit August Rodin. Heftige Ablehnung und ebensolche Zustimmung prallten aufeinander. Es war ein ähnlicher Streit wie jener zwischen der Regelästhetik und der vermeintlichen Regellosigkeit des Barock. Rodin stand als idealtypische Figur des 19. Jh.s für das Bewegte und Transitorische und fügte sich in den intellektuellen Diskurs der kulturellen Elite Frankreichs. »Ausnahmslos alles sollte nun Bewegung sein – die Bilder, die Töne, die Wörter, die Gedanken und, nicht zuletzt, die Menschen.« Seine Modelliertechnik



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

(modelé) »erzeugt eine lebhaft bewegte, zerwühlte bis amorphe Oberfläche, eine Epidermis, die sich im Gegensatz zu akademischer Glätte die malerischen Phänomene von Licht und Schatten kategorial einverleibt. Man hat das Verfahren auch schon mit Cézannes Farbtextur aus kleinen Pinselschlägen verglichen.« Die Auftraggeber wiesen seinen Balzac (1897), um den es einen riesigen Skandal gab, empört zurück. Aber um 1900 hatte sich gleichzeitig die Einstellung zur modernen Kunst so weit gewandelt, dass Rodin während der Weltausstellung 1900 in Paris Werke im Wert von 200 000 Francs verkaufte. Das Dynamische, ja Effektvolle speiste auch die Jugendstil-Plastik. »Vornehmlich die Bewegungsmotive des Tanzes konnten sich in den Dienst einer Formen­ emanzipation stellen, die kinästhetische Abstraktionen freisetzte.« In dieser Stimmung der Präferenz des Dynamischen und der Alltagswelt setzte sich eine neue dokumentarische und künstlerische Technik durch, die Fotografie.

Wolf Norbert in Kohle 2008, 248

Hohl Reinhold in SK IV, 109 Wolf Norbert in Kohle 2008, 248

3.1.2. Die Anfänge der Fotografie Am 19. August 1839 betrat der Physiker François Arago in der Französischen Akademie der Wissenschaften in Paris das Rednerpult und stellte eine neue Reproduktionstechnik vor, das fotografische Verfahren. Es war vom französischen Theater- und Dioramenmaler Louis Jacques Mandé Daguerre zusammen mit Joseph Nicéphore und dessen Sohn Isidore Niépce entwickelt worden. Nur Arago war als Mitglied der Akademie zum Vortrag berechtigt. Nach dem Tod von Niépce konnte Daguerre die weltweite Begeisterung über die Neuheit alleine auskosten und von dem nach ihm benannten Verfahren der Daguerreotypie auch finanziell profitieren. Die ursprüngliche Motivation war eine andere gewesen. Man suchte nach einer Möglichkeit, bei der von Alois Senefelder entwickelten Lithografie von dem auf das Altmühltal beschränkten Solnhofer Marmor unabhängig zu werden. Es gab bereits vor Niépce und Daguerre etliche Experimente zur Herstellung von Lichtbildern, aber keines davon schaffte den Durchbruch. Der über acht Stunden auf eine asphaltbeschichtete Zinnplatte belichtete Blick aus dem Fenster in Le Gras von Joseph Nicéphore Niépce ist die älteste bekannte Fotografie (Heliographie) der Welt. Sie entstand 1826 oder 1827 in seinem Wohnhaus. Die Aufnahme wurde 1898 in einer Ausstellung in London gezeigt, war dann lange verschollen, bis sie 1952 von Helmut und Alison Gernsheim wiederentdeckt werden konnte. Das neue Verfahren löste in der zweiten Jahrhunderthälfte einen regelrechten Boom aus. Es dauerte allerdings eine ganze Weile, bis die Fotografie als Kunstform akzeptiert wurde. Anfangs wurde ihr Kunstcharakter durch die möglichst weitgehende Annäherung an die malerische Porträtkunst zu erreichen versucht, bis man

Daguerreotypie

547 ­Blick in das ­Nicephore Niepce-­Museum; ­Chalon-sur-Sâone

252

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Stiegler 2010, 21

Amelunxen 1998, 131

Frizot 1998c Frizot 1998b, 27 Koschatzky 1989a, 56ff V.3.3.1.

Drude Christian in Kohle 2008, 412

um die Jahrhundertwende ihr eigenständiges Potential entdeckte. Umgekehrt gesehen, brachte die Fotografie durch die Möglichkeit der technischen Reproduzierbarkeit zwar keineswegs das von vielen Zeitgenossen befürchtete Ende, aber doch eine gewaltige Veränderung der Kunst. Letztlich ermöglichte sie der Malerei die Befreiung vom Realismus und die Ausbildung einer neuen Ästhetik. Den Realismus konnte die Fotografie offensichtlich besser umsetzen, »die Fotografie ist das technische Medium des Realismus.« Terminologisch besser müsste man von Naturalismus sprechen. Zum Unterschied vom abbildenden Naturalismus hat der Realismus gesellschaftskritische und politische Ambitionen. Die Fotografie war damit gleichsam ein Katalysator. Sie selbst passt wie kaum ein anderes Genre der Kunst in das 19. Jh.: »Die Modernität der Fotografie zeigt sich in ihrer Verbindung zum Ereignis, zum Unerwarteten, zur Aktualität und zum zeitgenössischen Leben. Mit der Verkürzung der Zeit zwischen Ereignis und Aufnahme wurde der Fotograf mehr und mehr zum direkten Augenzeugen.« Trotz der bekannten Namen aus der Anfangszeit ruhte die Entstehung der Fotografie auf vielen Schultern; ein eigentlicher Erfinder kann nicht benannt werden. In seltener historischer Kongruenz entwickelten der Franzose Hippolyte Bayard und der Engländer William Henry Fox Talbot im gleichen Jahr 1839 unabhängig voneinander den Vorläufer der Papierfotografie auf der Basis eines in Jodkalium getränkten Silbernitratpapiers (Kalotypie, auch: Talbotypie). Talbot, selbst ein bedeutender Fotograf, hatte bereits im Januar 1839 seine »Kunst der photogenischen Zeichnung« in der Royal Society in London vorgestellt. Er konnte sich damit aber vorerst gegen den Daguerreotypie-Boom nicht durchsetzen. Das lag einmal an den hohen Lizenzgebühren, die er verlangte, aber auch an der bestechenden Klarheit der auf einer Metallplatte basierenden Daguerreotypien. Trotzdem wies das Negativ-Positiv-Prinzip Talbots, wo von einem Negativ mehrere Abzüge gemacht werden konnten, in die Zukunft der Fotografie. Michael Faraday nannte diese Ergebnisse Photogenic Drawings. Der Begriff klang ähnlich wie der ebenfalls 1839 von John Herschel vorgeschlagenen Ausdruck Photo-Graphic. Die Daguerreotypie wurde mit einer Camera obscura angefertigt. Dessen Geschichte reicht weit zurück. Sie begegnet uns erstmals bei Alhazen. Leonardo da Vinci beschrieb sie, Athanasius Kircher berichtete (in seiner Ars Magna Lucis et Umbrae) 1646 von einer ersten transportablen Camera obscura in der Größe eines Gartenhäuschens. Sie hatte vier in die Himmelsrichtungen weisende Linsenöffnungen. Der Künstler konnte die Einrichtung durch eine Falltüre betreten und im Inneren das Bild auf einen transparenten Zeichenschirm abzeichnen. Der Mönch Johannes Zahn baute das erste wirklich handhabbare Gerät und experimentierte mit verschiedenen Brennweiten. Die Projektionen wurden abgepaust. Die älteste bekannte Daguerreotypie datiert aus dem Jahr 1837. Daguerreotypien waren Unikate und hatten lange den Status eines Kunstwerks und Schmuckstücks inne, als kolorierte Unikate »erinnerten sie an Miniaturen und konnten so beim Publikum an vertraute Gattungskontexte und Rezeptionsgewohnheiten anknüpfen.« Sie besitzen heute einen enormen Sammlerwert.



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Die Herstellung der Daguerreotypien war komplex. Mit Joddampf beschichtete Silberplatten wurden mit Quecksilberdampf entwickelt. Die Lichtempfindlichkeit der Silbersalze war seit langem bekannt und der aus der Nähe von Magdeburg stammende Universalgelehrte Johann Heinrich Schulze kam der Anwendung schon ein Jahrhundert früher sehr nahe. Sie mussten verglast werden, um sie vor weiterer Oxydation zu schützen. Die Entwicklung einer Technik zur Fixierung einer geschwärzten Silbersalzplatte dauerte erstaunlich lange. Thomas Wedgwood war aus dem Interesse, Vorlagen für das Wedgwood-Geschirr seiner väterlichen Keramikmanufaktur zu finden, auf die Erzeugung echter Fotografien mithilfe einer camera obscura auf lichtempfindlichem Papier gestoßen, allein er scheiterte an der Fixierung der Aufnahmen. Die erste praktikable Technik dazu (Fixiernatron) fand der Engländer John Frederick Herschel. Die Reaktionen auf die offizielle Bekanntgabe der Fotografie um das Jahr 1839 von Seiten der Künstler waren enorm. Es gab eine verbreitete Sorge vor einer Bedrohung der Kunst. Andere Autoren wie der Herausgeber des Kunstblatts Ludwig Schorn und sein Paris-Korrespondent, der Kunstkritiker Eduard Koloff, mahnten zur Besonnenheit und drehten den Spieß geradewegs um. Sie sahen für die Kunst eine neue Zeit anbrechen, wo man sich nicht mehr mit einem geistlosen Nachzeichnen abfinden werde: »Man hat demnach sehr Unrecht, wenn man glaubt, der Daguerrotyp werde der Kunst der Malerei großen Schaden zufügen. Er schreibt die leblose Natur ab; die Beobachtung der lebenden, und der Geist sie zu fassen ist ihm fremd; noch weniger weiß er von Erfindung und freier Darstellung dessen, was unsere Phantasie und unser Gemüt bewegt.« Noch Susan Sontag bringt eine ähnliche Kritik an der Fotografie vor. Sie sei nicht eine Interpretation der Wirklichkeit, sondern »eine Schablone […] oder eine Totenmaske.« Charles Baudelaire, der selbst um 1854 vom bedeutenden Fotografen Nadar abgelichtet worden war, befürchtete genau aus diesem Grund der strengen Mimesis von Fotografien negative Auswirkungen auf die Kunst und lancierte einen heftigen Angriff auf die Fotografie. Eben weil die Fotografie die Naturnachahmung so perfekt befriedige, wecke sie eine Erwartungshaltung an die Kunst, das Gleiche zu tun. In der Kunst ginge es aber um Einbildungs- und Intuitionskraft. Mit der Fotografie dringen falsche Vorstellungen und die Industrie in das Reich der Kunst. Sie sei bestenfalls eine »bescheidene Magd der Künste«, beschied er in seiner Salon-Besprechung von 1859. Zudem schob sich die Aversion gegen die meist wohlbestallten Fotografen in seine Argumentation. Der reiche Berufsfotograf gegenüber dem verarmten Maler war ein Sujet von Karikaturen. Dass Fotografie überhaupt in eine Kunstausstellung gelangte, zeigt, dass man mit ihrem Kunststatus schon früh kokettierte. Auch die Bibliothèque Nationale in Paris sah das anders als Baudelaire. Seit 1851 mussten die Verleger der Veröffentlichungen von Fotografen Pflichtexemplare abgeben. Die Fotografie war damit der Grafik gleichgestellt. Andere Institutionen folgten. Anfangs waren es Optiker, Apotheker, Chemiker, Buch- und Kunsthändler, die das Verfahren in den größeren Städten anboten. Nach Verbesserung der Techni-

Fotografie und Kunst

Schorn/Kolloff in Stiegler 2010, 33 Sontag, zit. nach Kemp/ Amelunxen 1999, III, 244

Frizot 1998d, 93

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Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Talbot 1844, 166f

Glasnegativ und Papierpositiv

Cachin 1991, 288 548 ­Honoré ­Daumier, ­Karikatur, ­Lithographie; MNN

ken kam die Daguerreotypie für die Porträtkunst zum Einsatz. 1841 eröffnete Hermann Biow, ursprünglich Porträtmaler, in Altona in Hamburg das erste Fotoatelier in Deutschland. König Friedrich Wilhelm IV. ließ von Biow Bilder von sich und seiner Familie anfertigen. Von einem großen Brand, dem Teile des Alsterbezirks in Hamburg zum Opfer gefallen waren, machte Biow zahlreiche Daguerreotypien und schuf damit die erste fotografische Katastrophen-Dokumentation der Geschichte. Der bereits erwähnte Henry Fox Talbot beschrieb 1844 mit Blick auf eine Abbildung, die ein offenes Tor mit einem an die Mauer gelehnten Besen zeigt, worauf es in der Fotografie (als Sonderfall der Bildkunst) ankomme: »In der holländischen Malerei gibt es genügend Belege dafür, daß alltägliche und vertraute Gegenstände bildwürdige Themen sein können. Das Auge des Malers wird oft auf Dingen verweilen, an denen der Durchschnittsmensch nichts Bemerkenswertes findet. Ein zufälliges Glänzen des Sonnenlichts, ein Schatten auf dem Wege, eine verwitterte alte Eiche oder ein mit Moos bedeckter Stein genügen, um Gedankenfolgen, Empfindungen und bildliche Vorstellungen wachzurufen.« In den Ateliers, die in ganz Europa aus dem Boden sprossen, wurden unzählige Porträt-Daguerreotypien hergestellt. Der Aufwand dabei war außerordentlich. Durch die lange Belichtungszeit mussten die Köpfe in Schraubstöcken eingespannt, Gesichter zu Kontrastzwecken gepudert werden und dazu reichlich Licht vorhanden sein. Zudem ist sowohl Jod als auch Quecksilber giftig. Hermann Biow dürfte an einer Quecksilbervergiftung gestorben sein. Um 1850 gelang eine verbesserte Kalotypie-Technik. Man könnte sie als Kombination von Glasnegativ und Papierpositiven ansprechen. Louis-Désiré Blanquart-Évrard führte das Albuminpapier auf der Basis von Hühnereiweiß ein, das feine Zeichnungen zuließ, die Belichtungszeit senkte und in entwickeltem Zustand lichtbeständig war. Erst jetzt konnten beliebig viele Abzüge von einem Negativ angefertigt werden. Blanquart-Évrard betrieb in Loos-lesLille eine Imprimerie Photographique zur Produktion von fotografischen Drucken. In zwei Dutzend Fotobänden publizierte er alle wichtigen französischen Fotografen und es handelte sich um eine »der reichsten Perioden der französischen Photographie, derjenigen der ›Primitiven‹, die um 1860, als sich die mit Kollodium behandelte Glasplatte durchzusetzen beginnt, zu Ende geht.« Auch Blanquart-Évrard gelang es aber nicht, die Fotografie so zu standardisieren, dass sie zu einem preiswerten massentauglichen industriellen Medium werden konnte. Der Wiener Physiker Josef von Petzval entwickelte lichtstarke Objektive, wodurch die Belichtungszeiten weiter drastisch gesenkt werden konnten. Herstellung und Vertrieb der neuen Kameras übernahm Petzvals Freund Peter Wilhelm F. Voigtländer. Die technischen Fortschritte nahmen nun Fahrt auf und eine Reihe neuer Entwicklungen machten aus einer teuren und anspruchsvollen Unternehmung eine verbreitete Reproduktionstechnik und schrittweise ein industrielles Massenmedium, das eine fortentwickelte visuelle Kultur beförderte.



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Die Fotografie war ein beliebtes Thema bei Weltausstellungen und die Anwendungsgebiete der neuen Technik erhöhten sich. Umfangreiche Gebiete wurden erschlossen: Reisefotografie, Architekturfotografie, die beliebten Visitenkarten-Porträts mit ihren standardisierten Posen, die man in eigens dafür erzeugten Alben sammeln konnte. Dokumentationsfotografie diente der Darstellung von entstehenden Bauwerken. Die wachsende Zahl von Fotografie-Kritikern erkannte, auch wenn ihre Methode an die Malerei-Kritik angelehnt war, bei den individuellen Stilen der Fotografen, dass dieses neue Medium »nicht ein automatisches Erfassen der Realität ist, sondern eine Interpretation der sinnlich wahrnehmbaren Welt und damit eine künstlerische Ausdrucksform.« Mit Hilfe der neuen Technik konnte man den Menschen in Europa die Kunst und Architektur fremder Länder näher bringen. Joseph-Philibert Girault de Prangey verglich in seinen Daguerreotypien europäische und islamische Bauwerke unter ästhetischen Gesichtspunkten. Joseph Albert, königlicher bayrischer Hoffotograf, publizierte nicht nur Kostümporträts des Bayreuther Festspielhauses, sondern dokumentierte die Innenausstattung von Schloss Versailles als Vorlage für das Schloss Herrenchiemsee. Der Schlesier Ludwig Belitski brachte ein achtbändiges Tafelwerk (Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker; 1855–1862) heraus, in dem er Kunstgewerbeobjekte aus dem Museum des Berliner Kunstmäzens Alexander von Minutoli dokumentierte. Viele Maler nutzten die neue Technik zu Dokumentationszwecken bei der Landschaftsmalerei. Man lichtete die Landschaft ab und malte das Bild im Atelier nach der fotografischen Vorlage. Auch arrivierte Maler wie Dominique Ingres oder Eugène Delacroix entdeckten die Fotografie. Schon Goethe hatte die Camera obscura zur Erzeugung von Vorlagen für seine Landschaftsbilder genützt. Walter Koschatzky wundert sich, dass Goethe, der über die Lichtempfindlichkeit der Silbersalze Bescheid wusste und in seiner Farbenlehre sogar die Fixation des Sonnenspektrums auf einer Silberchlorid-Schicht beschrieb, diese beiden Kenntnisse nicht zusammenführte. »Kaum ein Mensch zu diesem Zeitpunkt stand so knapp vor dem entscheidenden Schritt zur Photographie und sogar zur Farbaufnahme.« Vor allem die Kalotypie hatte bald einen künstlerischen Anstrich, während die Daguerreotypie der Wissenschaft zugeordnet wurde. In Deutschland kam dem Berliner Fotografen Hermann Wilhelm Vogel das Verdienst zu, durch Gründung von Vereinen und von Zeitschriften die Szene zu vernetzen und Qualitätssteigerungen auszulösen. 1856 gelang Louis-Alphonse de Poitevin die Erzeugung von Farbbildern im Lichtdruckverfahren auf Papier (Collotypie). Etliche weitere Namen versammelten sich um die Erfindung der Farbfotografie, darunter Louis Ducos de Hauron und Charles Cros, die unabhängig voneinander zu einem ähnlichen Ergebnis kamen. 1881 schließlich gelang es, Zwischentöne darzustellen und eine Drucktechnik für die Fotografie bereit zu stellen. Basis dafür waren die verschiedenen Aquatinta-Verfahren, bei denen über eine flächige Ätzung solche Zwischentöne erzeugt wurden. Georg Meisenbach entwickelte ein Verfahren, das Helligkeitsabstufungen darstellen konnte und bis zum heutigen Offset-Druck recht. Fotografien ließen sich nun vervielfachen.

Ebd.

Koschatzky 1989a, 40

Farbfotografie

256

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Naturalismus und Manipulation

Ebd., 117

Neben den Brüdern Auguste-Rosalie und Louis-Auguste Bisson (die auf der Weltausstellung 1855 einen ersten Preis für ihre Albuminpapierabzüge von Glasnegativen erhielten) und Gustav Le Gray war Gaspard-Felix Tournachon aus Lyon, der sich Nadar nannte, einer der bedeutendsten frühen Fotografen. Der leidenschaftliche Anhänger von Flugapparaten jeder Art ließ sich einen Fesselballon bauen und erschloss der Fotografie die eindrucksvolle Vogelperspektive (1863 wurde er bei einer Bruchlandung in Norddeutschland schwer verletzt). 1853 eröffnete er ein Fotostudio, das ein Treffpunkt der Kunsteliten von Paris wurde. Er organisierte bei sich 1874 eine erste Ausstellung der Impressionisten. Der Schwede Oscar Gustav Reijlander gehört zu den Ersten, die die Fotografie bewusst als künstlerisches Medium einsetzten. Er manipulierte das Bild, setzte es aus mehreren (bis zu 30) Negativen zusammen und löste damit eine große Diskussion über Naturalismus und Manipulation aus. Henry Peach Robinson, einer der führenden zeitgenössischen Fotografen, unternahm Ähnliches wie Reijlander. Ganz in der Manier eines Malers versuchte er eine symbolische Fotokunst zu kreieren. Sein Buch Pictorial Effect in Photography (1869) wurde ein internationaler Bestseller. Man sprach bei seinen Schöpfungen von Piktoralismus und meinte eine nach den Prinzipien der Malerei komponierte Fotografie. Als einer der Urheber des Piktoralismus gilt der gelernte Mediziner Peter Henry Emerson, der sich in die Fotografie vernarrte und im Kreis naturalistischer Maler arbeitete. Sein mit 40 Abzügen auf Platinpapier bebildertes Buch Life and Landscape of the Norfolk Broads (1886) war ein Kunstbuch erster Güte. Emerson achtete streng darauf, ohne jede Manipulation auszukommen. Julia Margaret Cameron spielte in ihren Fotografien bewusst mit dem Einsatz der Unschärfe und unterstrich damit die malerische Ambition. Andere versuchten, den Kunstcharakter der Fotografie durch gestellte Szenen im Sinne der alten Akademie-Porträts zu beweisen. 1840 hatten Alexander S. Wolcott und John Johnson in New York das erste Porträtatelier der Welt eröffnet. Es waren vielfach eher bemühte Unternehmungen, die Fotografie den etablierten Kunstgenres ebenbürtig zu machen. Erst langsam befreite sich die Fotografie von Techniken wie dem Weichzeichner, welcher die Malerei nachahmen sollte, und stellte sich selbstbewusst als eigene Kunstform vor. Welche technischen Hürden die Fotografen damals meistern mussten, zeigt eindrucksvoll ein spektakuläres Experiment. Die Bisson-Brüder, die als Pioniere der Architekturfotografie auf sich aufmerksam machten, hatten 1861 den Ehrgeiz, den Montblanc fotografisch zu erobern: »Geführt von den bekanntesten Bergführern, mit einer Kolonne von 25 Trägern für die Apparate, Utensilien, Chemikalien und Zelte zur Plattenbehandlung, unternahmen sie unter ungeheurem Aufsehen den gewagten Aufstieg. Nach größten Strapazen und Gefahren gelangen schließlich drei meisterhafte Aufnahmen vom Gipfel des über 4800 m hohen Montblanc, zweifellos eine epochale Tat auf dem Weg der Bilderoberung unserer Welt.« Es gab nun sozusagen eine zweite Expeditionswelle, die es unternahm, nach der erfolgten Entdeckung der Welt diese abzufotografieren.



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Ab 1880 revolutionierte die Erfindung der Chromgelatine-Trockenplatte die Fotografie nachhaltig. Die Belichtungszeiten konnten weiter verkürzt werden, erstmals wurde es möglich, auch bewegte Objekte in ein Bild zu bannen. Zur gleichen Zeit wurde der Schlitzverschluss der Kamera erfunden, der kürzeste Belichtungszeiten zuließ. Der Gummidruck ermöglichte eine außerordentlich schöne Oberflächenbehandlung. Robert Demachy gab zusammen mit dem Fotografen Alfred Maskell 1896 ein Lehrbuch über seine neue Erfindung heraus: Le procédé à La gomme bichromatique on Photo-Aquatinte. »Die verfeinerte Ästhetik der Jahrhundertwende mußte hier geradezu eine ihrer adäquatesten Ausdrucksformen finden.« Mit Alfred Lichtwark, ab 1886 Direktor der Hamburger Kunsthalle, war die Stadt ein richtungweisendes Zentrum der Fotografie als künstlerisches Medium geworden. 1893 fand in der Kunsthalle die erste internationale Fotoausstellung statt. Lichtwark sah visionär in der Amateurfotografie eine große Möglichkeit für die Zukunft. Den Durchbruch zur breiten Anwendung der Fotografie schaffte George Eastman. Er nutzte eine Erfindung von Williston Goodwin, der die unhandliche Glasplatte durch einen Rollfilm auf Celluloid-Basis ersetzte. Eastman konstruierte 1888 eine Rollfilmkamera für jedermann mit 100 Aufnahmen, die der Benutzer nach Gebrauch an Eastmans Firma Eastman Kodak Company schicken konnte und die entwickelten (bis 1896 kreisförmigen) Papierbilder zurück erhielt. »You press the button, we do the rest« wurde 1888 zum weltumspannenden Werbeslogan. Im ersten Jahr wurden 13 000 Modelle der Kamera verkauft. Die Kodak Nr. 1, eine 8x9x16 cm messende Boxkamera, die mit 1/20 Sekunde auslöste, revolutionierte in der Tat nicht nur die Fotografie, sondern die ganze Welt. Die nun einsetzende industrielle Massenfotografie ließ das Phänomen des Kitsches entstehen. »Die Kodak-Kamera von 1888 […] demokratisierte das Medium und senkte die künstlerischen Ansprüche.« Kitsch in diesem Fall als Folge auch der Popularisierung der Kunst durch die Möglichkeit der billigen Reproduktion. Es war dies eine Kunst ohne Tiefsinn und Reflexion, die hierbei nur störten. Die neuen Möglichkeiten der Reproduktion stellten eine Herausforderung für die Frage nach der Originalität dar. Sie war einige Jahrzehnte zuvor wegen der langwierigen und komplizierten Entwicklungs- und Druckverfahren noch kaum ein ernsthaftes Problem. Um die Jahrhundertwende sahen sich die künstlerisch anspruchsvollen Fotografen genötigt, sich in eigenen Vereinen von den um sich greifenden Studio-Fotografen auf der einen und den Amateurknipsern auf der anderen Seite abzusetzen. In solch seriösen Zirkeln betrieb man die Fotografie nun bewusst als Kunst. »Der angeblich seelenlosen Routine gewerblicher Atelierproduktion mit ihren gekünstelten Porträtposen wurde programmatisch das beseelte und natürliche, subjektiv empfundene fotografische Bild gegenübergestellt. Den kunstlosen Schnappschüssen der Knipser begegnete man mit der Forderung nach sorgsam komponierten, bildmäßigen Fotografien.« Erst aus diesem Selbstverständnis der Fotografie als Kunst wuchsen große Fotokünstler heran. Um 1900 entdeckte die Fotografie jene Sujets, die in der Malerei des Realismus bereits verbreitet waren. Mit dokumentarischem Anspruch und einem

Ebd., 261f

Mulligan/Wooters 2012, 345 Kodak Nr. 1

Koschatzky 1989a, 272 Osterhammel 2009, 79 Popularisierung der Kunst

Drude Christian in Kohle 2008, 421

258

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Alfred Stieglitz

9.1.2.

Mulligan/Wooters, 434f

Renger-Patzsch, zit. nach Honnef Klaus in Walther 1998, 637

Drude Christian in Kohle 2008, 411

Film

soziologischen und ethnologischen Blick richteten der Däne Jacob Rijs oder der Soziologe Lewis Wickes Hine ihre Kameras auf Alltagsszenen und erzählten von Sitten und Gebräuchen, von Elend und Freuden. Die Fotografie erhielt eine politische und gesellschaftskritische Dimension, die durch die Verbreitbarkeit eine ganz andere Wirkung erzielen konnte, als es die Bilder naturalistischer Maler je gekonnt hatten. Der in New Jersey geborene Alfred Stieglitz, durch ein Ingenieurstudium in Berlin an der europäischen Kunstfotografie gebildet, wurde zu einem der bedeutendsten Fotografen. Nach dem Vorbild der Sezessionen gründete er 1902 in New York den Camera Club of New York (dann in Anlehnung an die bildenden Künste: The Photo-Secession). Das dazugehörige Organ war die 1903 (bis 1917) ins Leben gerufene luxuriöse Camera Work, die eine der wichtigsten von den vielen einschlägigen Zeitschriften wurde. Sie hatte einen hohen Anspruch und legte Wert auf handwerkliche Fotodrucke, meist Fotogravüren. Sie wurde zudem ein Sprachrohr des von Stieglitz vertretenen Piktoralismus. Stieglitz positionierte die Fotografie als Kunstform in einer Zeit, in der Maler und Schriftsteller, darunter Baudelaire, ihr genau diesen Anspruch absprachen. Allerdings war auch unter ambitionierten Fotografen der Kunstcharakter keineswegs unumstritten. Nicht nur ging es um die Authentizität einer Fotografie im Hinblick auf das Maß der Nachbearbeitung im Labor (wo Stieglitz eher großzügig war), sondern auch darum, ob die Fotografie tatsächlich über ihr ureigenstes Gebiet der Dokumentation hinausgehen sollte. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s traf eine kommerziell gewordene Fotografie mit zahlreichen Amateuren auf eine moderne Welt. »Wolkenkratzer, Straßenbeleuchtung, Telephone, Automobile und Flugzeuge hatte es eine Generation zuvor noch nicht gegeben. Es war eine Welt, die eine radikale Transformation durchlief, gekennzeichnet durch Geschwindigkeit, Bewegung und Energie.« Albert Renger-Patzsch zeigte in einem Bildband (Die Welt ist schön; 1928) sachliche und klare Aufnahmen von Pflanzen, Tieren, Maschinen, Industrieanlagen im Sinne des von Gustav F. Hartlaub geprägten Begriffs der Neuen Sachlichkeit. Die Stärke der Fotografie liege in ihrem Realismus: »Um Eindrücke, die man vor der Natur, der Pflanze, dem Tier, vor den Werken der Baumeister und Bildhauer, vor den Schöpfungen der Ingenieure und Techniker empfindet, wiederzugeben, besitzen wir in der Fotografie das zuverlässige Werkzeug.« Sukzessive ordnete sich die Fotografie schließlich in die Strömungen der Kunst ein, sodass man im Sinne eines Hinweises von Christian Drude die Fotografie nicht als eine Kunst neben anderen wahrnehmen sollte, sondern sie »im System der Künste« verorten kann. Man kann mit guten Gründen auch eine eigene Philosophie der Fotografie in Frage stellen und sie, abgesehen von der Eigenart des Genres, in die Philosophie des Kunstwerks oder des Bildes integrieren. Daher wird die Fotografie im Weiteren als Teil der bildenden Künste behandelt werden. Zunächst sei jedoch noch ein Blick auf den Übergang von der Fotografie in den Film geworfen. Die Fotografie hatte stets den Reiz besonders naturalistischer Mimesis, sodass auch um die Bemühung um die dritte Dimension gerungen wurde. Um 1850 experimentierte man mit der Stereofotografie. Zwei Aufnahmen unter



259

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

verschiedenem Winkel wurden mit einem Stereoskop betrachtet und ergaben ein dreidimensionales Bild. Um 1788 schuf der irische Porträtmaler Robert Barker zylindrische Gemälde, die man betreten und von der Mitte aus wie ein Illusionstheater betrachten konnte. Er nannte sie Panoramen (griech. pan-horama/Allsicht) und ließ sie patentieren. In London wurde dafür eigens ein Ausstellungsgebäude errichtet. Es gab eine ganze Palette von neuen medialen Bildformen, die Walter Benjamin in seinem Passagenwerk auflistete: »Es gab Panoramen, Dioramen, Kosmoramen, Diaphanoramen, Navaloramen, Pleoramen […], Fantoscope, Fantasma-Parastasien, Expériences fantasmagoriques et fantasmaparastatiques, malerische Reisen im Zimmer, Georamen; Optische Pittoresken, Cinéoramen, Phanoramen, Stereoramen, Cykloramen, Panorama dramatique.« Das Diorama glich den größten Nachteil des Panoramas aus, indem es auch Bewegung zeigen konnte. Im Diorama, das zwar keine Rundumsicht mehr bot, lief ein Geschehen ab wie in einem Film. Eine Reihe von Laufbildmedien überbrückte die kurze Spanne bis zu Kinematographie und Film. Grundsätzlich gab es bei den frühen Fotografen kaum ein besonderes Interesse, Bewegung darzustellen. Nur wenige widmeten sich ausdrücklich diesem Thema. Zunächst wurde mit kompliziert aufgebauten Kameraanordnungen gearbeitet, um Serien von Fotos mit Bewegungsabläufen zu erhalten. Federführend dabei waren Eadweard J. Muybridge und Étienne-Jules Marey. 1883 entwickelte Marey einen Chronofotografen mit rotierendem Schlitzverschluss und zehn Öffnungen auf einer Platte. Bei diesem Apparat stand das Interesse an physiologischen Forschungen im Vordergrund – Marey war ein Pionier der Blutdruckmessung – und kaum eine ästhetische Ambition. 1886 konnte Ernst Mach erstmals die Druckwelle eines Projektils fotografieren. »Die innovative Konzeption der Chronofotografie, die seinerzeit kaum wahrgenommen wurde, erstreckte sich auf drei Bereiche: Die Fotografie diente als Werkzeug zur wissenschaftlichen Aufzeichnung jedes beliebigen Sujets, sie produzierte daneben auch wenig realistische, verfremdete Bilder der realen Objekte, und half schließlich, das Problem der Bewegungsrekonstruktion zu lösen.« Mareys Chronofotografien faszinierten die italienischen Futuristen und viele abstrakte Maler. Er interessierte sich indes nicht für den Film, weil dieser nur Sachverhalte zeige, die man mit dem Auge auch verfolgen könne und keine Zusatzinformation liefere. Die Ablösung der alten statischen camera obscura-Welt durch dynamische Formen wurde geradezu zum Kennzeichen der Moderne und von Künstlern und Literaten entsprechend gewürdigt. 1895 zeigten die Brüder Louis und Auguste Lumière zusammen mit dem Ingenieur Jules Carpentier in Paris erstmals bewegte Bilder. Die Technik war gleich serienreif und verbreitete sich rasend schnell in der gesamten Welt. Am Anfang des tonlosen Films stand die Reportage über alle denkbaren Themengebiete, wobei in den ersten Jahren viele Szenen diverser Ereignisse in Ateliers nachgestellt und als authentisch ausgegeben wurden. Die Stummfilm-Zeit endete bereits 1927. Ein Jahrzehnt später begann der Farbfilm, der sich allerdings nur langsam durchsetzte.

Benjamin 1982, 655

Frizot 1998e, 250

9.1.1.

260

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

3.2. Die Architektur

Åman Anders in Zeitler 1966, 170

Pevsner 1943, 421

Ähnlich wie im Fall der bildenden Künste ist auch die Architektur des 19. Jh.s ein schwierig zu bewältigender Komplex, auch wenn sich wie im 18. Jh. reflektierte Positionen eher in Architekturtraktaten finden. Anders Åman beklagte 1966 die schlechte Erschlossenheit der Architektur des 19. Jh.s. Dabei ist es nicht so, dass das Feld nicht durch eindrucksvolle Überblicke durchaus beackert worden wäre. Etwa durch das monumentale Werk von Dagobert Joseph, Geschichte der Baukunst, von 1909. Doch ähnlich wie in diesem Fall handelt es sich meist um aufzählende und wenig strukturierte Darstellungen. Man hat den Eindruck, als wäre für die Autoren der Abstand zum behandelten Thema noch zu gering. Das 19. Jh. ist das erste ohne einen flächendeckenden Stil. Das Vakuum füllten ein eklektizistischer Pluralismus und die Neuauflage bisheriger Stile. Um diese Eigenheit wurde kontrovers diskutiert. Sollte man darin eine Schwäche oder eine Stärke der Zeit sehen? Wäre also eine Verlustanzeige gegenüber einer verbindenden und verbindlichen kulturellen Erzählung zu bilanzieren oder der Gewinn an Freiheit gegenüber einer solchen universell normierenden Idee? War das Hantieren der Architekten mit verschiedenen Stilen und Moden eine auf billige Effekte ausgerichtete Spielerei? Solche Vorwürfe erhoben prominent Hans Sedlmayr, aber auch der Mitinitiator von CIAM, Sigfried Giedion. Der ebenfalls kritische Nikolaus Pevsner sprach von einem »›Maskenball‹ der Baukunst« und einem »bunten Wechsel von Bauformen der verschiedensten Zeiten und Völker.« Ähnlich, aber mit religiösem Interesse, argumentierte Alfred Kamphausen, der in der Neugotik einen Ausdruck der Krise und über die Form den Verlust von Werten und von Gott beklagte. Anderer Meinung waren Leute, die sich mit Archäologie und Geschichte der alten Kulturen beschäftigten, wie Charles Robert Cockerell, der an der Royal Academy lehrte, oder Thomas Leverton Donaldson und Alfred Bartholomew. Sie würdigten Eklektizismus und Stilpluralismus als eigenständige theoretische Positionen. Die Tendenz zu Zweckbauten, Fabrikhallen, Brücken, Bahnhöfen, hielt an. Dazu kamen als neues Genre Bauten für den Tourismus. Neue Bauaufgaben erwuchsen aus dem entstehenden Tourismus. Die in England geläufige Grand Tour wurde zu Beginn des 19. Jh. mit den ersten dampfbetriebenen Verkehrsmitteln einfacher und billiger, damit für ein größeres Publikum attraktiv. Der Bildungsinhalt trat zugunsten der Vergnügungsreise zurück. 1841 bot Thomas Cook die ersten organisierten Gesellschaftsreisen an. Wir verdanken dieser Zeit die klassizistischen Hotelpaläste

3.2.1. Das Ende des Klassizismus Bisweilen scheint diese Diskussion zu übersehen, dass bereits die romantische (klassizistische) Idealisierung eine so große Distanz vom (klassischen) Original erreichte, dass man den daraus resultierenden Lösungen kaum mehr die Legitimität der klassischen Stiloption zusprechen kann. Man setzte vitruvianisch und palladianisch normierte Bauten in eine Zeit, in der die zugehörigen philosophischen Metaerzählungen längst verloren waren. Das durchkreuzte die Stimmigkeit eines Epochenstils und öffnete einer ungehemmten Adaptierung an die Gegenwart Tür und Tor.



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Wenn man die antike Forderung nach Nachahmung der Natur zugrunde legte, ließ sich diese je nach Vorliebe zeitgleich mit Rückgriffen auf die Renaissance, die Gotik oder auf einen ägyptischen Papyrussäulenwald umsetzen. Indem der Klassizismus durch die Pluralisierung der Stile zu einem Funktionalismus fand, arbeitete er an seiner eigenen Abschaffung und wandelte sich zu einer Propädeutik der Moderne.

3.2.1.1. Die Erosion der Regelästhetik Im 18. Jh. war England ein Umschlagplatz von Ideen in Kunst und Architektur geworden. Weit von einer einheitlichen Theorie entfernt, schwankte der Diskurs zwischen Palladianismus und einer Fülle von revivals. Die wichtigsten davon waren das Greek und das Gothic revival. Eine klassizistische Regelästhetik bildete dabei die mehr oder weniger bindende Klammer. Mit ihr konnte man einen Eklektizismus als eigenständige theoretische Position vertreten und auch noch gegen den Vorwurf der Regellosigkeit argumentieren. Naturgemäß setzte der in England verbreitete Empirismus und Sensualismus einer solchen klassizistischen Doktrin sehr zu und er förderte den Blick auf die konkrete Praxis des Bauens. William Chambers war neben Robert Adam, der – im Gegensatz zu Chambers – an die Stelle eines strengen Regelkanons einen frei assoziierenden Stilpluralismus stellte, einer der führenden und die englische Architektur prägenden Gestalten am Übergang der Jahrhunderte. Er war weit gereist und am französischen und italienischen Klassizismus geschult und machte als Architekt in England mit einem exquisiten, repräsentativen Stil für Anwesen und Stadthäuser der gehobenen Klasse Karriere. In seinem 1759 publizierten Traktat A Treatise of Civil Architecture, der aus seiner Lehrtätigkeit an der von ihm 1786 mitbegründeten Royal Academy hervorging und mehrere Auflagen erlebte, untermauerte er seine praktische Tätigkeit als Architekt, die vom Klassizismus und Palladianismus bestimmt war. In solchem Kontext war er ein Gegenspieler des freieren Robert Adam. Allerdings war auch Chambers’ Klassizismus keineswegs konsequent. Seiner Hand entstammte eine bunte Mischung von exotischen Bauten, von Pagoden über Moscheen bis zu gotischen Kathedralen – meist in miniaturisierter Form als Accessoires für Gartenanlagen. In diesem Metier konnte er ungehemmt Anregungen seiner Reisen in den Nahen und Fernen Osten umsetzen. Nur für diesen Zweck ließ er diese im späteren 18. Jh. verbreitete Mode zu. Überall in Europa »bevölkern sich nun die Parks mit Eremitagen und Solitüden, mit Fasanerien und chinesischen Teehäuschen, mit Nymphenbädern und Plutogrotten.« Chambers rechtfertigte solches Tun mit Blick auf die großen Villenanlagen der römischen Kaiserzeit, die eine ähnliche Möblierung duldeten. Ästhetisches Kriterium für Chambers war der Blick der Betrachterin. Imagination ging vor wissenschaftlichen Verstand. Die Ursache der Begeisterung für die chinesischen Gärten sah Chambers (er baute im Park von Kew eine chinesische Pagode) nicht zuletzt darin, dass die Gartenarchitekten geradezu Maler und Philosophen waren, die mit ihrer Gartengestaltung starke Gefühle bei der Betrachterin auslösen konnten. Darin folgte er den Ansichten Joseph Addisons, ergänzte diese aber mit dem Hinweis auf mögliche auch übersinnliche Eindrücke neben den rein auf empirischer Erfahrung basierenden.

VII.4.2.4.3.1.

VII.5.2.5.

Keller 1971, 17

Tabarasi 2007, 43 VII.5.2.1.

262

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Engelberg 2004, 267

Kruft 1985, 287

Ruhl Carsten in ATh, 448

VII.4.2.4.

VII.4.2.4.2.

Chambers, zit. nach Kruft 1985, 285; im Orig. kursiv Kruft 1985, 287

Ebd., 298

Pevsner 1943, 390

Um 1780 baute der lothringische Baumeister und Blondel-Schüler Nicolas de Pigage im Park von Schwetzingen eine Moschee. Bemerkenswert bleibt, dass diese Anregungen gleichsam als »exotisches Gewürz« immer noch in das alte vitruvianisch-antike Regelkorsett gezwängt wurden. Der mit Edmund Burke befreundete Chambers sah in einem solchen Stilmix die Spannung von Schönem und Erhabenen. Von da her sollte man sich auch nicht wundern, wenn ihm neben den Vorbildern der römischen Architektur die englische Gotik wichtig war. Er hielt die Erforschung der Gotik für ein wichtiges Desiderat und setzte sich für die Erhaltung der gotischen Bausubstanz in England ein. Von Laugier und Cordemoy beeinflusst, legitimierte er die Gotik »über die Konstruktion.« Chambers’ Treatise vermittelt neben systematischen Aussagen einen Überblick über die Architekturgeschichte, entwickelt hauptsächlich an der Bedeutung der Säule. Im Sinne von Claude Perrault ging es ihm weder um eine Verherrlichung der Antike, noch um eine Architektur nach einem strengen Regelwerk, sondern um eine solche auf der Grundlage empirischer Erfahrung und architektonischer Praxis. »Chambers ergänzt somit die traditionellen Qualifikationen eines Architekten um die ästhetische Praxis des Architekturkenners, der allein auf der Grundlage seines weltgewandten Geschmacks, das heißt seiner ästhetischen Erfahrung, die wahrgenommenen Gegenstände spontan beurteilt.« Neben der römischen Architektur verwies Chambers auf die Leistungen der Ägypter, Assyrer und Babylonier, wobei den Ägyptern die Erfindung von Säule, Kapitell und Gebälk zukomme. Dabei bemühte er sich redlich, die griechische Architektur als fehlerhaft hinzustellen. Indem er sich auf die Schriften des Grafen Caylus stütze, relativierte er die in den Diskussionsrunden in Rom verbreitete Graecophilie zugunsten des Orients, sodass Chambers, der in Rom zwei Jahre lang im gleichen Haus wie Piranesi wohnte, letztlich als »Römer« im griechisch-römischen Streit galt. Auch in diesem Punkt war er anderer Meinung als Robert Adam, der wie sein Bruder James ein Anhänger der griechischen Option war. Mit scharfem Blick hob Chambers die wirtschaftliche Bedeutung guter Kunstwerke hervor, »by some extraordinary good management, there is a treasure never to be exhausted.« Seine Position lässt sich mit einem Satz Hanno-Walter Krufts zusammenfassen: »Chambers gelangt zu keinem geschlossenen theoretischen System. Man spürt die Berührung mit dem Sensualismus Edmund Burkes, doch bleibt Chambers immer ein Pragmatiker, der jedem System letztlich misstraut.« Angewandt auf die Gartenarchitektur wird Kruft deutlicher: »Chambers Werk ist die Übersteigerung einer Möglichkeit der sensualistischen Theorie des Landschaftsgartens, der sich vor allem auf die Nachahmung der einfachen Natur berief.« Robert Adam, den seine Grand Tour über Rom auch nach Split geführt hatte, wo er einen stattlichen Forschungsband über den Diokletianspalast (1764) verfasste, baute nach allen Vorbildern, die ihm bei seinen Reisen unterkamen. Zwar gilt er als der »Vater des Classical Revival«, aber sein Neoklassizismus war wenig streng. Fern von einem engen Regelwerk ging es ihm einzig darum, für den Betrachter einen überraschenden und dynamischen Eindruck zu erzeugen. Dazu dienten ihm alle Stilrichtungen als Vorlagen und zur Steigerung der Spannung auch Kopien antiker



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Statuen. Es entstanden überladene Privathäuser in verschiedenen Stilen und mit reicher Dekoration als eine spezifische Form des Landhauses wohlhabender und gebildeter Bürger, die einen Gegensatz zu Palladios Vorgaben darstellten. Das Bauen war vielfältiger geworden, man baute Palazzi der Renaissance im Geiste Palladios (Charles Barry, Traveller’s Club in der Pall Mall in London), man baute griechisch (oder was man dafür hielt), Landhäuser etwa, die John Soane aus griechischen Bauelementen zusammenkomponierte. Soane interessierte sich auch für ägyptische Vorlagen. Nach Napoleons Ägyptenfeldzug 1798 waren ägyptisierende Elemente zu einer regelrechten Mode geworden. Er kam 1824 in den Besitz des von dem in England lebenden Paduaners Giovanni Battista Belzoni gefundenen Alabastersarkophags Sethos’ I. Soane schuf für diesen und etliche andere Schätze ein eigenes Museum. Derselbe Soane hatte – von Piranesi, den er vermutlich in Rom 1776 getroffen hat, beeindruckt – keine Skrupel, auch römisch zu bauen – nicht umsonst war der als schwierige Persönlichkeit geschilderte Soane von William Chambers gefördert worden. Er stützte sich dabei auf unzählige Studien, Architekturzeichnungen, die er bei seinen Reisen nach Rom angefertigt hatte. Wimpole Hall (1791) erhielt einen überkuppelten Zentralraum mit laternenartiger Lichtöffnung in der Mitte, ähnlich dem Pantheon in Rom. Seine Bank of England 1818 war inspiriert von römischen Thermenanlagen. Oder sollte man sie eher byzantinisch nennen? Das tun manche Beobachter wegen der Lichteffekte, die an byzantinische Kuppelbauten erinnern. Er hinterließ Schriften, die sich an der Tradition der Musterbücher orientierten bzw. Baubeschreibungen seiner eigenen Bauten waren. Darin betonte er die Wichtigkeit von guten Grundrissen gegenüber der Fassadengestaltung und er wies der Ornamentik die Aufgabe zu, die Funktion des Bauwerks zu unterstreichen. Eine unübersehbare Vielfalt von Bauten entstanden in diesen Jahrzehnten in England. Der italienische, seit 1767 in England tätige Architekt Joseph Bonomi gestaltete in Great Packington den Innenraum einer Thermenarchitektur, der von den Villen in Pompeji abgeschaut war. Völlig bar jeder Form war die Architektur von John Nash, der im Sinne des Pittoresken Bauernhäuser (mit Strohdächern und geschnitzten Giebeln) baute, aber auch bizarr-phantasievolle Säulenpaläste aus weißem Marmor und exotische, orientalisierende Pavillons (Royal Pavilion; Brighton 1815– 1822). Auch in den Städten entstanden beinahe Furcht erregende Riesentempel, die als Verwaltungsgebäude, Gerichte, sogar als Gefängnisse (Thomas Harrison, Chester Castle; 1811) und naturgemäß als Museen (Robert Smirke; British Museum; 1852) dienten. Augustus Welby Pugin, der zusammen mit Charles Barry 1835 mit dem Bau des Par­lamentsgebäudes in London beauftragt worden war, brach in seinen Schriften mit dem Klassizismus in der Architektur. Er tat

VII.5.2.5. 549 ­British Museum, Stahlstich anonym (1855)

264

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kruft 1985, 377 3.2.2.1. Ruhl Carsten in ATh, 454

V.8.2.

Pugin, zit. nach Baur 1981, 79

Kruft 1985, 378f

dies mit zu dieser Zeit eher ungewöhnlichen und rückwärts gewandten Argumenten, die noch einmal die reine christliche Kunst einer heidnischen gegenüberstellte. Seiner Meinung nach war die antike Architektur und – mehr noch – ihre aktuelle Auferstehung eine Geschichte des Verfalls. An ihre Stelle sollte die mittelalterliche Form der Gotik treten. Gemessen an den Möglichkeiten des Steinbaus, wie er bei den gotischen Kathedralen Anwendung fand, qualifizierte er die griechische Baukunst als primitiv. »Griechische Architektur wird nicht nur vor dem Hintergrund heidnischen Aberglaubens, sondern als nicht materialgemäße Umsetzung von Holzin Steinarchitektur abgelehnt.« Pugin formulierte einen ästhetischen Paradigmenwechsel gegenüber dem Palladianismus, der spätestens mit Strawberry Hill um 1750 manifest geworden war. Mag es Horace Walpole vielleicht nur um eine Erweiterung des Architekturrepertoires gegangen sein, strebte Pugin nach einer echten Ablösung der alten Formensprache. Bereits sein Vater Augustus Charles Pugin war durch Publikationen zur Gotik (z.B. Specimens of Gothic Architecture) bekannt geworden. Dabei musste es um die »echte Gotik« des 13. Jh.s gehen, den in England verbreiteten Perpendicular Style lehnte er vehement ab. Welby Pugin stellte die Funktionalität der mittelalterlichen Architektur in den Mittelpunkt seiner Argumentation, aber es kam zusätzlich ein kulturphilosophisches, ja sogar moralisches Argument ins Spiel, das auf die religiöse Seite abhob und nicht ganz unähnlich zur Diskussion in der Renaissance erscheint. Pugin war 1835 zum Katholizismus übergetreten und hatte den für Konvertiten nicht unüblichen kompromisslosen Ton. In seinem Traktat Contrasts: Or, a parallel between the Noble Edifices of the Middle Ages, and corresponding Buil­ dings of the Present Day (1836) wird die griechische Architektur als kulturfremd und für eine christliche Baukunst ungeeignet dargestellt. Auch sei es Zeichen der eigenen Unfähigkeit, wenn man für solche Bauwerke auf alte Vorgaben zurückgreift. Solches Tun führte der Konvertit Pugin auf die Schwäche des Katholizismus zurück. Dessen Wiedergewinnung sei zugleich der beste Impuls für eine erfolgreiche Architektur. Denn, so schrieb er an einen Freund, die katholische Kirche sei nach seiner tiefen Überzeugung »die einzig wahre [ist], die einzige, in der der große und erhabene Kirchenbaustil jemals wieder eingesetzt werden kann […].« Vor solchem Hintergrund überrascht es kaum, wenn Pugin das Mittelalter als eine vorbildlich-harmonische Gesellschaft und ihre Architekten als moralisch hochstehend idealisiert. Nur eine solche Gesellschaft konnte die großartige Architektur der Kathedrale hervorbringen. Was Pugin an der Rezeption der Antike kritisierte, machte er selbst mit dem Mittelalter. In seinen Contrasts stellte er stets eine idealisierte mittelalterliche Form als universell gültiges Prinzip den negativ bewerteten Stilen seiner Zeit gegenüber. Pugin ist ein extremer Vertreter einer religiösen Verabsolutierung der Gotik, aber er war mit seinen Ansichten nicht allein. 1839 wurden in Oxford und Cambridge Gesellschaften gegründet, die sowohl wissenschaftlich als auch apologetisch die Aufgabe verfolgten, die Gotik zu fördern. Dabei kam es sogar zu einer teilweisen Rekatholisierung der anglikanischen Liturgie.



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

3.2.1.2. Die neue Sicht des antiken Erbes Die Befreiung Griechenlands hatte weitreichende Folgen für die Rezeption der Antike. Mehr und mehr nahm man die antiken Reste so in den Blick, wie sie waren. Leo von Klenze machte kein Hehl aus seiner Ernüchterung über die spärlichen Trümmer, die er in Griechenland vorfand. Ein solch realistischer Blick bot Voraussetzungen für historische Korrekturen der nostalgisch verklärten Rezeption. Reisende, die nach Ägypten, Griechenland oder Süditalien fuhren, wurden auf die Farbreste auf den antiken Steinen aufmerksam. Bei den unvoreingenommenen Beobachtern führte das zur These einer farbigen Antike. Jakob Ignaz Hittorff, Franz-Christian Gau (Les ruines de Pompei; 1829–1838), Martin von Wagner, Leo von Klenze und andere leisteten die Pionierarbeit zu diesem Thema. Hittorff gilt (nicht zuletzt durch seine Forschungen am Tempel B in Selinunt) als der Entdecker der bunten Antike. Naturgemäß ging dies nicht ohne einen veritablen Skandal vonstatten, war eine bunte Antike doch ein Schlag gegen die idealisierende Antikendeutung, vor allem jene Winckelmanns. Allerdings lässt sich die Idealisierung einer antiken Welt in strahlendem Weiß nicht ausschließlich auf Winckelmann zurückführen. Er hatte selbst Kenntnis von bemalter antiker Kunst, allerdings hielt er eine Bemalung des Marmors für barbarisch und forderte eine klare Trennung von (bunter) Malerei und (weißer) Skulptur und Architektur. Das Weiß entsprach seinem ästhetischen Sinn für Schönheit eher als die Buntheit. Winckelmann, und in seinem Gefolge Antonio Canova, verfolgten eine Ästhetik der Lichtstrahlen reflektierenden Körper. »Die zunehmende Verweißung der Bilder und Bildwerke im Rokoko als Ausdruck einer Kunstwelt, die sich vom Postulat der Naturnachahmung verabschiedete, hat diesen Schritt zur Trennung von Form und Farbe vorbereitet.« Möglicherweise hatte auch Johann Heinrich Meyer, der Kunstberater Goethes, einen größeren Anteil an der Idealisierung des Weiß. Die Ehrfurcht des 18. Jh.s vor der antiken Welt hatte sich inzwischen weitgehend verflüchtigt. Man näherte sich dem Erbe nur mehr mit wenigen Illusionen, dafür mit wachsendem wissenschaftlichen Interesse. Hittorff war mit seiner Theorie dem Klassizisten Antoine-Chrysostôme Quatremère de Quincy gefolgt, der 1815 im Werk Jupiter olympien umfangreiche Studien zusammenfasste, welche die Farbigkeit der antiken Skulpturen bewiesen. Er stützte sich dabei weniger auf die spärlichen archäologischen Befunde als vielmehr auf die Schilderungen der farbigen Kunstwerke in der antiken Literatur, darunter die Beschreibung der farbigen Originalfassung der Zeusstatue in Olympia. Dass ausgerechnet der Winckelmann-Anhänger Quincy einen wichtigen Beitrag zur Polychromie-Debatte schrieb, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Aus Angst vor seiner eigenen Courage versuchte er, die Farbigkeit unter Missachtung seiner Quellen als nur leichte Tönung zu entschärfen. Quincys Geschichtsverständnis konzentrierte sich auf die Griechen. Auf sie gingen Ursprung

1.3.

farbige Antike

550 /551 ­­Farbige Rekonstruktion des Alexandersarkophags; IAM

Prater Andreas in Kat. 2004, 258 Brinkmann 2009

Primavesi Oliver in Kat. 2004, 219–238

266

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kruft 1985, 318

552 /553 ­­Glyptothek (1830); München

Wünsche Raimund in Kat. 2004, 13

3.2.2.

und Gesetze der Architektur zurück. Durch die Verbreitung ihrer Formen durch die Römer seien sie zum Formrepertoire der Welt geworden. Ungenierter ging Henri Labrouste, der als Stipendiat nach Rom und weiter in die Magna Graecia gekommen war, zur Sache und löste mit seiner aggressiv vorgetragenen Farbigkeits-These heftigen und detailverliebten Streit aus. Es ging um Fragen, ob die Skulpturen und Tempel nun ganz oder nur teilweise bemalt waren und ob die Farbe kräftig war oder einer Tönung gleichkam. Insbesondere seine kunstphilosophischen Schlussfolgerungen waren sehr umstritten, etwa die Relativierung der Klassik zugunsten einer eigenständigen (urtümlicheren) archaischen Periode. Die Paestum-Rekonstruktion von Labrouste diente schließlich dazu, »die Vorstellung einer klassischen Architekturnorm zu überwinden und die Forderung einer ›neuen Architektur‹ zu erheben!« Hittorff beschrieb das System der Polychromie in einer 1824 für das Institut de France verfassten Schrift. Zusammen mit Karl Ludwig Wilhelm von Zanth brachte er ab 1827 kolorierte Bauaufnahmen von Sizilien (Architecture antique de la Sicile) heraus, dem weitere Werke zur Polychromie der griechischen Bauten folgten. Hittorff ging es neben der archäologischen Frage auch um die Anwendung der Farbe im zeitgenössischen Bauen. Unter anderem – so meinte er – stelle die Farbe einen Schutz des Baumaterials vor Witterungseinflüssen dar und sei daher im Norden noch angemessener zu verwenden als im antiken Athen. Leo von Klenze zog die Konsequenz, indem er bei der im Auftrag des Kronprinzen und späteren Königs Ludwig I. gebaute Glyptothek in München (1830) Räume und Sockel mit farbigen antikisierenden Werken versah und sich scherzhaft als »Euer Majestät polychroma-

tischer Sekretär« bezeichnete. Vehement forderte Georg Treu, Direktor der Dresdner Skulpturensammlung, die Farbe für die zeitgenössische Bildhauerei. Prominent an der Debatte beteiligte sich Gottfried Semper. Er betrieb bei seinen Reisen nach Unteritalien und Griechenland einschlägige Forschungen. Semper vertrat die These einer kräftigen und flächendeckenden Farbgebung und verwahrte sich in einem Traktat Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten (1834) gegen eine klassizistisch geschönte Nachahmung. Maßstab für die antiken Bauwerke sei ein höherer Geist der Staatsorganisation gewesen und nicht die Bedürfnisse der Menschen. Doch genau darum ginge es in der Architektur! Er kritisierte, ähnlich wie der Karlsruher Baudirektor Heinrich Hübsch, dass die zeitgenössische Architektur durch ihr Verharren im Kodex des Klassizismus längst den Anschluss an die aktuellen Bedürfnisse verloren habe. Gerade das ununterbroche-



267

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

ne Bedürfnis nach Farbe zeige die hohe Symbolträchtigkeit der Architektur, die die natürliche Umgebung widerspiegle. Die Ablehnungsfront gab nicht so schnell auf. Man erklärte die Farbreste für Verunstaltungen aus späterer Zeit. Besonders kämpfte man auch um eine Eindämmung der Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwartsarchitektur. Franz Kugler interessierte sich in seiner Schrift Ueber die Polychromie der griechischen Architektur und Sculptur und ihre Grenzen (1835) um die historischen Fakten. Allerdings verwahrte er sich gegen die umfangreichen Folgerungen Gottfried Sempers. Die Farbe war zu einem Instrument der Kritik des Klassizismus geworden. Sie stand gleichsam für eine »richtige Architektur«, die emotionale Bedürfnisse des Menschen als Maßstab nimmt. Der Klassizismus habe seit der Frührenaissance gewaltsam die Farbigkeit zugunsten einer unnatürlichen Monochromie beseitigt, was Semper eine Barbarei der Monochromie nannte. Die Heftigkeit seines Angriffs auf den Klassizismus erklärt sich aus der zeitgenössischen politischen Situation. Der freiheitsliebende Semper, der 1848 in Dresden für republikanische Ideale auf den Barrikaden gekämpft hatte, sah in der Polychromie einen Ausdruck einer demokratischen Ordnung. Kuglers Distanzierung hatte Semper tief gekränkt und er machte nun seinerseits ihn zum Ziel von heftigen Attacken. Die Debatte wurde auch in England aufmerksam verfolgt. Owen Jones, der selbst (zusammen mit dem früh an der Cholera verstorbenen Jules Goury) eine Untersuchung der Alhambra durchgeführt und 1846 das Werk The Polychromatic Ornament in Italy herausgebracht hatte, gilt als Vermittler. Er verband einen Stilpluralismus mit einer bunten Ornamentgestaltung.

Semper 1834, 20

554 ­­Semperoper (1878); Dresden 555 ­­Hauptbahnhof Amsterdam von Pierre Cuypers (1889); Neorenaissance

3.2.2. »In welchem Style sollen wir bauen?« – Stile im 19. Jahrhundert Diese neue, empirische Sicht der antiken Vorbilder war der endgültige Todesstoß der klassizistischen Regelästhetik. Besonders der kleinlich erscheinende Polychromie-Streit zeigt, dass die Entdeckung der Farbe erhebliche Konsequenzen hatte. Darin klang zugleich eine positive Wertung gegenüber dem Verlust flächendeckender Stile durch, die das 19. Jh. erstmals seit dem Beginn der Kunststile im antiken Griechenland erlebte.

3.2.2.1. Die Pluralisierung der Stile Als Anfang der Relativierung der Stile wird gerne die Schrulle des Schriftstellers und Künstlers Horace Walpole, Sohn des ersten englischen Premiers, genommen, der sich seine Villa Strawberry Hill in der Nähe von London um 1750 in (neu)gotischem

556 ­­Die neoromanische und neobyzantinische Kathedrale La Nouvelle Major (1893); Marseille

III.2.2.4.

268

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kruft 1985, 282f 557 ­­Strawberry Hill House bei Twickenham (um 1750) Sutthoff 1990, 89ff

Baur 1981, 16 Hofmann 2004, 124

VII.5.2.5.

3.2.1.1.

Heinrich Hübsch

Hübsch 1828, 1

Stil erbauen ließ. Er war zehn Jahre vorher auf seiner Grand Tour nach Italien bei den großen französischen Kathedralen vorbeigekommen, darunter jener von Reims, die ihn besonders in ihren Bann gezogen hatte. Allerdings soll Walpole lange zwischen einer gotischen und einer chinesischen Variante seiner Villa geschwankt haben. Walpole erwähnte in seinem Schauerroman The Castle of Otranto (1764) die Freiheit Shakespeares, der verschiedene Realitätsebenen mischte. Genau auf eine solche Freiheit (samt Ironie gegenüber dem eigenen Projekt) berief er sich in einem Briefwechsel mit einem Freund, der ihm skeptisch von einem solchen Abenteuer abriet. Doch Walpole bestand auf dem Unregelmäßigen und Überraschenden, das die Griechen vermissen ließen, und er ironisierte sich gleich selbst als Anhänger eines »venerable barbarism«. Damit klärte uns Walpole über die Motive seiner persönlichen Gotik-Vorliebe auf, die nun gar nichts gemein hatte mit den religiösen Überzeugungen bei Pugin. Eher mag sein, dass sich »ein extravaganter Privatmann in seiner Villa mit dem sakralen Ambiente der Kathedralgotik« umgab, um damit »seinen Lebensstil als antiquarischwissenschaftlich« zu demonstrieren. Dieses »gebaute Gründungsmanifest des Gothic Revival« ist zugleich ein Archi­ tekturbeispiel eines Capriccios, also einer Montage aus verschiedenen Zitaten. Es ist auch ein Beispiel für ein neues ästhetisches Konzept, jenes des Pittoresken, das gegen Ende des 18. Jh.s zur Abkehr von dem klassischen Schönheitsverständnis der Harmonie führte. Diese Entwicklung, an deren Ende die völlige Relativierung von Kunststilen stand, war für den Gang der Architektur sehr wichtig. Sie führte zur Befreiung aus dem Regelkanon des Vitruvianismus, der sie über Jahrhunderte in seinem Bann hielt. Die Architekten legten ihre Projekteinreichungen spielerisch in verschiedenen Stilen vor. Es war der 1795 in Weinheim geborene und in Karlsruhe als Baudirektor tätige Architekt Heinrich Hübsch, der mit dem provokanten Titel In welchem Style sollen wir bauen? (1828) eine Diskussion über den vorherrschenden Klassizismus auslöste. »Die Malerei und die Bildhauerei haben in der neueren Zeit längst die todte Nachahmung der Antike verlassen. Die Architectur allein ist noch nicht mündig geworden, sie fährt fort, den antiken Styl nachzuahmen.« Mit diesen Worten beginnt Hübsch seinen Traktat und verfolgt das Anliegen, die Architektur mündig zu machen, sie von Stilvorgaben, namentlich vom allseits verehrten Vorbild der Antike, zu befreien. Zu dieser Mündigkeit der Architektur gehöre auch, dass sie eine Sprache spricht und bei der Betrachterin Assoziationen auslöst – und dies auf sich allein gestellt und unabhängig von den anderen Künsten. Hübsch forschte persönlich in Italien und Griechenland und kam zu dem Ergebnis, dass sich die römische von der griechischen Architektur deutlich unterscheide und dass sich eine zeitgenössische Architektur in ganz anderen Klimazonen und angesichts moderner Baumaterialien von den antiken Vorlagen nochmals



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

gründlich abheben müsse. Bei den Baumaterialien favorisierte er das Backstein-Sichtmauerwerk, aber auch Eisen überall dort, wo es seine Vorzüge entfalten konnte. Es geht bereits hier um die Idee der Formund Material­gerechtigkeit. Hübschs Stilbegriff zielte ohnehin weniger auf einen historischen Kunststil als mehr auf das grundlegende technologische Prinzip. In einer fernen Vorwegnahme des Prinzips form follows function definierte Hübsch die griechische Baukunst, wo alle Glieder der Architektur eine Funktion erfüllen, als Wahrheit und stellt sie dem »NothbehulfStyl« oder »Lügen-Styl« des Klassizismus gegenüber. Auch ökonomische Argumente brachte er in Anschlag. Demnach würde bei manchen Bauten das Gebäude weniger kosten als die (in unseren Breitengraden unbrauchbaren) Portiken allein. Und angesichts des nordeuropäischen Klimas müsse man zum Schutz »besondere Gebäude über solche Abkömmlinge eines südlichen Himmelsstrichs« bauen. Als Alternative empfahl Hübsch einen von antiken Elementen befreiten an der Romanik angelehnten »Rundbogenstyl«. 1854 verpasste er dem Dom in Speyer in freier Anlehnung an den ursprünglichen Westbau ein neoromanisches Westwerk. Der Leipziger Jurist Christian Ludwig Stieglitz schrieb die vielleicht erste Architekturgeschichte der Neuzeit: Geschichte der Baukunst vom frühesten Alterthum bis in neuere Zeiten (1827). Darin und in seinen zahllosen anderen Werken bewertete er die Stilvielfalt durchaus positiv und empfahl für die verschiedenen Bauaufgaben die jeweils passende Stiloption. Es ging dabei um den griechischen, den byzantinischen und den Rundbogen- oder Spitzbogenstil, denen er die Begriffe Verstand, Malerisch und Romantisch zusprach. Stieglitz war in dieser Frage nicht immer so offen gewesen. In seiner Geschichte der Baukunst der Alten von 1792 war er – ganz Klassizist – noch den Spuren Winckelmanns gefolgt und hatte die Architektur der Alten als edel und erhaben gekennzeichnet. Mit Kaiser Konstantin sei es schließlich zum Niedergang gekommen. Die Auswahl der Stile war inzwischen eine pragmatische Frage der Angemessenheit geworden. In dieser sich von der Regelästhetik entfernenden Architektur gab es kaum mehr eine Rangordnung der Bauten. Anders als etwa in der Renaissance, wo die Kirche noch selbstverständlich die Spitze in der Hierarchie der Bauwerke besetzte, waren nun die Bauaufgaben gleichwertig, es ging einzig um die Wahrung des spezifischen Charakters. Das reichte bis zu einer 1788 anonym erschienenen Charakterlehre von Gebäuden, wo man von der »Physiognomie« des Gebäudes auf den Charakter der Bewohner schloss. Stieglitz entfernte sich von seinem offiziellen Vorbild Vitruv und griff die zu dieser Zeit verbreitete französische Charakterlehre auf. Architektur wurde von einer Regellehre auf Komponenten des Gefühls und der Empfindungen geöffnet. Der Klassizismus war zugunsten eines pragmatischen Stils und eines nationalen Selbstverständnisses aufgebrochen. Wie es scheint, wurde die Stilfrage »zur Dekorationsfrage degradiert, die der Konstruktion unterworfen wird. […] Stieglitz spricht jetzt nur noch von Verzierung, die mit dem ganzen übereinstimmen und nicht bloß zufällig sein solle.« Er umstellt die Arabeske gleichsam »mit Gebots- und Verbotsregeln […].«

Ebd., 23 558 Das Westwerk des Doms zu Speyer von Heinrich Hübsch (1858) Ebd., 26

Christian Ludwig Stieglitz

Philipp Klaus Jan in Toman 2009, 157f

Kruft 1985, 333 Oesterle 1984, 135

270

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Leo von Klenze

Evers Bernd in ATh, 606

Klenze, zit. nach Kruft 1985, 348

Er griff diese Überlegungen in seiner beeindruckenden fünfbändigen Enzyklopädie der bürgerlichen Baukunst (1792–1798), welche das Wissen der Zeit widerspiegelt, wieder auf und stellte an die erste Stelle den Charakter des Erhabenen. Das Erhabene eigne sich besonders für sakrale Gebäude, wo man die Vertikale betonen und dem Gebäude durch hohe Treppen ein würdiges Aussehen verleihen müsse. Solche Angaben setzen sich fort für prunkvolle, schauerliche, sanfte, ländliche Gebäude und dergleichen mehr. 1834 schrieb er Beiträge zur Geschichte der Ausbildung der Baukunst, in denen er die alte Regelästhetik weitgehend über Bord warf und einem Stilpluralismus mit drei bevorzugten Stilen, griechisch, byzantinisch, altdeutsch, das Wort redete. Bei einem Architektenwettbewerb 1813 für den Bau der Glyptothek bot Leo von Klenze mehrere Stilvarianten an. König Ludwig I., der äußerst interessiert die Polychromie-Debatte verfolgte, entschied sich für die antikisierende Variante seines Hof­ architekten. Auch die Alte Pinakothek, die Ruhmeshalle und die Residenz erhielten antikisierende Züge. Klenzes Lehrer an der Bauakademie in Berlin war David Gilly, der Vater von Friedrich Gilly. In Paris begegnete er Jean-Nicolas-Louis Durand, von dem er Anregungen aufnahm. Seine empirische Basis waren archäologische Forschungen und Bauaufnahmen in Sizilien und Griechenland. Im Auftrag des in Salzburg geborenen bayrischen Prinzen Otto I., des ersten Königs von Griechenland, gestaltete er Teile Athens nach klassizistischen Gesichtspunkten um. In seiner Anweisung zur Architectur des christlichen Cultus (1822) beschrieb er eine religionsphilosophisch und ästhetisch fundierte klassizistische Lehre des Kirchenbaus, gründend auf der basilikalen Form. Doch auch hier war er pragmatisch und ging von einem Mustervorrat aus, der sich an die zeitgemäßen liturgischen Formen, aber auch an die regionalen und klimatischen Eigenheiten anpassen ließ. Das Mittelalter hingegen nahm er nur mehr als Verfallszeit wahr, die Gotik spiegle die Spitzfindigkeiten der Scholastik wider. Demgegenüber sei die griechische Architektur die einzig wahre, vollkommenste und schönste gewesen. Mit solchen Einteilungen stand Klenze in klarer Opposition zur Romantik und deren Verklärung der Gotik als deutschem Nationalstil. Allerdings stellte Klenze eine innere Verwandtschaft zwischen dem antik-heidnischen und dem christlichen Kult fest und hielt alle in der Geschichte auftretenden Bauformen für kombinierbar. Sie hingen, wie er sagte, »an einer gemeinschaftlichen Kette mit den Bauarten aller Zeiten […].« Zum Schluss wurde Klenze immer strenger und vertrat eine restriktive und restaurative architekturtheoretische Auffassung. Er wünschte eine staatliche Ordnung für die Architektur und vor allem eine Gleichschaltung des Kirchenbaus, um einer wankenden Kirche wieder eine feste Basis zu geben. Ganz anders als Pugin sah der ebenfalls auf religiöse Gründe abhebende Klenze die Grundlage für eine Kirche in der griechischen Form und verwehrte sich gegen die zeitgenössische Gotik-Begeisterung in dieser Frage. In der Praxis seines eigenen Bauens freilich kannte Klenze weniger Skrupel und verschränkte Gotik oder Byzantinisches leichthändig mit griechischen Elementen.



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Der 1781 in Neuruppin (nördliches Brandenburg) geborene Karl Friedrich Schin­ kel, der auch Bühnenbildner, Maler, Grafiker und Bildhauer war, plante die Kirche am Werderschen Markt in Berlin in drei Stilen (dorisch, korinthisch, gotisch mit ein oder zwei Türmen). Der Gilly-Schüler Schinkel, der sich bei seiner Italien- und Parisreise 1803–1805 (eine weitere Reise nach Italien fand 1824 statt) in die Schriften Fichtes vertieft hatte, nahm vielleicht die praktische Tätigkeit und das Setzen des Nicht-Ichs durch ein Ich sehr ernst. Was er in den Vorlesungen bei Fichte in Berlin und in den Publikationen von Joseph Görres auch kennen gelernt hatte, war ein nationaler Zungenschlag. Schinkel zerstörte geradezu das barocke Berlin und gestaltete mit würfelförmigen Bauten das moderne Berlin, das entweder eine antike oder eine gotische Sprache sprach. Am Anfang bevorzugte er die Gotik, die zum Unterschied von der Materialität der Antike mit dem Geist gekoppelt sei. Das ist ein Gedanke Hegels. Schinkels Gotik hat daher kaum etwas mit dem funktionalistischen Gotikverständnis des Viollet-le-Duc zu tun. Aber die »Verabsolutierung einer romantisch-idealistisch interpretierten Gotik bezeichnet den Moment von Schinkels größter inneren Entfernung vom Klassizismus; […].« Er baute zudem mit Backsteinen, zumal das Geld für den teuren Stein ohnehin fehlte. Er spielte jedenfalls mit diesen Auffassungen eine wichtige Rolle für das Revival der Gotik in Deutschland. Allerdings hielt Schinkels Gotik-Begeisterung nicht ein Leben lang. Er wandte sich vielmehr von der Romantik ab und dem Klassizismus zu. In seinem Architektonischen Lehrbuch sah er im Spitzbogen plötzlich etwas unruhig Dynamisches, wenngleich Funktionales, dem er die wohltuende Ruhe des nach der Vernunft gestalteten antiken Bauwerks entgegen setzte. Seine Theorie basierte auf der vitruvianischen Lehre von Nützlichkeit (utilitas), Festigkeit (firmitas) und Schönheit (venustas) in seiner zeitgemäßen Interpretation. Nach einer England-Reise 1826 bemühte er sich um eine Verbindung der Kunst des Mittelalters mit dem griechischen Geist, was schließlich in einen offenen Relativismus der Stile führte. Er schrieb in einem seiner Hefte (Sammlung architectonischer Entwürfe), aus denen nach seinem Tod ein Lehrbuch kompiliert wurde: »Jede Hauptzeit hat ihren Styl hinterlassen in der Baukunst – warum wollen wir nicht versuchen ob sich nicht auch für die unsrige ein Styl auffinden läßt?« Selbst ein Gottfried Semper polemisierte gegen das »verworrene Stilgemisch« und gegen die »kindische Tändelei« und klagte, dass wir »in angenehmer Täuschung am Ende selber vergessen, welchem Jahrhundert wir angehören.« Er spottete, dass Architekten (im besonderen ging es um Klenze) in der frohen Erwartung leben könnten, dass »die Bestellung einer Walhalla à la Parthenon, einer Basilika à la Monreale, eines Boudoir à la Pompeji, eines Palastes à la Pitti, einer byzantinischen Kirche oder gar eines Bazars in türkischem Geschmack nicht lange ausbleiben könne […].« Allerdings entkam er selbst dem Historismus nicht und wurde zum führenden Kopf der Neorenaissance. Immerhin blieb ihm wichtig, dass jeder historische Stil eine passende Zuordnung haben müsse. Er stellte sogar eine Formel auf, wonach sich ein Stil aus einer Konstante und verschiedenen Variablen (wie Material, lokale, klimatische, religiöse, ethnologische, politische Bedingungen sowie Auftraggeber und Künstler)

Karl Friedrich Schinkel

3.2.3.2.2. Kruft 1985, 341

Schinkel 1979, 146 Gottfried Semper

Lankheit 1965, 69 Semper 1834, 217

Ebd., 217

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Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Philipp 2006, 220

Semper 1860, VI 3.2.1.2.

Pochat 1986, 545

Kruft 1985, 358

3.2.2.2.

Locher Hubert in Kohle 2008, 559

ableite. Dieser Ansatz, eine »neue Architektursprache aus dem Zweck der Gebäude selbst« zu kreieren, bildete »die Grundlage für die Architektur des frühen 19. Jh.s« in Deutschland. Dabei sah Semper in einem Bauwerk das Produkt einer übergeordneten, die Epoche prägenden Idee. Die technische Entwicklung allein ist dabei zu wenig, sie ist nur insofern ein wichtiger Teil der Betrachtung, als sie »das Gesetz des Kunstwerdens mit bedingt.« Im Kontext von Sempers Eintreten für die Polychromie im Sinne einer Architektur für den Menschen, gehört auch die Beachtung des Materials. Das unverhüllte Material diene dem Ausdruck bestimmter Erfahrungen. Es ist sozusagen der direkte Ausdruck eines Bauwerks und verbirgt nicht irgendein höheres geistiges Sein im Hintergrund. Die fortgeschrittene Baukunst nimmt ein Gebäude als Symbol, was sich durch die Fassadengestaltung ausdrücken lässt. Den Renaissanceliebhaber beeindruckte vor allem die Behandlung des Steins in der Renaissance, während er in der Gotik einen sichtbaren Ausdruck der Scholastik sah, wobei diese Gleichung für ihn eindeutig negativ besetzt war. Götz Pochat sieht bei Semper eine Wertschätzung architektonischer Urmotive, die seit je her als gleichsam übergeschichtliche Ordnungsprinzipien Stabilität gewährleisten und Willkür und oberflächliche Mode verhinderten. Das ist eine zutreffendere Deutung als jene, die darin einen einfachen Materialismus sieht, wie dies von mancher Seite, darunter auch von Riegl, Schmarsow oder Wölfflin missverstanden worden ist. »Semper ist häufig im Sinne einer bloßen Material-Ästhetik mißverstanden worden. Es geht ihm niemals um die unmittelbare Sichtbarmachung von Material und Konstruktion, sondern um die Darstellung des Prinzips der Bekleidung und der konstruktiven Materialerscheinung.« Semper konnte sich nie für die Eisenkonstruktionen der Zeit erwärmen, sichtbare Konstruktionen wie etwa Labroustes Dach der Bibliothéque Nationale lehnte er ausdrücklich ab. Diese Einstellung passt zu seiner kritischen Haltung der Gotik mit ihrem offenen statischen Konstruktionsverlauf gegenüber. In der Schrift Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde (1851) legte er kunstphilosophische Überlegungen vor. Er lässt die Architektur aus den vier Elementen Feuerstätte, Dach, Umfriedung und Erdaufwurf entstehen und ordnet ihnen die Bauhandwerkstechniken zu. 1860 folgte Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, einer der interessantesten Versuche, »den Gegenstand unter Verwendung ästhetischer Kategorien, doch mit naturwissenschaftlicher Präzision zu erfassen und gleichzeitig historisch darzulegen […].«. Im Buch geht es um die Veränderung und Entwicklung der Stile. Konstruktives und Gestalterisches müssen kein Gegensatz sein. Im Kirchenbau hatte Semper große Sympathie für die alte Tradition frühchristlicher Basiliken. Er stimmte in dieser Frage mit Christian Carl Josias von Bunsen überein. Dieser schrieb ein zweibändiges Werk mit dem Titel Die Basiliken des christlichen Roms (1842–1844). Bunsen war ein vielsprachiger Philologe, der nicht nur Rom ausführlich beschrieb, sondern sich auch für die Erforschung Ägyptens einsetzte und darüber eine sechsbändige Monographie verfasste (Ägyptens Stelle in der



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Weltgeschichte; 1844–1857). In der Einleitung gibt Bunsen eine Übersicht über die Tradition der Basilika, beginnend mit der griechischen Form. Die ägyptische Urform war damals noch nicht im Horizont der Kunstwissenschaften aufgetaucht. Die (frühchristliche) Basilika sei vor allem aus liturgischen Gründen das ideale Muster für den zeitgenössischen Kirchenbau. Ein ähnliches Anliegen verfolgten Johann Gottfried Gutensohn und Johann Michael Knapp in ihrer vom Verleger Freiherr von Cotta in Auftrag gegebenen Dokumentation Denkmale der christlichen Religion (1822–1827). Karl Schäfer publizierte Ideen aus den Skizzen eines Architekten (1806) und stellte auf dem Frontispiz ein Landhaus in vier verschiedenen Stilen dar. Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff baute ein quadratisches Gästehaus in der Nähe von Dessau, das auf den vier Seiten vier Stile (gotisch, Renaissance, Barock und »modern«) aufwies. Dieser Eklektizismus war wie eine postmoderne Unübersichtlichkeit avant la lettre. Man darf nicht vergessen, dass man in Europa fasziniert war von den neuen Kenntnissen über andalusische, orientalische, persische Architektur. Der schottische Architekt und Bauhistoriker (und Spezialist für indische Architektur) James Fergusson unterschied in seinem Illustrated Handbook of Architecture (1855) eine technische und eine phonetische Architektur. Letztere versuchte, den Eklektizismus als eine Sprache aus verschiedenen Jargons zu verstehen. Diese Sprache hatte im 19. Jh. nicht nur eine lange Geschichte hinter sich, sie war zudem durch die Vermessung der Welt international geworden. »Anders als die ›architecture parlante‹ der französischen Revolutionsarchitekten beruhte die ›redende‹ Architektur der Eklektizisten nicht auf der Evokationskraft der Form oder ihrer unmittelbar anschaulichen Inhalte. Sie setzte das Vorwissen des Betrachters voraus. Nicht die Form an sich ›sprach‹, sondern ihre Herkunft.« Der Eklektizismus zog sich quer durch Europa. Eines der ersten und spektakulärsten Bauwerke in diesem Sinn steht in Portugal, wenngleich durch einen deutschen Architekten realisiert. Die strengen Bauvorschriften beim Wiederaufbau von Lissabon trieben viele wohlhabende Bauherren auf das Land und in die Provinz. Ferdinand von Sachsen-Coburg, der »Künstlerkönig« (Ferdinand II.) von Portugal, ließ sich vom hessischen Baumeister und Geologen Wilhelm Ludwig von Eschwege – er leitete die Eisenhütten in Portugal – ab 1839 westlich von Lissabon auf den Ruinen eines Klosters den Palácio da Pena in Sintra errichten. Es ist eine bizarre Burg auf dem Monte da Lua, in bunten Farben und allen möglichen Stilmotiven samt überquellender kostbarer Ausstattung einschließlich eines arabischen Saales. Schon dies, ganz ähnlich wie der Entwurf für das Denkmal Friedrichs des Großen von Friedrich Gilly, 1796 in Berlin vorgestellt, wo vom dorischen Tempel bis zur obeliskengeschmückten Prozessionsstraße alles vertreten ist, lässt die Frage aufkommen, was diese Ansammlung von Zitaten von der postmodernen Piazza d’Italia von Charles Moore unterscheidet. Es war übrigens Gillys Entwurf, der den jungen Schinkel spontan für die Architektur begeisterte. Der bereits in jungen Jahren verstorbene Gilly wurde Schinkels verehrter Lehrer.

I.2.5.f./II.3.3.2.3./IV.5.2.

Pehnt Wolfgang in Argan 1977, 332

IX.4.6.2.

274

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

3.2.2.2. Die Neugotik

Baur 1981, 56 V.8.2. ◀

559 P­ alace of ­Westminster; London

3.2.3.2.1.

Ebd., 111

Hitchcook 1958, 129

3.2.2.1.

Als symbolischer Auslöser der Pluralisierung der Stile wurde Walpoles neugotische Villa erwähnt. Die Gotik war nach dem Palladio-­ Revival im England des 18. Jh.s die im 19. Jh. dominierende Neuauflage eines Stils. Sie galt dort als der christliche Stil schlechthin. Als extremes ideologisches Beispiel für diese Gotik-Deutung wurde August Welby Pugin erwähnt. Einen besonderen Schub bekam die Neugotik auf dem Kontinent mit dem Weiterbau des Kölner Doms, an dem seit 1560 nichts mehr geschehen war und der von Zeitgenossen als »Ruinenhaufen« bezeichnet wurde, ab 1842. In England wurde der gotische Stil intensiv erforscht und breit diskutiert. Thomas Rickman schlug ein bis heute verwandtes Einteilungsschema vor. William Whewell erforschte deutsche gotische Kirchen, Robert Willis italienische, Matthew Holbeche Bloxham schrieb eine große Untersuchung über die gotische Bauform ganz allgemein. Charles L. Eastlake gab in seiner History of the Gothic Revival 1872 eine Übersicht über die bereits damals uferlose Literatur zu diesem Thema. Ein prominenter Fürsprecher der »echten Gotik« war John Ruskin. Er lehnte die Renaissance als bloßen Nachahmungsstil vehement ab und plädierte für die Gotik als das Zeichen des »Guten und Wahren«. Ruskin beeinflusste mit seiner Meinung nicht unwesentlich die Architektur des 19. Jh.s in England, wo, anders als in Frankreich, eine Gotik des 13. Jh.s gebaut wurde. Das Gothic Revival erlebte um 1860 einen Höhepunkt in der Fertigstellung der Houses of Parliament (1836–1852) von Charles Barry und Augustus Welby Pugin, die geradezu zu einem »große[n] englische[n] NationalSchloß« gerieten. Gegenläufig zu den weltanschaulichen Gründen für den mittelalterlichen Baustil reizte am gotischen Bauen die Möglichkeit, die neuen Materialien anzuwenden. Damit war »[…] the Age of Cast Iron, so paradoxically interrelated with the Gothic Revival […].« Vor allem die Technik des Gusseisens eignete sich für das neugotische Formenvokabular, gerne verwandt bei großen Hallenanlagen wie Bahnhöfen oder Fabrikhallen. 1871 entstand der Grand Central Terminal in New York, von dem die Gleishalle noch weitgehend erhalten ist. Die gotische Form, die in England im Zuge der Wiederbelebung des christlichen Mittelalters ausgewählt wurde, wechselte sozusagen ihre legitimierende Metaerzählung und wurde zu einem Eintrittstor in die Moderne. Denn sie passte plötzlich zu einer Konsequenz, die sich aus dem Zerbrechen geschlossener Stil-Weltbilder zwangsläufig ergab, indem die Bauwerke bar jeder ornamentierenden Verkleidung ungeschminkt auf ihre Struktur freigelegt wurden, wie sie dem statischen Kräfteverlauf entsprachen – eine Konsequenz, die Gottfried Semper ablehnte und deshalb die Neorenaissance bevorzugte. Der Reiz, das gotische Formenrepertoire als luzides Trägersystem den modernen Eisenskelett-



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

bauten zugrunde zu legen, entfachte eine lebhafte Debatte um die Neugotik, die an anderer Stelle, nämlich dort, wo es um Funktionalismus geht, zu verfolgen ist. In Frankreich begann die theoretische Auseinandersetzung mit der Gotik mit Arcisse de Caumont. Er gründete die Société française d’archéologie und schrieb mehrere Werke zur mittelalterlichen Architektur, namentlich zur Gotik. Die Stil-Vorliebe an der Akademie in Paris war von der römischen Antike zur Renaissance gewechselt. Mitte des Jahrhunderts traten zwei Lager auf, ein eher romantisch gespeistes Gotik-Lager und ein Renaissance-Lager. Sie stritten über die Eignung dieser stilistischen Optionen für die zeitgenössische Architektur. Dabei waren die Anhänger der Gotik eher geneigt, trotz der großen Tradition des französischen Rationalismus, den immer noch vorherrschenden Klassizismus aufzugeben. Die Anhänger der Renaissance behielten schließlich die Oberhand. Aber immerhin waren um 1852 in dem Land um die 100 gotischen Kirchen im Bau. In dem aufgeklärten Frankreich faszinierte die Gotik aber auch ganz einfach durch ihre spannende Konstruktion. War Ruskin ein ideologischer Moralist, stand für Viollet-le-Duc die technisch-konstruktive Seite im Vordergrund. Henri Labrouste schuf einige der großartigsten Projekte auf der Basis von Gusseisen, etwa zwei Bibliotheken in Paris (Bibliothèque Sainte-Geneviève und Bibliothèque Nationale), in diesem Fall orientiert an der Tonnen- und Gewölbearchitektur der Renaissance. Victor Baltard baute die Pariser Hallen, zwölf Pavillons für einen Markt, geradezu eine Stadt in der Stadt. Die Hallen, unter Napoleon III. und seinem Präfekten Haussmann in den 1850er Jahren in Auftrag gegeben und in einem städtebaulichen Massaker abgerissen, bildeten eine mythische Identifikationsfigur für Literaten, Filmemacher und Maler. Die Gotik-Debatte in Deutschland griff ebenfalls weit über einen reinen Architektur-Diskurs hinaus. Als die Neogotik durch Georg Friedrich Laves nach Deutschland gebracht worden war, wurden dort viele Motivationen artikuliert: religiöse, nationale, funktionalistische. Der Jurist und Hobbykünstler Friedrich Hoffstadt legte ein Gothisches ABC-Buch (ab 1840) vor, an dem sich Architekten und Künstler orientieren konnten, um die Gotik als Gipfel aller Architektur umzusetzen. Mit ihm setzte sich eine ganze Reihe von Autoren für die Gotik als christlichen und deutschen Baustil ein und sie kritisierten Winckelmanns Klassizismus als Abkehr von der deutschen Bautradition. Manchmal geschah dies mit unverhohlener und unangenehmer Propaganda für die vermeintlich christliche Wahrheit des gotischen Mittelalters, wie bei dem auch politisch engagierten Mitbegründer des Kölner Domblattes, August Reichensperger, der sogar das mittelalterliche Zunftwesen wieder einführen wollte, manchmal differenzierter und ausgewogener wie beim protestantischen Architekten Georg Gottlob Ungewitter. Eine wichtige Quelle war Friedrich Schlegel, der eine romantische Gotikdeutung verbreitete. Hymnisch fiel seine Beschreibung des unfertigen Kölner Domes aus. Um ihn rankte sich die Gotik-Debatte in besonderer Weise. Georg Moller und Sulpiz Boisserée hatten die alten Baupläne der Kirche gefunden und publiziert und beförderten die Bemühungen um Fertigstellung dieses Bauwerks als deutsches Nationalkunstwerk.

Benevolo 1960, 100

3.2.3.2.2.

Baur 1981; Germann 1972

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Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

3.2.2.3. Die Debatte um die Pluralisierung der Stile

Muthesius 1902, 20/64

Le Corbusier 1923, 22/49 VII.4.2. Vogt Adolf M., Besset Maurice, Wetzel ­Christoph in BSG VI, 24 Åman Anders in Zeitler 1966, 177

Jaeger/Rüsen 1992, 3/8

5.3.2.3.

Zeitler 1966, 48/51

Diese historistische, die vergangenen Stile zitierende und sie rekonstruierende Attitüde verlangt nach einer Erklärung. Grundsätzlich war die – wie man es nannte – Stilarchitektur negativ besetzt und man beklagte den Verlust von Ausdruck und Normen. Drastisch formulierte es Hermann Muthesius, der als die »zwei Glanzperioden der Menschheit […] das griechische Altertum und das nordische Mittelalter« verehrte und der, die kritische Erregung Hans Sedlmayrs vorwegnehmend, die Neo-Stile scharf geißelte: »Eine ähnliche Verblendung war in der Geschichte der Kunst noch nicht dagewesen.« Das 19. Jh. sei jenes, das »sich in der Architektur am deutlichsten als das des chaotischen Durcheinanders aller Stile der Vergangenheit kennzeichnet, […].« Muthesius sprach der Stilarchitektur schlichtweg ab, überhaupt Baukunst zu sein. Ebenso deutlich war Le Corbusier, für den die Kritik am Historismus gleichsam die Grundlage für das zeitgemäße, moderne Bauen war: »›Stile‹ sind Lüge« heißt es lapidar und »Baukunst hat mit ›Stilen‹ nichts zu schaffen.« Aber es gab auch positive Stimmen. Wie berichtet, hatte Karl Philipp Moritz, obwohl Klassizist, die Pluralisierung als Ausdruck eines Bildungstriebs der Menschen gewürdigt. Die Frage lässt sich mit der Bemerkung der Autoren des sechsten Bandes der Belser Stilgeschichte zusammenfassen: »Wer Stile baut und malt, aber keinen eigenen Stil hat – der ist entweder ein Versager oder aber ein Experimentator.« Der Historismus mit seinen vielfältigen Bedeutungsgehalten ist so gesehen »an und für sich weder konservativ noch radikal.« Er ist jedenfalls auch »Teil des umfassenden Prozesses der Modernisierung, in dem unsere heutigen Lebens- und Denkformen entstanden sind.« Und er war die »für die historischen Wissenschaften, insbesondere natürlich für die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, maßgebliche Denkform.« Eine weniger ernste Zuneigung zum Historismus kennt jemand, dem es bloß um Experimente geht. Ihn zeichnet ein hohes Maß an Freiheit und Unabhängigkeit von Ideologien und Weltbildern aus und man könnte diese Freiheit der Künstler auf die Aufklärung zurückführen, auf den – nach Kants berühmtem Wort – Gebrauch der Vernunft gegenüber der selbstverschuldeten Unmündigkeit. So gesehen wäre der Historismus als Befreiung von epochendefinierendem Sinn und als Spiel mit historischen Zitaten eine konsequente Folge von Hegels Wort vom Ende der Kunst. Einer solchen Auffassung steht Rudolf Zeitler in seiner Darstellung des 19. Jh.s in der Propyläen-Kunstgeschichte nahe. Die Künstler und Architekten hätten das »Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der Kunst« gewonnen und den Künstlern »brachte das Studium gerade der nicht-klassischen Werke älterer Kunst die Freiheit, ihr Eigenes und Inneres auszusagen.« So gesehen sei die Stilvielfalt im 19. Jh. als »endgültiger Umsturz« gegen die alte Norm zu sehen. Die Künstler hätten demnach anderes im Sinn gehabt, als alte Schönheitsideale zu erfüllen, sie suchten in der »Vergangenheit nach Bestätigung für ihre eigene Lebenserfahrung.« Positiv ließe sich eine solche Haltung so lange würdigen, als sich die Gegenwart davon inspirieren lässt, sie schlägt ins Negative, wenn dies mit einer Verleugnung der schöpferischen Kraft der Gegenwart einhergeht. »Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen […]«, mahnte Nietzsche, denn »es giebt einen Grad, Historie



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Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet […].« Genau darum drehte sich die Diskussion angesichts der Retrostile im 19. Jh. und sie dreht sich bis heute lebhaft weiter, wobei neuerdings die positive Sicht schon deshalb ein Übergewicht hat, weil nur aus dem Experimentieren die Moderne erwachsen konnte.

Nietzsche 1874a, 245

3.2.3. Von der Revolutionsarchitektur zum Funktionalismus Im 19. Jh. setzte sich, vorbereitet in Frankreich, der Paradigmenwechsel von einem theorie- und philosophielastigen klassischen Gedankengebäude zu den neuen pragmatischen Ingenieurswissenschaften durch, zögernd im alten Europa, rascher in Amerika. »[…] der Architekt behält sich den künstlerischen Teil vor und überläßt den anderen den bautechnischen Teil. So entsteht ein Dualismus der Kompetenzen, der noch heute in den beiden Gestalten des Architekten und des Ingenieurs seinen Ausdruck findet.« Es war ein Paradigmenwechsel, der schließlich zu einer autonomen Architekturästhetik führte, was Architektur zu einer künstlerischen Sprache für Utopien aller Art machte. Voraussetzung für diesen Paradigmenwechsel war nicht zuletzt die Einführung des Meters als Maßsystem 1795 durch die französische Nationalversammlung. Diese vom Mikrokosmos des menschlichen Körpers wegführende Maßeinheit löste die Tendenz der Architekturtheoretiker aus, menschliche Proportionen durch eine mathematische Geometrie abzulösen. Dazu kamen die neuen Materialien wie Eisen und Glas und die Rationalisierung des Bauens durch Fertigteile.

Benevolo 1960, 30

3.2.3.1. Zwischen Philosophie und Ingenieurstechnik Die Pluralisierung der Stile lässt Versuche, das 19. Jh. architekturtheoretisch »auf den Begriff« zu bringen, aussichtslos erscheinen. Diese Erfahrung war eines der Motive dafür, bei der Rezeption von Kunst und Architektur des 19. Jh.s den Blick von metaphysischen Erzählungen weg und auf die Entwicklung der Ingenieurstechnik hin zu richten. Diese ließ sich einfacher verfolgen und man konnte sie zum Träger des Fortschritts machen. Nach Sigfried Giedion habe jede Nation ihren je eigenen Beitrag zur Architekturentwicklung geleistet. Dabei schätzte er an den Amerikanern die technische und organisatorische Kompetenz. Europa zog in dieser Hinsicht bald nach. Die Gründung der École Polytech­ nique 1794, die zum Vorbild für die neue Architektenausbildung wurde, spiegelt diese Wende wider. Sie setzte einen Paradigmenwechsel über weite Strecken um, der durch die Gründung verschiedener technischer Schulen, die alle Sparten der technischen Ingenieurskunst abdeckten, bereits im 18. Jh. vorbereitet war: 1718 war die École des Ingénieurs entstanden, 1747 die École des Ponts et Chaussées, 1765 die École du Génie marin und 1778 die École des Mines. Sie waren Vorboten einer pragmatischen und technischen Sichtweise in der Architektur. In der Fachliteratur wurde lange Zeit der Neuanfang für das Frankreich des 19. Jh.s an der sogenannten Revolutionsarchitektur von Boullée und Ledoux festgemacht. Dies ist inzwischen durch diverse Ausstellungen und kunsthistorische For-

Giedion 1928

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Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Middleton 1982; Drexler 1977

Etienne-Louis Boullée

Karn Georg Peter in Toman 2009, 85

VII.4.2.4.3.1.

Kruft 1985, 179

VII.5.2.4. VII.2.2.1.

schungen relativiert. Hanno Walter Kruft sieht im Lichte dieser Aktualisierung neue Aspekte eher durch den Schülerkreis der beiden genannten Architekten eintreten. Das Paradigma wurde in erster Linie von der École des Beaux-Arts (die 1816 die Académie des Beaux-Arts abgelöst hatte und in ihrem Namen ebenfalls eine weniger theorielastige Ausrichtung ausdrückte) und der erwähnten École Polytechnique in Paris vorgegeben. Bei Etienne-Louis Boullée verschmolzen ab 1789 Revolutionäres und Utopisches miteinander. Boullée stammte aus der Schule Jacques-François Blondels, der gigantische Monumentalentwürfe vorlegte, ohne Ornament, dafür aber symbolisch aufgeladen. Seine Visionen nannte er sprechende Architektur (architecture parlante). Es war ein »bildhaftes Architekturverständnis«, das auf die Empfindung der Rezipienten abhob. Bei Boullées Entwurf des riesigen Lesesaals für die Pariser Nationalbibliothek sei er nach eigenen Aussagen von Raffaels Schule von Athen inspiriert worden. Sein zwischendurch verloren gegangenes Werk Tractat d’architecture, essai sur l’art (1781–1793), das erst 1953 erschien, propagierte eine autonome Architekturästhetik, die sich als Illustration willkürlicher Narrative verstand. Diese Sicht wirkte bis in das 20. Jh. Das machte Boullée zu einem interessanten Forschungsobjekt. Nicht nur die von ihm präferierten Prinzipien der Proportion (régularité, symétrie, varieté), die sich an Perrault orientierten, brachten ihn in eine größere Nähe zu diesem als zu seinem Lehrer Blondel. Grundsätzlich blieb die Proportion für ihn wichtig. Sie stiftet die grundlegende Schönheit in der Architektur (une des premières beautés en architecture) und sie hat ihr Maß in der Natur, die wiederum auch bei diesem neuzeitlichen Architekten (geradezu in spinozistischer Manier) eine göttliche Dignität auszeichnete. Darüber schien man freilich nicht mehr so klare Vorstellungen gehabt zu haben wie zu Zeiten, in denen das alte Makro- und Mikrokosmos-Verständnis noch vorherrschte: »Man steht vor einem verwirrenden Begriffswandel: Symmetrie bedeutet für die Antike und die Renaissance Proportion, bei Boullée nähert sich sein Proportions-Begriff dem der Symmetrie. Proportion hatte sich seit der Antike immer auf den Menschen berufen und damit die Maßstäblichkeit zu ihm hergestellt. Mit dem Wegfall der Proportion verschwindet automatisch auch die Vorstellung der Maßstäblichkeit aus der Architektur.« Die Abkehr vom alten anthropometrischen Proportionsverständnis, das den Menschen als Modulator kannte, zum neuen metrischen System mag ein Grund für die Megalomanie der Entwürfe (nicht nur bei Boullée, sondern auch bei den anderen »utopischen Architekten«) gewesen sein. Ein anderer Grund war die ästhetische Kategorie des Erhabenen, wie sie in England vor allem von Edmund Burke formuliert worden war. Boullées gigantisches Kathedralprojekt versammelt demnach durchaus disparate kunstphilosophische Konzepte: das Erhabene, eine caractère-Lehre, eine deus-sive-natura-Lehre des Pantheismus Spinozas, Aufklärung und romantische Rückwendung zu der alten Abbildlehre des Universums. Dazu kam die Zweckfreiheit der Architektur insofern, als Boullée bewusst Entwürfe zeichnete, die sich wegen ihrer Größe und Komplexität gar nicht ausführen ließen. »Seine Architekturtheorie ist eine radikale Extrapolation vorhandener Ideen, die den Kontakt zur Wirklichkeit



279

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

verloren haben.« Man könnte auch sagen, dass Boullée einer Pluralisierung philosophischer Konzepte huldigte, die als Rechtfertigungsstrategie oder gar als Ornament seiner Entwürfe diente. Claude-Nicolas Ledoux, wie Boullée Schüler von Jacques-François Blondel, war kein Revolutionsarchitekt im engeren Sinn, aber ein unkonventioneller Geist und ein Architekt der Utopien. Ledoux, der sich vom einfachen Kupferstecher zielstrebig zum gefragten Architekten hochgearbeitet hatte, war nie in Italien, dafür aber in England und verehrte mehr die Griechen als die Römer. Das hatte er bei Blondel so gelernt. Schon bald wandte sich das freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden in offene Abneigung. Blondel vermochte den ästhetischen Eskapaden Ledoux’ nicht mehr zu folgen: »Der schlechte Geschmack macht jeden Tag Fortschritte […]« schrieb er. 1804 publizierte der ausgebildete Kupferstecher die schwer lesbare, ausufernde und mit 364 gestochenen Tafeln bebilderte Schrift L’Architecture considérée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la législation. Sie war ein »Spiegelbild dessen, was er gelesen hat – und seine Lektüre war in jeder Beziehung konventionell: Homer, Plato, Vergil, Ovid und Horaz waren seine bevorzugten Dichter; aus Plutarch, Plinius, Tacitus und Caesar nahm er seine Vorstellungen von Geschichte; Cicero, Aristoteles und viele weniger bekannte römischen Schriftsteller waren seine Quelle für die klassische Rhetorik; in Hesiod, Xenophon und Columella fand er Anregungen zum Thema Landleben und Landwirtschaft.« Er entwarf die Schrift wohl in der dreizehn Monate dauernden Haft, mit der er, der Architecte du Roi, in der nachrevolutionären Zeit des terreur glimpflich davonkam. In der Schrift beschrieb Ledoux eine Gesellschaftsutopie, die sich architektonisch in der Idealstadt Chaux umsetzen lassen sollte. Ihm schwebte eine egalitäre Gesellschaft vor, die ihre Strukturierung durch die verschiedenen Tätigkeiten erhielt. Die Beschreibung der (auf den Sonnenlauf anspielenden) kreisförmig entworfenen Idealstadt in seinem Traktat kleidete er nach dem Vorbild der Renaissanceutopien in einen Reisebericht. Die verbreitete Theorie der Gesellschaftsverträge wirkt hier ebenso nach wie die am Modell des Blutkreislaufs orientierte Lehre geschlossener Wirtschaftskreisläufe. Die Kreisform preist Ledoux als Urform der Natur und als göttliche Harmonie. »Das Konzept der ›architecture parlante‹, der sprechenden Architektur, erhält deswegen eine ganz neue Funktion, die nicht mehr unter dem Oberbegriff der ›convenance‹, also der sozialhierarchischen Angemessenheit, sondern unter dem der Erziehung zu fassen ist.« Architektur erhält eine pädagogische und moralische Aufgabe, reformerische Ideen, die nicht zuletzt von den Idealen der Freimaurerei inspiriert waren. Sie soll Weisheit, Tugend und Brüderlichkeit vermitteln. Das Naturkonzept Rousseaus mag Ledoux animiert haben, über Alternativen zum Konzept der Stadt nachzudenken. Er entwarf einen klosterähnlichen Komplex im Wald (cenobies), der eine Gemeinschaft nach dem Bild des Goldenen Zeitalters der Urgesellschaft organisierte. In den Vorstellungen dieser Schrift mag man revolutionäres Gedankengut erkennen. Doch bereits in seiner vorausgehenden Architekturtätigkeit schienen ihn solche Gedanken geleitet zu haben. 1773 hatte Ledoux, der zwei Jahre vorher zum

Ebd., 181

Claude-Nicolas Ledoux

Blondel, zit. nach Gallet 1980, 11

Vidler 2005, 16f

Freigang Christian in ATh, 318

VII.7.1.

280

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kruft 1985, 185

Kaufmann 1933, 48

Vidler 2005, 49

VII.5.2.5. Robert Owen

Generalinspektor der Salinen der Franche-Comté, Lothringen und Trois-Evêchés ernannt worden war, den Auftrag zur Errichtung einer neuen Saline erhalten. Man könnte in dieser (königlichen) Saline im heutigen Arc-et-Senans südlich von Besançon bereits eine Vorwegnahme der späteren Chaux-Vision erkennen. Mag die Vision revolutionär sein, die Anlage selbst folgte absolutistischen Vorstellungen, allerdings mit Anspielungen auf Palladio und Giulio Romano. Die in der freien Natur errichtete Idealstadt ist in Wahrheit eine totalitäre Anlage mit pädagogischem Anspruch. Mit der Architektur verfolgte Ledoux dezidiert das Ziel einer »Reinigung« des sozialen Systems. Diese »Bildmacht« der Architektur bei Ledoux entspricht seiner Deutung des Erhabenen von Burke. Das Haus des Direktors ist einer rationalen Anlage eingeschrieben, die sich strukturell kaum von barocken Schlossanlagen unterscheidet. Ein skurriler Beitrag zum Ganzen war das phallusförmige pädagogische Bordell (Oikema), in dem Männer möglichst unangenehme Erfahrungen machen sollten, um ihnen die Lust auf Bordellbesuche auszutreiben. Die Phallusform, deren Anblick den Kunden ihre moralische Verwirrung bewusst machen sollte, ist eine besonders delikate Form einer architecture parlante bzw. des caractères, also einer Architektur, bei der die Funktion von außen ablesbar ist: ein frühes Auftreten des Prinzips form follows function, wenngleich die Funktion hier nicht praktischer, sondern symbolischer Art war. »Architektur wird zu einer Zeichensprache, die sich selbst zelebriert. Von da her ist es verständlich, daß eine Realisierung dieser Entwürfe nicht einmal angestrebt wurde. Die Ausführung hätte die Idee desavouiert.« Damit traten bei Ledoux ganz andere Formvorstellungen in den Vordergrund als die alte Proportion. »Das Werk des Architekten Ledoux, das in einem lebendigen Protest gegen die klassisch-barocke Überlieferung gipfelte, hatte am Ende seines Weges auch mit dem Klassizismus seiner Zeitgenossen nichts mehr gemein.« Eine Reihe von Bewegungen schlossen im 20. Jh. an diese Visionen an, von der Neuen Sachlichkeit über den Surrealismus bis hin zu Le Corbusier und zu faschistischer Architektur. Wie Boullée bevorzugte auch Ledoux die Kugelform, zunächst als Form des Friedhofs von Chaux. Allerdings scheute sich Ledoux nicht, die mit spiritueller Konnotation aufgeladene Kugel zu profanieren, und verwandte die Form auch für das Haus der Gärtner. Das noch heute bestehende Chaux selbst hatte die Form eines antiken Amphitheaters, in dem die Gebäude standen »wie Pavillons in einem Englischen Landschaftsgarten. […] Als Typus und Metapher war der Plan eines Theaters Ledoux gerade recht, um die wilde Mischung seiner sozialen und politischen Idealvorstellungen für Chaux zu ordnen und zu bestätigen.« Das lag dem Anhänger des Pittoresken, wie er es in England kennen gelernt hatte. Ledoux und Boullée hatten eine starke Wirkung auf einen Kreis von Schülern. Ähnlich wie Ledoux trat Robert Owen mit einer sozialen Stadtidee hervor. In seinem Werk A New View of Society (1813) und in anderen Publikationen entwickelte er soziale Visionen, die er in eine an Thomas Morus erinnernde Stadtplanung einfließen ließ. Unter Stadterneuerung verstand man nicht nur eine oberflächliche Behübschung, »es ging vielmehr um eine mehr oder weniger systematische Erneuerung des Stadtgefüges, mit Raumreserven für den Verkehr, mit Plänen für den Kreislauf



281

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

von Wasser und Luft, zu Gesundheit und Feuerschutz, zur Straßenbeleuchtung, zur Auslagerung ›ungesunder‹ Orte wie Friedhöfe, Krankenhäuser und Schlachthöfe und zum Bau von sozialen Einrichtungen wie Armenhäuser, Gefängnisse und Schulen.« In den USA konnte er in den Zwanzigerjahren zusammen mit dem Soane-Schüler Thomas Stedman Whitwell seine Utopie in der Siedlung New Harmony beginnen, gab sie dann aber auf. Erhalten sind Modelle der eigenartigen Anlage, die in die lange Tradition solcher Utopieentwürfe gehört. Louis-Ambroise Dubut verfasste eine Architecture civile (1803). Er hielt Abstand von der achitecture parlante und benannte als Hauptkriterium der Architektur pragmatisch die Gebrauchbarkeit für die Bewohner (utilité). Jean-Nicolas-Louis Durand wurde von Boullée besonders protegiert. Er war dessen langjähriger Assistent und lehrte selbst fünfunddreißig Jahre lang an der École Polytechnique. Auch für ihn verfolgte Architektur einen Erziehungsauftrag. Die lebenslange Beschäftigung mit praktischen Bauaufgaben und Ingenieurwissen ließ Durand bald pragmatischen Boden erreichen. Den alten Ordnungen gegenüber war er skeptisch eingestellt: »Mit Notwendigkeit ergibt sich die Schlußfolgerung, daß die Ordnungen nicht das Wesen der Architektur ausmachen; daß das Vergnügen, welches man von ihrer Verwendung und der sich daraus ergebenden Ornamentik erwartet, nicht existiert; daß eben diese Ornamentik eine Illusion und die dafür aufgewendeten Kosten reine Verschwendung sind.« Architektur solle einen gesellschaftlichen Nutzen erbringen, der sich in sozialer Angemessenheit (convenance) und Wirtschaftlichkeit (économie) ausdrücke. »Das Prinzip der Wirtschaftlichkeit betrifft also insbesondere die Effizienz des Entwurfs, eine klare technische Berechenbarkeit und die logistische Durchführung des Baugeschehens.« Zu dieser anzustrebenden Wirtschaftlichkeit gehört auch die Egalität der Gesellschaft. In einem faszinierenden Werk Recueil et parallèle des édifices de tout genre anciens et modernes (1800) legte Durand geradezu ein Kompendium von Architekturmotiven vor und propagierte eine völlige Gleichbehandlung verschiedener Stiloptionen, gab also jede Hierarchie bzw. Zuordnung von Stilen für bestimmte Bauten auf. Christian Freigang sieht in Durants Sammlung den Anfang einer systematischen Architekturgeschichte und ein abrufbares Reservoir für das historistische Bauen im 19. und 20. Jh. Grundsätzlich war die Abwertung der alten Säulenordnung, man könnte sagen der Bruch mit Vitruv, eine Voraussetzung für die Befreiung der Architektur aus der Umklammerung der alten Regelästhetik, in welche die ontologische Ästhetik geflossen war. »Die Entwertung der Lehre der Säulenordnungen und somit die Aufgabe der vitruvianischen Lehre […] eröffnete für die Architektur im Zusammenhang mit der Entdeckung und Wertschätzung anderer Stile die Möglichkeit eines Neubeginns.« Zur Egalisierung der Stilmotive gesellte sich der Vorschlag, durch Kombination standardisierter Einheiten (éléments) zu verschiedenen Gebäuden zu gelangen. Diese Idee dürfte ihre Wurzel bei Carlo Lodoli haben und sie weist auf die Ideen von Werkbund und Bauhaus im 20. Jh. voraus. Selbst eine Abhängigkeit der Formen vom gewählten Material wurde bereits bedacht. Zwar ging Durand nicht so weit, eine Bauweise mit

Ebd., 70

Jean-Nicolas-Louis Durand

Durand, zit. nach Benevolo 1960, 68

Freigang Christian in ATh, 328

Freigang Christian in Ebd., 330

Philipp 2006, 219

Mitchell 1990, 183ff

282

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kruft 1985, 312

Ebd., 311

Semper 1834, 216

Philipp 2006, 219

Ebd., 218

Kruft 1985, 313

vorgefertigten Elementen zu propagieren, »doch Paxtons Glaspalast der Londoner Weltausstellung von 1851, der aus Fertigteilen erstellt wurde, ist die technische Konsequenz von Durands architektonischer Kompositionslehre, und die formale Übereinstimmung einiger Entwürfe Durands mit dem Glaspalast ist kaum ein Zufall.« Diesen Standardisierungs-Vorschlag unterbreitete er in seinem Précis des leçons d’architecture donné à l’école polytechnique à Paris (1802). Dieser »folgenreichste Architekturtraktat der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« war die bislang deutlichste Abkehr eines Rasters von den Maßen des Menschen zugunsten eines neuen, auf dem Dezimalsystem aufbauenden, universell gültigen Maßstab. Sie war wohl auch eine der sichtbarsten Zeichen für einen Paradigmenwechsel von philosophischen Metaerzählungen zu pragmatischen, technischen und konstruktiven Lösungen in der Architektur. Semper spöttelte angesichts einer solchen rationalisierten Entwurfsmethode, die auf einen quadratischen Raster aufbaute, dass sich wohl »der nagelneue Polytechniker zu Paris binnen sechs Monaten zum vollendeten Baumeister« bilden könne. Semper sah viele junge Architekturstudenten zu Durand nach Paris pilgern. 1806 erschien eine deutsche Kurzfassung seines Traktats in Weimar und das von Durand gegenüber der Ordnung Vitruvs wesentlich vereinfachte Modulsystem wurde unter anderem von Leo von Klenze begeistert aufgenommen. Nach dem Vorbild Paris wurde 1799 in Berlin die erste deutsche technische Bauakademie (weitere folgten in anderen deutschen Städten) gegründet. Sie orientierte sich am Programm der École Polytechnique und an den Bemühungen von Durand. Christian Ludwig Stieglitz, Heinrich Gentz ebenso wie Friedrich Gilly verwiesen auf die Wichtigkeit technischer Fertigkeiten für die neuen Aufgaben der zahlreichen Zweckbauten. An der Akademie wurden fünfundzwanzig Wissenschaften gelehrt: von der Arithmetik, Algebra, Geometrie, Optik, Perspektive über Feldmesskunst, Statik, Hydrostatik, Mechanik bis hin zu Deich-, Schleusen-, Hafen- oder Brückenbaukunst. Gilly wies darauf hin, dass sich in England und Frankreich die Trennung von Architekten- und Ingenieursausbildung bereits früher vollzogen habe. Dabei sollte allerdings kein Bruch zwischen Theorie und Praxis aufkommen. Auch sei die Frage müßig, ob man die Architektur zu den schönen oder zu den mechanischen Künsten rechnen müsse. Die Bauakademie wurde zum Vorbild zahlreicher im 19. Jh. gegründeter polytechnischer Schulen und einschlägiger Gewerbeschulen. Die Werke Durands übten großen Einfluss auf die Architekten in England und Deutschland aus. Ähnliche Ansätze wie Durand vertrat Jean-Baptiste Rondelet, ein Boullée- und Blondel-Schüler. Zur Einführung des Dezimalsystems 1795 in Frankreich kam dazu, dass Architektur sich auch mit der Materiallehre zu beschäftigen hatte. Rondelet tat dies mit einer Beschreibung von Eisen in der Anwendung im Bau. Statische Berechnungen für Eisenkonstruktionen führte er nun auf der Grundlage der neuen Geometrie durch. Dieser Paradigmenwechsel von einer normativen Ästhetik in der Architektur hin zu einem funktionalen und autonomen Werk hat viele Architekturtheoretiker auf den Plan gerufen, die mit Hanno-Walter Kruft in den Positionen von Rondelet, Durand und Dubut einen »Proto-Funktionalismus« sehen als einen entscheidenden Schritt in Richtung auf das 20. Jh.



283

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Der 1888 als Schweizer in Prag geborene Sigfried Giedion, der selbst sowohl Kunsthistoriker als auch Ingenieur war, brachte das 19. Jh. auf die einfach klingende Formel einer Dualität von Akademieästhetik auf der einen und Technik und Konstruktion auf der anderen Seite. Letztere habe den Primärdiskurs der Normästhetik geradezu zersetzt und den Weg in die Moderne frei gemacht. Dieser Gedanke der Architektur und Stil verändernden Kraft der technischen Entwicklung hat durchaus seine Anhänger gefunden, wie man etwa in Einsprüchen gegen eine »Philosophie der Gotik« sehen kann. Besonders metaphysikkritische Zugänge zur Stilästhetik finden in einem rein technischen Ansatz ein praktikables Paradigma, eine Entwicklung in der Baukunst scheinbar autonom erklären zu können. Die Einschränkung »scheinbar« setze ich hier nicht unbedacht. Denn auch hinter diesem Konzept steht letztlich ein idealistischer Ansatz. Die Entwicklung der Technik wird bei Giedion geradezu als historische Konstante gesehen. Darüber hinaus sei sie sogar eine anthropologische Konstante, die sich im 19. Jh. in der Industrialisierung ausdrückte und dazu angetan war, einen veränderten Menschen zu erschaffen. Diesen Gedanken nahm Walter Benjamin, der sich mit Giedions Veröffentlichungen auseinandersetzte, auf. Ganz offen wird dieser Idealismus im Werk Emil Kaufmanns herausgearbeitet. Das Revolutionäre der Revolutionsarchitektur bezieht sich seiner Meinung nach auf den Bruch mit der überkommenen Regelarchitektur, was als Ersetzung des (heteronomen) Historismus durch ein autonomes Bauen, als Ende einer normativen Architektur, zu interpretieren ist. Kaufmann macht das treffend an der rationalistischen Systemerzählung im Hintergrund jeder barocken und klassizistischen Form fest: »Die Verselbständigung der Teile ist das wichtigste Ergebnis des architektonischen Regenerationsprozesses vom Ausgang des 18. Jahrhunderts. Das neue Prinzip der Autonomie duldet nicht, daß architektonische Gebilde von fremden, außerarchitektonischen Gesetzen beherrscht werden. […] Die neue Fügung der Teile bedeutet den freien Zusammenschluß von Individuen, die ihr Eigenleben nicht zu opfern brauchen, deren Form nur dem eigenen Zweck gehorcht.« Aus einer solchen Sicht bildet die Revolutionsarchitektur eine Brücke in die Moderne. Zwar übersah Kaufmann in der Idealstadt-Vision, die bis in die Moderne reicht – man denke an Le Corbusiers Cité mondiale –, nicht den inhärenten Idealismus, aber sein auf die Moderne fixierter Blick scheute sich offenbar, auch die Rückseite der Medaille zu identifizieren. Denn wenig überraschend wurde die Formensprache der Revolutionsarchitektur auch von NS-Architekten aufgenommen.

Sigfried Giedion

V.7.3.1./V.7.4.

Emil Kaufmann

Kaufmann 1933, 43

IX.2.1.3.

3.2.3.2. Material und Funktion Das 19. Jh. brachte für die Architektur eine Reihe neuer Baumaterialien – nicht zuletzt Folge der industriellen Revolution. Einer der lebhaften Nutzer dieser neuen Vielfalt war der oben erwähnte englische Architekt John Nash. Insbesondere das Gusseisen machte – vor allem für technische Bauwerke – eine große Karriere. Die erste Gusseisenbrücke von Abraham Darby spannte sich 1779 über den Severn in Coalbrookdale in Shropshire. Es folgten berühmte Brücken wie die Sunderland-Brücke, deren Spannweite von 72 Metern als Nachahmung eines Steingewölbes 1796

3.2.1.1. Gusseisen

284

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

560 ­Bahnhof von Tours, Gusseisen und Beton von Victor Laloux (1898) Hitchcock 1958, 115

Jodidio 1995, 14 Beton

Sennett 2008, 188f 3.2.3.2.1.

vollendet werden konnte, oder die wunderbare Brooklyn-Bridge in New York vom deutschstämmigen John A. Roebling und seinem Sohn Washington 1883. Die Eisenbrücke wurde geradezu zu einem Symbol der neuen technisch geprägten Zeit, bis 1855 Sir Henry Bessemer ein Stahlherstellungsverfahren erfand. Die Spannweiten bei den Überdachungen mit Eisenkonstruktionen sprangen von 40 Metern 1811 (Halle au blé; Paris) auf bis zu 115 Metern im Jahr 1889 (Palais des Machines; Paris). Dazu kam das Glas, das vor allem in Verbindung mit dem Stahlskelett zu großartigen Anwendungen bei Glas- und Gewächshäusern mit einem Höhepunkt beim Londoner Kristallpalast des englischen Botanikers und Architekten Joseph Paxton 1850/51 führte. Die Verbindung von Eisen und Glas erlebte um 1850 ihre Blütezeit mit der »construction of a considerable number of ›Crystal Palaces‹, first in London and then all over the western world, […].« Der gigantische Kristallpalast Paxtons, in dessen knapp einer Million Kubikmetern Baumasse der Petersdom gleich vier Mal Platz gefunden hätte, wurde von den Firmen Chance Brothers (Glas) und Fox & Henderson (Bau) mit industriell vorgefertigten Teilen nach einem Rastersystem zusammengebaut. Deshalb konnte das riesige Bauwerk in nur neun Monaten errichtet werden. Es beherbergte mehr als eine Million Ausstellungsstücke und war ein eindrucksvoller Ausweis der inzwischen erreichten Produktivität der englischen Wirtschaft. Die Idee einer solchen Form hielt sich bis in die Gegenwart. Nicholas Grimshaws Erweiterungsbau für den Bahnhof Waterloo in London (1993) erinnert »an die Tradition großer Baumeister und Ingenieure wie Paxton oder Eiffel.« Das 19. Jh. brachte auch den Beton. 1824 ließ Joseph Aspdin ein neues Material unter dem Namen Portlandzement patentieren. 1867 verstärkte der Gärtner Joseph Monier das Material durch Einfügen von Eisenstäben. Der Eisenbeton wurde im gleichen Jahr erfunden wie das Dynamit durch Alfred Nobel. 1875 wurde die erste Brücke aus Eisenbeton errichtet (Bücke am Schloss Chazelet). Der eigentliche Durchbruch des Betons erfolgte allerdings erst um die Jahrhundertwende. Eine Diskussion um die Natürlichkeit des Baumaterials ließ angesichts dieser Revolution neuer, industriell gefertigter Baustoffe nicht lange auf sich warten. Die Rede war vom »ehrlichen Ziegel«, der von Hand gefertigt sein und nicht durch Putz verdeckt werden sollte. Sowohl in der Bildhauerei als auch in der Architektur war das Streben nach der Natürlichkeit der Oberfläche, die auch die Spuren der Bearbeitung zeigen durfte, ein ästhetisches Kriterium. Schon im 18. Jh. hatte die maschinelle Produktion des Ziegels, dieses archaischen Baumaterials, begonnen, was der profilierte Industrialisierungskritiker John Ruskin scharf angriff. Allerdings galt Ziegelmauerwerk zugleich auch als plebejisch. Zum Kristallpalast bemerkte Ruskin mit Verweis auf die vorher gebauten Gewächshäuser lapidar, das einzig Neue daran sei seine Größe. Es war letztlich der Empirismus, der in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nach dem im letzten Kapitel beschriebenen Paradigmenwechsel in der Architektur



285

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

zu einer Verschiebung der kunstphilosophischen Bewertung von einer ästhetischen und symbolischen zu einer technisch-rationalen führte. »Materialgerechtigkeit, Autonomie der Form und Primat des Tektonischen avancieren zu neuen Postulaten.« Die nachhaltigsten Beiträge dazu schrieben der gerade erwähnte John Ruskin und der aus Paris stammende Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc.

Adam 1999

3.2.3.2.1. John Ruskin Der 1819 in London geborene Kunsthistoriker und Schriftsteller John Ruskin hinterließ faszinierende und vielseitige kunstphilosophische Überlegungen. Ruskins Kunst- und Architekturphilosophie war zugleich eine Gesellschaftslehre und Moralphilosophie, denn Kunst hatte für ihn eine soziale und moralische Funktion. In dieser Hinsicht war er von Pugin inspiriert. Auch Ruskin hing der Gotik an und hatte Sympathie für deren religiöse Konnotationen, den Fanatismus Pugins teilte er indes nicht. Als Hauptwerk darf sein fünfbändiges Werk Modern Painters (1843–1860) gelten. Es handelt sich um eine vergleichende Untersuchung von alten und modernen Malern, vor allem Landschaftsmalern, im Hinblick auf ihre Wahrhaftigkeit, Schönheit und Ordnung/Angemessenheit (truth, beauty, relation). Er suchte für seine engagierte und (aus konservativer Sicht) bewusst wertende Kunstbetrachtung eine empirische Basis, die er in der Strömungslehre, in den Wettererscheinungen oder bei den optischen Gesetzen von Spiegelungen zu finden glaubte. Gemessen an seinen Kriterien einer wahrhaften Landschaftsmalerei fiel Claude Lorrain im Gegensatz zu William Turner durch. Bei Turner faszinierte Ruskin die Darstellung der Natur, die seinem Konzept des Erhabenen entsprach. Ruskin war vom Erlebnis der Alpen zutiefst beeindruckt, ein Gefühl, das sich in vielen seiner Zeichnungen ausdrückt. Die Landschaftsmalerei hatte eine kompensatorische Funktion. Sie sei, wie er in den Stones of Venice meinte, nichts anderes als ein beherzter Versuch, »die Leere, die die Zerstörung der gotischen Architektur hinterlassen hat, zu füllen.« Diese Zerstörung des Alten wiederum lastete Ruskin der Industrialisierung an, an der er sich zugunsten der Handarbeit bevorzugt rieb. Das Erhabene bildet in Ruskins Schriften das verbindende Element zwischen der bildenden Kunst und der Architektur. Wie die Natur soll auch ein Bauwerk überwältigen. Ruskin gab dem komplizierten Diskurs in England um die Ästhetik insofern eine entschiedene Wende, als er Ästhetik von der Ursprungsbedeutung der aisthesis her dachte und sie an die geläufige englische Tradition der sensation anschloss. In der Feststellung der Schönheit verband sich eine sensualistische Komponente der Empfindung mit einer klassischen Symmetriedefinition. Für die Kunst hielt er den Aspekt der Interesselosigkeit für charakteristisch. 1849 erschien der Architekturtraktat The Seven Lamps of Architecture und 1851– 1853 das dreibändige Werk The Stones of Venice. Die Kapitelüberschriften in seinem Architekturtraktat (Opfer, Wahrheit, Macht, Schönheit, Leben, Erinnerung, Gehorsam) würden kaum auf eine einschlägige Schrift schließen lassen. Die Themenpalette offenbart aber Ruskins Absichten. Er gab hier andere Quellen für die Architek-

Ruskin, zit. in ATh, 464

6.0.

286

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kruft 1985, 380

Åman Anders in Zeitler 1966, 177

Ruhl Carsten in ATh, 464

VI.7.3.4.

turtheorie an als jene in der üblichen Architekturgeschichte. Kunst- und Bauwerke sind wie andere Produkte einem sozialen und ökonomischen Kontext eingeschrieben. Demnach müssten auch Fragen der Volkswirtschaft, der Ethik und Naturwissenschaften sowie soziologische Fragen Beachtung finden. Das zeigt nicht nur seine Vielseitigkeit und sein breites Interesse, vielmehr waren das aus seiner Sicht legitime Themen eines solchen Traktats. Architektur müsse sich im Lichte (lamps) solcher Fragen bewähren. »Mit unüberhörbarer Anspielung auf die biblische Apokalypse entwickelt Ruskin Kriterien, die dem religiös-ethischen Bereich entstammen und mit denen er seine architektonischen Beobachtungen und Forderungen in Übereinstimmung zu bringen sucht.« Es war dieser philosophische Kontext, der ihn auf die mittelalterliche (und zwar kontinentale) Gotik zurückgreifen ließ, wo Asymmetrie und Unproportionalität erlaubt seien. In der Gotik sah er Transparenz und Ehrlichkeit der Konstruktion, eine Ehrlichkeit, wie sie handwerklich erzeugte Bauteile auszeichnete. Verlogene Ornamentik und die beliebte Verkleidung von Bauten mit Fassaden bekämpfte er vehement. Ruskin und Viollet-le-Duc rehabilitierten die Gotik aus unterschiedlichen Gründen. Ruskin war ein Erzähler, zog Parallelen zwischen Gotik und Natur, verehrte das Mittelalter und seine Religiosität und feierte Material und Handwerk mit moralischem Zungenschlag, während Viollet-le-Duc, ein aufgeklärter Atheist, rational und konstruktiv dachte. In den Mittelpunkt seines Interesses rückte die Funktionalität. »Ruskin und Viollet le Duc beschäftigten sich eingehend mit der Geschichte, und dennoch zählen sie zugleich auch zu den ›pioneers of modern design.‹« Ruskins Verehrung des Handwerks machte ihn zu einem Kritiker der Industrialisierung. Insbesondere polemisierte er gegen die Serienproduktion von Baumaterialien, seien es Ziegel oder Eisen- und Glasteile, wie sie Joseph Paxton bei seinem Christal Palace verwandte. Allenfalls für Zweck- und Alltagsarchitektur sei industrielle Unterstützung denkbar. Das Handwerk hingegen habe seinen Höhepunkt im Mittelalter erlebt. Seine Stones of Venice greifen dieses Thema auf und preisen die Gotik in Venedig, die zum Unterschied von der vernunftlastigen Renaissance Gefühl und Einbildungskraft anspreche. »Wie eine Hommage an die von Ruskin verehrte Malerei Turners wirkt es, wenn er darüber hinaus das besondere Zusammenspiel zwischen der Farbigkeit der sorgfältig gewählten Baumaterialien und dem südlichen Licht in der italienischen Architektur betont.« Der über Jahrhunderte gefeierte Palladio galt Ruskin zusammen mit Sansovino und Scamozzi als einer der Zerstörer seines geliebten byzantinischen und mittelalterlichen Venedig. Diese Künstlerarchitekten galten ihm als Personifizierung der Aufklärung der Renaissance, an der er sich stieß, weil sie die Gotik als Stil wahrer Frömmigkeit verdrängt habe. Ruskin stand gegen den Zeitgeist. Das Klima an der Akademie in Paris war für Gotik-Anhänger ungünstig, die Vorliebe galt der Renaissance. Viollet-le-Duc konnte sich gerade einmal zwei Monate an der Akademie halten. In der Malerei verlieh Ruskin dieses niederschmetternde Urteil eines Zerstörers der alten Gotik Michelangelo und seiner fehlenden Harmonie und schon barocken Expressivität. Nur der Gotik komme die Macht zu, einen höheren geistigen Gehalt



287

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

auszudrücken. Darin sah Ruskin sein Kunstideal, Darstellung einer Idee weitab von seelenloser Naturnachahmung, verwirklicht. Von da her würdigte er die Präraffaeliten, die in ihm einen einflussreichen Förderer hatten und die nach Ruskins Meinung der Malweise Dürers, der als Maßstab diente, am nächsten kamen. Sein Einsatz für das Handwerk und die religiös gestimmte Gotik-Begeisterung hatten also durchaus philosophische Bezüge. In beiden Fällen ging es um die Konzentration von leerer Materialität bzw. Vernunftlastigkeit gegen etwas Beseeltes und Gefühlsbetontes. Die Stones of Venice sind ein antiklassizistisches, sich der Romantik annäherndes Werk. In diesem Kontext äußerte sich Ruskin auch über das Denkmal, das er als schützenswert erachtete und zu dem die ihm in der Geschichte zugewachsene Patina gehört. In dieser Frage wich er von Viollet-le-Duc ab, der die gotischen Monumente mit beherzten Eingriffen rekonstruierte. Auf die alten Gebäude bezogen meinte Ruskin gegen Viollet-le-Duc: »We have no right whatever to touch them. They are not ours. They belong partly to those who built them, and partly to all the generations of mankind who are to follow us.« Diese Frage treibt bis heute den Denkmalschutz um und sie ist im konkreten Anwendungsfall nicht immer einfach zu entscheiden.

3.2.3.2.2. Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc Der Paradigmenwechsel von einem philosophischen Sinnrahmen zum Technischen, der sich in den beiden Protagonisten Ruskin auf der einen und Viollet-le-Duc auf der anderen Seite exemplarisch ausdrückte, war vorbereitet durch den aus Lyon stammenden Jean-Baptiste Rondelet, der durch die Schule Blondels gegangen war, und durch den in Paris (Passy) geborenen Architekten Guillaume Abel Blouet. Rondelet, der ausführlich die Bauwerke Italiens studiert hatte, war federführend im Aufbau einer Ingenieursschule nach der revolutionsbedingten Schließung der Akademie 1793. Dort ging es vor allem um Konstruktionstechnik und Statik und um militärische Projekte. In seinem mehrbändigen Lehrbuch Traité théorique et pratique de l’art de bâtir (1802–1817) bekannte er sich neben der technischen Fertigkeit und einer umfangreichen Materialkunde auch zu Angemessenheit und Schönheit, die jedes Kunstwerk auszeichnen sollten. Ein zum Werk gehörender Tafelband wurde von Blouet herausgegeben, der fünf Jahre in Rom verbracht und unter anderem die Thermen des Caracalla vermessen hatte. Er machte sich in Frankreich einen Namen mit der Reform der Gefängnisarchitektur. Viollet-le-Duc führte demnach einen Ansatz fort, der in ein aufgeklärtes Klima passte. Die bislang dominante Anthropometrie, mit der auch ein großes Interesse an den Proportionslehren verbunden war, trat jetzt weit zurück. Die genannten Autoren legten ihren Überlegungen die neu eingeführte Maßeinheit des Meters zugrunde (das Ur-Meter aus Platin wurde am 22. Juni 1799 in Paris hinterlegt). In den Neunzigerjahren des 18. Jh.s wurden Statik und Geometrie die Konstanten der Architektur, der Proportionsbegriff hingegen verlor an Bedeutung. Viollet-le-Duc war mit der Aufgabe der Erfassung und Renovation der alten Bausubstanz in Frankreich betraut worden, darunter waren bedeutende mittelalterliche Kathedralen. In der Frage nach der Art und Weise von Renovierungen hinterließ er

8.1.

Ruskin, zit. nach Kruft 1985, 382

288

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kruft 1985, 323

Freigang Christian in ATh, 344

Taschen/Taschen 2016, 298 V.7.4.1.

Kruft 1985, 322

IX.2.3.5.

der Nachwelt ein ambivalentes Erbe. Seiner Meinung nach müsse jede Renovierung einen fiktiven Idealzustand des Bauwerks herstellen, unabhängig von der Frage nach dem ursprünglichen Bestand. Restaurieren bedeutete für ihn »nicht die Wiederherstellung realer Zustände, sondern die Projektion gegenwartsbezogener Postulate in die Vergangenheit.« Wie im letzten Kapitel angemerkt, unterschied er sich in dieser Frage gründlich von John Ruskin. Viollet, mit dem im 2. Kaiserreich in Frankreich ein großes Restaurierungsprogramm begann, sammelte den Schatz der dabei gemachten Erfahrung in einem Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle (1854–1868). Es handelt sich um eine erste »minutiöse Realienkunde einer historischen Epoche.« Seine Lehrmeinung legte er in den Entretiens sur l’architecture (1863–1872) und weiteren Schriften nieder. Abseits des Problems der Rekonstruktion alter Bausubstanz ging es Viollet-le-Duc bereits – fern aller philosophischen Konzepte – um Konstruktion und Funktion in der Architektur. Es wirkte zwar dort noch ein Klassizismus nach, wo es um Kritik an Ornamentik und Narrativität ging, aber die bestimmenden Determinanten der Architektur waren aus seiner Sicht die technischen Möglichkeiten. Er setzte sich ein »für eine Baukunst, die die physikalischen Eigenschaften und konstruktiven Möglichkeiten neuer Baustoffe wie etwa Eisen nutzte.« Diese Sicht wirkt bis in manche historische Architekturanalyse der Gegenwart nach, etwa in der Frage, inwieweit die Gotik mit philosophischen Erzählungen verknüpft werden muss oder bloß Ausdruck eines bautechnischen Fortschritts ist. Viollet-le-Ducs rationale und profane Deutung der Gotik berief sich auf die Aufklärung der hochmittelalterlichen Städte. In ihrer Planung befreiten sich die Baumeister von den Regeln der Klosterordnungen und unternahmen unter den Auspizien einer bürgerlichen Gesellschaft ein Bauen nach den Regeln der Vernunft. Das alles sah Viollet in der Gotik versammelt. Sie sei ein bisheriger Höhepunkt, wo sich Rationalität, Effizienz mit Naturgesetzen, Material und idealer Proportioniertheit verbanden. »Indem er die gotische Architektur als rational, als vollkommenen Ausdruck einer demokratisch gewerteten Gesellschaft versteht, werden ihre Prinzipien zum Vorbild der Gegenwart. Es geht Viollet nicht primär um eine Imitation der Gotik, sondern um ein Aufgreifen ihrer rationalen Prinzipien […] Diese gedankliche Konstruktion erlaubt es ihm, den technologischen Fortschritt der Gegenwart praktisch als eine Weiterentwicklung der Gotik zu interpretieren.« Natürlich heißt das auch, dass Viollet-le-Duc einen technischen Zugang zur Gotik besaß und keinesfalls dem Gedanken einer kosmisch und religiös gestimmten Harmonie zu folgen gewillt war. Damit war er nicht alleine. Vor ihm vertrat der Mathematiker Paolo Frisi aus der Lombardei eine solche Position. Sein Werk Saggio sopra l’achitettura gotica (1766) wurde von Herder ins Deutsche übersetzt. Der französische Ingenieur Auguste Choisy trug den Gedanken in das 20. Jh. und deutete in Histoire de l’architecture (1899) die gesamte Architekturgeschichte inklusive den Wandel der Baustile als eine Entwicklung der Bautechnik. In seiner Proportionenlehre vertrat er ein Modul-System. Bei den Ägyptern war das seiner Meinung nach der Ziegel, bei den Griechen der Säulendurchmesser und in der Gotik – anders als Viollet das sah – der Mensch. Le Corbusiers Modulator war von da her inspiriert.



289

Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur

Es ist offensichtlich, dass Viollet-le-Duc seinen Blick aus einer Position der Aufklärung auf die Vergangenheit warf und sich von einem strengen Klassizismus befreite, indem er enge Regelsysteme als ebenso hinderlich für den Fortschritt der Architektur sah, wie klerikale oder monarchische Strukturen. In diesem Befreiungsgestus der Architektur spricht sich unüberhörbar ein Aspekt der Moderne aus. In seinen Publikationen kam er des Öfteren auf das neue Baumaterial Eisen zu sprechen, mit dem sich große Spannweiten realisieren ließen und das zudem preiswerter als die aufwendigen Steinkonstruktionen war. Le-Duc war fasziniert von dem neuen Material, er war – ganz anders als der an der Handwerkskunst hängende Ruskin – fasziniert von der Maschine, die in England so weit entwickelt war, dass man schon von einer technologischen Fortschrittsgläubigkeit reden kann. Maschinen, Lokomotiven, Schiffe: an ihnen fand le-Duc die Gotik realisiert und nicht etwa in einem höheren geistigen Gehalt oder im Gefühl des Erhabenen. In frappanter Ähnlichkeit wird Le Corbusier in seinem Vers une Architecture aus vergleichbarer Motivation Autos, Flugzeuge und Schiffe preisen. Dass man auf Wege verweist, die von hier aus zum Futurismus oder zu Sullivan führen, kann nicht überraschen, wenn man sein Lob der Lokomotive hört: »Deshalb hat eine Lokomotive Stil. Einige werden sie eine häßliche Maschine nennen. Aber warum? Stellt sie nicht den wahren Ausdruck der rohen Energie dar, die sie verkörpert?« Auch das futuristische Manifest preist die Lokomotive: »[…] die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen […].« In Italien gab es eine Analogie zu den Eisenkonstruktionen, wie sie in England und Frankreich umgesetzt wurden: Die außergewöhnlichen und ins Megalomanische gehenden Steinkonstruktionen des Turiner Architekten Alessandro Antonelli, dessen bekanntestes Beispiel die Mole Antonelliana in Turin (1863–1888) ist, ein Ziegelbauwerk, das mit seinen 167 Metern Höhe kurzzeitig das höchste begehbare Gebäude der Welt war, bis es 1889 vom Eiffelturm abgelöst wurde. Freilich war auch Viollet-le-Duc nicht frei von üblichen Schablonen, etwa wenn er sich gegen Angriffe aus der Ecke der strengen Klassizisten wehren musste. Da betrat er mit dem Hinweis auf die nationale Komponente des Stils ein aus heutiger Sicht vermintes Feld der Romantik.

3.2.3.2.3. Zwischen Denkmalschutz und Modernisierung Diese Architektur nostalgischer Rückgriffe hatte zumindest zwei Motivationen, die auch als Paradigmen beim Denkmalschutz auftauchten: Die Bewahrung des Alten in seiner originalen Form, zugleich aber dort, wo kein ideologisches Korsett das Alte absicherte, wie es Ruskin vorlebte, ein bewusstes kreatives Umsetzen alter Formideen in die modernen Techniken und Materialien. Wenngleich das Problem der Erhaltung und/oder Wiederherstellung alter Kunst- und Bauwerke noch einige Facetten mehr kennt, wurden im 19. Jh. die Linien der Diskussion abgesteckt, die bis heute nichts an ihrer Brisanz verloren haben. Besonders in dem durch flächendeckende Kriegsverwüstungen in den deutschen Städten, die dem Land einen Teil des historischen Erbes gekostet haben, tobt dieser Streit mit außergewöhnlicher Schärfe. Aktuelle

9.2.3.3. Viollet-le-Duc, zit. nach Baur 1981, 134 Marinetti, zit. HW, 186 IX.2.2.6.

561 Mole Antonelliana (1889); Turin

290

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

X.3.5.1.1.

Löhndorf 2015 Arts and Crafts Movement

Beispiele dafür sind die heftigen Debatten um die Rekonstruktion (der Fassade) des aus der Renaissance stammenden, durch Andreas Schlüters Umgestaltungen barockisierten Residenzschlosses der Hohenzollern (ab 1871 Residenz des Dt. Kaiserreichs) in Berlin, dessen ausgebrannte Ruine – obwohl renovierungsfähig – 1950 von der SED geschleift wurde. Die hitzige Debatte um das Für und Wider einer solchen Rekonstruktion nahm noch durch den Umstand Fahrt auf, dass nur eine teilweise Rekonstruktion beschlossen wurde. Nicht weniger heftig tobte die Auseinandersetzung um den historisierenden Nachbau eines ganzen Stadtviertels mit 35 Häusern für 200 Millionen Euro in Frankfurt. Die Befürworter der Rekonstruktion der alten Fachwerkhäuser sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, rechtsnationalistischer und antidemokratischer Gesinnung anzuhängen (zu allem Überfluss ließen sich bei einzelnen Initiatoren des Wiederaufbaus tatsächlich biografische Verästelungen in die rechtsradikale Szene nachweisen), während die Demokraten und weltoffenen Bürger gleichsam auf Rekonstruktionen grundsätzlich zu verzichten hätten. Die Grundlagen des Denkmalschutzes hängen daher denkbar eng mit dem Ideengebäude der Moderne zusammen. Schon die vermutlich wichtigste Voraussetzung für den anhebenden Denkmalschutz, die Ästhetisierung der Kunst, war der bedeutendste Schritt in die Moderne. Erst durch eine autonome Sicht lässt sich ein Kunstwerk kontextunabhängig bewerten und es lässt sich ein gewünschter Zustand der Wiederherstellung definieren. Das breiteste Echo rief das Anliegen des Schützens und Renovierens des Alten dort hervor, wo es eine Vorliebe zu traditionellen Materialien und zum alten Handwerk gab, in einer Zeit, wo dies als ein Desiderat empfunden wurde. Das bedeutete auch eine Aufwertung der angewandten Künste, eine Voraussetzung für den Jugendstil und die diversen Künstlervereinigungen, vom Arts and Crafts Movement bis zu Bauhaus und Werkbund. William Morris forderte in einer Rede 1877 eine Besinnung auf die moralischen Aspekte der angewandten Künste (the lesser arts), die sich von den schönen Künsten entfernt und dadurch an Ansehen verloren hätten. Es war gewissermaßen die Umsetzung der Theorien seines Lehrers Ruskin in die Praxis. Angeblich weil er im Handel kein einziges Möbelstück fand, das er in sein von seinem Freund Philip Webb entworfenes Rotes Haus (benannt nach dem roten Ziegel) stellen wollte, gründete er 1861 eine Kooperative Morris, Marshall, Faulkner & Co., die er 1875 auflöste und als eigene Kunstgewerbe-Firma William Morris & Co. fortführte. Seine Tapeten schafften es bis in die Luxuskabinen der Titanic. 1888 rief er das Arts and Crafts Movement und The Arts and Crafts Exhibition Society ins Leben. Die sich an sozialistischen Ideen orientierende Bewegung, die aus vielen einzelnen Gilden und Organisationen bestand, war gegen die industrielle Produktionsweise gerichtet und förderte die Verbindung von Kunst und Handwerk. Die Frontstellung gegen die Maschinentechnik – er hielt sie für eine kapitalistische Ausgeburt – und seine an die Präraffaeliten angelehnte Mittelalterverehrung waren die Wurzeln für das spätere Scheitern der Bewegung. Morris dichtete auch und kümmerte sich um einen hochwertigen Buchdruck. In seiner eigenen Druckerei gestaltete er das Buch zu einem Gesamtkunstwerk, für

291

Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus

das er eigene Schrifttypen entwarf. Vielleicht war Morris genau deshalb prädestiniert, einer der Pioniere der Denkmalpflege zu werden. Er gründete The Society for the Protection of Ancient Buildings. Hier verfolgte er das gleiche Prinzip wie Ruskin mit der Begründung, dass Architektur Ausdruck einer bestimmten Gesellschaft und daher nicht in eine andere Gesellschaft transformierbar sei. Der Sozialist Morris stellte sich mit einem sozialutopischen Roman (News from Nowhere; 1890) in die Tradition der Gesellschaftsutopien. Er transferierte eine mittelalterliche Gesellschaft in das 20. Jh. (allerdings ohne jeden sozialen Unterschied) und konterkarierte mit dieser (maschinenstürmerischen) Vision die fortschrittliche Utopie eines Maschinenstaates des amerikanischen Reformers Edward Bellamy. Erst nach Morris wurde auch die industrielle Fertigung in die neuen Formideen einbezogen. 1907 kam es zur Gründung des Deutschen Werkbundes, der für das ähnliche Anliegen eine wesentlich kreativere (wenngleich auch nicht völlig unumstrittene) Einstellung in der Verbindung von Handwerk und Industrieproduktion hatte. In der Art-Nouveau-Bewegung verschmolzen die beiden Aspekte, was der Architektur kreative Impulse bescherte. Eine ähnliche Ausrichtung wie Morris’ Arts and Crafts-Bewegung verfolgte neben Charles Robert Ashbee mit einer School of Handicraft und einer Gild of Handicraft Richard Lethaby mit seiner Art Workers’ Guild. Er war mit Morris in Kontakt, seine Theorie ging aber in eine andere Richtung. In seinem Werk Architecture, Mysticism and Myth (1892) wollte er alle Formen der Architektur als Nachahmung der Natur verstehen. Gebäude sollten ein kosmisches Symbolsystem (cosmical symbolism) darstellen. Er forderte Freiheit, Einfachheit und Angemessenheit des Materials. Die Rückkehr zur Natur bedeutete gleichzeitig einen Ausstieg aus dem Stilpluralismus und eine kritische Sicht des Ornaments. Als Architekt baute er eigenwillige Konstruktionen, Kombinationen aus Beton und Strohdach und orientalisierende Kathedralen. Mit wenig kritischen Vorbehalten experimentierte er mit den neuen technischen Entwicklungen. Hanno-Walter Kruft vermutet, dass Lethaby Loos’ Ornament und Verbrechen gekannt habe, zudem beobachtete er den Deutschen Werkbund aufmerksam. »Lethaby’s Hinwendung zu einem materialbedingten Funktionalismus und zur Vorstellung eines neuen symbolhaften Ornaments zeigen eine gedankliche Zwischenstellung zwischen der Schule von Chicago und in Wien geführten Diskussionen, die noch zu untersuchen ist.«

Fahr-Becker 2007, 33f

IX.2.2.8.

Kruft 1985, 389f 9.2.3.3.

Ebd., 390

4.0. Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus Das 19. Jh. lässt sich nicht nur in historische Abschnitte unterteilen, auch verschiedene philosophische Positionen stießen – sich ergänzend und sich widersprechend – zusammen. Besonders der Deutsche Idealismus versammelte aufklärerische, klassizistische und romantische Gedanken. Zwei kunstphilosophisch relevante Schriftsteller tauchen immer wieder in diesen scheinbar so unterschiedlichen Kontexten auf: Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe, letzterer nicht nur in solchem Umfeld, sondern in zahlreichen weiteren Kontexten, von der Naturwissenschaft über

562 Schiller, Porträt von Ludovike Simanowiz, Ausschnitt (1794)

292

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

die Politik bis zur Kunst und Architektur, sodass man immer wieder erstaunt ist, wie ein begrenztes Menschenleben so viele Impulse setzen konnte.

4.1. Friedrich Schiller

Oellers 2005; Safranski 2009b

Safranski 2007b, 123

Ebd., 269

Der große Schriftsteller der Weimarer Klassik, der 1759 in Marbach am Neckar geborene Friedrich Schiller, entwickelte zwar keine ausdrückliche Kunstphilosophie, wohl aber eine an den Gedanken Kants orientierte Ästhetik, und er formulierte Überlegungen zur Kunst. Schiller, der Aufklärer, spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Deutschem Idealismus und Romantik. Inwieweit Schiller als ausdrücklicher Philosoph zu würdigen ist, mag dahingestellt bleiben. Norbert Oellers, der intime Kenner Schillers, bleibt in dieser Frage zurückhaltender als Rüdiger Safranski, der mit einer solchen Einordnung durchaus sympathisiert. Als Schüler durchlitt Schiller eine strenge Ausbildung in der »Hohen Karlsschule« zuerst in Ludwigsburg, dann in Stuttgart, in der Herzog Karl Eugen von Württemberg persönlich das Kommando führte. In Stuttgart wechselte er vom Studium der Jurisprudenz zu jenem der Medizin, was ihn nicht hinderte, sich in erster Linie für Philosophie und Literatur zu interessieren. Der bei den Studenten beliebte Philosoph Jakob Friedrich Abel pflanzte aufklärerische und empiristische Gedanken in den dafür empfänglichen jungen Geist. Neben der Beschäftigung mit Philosophie blieb Schillers Leidenschaft von Anfang an die Schriftstellerei. Sein erster großer Wurf wurden die 1782 in Mannheim mit großem Erfolg uraufgeführten Die Räuber, mit denen er schlagartig Berühmtheit erlangte. Nach einem harzigen Abschluss mit zwei medizinischen Dissertationen wurde Schiller zunächst Militärarzt. Zeitgenössische Berichte über den in eine ihm verhasste Militäruniform eingezwängten späteren Dichterfürsten lesen sich amüsant. Schließlich entschloss er sich zu einer regelrechten Flucht, die ihn über Mannheim und Frankfurt nach Leipzig und schließlich nach Weimar und Jena führte, dem Labor der deutschen Romantik und des Deutschen Idealismus. Schiller pflegte regen Umgang mit den Intellektuellen der Zeit. In Weimar kamen die Großen, Wieland, Herder sowie Goethe dazu. Herder hatte sich brüsk von Kant abgewandt, als dieser in die Phase seiner kritischen Philosophie eingetreten war. »Kant forderte und gab strenge Begriffe, Herder schwelgte in Metaphern und Analogien.« Zum triumphalen Einstand im überfüllten Hörsaal wurde für Schiller nach seiner Übersiedlung nach Jena die Antrittsvorlesung an der Universität, wo man ihn mit Goethes Hilfe auf einen Lehrstuhl für Geschichte berufen hatte. Er war im Zentrum des deutschen Geisteslebens dieser Zeit angekommen. Vor ihm war Karl Leonhard Reinhold dort, der gefeierte Vermittler der Philosophie Immanuel Kants. Knapp nach der Jahrhundertwende hoben Schelling und Hegel, in der Jenaer Zeit eng befreundet, den Deutschen Idealismus aus der Taufe. Schiller war Kantianer. Er begann die Lektüre Kants aber mit der Kritik der Urteilskraft, weil ihn vor allem dessen Meinung zur Kunst und zum Schönen interessierte. Aus seiner Sicht ging Kant zu wenig weit. Er blieb bei seinem transzendentalen Ansatz beim Subjekt, also dem Rezipienten, stehen. Schiller wollte demgegenüber

293

Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus

zum Kunstwerk selbst vordringen und – eigentlich ja ein Rückschritt – einen Begriff des objektiv Schönen entwickeln. Er suchte also im Herzstück der Kantschen Ästhetik, in der Wende zum Subjekt, Korrekturen anzubringen, zwar nicht unbedingt im Sinne der alten Ontologieästhetik, aber doch im Sinne einer dem Subjekt gleichgewichtig gegenüber stehenden Beschreibung des Kunstwerks. Dies war zweifelsohne der wichtigste Rahmen, in den er seine kunstphilosophische und ästhetische Position platzierte. Er tat dies in den Schriften Über Anmut und Würde (1793), Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), Über das Erhabene (1801) und einigen weiteren, zu denen auch die bekannte Frühschrift Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784) gehörte. Die ästhetischen Briefe (Augustenburger Briefe) richtete Schiller 1793 an den Herzog von Augustenburg, Friedrich Christian II., nach Kopenhagen, um sich für das großzügige Stipendium zu bedanken, das ihm der Herzog gewährt hatte. 1795 veröffentlichte sie Schiller in überarbeiteter Form unter dem Titel Über die ästhetische Erziehung des Menschen in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift Horen. Angeregt waren die Briefe nicht zuletzt von der Erfahrung des Umschlagens der Französischen Revolution in den Terror, was Schiller auf die Unzulänglichkeit des Menschen zurückführte. Der Mensch war es schließlich, der als Ausgangspunkt seiner Ästhetik diente – der Mensch in seiner Freiheit! Schon in Anmut und Würde wollte Schiller Sittlichkeit und Sinnlichkeit gegenüber Kants Trennung versöhnen, was als Kritik am objektiven Geschmacksurteil gelesen werden kann. Er ordnete der Freiheit die Schönheit zu, Anmut hingegen sei Ausdruck eines moralisch-freien Gemüts, habe also mit dem Menschen zu tun. Anmut gehe einher mit einer Beherrschung der Triebe durch den Willen, was Geistesfreiheit und Würde bedeute. Aber hier geht es nicht wie bei Kant um reine Pflicht, sondern auch um Lust und Vergnügen, also um ein sinnliches Element. Die rigorose Pflichtethik Kants hatte Schiller – wie berichtet – spöttisch abgelehnt. Zwar war Schiller Kant nicht so fern, wie es dieses Distichon ausdrückte – in der gleichen Abhandlung nahm er Kant durchaus in Schutz –, aber er blieb dabei, dass die Idee der Pflicht alle Grazien abschrecke und eher einer finsteren mönchischen Asketik entspreche. Zu Anmut und Würde könnten aus seiner Sicht die Skulpturen der Klassik anregen, die moralisch wirken. Das sind Beispiele, wie er sein Anliegen verstand, Schönheit (neben dem Subjekt) im Gegenstand selbst zu verorten. Schillers ästhetische Briefe, an denen zeitgenössische Kritiker zu viel philosophisches Gepäck bemängelten, wollten neben einer umfangreichen Ästhetiktheorie auch eine politische Aussage sein. Gemeint war eine enge Verbindung von Kunstund Freiheitsphilosophie. Bevor an einer äußeren, politischen Freiheit gebaut werden kann, müsse innere Freiheit gewonnen werden. Es ist eine Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von den Determinationen der Natur. Schillers Überlegungen dazu sind ein eindrucksvolles Dokument eines sich unter aufklärerischen Vorzeichen konstituierenden freiheitlichen Staates. Rüdiger Safranski hebt einen Schlüsselsatz aus dem 15. Brief aus Schillers Ästhetik heraus: Er lautet: »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«

ästhetische Briefe

VII.6.2.

Schiller 1793, 465

homo ludens

Schiller 1795a, 618 Safranski 2007b, 413

294

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schiller 1795a, 641

Safranski 2007b, 413 Gadamer 1974, 113

X.2.5.

Schiller, zit. nach Ullrich Wolfgang in ÄKPh, 709 Waibl 2009, 153 das Erhabene

Schiller 1801, 801

Ullrich Wolfgang in ÄKPh, 710 Marquard 1962, 33

Kliche Dieter in ÄGB 1, 336

Es ist der homo ludens, den Schiller gegen die drohende Unmenschlichkeit des modernen Staates, Folge der Funktionalisierung des Einzelnen, in Stellung bringt. »Es gibt keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.« Rüdiger Safranski liest aus diesen Überlegungen eine Kritikfigur der Moderne avant la lettre heraus, die später unter den Stichworten Zweckrationalität und instrumentelle Vernunft prominent werden wird. Auch Hans Georg Gadamer stützt sich – mit Blick auf die Kunst – prominent auf den Spielbegriff, »damit das Spielelement der Kunst nicht nur negativ, als Freiheit von Zweckbindungen, sondern als freier Impuls sichtbar wird.« Dass Schiller die erste Konfrontation mit solchen Strukturen der reinen Vernunft jedenfalls bereits kritisch kommentierte, ist offensichtlich und das Spiel, also die Kultur, die ein Handeln ist, welches ihren Zweck außer sich hat (und nicht der Naturdetermination unterliegt), wird dagegen in Stellung gebracht. Das Spiel im Sinne Schillers ist eine Variante der Interesselosigkeit des Ästhetischen gegen die vielfachen Verzweckungen. Die von allen Zwängen freie Kunst ist eine autonome Kunst und sie zeigt sich als »überwundene Schwere«. Sie ist durch Leichtigkeit gekennzeichnet. Das Spiel wird aber auch gegen eine mögliche Dominanz der reinen Sinnlichkeit und der Triebe in Stellung gebracht. Das wäre ein Rückfall in das Wilde und Animalische. Das Spiel ist die »glückliche Mitte zwischen dem Gesetz und dem Bedürfnis«. Schönheit ist damit die Harmonie zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Der schöne Gegenstand löst eine ästhetische Stimmung aus, die wiederum die Kräfte des Menschen harmonisiert. »Das Kunstwerk ist immer schon, was der Mensch werden soll, nämlich sinnlich-geistige Einheit.« Bei der Bestimmung des Erhabenen legte Schiller gegen Kant Wert darauf, dass es das Erhabene auch in der Kunst gibt, denn dort liegt die ganze Einbildungskraft des Menschen, »das Sinnlich Unendliche darzustellen […].« Das ist ein Ausgang aus einer Abhängigkeit von der Sinnlichkeit und ein Abrücken von den Mächten der Natur, von denen Kant, aller starken Ausstattung des Subjekts zum Trotz, tief beeindruckt schien. »Ästhetische Erziehung besagt für Schiller also, daß der Mensch sich durch die Kunst als frei zu begreifen lernt und sich überflüssiger Bindungen und Beschränkungen entledigt, sobald er des Potentials dieser Freiheit bewußt wird.« Nur eine ästhetische Bildung sichert dem Menschen zu, »in rechter Weise politisch und geschichtlich zu sein.« Gegen den terreur der Französischen Revolution favorisierte er »als Remedium eine bestimmte Art von Erziehung, die über die Sensibilisierung des Geschmacks und des Schönheitssinns Sinnlichkeit und Vernunft, Natur und Freiheit miteinander versöhnt.« Wichtig dabei ist, dass Kunst als Spiel und schöner Schein autonom bleibt und nicht die gesamte Realität zum Schein wird. Schiller kann keineswegs für eine Ästhetisierung der Lebenswelt in Anspruch genommen werden, wohl aber für das, was Wilhelm Dilthey den »ästhetischen Menschen« genannt und damit einen Typ der deutschen Klassik gemeint hat. Ästhetik als eine Art von Lebenskunst mit moralischem Anspruch. Mehr noch: »Ästhetische Erziehung […] ist selbst et-

295

Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus

was Revolutionäres, weil nur sie den Erfolg einer künftigen Revolution sicherstellen kann.« Inwieweit die ästhetische Erziehung bei den Menschen Erfolg hat, darüber ist sich Schiller nicht so sicher und setzt auf »auserlesene Zirkel«, die Elmar Waibl beispielsweise bei Einrichtungen wie der Lebensgemeinschaft auf dem Monte Verità oder dem George-Kreis realisiert sieht. Im Geiste des Ältesten Systemprogramms des Deutschen Idealismus vertrat Schiller die Qualität der Vollkommenheit von Schönheit. Schönheit als Ideal hebe eine jede Entgegensetzung auf und befreie von Emotionen und von Leidenschaften. Das gehöre zur Funktion der Schönheit, indem sie in der Sittlichkeit bildet. Sein kühner Plan einer objektiven Bestimmung von Schönheit ließ sich letztlich nie überzeugend umsetzen, denn Schönheit sollte auf sinnlicher Basis und nicht auf der Basis theoretischer Vernunft bestimmt werden. Freiheit gibt es grundsätzlich nur beim Menschen, aber eine einigermaßen analoge Form sah Schiller auch in der Natur. Die Naturschönheit sei die ideale Verbindung von Naturnotwendigkeit und Ungezwungenheit. Mit dem Vergleich zwischen einem sportlichen Pferd und einem unfreien Ackergaul illustriert Schiller das, was er sagen will. Die Natur ist nur als »freie« Form effizient und rationell. Übertragen auf Kunst und Architektur: Jede Form des Überflüssigen: Zierat, Affektiertheit, Grimassen, sei der Natur nicht angemessen. Diese Geisteshaltung förderte Schillers Misstrauen gegen die Musik, in der er allzu viele irrationale Seiten sah. Im Paragone der Künste stützte er – kaum überraschend – die Literatur. Den in der Renaissance gegen die Literatur, die auf eine Erfahrung in der zeitlichen Sukzession eingeschränkt sei, ins Treffen geführten Vorteilen der bildenden Künste stellte Schiller den generativen Charakter der Literatur und damit des Schönen gegenüber: Das Schöne muss stets sterben und in der Literatur und im Theater kann es dies immer wieder tun. Zu diesem Thema gehört auch der Umgang mit der Religion. Schon Schillers Klage über den Verlust des Polytheismus weist auf eine ästhetische Sicht religiöser Erzählungen. Eine Szene in Maria Stuart wirbelte damals viel Staub auf: Die Darstellung des Abendmahls auf der Bühne. Bei den ersten Aufführungen musste die Szene gestrichen werden, weil man eine schauspielerische Darstellung des Rituals nicht akzeptieren konnte. Schiller ließ dieses Theater um das Sakrale aber in der Druckfassung stehen. Für den Freiheitsdenker Schiller und den Pantheisten Goethe waren Religionen keine Erlösungsangebote, sondern »Ausdrucksformen des schöpferischen Menschengeistes, ein unerschöpflicher Vorrat an Bildern und Motiven.« Abstrakter gesagt ist es das ideale Verhältnis von Materie und Form, was ein Naturding, aber auch ein Kunstwerk schön macht. »Schönheit ist das Erscheinenlassen der Freiheit an einem beliebigen historischen Ding oder Stoff.« Beim Kunstwerk ist für die Form der Künstler verantwortlich und Schiller mahnte, dass sich die Intentionen des Künstlers mit dem Eigensinn der Materie harmonisch verbinden müssen. Er dachte hier ähnlich wie Michelangelo, der den Künstler daraufhin funktionalisierte, die im Steinblock verborgene Figur zu befreien, gab dem Ganzen aber eine zusätzlich spielerisch-freie Dimension. Schillers Ästhetik hatte eine ausgeprägte subversive Kraft. Denn sie war gegen den strengen Regelkanon der Akademien gerichtet.

Waibl 2009, 150 Ebd., 154 IX.2.2.2. Schönheit

Safranski 2009a, 254 Gethmann-Siefert 1995, 165

296

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schneider 1996, 60

Sie drückte einen Protest aus, den er mit vielen seiner Zeitgenossen teilte und damit eine Spur in die Romantik mit ihrer Befreiung aus der Akademieästhetik legte.

4.2. Johann Wolfgang von Goethe

563 Goethe, Porträt von Joseph Karl Stieler, Ausschnitt (1828)

Safranski 2009a, 21

italienische Reise

Ebd., 47

Der 1782 in den Adelsstand erhobene Dichterfürst war 1749 in Frankfurt als erstes von sechs Kindern (von denen nur seine Schwester Cornelia das Kindesalter überlebte) einer wohlhabenden Juristenfamilie auf die Weltgekommen. Obwohl es von Goethe kein Hauptwerk zur Ästhetik gibt, hat er keine geringe kunstphilosophische Bedeutung. Seine Äußerungen dazu finden sich verstreut in zahlreichen Aufsätzen. Man unterscheidet gerne drei Phasen, in denen das Thema abgearbeitet wurde: (1) die frühe Zeit des Sturm und Drang, (2) die vor allem durch seine Italienreise ausgelöste Phase des Klassizismus und (3) die späte Zeit, wo sich Goethe auf einer eher empirischen und naturwissenschaftlichen Grundlage mit Kunstgeschichte und Archäologie beschäftigte. In Leipzig begann der junge Goethe ein Jurastudium, konzentrierte sich jedoch bald auf Poetik, nahm Zeichenunterricht, erlernte grafische Techniken und machte sich über Vermittlung des Barockmalers und Bildhauers Adam Friedrich Oeser, der einen Schwenk zum Klassizismus vollzogen hatte, mit der Antikendeutung von Oesers Schüler Winckelmann vertraut. 1805 erschien Goethes Arbeit Winckelmann und sein Jahrhundert. Zunächst eröffnete Goethe in Frankfurt eine Anwaltskanzlei, seine Leidenschaft galt aber der Dichtung. 1773 erschien ein außerordentlich erfolgreiches Gründungsmonument des Sturm und Drang, das Drama Götz von Berlichingen. Über die Grenzen hinaus wurde Goethe berühmt mit dem in kürzester Zeit zum Kultbuch gewordenen Roman Die Leiden des jungen Werther (1774), in den er eigene Erlebnisse mit unglücklichen Liebschaften einflocht und damit wohl einen Nerv der Zeit traf. Der junge Bonaparte soll das Buch sieben Mal gelesen haben. 1775 holte Herzog Carl-August Goethe nach Weimar. Legendär wurden dort die exzessiven Feste im Kreise der »Stürmer«, von denen man noch Jahre später zu berichten wusste. Ab Mitte der Siebzigerjahre bekleidete Goethe mehrere Ämter im Staatsdienst. Über sein Wirken als Beamter gehen die Meinungen in der Forschungsliteratur auseinander. Aufgaben wie die Leitung von Bergwerkskommissionen mögen sein Interesse an den Naturwissenschaften ausgelöst haben, befriedigen konnten ihn solche Tätigkeiten nicht. Eine weitere Enttäuschung war die Aussichtslosigkeit seines Werbens um Charlotte von Stein. Anstatt ihm zu verfallen echauffierte sich die Dame über Goethes pöbelhaftes Auftreten. 1786 durchschlug Goethe den Gordischen Knoten dieser scheinbar irreparablen Lebenssituation mit einer überstürzten und weitgehend geheimen Abreise nach Italien. »Die Doppelexistenz als Pegasus und Amtsschimmel war ihm zu anstrengend geworden.« Die Reise konfrontierte ihn mit den zwei Welten des Südens: Antike und Mittelalter. Während ihn die christliche Kunst mit den vielen Kruzifixen und gemarterten Heiligen abstieß, war er von der heidnischen Antike ebenso angetan wie von deren Fortsetzung in der Renaissance. Selbst die Figuren auf den antiken Grabmälern, so schreibt er in Verona, »[…] falten nicht die Hände, schauen nicht in

297

Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus

den Himmel, sondern sie sind hienieden, was sie waren und was sie sind. Sie stehen beisammen, nehmen Anteil aneinander, lieben sich […].« Ungefähr zur gleichen Zeit hatte Schiller im fernen Deutschland das Gedicht Die Götter Griechenlands geschrieben. Auch ihn hatte die Liebe zur Kunst den christlichen Vorstellungen entfremdet. Dies war eine gemeinsame Basis, auf der die spätere Freundschaft der beiden wurzelte, die nach der Rückkehr aus dem Süden bei der ersten Begegnung am 7. September 1788 im Haus der Charlotte von Lengefeld in Rudolstadt holprig begann. In Rom bezog Goethe Quartier im Haus des Malers Tischbein, verkehrte in Kreisen der dort lebenden deutschen Maler und erlebte – wie er selbst sagte – eine Wiedergeburt – und zwar als Künstler! Wie berichtet verband ihn viel mit Karl Philip Moritz und dessen Eintreten für Autonomie und Interessenlosigkeit der Kunst. Er, »der berühmteste aller Dilettanten«, griff nun beherzt zum Zeichenstift und hinterließ über tausend Zeichnungen. Seine Hauptbeschäftigung bestand freilich im Studieren der Kunst und Architektur der Antike und Renaissance, mit besonderer Würdigung von Raffael und Palladio. Zudem begann er in Rom Kunst zu sammeln. Goethe war von klein auf mit Kunst konfrontiert gewesen. Sein Vater besaß eine Gemäldesammlung und er kannte italienische Grafik, die ihn für das Land entzündet hatte. In der Kasseler Gemäldegalerie hatte er 1779 und 1783 Claude Lorrains Landschaften studiert. Sie waren – wie jene Poussins – geradezu eine Brille, durch die Goethe und seine Begleiter Italien betrachteten und manchmal die prosaische Wirklichkeit nur in der Überhöhung ihrer Phantasie retten konnten. Später betätigte er sich als Förderer junger Künstler. Zwischen 1799 und 1805 schrieben die »Weimarer Kunstfreunde« einen Preis für bildende Künstler aus, nicht zuletzt, um Weimar neben seiner Rolle als Hochburg der Literatur auch zum Mekka der bildenden Kunst zu machen. Die Aufgabenstellungen waren allerdings mit griechisch-mythologischen Themen überfrachtet und erreichten die jüngere Generation kaum mehr. Otto Runge schrieb nach Ablehnung einer Arbeit 1801 verärgert an seinen Vater: »Wir sind keine Griechen mehr.« Die Jungen widmeten sich anderen Dingen wie beispielsweise der Landschaft. Goethe verfasste zahlreiche Besprechungen mit pointierten, nicht immer um Ausgewogenheit bemühten Urteilen. Die Italienreise hatte eine Abkehr Goethes von seinem (romantisch inspirierten) Geniebegriff zugunsten eines klassizistischen Ideals gebracht. In den etappenweise und aus größerem Abstand inszenierten Veröffentlichungen über diese Reise (Tagebuch; 1786; Italienische Reise; 1816/17; Italienische Reise; 1829) brachte er mehr und mehr den Klassizismus gegen die Romantik in Stellung. »Goethe kehrte als Klassiker aus Italien zurück.« Nach der Rückkehr standen zunächst persönliche Verstrickungen im Vordergrund: seine für die Weimarer Gesellschaft anstößige Verbindung mit Christiane Vulpius, der uneheliche Sohn August. Goethe war schon aus Gründen seiner erotischen Bedürfnisse kein Freund der feinen Gesellschaft und bedauerte deren Untergang in diesen Jahren in Frankreich mit keinem Wort. Trotzdem blieb er, der widerwillig bei Kriegszügen 1792 und ein Jahr später gegen Frankreich mitmachen musste, der Revolution gegenüber zurückhaltend. Er misstraute unkontrollierten

Goethe 1816/17a, 54

VII.4.2. Resemann Angela in Toman 2009, 480

Beyer 2006a, 20f

Runge, zit. nach Ebd., 28

Klassizismus

Kruft 1985, 216

Seibt 2014

298

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Farbenlehre

6.1.4.

Lütkehaus 1992, 89f

Müller 2015

3.1.2. Gotik

Goethe 1816/17a, 311 Ebd., 225, 231

Ebd., 249

Gewaltausbrüchen und plädierte für maßvolle Reformen im Geist der Aufklärung. Im Mai 1807 entkam er nur knapp den Plünderern der napoleonischen Armee bei der Besetzung Weimars. In den Jahren des neuen Jahrhunderts brach sich das Interesse an naturwissenschaftlichen Themen Bahn und er entwickelte seine Farbenlehre (Entwurf einer Farbenlehre; 1810 mit einem Nachsatz 1820). Das Interesse an der Wissenschaft der Farben war bei einer Wanderung durch den verschneiten Harz 1777 (die Schneelandschaft erschien durch das sich brechende Sonnenlicht farbig gesäumt) ausgelöst worden. Goethe wagte einen Angriff auf Newton, der die Spektralfarben des weißen Lichts entdeckt hatte, und postulierte ein Medium, in dem sich Farben aus einer Zusammensetzung von Dunkelheit und Helligkeit ergeben. Er wollte das Phänomen der Farbe streng von einem empirischen Fundament her aufrollen, was ihn in die Nähe Schillers, aber in heftigen Gegensatz zum Subjektivismus Kantscher Prägung brachte, wie ihn etwa auch Schopenhauer (unter dem Motto Die Welt als Wille und Vorstellung) vertrat. Schopenhauer hatte diesen Subjektivismus in einem in der Form unterwürfigen, in der Sache aber harten Briefwechsel mit Goethe argumentiert. Ludger Lütkehaus pointiert treffend, dass Goethe Schopenhauers Subjektivismus geradezu als »chromatischen Atheismus« empfunden haben musste. Goethe ging diese Kritik an seiner Farbenlehre, die – so müsste man heute einräumen – immerhin in den Kreisen der Fachleute (wenn auch kontrovers) diskutiert wurde, schon deshalb nahe, weil er diese für zumindest gleich wichtig hielt wie seine Dichtung. Physikalisch war sein Ansatz von Anfang an obsolet (daran können auch eher eigenwillige Rettungsversuche nichts ändern). Einige Künstler, etwa die Romantiker Philipp Otto Runge und William Turner, schöpften aber durchaus ästhetische Anregungen aus dem Werk. Dass er beinahe den Durchbruch der Farbfotografie geschafft hätte, wurde bereits an anderer Stelle erwähnt. Eine andere Frage, die ihn ein Leben lang umtrieb, war die Haltung zur Gotik. Der Antikenverehrer Goethe verglich sie mit der antiken Monumentalität. Die Begegnung mit Antike und Renaissance hatte ihn das Monumentale gelehrt. Er traf in Agrigent 1787 auf so gewaltige Säulen, dass die Kannelur den Dichter zu verschlucken drohte: »[…] von der Kannelierung der Säule hingegen kann dies einen Begriff geben, daß ich, darin stehend, dieselbe als eine kleine Nische ausfüllte, mit beiden Schultern anstoßend.« Allerdings zeigte sich diese Monumentalität nicht überall. So war er enttäuscht darüber, was die seit 1738 laufenden Freilegungen von Herculaneum und Pompeij ans Licht brachten. Die Siedlungen waren ihm zu eng und düster. Auch Paestum kommentierte er zurückhaltend: »[…] so daß uns diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig, ja furchtbar erscheinen. Doch nahm ich mich bald zusammen […] und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet […].« Mit einer Ruinenromantik wusste Goethe nichts anzufangen. Nach diesen Erfahrungen stieß er sich an der Feinheit der gotischen Architektur: »Leider suchten alle nordischen Kirchenverzierer ihre Größe nur in der multiplicierten Kleinheit. […] dadurch wurden solche Ungeheuer wie der Dom zu Mailand, wo man einen ganzen Marmorberg mit ungeheuren Kosten versetzt, und in

299

Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus

die elendesten Formen gezwungen hat, ja noch täglich die armen Steine quält, um ein Werk fortzusetzen, das nie geendigt werden kann […].« Der von der Antike beeindruckte Goethe legte an die Gotik die gegenteiligen Kriterien an als Welby Pugin, der – umgekehrt – gegenüber der Gotik die Monumentalität der Antike abstoßend fand. Goethe war keineswegs immer so reserviert gegenüber der Gotik gewesen. Vor seiner Italienreise feierte er im Aufsatz Von deutscher Baukunst (1773) den Meister des Straßburger Münsters, Erwin von Steinbach, und das gotische Bauwerk (das freilich allein auf weiter Flur des »eingeschränkten düstern Pfaffenschauplatz des medii aevi« stand) gegen die Kritik der an der Antike sich orientierenden Akademie. Diese Eloge auf den Steinmetz von Steinbach war noch gegen den Klassizismus gerichtet, wie er etwa von Marc Antoine Laugier verkörpert wurde. Sie stand daher in enger Verbindung mit Goethes Shakespeare-Verehrung als Dichter, der »von dem Decorum des französischen Dramas befreit« habe. Aufgeladen war die Gotikdeutung zudem mit einer nationalen K ­ omponente, die das Straßburger Münster gegen die französische Nationalkunst in Stellung brachte. In der Tat versammeln sich lokalpatriotische, historisierende und aufklärerische Aspekte in Goethes Eloge auf Steinbach. Überdies konnte er an der Gotik das romantisch inspirierte Verhältnis von Genie und Natur feiern. Dieses Verhältnis verschob sich von der frühen Zeit zum Klassizismus hin unübersehbar: Dominierte anfangs der Kult des Genies, drängte in der Zeit der Klassikverehrung das Thema Naturnachahmung in den Vordergrund. Schon bei Shakespeare, dessen Werk er in den Siebzigerjahren kennen und verehren gelernt hatte, faszinierte ihn die Auffassung der Natur am meisten. »[…] die Natur ist doch das einzige Buch, das auf allen Blättern großen Gehalt bietet.« Goethe las diese Natur spinozistisch und pantheistisch (als natura naturans), es war eine Natur, wie sie Schelling philosophisch hochgerüstet hatte, eine solche praller Fülle und ständiger Entwicklung. Sie hat ihre Freiheit im Inneren und ihre Hemmung von außen. »Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße […] ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen […].« Das war sowohl philosophisch als auch politisch gedacht und kam in die Nähe von Rousseau. Trotz dieser pantheistischen Naturauffassung folgte keine Sympathie für die Romantik. Dieser gegenüber blieb Goethe stets ablehnend. Wie die (schöpferische) Natur schafft das Genie ein lebendiges Ganzes und trägt zur Befreiung der Architektur aus dem Regelkanon Vitruvs bei. Das Genie verschob reine Nachahmung in eine Produktionsästhetik, die sich freilich an einem Grundkanon orientierte. 1788 erschien im Teutschen Merkur ein Aufsatz Goethes mit dem Titel Baukunst, wo es um das Verhältnis von Form und Material ging, dessen Wichtigkeit Goethe in Italien zu Bewusstsein gekommen war. In diesem Aufsatz kritisierte er Vitruv – allerdings nicht immer zutreffend – und plädierte für den freien Palladio. Der Palladianismus hatte Deutschland nur spärlich auf dem Umweg über England erreicht. Nur vereinzelt gab es eine eigenständige Rezeption, etwa bei Leonhard Christoph Sturms Auseinandersetzung mit dem »Italiänischen Lust-Haus«. Gerade in den manieristischen Anwandlungen Palladios sah Goethe die Freiheiten des Genies. Sulpiz Boisserée notierte nach einem Besuch bei Goethe am 8. August 1815 in

Goethe 1788/89, 511

3.2.1.1.

Goethe 1773b, 24 VII.4.2.4.3.1. Bosse/Renner 2019

Ebd. Genie und Natur

Goethe 1816/17a, 223 5.2.1. Goethe, Gott, 36

Oechslin 2008, 126–157

300

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Boisserée, zit. nach Beyer 2006a, 16

Beyer 2006a, 19

Wetzel Michael in ÄKPh, 309 Safranski 2009a, 225 Voßkamp Wilhelm in ÄGB 3, 303

sein Tagebuch: »[…] Rein persönliche Leidenschaft für Palladio, bis ins Krasseste, Palladio und nichts als Palladio.« Palladio bot wohl besonders überzeugend ein noch vertretbares Verhältnis, das sowohl dem freien Genie Raum gewährte als auch dem Regelwerk Nachachtung verschaffte. Andreas Beyer hat diesen Aspekt schön herauspräpariert: »Der Sehnsucht des Klassizismus – das ist Goethes grundlegende Erfahrung in der Magna Graecia – ist die Rückkehr an die Anfänge verwehrt.« Schon deshalb blieb dies verwehrt, weil sich das Griechische als geschichtlich entpuppte, wie Goethe, der die Ionica gegenüber der Dorica deutlich bevorzugte, merkte. Es gibt nicht den eindeutigen klassischen Mustervorrat, was für den Klassizismus das größere Problem war als für die Renaissance. Trotz dieser historischen Relativierung bleiben für Goethe das Naturstudium und das Regelwerk der Kunst die Inhalte seiner Kunstphilosophie. In Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil (1789) legte er seine Sicht auf die Produktionsästhetik nieder. Was bei der Malerei mit enger Naturnachahmung beginne, werde vom Künstler in der Manier abstrahiert und erreiche im Stil die vollkommene Synthese von Wesensschau und Gegenstand. Jetzt wird die Natur »zum Kunstwerk, das nun als Darstellung einer idealen Wirklichkeit begriffen wird, wie sie auch die Bildungsidee des Wilhelm Meister bestimmt.« Natur wird über die ideale Nobilitierung zur Kunst. »Kunstwahrheit ist gesteigerte, verwandelte Natur, also nicht nur nachgeahmte Natur.« Das rechtfertigt schließlich das Studium der Natur im Sinne der Naturwissenschaften: »Das Studium der Natur gilt als Voraussetzung für jede Kunstproduktion, so daß Naturwissenschaft und Kunsttheorie einander bedingen.« Zusammen mit seinem Kunstberater, dem Schweizer Maler Johann Heinrich Meyer, den er in Rom kennengelernt und dann nach Weimar berufen hatte, schrieb Goethe den Aufsatz Über die Gegenstände der bildenden Kunst (1798). Darin unterschieden die Autoren die Poesie von der bildenden Kunst. Die Poesie sei eine Sache der Einbildungskraft, die Kunst diene der Anschauung des Sinnlich-Schönen. Dort, wo Kunst eine poetische, also eine emotionale und affektive Seite erhielt, wie in den Gemälden der Klassizisten Johann Heinrich Füssli und Jacques Louis David, rief sie bei Würdigung der grundsätzlichen Anlagen die Ablehnung Goethes hervor. Vor allem gegenüber religiösen Gehalten, wie es sie bei den Romantikern verbreitet gab, war Goethe allergisch. Als der Gedankenaustausch mit Schiller in Gang kam, ausgelöst durch die vom Verleger Johann Friedrich Cotta 1795 gegründete Zeitschrift Die Horen (bis 1797), für die er Schiller als Herausgeber gewinnen konnte und Goethe als Mitarbeiter, ging es um ästhetische Fragen. Goethe war angetan von Schillers Definition der Schönheit als Freiheit in der Erscheinung. Er versuchte seinerseits in einem 1794 publizierten Aufsatz, Schillers Ansatz auf sein eigenes Naturkonzept anzuwenden. Hatte Schiller noch Schönheit auf die unbehinderte Bewegung bezogen, sah Goethe Schönheit bereits in einer Gestalt realisiert, die Kräfte in sich versammelt. Goethes durch die Beschäftigung mit der Naturwissenschaft geprägter Zugang zur Ästhetik war deutlicher von einem Empirismus getragen als jener Schillers. Schiller machte aus diesem Unterschied eine ganze ästhetische Theorie und er schrieb in seiner Klassifizierung

301

Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus

von naiver und sentimentalischer Dichtung nichts Geringeres als ein Porträt von Goethe und sich selbst: Goethe als der naive Dichter im Sinne der Unmittelbarkeit der Sprache der Natur, zudem noch in pantheistischer Gestimmtheit, während für Schiller sentimentalisch das Geistige im Vordergrund stand. Der naive Dichter kann (wie der frühe Grieche) der Unmittelbarkeit und Intuition ungestört folgen, während dem sentimentalischen zwangsläufig die Reflexion im Wege ist. Schöpft der eine aus der Sache selbst, braucht der andere eine Ableitung aus der Abstraktion. Hier ist der Ort des Spiels für Schiller, ein Sehnen nach der Leichtigkeit und dem Humor des Unmittelbaren, welches das Konstruktive des Geistes umgeht. »Die Differenz des Naiven und Sentimentalischen ist damit Teil der ›Querelle des anciens et des modernes‹. […] Das Naive ist dabei der antiken, das Sentimentalische der modernen Seite der Kunst zugeordnet.« Wollte man eine Übertragung der Terminologie von der Dichtung auf die Philosophie wagen, müsste man Schelling der naiven und Hegel der sentimentalischen Seite zuschlagen. 1798 – ein Jahr nach Einstellung der Horen – gründete Goethe zusammen Johann Heinrich Meyer die Schriftenreihe Propyläen. In ihr legte er viele Überlegungen zu Kunst und Ästhetik nieder, denn er, der in Weimar auch ganz konkrete Bauprojekte betreute, wollte in der öffentlichen Kunstdebatte als Stimme gehört werden. Die Propyläen brachten dem Verleger Cotta zwar wichtige Werke Goethes in den Verlag, waren aber ein Verlustgeschäft. Die aufdringliche Art, den Winckelmannschen Klassizismus unter die Leser zu bringen, wurde von diesen nicht goutiert. Mit seiner Parteinahme für Winckelmann räumte Goethe der Bildhauerei den Vorzug gegenüber der Malerei ein, weil in ihr das Ideal gegenüber einer bloßen Nachahmung zutage tritt. Noch deutlicher setzte er die an der Natur orientierte Malerei von der Sprache ab. Daraus entwickelte er eine Theorie von Symbol und Allegorie. Ein allegorisches Kunstwerk sei vom Text dermaßen abhängig, dass es für sich selbst kein Interesse mehr erzeugt. Demgegenüber komme dem Symbolischen ein Eigenwert zu. Das Symbol sei als vollendetes Kunstwerk die (individuelle) Erscheinung eines (allgemeinen) Ideals. Im letzten Heft der Propyläen verpackte Goethe in seinem Aufsatz Flüchtige Übersicht über die Kunst in Deutschland, einem Führer zum aktuellen Kunstgeschehen in den deutschen Städten, einen Angriff auf Berlin, namentlich den dort führenden Bildhauer Schadow. Schadow schwor seine Schüler auf Wahrhaftigkeit ein, indem er die Körperformen wieder detailliert und naturalistisch hervortreten ließ. In Berlin – so Goethes Reaktion – würde das Ideal durch den Naturalismus, Poesie durch Geschichte verdrängt. Johann Gottfried Schadow konterte die Polemiken aus Weimar in der Eunomia unter Rückgriff auf Johann Caspar Lavater, dessen Physiognomie-Buch und Charakterlehre (Physiognomische Fragmente; Zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe) und seine rund 20 000 Porträtbilder einem nominalistischen Gestus entsprachen. Es gäbe keine Weisheit, sondern nur Weise und keine schöne ideale Menschheit, sondern nur schöne Menschen. Zudem plädierte Schadow mit nationalistischer Verve für eine deutsche Kunst, denn »seit anderthalbhundert Jahren sind wir Nachahmer der Welschen und der Franzosen,

das Naive und das Sentimentale

Seubert 2015, 220

302

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schadow 1890, 18

oder Gräculi.« Erst über ein Jahrzehnt später kam es zur Aussöhnung zwischen den beiden Kontrahenten. Goethes ästhetisches Schaffen fand eine sehr unterschiedliche Rezeption. Schlegel und Hegel lobten den Sinn für das Naturschöne, Nietzsche sah in Goethe einen Vorläufer eines modernen Ästhetizismus, Rudolf Steiner las Goethe esoterisch und anthroposophisch.

5.0. Der Deutsche Idealismus

z.B. Henrich 2004 Henrich 1991 Kroner 1921/1924

Marquard 1983, 103

Ebd., 101

Der Deutsche Idealismus ist eine der wirkmächtigsten philosophischen Bewegungen der neueren Kulturgeschichte. Indem er die reale Wirklichkeit als ein geistiges Geschehen auffasste, das Welt und Mensch verändert, blieb er bis heute ein erstaunlich punktgenaues philosophisches Erklärungsmuster für den Umgang des Menschen mit der Welt. Über die Explosion philosophischer Kreativität aus dem gewaltigen Reservoir Kants wird bis in die Gegenwart viel geschrieben. Bei der Aufhellung der Konstellationen, die zum Idealismus geführt haben, hat sich neben anderen in besonderer Weise Dieter Henrich in vielen Publikationen Verdienste erworben. Henrichs strenger Fokus auf Konstellationenforschung ergänzt den früher bevorzugten Blick auf die historische Entwicklung etwa in den Arbeiten von Richard Kroner. Henrich verortet den Deutschen Idealismus im Spannungsfeld von Subjekt und System. Er entfaltete die Kapazitäten des bei Kant an außerordentlich kurzen Zügeln gehaltenen Ich. Idealismus als das Denken der Geschichte des (aufgeklärten) Ich ist zugleich die Geschichte der Überschreitungen von solchen Grenzen, die das Denken bei Kant setzt. Darin könnte man den romantischen Anteil sehen, wie er sich in der Universalpoesie Schlegels oder im Manifest des Ältesten Systemprogramms entfaltete. Henrich sieht das absolute Denken aus der inneren Form des Ich, das diesen Gedanken denkt, entstehen. Dies erfolgte im Übergang von Kant zu Fichte. Während Kant das erkennende Subjekt auf Gegenstände empirischer Erfahrung und auf endliches Wissen einschränkte, hob Fichte jede äußerliche Beschränkung des Ich auf. Streng gesprochen kann man in dieser Neuausrufung eines absoluten Wissens in der Tat den »Anfang der Gegenneuzeit« (besser vielleicht: den Anfang der Gegenmoderne) sehen. In diesem Anspruch auf das Absolute äußert sich der Systemcharakter der idealistischen Denkgebäude. Er wird zum Ersatz einer verlorenen Gottesordnung. Der Systembegriff greift dort, »wo der Begriff Gottes und seiner Schöpfung als Begriff für das Gesamte in Zweifel gerät, wo aber zugleich an den Menschen als realen Gesamtschöpfer seiner Gesamtwirklichkeit […] geglaubt wird.« Der Idealismus konzentrierte philosophisch ein solches Systeminteresse im Umfeld von Romantik und Aufklärung. Die Hauptexponenten Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel waren ebenso Sympathisanten der Aufklärung wie in die Kreise der Romantiker verflochten. Von den Sterbedaten her müsste Schelling als letzter genannt werden, mit Blick

303

Der Deutsche Idealismus

auf die Wirkgeschichte hat die übliche Reihenfolge der Philosophiegeschichte-Lehrbücher jedoch ihre Richtigkeit. Als 1841, zehn Jahre nach dem Tod Hegels, Schelling nach Berlin geholt wurde, fehlte ihm längst die Kraft, die lebhafte revolutionäre Hegelrezeption dort zu stoppen. Diese Rolle des späten Schelling deutet schon darauf hin, dass die Bewegung keineswegs als monolithischer Block anzusehen ist. Vielmehr gab es zahlreiche und heftige Konflikte zwischen den Exponenten. Die Voraussetzung für die Entwicklung des Idealismus schlechthin war die Verbreitung und Zuspitzung der Lehre Kants. Sie wurde in der thüringschen Universitätsstadt Jena schneller bekannt als in Kants Heimatstadt Königsberg. Dazu haben mehrere Köpfe beigetragen. Neben Christian Gottfried Schütz mit seinem Kant verpflichteten Rezensionsorgan Allgemeine Literaturzeitung (ab 1785) und Carl Christian Erhard Schmid, der 1786 ein Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften herausbrachte, ist vor allem der schon erwähnte, in Wien geborene Karl Leonhard Reinhold zu nennen. Zuerst Mitglied des Jesuiten- und Barnabitenordens, ließ er später unter dem Einfluss der Aufklärung seine theologische und kirchliche Vergangenheit hinter sich. Reinhold schärfte in den Briefen über die Kantische Philosophie (1786/87) die für den Idealismus zentrale Frage nach der Konstitution von Gegenständen im Bewusstsein. Die delikate Frage im Kontext der Entstehung des Deutschen Idealismus ist, ob Kant zum Deutschen Idealismus zu zählen ist oder nicht. Die Beantwortung dieser Frage hängt von der Rezeption Kants ab. Wenn man Kants Kategorialisierungsverbot des Dinges an sich ernst nimmt – und das sollte man, war dies doch für Kant das Fundament seines Anliegens –, steht er ausdrücklich außerhalb des Idealismus. Denn das Postulat der denkerischen »Transzendenz« des Dinges an sich sollte das subjektive Erkennen auf Gegenstände einer möglichen (empirischen) Erfahrung begrenzen. Allerdings öffnete die schlechte Absicherung des An-sich-Seins des Gegenstandes (weil über dieses keine wissenschaftliche Aussage möglich ist), anders gesagt: die fehlende (transzendentalphilosophische) Begründbarkeit seines gesamten transzendentalphilosophischen Entwurfs, das Tor zum Idealismus. Vor allem war die Wende Kants von der empirischen Anschauung zu deren subjektiven Möglichkeitsbedingungen der Vernunft ein Paradigmenwechsel, ohne den der Deutsche Idealismus undenkbar wäre. Dass Kant den Idealismus ausgelöst hat, ist demnach unstrittig. Aber – gegen eine verbreitete klassische Meinung – scheinen die Argumente für einen nachkantischen Idealismus deutlich gewichtiger zu sein. Ein weiterer Auslöser in diesem Sinn war die bei Kant unbereinigte Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft, also die Tatsache, dass das Sittengesetz nicht mit der theoretischen Vernunft begründet werden konnte. Dieses Auseinanderbrechen ein und derselben menschlichen Vernunft zu sanieren, war vor allem für Hegel ein wichtiges Motiv. Allerdings lässt sich der Eintritt in den Idealismus auch alleine aus Kants theoretischer Philosophie überzeugend aufzeigen – nach dem Motto Fichtes: »Die Vernunft ist praktisch.« Ebensowenig braucht man zur Erklärung Kants Opus postumum zu bemühen, in dem er selbst den Weg in eine idealistische Richtung eingeschlagen

Henrich 1991, 152, 173ff

VII.6.1.

v.a. Kroner 1921/1924 Hartmann 1923 Hartmann 1929

Fichte 1792, 22

304

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

III.2.4.3.2.6.

zu haben scheint, so verdienstvoll diese Erkenntnisse in der Kant- und Idealismusforschung auch sein mögen. Für unser Interesse ist wichtig, dass der Deutsche Idealismus ein wichtiges Kapitel an der Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik schrieb, insbesondere Schelling und Hegel hinterließen dazu größere Texte, Hegel sogar eine ausdrückliche ästhetische Theorie. Abseits einschlägiger Texte lässt sich – vergleichbar mit der Situation bei Platon – die gesamte Denkbewegung des Deutschen Idealismus kunstphilosophisch rekonstruieren, namentlich die vielleicht nachhaltigste Weichenstellung des Idealismus: die Dynamisierung der Denkbewegung. Die Aufhebung der Beschränkung des An-sich-Seins des Gegenstandes durch die Spontaneität des Ich setzt einen Prozess frei, der sowohl eine anagogische als auch eine weltverändernde Komponente hat. Er ist dadurch eine systematisch-methodische Grundlage für das spezifische Kunst- und Ästhetikverständnis des Idealismus.

5.1. Johann Gottlieb Fichte

Kühn 2012, 574

Janke 2009

564 Grab Fichtes auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof; Berlin

Der 1762 in der Lausitz geborene Fichte spielte für die Kunstphilosophie keine bedeutende Rolle. Wichtig ist Fichte wegen seiner epochal zu nennenden Rezeption Kants, die die Transzendentalphilosophie in den Idealismus kippen ließ. Zudem übte er einen großen Einfluss auf die Romantik aus. Friedrich Schlegel hat Fichtes Wissenschaftslehre gar an die zweite Stelle wichtiger Ereignisse nach der Französischen Revolution gesetzt. Dabei wurde dem Unterfangen einer »Wissenschaft der Wissenschaft«, die Fichte in mehreren Anläufen von 1794 bis 1804 geradezu manisch umzusetzen versuchte, auch schon Größenwahn unterstellt und der Philosoph selbst immer wieder – zuletzt in der Biographie von Manfred Kühn – zu einem bloßen »Vermittler[s] zwischen Kant und Hegel« herabgestuft. Das scheint nun doch eine außerordentlich zurückhaltende Beurteilung zu sein. Die Wissenschaftslehre darf durchaus als eigenständige Position gegenüber Kant und dem jungen Schelling gewürdigt werden. Zudem schärfen Fichtes zahlreiche Äußerungen zu aktuellen Fragen der Zeit ebenfalls sein Profil. Wolfgang Janke hat dem allem Rechnung getragen und die Eigenständigkeit Fichtes im Sinne vieler Fichteforscher deutlicher gewürdigt. Schon immer wurde Fichte angefeindet und bewundert. Nach der Publikation seines Werks Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792), von dem ein Teil der Auflage vom Verlag der Hartung’schen Buchhandlung ohne Verfassernamen auf den Markt gebracht wurde, war Fichte schlagartig berühmt, weil einige Experten Kant als Autor vermuteten, dessen Behandlung der Gottesfrage man schon längere Zeit erwartete. Diese Geschichte brachte Fichte – unter Mithilfe Goethes – den ersten Lehrstuhl in Jena ein, den er 1799 wegen eines Atheismusvorwurfs wieder verlor. Erlangen und Berlin waren weitere Stationen seines Wirkens. Ausgangspunkt für Fichtes Höhenflüge war Kant. Die Entdeckung von dessen Schriften erschloss Fichte eine »neue Welt«, wie er einmal notierte. Der auch für die Romantik wichtige Beitrag eines ansonsten sehr formalen Denkens war die Befreiung des Reflexionsaktes des Subjekts aus Kants Beschränkungen durch das Ding an sich. Was Fichte damit leistete war, das Praktischwerden der Vernunft konsequent zu

305

Der Deutsche Idealismus

Ende zu denken. Projektiert war damit in aufklärerischer Manier eine Befreiung des Subjekts. Fichte ging deswegen als Denker der Freiheit in die Philosophiegeschichte ein. Herausgekommen ist dann allerdings eine völlige Entgrenzung des Subjekts bis an die Schwelle eines ausdrücklichen Konstruktivismus. Diese Freiheitsphilosophie hatte also Sprengstoff im Gepäck, der sich in der Geschichte des Idealismus entlud. Die Entschränkung des Subjekts gegenüber dem Ding an sich war nichts weniger als eine Ausdehnung des Subjekts über eine bei Kant noch grundlegende Subjekt-Objekt-Spaltung hinaus. Das Subjekt ermächtigte sich zu einem Selbstsetzen und Gegenstand-Setzen. Was bei Kant die auf die Reflexion im Subjekt beschränkte Spontaneität war, wird nun zu einem die Wirklichkeit setzenden konstruktiven Prozess entgrenzt und gefeiert: »das Ich ist nur thätig; es ist bloss Ich, inwiefern es thätig ist.« Denn die Anschauung, die bei Kant fixiert werden soll, »um als Eins und Ebendasselbe aufgefasst werden zu können […] ist gar nichts fixirtes […].« Theodor Adorno sprach später auf Grund dieser Freude am Prozess, die sich auch noch bei Hegel fand, vom »Fichteaner Hegel«. Das Subjekt wurde damit schon bei Fichte, noch mehr dann bei Schelling und Hegel, durch die Aufhebung jeder Subjekt-Objekt-Trennung zu einem Absoluten. Damit radikalisierte Fichte die Transzendentalphilosophie, indem er sie auf ein Denken der Utopie öffnete. Ernst Bloch, dieser großartige Seismograph philosophischer Denkbewegungen, erkannte das sofort: Es sei bei Fichte um eine durch nichts mehr beschränkte Aufklärung gegangen, verbarg sich doch im Ding an sich »die Jugendfülle und Buntheit eines bürgerlich-revolutionären Daseins und seiner Welt, welches sich unter das Gesetzeswesen nicht subsumieren ließ […].« Das scheinen jene übersehen zu haben, die in Fichte den besseren Transzendentalphilosophen sehen, weil die transzendentale Reflexion auf die apriorischen Bedingungen des Aposteriorischen mit einer Identität von Denken und Sein spielt. Was also nun? War Fichte aufgeklärter Reflexionsphilosoph oder Wegbereiter utopischen Denkens? Es ist hier nicht der Ort einer fein ziselierten Fichterezeption, aber die Verteidigung eines bloßen Reflexionsphilosophen übersieht dessen spekulative und letztlich revolutionäre Ambition, jede (von Kant eingemahnte) Beschränkung des Ich aufzuheben. Die Folge ist eine neuerliche Metaphysik des Absoluten, etwas, das dem Ansinnen Kants diametral zuwiderlief. Denn schon für den in Wissenschaftslehren verliebten Fichte kann das Absolute »nicht mit den Mitteln des Begriffs zureichend bestimmt werden; dieser kommt nach ihm, d.h. er kommt zu spät, und wo er zufaßt, ist schon das Absolute nicht mehr.« Dass Fichte sich dabei auf Kant selbst berief, ist in der Sache falsch und in der Form Ausdruck eines bewundernswerten Selbstbewusstseins. Fichte schrieb am 20. September 1799 an Schelling, der ihn gegen die deutliche Ablehnung seiner Wissenschaftslehre durch Kant am 7. August im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung verteidigte, folgende Zeilen: »Ich bin allerdings völlig überzeugt, daß die Kantische Philosophie, wenn sie nicht genommen werden soll, wie wir sie nehmen, totaler Unsinn ist. Ich denke aber zu Kants Entschuldigung, daß er sich selbst unrecht tut; daß er seine eigene Philosophie, die er nie sonderlich geläufig gehabt, gegenwärtig weder mehr weiß, noch versteht […].«

Fichte 1794, 138/232f Adorno 1963, 13

Bloch 1951, 63

Schuhmann 1968, 89f

Fichte, zit. nach Fuhr­ mans 1955/56b, 192

306

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Fichte 1804, 291

Gerhardt/Kaulbach 1979; Kaulbach 1969 Kaulbach 1965; Adickes 1920

Fichte verließ die von Kant unerschütterlich vertretene Endlichkeit des Subjekts und setzte dadurch den entscheidenden Impuls für den Idealismus. Aus der Reflexionsphilosophie wurde eine Begriffsbewegung, wo ein Darüberhinaus ein Aufes-selbst-Zurück meinte, die in ihr selbst ihr totales Genügen fand. Man kann dies euphemistisch einen absoluten Geltungshorizont nennen, faktisch wurde hier eine absolute Subjektivität hochgerüstet. In diesem Sinn war Fichte ein Denker des Systems und einer der Utopie. Der Prozess (die Reflexion), mit deren Hilfe das System erreicht wurde, war nicht mehr als Mittel zum Zweck: »Wer hinaufgekommen ist, der kümmert sich nicht weiter um die Leiter.« Schelling und Hegel waren in diesem Punkt skrupulöser und mühten sich darum, dass der Prozess das erreichte Systemziel nicht in Gefahr brachte. Schelling tat dies durch einen Paradigmenwechsel von der dynamischen Natur- zu einer eher statischen Identitätsphilosophie, Hegel hingegen gelang das nicht überzeugend, weshalb die Junghegelianer darin das Ausfallstor aus dem System fanden. Wenn man Hegels Prozessphilosophie gegen dessen statisches System stellte, konnte Hegels Denken zu einem revolutionären Prozess umcodiert werden. Ob bereits bei Kant eine Entwicklung in eine solche Richtung vorhanden gewesen ist, darüber wird vor allem mit Blick auf dessen Opus postumum gelegentlich gemutmaßt. Greifbarer bleibt, dass Fichte der Romantik ein Terrain öffnete, das Kants Ding an sich aus dessen eigener Konsequenz scheinbar elegant überwand, wodurch der Weg zum Absoluten wieder gangbar wurde. Anders gesagt: Kants Kritizismus löste sich in einen dialektischen Prozess von Setzungen auf. Es ist ganz konsequent, dass Schelling zunächst den Weg Fichtes ging und mit einer Ich-Philosophie begann. Denn dort, im Ich, spielte Kants Spontaneität des Geistes. Nach dessen Befreiung wurde das Ich zur Chiffre der Freiheit und öffnete sich einer Stilisierung zum Absoluten. Philosophiegeschichtlich kam es hier zur deutlichsten Verbindung von Transzendentalphilosophie und neuplatonischer Dialektik.

5.2. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

Kondylis 1979, 117–256 565 Schelling, ­Daguerreotypie v. Hermann Biow (1848)

Fuhrmans 1975, 66

Der 1775 im Württembergischen Leonberg geborene Pastorensohn Friedrich Wilhelm Joseph Schelling war ein Wunderkind. Schon als Fünfzehnjähriger studierte er am Tübinger Stift Theologie und Philosophie, freundschaftlich verbunden mit Hölderlin und Hegel, die alle von den revolutionären Gedanken der Zeit fasziniert waren. In Leipzig und Jena vertiefte er seine literarischen und naturwissenschaftlichen Interessen und eignete sich eine umfangreiche Bildung an, darunter Kenntnisse in den alten Sprachen. Im Alter von zwanzig Jahren legte Schelling erste philosophische Werke vor, noch stark von dem von ihm verehrten Fichte geprägt. Ob es bei Fichtes Besuchen im Tübinger Stift 1793 und 1794 zu einer persönlichen Begegnung mit Schelling kam, ist unklar. Horst Fuhrmans geht jedenfalls von einem sicheren Treffen samt einem Gespräch zwischen den beiden aus, »das Schelling wohl tief beeindruckt hat.« 1798 wurde Schelling – nach eindringlicher Empfehlung von Goethe – als Dreiundzwanzigjähriger zum außerordentlichen Professor für Philosophie nach Jena be-

307

Der Deutsche Idealismus

rufen. Es war Schiller, der Schelling mit Goethe bekannt gemacht hatte. In Jena entfaltete Schelling eine große Wirkung, in regem geistigen Austausch mit Hegel und dem gesamten Kreis der Jenaer Romantik. 1803 heiratet er die zwölf Jahre ältere Caroline Schlegel nach ihrer Scheidung von August Wilhelm Schlegel. Sie war eine kluge und gebildete Frau, die eine wichtige Rolle in der Romantikerbewegung spielte. 1803 war das Jahr, in dem sich der Romantikerkreis in Jena auflöste. Schelling ging nach Würzburg (1803–1806), München (1806–1820), wo er unter anderem als erster Generalsekretär der 1808 gegründeten Königlichen Akademie der Bildenden Künste fungierte, Erlangen (1820–1826) und wieder nach München (1827–1841), seine sogenannte zweite Münchener Zeit, die für seine Wende zu einer christlichen Philosophie bekannt ist. 1841 holte ihn König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen nach Berlin, damit er – so steht es im Berufungsschreiben – »der Drachensaat des Hegelschen Pantheismus« entgegenwirke. Schelling trat mit großem Sendungsbewusstsein auf, hatte bedeutende Hörer, darunter Friedrich Engels, Søren Kierkegaard, Michail Bakunin, Jakob Burckhardt, Alexander von Humboldt. Trotzdem scheiterte er grandios. Der Hegelianismus hatte das intellektuelle Rennen gemacht. Schellings Grab steht in Bad Ragaz in Graubünden, wo er während eines Kuraufenthalts 1854 als letzter Vertreter des Deutschen Idealismus verstarb.

7.3.

5.2.1. Schellings philosophische Position Schellings langes wissenschaftliches Leben hat eine Diskussion um Kontinuität und Brüche in seinem Denken aufkommen lassen. Entgegen der alten »Epochenlehre« wird heute eher auf die Kontinuität in Schellings Philosophie verwiesen. Trotzdem bleibt gültig, dass diese Kontinuität durch philosophische Phasen stark strukturiert ist. Grundsätzlich ist Schellings philosophischem System eine prägnante kunstphilosophische Ausrichtung inhärent, wie er selbst einräumt: »Für diejenigen, die mein System der Philosophie kennen, wird die Philosophie der Kunst nur eine Wiederholung desselben in der höchsten Potenz seyn.« Insbesondere zwischen der natur- und identitätsphilosophischen Phase und der späteren Kunstphilosophie gibt es einen gut sichtbaren Zusammenhang. Das rechtfertigt einen ausführlicheren Blick auf seine allgemeine philosophische Position. Bei Schelling wird die für die Romantik so spannende revolutionäre Sprengkraft des von Fichte vorgespurten Aufbruchs des Ich als Philosophie der Freiheit besonders greifbar. In einem Brief an Hegel 1795 schreibt Schelling: »[…] ist das höchste Prinzip aller Philosophie das reine, absolute Ich […] durch Freiheit gesetzt […] wir sollen diese Schranken durchbrechen, d.h. wir sollen aus der endlichen Sphäre hinaus in die unendliche kommen […] Zerstörung der Endlichkeit […] Gott ist nichts als das absolute Ich, das Ich, insofern es Alles Theoretische zernichtet hat […] unser höchstes Bestreben ist die Zerstörung unserer Persönlichkeit, Übergang in die absolute Sphäre des Seins […].« Und in Vom Ich (1795) heißt es: »Im Ich hat die Philosophie ihr Hen kai pan gefunden, nach dem sie bisher als dem höchsten Preise des Siegs gerungen hat.« In diesem Ich konzentriert sich das Aufklärungsinteresse, es ist die Zauberformel, mit

Metzger 1911; Windelband 1880, 244f

Schelling 1802b, 363

Philosophie des Ich

Schelling, zit. nach Frank/Kurz 1975, 127

Schelling 1795, 193

308

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

7.1.2. Holz 1970b, 71; Wieland 1967 Schelling 1802a, 288

Schiller, zit. nach Safranski 2007b, 428

Schelling 1827, 90ff

Schelling 1801, 85 Naturphilosophie

Marquard 1983, 104

Schelling 1799a, 13f, 16, 22, 39ff/12f

Ebd., 12/13

Schelling 1796/97, 368 Schelling 1806, 226

der die Welt aus den Angeln gehoben werden kann. Das ist das utopische Potential der Romantik. Darin liegt zugleich von Anfang an die Eigenständigkeit Schellings gegenüber Fichte. Im Dialog Bruno wird das Ich als das Zu-sich-selbst-Kommen des Unendlichen angesprochen und die Antwort Brunos auf die Erwähnung des Ich durch den fiktiven Gesprächspartner Lucian lautet: »Du hast den Begriff genannt, mit dem als einem Zauberschlag die Welt sich öffnet.« Die Abstraktheit des Fichteschen Ich wurde weitum kritisch betrachtet. Schiller etwa, der mit Fichte seit 1794 ein Verhältnis der gegenseitigen Bewunderung teilte, tadelte zwischendurch ziemlich unverhohlen dessen abstrakte Verstandesphilosophie: Reine Verstandesresultate würden mit der Zeit entbehrlich, »weil der Verstand entweder gegen diese Resultate gleichgültiger wird oder auf einem leichtern Weg dazu gelangen kann: dahingegen Schriften, die einen von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt machen und in denen sich ein Individuum lebend abdrückt, nie entbehrlich werden […].« Schiller wollte ein Ich aus Fleisch und Blut, das handeln und ästhetisch empfinden kann. Um 1802 verstummte der anfangs rege briefliche Austausch Schillers mit Fichte. Dem an den bodenständigen Realitäten haftenden Schiller machten die idealistischen Abstraktionen zu viel Mühe. Schillers Einwand könnte genau so von Schelling vorgebracht worden sein. Was nützt ein starkes Ich, das nur solipsistisch um sich selbst kreist! Die Kritik Schellings an Kants Dogmatismus, die er mit Fichte teilte, traf in Wahrheit auch auf Fichte selbst zu, wie manch späterer Äußerung Schellings deutlich zu entnehmen ist. Sie traf aber auch Schellings eigene Anfänge einer an Fichte orientierten Ich-Philosophie. Schelling folgte Fichtes Aufrüstung von Kants Spontaneität des Ich zu einer Welt erzeugenden Dynamik, aber er sah bei Fichte nirgendwo eine reale Welt. Vielmehr sei Fichtes Philosophie nichts weiter als »Philosophie über Philosophie.« Schelling demgegenüber gab dem Prozess wieder Material. Dies war die Motivation für seine Naturphilosophie. Ich sehe denn auch mit der Naturphilosophie (so wie Schelling sie formulierte) nicht sosehr die Frage Odo Marquards auftauchen, wie das Ich mit seiner Endlichkeit leben kann, sondern eher eine aktive Versicherung dafür, dass das Ich seine Emanzipation real ausleben kann. Wie sah dieses »Material«, die Natur nach Schelling, nun aus? Natur bedeutet bei ihm nicht eine empirisch-tote Entität, sondern sie ist dynamisch konzipiert. Ruhe ist nur scheinbar und Resultat einer sich gegenseitig aufhebenden Bewegung. »Die Natur als Produkt kennen wir also nicht.« Natur ist das »Construiren selbst«, »absolute Thätigkeit«. Jedes einzelne Seiende fasst Schelling als »bestimmte Form oder Einschränkung der ursprünglichen Thätigkeit« auf. Dort endet auch Philosophie, die hier als erzeugende Tätigkeit verstanden wird. »Ueber die Natur philosophiren heißt die Natur schaffen.« Weil die Naturkonzeption vom neuplatonischen Paradigma gespeist ist, folgt sie nicht dem üblichen Schema der Kausalität: »Das Daseyn endlicher Dinge […] läßt sich nach Begriffen von Ursache und Wirkung gar nicht erklären.« Weder Ruhe noch Einzelheit hat mit Schellings Naturvorstellung zu tun, vielmehr spiegelt sie das gesamte All wider und jede Endlichkeit ist bloß eine »Verneinung von Seyn«.

309

Der Deutsche Idealismus

Schellings Naturverständnis entzieht sich jeder empirischen Charakterisierung. Er stand in der alten Tradition des zyklischen Prozessierens (die Natur erhält sich »im ewigen Kreislauf.«) Er stand in der Tradition der formdurchsetzten Natur, die durch Selbsterzeugung charakterisiert ist und damit in jenem Paradigma, das die Natur als Ausgang der Genese von Kultur nimmt, wie es von Giordano Bruno in der Renaissance so kreativ umgesetzt worden war. Das war ein Paradigma, das sich von Fichtes Begriffsphilosophie völlig unterschied und das nun auch den Spinozisten Goethe dazu brachte, Schellings Schriften zu studieren. Er schrieb an Schelling: »Ich wünsche eine völlige Vereinigung, die ich durch das Studium Ihrer Schriften, noch lieber durch Ihren persönlichen Umgang […] zu bewirken hoffe.« Schelling war sich dieses alten Erbes durchaus bewusst. Denn die dynamisch entworfene Natur ist nicht zuletzt eine Konsequenz einer radikalisierten Transzendentalphilosophie, insofern transzendentales Rückfragen niemals auf einen positiven Seinshorizont stößt, sondern auf die aus dem Platonismus und Neuplatonismus bekannte Formel eines »jenseits der Seiendheit.« Schelling war damit vertraut und er erklärt sie dem Leser als »Vorstellung, die zwischen Etwas und Nichts in der Mitte schwebt, d.h. die nicht einmal das Verdienst hat, absolut Nichts zu seyn.« Schelling verwandte später auch den Ausdruck me on (griech. Nicht-Sein) – durchaus im Sinne des »göttlichen Platon«, der uns gelehrt habe, dass die Gottheit »weder ist noch auch nicht ist«, eine Aussage, die »nur den ganz Unkundigen befremdlich« ist. »[…] der Begriff des Seyns als eines Ursprünglichen soll aus der Naturphilosophie (eben sowie aus der Transcendentalphilosophie) schlechthin eliminirt werden.« Ich sprach bereits bei Fichte von einer Denkbewegung, wo ein Darüberhinaus ein Auf-es-selbst-Zurück meinte. Unschwer lässt sich Schellings Naturphilosophie im Sinne einer selbstaffirmativen dialektischen Seinsmodalität gemäß den Prinzipien des Neuplatonismus rekonstruieren und damit die vorhin angesprochene Verbindung von Transzendentalphilosophie und Neuplatonismus dokumentieren. Bei Schelling wird das geradezu zum leitenden Programm seiner (Natur-)Philosophie und setzt nicht erst, wie Bernhard Barth meint, mit der Identitätsphilosophie ein. Die Natur ist dann »eine Form des ›Außer-sich-Seins‹ des Absoluten […].« Schelling brachte die Transzendentalphilosophie auf die Subjektivitätsphilosophie zurück, das »Außen« auf ein »Innen«: »Hier ist nun der Ort, den Grundsatz, daß Dinge von außen auf uns einwirken, völlig zu vernichten«. Zu erinnern ist an Goethes Gott, der nicht von außen, sondern von innen wirkt. Anders herum, und im Sinne der einleitenden Bemerkungen zum Idealismus, könnte man dies auch als Ausdehnung des Subjekts auf einen universell-absoluten Standpunkt interpretieren. Daher kann jeder Teil der Endlichkeit Abdruck des gesamten Universums sein. In der Tat könnte man von einer »Allgegenwart des Ich in allen seinen Attributen« sprechen. »Zwischen Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie bzw. Philosophie der Identität findet kein Bruch statt, weil Schellings Philosophie dem Ansatz nach nie im strengen Sinn Transzendentalphilosophie war.« Daher scheint es »in der Konsequenz von Schellings Denkentwicklung zu liegen, daß seine Überlegungen […] zu einer Erscheinungslehre des Absoluten führen […].« Hans Michael Baum­

Schelling 1798, 493f, 373f; Schelling 1799a, 41 VI.4.2.3.

Goethe, zit. nach Safranksi 2009a, 263

III.2.4.3.2.4. Schelling 1797, 33

Schelling 1813, 237 Schelling 1799a, 12

Braun 1984 Barth 1991, 29 Holz 1975, 69

Schelling 1797, 32 4.2. 5.0.

Holz 1970b, 83

Baumgartner 1975, 55

310

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schelling 1804, 99 IV.7.2. Ebd., 101/106 II.2.3.2.

Schelling 1799a, 186 Schelling 1799b, 272

III.2.4.3.2.5./III.2.5.2. Identitäts­ philosophie

Schelling 1804, 140 Schelling, zit. nach Zeltner 1975, 76

gartner spricht an, wie sehr das gesamte Denken Schellings mit einem neuplatonischen Verständnis des Einen/Absoluten hinterlegt ist. Es geht um Selbsterkenntnis Gottes als Selbstaffirmation, welche Selbstaffirmation die Setzung jeder Zweiheit, jedes Erkannten, impliziert. »Gott erkennt die Dinge nicht, weil sie sind, sondern umgekehrt, die Dinge sind, weil sie Gott erkennt […].« Was eine ausdrückliche Emanation anlangt, bleibt Schelling im Kontext seiner Identitätsphilosophie zurückhaltend, um – man fühlt sich an die Einwände Plotins erinnert – einen Abfall vom Einen in das Viele zu vermeiden: »Das Selbsterkennen Gottes kann auch nicht als ein Herausgehen aus sich selbst angesehen werden.« Schelling bleibt beim alten Postulat der Kosmotheologie: »Eins ist Alles.« Dieser dynamische Naturbegriff ist jener der Romantik, auch jener Goethes. Er wurde auf verschiedenen Wegen in das Metier der bildenden Kunst übertragen. Ein Weg war jener des mit Goethe und Caspar David Friedrich bekannten Carl Gustav Carus. Er schrieb Briefe über die Landschaftsmalerei (1831), zu denen Goethe ein Vorwort verfasste. Wie die Natur ein stetiges Prozessieren ist, so ist auch die Poesie des Carus ein prozesshaftes Schreiben, in dem er in der Landschaftsmalerei eine Parallelsetzung der äußeren Natur mit der inneren Stimmung des Menschen sah. Er formulierte mit dieser Sicht bereits einen Schritt in die Richtung der Moderne. Schelling gibt sich aber nicht mit der »blinden Nothwendigkeit« des Naturprozesses zufrieden, sondern will, dass die Natur »Regel- und Zweckmäßiges« produziert. Diese »Programmierung« des Prozesses, die wir in ähnlicher Weise von Platon bis zur Stoa mit ihrer Idee der Vernunftkörperchen (logoi spermatikoi) vorgedacht finden, leistet das Ich in der Leseart Schellings. Es drückt sich darin die bemerkenswerte Einsicht aus, dass der Prozess das angestrebte Ziel (Zweckmäßiges, in letzter Konsequenz das Absolute) nicht gefährden darf. Diese Einsicht steht letztlich hinter dem Paradigmenwechsel zur Identitätsphilosophie. Gegenüber dem naturphilosophischen Konzept wird der prozessuale Anteil eliminiert, der Sinn jedoch zu bewahren versucht. Das äußert sich in einer nun scheinbar anhebenden Statik, die allerdings die bisherigen dialektischen Abläufe chiffrenhaft beibehält. Aus Dingen, »die ausgingen von der göttlichen Selbstbejahung«, werden »Ausstrahlungen«. Identität bedeutet hier auch das, was Schelling »intellektuelle Anschauung« nennt. Nicht mehr ich bin es jetzt, der weiß, sondern »das All weiß in mir.« In einem Brief an Karl August Eschenmayer datiert Schelling den Beginn der Identitätsphilosophie, den Punkt, an dem ihm »das Licht der Philosophie aufgegangen ist«, auf das Jahr 1801. Über die Frage, inwieweit die Identitätsvorstellung Schellings in sich differenziert ist, gab es großen Streit. Nachdem Hegel in seiner Differenzschrift von 1801, in der er die Systeme von Fichte und Schelling bewertend verglich, nach einigem Abwägen für Schelling und gegen Fichte optiert hatte, griff er Schelling in der Vorrede seiner Phänomenologie des Geistes (1807) massiv an: Das Absolute bei Schelling sei »die Nacht«, »worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, […].« Schellings Absolutes »soll nicht begriffen, sondern gefühlt und angeschaut« werden. Hegel fällt in den damals verbreiteten polemischen Ton gegen

311

Der Deutsche Idealismus

den Obskurantismus, den man als antiaufklärerische Reaktion fürchtete: »Das Schöne, Heilige, Ewige, die Religion und Liebe sind der Köder, der gefordert wird, um die Lust zum Anbeißen zu erwecken; nicht der Begriff, sondern die Ekstase, nicht die kalt fortschreitende Notwendigkeit der Sache, sondern die gärende Begeisterung […].« Aber die Philosophie müsse »sich hüten, erbaulich sein zu wollen.« Und es dürfe nicht so weit kommen, dass sich der Mangel an Begrifflichkeit »für ein anschauendes und poetisches Denken hält.« Mögen die beiden Philosophen in ihren Absichten gar nicht so weit voneinander entfernt gewesen sein, über die Methode und Form der Philosophie hatten sie sich weit auseinander gelebt. Hegel war zum Begriffsdialektiker geworden. Er hatte sich von seinen jugendlichen Visionen im Ältesten Systemprogramm deutlich abgesetzt. Diese klare Ausrichtung auf eine Begriffsdialektik macht ihn für viele zum Philosophen der Moderne (dass man für eine solche Deutung gehörig in Hegel eingreifen musste, zeigte nicht zuletzt Adornos Umgang mit ihm und wird noch darzustellen sein), während Schelling in die Schublade eines Mystizismus abgelegt und als rückwärtsgewandt denunziert wurde. Jedenfalls mutete Hegels Parole, die er gegen die Identitätsphilosophie einsetzte und die eigentlich bereits Heraklit mit seinem Wort, dass nur der Streit die Dinge weiterbringe, eingeführt hatte, modern an: »Identität der Identität und der Nichtidentität […].« Odo Marquard war aus diesem Geist einer der Kritiker Schellings und sah im Identitätssystem das »ästhetischste[n] System des deutschen Idealismus« und in Hegels Kritik daran die »Kritik an der Idee des Gesamtkunstwerks […].« Zweifellos kann man die mit der Identitätsphilosophie einhergehende intellektuelle Anschauung als ästhetische und damit sogar absolute Anschauung ansehen. Die Folge sei, so Marquard, dass es darauf ankomme, »die Gesamtwirklichkeit ästhetisch anzuschauen: nicht mehr nur in Kunstwerken, sondern als Kunstwerk.« Bei all dieser Kritik sollte man Schelling allerdings zugute halten, dass er selbst eine innere Differenzierung in der Identität bewahren wollte. Zahlreiche Formulierungen belegen das, wenn er von der Einheit spricht, »worin die Einheit und der Gegensatz […] eins ist.« Insofern überzeugen Rezeptionen, die das Identitätssystem und das Denken des Absoluten als einen »von aller endlichen Diskursivität« freien Akt rekonstruieren wollen, nicht restlos. Kunstphilosophisch kann die hier wie ganz allgemein im Deutschen Idealismus aufgeworfene Spannung von Ich und dem All gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie stiftet eine pantheisierende, kosmotheologische Weltsicht, der unzählige Künstler vor allem der Romantik gefolgt sind. Am eindrucksvollsten sind solche Gedanken vielleicht bei Caspar David Friedrich umgesetzt worden. Bei seinen Bildern handelt es sich in der Tat um die »gemalte Weltanschauung des vom spinozistischen Pantheismus erfüllten Freundeskreises, in dem Friedrich stand.« Dazu gehörte neben Schlegel, Goethe, Schleiermacher eben auch Schelling. Aber auch bei Philip Otto Runge sieht Alexander Rauch Schellings Identitätssystem, interpretiert als Einheit von Geist und Natur, nachwirken. Runges Bild Der kleine Morgen (1808) ist im Zeichen der aufgehenden Sonne die Vision einer zyklischen Zeit, die eben-

Hegel 1807, 22/15/16/17/64

5.2.3.

Hegel 1801, 96

Marquard 1983, 101 Schelling 1802c, 376ff Marquard 1983, 105

Schelling 1802a, 236, 239, 261, 264f, 298 Barth 1991, 55

Rauch Alexander in Toman 2009, 434

312

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

christliche Philosophie

Coreth Emerich in Coreth u.a. 1984, 45 Schelling 1827, 58 Schelling 1850, 567

Rauch Alexander in Toman 2009, 330

so gut für Tod und Wiedergeburt, Schöpfung der Welt und ihr Ende steht. Das rekurrierte in der Tat auf Schellings Weltalter und naturgemäß ganz generell auf seine pantheistische Weltseelekonzeption, der Verbindung von Ein und Alles und von Gott und der Natur. Ob die Phase der Identitätsphilosophie mit seiner Freiheitsschrift 1809 oder erst mit der radikalen Wende zur christlichen Philosophie 1827 endet, wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich gesehen. Meiner Ansicht nach scheitert das Identitätssystem, damit auch die Idee des Gesamtkunstwerks, erst 1827 mit der Wende der sogenannten negativen zur positiven Philosophie. Vor dieser großen Wende verstummte der stets produktive Schelling. Er rang um eine Philosophie der Weltalter, einem gigantischen Versuch, in neuplatonischer Architektur die Selbstvermittlung des Absoluten in der Welt zu beschreiben. Dass hier die »Freiheit des göttlichen Schöpfungsaktes […] schon viel klarer und positiver erfaßt« wird als früher, wie Emerich Coreth optimistisch meinte, ist schwer nachvollziehbar. Schellings Wende von einer – in seiner eigenen Terminologie – negativen zu einer positiven, nämlich christlichen Philosophie, ist erst in seiner Spätzeit überzeugend ausgefallen. Dort löste er in der Tat ein »System der Nothwendigkeit« im Zusammenhang mit Gott auf und ersetzte einen Gott, »der in der Idee ist, der in der Vernunft eingeschlossen, in welcher er sich nicht bewegen kann«, durch einen, der »außer und über der Vernunft ist.« Warum Schelling diese Wende vollzog, ist kaum zu beantworten. Nur der Verweis auf Einflüsse von Franz von Baader reicht als Erklärung nicht. Plausibler mag sein, dass diese Wende Schellings geradezu paradigmatisch gesehen werden könnte für ein Erschöpfen der verbreiteten Dominanz des Pantheismus in der Romantik. »Die ernüchternde Erkenntnis des Spinozismus, anstelle eines helfenden Gottes nur den kalten Kosmos als erhabene Anschauung zu besitzen, war nur wenigen ›stärksten Gemütern‹, wie Kant sagte, ein Trost […].« Die späten Werke um Mythologie und Offenbarung, wo es viele Wiederaufnahmen von Prinzipien der Natur- und Identitätsphilosophie gibt, sind ein Verschnitt der Tradition neuplatonischen, auch mystischen Gedankenguts mit der Wende zum Christentum. Die Bilder oder Erzählungen der Mythologie interpretiert Schelling als objektiv angeschaute Ideen der Philosophie, die wiederum für die Kunst einen Stoff abgeben. Sie sind in ihrer Symbolik geradezu eine Bedingung für die Kunst, denn sie sind ein Beispiel dafür, wie man das Absolute im Einzelnen darstellt.

5.2.2. Schellings Kunstphilosophie

Schelling 1802b Schelling 1802/03 Schelling 1807

Die Identitätsphilosophie, namentlich die Konstellation der absoluten Anschauung, ist ein fruchtbarer Hintergrund für Schellings Kunstphilosophie und Ästhetik. Zwar zeigte Schelling großes Interesse an der Kunstphilosophie und legte in mehreren Werken bis hin zu seiner Akademierede seine Position dazu dar. Ob es hier aber wirklich primär um die Kunst ging oder ob ihm die Kunst nicht einfach dazu diente, seine Philosophie auf diesem Feld neuerlich durchzudeklinieren, ist keine unberechtigte Frage. Äußerungen Schellings könnten einen solchen Gedanken jedenfalls nahe legen: »Der Zusatz Kunst in ›Philosophie der Kunst‹ beschränkt bloß den all-

313

Der Deutsche Idealismus

gemeinen Begriff der Philosophie, aber hebt ihn nicht auf. Unsere Wissenschaft soll Philosophie seyn. Dieß ist das Wesentliche; daß sie eben Philosophie seyn soll in Beziehung auf Kunst, ist das Zufällige unseres Begriffs.« Solche Äußerungen müssen, wie sich schließlich zeigt, aber durchaus im Sinne einer Gleichberechtigung von Kunst und Philosophie gelesen werden. Schelling nimmt die Kunst in dieser Hinsicht sogar ernster als Hegel, der sie hinter die Philosophie zurückstuft. Dass Kunst hier in den Status einer vollwertigen Philosophie rückte, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Schelling sich nie zu einer Begriffsdialektik durchrang, sondern im Kontext eines neuplatonischen Methodenrahmens blieb. Was hat Kunstphilosophie nun zu leisten? Sie ist die Beschreibung der Aufgabe, das Reale (die Kunst) als Darstellung des Idealen (die Philosophie) offenbar zu machen. Indem die Kunst der Philosophie gleichsam die objektive Seite liefert, übernimmt sie eine vergleichbare Aufgabe wie die Natur in seiner Naturphilosophie. Ausgehend vom System des transzendentalen Idealismus von 1800 geht es um die Realisierung der absoluten Anschauung in der Kunst als höchstes menschliches Tun. Vielleicht war nirgendwo die Umsetzung der Utopie des etwa vier Jahre vorher entstandenen Ältesten Systemprogramms des Deutschen Idealismus so gelungen wie in diesen Passagen der Schellingschen Philosophie. Die Philosophie des Ich, in dem die Identität von Freiheit und Notwendigkeit hergestellt ist, war aufgelöst in eine neue Mythologie. »Die Kunst ist eben deßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß.« Die Kunst, die den Widerschein Gottes im Endlichen darstellt, wird in der Tat ein Mittel der Philosophie. Denn die Kunst ist ein Ort, wo im Ich Realität und Idealität vermittelt, wo das Ich aus dem abstrakten Solipsismus Fichtes herausgeführt werden konnte. In den Jenaer Vorlesungen über die Philosophie der Kunst wird dieser hohe Stellenwert der Kunst beschrieben. Für die Philosophie ist das »Absolute das Urbild der Wahrheit – so für die Kunst das Urbild der Schönheit.« Wahrheit entspricht den intellektuellen Urbildern der Dinge. Schönheit ist das »real angeschaute Absolute.« Kunst ist Nachahmung der idealen, der Schau zugänglichen, »über alle Sinnlichkeit erhabenen Schönheit«. Diese entrückte Schönheit spiegelt sich in der Schönheit der sinnlichen Dinge, die ihrerseits vorläufig bleibt und deshalb auch keine Norm abgeben kann. Dass Schelling angesichts einer solchen Abwertung des Materiellen nicht über eine Ich–Nicht-Ich–Dichotomie im Sinne Fichtes hinausgekommen sei, scheint doch ein voreiliger Schluss zu sein, der weder dem spezifischen Naturbegriff Schellings und schon gar nicht seinem Kunstbegriff gerecht wird. Bereits die Naturphilosophie Schellings stellte angesichts eines dynamischen Naturbegriffs, der sich in die absolute Anschauung überführen ließ, eine Überwindung von Fichtes Nicht-Ich dar. Wenn bei Schelling Natur und Sinnliches abgewertet wird, ist stets Natur als statisches und geistloses Produkt gemeint. Dieser Naturbegriff steht nach Schelling hinter der Naturnachahmung, wie sie in der Geschichte der Kunst üblich war: »Denn die meisten

Schelling 1802b, 385

5.2.3.

Schelling 1800a, 628 Jähning 1966f, 10

Schelling 1802b, 370/398 Schelling 1802/03, 520 Schelling 1802a, 228

Schneider 1996, 71

314

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schelling 1807, 292

Schelling 1800a, 628

Schelling 1802/03, 525

Prange Regine in ÄKPh, 696

5.3.2.3.

Schelling 1802b, 460

Schelling 1802b, 369 Schelling 1802/03, 501 Schelling 1806, 142f Schelling 1802b, 460

Künstler, ob sie gleich alle die Natur nachahmen sollen, erlangen doch selten einen Begriff, was das Wesen der Natur ist.« Beiden, Natur und Kunst, ist in Wahrheit aber das dynamische Element eigen, ihre Werke sind Produzieren, während die darstellende Kunst die reale Seite zum Ausdruck bringt. Im Sinne der alten Buchmetapher nennt er die Natur ein »Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten.« Es ist die Kunst, die das Innere der Natur zu entbergen imstande ist, dieses Buch lesbar macht. Kunst ist demnach nicht einfach Nachahmung, sondern der Künstler muss die Wahrheit der Natur »noch viel tiefer suchen, als sie die Natur selbst angedeutet hat […] Er soll das Innere der Natur enthüllen […].« Hier wird deutlich, wie nahe Schelling Hegels Phänomenologie war. Zwar klingt es in der Durchführung anders als bei Hegel, aber es geht hier um eine andere Art der Vernunft und nicht um die Aufgabe der Vernunft, wie Hegels Vorwurf gegen Schelling in der Phänomenologie des Geistes dann lautete. In der Tat deduziert Schelling »das Kunstprodukt aus dem Postulat einer Identitätskonstruktion, die die stufenweise Entwicklung des Selbstbewußtseins systematisch abschließen und den Widerstreit zwischen Freiheit und Natur in einer neuen Totalität aufheben soll.« Schellings Kunstphilosophie ist von der neuplatonischen Ein-Alles-Lehre gespeist, Kunst ist die Darstellung des Einen in Allem. Sie basiert im Wesentlichen auf einer pantheisierenden Umsetzung der alten neuplatonischen Ontologie und Anagogielehre in die modernere Form des (subjektgetragenen) Idealismus und der idealistischen Genielehre. Was bei Schelling nach objektivem Ästhetizismus klingt, wird bei Hegel in das Subjekt gewendet, das sich der Arbeit des Begriffs stellt. Erst in dieser Weise, also bei Hegel, kann Kunst einen Zug der Moderne erhalten, kann Kunst – und nicht die Wirklichkeit, wie Odo Marquard treffend anmerkte – ästhetisiert werden, was schließlich zum Sprechen über das Ende der Kunst (im Sinne einer Ästhetisierung der Wirklichkeit) führte. Da wurde eine Kunst beendet, die – wie bei Schelling – als Realpräsenz eines Urbildes im Realen verstanden wurde. Die Umsetzung des Ideal-Schönen in das rechte Kunstwerk vollzieht sich durch den Künstler. Darüber nachdenkend, gestaltete Schelling wesentlich die romantische Genietheorie. Das Genie ist der »ewige Begriff des Menschen in Gott als der unmittelbaren Ursache seiner Produktionen«, also das »inwohnende Göttliche des Menschen […].« Das alte Demiurgen-Konzept des schönen Prozesses, der den Künstler funktionalisiert, taucht als Hintergrund dieser idealistischen Genie- und Ästhetiktheorie auf. Am besten gelingt Kunst als Ausdruck des Unendlichen im Endlichen, des Absoluten im Besonderen in der Poesie und der Musik, die er ganz platonisch als »urbildlichen Rhythmus der Natur und des Universums selbst« bezeichnete. Dem besonders veranlagten Menschen gelinge ein »lyrischer Erguß einer harmonischen Individualität, die den Einklang des Universums in sich wiedertönen läßt.« Denn alles gründet in Gott: »Das Produciren Gottes ist ein ewiger […] Akt der Selbstaffirmation […].«

315

Der Deutsche Idealismus

Solche Worte würdigten Winckelmann und bildeten den Keim eines idealistischen Kunstverständnisses: »Ihm zuerst ward der Gedanke, die Werke der Kunst nach der Weise und den Gesetzen ewiger Naturwerke zu betrachten, da vor und nach ihm alles andere Menschliche als Werk gesetzloser Willkür angesehen und demgemäß behandelt wurde.« Schelling übernahm Winckelmanns Nachahmungslehre, indem es nicht um bloßes Kopieren ging, sondern um die Übernahme des Strebens, das in der Natur vorgegeben war. Dies führe zum Idealschönen. Die Bevorzugung, die Schelling der Poesie zukommen ließ, war wohl dem Umkreis der Jenaer Romantiker geschuldet, im besonderen August Wilhelm Schlegel, der Schelling das Manuskript seiner Berliner Vorlesung Über schöne Literatur und Kunst zur Lektüre gab. Im Bereich der bildenden Kunst wiederum sei die Plastik der Malerei überlegen, denn in ihr sei die Umsetzung des Idealen ins Reale überzeugender gelungen. Die Formen der Plastik sind »die objektiv dargestellten Urbilder der organischen Natur selbst.« Sie sind die »vollendete Einbildung des Unendlichen ins Endliche.« Allerdings ordnen sie sich der Architektur unter, welche die organische Form (genauer: den Pflanzenorganismus) im Anorganischen darstellt. Diese scheinbare Rückstufung der Skulptur unter die Dominanz der Architektur wird relativiert dadurch, dass die Architektur »überhaupt eine Art der Plastik sey.« Dies gilt auch für die Musik. In Schellings Kunstphilosophie ging es letztlich um das Offenbarwerden der ursprünglichen Stellung des Menschen innerhalb des Ganzen. Der Mensch leistet in der Kunst die Darstellung des Göttlichen und der Künstler rückt gleichsam in die Rolle Gottes selbst. Philosophie der Kunst wird zu einer »Construktion des Universums in der Form der Kunst […].« Dass bei Schelling die Philosophie der Kunst über eine reine Ästhetisierung hinausging und zu einem konsequenten Bestandteil seines Gesamtsystems wurde, ist zu Recht immer wieder betont worden. Schelling zog seine Überlegungen zur Kunst bruchlos in die Mythologie aus, »die nothwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst«, der Ort, an dem das Absolute sich auf die erste Weise darstellt. Mythologie ist eine Möglichkeit, sich über das Unsagbare ins Sprachliche vorzutasten. Der Neuplatoniker Proklos hatte seinen zahlreichen Hypostasen der Emanation mit Rückgriff auf die alten Mythen Götternamen gegeben, Schelling dekonstruierte dieses Tun: »In der That sind die Götter jeder Mythologie nichts anderes als die Ideen der Philosophie nur objektiv oder real angeschaut.« Die Konsequenz Hegels, Mythos und Religion in den Begriff aufzulösen, kam Schelling nicht in den Sinn. Schellings Philosophiekonzeption blieb grundsätzlich mythisch ausgerichtet und stieg nie in die harte Arbeit des Begriffs ein. Es ist immer das Absolute, das sich im Menschen expliziert und sich durch die menschliche Rezeption aufbereitet. Nicht wir erklären die Mythologie, sondern es geht um »die sich selbst erklärende Mythologie«. Schellings Kunstphilosophie bot zahllose Anregungen im Kontext von Romantik und sie stand wie das gesamte Werk – stärker noch als die Ästhetik Hegels – in der Spannung von Begriff und Anschauung. Ob man daraus eine »Wahrheitsfähigkeit der Kunst […] als Provokation der philosophischen Reflexion« ableiten soll, ist

Schelling 1807, 298

Prange Regine in ÄKPh, 703

Schelling 1802b, 369 Schelling 1802/03, 580f

Schelling 1802/03, 617/581/223

Beierwaltes 1973, 259 Schelling 1802b, 487 Jähnig 1975 Schelling 1802b, 405

Ebd., 370, 401

Schelling 1845, 139

Barth 1991, 14

316

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

X.2.3.

eine Frage, die uns bei systematischen Überlegungen noch beschäftigen wird. Es gilt dabei jedenfalls, sich vorzusehen, dass man nicht in die von Hegel aufgestellte Obskurantismusfalle tappt.

5.2.3. Das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus

Böhm 1926

Pöggeler 1965; Jamme/ Schneider 1988

Bubner 1973b, 2

alle Zitate in diesem Kapitel: Hegel 1797, 234ff

Bei einer Auktion 1913 in Berlin kam ein ziemlich aufregendes Manuskript unter den Hammer, dessen Herkunft weitgehend im Dunkeln lag. Franz Rosenzweig publizierte das Dokument 1917 unter dem Titel Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus. Es dürfte 1796 oder 1797 entstanden sein. Obgleich in der Handschrift Hegels, kam eine Diskussion um den Autor auf, da der Inhalt eher unüblich für den jungen Hegel zu sein schien. Rosenzweig schrieb den Text Schelling zu und ihm folgte eine Reihe von Forschern. In der Tat schließt Schellings frühes Philosophieren nahtlos an die Utopien des Systemprogramms an. Eher abwegig ist der Vorschlag des Hölderlin-Forschers Wilhelm Böhm zu bewerten, der 1926 Hölderlin als Verfasser sehen wollte. Böhm hatte den Gedanken von Ernst Cassirer, der auf die Nähe des Textes zu Motiven bei Hölderlin hinwies, aber eine Verfasserschaft des Dichters nie erwogen hatte. Erst 1962 setzte sich Otto Pöggeler energisch für Hegel ein, konnte aber bis heute nicht alle davon überzeugen. Der Streit mutet reichlich akademisch an, denn letztlich ist dieses Manifest das Resultat eines gemeinsamen Anliegens der drei Studienkollegen im Tübinger Stift. Es ist schwer vorstellbar, dass sich Hegel einen Text von Schelling oder Hölderlin einfach diktieren lassen hätte. Vielmehr liegt mit diesem Text, der weniger ein Systemprogramm sondern eher eine überschwängliche Zukunftsvision ist, ein blendendes Beispiel einer revolutionären Destruktion des Gegebenen aus romantischem Geist vor uns. In diesem Punkt kann man Rüdiger Bubner zustimmen: »Die strittige Autorenfrage besitzt ihre Fruchtbarkeit weniger in sich und der Aussicht auf abschließende Entscheidung für einen Namen, als vielmehr in der plastischen Vergegenwärtigung des Geflechts von Kooperation und Querverbindungen, Abhängigkeiten und Anstößen, das die letzte Dekade des 18. Jahrhunderts kennzeichnet.« Es geht in diesem Manifest um die Aufhebung der »Metaphysik« in die Ethik und es geht um Freiheit! Diese Freiheit braucht als Ausgangspunkt die starke Stellung des Ich: »Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor […].« Diese Welt soll aber keine einer Mechanik und Dogmatik sein, weder in Naturwissenschaft, noch in der Politik: »Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.« Das entspricht der Naturphilosophie Schellings, seiner Ablehnung eines jeden empirischen Zugangs. Dasselbe gilt für den Staat. Der Staat darf nichts »Mechanisches« sein: »Wir müssen also über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.« Da liegt die ganze revolutionäre Sprengkraft, die für die jungen Stürmer im Tübinger Stift so faszinierend war. Dann folgt die große Vision einer Verbindung von Mythologie und Ästhetik, welche die neue philosophische Leitkultur

317

Der Deutsche Idealismus

bilden sollte: »Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. […] Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. […] Die Poesie […] wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit […].« Diese Vision umschließt auch die Religion, die sinnlich werden muss: »Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir bedürfen.« Erst wenn die Vernunft mythologisch und ästhetisch geworden ist, »herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte […] Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!« Es ist eine faszinierende Vision, die hier vorgelegt wurde und die Parallelität zu Schellings Philosophie ist nicht zu übersehen. Es ist geradezu eine Inhaltsangabe dessen, was Schelling von seiner frühen Ich-, über die Natur- und Identitätsphilosophie, bis zur Philosophie der Mythologie und Offenbarung entwarf und letztlich als Gesamtkomplex ästhetisch buchstabierte. Die Inhalte des Manifests lassen sich auch zurückspiegeln auf die Paradigmen in Platons Philosophie. Die Weisen und Priester seiner Politeia-Utopie weichen einem (guten) Prozess, der diese Welt aus sich selbst oder mit Notwendigkeit, wie Schelling dann sagte, verändert. So gesehen spricht aus dem Programm zwar Schellings Geist, aber man muss doch sehen, dass auch Hegel am Anfang diese Utopie geteilt hat, der Ich- und Naturphilosophie Schellings eng gefolgt ist und den revolutionären Impuls sogar noch nachhaltiger als Schelling entwickelte. Dass sich Hegel dann in die Richtung einer Begriffsdialektik entwickelte, ist ebenso wahr wie dass er »nirgendwo ein Interesse für die Physik, der er Flügel geben sollte!« aufgebracht hat. Ob das reicht, ihm jede Beteiligung am Systemprogramm abzusprechen, ist freilich kaum überzeugend.

Tilliette 1975, 203

5.3. Georg Friedrich Wilhelm Hegel Mit Georg Friedrich Wilhelm Hegel erreicht die Tradition der Dialektik in der neuzeitlichen Leseart ihren Höhepunkt. Hegel hat nicht nur einen gewaltigen philosophischen Systementwurf vorgelegt, der noch für das Funktionieren der heutigen Welt ein erstaunlich zutreffendes Erklärungsmuster bietet, er formulierte zudem einen bedeutenden Entwurf einer Ästhetik. Hegel wurde 1770 in ein pietistisches Elternhaus in Stuttgart hineingeboren. Wie Schelling studierte er am Tübinger Stift Theologie und Philosophie. Auf die Begeisterung Hegels und seiner Kollegen Schelling und Hölderlin für die Freiheitsbewegungen der Zeit, die Aufklärung und die Ideen der Französischen Revolution, wurde bereits hingewiesen. Nach Abschluss des Studiums brachte sich Hegel ab 1793 als Hauslehrer in Bern durch, wo er im Haus des Karl Friedrich von Steiger mit liberalem Geist und einer großen Bibliothek konfrontiert wurde. Weitere Anstellungen folgten, bis er nach dem Tod des Vaters ein kleineres Vermögen erbte, das ihm ein weitgehend freies Gelehrtenleben ermöglichte. 1801 ging er als Privatdozent nach Jena, dem damaligen Zen-

566 Hegel, Porträt von Jakob Schlesinger, Ausschnitt (1831) Kondylis 1981, 117–256; Fuhrmans 1962, 9–40

318

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

2.2.2.

trum des deutschen Geisteslebens, und widmete sich philosophischen Studien. Er war Schelling eng verbunden, als er im gleichen Jahr die sogenannte Differenzschrift publizierte. Darin verglich er Schellings und Fichtes Philosophie und schlug sich mit viel Lob für Fichtes Befreiung des Ich aus der Restriktion, die Kant diesem auferlegt hatte, auf die Seite Schellings und bezog damit zugleich gegen Karl Leonhard Reinhold Stellung, der Schellings Philosophie als Aufguss der Fichteschen abgetan hatte. 1806 – Schelling war 1803 nach Würzburg gegangen – während der Arbeiten an der Phänomenologie des Geistes besetzten französische Truppen nach der Niederlage Preußens Jena und Hegel erlebte begeistert (er habe den Weltgeist zu Pferde gesehen) den Einzug Napoleons. Doch der Weltgeist war weniger von Hegel begeistert. Der Philosoph musste nach der Plünderung seiner Wohnung durch französische Soldaten die Stadt verlassen. Weitere Stationen waren Bamberg, Nürnberg – dort als Rektor eines Gymnasiums –, schließlich 1816, durch einen Ruf auf eine Professur, Heidelberg. 1818 konnte Hegel seine akademische Karriere mit einer Berufung nach Berlin krönen. Dort entfaltete der visionäre, aber rhetorisch unbeholfene Philosoph eine große Wirkung, wegen ihrer revolutionären Impulse argwöhnisch von den Regierenden beobachtet. Er starb 1831 an der Cholera – er war eines der letzten Opfer dieser Seuche, ehe das neue Verständnis von Hygiene diese Geißel beendete.

5.3.1. Hegels philosophisches Anliegen

Hegel 1801, 9

Ebd., 10 Steunebrink 2013, 145 Spontaneität des Subjekts

Hegel 1801, 9

Philosophisch setzte Hegel beim unbereinigten Problem in Kants Transzendentalphilosophie an, nämlich beim Ding an sich. Für ihn war dies nur eine »leere Form der Entgegensetzung objektiv ausgedrückt […].« Das An-Sich-Sein des Gegenstandes verweist in der Tat auf ein Stück noch unaufgeklärter, sich dem kritischen Zugriff der Subjektivität verweigernder Gegenständlichkeit. Hegel sah darin einen (starren) Dogmatismus. Aus seiner Sicht könne man jedoch dieses Systeminteresse Kants – er nannte es die »Form der Kantischen Deduktion« – durch ihren »Geist«, nämlich der im Subjekt so reich angelegten Spontaneität, durchkreuzen. In der Tat »haben Schelling und Hegel versucht, Kant mit Kant zu überwinden« – mit entscheidendem Anteil Fichtes, wäre zu ergänzen. Das Bedeutende an Kants Philosophie aus der Sicht Hegels war, dass sie jede Entgegensetzung als nur scheinbare gefasst und diese in die Einheit des Subjekts aufgehoben hat. Transzendentalphilosophie sozusagen als eine profane Form der neuplatonischen Henosis. Dass Kant dies durch eine letzte unauflösbare Entgegensetzung, die des Dinges an sich zur Erscheinung verhindern wollte, wischte Hegel genauso wie seine idealistischen Vorgänger Fichte und Schelling vom Tisch. Hingegen stimmte er ein Loblied auf die dynamische Spontaneität des Subjekts an, welche allein die Beschränkungen vernichtet! Nur in diesem Prinzip der Deduktion der Kategorien sei Kants Philosophie »echter Idealismus, und dies Prinzip ist es, was Fichte in reiner und strenger Form herausgehoben […] hat.« Die große Leistung Fichtes lag aus der Sicht Hegels in der Herauslösung des prozessualen Elements, das bei Kant durch die Sperre des An-sich-Seins kurz gehalten worden war. Dieses wichtige philosophische Element eines revolutionären Aspekts wurde zum Markenzeichen He-

319

Der Deutsche Idealismus

gels. Dass Schelling, der anfangs genau gleich gedacht hat, in seiner Identitätsphilosophie mit dem Prozesselement wesentlich vorsichtiger umgegangen ist, hat Hegel, wie schon erwähnt, zu heftiger Kritik veranlasst. Nur mit dem Prozess ist »die Entzweiung zwischen dem Absoluten und der Totalität der Beschränkungen [ist] verschwunden.« Hegel sah in diesem Prozess immer ein Mittel für einen Zweck, fasste ihn also inhaltlich auf. Damit geriet er in einen Widerspruch zu Fichte, dessen Prozess sich kaum einer materiellen Seite exponierte. Wenn er bei Fichtes Handeln die Reinheit und Strenge hervorhob, hatte solch vordergründiges Lob einen doppelten Boden. Fichte hatte dem Prozess einen (realen) Stoff verweigert. Der Prozess bediente sich nur mehr seiner selbst, er wurde solipsistischer Selbstzweck, aber ihm musste Stoff gegeben werden. Dies hatte Schelling in der Naturphilosophie geleistet, wie Hegel anerkennend anmerkte. Bei Fichte mache sich »das Subjekt=Objekt […] zu einem subjektiven, und es gelingt ihm nicht, diese Subjektivität aufzuheben und sich objektiv zu setzen.« In der Differenzschrift, in der Hegel diese Fragen engagiert behandelte, geht es in einem mit Bedürfnis der Philosophie überschrieben Abschnitt auch um die Kritik an einer dürren, vom Inhalt abgetrennten Rationalität. Dort klingt das revolutionäre Pathos durch, wie es im Ältesten Systemprogramm des Idealismus niedergelegt ist. Es ist die Rede vom Vernichten des festen Gebäudes des Verstandes und Hegel brachte geradezu eine Hermeneutik seines Begriffes der Aufhebung ins Spiel, der die Bedeutungen des Zerstörens, Bewahrens und Höherhebens versammelte. Es ging bei diesem Impuls zunächst um Hegels Lust an der Destruktionsarbeit, die inhaltliche Seite blieb diffus. Poesie war nicht mehr – wie beim Systemprogramm – das Ziel in seiner Differenzschrift, es kündigte sich vielmehr die primäre Rolle der Philosophie an, die als Arbeit am Begriff verstanden wurde. Hegel folgte Fichte und Schelling in der Destruktion – und das war wohl auch der Sinn ihrer Heftigkeit – der von Kant bewusst gesetzten Beschränkungen auf die wissenschaftliche Erkenntnis von Gegenständen möglicher Erfahrung und nahm Anlauf für einen neuerlichen Versuch, das Ganze zu denken. Diese Destruktion sollte überschwänglich einlösen, was bei Kant anders gemeint war: die Aufhebung des Individuellen in die Allgemeinheit des Geistes. Ging es für Kant um das Sicherstellen der Universalität des Wissenschaftlichen, hob Hegel das (grundsätzlich negativ bewertete) Endliche restlos (also auch das An-sich-Sein) in die Allgemeinheit des Geistes auf. Diesen Gang – Ernst Bloch schrieb blumig von den »Siebenmeilenstiefeln des Begriffs«, mit denen das Subjekt durch die Welt schreitet, während Goethes Faust mit einem »Zaubermantel durch die Reiche« fährt –, diesen Gang also vom Besonderen zum absoluten Wissen breitete Hegel mit großer Geste und dem Anspruch eines philosophischen Systems in seiner Phänomenologie des Geistes aus. Das absolute Wissen sei die »letzte Gestalt des Geistes […].« Das ist eine geschichtsphilosophische Figur. Weltgeschichte wurde in Hegels Händen ein Geschäft am »Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes […].« Hegel formulierte wie kein zweiter Philosoph die moderne Fortschrittsfigur, die das 19. Jh. so tief geprägt hat.

Ebd., 21

Ebd., 94 Destruktion und Aufhebung

Bloch 1951, 59

Hegel 1807, 582 Fortschrittsfigur Hegel 1821, 506

320

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hegel 1812, I, 73

Ebd., 83

Hegel 1817, 40f

Kerényi 1976, 168

Hegel 1812, II, 76

Hegel 1801, 48

System und Prozess

Aus dem Wurzelgrund des Neuplatonismus wurde dieses absolute Wissen schließ­lich als eine Entfaltung des im Anfang immer schon Gegebenen interpretiert. Die »Mechanik« dieses Ablaufs ist in der Wissenschaft der Logik beschrieben: »Es ist noch Nichts, und es soll Etwas werden. Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem Etwas ausgehen soll; das Sein ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beides, Sein und Nichts; ist die Einheit von Sein und Nichts, – oder ist Nichtsein, das zugleich Sein, und Sein, das zugleich Nichtsein ist.« In einer solchen Dialektik bleibt als ihr wesentlicher Kern der (getaktete) Prozess übrig: »Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein – nicht übergeht, sondern übergegangen ist. […] Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden […].« Immer wieder kommt Hegel (später ebenfalls Marx und Engels) in der Beschreibung der Dialektik auf die Pflanzenmetaphorik zurück, was den Bogen der kulturgeschichtlichen Entwicklung anschaulich über den Neuplatonismus zurück in den Zyklus der Natur schlägt. »Die Pflanze verliert sich nicht in bloße un­ gemessene Veränderung. […] Es ist dem Keime nichts anzusehen. Er hat den Trieb, sich zu entwickeln; er kann es nicht aushalten nur an sich zu sein. Der Trieb ist der Widerspruch, daß er nur an sich ist und es doch nicht sein soll. Der Trieb setzt in die Existenz heraus. Es kommt vielfaches hervor; das ist aber alles im Keime schon enthalten, freilich nicht entwickelt, sondern eingehüllt und ideell. […] Das höchste Außersichkommen […] ist die Frucht, d.h. die Hervorbringung des Keims, die Rückkehr zum ersten Zustande.« Karl Kerényi stieß in seinem Buch über Dionysos auf die »formale Vergleichbarkeit« der Dialektik von Leben und Sterben in der Natur mit Hegels Dialektik, »als wäre Hegels Dialektik der Reflex dieser Ur-­Dialektik im methodisch bewußten Denken des Philosophen.« Dass in einem »System« solcher »Dialektik« keine klassische Kausalität akzeptiert wird, kann nicht überraschen. Hegel formulierte dies, als ob er eine philosophische Grundlage des Kubismus legen wollte: Ein Etwas bewege sich, »nicht indem es in diesem Jetzt hier ist, und in einem anderen Jetzt dort, sondern indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist.« Konsequent denunzierte er jede Kausalität: »Eine falsche Identität ist das Kausalverhältnis zwischen dem Absoluten und seiner Erscheinung; denn diesem Verhältnis liegt die absolute Entgegensetzung zum Grunde. In ihm bestehen beide Entgegengesetzte, aber in verschiedenem Rang; die Vereinigung ist gewaltsam, das eine bekommt das andere unter sich; das eine herrscht, das andere wird botmäßig.« Es bleibt angesichts der prägnanten Dynamik eine Streitfrage, wie sehr man aus Hegel einen statischen Systemanteil herauskristallisieren möchte, nach der obigen Pflanzenmetaphorik gesprochen: Geht es um die Frucht oder die Entwicklung? Hegel selbst hat auf die zwei Seiten einer jeden Philosophie hingewiesen, ihren dynamischen und ihren statischen, systemtragenden Anteil: Wir sehen die Philosophie »einerseits aus der lebendigen Originalität des Geistes entspringen, der in ihr die zer-

321

Der Deutsche Idealismus

rissene Harmonie durch sich hergestellt und selbsttätig gestaltet hat, andererseits aus der besonderen Form, welche die Entzweiung trägt, aus der das System hervorgeht.« Diese Sätze sind eine programmatische Aussage, die nicht nur seine eigene Philosophie charakterisiert, indem die Dialektik als Mittel zum Zweck der Herstellung des absoluten Geistes instrumentalisiert wurde, sondern sie gilt auch noch für die Utopie von Karl Marx, wonach ein aus sich selbst wirkender revolutionärer Prozess eine neue Harmonie von Mensch und Natur zu stiften vermag. Dass die Philosophie Hegels die Grundlage für das Denken des Karl Marx abgab und dieser als Hegelianer gesehen werden muss, ist spätestens seit der im Jahr 1920 erfolgten Entdeckung der 1844 verfassten Philosophisch-Ökonomischen Manuskripte (auch: Nationalökonomie und Philosophie), die erst 1932 publiziert werden konnten, geklärt. Die später als Rechtshegelianer bezeichneten Vertreter hielten demgegenüber am System fest und sahen darin eine Apotheose des (konservativen) Staats. Konsequenter und Hegels »Geist« näher scheint der Weg, mit den Linkshegelianern sowohl sein System als auch den von ihm formulierten Begriff dynamisch aufzufassen. Der Begriff steht nicht der begriffenen Wirklichkeit starr gegenüber. Vielmehr nimmt der Begriff die Wirklichkeit als Moment seiner selbst in sich auf und setzt sich in der Tätigkeit des Begreifens als Realität. Wissen und Begreifen sind geschichtliche Prozesse und mit Brigitte Scheer könnte man festhalten: »Wenn also die wahre Gestalt der Wahrheit des Systems ist, dass dieses System des Wissens sich auf den Begriff stützt, dieser aber historisch und bewegt ist, so ist auch das System kein starres Gebäude, sondern der historische Prozess gewordenen Wissens selbst.« Diese Leseart Hegels gründet nicht nur legitim in seinem Denken, sie hat auch den Vorteil, dass sie Hegel erfolgreich in die Moderne führen kann. Denn ganz analog zu dieser System-Prozess-Diskussion scheiden sich an Hegels Modernität die Geister. Für Jürgen Habermas hat Hegel »den Diskurs der Moderne eröffnet.« Er hielt ihn für den ersten Philosophen, »der einen klaren Begriff der Moderne entwickelt hat […].« Das gilt sowohl für das philosophische Konzept generell als auch für die Ästhetik im Speziellen. Aber er sah auch Hegels Dilemma, dass er »dem Selbstverständnis der Moderne am Ende die Möglichkeit einer Kritik an der Moderne bestreiten muß.« Dies deshalb, weil Hegel jede Kritik am Subjekt nur innerhalb einer Subjektphilosophie durchführte und weil er letztlich alles Empirische und Sinnliche zugunsten des geistigen (absoluten) Wesens fahren ließ. Aus dem Prinzip der Subjektivität, welches von der Reflexionsphilosophie auf den Begriff gebracht worden war, wird mit dem absoluten Wissen ein monströses und selbständiges Gegenprinzip. Die Vernunft hat »den Platz des Schicksals eingenommen und weiß, daß alles Geschehen von wesentlicher Bedeutung schon entschieden ist.« Die Vernunft hat damit ihre korrigierende Kraft verloren – dies ist der Stoff, aus dem später Horkheimer und Adorno ihre Dialektik der Aufklärung formulierten. In der Ästhetischen Theorie sprach Adorno von den »Male[n] der Zerrüttung«, die »das Echtheitssiegel von Moderne« seien, gegen die Geschlossenheit des Immergleichen. Wo diese Elemente echter Selbstkorrektur bei Hegel liegen, ist durchaus nicht trivial. Gilt das, was Jürgen Habermas anmerkte, für den Charakter der Vernunft schlechthin oder eben nur für jenen der Hegelschen

Ebd., 20

6.1.2.f.

Scheer 1997, 115

Habermas 1985b, 65/13

Ebd., 33

Ebd., 55f IX.3.8.1. Adorno 1970, 41 IX.3.8.1.2.

322

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Habermas 1985b, 219

Ebd.

Feuerbach 1839, 187

Weltgeist

Hegel 1807, 591

Vernunft? »Die totalisierende Selbstkritik der Vernunft verstrickt sich in den performativen Widerspruch, die subjektzentrierte Vernunft nur unter Rückgriff auf deren eigene Mittel ihrer autoritären Natur überführen zu können.« Eine echte Zerrüttung, welche die Moderne als spürbare Selbstkorrektur auszeichnete, müsste in der Tat Wunden schlagen: »Das gegen sich gekehrte identifizierende Denken wird zum fortgesetzten Selbstdementi genötigt. Es läßt die Wunden sehen, die es sich und den Gegenständen schlägt.« Dass dies bei Hegel kaum so zu verstehen war, haben bereits die ersten Linkshegelianer mit ihrem Materialismus gesehen. Hegels Philosophie habe eben nicht mit dem Anderssein des Gedankens begonnen, sondern mit »dem Gedanken von dem Anderssein des Gedankens«, merkte Ludwig Feuerbach in seiner Kritik der Hegelschen Philosophie scharfsichtig an. Auch ein christlicher Denker wie Sören Kierkegaard baute seine Hegelkritik auf dem Gegenentwurf der geschichtlichen Existenz des Einzelnen auf. Die konzentrierte Darstellung von Hegels philosophischer Position soll nicht nur seine Ästhetik vorbereiten, vielmehr stellt sich die spannende Frage, wie denn eine zeitgemäße Interpretation des utopischen Abschlusses von Hegels dialektischem System aussehen könnte. Hegel selbst fasste den Prozess, der sich im System stabilisiert, mit abgewandelten Worten Schillers zusammen: Die begriffene Geschichte bilde »die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur – aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.« Das ist ein unscharfes Gemenge aus Pantheismus, der Konstruktion eines ontologischen Gottesbeweises und dem Sprechen von einem begriffenen Begriff und einer begriffenen Geschichte. Daher konnten auch viele Deutungen dieser Vision unterlegt werden. Sie reichen von christlicher Konnotation über die von Marx formulierte Utopie einer Aufhebung des Widerstreits von Mensch und Natur bis zur völligen Destruktion eines statischen Systemabschlusses bereits durch Friedrich Engels und dann durch Theodor Adorno. Hier sei versucht, Hegel aus dem Spannungsfeld der Gegenwart zu lesen. Sein dynamisches Erbe taugt möglicherweise als vorzügliches Erklärungsmodell der dynamischen globalisierten Welt, die eine Prozessfigur pflegt, welche eine historische Umwandlung des Konkreten in den Begriff, die Zahl, kurz in das Bild der Welt zum Programm hat. Dazu liefert ein Blick auf Hegels Ästhetik weitere Argumente, die am Schluss resümierend zusammengefasst werden sollen.

5.3.2. Die Ästhetik Hegels

Gethmann-Siefert 1995, 204; Gethmann-Siefert 2002; Schneider 1984

Seine Ästhetik hat Hegel als Vorlesung noch in Heidelberg (das älteste Notizheft trägt das Datum 1818), dann 1820/21, 1823, 1826, 1828/29 in jeweils veränderter Form in Berlin gehalten. Publiziert hat er sie, abgesehen von einer Einleitung, nie. Dementsprechend kompliziert ist die Quellenlage. Annemarie Gethmann-Siefert hat auf die Veränderungen in Hegels Ästhetik über die Jahre hingewiesen, seine Ästhetik ein »work in progress« genannt und zahlreiche weitere Vorlesungsnachschriften ausgewertet. Es gibt zahlreiche Mitschriften, die teilweise erheblich voneinander

323

Der Deutsche Idealismus

abweichen. Die gedruckte Fassung, die von einem Schüler Hegels, Heinrich Gustav Hotho, zwischen 1835 und 1838 unter Rückgriff auf Manuskripte Hegels und auf Mitschriften verschiedener Hörer herausgebracht worden ist und die Grundlage für alle seitdem erfolgten Nachdrucke bildet, ist nur eine Variante. Hotho war übrigens selbst Kunsthistoriker, der eine große Untersuchung zur deutschen und flämischen Malerei verfasste. Auch Hegels Ästhetik – Hegel meinte damit eine Philosophie der schönen Kunst (Kunst war nur als schön zu verstehen) – erhebt wie sein gesamtes Konzept Anspruch auf systematische Geschlossenheit. Sie fügt sich in sein philosophisches Gesamtsystem ein. Die Diskussion über Kunst zielt bei Hegel immer auf ein umfassendes System und Regelwerk, kaum je geht es um die Würdigung eines einzelnen Kunstwerks, das womöglich gar allgemeine Normen in Frage stellt. Ebensowenig findet sich Kunsthistorisches im engeren Sinn. Zwar hinterließ er eine Chronologie der Kunst mit diversen Kommentaren, aber sie hat nicht den Rang einer Kunstgeschichte. Im Groben begnügt er sich mit einer Einteilung in die Zeit vor der griechischen Kunst, die den eigentlichen Ausdruck der Kunst markierte, und eine nach dieser. Zwar bildete die griechische Klassik den Wertmaßstab, Hegel deshalb zum Klassizisten zu machen, wie dies verschiedentlich passiert, greift freilich zu kurz. Denn für ihn ist zwar die griechische Klassik auf der Ebene der Kunst nicht überbietbar, aber die Kunst als solche sehr wohl, eben durch den Begriff.

567 Hegels Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof; Berlin

5.3.2.1. Kunst als Vergeistigung des Sinnlichen Hegel legte Kunst als eine der Philosophie und Religion ebenbürtige geistige Tätigkeit an. Sie verfolge in ihrer spezifischen Sprache das gleiche Ziel, nämlich die Wirklichkeit als Erscheinung des Absoluten zu begreifen. Aber anders als bei Schelling hielt Hegel dies nicht durch, vielmehr blieb am Ende die am Begriff orientierte Philosophie die höchste Form des Geistes. Denn dort wird im Erkenntnisvorgang das endliche Bewusstsein zur Manifestation eines absoluten Bewusstseins. Das Endliche wird auf das Absolute hin entgrenzt. Wie für die Philosophie gilt auch für die Kunst, dass sie sich als Wissenschaft darstellen muss. Sie darf keine »regellose Willkür« sein und nicht als »wilde[r] Fessellosigkeit der Phantasie« herumschweifen. Dabei gehe es aber nicht um die »Wissenschaft« der Kunstgeschichte, sondern um eine »abstrakte Philosophie des Schönen […].« Da es bei Hegel ausschließlich um schöne Kunst ging, ist der Gegenstand der Ästhetik das »weite Reich des Schönen, und näher ist die Kunst, und zwar die schöne Kunst ihr Gebiet.« Auch (und besonders) in der Ästhetik zeigt sich die große philosophische Bewegung der Aufhebung des materiellen Äußerlichen in den Geist. Das Kunstwerk erschöpft sich nicht in »Linien, Krümmungen, […] Farben, Tönen, Wortklängen«, sondern in »innere[r] Lebendigkeit, Empfindung, Seele […] Geist.« Das Sinnliche allein ist reine Schattenwelt: »Die Kunst bringt deshalb von seiten des Sinnlichen her absichtlich nur eine Schattenwelt von Gestalten, Tönen und Anschauungen hervor. […] In dieser Weise ist das Sinnliche in der Kunst vergeistigt, da das

Hegel 1835, I, 28/29

Ebd., 13

324

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Ebd., 37/61/51

Ebd., 212

Ebd., 151

Ebd., 90ff

Ebd., 205

Geistige in ihr als versinnlicht erscheint. Deshalb gerade aber ist ein Kunstprodukt nur vorhanden, insofern es seinen Durchgangspunkt durch den Geist genommen hat […].«Kunst also als das Geschäft, das Sinnliche zu vergeistigen! Die Motivation dafür nennt Hegel ungeschminkt: »Der Mensch tut dies, um als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen und in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst zu genießen.« So liest sich ein in die Aufklärung (also ins Subjekt) gewendeter Neuplatonismus. Der Inhalt der Kunst, das Geistige in der Kunst, steht zwar über dem Materiellen der Kunst, kann sich aber nur darin zeigen. Dabei gibt es eine Spannweite der verschiedenen Künste, die von der Architektur, wo das Material gegenüber dem Geistigen die größte Rolle spielt, der die Bildhauerei folgt, bis zur Literatur und Musik reicht, die bereits auf einem weitgehend geistigen Material basieren. In idealer Weise ergänzen sich materielle Form und geistiger Inhalt nach Hegel, der in dieser Einschätzung Winckelmann pries, in der Bildhauerkunst, namentlich in der Darstellung des menschlichen Körpers. Die Einheit der Künste ergibt sich aus der Reihe Architektur, Plastik, Malerei, Musik und Poesie und ihrer jeweils verschiedenen, aber stets vorhandenen Verbindung von Sinnlichem und Geistigem. Wie schon bei Schelling gewann die Kunst ihren Wert aus dem Bezug zur Wahrheit. Spezifisch für die Fortschrittsdialektik des Geistes (als die in der Phänomenologie des Geistes geschilderte Odyssee des menschlichen Geistes) zum absoluten Wissen war, dass das Kunstwerk als Stadium im Entwicklungsgang der Idee angesehen wurde. Es ist eine objektive Manifestation derselben. Das Schöne (das dem Kunstwerk notwendig zukommt) wird zum »sinnliche[n] Scheinen der Idee.« Hegel kleidete diesen Prozess der Darstellung des Wahren unter anderem in eine Historisierung der künstlerischen Form. Der unvollkommenen symbolischen Form, in der die Idee noch den Kunstausdruck sucht, folgt die klassische, in welcher Inhalt und Form zu einer angemessenen Einheit kommen, der aber noch die Innerlichkeit fehlte, welche erst die romantische Kunstform brachte. Aus diesen Gründen wurde die Naturnachahmung zugunsten der Idee zurückgedrängt. In der Renaissance gab es das Bemühen, die Kunst als Wissenschaft vom Handwerk abzuheben. Die Orientierung an der Natur, die in der Renaissance als Fortsetzung des aristotelisch geprägten Spätmittelalters einem Höhepunkt zustrebte, wurde daher durch die (platonische) Idee des Künstlerdemiurgen gleichsam wissenschaftlich veredelt. Dass aus reiner Naturnachahmung Kultur wird, ließe sich mit der Dichotomie Aristoteles-Platon analog setzen! Worte Hegels wie die folgenden könnten ebenso gut aus dem Munde eines Renaissancekünstlers stammen: »Die Wahrheit der Kunst darf also keine bloße Richtigkeit sein, worauf sich die sogenannte Nachahmung der Natur beschränkt, sondern das Äußere muß mit einem Inneren zusammenstimmen, das […] sich selbst im Äußeren offenbaren kann.« Dies erhielt in Hegels neuzeitlicher Subjektphilosophie indes eine nachhaltigere Prägung als in der Renaissance. Die Wende zum Subjekt, die den Idealismus charakterisiert, traf sich mit dem inhärenten Platonismus, der die Materie zugunsten der Idee abwertete. »Denn die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergebore-

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Der Deutsche Idealismus

ne Schönheit, und um soviel der Geist und seine Produktionen höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um soviel auch ist das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur.« Hegels neuplatonische Wurzeln sind so offensichtlich, wie sie auch seit langem und immer wieder dargestellt worden sind. Letztlich hat Hegel die alte neuplatonisch-religiöse in eine neuzeitlich-subjektgeführte Ästhetik übersetzt. Dies, auch wenn der Subjektbegriff Hegels zu einer neuen Art von Absolutem entführt, eine romantische Genieästhetik produziert und sich vor religiösen Konnotationen nicht scheut. Inwieweit diese ernst zu nehmen sind, steht auf einem anderen Blatt. An der Einbettung Hegels in platonisch-neuplatonische Konzepte ändern gewiss auch Einsprüche wie jener von Annemarie Gethmann-Siefert nichts. Die Autorin will Hegel vor der Kritik eines ästhetischen Platonismus »in Schutz nehmen«. Dies hauptsächlich mit dem Argument, dass der Ausdruck »sinnliches Scheinen der Idee« in den Zeugnissen zu Hegels Ästhetikvorlesung angeblich nicht gestützt werde. Unabhängig von dieser philologischen Frage gerät Gethmann-Siefert in ihrer Argumentation in die Nähe eines vulgärplatonischen Verständnisses. Gerade weil aber Hegel – wie Gethmann-Siefert an anderer Stelle auch einräumt – Kunst ausdrücklich nicht als mimetisches Unternehmen auffasst, sondern als Kristallisation einer Idee des Geistes, wurzelt sein Denken in einem anspruchsvollen Platonismus. Hegel ist genau dort, wo er Kants Beschränkungen verließ, in einen prämodernen Kontext zurückgefallen, auch wenn seine Ästhetik eine Fülle von für die Kunst der Moderne aufregende Motive geliefert hat. Zudem muss man in der zitierten Stelle den Ausdruck Schein in jener Hegel zukommenden (platonisch) dialektischen Hermeneutik lesen. Schein umfasst für ihn stets die ambivalenten Bedeutungen im Sinne des Falschen und Vorläufigen, aber auch im Sinne des Durchscheinens des Wahren in einem nur Vorläufigen. »Die Wahrhaftigkeit des künstlerischen Scheins besteht darin, die Wahrheit (das Absolute) zum Erscheinen zu bringen.« Das adelt die Kunst zum Geist. »Den Schein und die Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jenem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort und gibt ihnen eine höhere, geistgeborene Wirklichkeit.« Das kann mit Fug und Recht als hervorragend verwaltetes Erbe des späten Platon angesehen werden, als nichts anderes als ein Fruchtbarmachen dessen Philosophie als Kunstphilosophie im Kontext der aufbrechenden Moderne.

Ebd., 14 neuplatonische Wurzeln

Beierwaltes 1980a Beierwaltes 1972

Gethmann-Siefert 1995, 212f

Ebd., 209f Waibl 2009, 173

Hegel 1835, I, 22

5.3.2.2. Kunstschönheit versus Naturschönheit – Philosophie überflügelt die Kunst Für Hegel liegt die Schönheit nicht in den Dingen, sondern ist Resultat einer Reflexion des Geistes: »Dadurch steht das Kunstwerk höher als jedes Naturprodukt, das diesen Durchgang durch den Geist nicht gemacht hat; […].« Auch Kant ging vom Reflexionsakt im Subjekt aus. Hegel zog daraus die zusätzliche Konsequenz vom Vorrang des Kunstwerks gegenüber der Natur. Im Idealismus Hegels hat eine Ästhetik des Sinnlichen wie auch eine des Erhabenen keinen Platz. Einzig das Kunstschöne

Ebd., 49

326

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Ebd., 83

Ebd., 13

Ebd., 21 Kunst: Abarbeiten der Welt

Ebd., 75 Bubner Rüdiger in Majetschak 2005, 173

VI.4.1.2.

gilt ihm als jene Mitte, die den »Widerspruch des in sich abstrakt beruhenden Geistes und der Natur […] auflösen und zur Einheit zurückführen« kann. Damit hat Ästhetik hier eine völlig andere Bedeutung als bei Baumgarten und in der breiten Rezeption, auch jener der Aufklärung. Dass Hegel den Ausdruck Ästhetik dennoch beibehält, hängt mit seinem inzwischen verbreiteten Gebrauch zusammen, wie er gleich am Anfang seines Werks festhält: »[…] weil er als bloßer Name für uns gleichgültig und außerdem einstweilen so in die gemeine Sprache übergegangen ist, daß er als Name kann beibehalten werden.« In der negativen Bewertung des Naturschönen kann man neben den Üblichkeiten des Idealismus eine konsequente philosophische Umsetzung des Klassizismus sehen, der die nach dem Ideal gestaltete Schönheit gegen jede ungestaltete Natur ausspielt. Man kann dies aber auch als radikalisierte Aufklärung deuten. Kunst ist – ganz im Kontext seiner Philosophie des (»aus sich selbst agierenden«) Geistes – eine fortgeschrittene Phase der Versöhnung des Geistes mit dem je anderen. Dieser Geist »erzeugt aus sich selbst die Werke der schönen Kunst als das erste versöhnende Mittelglied […] zwischen der Natur und endlichen Wirklichkeit und der unendlichen Freiheit des begreifenden Denkens.« Auch Kunst ist nicht anderes als ein Abarbeiten der Welt durch das sich dabei befreiende und zu sich selbst bringende Subjekt: »Zwar kann man vielfach die beliebte Redensart vernehmen, der Mensch habe mit der Natur in unmittelbarer Einheit zu bleiben; aber solche Einheit in ihrer Abstraktion ist gerade nur Rohheit und Wildheit, und die Kunst eben, insoweit sie diese Einheit für den Menschen auflöst, hebt ihn mit milden Händen über die Naturbefangenheit hinweg.« Selbst wenn man Hegels »Unterjochung des Naturschönen unter Verfügungen menschlicher Rationalität« bedauert, ist Hegels Überlegung ziemlich aufregend. Es wird nicht nur offenbar, wie sehr die Ästhetik aus Hegels Gesamtsystem verstanden werden muss, sondern es wird auch die Brisanz der Ästhetik deutlich, wenn man sie als Beschreibung der modernen dynamischen postindustriellen Globalisierung anwendet. In der Tat hat der Fortschritt den Menschen mehr und mehr, freilich nicht immer nur mit milden Händen, von der Natur abgehoben zugunsten des Begriffs. Der Idealismus Hegels löst im Kontext einer modernen Fortschrittswelt ein, was manche (vom Platonismus geprägte) Renaissancehumanisten mit der Verspottung der Naturnachahmung vorweg genommen haben. Kunst ist bei Hegel durch ihre Assoziierung mit Philosophie und Religion eine ernste Angelegenheit und dient nicht einer bloßen Ästhetisierung der Lebenswelt. Hegel interpretierte das durchaus als Befreiung der Kunst aus ihrer vermeintlich alten und entmündigenden Aufgabe, als spielerisches Ornament zu dienen, auf den allgemeinen Geist hin. »Was erstens die Würdigkeit der Kunst betrifft […] so ist es allerdings der Fall, daß die Kunst als ein flüchtiges Spiel gebraucht werden kann, dem Vergnügen und der Unterhaltung zu dienen, unsere Umgebung zu verzieren […] In dieser Weise ist sie in der Tat nicht unabhängige, nicht freie, sondern dienende Kunst.« Aus dem Kontext von Philosophie und Religion ergibt sich die Freiheit und Würde der Kunst und von dort erhält sie ihre »höchste Aufgabe«: »Was wir aber be-

327

Der Deutsche Idealismus

trachten wollen, ist die auch in ihrem Zwecke wie in ihren Mitteln freie Kunst […] In dieser ihrer Freiheit nun ist die schöne Kunst erst wahrhafte Kunst und löst dann erst ihre höchste Aufgabe, wenn sie sich in den gemeinschaftlichen Kreis mit der Religion und Philosophie gestellt hat und nur eine Art und Weise ist, das Göttliche, die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen.« Es handelt sich um eine Stufung, die von der Anschauung, die zur Kunst gehört, über die Vorstellung der Religion, bis zum Begriff der Philosophie führt. Die Rolle der Philosophie wird bei Hegel nirgendwo in Frage gestellt, vielmehr gipfelt in ihr sein gesamtes System. Die Anschauung weicht im letzten klar der Kategorialität: »Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt.« Kunst ist allenfalls noch die beste Form, in der das Sinnliche (als Erscheinung des Geistigen) auftritt. Im Kunstwerk hat der Geist gleichsam die materiellen Gegenstände der Natur vorgekaut und kann sie der Religion und Philosophie zur Aufhebung weiterreichen: »Die harte Rinde der Natur und gewöhnlichen Welt machen es dem Geiste saurer, zur Idee durchzudringen, als die Werke der Kunst.«

Hegel 1835, I, 20f

Ebd., 24

Ebd., 23

5.3.2.3. Die Freiheit der Kunst und ihr »Ende« Darin liegt die Aufgabe der Kunst in dem von Hegel entworfenen Gesamtsystem: Kunst hat die Wahrheit »in Form der sinnlichen Kunstgestaltung zu enthüllen […] Denn andere Zwecke, wie Belehrung, Reinigung, Besserung, Gelderwerb, Streben nach Ruhm und Ehre, gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben.« Freilich wird die vermeintliche Befreiung der Kunst aus Abhängigkeiten (wie jene, reine Ästhetisierung der Welt zu sein), die Betonung ihrer Autonomie, konterkariert durch eine neue Funktionalisierung in ihrer Aufgabe, Darstellung des Wahren und Göttlichen zu sein. »Erst jenseits der Unmittelbarkeit des Empfindens und der äußerlichen Gegenstände ist die echte Wirklichkeit zu finden. […] Den Schein und die Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jenem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort und gibt ihnen eine höhere, geistgeborene Wirklichkeit.« Entstanden ist diese neuerliche Metaphysizierung – darauf sei nochmals hingewiesen – durch die radikale Autonomie, wie sie Hegel im Erbe Kants zu erkennen glaubte, und in der Verlagerung einer »schlechten vergänglichen Welt« in ein allgemeines Geistsubjekt, indem Hegel die wichtige Schranke Kants, Wissenschaft auf Gegenstände möglicher (empirischer) Erfahrung einzugrenzen, ignoriert hat. Von da her leitet sich auch das Bedürfnis nach dem Kunstwerk ab. Keineswegs nur ein bloßes Spiel von Einfällen, gründet das Kunstwerk in einem »höheren Triebe.« Die Naturdinge sind nur »unmittelbar und einmal, doch der Mensch als Geist verdoppelt sich […].« Die Worte offenbaren, wie sehr Hegels philosophisches Anliegen die Ästhetik bestimmt. Es geht um Aufhebung des reinen Außer-Sich-Seins, es geht darum – ich wiederhole hier ein Zitat Hegels –, dass das zu sich befreite Subjekt »der Außenwelt ihre spröde Fremdheit« nimmt, das ja schließlich »in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst« genießt.

Ebd., 82

Ebd., 22

Ebd., 50/51

Ebd., 51

328

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schiller 1795b, 136

Hegel 1835, I, 142

Wackenroder, zit. nach Schreier Josef in Coreth/ Neidl/Pfligersdorffer 1987, 132

Larcher 1997, 49

Gadamer 1971, v.a. 62

Subjektivität

Habermas 1985b, 27

Hegel 1840, 522

Das hatte bereits Schiller in Das Ideal und das Leben vorgespurt: »Werft die Angst des Irdischen von euch!/Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben/In des Ideales Reich!« Man ist an die Konzeption des neuplatonischen Gottes erinnert, der »im Außen« zu sich selbst kommt, jetzt freilich nicht mehr als kosmisches und mystisches Geschehen verstanden, sondern als neuzeitliches emanzipatorisches Geschehen des Subjekts, das die »spröde Fremdheit« der Natur durch ihre Verdoppelung im Geist überwindet. Es scheint nun sekundär, ob diese Verdoppelung in der Form eines Bildes oder in jener des Begriffs bewerkstelligt wird. In jedem Fall ist Kunst eine Etappe auf dem Weg zur Aufhebung der äußerlichen Natur in den absoluten Geist. Auf dieser Etappe, das wurde bereits gesagt, hat sich Hegel von seiner eigenen frühen Vision im Ältesten Systemprogramm entfernt und sah die Kunst an ihr Ende gekommen, auch wenn diese häufig kolportierte Aussage so nicht wörtlich in seiner Ästhetik gesagt wird. »Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unsere Knie beugen wir doch nicht mehr.« Das ist in der Tat ein bemerkenswerter Befund. Der junge Mittelalterverehrer Wilhelm Heinrich Wackenroder legte in der Hochromantik im Brief eines jungen deutschen Malers in Rom an seinen Freund in Nürnberg seine Konversionserfahrung, die er bei Reisen nach Bamberg gemacht und in einem Tagebuch beschrieben hatte, seinem jungen Maler in den Mund: »Kannst Du ein hohes Bild recht verstehen und mit heiliger Andacht es betrachten, ohne in diesem Moment die Darstellung zu glauben?« In Hegels angedeuteter Ermüdung der Überzeugungskraft der Kunst hat man von christlicher Seite, indem man sie auf Hegels an gleicher Stelle geäußerte Kritik an einer allzu versinnlichenden Vorstellung des Göttlichen bezog, durchaus Positives abgewinnen können. Damit sei einerseits die Aufhebung der »Kunstreligion der Griechen seit der Inkarnation des Logos im Gottmenschen Jesus als dem ›eikon theou‹« angesprochen worden, andererseits spiegle sich die »Aufhebung der großen Kultbilder aus dem Geist der Reformation.« Allgemeiner, aber in der Sache ähnlich hatte bereits Hans-Georg Gadamer argumentiert. Nach der Aufhebung der griechischen Bedeutung von Schönheit durch die biblisch-christliche des Heils, musste sich die Kunst dieser neuen Funktion unterwerfen. Das führe letztlich zu ihrem Ende. Der Gedanke ist nicht ohne Reiz, sollte aber nicht verstellen, dass die griechische Schönheitsauffassung keine ästhetische war, sondern eine ontologische – jedenfalls bei ihren großen philosophischen Vertretern. Es ist zudem plausibel, mit Jürgen Habermas diese Stelle im Kontext der Entdeckung der Subjektivität als dem Prinzip der neuen Zeit durch Hegel zu lesen (Hegel selbst hat die Reformation als neuzeitliches Schlüsselereignis zur Ausbildung der Subjektivität gewertet). Man kann die eben zitierte Stelle aus seiner Ästhetik ergänzen mit folgender aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: »[…] die Hostie ist nur Teig, die Reliquie nur Knochen. Gegen den Glauben auf Autorität ist die Herrschaft des Subjekts durch sich selbst gesetzt worden, […].« Das führt zur kritischen Anfrage an Hegel, ob sein Sprechen von Gott und Göttlichkeit überhaupt ernst zu nehmen ist, ob er damit nicht vielmehr einem verdeckten Subjektivismus das Wort redete und damit

329

Der Deutsche Idealismus

der religionskritischen Analyse Feuerbachs näher stand als gemeinhin angenommen. Hegels Worte könnten dazu als Bestätigung dienen: »In diesem Hinausgehen jedoch der Kunst über sich selber ist sie ebensosehr ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhalts und der Auffassung von sich abstreift und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht […].« Schon von da her ist Vorsicht geboten bei einer allzu ambitionierten religiös-konfessionellen Deutung, die für Hegel mit ziemlicher Sicherheit nicht im Vordergrund stand. Hingegen kann die zitierte Aussage für die Geschichte der Ästhetik fruchtbar gemacht werden. Zunächst meint das die Ablösung der Religion durch die Kunst. Wenn Andreas Rauch Recht hat, dann wäre Jean August Dominique Ingres Gemälde Das Gelübde Ludwigs XIII. (1824) ein schönes Beispiel für das Gemeinte: »Der Kniefall der irdischen Macht scheint auch weniger der Muttergottes zu gelten als vielmehr der vergöttlichten Kunst, in diesem Fall derjenigen Raffaels. Denn in der Tat hatte sich die Kunst längst an die Stelle der Religion gesetzt.« Im 19. Jh. war die religiöse Deutungsebene aus den Bildern weitgehend verschwunden, die Künstler setzten pantheistische oder schlicht antiklerikale und areligiöse Bemerkungen an ihre Stelle. Auch bei Goethe findet sich eine passende Stelle. In seiner Beschreibung der italienischen Reise faszinierte ihn ein Altarbild Raffaels in Bologna, seine Heilige Cäcilia: Er fand die fünf dargestellten Heiligen »so vollkommen«, dass man »dem Bilde eine Dauer für die Ewigkeit wünscht […].« Aber es sind »Fünf Heilige nebeneinander, die uns alle nichts angehen […].« Goethe stellte Raffael gewissermaßen in das Museum. Er machte ihn zu einem ästhetischen Phänomen und durchkreuzte jede Bemühung, den religiösen Aspekt in den Vordergrund zu rücken. Hegel reduzierte letztlich die Funktion des Kunstwerks als Verdinglichung des Wahren auf eine Selbsterfahrung des Menschen. Kunst stellt nichts mehr dar, eine Naturnachahmung ist überboten durch eine Selbsterfahrung, die in der Betrachterin ausgelöst wird. Diese Wende markiert den Umschlag von spiritueller Kunst in die Gegenstandslosigkeit. Eine solche Rücknahme einer spirituell-mystischen Erfahrung von einer Gottes- zu einer Selbsterfahrung des Subjekts wurde in der Kunst des 20. Jh.s mehrfach formuliert. Bei der kunstphilosophischen Bewertung solcher Aussagen ist es wichtig, die zugrundeliegende kulturelle bzw. philosophische Erzählung im Auge zu behalten. In der Hegelforschung wurde eine Zeit lang verschiedentlich kolportiert, dass Hegel mit seiner Andeutung vom Ende der Kunst das Ende jeder faktischen Kunst gemeint habe. Das ist mit Sicherheit ein Missverständnis. Was Hegel meinte, war auch nicht, dass es keine ästhetische Erfahrung mehr geben könne, im Gegenteil: Er veränderte die (platonische) Erzählung vom anagogischen Charakter der Kunst und durchkreuzte damit jede religiöse Erfahrung der oder durch die Kunst. Es begann die Erzählung vom aufgeklärten Subjekt, dem die Welt ästhetischer Erfahrungen – aber nun solche diesseitiger Natur – offen steht. Und es ist ein Hinweis darauf, dass jedenfalls in einem religionsphilosophischen Kontext noch lange nicht das letzte Wort zu Hegels Absolutem gesprochen ist.

Hegel 1835, II, 237 Kunst statt ­Religion

Rauch Andreas in Toman 2009, 395

Goethe 1816/17a, 120

Bertram 2005, 52

X.1.4.

330

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Ästhetisierung der Kunst

Belting 1990

Hegel 1832, I, 43 Marquard 1981, 116

Es geht um die schlichte Frage einer Ästhetisierung der Kunst. Man könnte poi­ ntiert als Gegenprobe sagen: Würden wir unsere Knie noch beugen, bräuchte es keine Philosophie, keinen Begriff, dann zeigte sich das Göttliche in der Anschauung des Schönen selbst. Diese für Wackenroder offenbar noch gelungene Erfahrung galt deshalb so nicht mehr, weil der Mensch in den Vordergrund getreten ist. Ob Hegel das ernsthaft bedauert hat, mag dahingestellt bleiben. Faktum ist, dass der Begriff und die Reflexion die Kunst überflügelt hatte. Die Kunst hat die Legitimationskraft der Wahrheit verloren. Hans Belting nannte das den Übergang vom Kult zur Kunst und verortete diesen bereits in der Renaissance. Das bedeutet, dass sich Kunst von einem ontologischen Prinzip befreit, dass Kunst auch nicht mehr automatisch versöhnt – daher muss sie aufgehoben werden. Das entspricht dem Befund Hegels vom Absterben der Religion, ein ähnlicher Befund, den Max Weber später gab: »Es macht unserem Zeitalter keinen Kummer mehr, von Gott nichts zu erkennen, vielmehr gilt es für die höchste Einsicht, daß diese Erkenntnis sogar nicht möglich ist.« Aus diesen Verhältnissen lässt sich schlussfolgern: »Das Ende der Kunst kommt also nicht nach, es kommt vielmehr […] vor der Ära der ästhetischen Kunst.«

5.3.3. Konsequenzen

Liessmann 1994, 39

Heede/Ritter 1973

Schneider 1996, 87

Das »Ergebnis« von Hegels Ästhetik lief auf die Ästhetisierung der Kunst hinaus, worüber Konrad Paul Liessmann so resümiert: »Am Beginn der ästhetischen Moderne steht die Verkündigung vom Ende der Kunst. So pointiert ließe sich Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) Beitrag zur Ästhetik zusammenfassen.« Wieder ein Anfang also der ästhetischen Moderne, den wir doch bereits bei Kant angekündigt hatten. Ob und inwieweit Hegel tatsächlich in die Moderne zu rechnen ist, hat durchaus unterschiedliche Antworten ausgelöst. Liessmann relativiert seine Aussage auch postwendend und nennt Hegels Ästhetik »seltsam antiquiert.« Hegels Einordnung, sowohl in der Ästhetik wie in der gesamten Philosophie, bedarf daher eines genaueren Blicks. Hegels Ästhetisierung der Kunst und deren Rücknahme auf das Subjekt war zweifellos ein Schritt in die Moderne. Das Problem bleibt, dass, anders als bei Kant, wo das Subjekt als endliches einem ebenso endlichen Erkenntnisobjekt gegenüberstand, das Subjekt bei Hegel das Geschäft eines Absoluten auszuführen hatte. Hegel stand hier trotz seiner Vorbehalte der romantischen Kunst und der romantischen Genieästhetik näher als einer ästhetischen Moderne. In der Bestimmung dieses Absoluten blieb Hegel vage. Einerseits konnotierte er es – insbesondere in seiner Religionsphilosophie – religiös, doch da dürfte der äußere Druck in Form von Pantheismusvorwürfen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Andererseits war die religiöse Charakterisierung sehr abstrakt und waren seine Vorbehalte gegenüber der empirischen Kultpraxis der Religionen überdeutlich ausgefallen. In der Tat scheint Hegels Gottesbegriff »schon säkularisiert.« Zieht man das alles ins Kalkül, löst sich Kunst aus religiösen und kultischen Zusammenhängen. Sie wird unter diesem Aspekt autonom, ohne dadurch gleich an Aura zu verlieren. Nach Walter Benjamin besteht die Aura des Kunstwerks aus entmächtigten religiösen Gehalten. Die Aura

331

Der Deutsche Idealismus

kehrt sich geradezu um. Gab es bisher eine objektive Bedeutung, schöpfte jetzt das Kunstwerk seine Einmaligkeit aus dem Hier und Jetzt des Werks, aus der Einmaligkeit des Daseins an jenem Ort, an dem es sich befindet und im Betrachter seine Wirkung entfaltet. So hat auch das säkulare Kunstwerk sich eine Aura der Unnahbarkeit bewahrt. »Die Religion der Kunst entstand wie die Religion der Politik aus den Trümmern des Christentums.« Diese Bemerkung von Octavio Paz lässt sich auf Hegel münzen. Sie deutet zugleich an, dass auch Hegels Ästhetik als emphatische Werkästhetik verstanden werden muss, sogar im Geiste neuplatonischer Bildfunktion, die jetzt im Alphabet der Romantik buchstabiert wird. Zweifellos stehen bei der Besprechung der Ästhetik Hegels die Fragen nach der Modernität seines Konzepts und der Stellung von Kunst und Kunstgeschichte im Vordergrund. Dass die Antworten darauf eher zurückhaltend und sehr bemüht und konstruiert ausfallen, zeigt, dass Hegels kunstphilosophisches Konzept kaum direkt auf die Bedürfnisse der modernen Welt (nicht einmal auf jene seiner Welt) übertragbar ist. Eine »›Aktualisierung‹ der Hegelschen Ästhetik« muss allerdings nicht unbedingt an der »Grundthese vom Ende, genauer vom Vergangenheitscharakter der Kunst« scheitern. Aufregender wird dieses Konzept, wenn man es – wie er es selbst nahe gelegt hat – mit dem grundsätzlichen philosophischen Bemühen kurzschließt. Folgt man dieser Spur, muss man Hegels Gesamtsystem einer Deutung unterziehen. Dabei treffen sich die Horizonte der Ästhetik und der Technik. Strukturell nicht weit von dem entfernt, was über Platon diesbezüglich angedeutet wurde, erzeugt sich auch in Hegels Philosophie ein absoluter Geist und baut bei seiner Selbsterzeugung (autokinesis) die materielle Welt in eine des Begriffs um. Das Subjekt holt gewissermaßen die »spröde Fremdheit«, die »nur eine äußere Realität seiner selbst« ist, zu sich zurück – jetzt natürlich nicht mehr in mystischem Gewand, sondern entworfen als neuzeitlich finalisierte Geschichtsphilosophie des menschlichen-wissenschaftlichen Geistes. Dass über solche Zeilen ein Karl Marx in einer Zeit der beginnenden Industrialisierung nicht hinweglesen und sie auch nicht als rein idealistische Geistesakrobatik stehen lassen mag, versteht sich von selbst. Der Gehalt Hegelscher Geschichtsphilosophie ist der menschliche Geist, der kollektive Aufbauarbeit am Absoluten treibt, das am Ende der Geschichte real wird. Der absolute Weltgeist ist eine Generalsynthese aller Widersprüche. Er ist nichts Geringeres als der Anspruch, die Welt in ihrem Wesen begriffen und aufgehoben zu haben. Die von ihm entworfene Wissenschaft der Logik sei »die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. […] die Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.« Wenn man diesen Griff schierer Maßlosigkeit nach den Sternen auf eine handhabbare Ebene herunterbricht, könnte man Hegels philosophisches System als groß angelegten Versöhnungsgestus der »Gespaltenheit« der Welt lesen, also als Aktualisierung des archaischen Erbes einer Henosis, was sich sowohl technisch-wissenschaftlich, als auch im Alphabet der Kunst buchstabieren lässt. Ähnlich wie bei Platon ließe sich Hegels Phänomenologie des Geistes medienoder bildphilosophisch entziffern. Die Erhebung der Natur in den Geist ist nichts an-

Paz 1984b, 384

Steunebrink 2013, 142 Gethmann-Siefert 1984, 205

III.2.4.3.2.6.

Braun 2014 6.1.1.

Hegel 1812, I, 44; im Orig. kursiv

332

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hegel 1835, I, 61

Ebd., 116f

7.0.f.

IX.3.9.2.

IV.7.2.

Adorno 1963, 36

deres als der Tausch der »Schattenwelt« durch das wahre Bild der Welt. Hegel hat in der Kunstphilosophie nichts weiter formuliert als »nur« eine exzellente Anwendung seiner philosophischen Gesamtbemühung. Manchmal konzentriert sich dies in einzelnen Aussagen, etwa in jener, in der er die Aufgabe der Architektur beschrieb. Sie besteht nach Hegel darin, »die äußere unorganische Natur so zurechtzuarbeiten, daß dieselbe als kunstgemäße Außenwelt dem Geiste verwandt wird.« Das Materielle »als mechanisch schwere Masse« wird »nach den abstrakten Verstandesverhältnissen des Symmetrischen geordnet.« Wie der autokinetische Prozess bei Platon die ungeordnete schwere Materienmasse in Harmonie brachte, erzählte auch Hegels philosophisches System von einem gigantischen Unterfangen, die Welt nach den Prinzipien des (»aus sich selbst« erzeugenden) Geistes in ein ideales Bild umzubauen. Die Architektur dient wie die gesamte Kunst dabei als passende Chiffre für dieses Unterfangen. Hegels Philosophie als mediale Verdoppelung der Welt durch ihr (technisch wie ästhetisch) begriffenes Bild! Dass Hegels Philosophie ihren Erfolg im Aufbruch des 19. Jh.s zwischen Revolution und wissenschaftlich-technischem Prozess erlebte, ist kaum ein Zufall. Wie keine andere kulturelle Erzählung gibt sie diesen Prozessen einen Sinn und verleiht ihnen einen faszinierenden utopischen Gehalt. Aufklärung und Romantik erscheinen hier als sich ideal ergänzende Konzepte. Hegels absoluter Geist stünde dann für eine abgeschlossene Aufhebung von Natur in Kultur (hegelisch: von Natur in den Geist). Das Konzept bietet zwei Anschlüsse: einmal die utopische Aussicht auf einen Abschluss der Geschichte, dann die Deutung als ein stetiges dynamisches picturemaking, das medienphilosophisch gewendet letztlich ein worldmaking ist. In Hegels Philosophie feiert der Platonismus seinen vielleicht nachhaltigsten Triumph als Paradigma der (modernen) Welt. Was über Jahrhunderte kunstphilosophisch in religiösen und mystischen Kontexten als Aufhebung der dunklen Materie in Geist und Licht zelebriert wurde, wurde bei Schelling und Hegel in eine technisch-begriffliche Dimension verwandelt. Dennoch war mit Hegel weder das Ende der Geschichte noch jenes der Philosophie gekommen. Das Changieren zwischen Prozess und der Vision eines erreichbaren Endpunktes decouvriert Hegels Verhaftetsein in der alten Metaphysik und diese Ungereimtheit forderte geradezu dazu auf, ihn gegen seinen eigenen Strich zu bürsten. Das tat Theodor W. Adorno, der Hegels Philosophie gleichsam dramaturgisch inszenierte, indem er die systemsprengende Dialektik gegen das statische Absolute ausspielte: »Kaum irgendwo ist seine Philosophie aktueller, als wo sie den Begriff Sein demontiert.« Ob mit Hegel ein echter Humanismus möglich ist, scheint eher zweifelhaft. Was von Hegels Systemdenken übrigbleibt, wenn man es von der utopischen Semantik befreit, ist ein nach dem Modell des späten Platon verlaufender und knapp hundert Jahre nach Hegel von Max Weber konstatierter Rationalisierungsprozess, der sich in unseren Tagen massiv verstärkt hat und von Franz J. Bauer so beschrieben wird: »Die Rat- und Hilflosigkeit der Politik gegenüber dem unverfügbar erscheinenden Automatismus ökonomischer, sozialer und technologischer Großprozesse kommt häufig im Begriff der Sachzwänge zum Ausdruck. Er signalisiert – quasi ein verbales



333

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

Achselzucken der Resignation – das Eingeständnis, daß […] man das Geschehende einfach hinnehmen müsse.« Demnach wäre der Schwenk zum Humanus ein Versuch, den objektiven Geist auf den Einzelnen hin fruchtbar zu machen. Hegel entfaltet das für die Kunst an der entsprechenden Stelle: »Hiermit erhält der Künstler seinen Inhalt an ihm selber und ist der wirklich sich selbst bestimmende, die Unendlichkeit seiner Gefühle und Situationen betrachtende, ersinnende und ausdrückende Menschengeist, […].« Was ist das anderes als eine Kritik der emphatischen Bedeutung des objektiven Geistes – aber eine Kritik im Sinne Hegels selbst! Die Stärke und Unfinalisierbarkeit des von Hegel so in den Vordergrund gestellten dialektischen Prozesses durchkreuzt die Absolutheit und Objektivität des Geistes der Geschichte und sie durchkreuzt auch die sich wechselnden historischen Deutungen der Versöhnungskonstruktionen, seien sie theologisch oder marxistisch. Man könnte dies als einen Hinweis lesen, dass die Dialektik, die kraft ihres zirkulären Wesens stets auf die Herstellung einer Synthese zielt, naturgemäß auch eine destruktive Seite enthält. Adorno hat diesen Aspekt in seinen Drei Studien zu Hegel analysiert und in der Negativen Dialektik zum alleinigen Agens seiner Hegellektüre gemacht. Inwieweit er wie ein Regisseur Hegels Werk gegen den Autor dramatisiert oder doch etwas fruchtbar macht, was bereits Hegel selbst thematisiert hat, ist eine interessante Fragestellung. Jedenfalls ist die Destruktionsarbeit der Begriffsdialektik Voraussetzung für den aufgeklärten und modernen Hegel als ein Unternehmen ständiger Selbstkorrektur des sich festigenden Begriffs. Diese für die Aufklärung wichtige philosophische Konsequenz haben erst Philosophen des 20. Jh.s gezogen. Sie haben auf der Ebene des Begriffs das nachvollzogen, was die Kunst bereits ein halbes Jahrhundert früher thematisiert hatte.

Bauer 2004, 46

Hegel 1835, II, 238

IX.3.8.1.

6.0. Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff Hegel rang mit der Unklarheit des Ästhetikbegriffs und richtete seine Verwendung schließlich nach dem gängigen Gebrauch aus. Dieser Gebrauch war indes höchst diffus. Mit Baumgarten hatte die philosophische Disziplin der Ästhetik begonnen, was namentlich im Schoß des Idealismus intensive Äußerungen zu ästhetischen Fragen auslöste. Damit war aber noch lange nicht ein allgemein akzeptierter Ästhetikbegriff etabliert. Im 18. Jh. war dies schon wegen der unterschiedlichen philosophischen Kulturen in Deutschland auf der einen und England und Frankreich auf der anderen Seite kaum möglich. Aus der Spannung der beiden philosophischen Paradigmen, dem idealistischen und dem empiristischen, entwickelten sich kunstphilosophische Positionen, die Anregungen von beiden Seiten aufnahmen. Vorerst sei der Blick auf die ästhetischen Positionen im Umfeld des Deutschen Idealismus gerichtet.

6.2.ff.

334

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

6.1. Ästhetische Positionen im Umfeld des Deutschen Idealismus Die dominante geistesgeschichtliche Stellung des Deutschen Idealismus darf nicht zum irrigen Eindruck führen, dass dieser das exklusive Muster-Paradigma der Ästhetik des 19. Jh.s formuliert hätte. Vielmehr umspannte die Diskussion um den Ästhetikbegriff das gesamte Jahrhundert und noch in der gegenwärtigen Diskussion haben die idealistischen Positionen eine erhebliche Bedeutung. Dabei wurde Hegel bereits in seinem Umfeld, mit Ausgriff auf die auch in der deutschen Philosophie aufkeimenden empirischen und materialistischen Aspekte, originell weitergeführt.

6.1.1. Ästhetik im Liberalismus und Sozialismus des 19. Jahrhunderts

7.4.

Kliche Dieter in ÄGB 1, 371

Arnold Ruge

Hegel ragte mit seiner Ästhetik aus einem Zeitgeist, der sich äußerst dynamisch weiter entwickelte. Die Zeit war durch dynamische Industrialisierung auf der einen und politische Reibung zwischen Liberalismus und Sozialismus versus Restauration (vor allem in Preußen, Österreich und Russland) auf der anderen Seite geprägt. Die Zeitspanne vor der deutschen Märzrevolution 1848 bezeichnet die Geschichtswissenschaft als Vormärz. Sie war kulturell getragen vom Jungen Deutschland in der Literatur und vom Biedermeier als verbreitetem bürgerlichem Lebensstil. Philosophisch und politisch segelten die Links- oder Junghegelianer intellektuell zwar im Kielwasser der Hegelschen Philosophie, die sie als Fortschrittsfigur der Geschichte und als politische Praxis rekonstruierten, aber seine Ästhetik blieb für die Liberalen und Sozialisten des Vormärz abgehoben und rückwärtsgewandt. Der Hamburger Schriftsteller des Vormärz, Ludolf Wienbarg, unternahm demgegenüber praxisorientierte und empirisch grundierte Aesthetische Feldzüge (1834), in denen er sich von einer akademisch betriebenen Ästhetik absetzte. Der Schriftsteller Theodor Mundt sah in seiner Aesthetik. Die Idee der Schönheit und des Kunstwerks im Lichte unserer Zeit (1847) das Leben der Ästhetik von den Brosamen gefristet, die ihr vom Tisch der systematischen Philosophie mitleidig zugeworfen werden. Ästhetik wurde denunziert als aristokratisch, antidemokratisch und romantisch. Den neuen Bewegungen ging es nicht nur um Sinnlichkeit, sondern auch um politische Interessen, die sich nicht mit dem alten und restaurativ empfundenen Theoriekonstrukt transportieren ließen. Mundt propagierte eine Versöhnung von Kunst und Leben. Dabei wurde auch kräftig das jungdeutsche Nationalgefühl strapaziert, das dem Gefühl für das Schöne vorauszugehen habe. Der 1809 geborene Bruno Bauer, wie Marx ein liberaler Freigeist und Autor in der Rheinischen Zeitung, war von Hause aus Theologe. Sein Wissen darüber nütze er zur Entmythologisierung und Historisierung der Evangelien und theologischen Dogmen. In Manifesten, Artikeln und Schriften zog er unerschrocken gegen Theologie und Kirche, gespeist stets von einer atheistischen Rezeption Hegels. Er war ebenso ein Aufklärer wie der sieben Jahre ältere Arnold Ruge, der fest in der jungund linkshegelianischen Bewegung verankert war. Der 1802 auf Rügen geborene Ruge war – als Philosoph (der sich über Platons Ästhetik habilitierte), Literat und Altphilologe nicht unbedingt überraschend – auch an ästhetischen Fragen interessiert und schrieb darüber ein beachtetes Werk:



335

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

Neue Vorschule der Aesthetik. Das Komische mit einem komischen Anhange (1837). Überraschender bei Ruge war hingegen sein Hang zum Platonismus. Er setzte sich in seiner Vorschule unter anderem mit dem Komischen und Hässlichen auseinander. Die Befriedigung des Komischen erschien »als das Sichwissen des Geistes im Act der Befreiung […].« Das Hässliche wiederum drängte sich zunehmend als Thema in der zeitgenössischen Kunstphilosophie und Literatur auf. Naturgemäß stand bei ihm, dem Linkshegelianer, dafür als Narrativ der Abfall von der Idee ins Materielle im Vordergrund. Auch für ihn war gut platonisch und idealistisch die Welt eine (unvollkommene) Erscheinung der Idee. Der Geist selbst wird geradezu zu dem aus dem Hässlichen des Materiellen die Schönheit schaffenden Künstler. Heftig zu Felde zog er gegen die Romantik. Sie sei Ausdruck einer hässlichen Welt, die zu einer schöneren gemacht werden müsse. Er geißelte ihre Geniesucht, ihre leere Negativität und die in ihrem Schoß blühende katholische Restauration. Philosophisch war der bedeutendste Kopf vor Marx der 1804 in Landshut geborene Ludwig Feuerbach, der in Heidelberg Theologie und ab 1824 in Berlin bei Hegel Philosophie studierte. Wie die meisten Linkshegelianer bekam auch Feuerbach Probleme mit der Obrigkeit, sodass an eine angestrebte Universitätslaufbahn nicht zu denken war. Feuerbachs Bedeutung lag in der Offenlegung des Idealismus Hegels auf die zugrundeliegende materielle Basis. Die entscheidenden Weichenstellungen waren die Destruktion des Hegelschen Absoluten, also ein Atheismus, der bei Feuerbach im Namen des Menschen firmierte: »Um Gott zu bereichern, muss der Mensch arm werden; damit Gott Alles sei, der Mensch Nichts sein.« Im Namen des Menschen muss also die Chimäre Gott beseitigt werden: »Das absolute Wesen, der Gott des Menschen ist sein eigenes Wesen.« Feuerbach war ein hervorragender Hegel-Kenner und führte Hegels Absolutes zurück auf das materielle Ich, aus dem es in der Tat abgeleitet worden war. Beinahe poetisch klingt die Kritik, mit der Feuerbach das zentrale Problem bei Hegel benennt: Hegels Philosophie beginne »nicht mit dem Anderssein des Gedankens, sondern mit dem Gedanken von dem Anderssein des Gedankens, worin natürlich der Gedanke schon im voraus des Sieges über seinen Gegenpart gewiss ist, – daher der Humor, mit welchem der Gedanke das sinnliche Bewusstsein zum Besten hält.« Feuerbach war für die Entwicklung des Marxismus so bedeutend, dass Friedrich Engels später jubelte: »Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer.« So scharfsichtig Feuerbachs Analyse der Hegelschen Philosophie war, so bescheiden waren seine Entwürfe einer materialistischen philosophischen Position. Kunstphilosophisch sind sie unergiebig. Ein anderes Kaliber, freilich ebenfalls nicht im Hinblick auf die Kunstphilosophie, war Karl Marx. Seine Darstellung in diesem Rahmen muss rudimentär bleiben, denn so wichtig Marx in der Philosophiegeschichte ist, so wenig Bedeutung kommt ihm als Kunstphilosoph im engeren Sinn zu. Das ist aber auch nicht der Maßstab, an dem Marx an dieser Stelle gemessen werden soll. Was ihn in unserem Kontext interessant macht, ist die aufregende Verschiebung der kulturellen Erzählung über die

Ruge 1837, 138 6.1.3.

Ludwig Feuerbach

Feuerbach 1841, 32 Ebd., 6 5.3.1.

Feuerbach 1839, 187

Engels 1886, 272

Karl Marx

336

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

568 Marx-Statue des chinesischen Künstlers Wu Weishan; Trier

Ebd., 264

Marx 1845, 5/These 1

Marx 1845, 7

Natur von einer geistorientierten auf eine materieorientierte Ebene. Was bei Hegel noch ein geistiges Bild der Welt war, wird nun real ins Werk gesetzt. Bei Marx enden in gewisser Weise die Naturnachahmung und der Genie-Topos. Die Naturnachahmung schlägt in Technik um. Aus der vielfältigen Rezeptionsgeschichte mit sehr unterschiedlichen Paradigmen, soziologischen, politischen, ökonomischen, historischen und philosophischen, wird hier demnach das philosophische ausgewählt, das Marx als linken Hegelianer nimmt, der Hegels historische Fortschrittsfigur als technologische Utopie materialistisch buchstabierte. Der 1818 in Trier geborene Sohn eines zum Christentum konvertierten jüdischen Rechtsanwalts studierte anfangs auf Drängen des Vaters Rechtswissenschaften, wechselte aber schon bald zur Geschichte und Philosophie. 1841 promovierte er mit einer Arbeit über den Materialismus bei Demokrit und Epikur, eine Universitätskarriere wurde auch ihm verwehrt. Stattdessen ging er als Redakteur zur liberalen Rheinischen Zeitung. Nach dem zeitweiligen Verbot der Zeitung wechselte er 1843 nach Paris, wo eine lebenslange intensive Freundschaft mit Friedrich Engels begann. Zusammen mit Arnold Ruge gab er die Deutsch-französischen Jahrbücher heraus. Sie erschienen nur in einem einzigen Doppelheft 1844. Marx platzierte dort seinen Text Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in dem er eine proletarische Revolution entwarf. Im gleichen Jahr verfasste er die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, die erst 1932 in einer Edition der Frühschriften veröffentlicht wurden. Auch wenn darin ausführlich ökonomische Themen behandelt wurden, erregte die Publikation großes Aufsehen und brachte den Philosophen Marx in die Debatte. Im Jahr 1845 notierte sich Marx einige grundlegende Gedanken zu seiner Lehre, die er um eine Kritik des vulgären Materialismus gruppierte: die Thesen über Feuerbach. Diesen Zettel entdeckte Friedrich Engels nach dem Tod von Marx und war begeistert: »[…] unschätzbar als das erste Dokument, worin der geniale Keim der neuen Weltanschauung niedergelegt ist.« In der Tat enthalten die elf Thesen die philosophische Utopie von Karl Marx in nuce und bilden zusammen mit einigen Zitaten aus den Ökonomischphilosophischen Manuskripten ein brillantes und kompaktes Programm seiner Absichten. Dazu gehört das Bekenntnis zu einer dynamischen Konzeption, einer »sinnlich-menschliche[n] Tätigkeit, Praxis […] der ‹praktisch-kritischen‹ Tätigkeit« anstelle der Wirklichkeit als bloßer »Form des Objekts oder der Anschauung […].« Marx hatte keine Berührungsängste mit dem Idealismus Hegels, weil dieser die Prozessdynamik – damit aus Marxens Sicht den Arbeitsprozess – wesentlich erfolgreicher formulierte, als das der Materialismus tat. Prägnant fasst die gesamte Problematik die berühmt gewordene 11. These zusammen: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Verändern ist hier im Sinne eines technisch-materiellen Prozesses gemeint. Nur aus einer solchen »revolutionären Praxis« lässt sich das Ziel der Geschichte in Gestalt einer neuen Wirklichkeit des Kommunismus erreichen, in der die Widersprüche zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und Natur im Sinne Hegels (aber nun materialistisch gewendet) aufgehoben sind: »Der Kommunismus als positive Aufhebung des



337

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen […].« Der Ideenhistoriker kann hier nur schwer der Erinnerung an die alten Einheitsvisionen der ersten Philosophen vor Platon, aber auch an Platons demiurgisches Henosis-Projekt, entkommen. Die spannenden Zusammenhänge von Marxens Gesellschaftsutopie mit dem Deutschen Idealismus, Kant und der philosophischen Tradition lassen sich hier nicht weiter ausführen, es bleiben ein paar Hinweise auf die Bedeutung von Materialismus, Entfremdungs- und Basis-Überbau-Lehre auf andere kunstphilosophische Theorien. 1845 wurde Marx aus Paris ausgewiesen und ging nach Brüssel. 1847/48 verfasste er das Manifest der Kommunistischen Partei und ab 1867 entstanden die drei Teile von Das Kapital (1867/1885/1894). Zu ästhetischen Fragen hat sich Marx, ähnlich wie Engels, praktisch nicht geäußert. Eine frühere Zuschreibung eines Beitrags über Ästhetik in der New American Cyclopaedia (1858) gilt als zweifelhaft und einige wenige verstreute einschlägige Aufsätze lassen kein Konzept einer Ästhetik erkennen. Dennoch ist Marx, der in seiner Jugend mit einer Berufung zum Dichter geliebäugelt hat, für die Ästhetikgeschichte keineswegs irrelevant. Kunst galt ihm wie Religion, Moral, Familie, Rechtsprechung und andere Institutionen, einschließlich des Staates als Ganzes, als Phänomen des Überbaus, also als ein Konstrukt in Abhängigkeit zu den gesellschaftlichen Produktions- und Besitzverhältnissen. »Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gestalt Hegel […] unter dem Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei.« Eine Kunst, die sich autonom wähnt, ist aus der Sicht von Karl Marx Ideologie. Aber, so räumte der belesene und gebildete Marx ein, insbesondere die Literatur sei auch eine Einrichtung, die der Gesellschaft hilft, ihre Situation zu verstehen, denn sie spiegelt diese Situation gleichsam reflektierend wider. Ein reiner Naturalismus war Marx zu wenig, das sei bloß eine unkritische Deskription oder, wie er in der These 3 seiner Thesen über Feuerbach sagt, eine Sondierung der Gesellschaft in zwei Teile, von denen einer zwangsläufig über den anderen »erhaben« sei. Kunst muss hingegen kritisch die verborgenen Beziehungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen offen legen. Positiv gewendet könnte man sagen, dass Kunst bei Marx jedenfalls gesellschaftlich kontextualisiert ist, so wie jede gesellschaftliche Institution, wenngleich eingeengt auf den politisch-ökonomischen Prozess. Denn Kunst hat, fernab von jeder l’art pour l’art- oder Unterhaltungskonzeption sowie einer Elitekunst, eine Auf-

Marx 1844, 536

Marx 1859, 8

338

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

IX.1.3.

gabe, nämlich die Sache der Revolution bei den Massen zu unterstützen. In diesen Ansätzen war sich Karl Marx mit Friedrich Engels, seinem langjährigen Mitstreiter einig. Dies war ein Gedanke, den vor allem Lenin und die offizielle Kunstpolitik der kommunistischen osteuropäischen Staaten weiter verfolgten und zum Sozialistischen Realismus vulgarisierten. Wenn man den Vergleich mit der Religion bemüht, die bei Marx als ein Überbau (ebenso wie andere Institutionen) in dem Moment abstirbt, in dem sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert haben, bleibt unklar, was mit der Kunst passiert und wie eine Kunst in der idealen Gesellschaft aussieht. Das mögen Probleme sein, die Marx vermutlich nicht in erster Linie interessiert haben, denn Marx ging es um die Veränderung der Gesellschaft ganz allgemein. Eine Anmerkung wie jene Nietzsches, dass die Welt nur mit Kunst auszuhalten sei, widerspricht daher den Erwartungen Marx’ an die gesellschaftliche Praxis schon fundamental.

6.1.2. Die Hegel- und Marxrezeption in Russland: Westler gegen Slawophile und die neue Rolle der Ikone

Slawophile und Westler

Hansen 2011, 235

Mitte des 19. Jh.s erfasste im Gefolge der Romantik und des Sieges im »Vaterländischen Krieg« 1812 über Napoleon die russische Intelligenz eine national-russische Nostalgie. Dazu gehörte die Verehrung des Mittelalters, der Rus, ein alter Ausdruck für Nordgermanen und für ursprüngliche Ostslawen, der als Projektionsfläche für die nationale Selbstvergewisserung diente. Die Mittelalter-Verehrung umfasste auch die Hochschätzung der Ikone. Für einmal war die Intelligenz tief gespalten in die die alten Rus verehrenden Slawophilen und die der westlichen Aufklärung verpflichteten Westler. Ein Zustand, der – so muss man erschreckt feststellen – bis heute anhält. Man könnte diese Querelle als eine zwischen System und Dynamik bezeichnen. In den Kreisen der Letztgenannten, die sich auf Peter I. und Katharina II. stützten, kursierten Ideen der Liberalen und Frühsozialisten. Die Gedanken von Hegel und Marx fanden Eingang in die Diskussion. Diese Konstellation ermöglichte die – den Erwartungen von Marx widersprechend – Hegel- und Marxrezeption in einem agrarisch geprägten Flächenland statt in einer hoch entwickelten Industriegesellschaft. Durch die Dominanz der Slawophilen stand bei dieser Rezeption aber nicht die für Marx wichtige Dynamik im Vordergrund, sondern die (spirituell aufgeladene) romantisch-utopische Dimension. Dies passte in ein Land mit Übermensch-Theorien und religiös-apokalyptischen Vorstellungen. Das mag ein Grund sein, weshalb die Hegel- und Marxrezeption zu einer bürokratischen und statischen Institutionalisierung führte, die den Keim des Untergangs bereits bei der Inauguration in sich führte. Dies war der soziologische Hintergrund der Bildung der bolschewistischen Partei, gleichsam als ein anschauliches Beispiel, wie kulturelle Konzepte und Ideen sich durch Institutionalisierung vergegenständlichen: »Mit der Gründung der ersten kommunistischen Partei wird der ehemals weiche und formbare Gedanke hart wie Stein. Durch ihre Statuten und Vorschriften petrifiziert sie den Marxismus zu einem politischen und rechtlichen Faktum, und Veränderung ist jetzt nur noch mit großem Aufwand möglich.«



339

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

In dieser Ideologie und der Weigerung, sich einem dynamischen und offenen globalen Wettbewerb zu stellen, ist Russland bis heute verstrickt, zum Schaden des Landes und seiner reichen Kultur. Über Jahrhunderte, in erstaunlicher Kontinuität von der Zarenherrschaft über die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion bis zum heutigen Russland, taxierten die Slawophilen den Westen als dekadent und atheistisch und stellten dem die tiefe Frömmigkeit und Tradition des Ostens gegenüber. Der fromme arme und ungebildete Bauer (mushik) galt als unschuldiger heiliger Mensch, noch frei von der »Verunreinigung« durch die Ideen des Westens. Es bildete sich das Dreieck religiöse Orthodoxie, autokratische Zarenherrschaft und Legitimation der Leibeigenschaft heraus, das in neuer Form als Modell des Gesellschaftsentwurfs der Verbindung von Wladimir Putins antiwestlich orientiertem Russland und russisch-orthodoxer Kirche angesehen werden kann. Nikolaus I. erließ ein Verbot jeder Erneuerung und Renovierung von Ikonen und Kultgegenständen in alten Kirchen ohne ausdrückliche Genehmigung. Neue Malereien wurden im Stil der alten Tradition betrieben. Die Rückständigkeit schlug sich in Bewegungen wie den »russischen Nazarenern« nieder. Die Ikonenmalerei müsse von dem »vom orthodoxen Glauben erleuchtete[n] russische[n] Geist« (so ein slawophiler Intellektueller der Zeit) geprägt sein. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Ikone erhielt diese schließlich einen eigenen Stellenwert als religiöses Objekt, das sich von jedem anderen Kunstwerk abhob. Das stiftete zugleich eine gesellschaftliche Differenz. Während die übliche Kunst den Menschen und sein Tun nachahme, sei die Ikone von göttlicher Wahrheit getragen und verzichte auf jede menschliche Hand. Dass damit auch jedes ästhetische Kriterium bei der Betrachtung der Ikone ausfiel, machte sie zu einem in aufgeklärten Kreisen suspekten Objekt. Aufgeklärte Intellektuelle verbanden die Ikonenmalerei mit Missgestalt, Analphabetismus, Rückständigkeit, Frömmelei. Die liturgische Praxis, Beweihräucherung, Kerzenlicht, Küsse und Berührungen, das Bedecken mit Silberbeschlägen (Oklad), beschädigte viele Ikonen, sodass sie »in ihren farblichen, zeichnerischen und kompositionellen Qualitäten überhaupt nicht mehr erkennbar waren.« Ende des 19. Jh.s gab es in Russland wie im Westen Künstlergruppierungen, die das mittelalterliche Handwerk verehrten, darunter die Künstlersiedlung Abramzewo. Bewahrte man dort die Ikonen in der eben geschilderten Weise, wurden auch aufgeklärte Gruppen auf diese Kunstform aufmerksam. Sie gelangten am Beginn des Jahrhunderts erstmals in das Blickfeld des Westens, etwa 1906 in dem seit 1903 organisierten Pariser Salon d’Automne, wo man sie freilich nur am Rande und als russisches Volks-Handwerk registrierte. Doch die neue Aufmerksamkeit hatte eine umfangreiche Betrachtung der Ikonenmalerei zur Folge, die in etlichen Zeitschriften ausgetragen wurde und die erstmals auch die ästhetische Seite der Ikone thematisierte. Dazu kam eine stetig steigende Zahl von Sammlern von Ikonen in Russland. Den eigentlichen Umschwung in der Bewertung der Ikonen brachte eine Ausstellung 1913 im Archäologischen Institut in Moskau, wo die Ikonen, von ihren Schmutzschichten befreit, in frisch renoviertem Zustand gezeigt wurden. Dadurch konnten sie sich einer ästhetischen Bewertung nicht mehr entziehen. Im Ausstel-

Krieger 1998, 67–72; hier 71

Ebd., 76–85

340

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

zit. nach Ebd., 76

IX.2.2.7.

Ebd., 84

IX.1.3.

lungskatalog hieß es: »Vor uns ist […] eine Kunst von gewaltiger Leuchtkraft gestellt, ausdrucksstark in der Komposition und von hoher Meisterschaft in der Ausführung.« Die Begeisterung an der ästhetischen Entdeckung vermengte sich mit natio­ nalistischen Motiven aus dem Reservoir der Slawophilen. Es gab aber auch Kommentatoren, die allein am ästhetischen Aspekt interessiert waren und die religiöse Seite schlicht ignorierten. Von dieser Seite her konnte die Ikone zum Absprungbrett für die russische Avantgarde werden, die zugleich von sozialutopischen Gedanken keineswegs frei war. Andere stießen sich am nationalen Chauvinismus und verwiesen auf die Entstehung der Ikone in Griechenland und auf ihren Charakter eines religiös inspirierten Kunsthandwerks. Wie kaum ein anderes Kunstwerk stand die Ikone in Russland mitten im Gezerre von konservativer Rückwärtsgewandtheit und zukunftsorientierter Aufklärung. Die offizielle Kunstpolitik nach der Oktoberrevolution schrieb die ästhetische Seite der Ikone fort. Einerseits ging es darum, den religiösen Kult im Zuge der Kirchenverfolgung abzuschaffen, auf der anderen Seite sollte das nationale Erbe, zu dem die Ikone zentral gehörte, bewahrt werden. Diese Absicht wurde mit einem Dekret 1918 verfolgt, in dem die Aufsicht über alle »Kunst- und Altertumsdenkmäler« der Kirche entzogen und dem Staat übertragen wurden. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass dem bereits bei Malewitsch eine radikale Ausmerzung von bildender Kunst und Architektur vorausgegangen war. Dieses revolutionär-avantgardistische Programm hatte als eine Reaktion das Festhalten jüngerer Künstler an der Gegenständlichkeit zu Folge. In den Dreißigerjahren wurde der Sozialistische Realismus schließlich zur offiziellen Kunstdoktrin.

6.1.3. Karl Friedrich Rosenkranz und die Ästhetik des Hässlichen Der 1805 in Magdeburg geborene und in Königsberg lehrende Philosoph Karl Friedrich Rosenkranz war ein bedeutender Hegel-Schüler und sein Biograph. Einen Meilenstein hinterließ der Vielschreiber (65 Bücher zu allen möglichen Themen) Rosenkranz mit seiner Ästhetik des Häßlichen (1853). Das war ein in der Hegelschule ungewöhnlicher Werktitel, um die Sache selbst rangen allerdings bereits andere Hegelianer: Christian Hermann Weiße hatte das Hässliche aus dem Erhabenen entwickelt. In seinem System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit (1830) beschrieb er die Hässlichkeit als eine auf den Kopf gestellte Schönheit. Der Tod sei erhaben, aber der zerbrechende Körper, der dazu gehört, hässlich. Das Hässliche wurde gedacht als Abfall vom Schönen, wie das Böse einer vom Guten ist. Arnold Ruge, den der politisch anders denkende Rosenkranz sehr schätzte, versuchte solches mit Berufung auf Weiße, wie gerade berichtet, in seiner Neuen Vorschule der Aesthetik. Das Thema selbst entsprach einer Stimmung der Zeit. Baudelaire und Rimbaud dekonstruierten die Schönheit. 1844 zeichnete der Karikaturist Grandville seinen Zyklus Un autre monde mit Schrecken erregenden Figuren. Die Karikatur verbreitete sich rasch. Zwar hatte Rosenkranz für dieses Genre nur abfällige Bemerkungen übrig, dass er selbst ein begeisterter Sammler von Karikaturen war, zeigt jedoch, dass



341

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

der verborgene oder verbotene Reiz dieser Kunstsparte auch den Klassizisten Rosenkranz nicht unberührt ließ. Vier Jahre nach Rosenkranz’ Schrift erschienen Baudelaires Fleurs du mal. Zugleich gab es auf allen möglichen Plattformen den lebhaften Diskurs über die Hässlichkeit der Industrieproduktion, die sich nicht mehr durch die Kategorie des Erhabenen neutralisieren ließ und schließlich war Rosenkranz’ Werk vier Jahre nach dem Revolutionsjahr 1848 erschienen und davon geprägt. Inwieweit man Hegel selbst eine Ästhetik des Hässlichen zuschreiben kann, scheint mir eher fraglich zu sein. Hegels Verhaftetheit am Klassizismus in der Kunst und seine ästhetische Formel vom sinnlichen Scheinen der Idee ließ einen Gedanken einer auch nur minimalen Würdigung des Hässlichen schon grundsätzlich nicht zu. Allenfalls trat das Hässliche als die Negation des Schönen auf, als etwas, das das Schöne geradezu erst ermöglicht. »In allen diesen Beziehungen tritt hier im Vergleich mit der klassischen Schönheit das Unschöne als notwendiges Moment auf.« Hegel hatte das Erhabene, zu dem er keinen Zugang fand, ästhetisch entschärft und es dem Schönen untergeordnet. Ebenso interpretierte er das Komische als »Seligkeit und Wohligkeit der Subjektivität, die, ihrer selbst gewiß, die Auflösung ihrer Zwecke und Realisationen ertragen kann«, damit gleich wie den Humor, der zu vertiefter Fülle führe. Rosenkranz, der in seinem Werk Überlegungen des drei Jahre früher entstandenen Systems der Wissenschaft fortführte, legte keineswegs eine selbständige Ästhetik des Hässlichen vor. Auch bei ihm war das Hässliche nur die Kehrseite des Schönen. Aber er nahm Hegels Ende der Kunst ernst und zog die Konsequenz, dass die alte kosmische Harmonieästhetik endgültig gescheitert war, dass man sich also dem Hässlichen zwangsläufig zu stellen habe. In der in der Moderne aufkommenden Ästhetik des Hässlichen steckt demnach durchaus ein Protestpotential gegenüber der alten Idealisierung des Schönen und der schönen Kunst. Rosenkranz machte jetzt kurzen Prozess mit einer aus seiner Sicht neu um sich greifenden Prüderie: »Unsere Deutsche Literaturgeschichte ist durch das Zurechtmachen derselben für Mädchenpensionate und höhere Töchterschulen schon ganz castrirt worden, um nur immer das Edle, Reine, Schöne, Erhabene, Erquikende, Gemüthliche, Liebliche, Veredelnde […] für die zarten Jungfrauen- und Frauenseelen herauszustellen.« Das Hässliche gliederte er in drei Aspekte: Formlosigkeit, Inkorrektheit und Defiguration. Das Letztgenannte war die für alles andere grundlegende Negation des ursprünglich göttlichen Schönen. »Das Schöne ist die göttliche, ursprüngliche Idee, und das Häßliche, seine Negation, hat eben als solche ein erst secundäres Dasein.« Das Schöne ist etwas Absolutes, das Hässliche etwas Relatives oder eben das »Negativschöne«. Rosenkranz legitimierte nicht eine Kunst des Hässlichen, vielmehr könnte man den Zusammenhang »in der Möglichkeit der Selbstzerstörung des Schönen« sehen. Eine Darstellung des Hässlichen muss daher auch immer einen Verweis auf die Alternative beinhalten. Dieser Zugang zum Hässlichen als Kehrseite des Schönen zeigt »seinen latenten Klassizismus, der sich prägnant in dem Satz verrät: ›Das Schöne wird […] als die Macht offenbar, welche die Empörung des Häßlichen seiner Herr-

Hegel 1835, II, 153f

Hegel 1835, III, 528

Rosenkranz 1853, Xf

Ebd., 7 Mirbach Dagmar in ÄKPh, 670

342

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kliche Dieter in ÄGB 3, 51

Waibl 2009, 183

Rosenkranz 1853, 236

Schneider 1996, 96

schaft wieder unterwirft‹.« Deutlich wird dies in der Einschätzung des Hässlichen in der Natur. Dort tritt das Hässliche im Sinne der erwähnten Inkorrektheit und Defiguration dann auf, wenn der von der Natur vorgegebene Bauplan verletzt wird oder wenn die empirische Erscheinung gegen eine bestimmte Vorstellung verstößt wie ein durch einen Brand vernichteter Wald. Man kann mit Rosenkranz von Formlosigkeit sprechen. Es geht dabei nicht so sehr um die Auflösung einer Form, sondern um ein Zerbrechen der Form dort, wo man diese erwartet. Die alten Harmonievorstellungen bleiben stets die Folie, vor der ihre Verletzung konstatiert wird. Dass Rosenkranz Kröten, Spinnen, Quallen, Schweine, Kakerlaken und einige andere Tiere schon dem Wesen nach als hässlich betrachtet, kann man freilich schwer mit der relativen Bestimmung des Hässlichen in Einklang bringen, denn diese Tiere wurden so geschaffen – nicht der einzige Widerspruch in seinem Werk. Beim Menschen ist Schönheit das Maß der Nähe zum Geistigen und – zum idealen unversehrten Körper. Alles, was dies beeinträchtigt, Dummheit oder Wahnsinn, macht Menschen hässlich, ebenso wie das Erkranken des Körpers, was sich bis zu einer »transzendenten Tinktur«, einer Weltentfremdung, steigern kann. Hässlich ist auch das Obszöne, das Rosenkranz als isolierte Demonstration des Geschlechtlichen gegenüber dem Ganzen interpretierte. Auch die Phallosdarstellung, »[…] obwohl in den Religionen heilig, ist doch, ästhetisch genommen, häßlich.« Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen bietet keine Legitimation des Hässlichen in der Kunst, aber sein ungeschminkter Blick auf die Realitäten bildet eine kaum zu unterschätzende theoretische Basiserzählung für den künstlerischen Realismus, zumal sich Rosenkranz ausdrücklich und abfällig über die Proletarisierung der Städte und die damit verbundene hässliche Kunst äußerte. »Das Bewußtwerden der gesellschaftlichen Antagonismen hatte bei Rosenkranz den Sinn für die Schattenseiten der sozialen Verhältnisse geschärft […].«

6.1.4. Arthur Schopenhauer

Kliche Dieter in ÄGB 1, 381 569 Schopenhauer, Daguerreotypie (1852)

Arthur Schopenhauer, der als großer Pessimist und Gegenpol zu Hegel in die Ideengeschichte einging, entfaltete erst spät eine auch für die Kunstphilosophie bedeutende Wirkung. Es ging um ein nachmetaphysisches Denken und um die Wertschätzung des Sinnlichen im Sinne einer Ästhetik der Existenz und Lebensbewältigung. »Das Verhältnis von Philosophie und Ästhetik kehrt sich gegenüber der Hegelschule um: Es geht nicht mehr um philosophische Ästhetik, sondern um ästhetische Philosophie […].« Der 1788 in Danzig geborene Kaufmannsohn verortete sich selbst in der Tradition von Kant, allerdings war seine Kantdeutung von der auch im Deutschen Idealismus verfolgten Absicht getragen, das Kategorialisierungsverbot des Dinges an sich zu durchkreuzen. Die uns umgebende Welt ist bloße Erscheinung. In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) nennt er sie mit konstruktivistischem Zungenschlag eine Vorstellung. Der Ausdruck Vorstellung unterstreicht die (von Kant her entworfene) Bindung der Welt an das Subjekt. Die Welt als Vorstellung ist Schein, ein Schleier, der weggezogen werden muss, um zur Wahrheit zu ge-



343

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

langen. Darauf zielt das Dritte Buch seines Hauptwerks ab und das Agens dafür ist letztlich die Kunst und das Schöne. Stieß man bei Kant hinter der Erscheinung auf die unüberwindbare Grenze des Dinges an sich, durchbrach Schopenhauer diese Begrenzung und stieß auf den Willen. Der Wille ist gleichsam das von der Vorstellung verdeckte Wesen der Welt. Von ihm gibt es keine wissenschaftliche Erkenntnis. Der Wille ist grundlos. Schopenhauer beschrieb ihn mit vegetativen, mechanischen, geistfremden Attributen. Er ist Naturtrieb, Magnetismus, Elektrizität; Beschreibungen, die man in Schellings Naturphilosophie vorgespurt findet. Der Wille ist derart Ausdruck unserer körperhaften Gebundenheit an die Welt und dies bewertete Schelling negativ. Alles Leid resultiere aus der Leib-, also Naturhaftigkeit des Menschen. Ein wenig weist diese Reduktion auf das Begehren auf Einsichten Sigmund Freuds voraus, der von Schopenhauer wertvolle Impulse aufgenommen hat. Man ist neuerdings auf diesen Körperbezug im Werk Schopenhauers aufmerksam geworden und versucht, Bezüge zur Körperkunst etwa eines Bruce Nauman herzustellen. Die Überwindung des Willens, damit des Körpers und der mit ihm verbundenen mechanisch-realen Gesetzlichkeit der Welt, geschieht mit Hilfe der Kunst bzw. der »ästhetischen Kontemplation«. Durch sie »sind wir herausgehoben aus dem endlosen Strom des Begehrens und Erreichens; die Erkenntniß hat sich los gemacht vom Sklavendienst des Willens […].« Es war das Konzept des mittleren Platon, mit dem Schopenhauer die Schranken Kants durchbrach. Die ästhetische Anschauung ist ähnlich wie die Schau der Ideen eine eigene Erkenntnisart, die sich über die Gesetze der durch den Satz vom Grund determinierten Wissenschaft erhebt: »Wir betrachten nämlich das Schöne als eine Erkenntniß in uns, eine ganz besondere Erkenntnißart […].« Es handelt sich um eine interessenlose Schau. Nach den kritischen Standards könnte man Schopenhauer vorwerfen, dass er Kants Schranken mit Rückgriff auf ein prämodernes Konzept durchbrach. Er wollte nicht bei Begriff und Urteil bleiben, sondern zum Schönen selbst gelangen. »Das Bild leitet uns mithin sogleich vom Individuo weg, auf die bloße Form. […] Darum nun gehört diese Absonderung, diese Trennung der Form von der Materie, zum Charakter des ästhetischen Kunstwerks; eben weil es dessen Zweck ist, uns zur Erkenntniß einer (Platonischen) Idee zu bringen.« Weil aus diesen Gründen die Form eine wichtige Rolle spielt, hatte für ihn die Musik als die »wahre allgemeine Sprache« die höchste Stellung in den Künsten inne, von denen er alle Genres behandelte. Allerdings durfte sie keine mimetische Musik sein, die versucht, wie eine Malerei Gegenstände oder Stimmungen zu beschreiben. Solche Musik treffe nicht das Wesen der Welt. Schopenhauer verfasste sein Werk am Höhepunkt der Romantik mit ihrer Vorliebe für eine intellektuelle oder ästhetische Anschauung, die als Erkenntnisart Ähnlichkeiten zur Mystik aufwies. Die Schönheit, die sich in der Kunst, aber auch (wieder ein Unterschied zu Hegel) in der Natur entfaltet, mache frei zur Erfahrung der Wahrheit. Es handle sich um ein ganzheitliches Geschehen, das durch Kontemplation gelinge und in dem es zur Eliminierung von Raum, Zeit und Kausalität

Baum 2005

Schopenhauer 1820, 92

Ebd., 38

Schopenhauer 1851, 454 Ebd., 457

344

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schopenhauer 1819, II, 420f Schopenhauer 1820, 166

Ebd., 127 Kruft 1985, 346 Schopenhauer, zit. nach Ebd., 346; im Orig. kursiv

komme. »Da nun alles Leiden aus dem Willen, der das eigentliche Selbst ausmacht, hervorgeht; so ist, mit dem Zurücktreten dieser Seite des Bewußtseyns, zugleich alle Möglichkeit des Leidens aufgehoben, wodurch der Zustand der reinen Objektivität der Anschauung ein durchaus beglückender wird; […] Sobald hingegen das Bewußtseyn des eigenen Selbst, also der Subjektivität, d. i. der Wille, wieder das Uebergewicht erhält, tritt auch ein demselben angemessener Grad von Unbehagen oder Unruhe ein: von Unbehagen, sofern die Leiblichkeit (der Organismus, welcher an sich Wille ist) wieder fühlbar wird; von Unruhe, sofern der Wille, auf geistigem Wege, durch Wünsche, Affekte, Leidenschaften, Sorgen, das Bewußtseyn wieder erfüllt.« Bevorzugt tritt ein solches Gelingen beim Genie auf. Eine weite Kluft trenne, so die doch sehr elitäre Auffassung Schopenhauers, »das Genie und seine Werke von der Plattheit und Stumpfheit der Menge.« Das Genie enthält Züge eines Wahnsinnigen, aber auch solche des Erlösers und des Erlösten. Im Genie geschieht eine Veränderung, indem der Wille und mit ihm die Gefangenheit im Individuellen überwunden wird. Kunst wird zur Religion, ein Gedanke, auf dem der Schopenhauer-Verehrer Richard Wagner seine Gesamtkunstwerksvision gründete. Aus dieser Vision erfuhren die Kategorien des Ästhetischen eine genauere Spezifikation. Zunächst räumte Schopenhauer das Fiktionale der Kunst ein. Die »Seligkeit des willenlosen Anschauens« besteht in einer »Selbsttäuschung«. Es ist ein Zauber, mithilfe dessen wir uns dem Leiden am Willen entziehen und die Vorstellung der Ideen gewinnen können. Durch den Charakter eines bloßen Zaubers, einer Fiktion, erlöst die Kunst allerdings nur zeitweilig und bleibt eine Vorstufe zur endgültigen Befreiung vom Willen im Nichts. Die Kunstwerke werden so Mittel zum Zweck. Es gibt keine umrissene Bestimmung des Kunstwerks, vielmehr kann alles Kunstwerk sein, das die geschilderte Möglichkeit bietet. Darin, dass die Ästhetik nicht mehr auf ein eng umgrenztes Werkkonzept festgelegt wurde, sehen viele Autoren eine Modernität Schopenhauers. Das Schöne entspricht einem kampflosen »reinen Erkennen«. Daneben formulierte Schopenhauer auch ein Konzept des Erhabenen. Ihm entsprechen sowohl das Reizende als auch das Ekelhafte. Beides, heftige Zustimmung und ein ebenso heftiges Widerstreben, ermögliche ein gewaltsames Ablösen vom Willen. Schopenhauer argumentierte in Kunst und Architektur weitgehend funktional nach dem Muster einer selbstreferentiellen Kunst und lehnte Herleitungen aus der Natur oder aus den menschlichen Proportionen ab – ein weiterer Zug, der in die Moderne weist. Nach diesem Muster einer Selbstreferentialität der Kunst ersetzte er in seiner Architekturtheorie die alten Gesetze der Proportion und Symmetrie durch jene der Schwere, Starrheit und Kohäsion. Letztlich reduzierte er die alten Lehren der Architektur einschließlich der Säulenlehre auf die ästhetische »Angemessenheit der Stütze zur Last.« Das war ein »totaler Bruch mit der vitruvianischen Architekturtheorie. Architektur ist für Schopenhauer Demonstration von Schwerkraftgesetzen, die am besten in Monumentalbauten in Erscheinung treten: […].« Mit diesem Blick verlor auch die griechische Architektur, die zu »keiner bedeutenden Bereicherung mehr fähig ist […]«, an Vorbildwirkung. Die sich darin ausdrückende Überwindung jeder Metaphysik umfasste eine Kritik an der religiösen Konnotation der Neugotik.



345

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

»Wenn ich nun sehe, wie dieses ungläubige Zeitalter die vom gläubigen Mittelalter unvollendet gelassenen gotischen Kirchen so emsig ausbaut, kommt es mir vor, als wolle man das dahingeschiedene Christentum einbalsamieren.« Durch diese Neuorientierung auf funktionale Zusammenhänge in der Architektur hört sich die Botschaft Schopenhauers aus heutiger Sicht an wie »eine Vorwegnahme des Credos der klassischen Moderne und des Funktionalismus«. Das, worüber sich die Architekturtheorie seit langer Zeit den Kopf zerbrach, »[…] allerlei Kurven, geschweifte Frontons, gerollte Konsolen, geschnörkelte Stützen, Friese in Cartouchen-Formen […]«, waren für ihn nichts anderes als Verunreinigungen der Architektur. Sowohl die ästhetische Anschauung als auch der Reiz des Erhabenen lässt sowohl das Ich als auch die Welt als Wille verschwinden. Ästhetik ersetzt die Träume der Utopien von einer Erlösung am Ende der Zeiten, aber es bleibt letztendlich nur eine zeitweilige Sistierung des Leidens, für dessen Auflösung der Pessimismus Schopenhauers im Leben selbst keine Möglichkeit sieht. Bezüge zu Max Beckmanns dunkler Weltsicht lassen sich ziemlich gut belegen.

Ebd., 346; im Orig. kursiv

Waibl 2009, 221

Schopenhauer 1820, 128

Pöggeler Otto in Baum 2005

6.1.5. Friedrich Schleiermacher Friedrich Schleiermacher wurde 1768 in Breslau geboren. Die meiste Zeit seines Lebens wirkte er in Berlin. Der evangelische Theologe hinterließ neben einem unüberschaubaren Konvolut von theologischen Schriften eine epochale Übersetzung von Platons Werken, die zugleich eine Position der Platon-Rezeption grundlegte. Mit der Umsetzung seines theologischen Anliegens, das Christentum abseits von äußerlichen Ritualen zu erneuern, steuerte Schleiermacher wertvolle Beiträge zur Grundlegung der Hermeneutik bei, die er bei der Auslegung der biblischen Schriften zur Anwendung brachte. Dieses Anliegen unternahm er mit einem Werk mit exquisitem Titel: Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1798). Schleiermachers Kunsttheorie innerhalb des philosophischen Teils seines Œuvres ist komplex und weitgehend mit seiner philosophischen Theorie verwoben. Die Arbeiten dazu sind eher spärlich. Dabei war ihm das Thema so wichtig, dass er seine Ästhetik-Vorlesung an der Berliner Universität 1819/20 (und nochmals 1825, 1832/33) voller Selbstbewusstsein zum gleichen Zeitpunkt ansetzte wie Hegel seine Lehrveranstaltungen. Das konnte nicht gutgehen, der Besuch blieb hinter seinen hoch gesteckten Erwartungen zurück. Für die Nachwelt blieben diese Vorlesungen durch die 1842 von Carl Lommatzsch veranstaltete Publikation erhalten. Die Kunstphilosophie Schleiermachers wandte sich gleichermaßen von Theologie, Ontologie und vom Idealismus ab und einem sinnlichen Paradigma zu. Im Unterschied zu Kant ging es Schleiermacher um das gesamte, lebendige Subjekt, also um das empirische Subjekt und nicht nur um dessen geistigen Anteil. Die Erfahrung dieser Einheit von Körper und Geist macht das Subjekt durch das Gefühl, gipfelnd im religiösen Gefühl. Das Gefühl wird ihm zum Garanten eines einheitlichen Ich in der zeitlichen Sukzession und in der Spaltung von Innen und Außen, also Subjekt und Objekt.

IV.7.1.

IX.3.7.

346

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Lehnerer 1987, 95

Schleiermacher 1819/25, 8

Schleiermacher 1842, 17

Lehnerer 1987, 99

Schleiermacher 1819/25, 44

Auch die Kunst denkt Schleiermacher vom Subjekt aus. Kunst erschließt sich als spezifisch menschliche Tätigkeit. Daher gehört zur Bestimmung von Kunst die Bestimmung der psychischen und ethischen Antriebe, welche zur künstlerischen Tätigkeit führen. »Was Kunst ist, ist gesagt, wenn deutlich ist, durch welche Vermögen und Handlungen sie zustande kommt. […] Keine Idee, keine spekulative oder empirische Gesellschaftstheorie bestimmt, was Kunst ihrem Begriffe nach ist, sondern die Psychologie, bzw. Anthropologie.« Auch gründliche Kenner der Kunstphilosophie Schleiermachers vermögen den Widerspruch nicht aufzulösen, wenn er an mehreren Stellen die Zweckfreiheit der Kunst ins Treffen führt. Ein solches Ideal widerspricht der eindeutigen Verzweckung, die Kunst als Darstellung einer Tätigkeit des Menschen auffasst. Genau besehen unterscheidet er zwischen zwei psychischen Vermögen: dem Kunsttrieb und dem Genießen des Schönen. Analog dazu definiert er den Schönheits- und Ästhetikbegriff. Ohne Schönheit kein Kunstwerk. »Da Kunstthätigkeit aber zugleich Correlat von Kunstwerk ist, so muß zugleich das allgemeine objective Kunstelement, welches wir vorläufig nur das Schöne nennen, hiebei mitgefunden werden.« Die Bedeutung von Schönheit verschiebt sich von ihrem Bezug zum Absoluten zum Status als Resultat der Hervorbringung. Mit dieser Sicht geriet er in Widerspruch zu Hegel, den er als Vertreter eines Absolutheitsanspruchs von Schönheit kritisierte. Kunst sei von Hegel »nur als ein Product der Thätigkeit des menschlichen Geistes aufgestellt […] und dafür die Natur bei Seite gesetzt« worden. Was er allerdings mit Hegel teilt, ist die hohe Auszeichnung, die dem Schönheitsbegriff als Ideal zukommt. Grundsätzlich scheint Schleiermacher eher auf der Seite der Produktionsästhetik zu stehen und empirischen Befunden bei der Rezeption weitgehend auszuweichen. Allerdings zählt er auch Tätigkeiten wie Rezipieren, Genießen, Betrachten zur Kunsttätigkeit. »Das Publikum unterscheidet sich nur im Sinne eines Mehr oder Minder vom Künstler, nicht prinzipiell.« Wie er einen gemeinsamen Grund der verschiedenen Kunsttätigkeiten finden wollte – sein weiter Kunstbegriff umfasste alle Genres der Kunst, auch performative Formen bis hin zur gelungenen »Kanzelberedsamkei« –, blieb einigermaßen unklar. Er sprach von etwas Identischem an der Produktion der verschiedenen Künste, das wiederum die Identität dessen, was man Kunst nennen kann, sichere. Das freilich gelänge wohl nur, wenn sich die künstlerische Produktionstätigkeit von anderen klar unterscheiden ließe. Dann wäre Kunst eine Umsetzung des Gefühls nach den Regeln der Schönheit und Harmonie. Die Kunst ist Offenbarung und Dolmetscherin des Gefühls. Schönheit ist nicht etwa bloß eine angenehme Rezeption, sondern entstehe durch die Ordnung einzelner Elemente zu einer Ganzheit. Noch detaillierter betrachtet, ergibt sich diese Umsetzung des Gefühls in der Kunst durch (1) die Stimmung, dem »gehaltene[n] Gefühl«, (2) die gestaltende Urbildung, die sowohl Darstellung des Gefühls ist als auch den Gesetzen der Schönheit folgt und (3) die Ausführung eines Kunstwerks, bei der die Umsetzung des Gefühls zu einem Ende kommt. Schönheit greift allerdings über das Kunstwerk hinaus.



347

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

Schön können auch praktische Alltagsgegenstände sein, ja schön ist letztlich die gesamte Welt, denn sie ist Schöpfung des göttlichen Künstlers selbst. Dass Kunst dabei in die Nähe zur Religion rückt, wird bei vielen Interpretinnen so gesehen, aber man muss diese These nicht zwangsläufig bejahen: »Der Rückschluß vom allumfassenden schönen Kunstwerk auf den Schöpfer […] trägt […] weder theologisch noch philosophisch irgendetwas aus. […] Denn es geht Schleiermacher lediglich darum, die totale Gültigkeit des Schönheitsbegriffs in Verbindung mit dem Begriff des Kunstwerks zu erweisen. Der Gottesbegriff ist dabei nur Begleiterscheinung.« Was den eben angeführten dritten Aspekt, die Ausführung eines Kunstwerks, betrifft, bleibt Schleiermacher unschlüssig. Wenn man sich die Frage vorlegt, ob Kunst zu den Tätigkeiten gehört, »welche ihren Zweck und Richtung im Aeußern haben, oder zu denen, die im Menschen selbst beschlossen werden […] so können wir freilich auf beide Seiten gezogen werden.« Man müsse, so folgerte Schleiermacher offenbar die Kunst doch teilen in solche Genres, die das äußerliche Werk brauchen und solche, die Tätigkeiten »in sich selbst« sind, wie mimische Darstellungen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass das äußerliche Werk eines Bildhauers meist durch Gehilfen entsteht, sodass folgt: »Ueberall also können wir unterscheiden eine rein innerliche Thätigkeit, welche doch das eigentlich Kunstwerk ist, und das Heraustreten als ein zweites, wozu es der eigentlichen Kunstthätigkeit nicht einmal bedarf.« Um die Einheit der Kunst zu bewahren, wird Schleiermacher zu einem Vertreter eines Mentalismus, wozu ihm sein Rationalismus und Idealismus entgegen kommt. Ein Dreieck zu konstruieren, »hängt gar nicht davon ab, ob ich je eins gesehen habe, […].«

6.1.6. Søren Kierkegaard Søren Aabye Kierkegaard wurde 1813 als Jüngstes von sieben Kindern in Kopenhagen in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie hineingeboren. Er studierte Theologie und lernte dabei die Romantik und den Deutschen Idealismus kennen und schätzen. In Berlin hörte er bei Schelling, wobei die anfängliche Begeisterung bald schwand. Der Deutsche Idealismus, namentlich die Philosophie Hegels, weckten den Widerspruchsgeist Kierkegaards. Er ging als großer Kritiker der Systemphilosophie in die Philosophiegeschichte ein. Die Ansprüche des Systems unterminierte er durch die Stärkung des Individuums. Dass die Frage aufkam, inwieweit Kierkegaard für die Kunstphilosophie und Ästhetik wichtig ist, hängt mit der speziellen Bedeutung von Ästhetik bei ihm zusammen. Aussagen dazu finden sich hauptsächlich in Entweder/Oder, das er unter dem Pseudonym Victor Eremita 1843 erscheinen ließ. Daneben äußerte er sich auch an anderen Stellen zum Thema. Grundsätzlich ging er von einer Identität von Kunst und Schönheit aus. Eine Ästhetik des Hässlichen kam nicht in Betracht. Dies schied schon deshalb aus, weil Kierkegaard das Kunstwerk aus einer Dialektik von Ewigem und Kontingentem erklärte. Zudem erhielt die Ästhetik eine besondere Funktion. Sie diente dazu, die Zugänge zur Wirklichkeit auf existenzialistische Wege (zu de-

Lehnerer 1987, 111

Schleiermacher 1842, 56

Ebd., 57ff X.3.5.1.2. Ebd., 65

348

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kierkegaard 1843, 190 Ebd., 69

Ebd., 191

Schulz Heiko in ÄKPh, 465

Kierkegaard 1843, 244

nen als höchster auch der religiöse gehört) zu reduzieren. Ästhetik geriet in Konkurrenz zur Ethik. Ein ästhetisches Vernunfturteil hatte in einer solchen Paarung keinen Platz mehr. In Entweder-Oder konfrontiert uns Kierkegaard mit einem Rollenspiel zwischen einem Ästhetiker (A) und einem Ethiker (B). Der starke religiöse Aspekt kam erst in einer späteren Phase von Kierkegaards Denken dazu. Besser als von einem Ästhetiker müsste man bei der Figur A von einem Ästhetizisten sprechen, einem Genießer des Lebens und Hedonisten. Beschrieben wird eigentlich die Gestalt des Dandys. Diese (ursprüngliche) ästhetische Lebensform, wie Kierkegaard sie im ersten Teil seines Werks mit starken autobiographischen Bezügen aus seinen jungen Jahren ausführlich beschreibt, hat zwei Seiten: Einerseits ermöglicht sie eine (vermeintliche) Lebensweise der Unmittelbarkeit: »Das Aesthetische in einem Menschen ist das, dadurch er unmittelbar das ist was er ist; […].« Dazu gehört auch das elementar Erotische, das er an der Figur von Mozarts (der für ihn den Platz des Größten »unter allen Urhebern klassischer Kunstwerke« einnahm) Don Juan, exemplifiziert. Es ging beim Ästhetischen also nicht primär um Kunst, sondern um Lebensgenuss, um Ironie, ja Zynismus. »Ein jeder Mensch […] hat ein natürliches Bedürfnis, sich eine Lebensanschauung zu bilden, eine Vorstellung von des Lebens Bedeutung und Ziel. Wer aesthetisch lebt, tut das auch, und der gewöhnliche Ausdruck, den man zu allen Zeiten und seitens der verschiedenen Stadien vernommen hat, ist: man soll das Leben genießen.« Dort, wo die Kunst im engeren Sinn mit dem Ästhetischen gekoppelt ist, gilt, dass Kunst schön ist und umgekehrt: dass sich Schönheit nur in der Kunst zeigt. Kierkegaard unterschied die Arten der Kunst, insofern sie zufällige Momente verewigen wie die bildende Kunst und die Architektur oder insofern Momente nur im Augenblick der Aufführung abgebildet werden wie in Musik und Poesie, die gleichsam zwischen den räumlichen und den zeitlichen Künsten steht. Das Hinterhältige dieser Lebensweise ist nach Kierkegaards Auffassung, dass Kunst im ästhetischen Leben einen verführerischen Charakter hat. Sie verführt dazu, »das eigene Leben im Medium der Phantasie als Kunstwerk zu inszenieren, um so den Unterschied zwischen diesen und der (ethischen) Wirklichkeit des Existierens aufzuheben, […].« Aber diese ästhetische Lebensform ist durch äußere Ereignisse und eine Distanz schaffende innere Reflexion bedroht. Eine solche Reflexion im Subjekt klärt dieses reflektierende Subjekt über die in der ästhetischen Lebensweise vorgespiegelte Illusion des Lebens auf, die vordergründig hilft, unangenehme Erfahrungen durch die Stimmung des gegenwärtigen Augenblicks auszublenden. Doch sie verdeckt letztlich nur eine Verzweiflung. »Wer aesthetisch lebt, der sucht nämlich, so sehr es nur möglich ist, in der Stimmung ganz und gar aufzugehn […].« Die Verzweiflung entsteht also weniger durch äußere Einflüsse, sie ist eine im Ich selbst. Sie ergibt sich aus dem Vorgang der Aufklärung über die Chimäre einer ästhetischen Lebensform. Diese Aufklärung hilft nun aber, sich vom Ästhetischen zu befreien, und sie bringt das Subjekt dazu, sich selbst zu wählen. Erst wenn die Möglichkeit der Wahl beginnt – und das heißt, dass der sich einem Kollektivismus entwindende Mensch



349

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

seine Freiheit entdeckt –, tritt das Ethische in den Vordergrund. Nur der Ethiker kann wählen. Auch diese imaginäre Figur ist seltsam beschrieben: »Der Ethiker« ist gleichsam eine Chiffre für die Hauptposition des Existenzialismus, nämlich das Wählen seiner selbst. Dass Kierkegaard im Rahmen dieses existenzialistischen Ernstes »eine Fundamentalkritik des Ästhetischen im Namen außer-ästhetischer Werte« vorgelegt hat, kann man sicherlich so sehen. Dass seine Philosophie solches auch leistete, darf hingegen bezweifelt werden. Viel zu sehr sind in die Ästhetik hier Anmutungen eingeflossen, die heute als Anästhetik gerade ausgeschlossen würden. Zudem hat die Kunst des 20. Jh.s an vielen Stellen den Anspruch erhoben, Ethik sein zu wollen. Dazu kommt, dass Kierkegaard bei dieser Ablösung des Ästhetischen durch Ethik nicht stehen blieb, sondern diese noch durch das Religiöse überformte. In Wahrheit stemmte sich Kierkegaard gegen die Ästhetisierung der Religion und im Hintergrund gegen eine aufklärerische und liberale Theologie, wie sie im 19. Jh. von Herder oder Schleiermacher betrieben wurde. Er suchte den Weg zurück zur reinen Wahrheit der Offenbarung. Denn erst im Christentum zeige sich, dass das Ich keineswegs mehr einer Verfügungsmacht über sich selbst unterliegt. In der wohl radikalsten Abkehr von der optimistischen Geschichtsphilosophie des Geistes bei Hegel setzte Kierkegaard ganz auf die Menschwerdung Gottes und auf die Unverfügbarkeit des Subjekts mit der pointiert paradoxen Bemerkung: »Die Subjektivität ist die Unwahrheit.« Die Bemerkung macht zugleich klar, wie die Abkehr von der Systemphilosophie zugunsten des Individuums nicht gemeint ist. Kierkegaards Denken hatte in der Ästhetik-Diskussion kaum nachhaltigen Einfluss, eher finden sich in der Geschichte der Literatur Anregungen, die auf ihn zurückzuführen sind.

Waibl 2009, 199

Kierkegaard 1846, I, 198

6.1.7. Friedrich Theodor Vischer Einer der bedeutendsten nachhegelschen Beiträge zur Ästhetik stammt aus der Feder des 1807 in Ludwigsburg geborenen Friedrich Theodor Vischer. Ähnlich wie sein Freund aus den gemeinsamen Zeiten am Tübinger Stift, David Friedrich Strauß, verstand er sich, nachdem er den theologischen Ballast zugunsten eines pantheistischen Ansatzes abgestreift hatte, als gemäßigter Linkshegelianer – nicht ohne revolutionäre Hoffnungen. Nach Reisen durch Italien und Griechenland in den späten Dreißigerjahren bekleidete er Professorenstellen für Ästhetik und Literatur in Tübingen (1844) und Zürich (1855). Dort pflegte er Kontakte mit Jacob Burckhardt, Richard Wagner und Gottfried Semper. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit versuchte er sich in literarischen Genres (Roman, Satire, Theaterstücke), betätigte sich als Kunsthistoriker (auch Modekritiker) und als geschickter Karikaturist. Was seine ästhetische Theorie betrifft, hält Götz Pochat Vischers Werk neben Lotzes Geschichte der Ästhetik für den letzten »Versuch in der nachhegelschen Zeit, die Kunst und das Schöne metaphysisch zu begründen.« Wichtig wurde sein mehrbändiges Hauptwerk Ästhetik oder die Wissenschaft des Schönen, das zwischen 1846 und 1857 entstand, dessen Vorarbeiten aber weit in die Dreißigerjahre zurück-

Pochat 1986, 571

350

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

6.1.3.

Metaphysik des Schönen

Vischer 1846, 52

empirische ­Ästhetik

Vischer, zit. nach Pochat 1986, 572

reichen. 1837 erschien in diesem Zusammenhang eine Arbeit mit dem Titel Über das Erhabene und Komische – sie wurde später der Ästhetik eingefügt. Darin mahnte er eine eingehendere Beschäftigung mit der Karikatur an. In seiner an Hegel orientierten Ästhetik, die daneben Einflüsse von Schelling erkennen lässt, erweiterte er Hegels Schönheitsbegriff erheblich, wobei sowohl die Bestimmung des Schönen als Erscheinungsform der Idee erhalten blieb als auch die triadische Struktur der Hegelschen Dialektik, die das Schöne als Synthese von Natur und Geist auffasst. Es gab Ähnlichkeiten mit den Konzepten, wie sie bei Christian Hermann Weiße und Arnold Ruge vorlagen. Beiden ging es um eine Einführung des Schönen in den wissenschaftlichen Diskurs. Für Weiße und Ruge blieb die Schönheit das Maß; das Hässliche ließ sich aus der Sicht Weißes nur als auf den Kopf gestellte Schönheit definieren. Im ersten Teil seines Werks entwarf Vischer eine Metaphysik des Schönen mit dem Ziel einer Versöhnung von Natur und Geist – das sei die Stärke des Idealismus. Schönes gilt weiterhin als »Idee in der Form begrenzter Erscheinung.« Zum Unterschied von Hegel gab es für Vischer auch ein Naturschönes, das organische und anorganische Natur und darüber hinaus auch Geschichte und soziale Institutionen umfasste. Dem steht die subjektive Schönheit gegenüber, die Phantasie als Vermögen des Geistes zur sinnlichen Form des Ideellen. Das steckt den Bereich des Genies ab, in dem sich diese höchste Form menschlicher Phantasie verkörpert. Es ist aber auch der Ort, wo sich diese Tätigkeit des Geistes entwickelt. Lautete Hegels Dreischritt noch symbolisch – klassisch – romantisch, formulierte Vischer: antik (objektiv) – romantisch (subjektiv) – modern (subjektiv-objektiv). Im letzten Teil seines Werks beschrieb er diese subjektiv-objektive Wirklichkeit des Schönen als Kunstwerk. Auch diese Darstellung der Kunstgattung samt detaillierter Auflistung einzelner Untergattungen ist vom dialektischen Dreischritt geprägt. Als objektive Kunstformen gelten Architektur, Bildhauerei und Malerei, subjektiv ist die Musik und als subjektiv-objektive Synthese die Literatur und das Schauspiel. Vischers Lebenswerk erhielt nicht zuletzt durch seine eigenen Relativierungen einen besonderen Reiz. Die Bemühung um eine metaphysische Begründung von Schönheit war ihm nach der Jahrhundertmitte obsolet geworden. 1866 und 1873 schrieb er zwei Teile einer Kritik meiner Ästhetik, wo er sich von der spekulativen philosophischen Konzeption seines Hauptwerks verabschiedete und zu einer empirisch-psychologischen, auf die Rezeptionsseite ausgerichteten Konzeption wechselte. Es war dies ein Tribut an die zweigleisige Diskursfigur des Ästhetischen im 19. Jh., einmal als Theorie des Schönen und zum anderen – im Sinn der ursprünglichen Bedeutung – als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung. »Was ich subjektiven Eindruck nenne, ist eben der Akt, wodurch ein Gegenstand für ein Subjekt zum schönen Gegenstand erst wird, das Subjekt gehört wesentlich an den Anfang, nicht ans Ende.« Zur gleichen Zeit hielt Hermann Lotze noch unbeirrt an dieser alten Auffassung fest und unternahm in seiner Geschichte der Ästhetik in Deutschland (1868) noch einmal einen großangelegten Versuch der Darstellung einer ontologischen Schönheitsauffassung. Immerhin versuchte Lotze, seine metaphysische Auffassung nicht



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Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

ganz mit dem verbreiteten Sensualismus und Empirismus in Widerspruch treten zu lassen. Das ästhetische Gefühl entstehe aus der Wechselwirkung von Empfindung der Rezipientin und den objektiven Eigenschaften der Kunstobjekte. Es kann nicht überraschen, wenn bei Lotze die Verbindung von Schönheit und Ethik bzw. Moral wieder intakt ist. Schönheit hat zu tun mit der Ordnung und den Gesetzen des Kosmos, über die letztlich eine göttliche Autorität wacht. Vischer hingegen entkoppelte die alte, bei Schiller besonders nachdrücklich vertretene Gleichung von Schönheit und Ethik. Das Schöne erhielt – nun ähnlich wie bei Schopenhauer und Nietzsche – die Funktion der Kompensation menschlicher Entfremdung. Das Schöne als ontologische Entität sei Fiktion, wichtig sei es hingegen als Bewusstseinszustand. In solchen Stimmungen wird der Mensch frei von den Interessen des Alltags. Vischers Ästhetikverständnis rückt hier nahe an den Modus der Interesselosigkeit der Kunst. Übertragen auf die reale Kunst macht eine solche Ansicht das Historienbild, das Vischer anfangs kritisch kommentiert hatte, gegenüber dem Landschaftsbild wieder interessant, weil es gleichsam für den Typus der Kunst schlechthin stand. Denn der Historienmaler zeige uns eine Welt von Gefühlen und Emotionen und erreiche nahezu die Qualität der Philosophie. Die sich hier ausdrückende Nähe zu Historismus und Romantik machte ihn nicht gerade zu einem Freund des Realismus, insbesondere die Darstellung des Hässlichen lehnte er ab. Die Einsichten dieser Phase haben eine nachhaltige Rezeption ausgelöst. 1887 erschien im Sammelband Philosophische Aufsätze für Zeller ein Beitrag Vischers mit dem Titel: Das Symbol. Ein Symbol war für Vischer »die unwillkürliche und dennoch freie, unbewußte und im gewissen Sinne doch bewußte Naturbeseelung, der leihende Akt, wodurch wir dem Unbeseelten unsere Seele und ihre Stimmungen unterlegen.« Formal gesehen ist ein Symbol eine Verbindung von Bild und Bedeutung über ein tertium comparationis. Ein Schiff kann die christliche Kirche bedeuten. Mit der Art der Verbindung ändert sich auch der Bild- und Bedeutungsbegriff. Vischer zählte drei Arten auf: die »dunkel-verwechselnde«, die »logisch-sondernde« und die »vorbehaltende«. Im ersten Fall ist das Symbol, wie im religiösen Bewusstsein verwandt, die Bedeutung selbst. Vischer erwähnt Brot und Wein als Symbole für Leib und Blut Christi in der Eucharistie. In diesem ersten Fall wären Brot und Wein Leib und Blut selbst, damit sind sie heilig, man benötigt einen Priester für die Verwandlung und Christi Worte »dies ist mein Leib« sind wörtlich und als performativer Sprechakt zu verstehen. Nach der zweiten Variante wären diese Worte Metaphern und Brot und Wein als »gleichgültige Stoffe« nur Symbole für Leib und Blut Christi. Interessant für die weitere Rezeption ist die dritte vermittelnde Variante. Man glaubt nicht mehr an die magische Gleichsetzung von Symbol und Bedeutetem, aber man bleibt der Magie dennoch verhaftet. Es ist die Mitte, »wo das Symbol als Zeichen verstanden wird und dennoch als Bild lebendig bleibt, wo die seelische Erregung, zwischen diesen beiden Polen in Spannung gehalten, weder durch die bindende Kraft der Metapher so sehr konzentriert wird, daß sie sich in Handlung entlädt, noch durch die zerlegende Ordnung des Gedankens so sehr gelöst wird, daß sie sich in Begriffe verflüchtigt. Und eben hier hat das ›Bild‹ (im Sinne des künstleri-

Interesselosigkeit der Kunst

Vischer 1844, IV, 431f Das Symbol

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Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Wind Edgar in ­K­aemmerling 1987, 174f Pochat 1986, 573 Wind Edgar in ­Kaemmerling 1987, 172f

Einfühlung

6.2.2. 6.2.

Fontius Martin in ÄGB 2, 130 Vischer 1844, IV, 435

schen Scheinbildes) seine Stelle.« Oder wie Götz Pochat es ausdrückt: »Es leben die Künstler und die Betrachter in dieser Welt des ›schönen Scheins‹, die nicht geglaubt, aber dennoch genossen werden kann.« Aby Warburg war davon tief beeindruckt und führte den Gedanken produktiv fort. Was Warburg ansprach, war die Idee, in der Kunst einen Ausgleich zwischen dem Dunklen und Unbewussten und dem klaren Bewusstsein zu sehen. Die Seele schwingt sozusagen vom Kult zur Mathematik und zurück – als eine Polarität des Symbols. Angesichts dieser aufgeklärten Position konnte Vischer nichts mit der Kunst der Nazarener und ihrer religiösen Ideologie anfangen. Auf der anderen Seite kritisierte er auch – zum Beispiel im Aufsatz Zustand der jetzigen Malerei (1842) – den Stilpluralismus der Zeit und sah darin ein suchendes Ringen um Lebensformen. Das Problem führte er auf die schwierige Zeit der Entzauberung durch die Modernisierung zurück. Dies hat auch eine psychologische Komponente. Vischer formt einen Terminus, der eine große Bedeutung in der Ästhetik des 19. Jh.s erhielt: »Einfühlung«. Er meinte damit, dass der Betrachter in der Natur die Stimmungen seiner Seele erkennt. Vischer, den manche für den »Vater der Einfühlung« halten, formulierte eine Synthese von naturwissenschaftlicher Psychologie und Idealismus. Wenn er das Schöne als ein »Ineinander von mehreren Akten« betrachtete, führte er die transzendentalphilosophische Position weiter, die Wahrnehmung dem Akt des Bewusstseins zu überantworten. »Sein entscheidender Gedanke, den alle späteren Einfühlungsästhetiker teilen, ist es, bei der Weltbetrachtung die Kategorie des Gegenstandes durch die des Tuns abzulösen:« Vischer hielt es für ausgemacht, dass die alte mythische Sicht der Beseeltheit der Naturdinge im Sinne einer »Seelenleihung« auch in aufgeklärten Zeiten noch funktioniert. »Der Akt der Seelenleihung bleibt aber als naturnotwendiger Zug der Menschheit eigen, auch wenn sie längst dem Mythus entwachsen ist; […].«

6.2. Ästhetik zwischen Idealismus und Empirismus

Barck Karlheinz in ÄGB 1, 345

Wie die erwähnten Beispiele zeigen, gab es namentlich im deutschen Sprachraum eine breite philosophische Diskussion zur Ästhetik, die durch den Deutschen Idealismus inspiriert war. Der Blick auf das übrige Europa zeigt allerdings ein anderes Bild. Dort differenzierte sich im 19. Jh. die kulturelle Landschaft und mit dem Thema Ästhetik wusste man noch immer nicht allzu viel anzufangen. Ein kurzer Überblick soll die hauptsächlichen Linien der Debatten sichtbar machen. Besonders zwischen Deutschland und Frankreich/England bildete sich bereits im 18. Jh. eine »Verständnisblockade zwischen zwei unterschiedlichen philosophischen Traditionen […].« Gemeint ist hier der Empirismus und Sensualismus auf der einen und die – wie Karlheinz Barck das nannte – obscurité germanique á la Sulzer oder auch Baumgarten (wenngleich dieser ja die sinnliche Wahrnehmung rehabilitiert, diese dann aber in einem schwer zugänglichen Ästhetikbegriff abgeschottet hat) auf der anderen Seite, eine obscurité, die in der Geistphilosophie Kants und des Deutschen Idealismus gipfelte. Der deutschsprachige Raum war mit dem Ästhetikbegriff vorgeprescht; die Ausbreitung einschließlich der Rezeption der Philosophie Kants und des Deutschen Idealismus in den Nachbarländern geschah mit deutlichem Zeitverzug.



353

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

Schon 1753 hatte der französischstämmige deutsche Philosoph Louis de Beausobre mit Bezug auf Baumgarten und Wolff (er hatte in Frankfurt an der Oder Vorlesungen bei Baumgarten gehört) in Frankreich auf eine métaphysique du beau aufmerksam gemacht, was dort aber wirkungslos blieb. Um die Jahrhundertwende hob eine breitere Rezeption an. Debatten in der école allemande und im Coppet-Kreis waren von der Verwirrung über den in der deutschen Philosophie ausgefeilten Ästhetikbegriff geprägt. Meinte Ästhetik ein Geschmacksurteil, eine Kritik des bon goût, eine Metaphysik der Kunst einschließlich gar einer ästhetischen Anschauung oder eine wissenschaftliche Regelästhetik? Damit wurden jene in den vergangenen Kapiteln angesprochenen Bezugspunkte einer Ästhetik aufgezählt, welche im Grunde genommen den Ästhetikdiskurs bis heute begleiten. Der Coppet-Kreis war nach dem Schloss der Eltern der Madame Germaine de Staël-Holstein am Genfersee benannt. Dort lebte die aufgeklärte Schriftstellerin, Tochter des letzten Finanzministers von Ludwig XVI., während der Zeit der Terreur in ihrem geliebten Paris, wo sie einen wirkmächtigen und kritischen Salon unterhielt, den Napoleon schließlich nicht mehr duldete, einige Jahre gleichsam im Exil und sammelte – in Europas Intellektuellenszene hervorragend vernetzt – einen Diskussionskreis um sich. Schließlich gab es eine ganze Reihe von Achsen zwischen der deutschen und französischen und englischen Ästhetikdiskussion. Charles de Villers hatte 1801 mit einem viel beachteten Kant-Buch den deutschen Philosophen in Frankreich bekannt gemacht – Kants Kritik der Urteilskraft erschien allerdings erst 1846 in einer französischen Übersetzung. Wilhelm von Humboldt, ein exzellenter Kenner der Pariser Szene, förderte in Beiträgen in französischen Magazinen den Ästhetikbegriff. Victor Cousin versuchte sich bei einer Deutschlandreise Klarheit zu verschaffen, sah aber Ästhetik weiterhin als Anhängsel der Philosophie und der Ethik. Charles Magloire Bénard hatte zwischen 1840 und 1852 die Ästhetik Hegels (nach Hothos Version) sowie einige Schriften Schellings übersetzt und der Hegel-Übersetzung gleich ein 500 Seiten starkes Kommentarwerk hinzugefügt, wo er eine fundierte Einführung in die Ästhetik ablieferte. Mehrere Zeitschriften, die sich der Literatur- und Kunstkritik verschrieben hatten, unterstützten die regen Debatten. Um die Jahrhundertmitte war der Ausdruck Ästhetik für eine Theorie des Schönen omnipräsent. Eine Reihe von einschlägigen Werken erschien, die auch in Künstlerkreisen Aufmerksamkeit erregten. Die Vermittlungsarbeit zwischen Frankreich und Deutschland konnte den deutschen Ästhetikkonzepten freilich nicht zum Durchbruch verhelfen, zu unterschiedlich waren die philosophischen Kulturen. In Frankreich und England traten umgekehrt die im deutschen Sprachraum eher zögernd rezipierten sensualistischen und empiristischen Ästhetikkonzepte in den Vordergrund. Der französische Bibliothekar und Mathematiker Charles Henry wollte eine physikalisch-wissenschaftliche Ästhetik von der philosophischen Ästhetik abgrenzen (Introduction à une esthétique scientifique; 1885). Er wurde zu einem Autor der modernen Industrieästhetik, aber auch Theoretiker des Impressionismus und Symbolismus.

Coppet-Kreis

570 Madame de Staël, Porträt von François Gérard (um 1810)

europäische ­Ästhetikdiskurse

354

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Gwilt 1842 673f Heininger Jörg in ÄGB 1, 355–368

Pühringer 1987

Wilde 1890, 234f

Es standen also gegen Ende des Jh.s eine normative, eine die Normen unterwandernde Künstlerästhetik und eine wissenschaftlich-physikalische Ästhetik nebeneinander. 1896 legte der in Budapest geborene, aber bereits als Kind nach Frankreich gekommene Victor Basch im Essai critique sur l’esthétique de Kant erstmals eine Geschichte ästhetischer Begriffe im internationalen Vergleich vor. Mit einer alten universalistischen Normästhetik hatte dies nichts mehr gemein. In England stand der Ausdruck aesthetics fest in der empiristischen und sensualistischen Tradition. Auch hier fand der Terminus erst langsam Eingang in die Debatten und er lief über die französische Kantrezeption, die in England bekannt wurde. Florian Madinger Willich klärte die englischen Leser über die Bedeutungen des deutschen Ausdrucks Ästhetik in der kritischen Philosophie Kants einerseits und als Ausdruck für eine Theorie des Schönen andererseits auf. Man wusste in England um die Entstehung des Terminus in Deutschland und verband seine Bedeutung neben den gebräuchlicheren Begriffen critics und taste eher unscharf mit einer Lehre vom Schönen. Der Architekt Joseph Gwilt, der Werke von Chambers herausbrachte und Vitruv übersetzt hatte, fasste sein Misstrauen gegenüber dem Ausdruck Ästhetik, den er einen »silly pedantic term« nannte, so zusammen: »one of the metaphysical and useless additions to nomenclature in the arts, in which the German writers abounde, and in its application to architecture of least value […].« Kant wurde kaum ernsthaft diskutiert, sondern eher mit Unverständnis, ja sogar Spott bedacht. Daran änderten auch die Bemühungen von Samuel Taylor Coleridge, Henry Crabb Robinson, George Henry Lewes, Sir William Hamilton und Thomas Carlyle, Kenner und Vermittler der Kantischen Philosophie – im Fall von Lewes und Hamilton auch der Position Hegels – in England, kaum etwas. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte erhielt der Begriff einige Resonanz, nicht zuletzt durch die Ausbildung eines englischen Hegelianismus, einer in England ganz neuen Strömung, die aber etwa mit Thomas H. Green, James H. Stirling oder Francis H. Bradley erstaunlich großen Einfluss gewann. Nicht selten war die Beschäftigung mit dem Idealismus verbunden mit einem religiösen Interesse. Aber es spielten auch ästhetische Themen eine Rolle, etwa bei dem Vertreter des sogenannten »Absoluten Idealismus« Bernard Bosanquet, der eine Geschichte der Ästhetik schrieb (A History of Aesthetics; 1892). Die Tradition der Kunstkritik wurde schließlich mit der Ästhetik verbunden und eine angeregte Diskussion beschäftigte sich mit dem Verhältnis von Ethik und einer solchen Ästhetik. Oscar Wilde stellte das Interesse – weniger an der Schönheit als solcher, sondern an den jeweils schönen Kunstwerken in den Vordergrund, welche Frage ihr Eigenrecht unabhängig von moralischen Kontexten habe. »Aesthetics is higher than ethics. […] Even a colour sense is more important, in the development of the individual, than a sense of right and wrong.« Doch nicht nur in Frankreich und England wurde der Kontext des Deutschen Idealismus nur widerstrebend rezipiert, auch in Deutschland wuchs dem Idealismus eine starke Opposition von Seiten der Naturwissenschaften zu. »War in den



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Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

Künstlerästhetiken die Historisierung der Schönheitskonzepte das Ergebnis einer Kritik an normativer Poetik und Rhetorik, die sich mit Argumenten der deutschen Ästhetikdebatte ausrüstete und begrifflich diffus blieb, so kam es in der 2. Jahrhunderthälfte zu einer Profilierung der Ästhetik (und ihres Begriffs) im Rahmen einer neuen epistemologischen Konstellation. Diese Konstellation stand im Zeichen einer interdisziplinären Orientierung in den Wissenschaften, die von der jungen Experimentalpsychologie ausging, wie sie in Deutschland Gustav Theodor Fechner begründet hatte, […].« Die Fortschritte in den physiologischen Forschungen, – etwa Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Wundt, Carl Lange, Oswald Külpe – waren international wesentlich erfolgreicher als die idealistischen Konzepte. Aus ihnen erwuchs der Versuch, Ästhetik auf einer (natur-)wissenschaftlichen Grundlage zu inaugurieren.

Barck Karlheinz in ÄGB 1, 344–355, hier 353

6.2.1. Gustav Theodor Fechner Gustav Theodor Fechner, Jahrgang 1801, von seiner Ausbildung her Mediziner und Physiker, war metaphysischen, ja sogar pantheistischen Spekulationen nicht abgeneigt. Das mag überraschen, ging er doch in die Geschichte der Ästhetik mit einem ganz anderen methodischen Zugang ein, nämlich »dem Versuch, mit den Methoden empirischer Beobachtung und Beschreibung allgemeine Gesetzmäßigkeiten der ästhetischen Wahrnehmung und des ästhetischen Urteils zu erforschen.« Solches unternahm er erstmals als bereits Siebzigjähriger 1871 in der Schrift Zur experimentalen Aesthetik. Darauf folgte sein Hauptwerk, die Vorschule der Ästhetik (1876), wo er eine »Ästhetik von unten« einer solchen »von oben« (gemeint jene des Idealismus) entgegensetzte. Ästhetik wurde zu einer Erfahrungswissenschaft auf experimenteller Basis. Unter ästhetisch versteht man nach Fechner, »was sich auf Verhältnisse unmittelbaren Gefallens und Missfallens an dem bezieht, was durch die Sinne in uns eintritt, ohne aber blos die rein sinnliche Seite davon im Auge zu haben, da vielmehr Verhältnisse des Sinnlichen, wie in der Musik, und Associationsvorstellungen […] mit in das Bereich des Aesthetischen gezogen werden.« Die romantisierenden Metaphern, mit denen er dies beschrieb, zeigen schon, dass Fechner eigentlich von der Romantik her kam. Die Natur trägt ein »Erdleben« in sich. Auf diesem Hintergrund ging er das Leib-Seele-Problem an, das nachgerade eine Voraussetzung der Beurteilung von ästhetischen Gegenständen ist. Die empirische Erforschung des Urteils über ästhetische Gegenstände war wichtig. Aus dem Studium der Lust-Unlust-Reaktionen von Menschen auf ein Kunstwerk sollte sich eine normative Ästhetik gewinnen lassen – freilich wieder eine Ästhetik von oben, wie Fechner unumwunden einräumte. Insbesondere an geometrischen Figuren studierte Fechner die Reaktionen der Rezipienten und sammelte empirische Daten über die Bevorzugung von Proportionen nach dem goldenen Schnitt. Die Ästhetik Fechners war damit im Alltag angekommen. Vorbild für diese empirische Basis einer Ästhetik war ihm der englische Empirismus mit Hutcheson und Burke. Dazu kam ein hedonistischer Charakter, denn »Wohlgefühl« und »Glück« seien im Zusammenhang mit der Ästhetik durchaus erstrebenswert.

Allesch Christian in ÄKPh, 267

Ästhetik als Erfah­ rungswissenschaft

Fechner 1876, 33

356

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

ästhetisches Wahrnehmen

X.1.4.1.

Allesch Christian in ÄKPh, 268 Kliche Dieter in ÄGB 1, 376

IX.3.3.2.

Fechner umkreiste als einer der wenigen einen Begriff des ästhetischen Wahr­ nehmens. Er unterschied dazu sechs Prinzipien: (1) Das aus der Psychophysik in die Ästhetik übertragene Prinzip der ästhetischen Schwelle lehrt, dass objektiv (durch die Stärke des Reizes) und subjektiv (Empfindlichkeit für einen Reiz) eine gewisse Schwelle zur Auslösung der Aufmerksamkeit überschritten werden muss. (2) Das Prinzip der ästhetischen Steigerung besagt, dass durch das Zusammenstimmen mehrerer Elemente eines ästhetischen Gegenstandes eine ästhetische Gesamtwirkung entsteht, die mehr ist als die Summe der Teilelemente. Unter (3), (4) und (5) notierte er die formalen Prinzipien der Einheit einer Mannigfaltigkeit, der Widerspruchslosigkeit und der Klarheit und unter (6) das ästhetische Assoziationsprinzip. Dieses meint, dass zum Unterschied von einer durch einfache Formverhältnisse hervorgerufenen ästhetischen Empfindung eine solche auch durch nachträgliche Assoziationen in der Phantasie des Individuums ausgelöst werden kann. Ästhetische Wirkungen sind »zumeist sehr komplexe Wirkungen direkter und assoziativer Faktoren […].« Fechner legte ein komplexes »Modell ästhetischer Wahrnehmung vor, in dem die subjektiv-objektiven somatischen Dispositionen sich mit den Formqualitäten des ästhetischen Gegenstandes verbanden.« Großen Anklang fanden solche Gedanken bei Wilhelm Wundt, der 1879 in Leipzig ein Labor für experimentelle Psychologie errichtete. Naturgemäß gab es auch heftige Ablehnung gegenüber einer solchen naturwissenschaftlichen, ja experimentellen Grundlegung der Ästhetik. Nicolai Hartmann beharrte heftig darauf, dass Ästhetik eine philosophische und keine naturwissenschaftliche Disziplin sei.

6.2.2. Das Konzept der Einfühlung

III.2.4.3.3.3.

6.1.7. IX.3.2.3.

Die psychologische Ästhetik berief sich im 19. Jh. auf eine physiologische und sensualistische Faktenbasis und eröffnete damit andere als traditionell idealistische Zugänge zur Ästhetik. Darunter war das Konzept der Einfühlung. Ähnlich unscharf wie der Begriff selbst ist seine Herkunft. Es finden sich Spuren der Romantik, im Traum von der Seelenverwandtschaft etwa, aber es gibt auch Herleitungen aus der Aufklärung. Die seit Aristoteles in der Tragödie wirksame Mimesis im Sinne der Übertragung ließe sich in der Bedeutung einer Identifikation als eine Version der Einfühlung interpretieren. In eigenartiger Weise verbindet die Einfühlungsästhetik ein empirisches und ein idealistisches Konzept und konnte als Abmilderung des im Bildungsbürgertum der Zeit nicht allzu beliebten neuen naturwissenschaftlichen Paradigmas, wie es etwa von Gustav Theodor Fechner propagiert wurde, durchgehen. Der Begriff selbst stammte aus dem Umfeld der psychologischen Ästhetikkonzeptionen bei Friedrich Theodor Vischer und Theodor Lipps. Lipps gründete in den Neunzigerjahren ein psychologisches Institut in München. Unter Einfühlung verstand Lipps eine emotionale Teilhabe an der Natur des Objekts, also ein im wahrsten Sinn Sich-Hinein-Fühlen. Die ästhetische Einfühlung beruht demnach darauf, dass der Betrachter auf ästhetische Stimuli antwortet, indem er sie in eigene Körpererfahrungen umsetzt. Der in der Apperzeption wahrzunehmende Gegenstand und das wahrnehmende Subjekt sind füreinander offen. »[…] swelling, contraction, equilib-



357

Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff

rium, rhythm, slenderness and so on are all perceived in terms of fundamental body conditions […] by a process of transference.« Wenngleich Lipps Psychologe war, vertrat er einen subjektiven Idealismus und lehnte ein vom Subjekt unabhängiges Objekt ab. Das rief Kritiker auf den Plan, die zwar die Kunsttheorie im Bereich der Geisteswissenschaften angesiedelt und von den Vorgaben der Naturwissenschaften freigehalten wissen wollten, aber sie duldeten keine Auflösung des Gegenstandes der Anschauung durch einen zugespitzten Idealismus oder eine zum Konstruktivismus neigende Transzendentalphilosophie. Besonders in die Richtung des reinen Rezipierens dachten Friedrich Theodor Vischer und sein Sohn Robert. Das Schöne wurde nicht mehr als Ding, sondern als ein Akt der Bedeutungsverleihung gesehen. Bei Vischers Einfühlungsbegriff bewegen wir uns in den engen Spuren Kants und Hegels, ja sogar der alten Mythologie mit ihrer Weltseelekonzeption. Nur dass unter den Vorzeichen der Aufklärung diese Terminologie nicht mehr opportun erschien. Nun nannte man das »Eintragung der Menschenseele in Unpersönliches.« Zu den Verteidigern einer Einfühlungsästhetik gegen neukantianisch-werttheo­ retische und phänomenologische Ansätze gehörte auch Johannes Volkelt, dessen dreibändige ästhetische Summe System der Ästhetik (1905/1910/1912) am Beginn des 20. Jh.s erschien. Über den Akt der Einfühlung schrieb er vor allem in Der Symbolbegriff in der neuesten Ästhetik (1876). Wohin auch immer der Mensch blickt, auf Wolken, in die Landschaft, auf die Berge, sieht er sich immer wie von anderen Menschen angesehen. Gerade wegen der unscharfen Mittelstellung des Begriffs zwischen idealistischen und psychologisch-naturwissenschaftlichen Methoden wurde er für viele reizvoll und ermöglichte ihnen den Anschluss, sodass der Begriff bis weit in das 20. Jh. fruchtbar gemacht wurde. Dieses Verständnis von Einfühlung im Sinne Hermann Lotzes, Friedrich Theodor und Robert Vischers, Wilhelm Diltheys und Theodor Lipps beeinflusste Heinrich Wölfflin, August Schmarsow und Alois Riegl. Die Einfühlung fungierte bei ihnen als »entry point into art history.« Wilhelm Worringer reagierte in seinem Werk Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908) primär auf Theodor Lipps’ Übertragung der Einfühlung von der Natur auf die Kunst. Dies war nach Worringers Ansicht jedoch kaum überzeugend gelungen. Er setzte die Abstraktion in Gegensatz zur Einfühlung, die sich nur auf die griechisch-römische und die davon abgeleitete moderne Kunst anwenden lasse. Auch Worringer befürwortete den Paradigmenwechsel vom ästhetischen Objekt zum Verhalten der Betrachterin, das nun zum Untersuchungsgegenstand wurde und wo sich Hegel und die empirische Psychologie treffen konnten: »Die moderne Ästhetik, die den entscheidenden Schritt vom ästhetischen Objektivismus zum ästhetischen Subjektivismus gemacht hat, d.h., die bei ihren Untersuchungen nicht mehr von der Form des ästhetischen Objektes, sondern vom Verhalten des betrachtenden Subjekts ausgeht, gipfelt in einer Theorie, die man mit einem allgemeinen und weiten Namen als Einfühlungslehre bezeichnen kann.« Aber solche Einfühlung sei auf die Natur nur dort anwendbar, wo sie als organisches Leben auf-

Payne 2011, 42

6.1.7.

Vischer 1844, IV, 434

IX.3.2.3.

Payne 2011, 43

Abstraktion und Einfühlung

Worringer 1908, 36

358

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Ebd., 36/35f/48

Ebd., 49/37 Kunstwollen

Ebd., 47 Fontius Martin in ÄGB 2, 135

Meyer 1912, 566/567

Beltracchi 2018, 23 Geoffrey Scott

tritt, nicht aber auf ihren anorganischen Teil. Damit sei aber auch eine Theorie, die von der Einfühlung ausgeht, »für weite Gebiete der Kunstgeschichte nicht anwendbar [ist].« Denn: »Das Naturschöne darf keineswegs als eine Bedingung des Kunstwerkes angesehen werden […]. Diese Voraussetzung schließt die Folgerung in sich, daß die spezifischen Kunstgesetze mit der Ästhetik des Naturschönen prinzipiell nichts zu tun haben.« Bei der Betrachtung der »tote[n] Form« einer ägyptischen Pyramide beispielsweise – ähnlich wie bei der »Lebensunterdrückung« (sic!) von byzantinischen Mosaiken – gelinge die Einfühlung nicht, da müsse man mit dem Gegenteil der Einfühlung, dem Abstraktionsvermögen oder (wie Worringer es nennt) dem Abstraktionsdrang operieren. Mit dem Abstraktionsdrang beginnt die Kunst. Erst bei der höher entwickelten gelangt man zur Einfühlung: »Der Abstraktionsdrang steht also am Anfang jeder Kunst und bleibt bei gewissen auf hoher Kulturstufe stehenden Völkern der herrschende, während er z.B. bei den Griechen und anderen Okzidentalen langsam abflaut, um dem Einfühlungsdrang Platz zu machen.« Das bedeutet nun prägnant zusammengefasst: »Ästhetisch genießen heißt, mich selbst in einem von mir verschiedenen sinnlichen Gegenstand genießen, mich in ihn einzufühlen.« Mit dem von Alois Riegl 1901 formulierten Begriff des Kunstwollens kam Worringer auf eine neue Pointe. Er verschob die Erkenntnisleistung der Einfühlung auf ein aktives Handlungsprinzip. Das Einfühlungsbedürfnis »kann als Voraussetzung des Kunstwollens nur da angesehen werden, wo das Kunstwollen dem Organisch-Lebenswahren, d.h. dem Naturalismus im höheren Sinne, zuneigt.« Auf diese Weise »rückte der Einfühlungstrieb bei den Schöpfern der Kunstwerke in den Mittelpunkt und verdrängte die Aneignung der Werke durch das ›betrachtende Subjekt‹.« Der Architektur- und Kunsttheoretiker Theodor A. Meyer, ein unermüdlicher Kritiker eines jeden subjektiven Idealismus, legte nahe, wie dies zu verstehen ist: »In der Tatsache also, daß wir unter günstigen Bedingungen an bestimmten Höhepunkten des Kunstwerks mit unserer Seele ganz im Kunstwerk sind, liegt die Wahrheit der Einfühlungstheorie.« Meyer hielt die Einfühlung für einen »Ausnahmezustand«, der nur in »ästhetischen Feierstunden« eintritt. Vielleicht gibt eine Beschreibung des famosen Kunstfälschers Wolfgang Beltracchi das, was man unter gelungener Einfühlung bezeichnen könnte, besonders prägnant wieder: »Ich stelle mich vor ein Bild, ich fühle mich in das Bild hinein, ich dringe in das Unterbewusste des Künstlers ein, ohne mir etwas dabei zu denken, ganz intuitiv, und dann weiss ich: So kann ich auch malen: Ich tat also einfach, was ich – und nur ich – tun konnte.« Und er erzählt von seiner ersten Begegnung als Kind mit den Eisvergnügen-Bildern von Hendrick Averkamp: »Und doch evozieren diese Bilder genau eine solche Klangkulisse. [das Gleiten der Schlittschuhe; BB] Grossartig! Ich fühlte mich irgendwie seelenverwandt, ich hörte das Bild, diese klirrende Kälte, ich habe es buchstäblich empfunden.« Der Architekturhistoriker Geoffrey Scott bekannte sich in The Architecture of Humanism. A Study in the History of Taste (1914) zu Lipps’ Einfühlung und plädierte für eine Architektur, die sich nicht von außerarchitektonischen Kriterien bestimmen lässt, sondern von den Kategorien Lipps’: Masse, Raum, Linie, Kohärenz, Kategorien,

359

Die Romantik

die sich (daher der Titel) vor allem in der Antike und Renaissance finden. Demgegenüber listete er vier Trugschlüsse (fallacies) auf, welche die Architektur in die Irre führen würden: romantic, mechanical, ethical und biological fallacy. Damit umfasst er die romantischen Natur- und Mittelalterdiskurse (John Ruskin) ebenso wie den Funktionalismus dort, wo das Ergebnis mechanischer Gesetze bereits Architektur sein soll. Ebenso abwegig erschienen ihm die Projektion von Moralvorstellungen (Morris) und diejenige von biologischen Metaphern wie Wachstum und Absterben auf Architekturstile. Insofern vertrat Scott eine bemerkenswerte und ziemlich singuläre kunstphilosophische Position. »Scott’s Buch beinhaltet daher nicht nur eine tiefgreifende Kritik an fast allen architekturtheoretischen Positionen des 19. Jahrhunderts, sondern antizipiert entscheidende Einwendungen gegen die Theorien der ›Moderne‹.« Freilich blieb seine Stärke die Kritik, die etwa zu einer Barockdeutung führte, die auf weltanschauliche Tiefengründe verzichtete und an der Struktur des Barock interessiert war, eine eigenständige positive Theorie über die von Lipps’ Einfühlung gewonnenen Ansätze hinaus blieb Scott schuldig. Das Konzept der Einfühlung spielt bis heute eine Rolle in der ästhetischen Diskussion. Zwar gibt es stets deutliche Kritik, etwa an ihrem mechanisch-motorischen Erklärungsoptimismus und an der praktisch ausschließlichen Berücksichtigung der Rezeptionsseite. Dass später Autoren wie Adorno und Benjamin oder die Vertreter des Poststrukturalismus weder mit solchen an der alten Hermeneutik hängenden Konzepten noch mit der Verabsolutierung eines introspektiven Subjekts etwas anzufangen wussten, wird kaum überraschen. Dort, wo diese Seite einer hermeneutischen Geisteswissenschaft noch vertreten wurde, etwa bei Wilhelm Dilthey, fiel das Konzept hingegen auf fruchtbaren Boden. Heute findet die Idee der Einfühlung am ehesten noch bei Vertretern der Literatur und des Theaters Anhänger. Dabei wird der neue Terminus Empathie benützt. Beides meint jedenfalls das Einfühlen in die anderen Menschen mit dem Ziel, die Gefühle anderer wie seine eigenen zu empfinden. Das bildet den Schlüssel zum ästhetischen Empfinden.

Kruft 1985, 396

7.0. Die Romantik Die Romantik ist eine Konstellation, deren verwirrende Vielschichtigkeit uns noch heute Rätsel aufgibt. Sie ist wegen dieser Vielschichtigkeit, ja Widersprüchlichkeit außerordentlich schwierig zu bestimmen. Das geht bis zur Empfehlung, den Begriff überhaupt aufzugeben: »Der Begriff romantisch und Romantik evozieren derartige Mißverständnisse und Unklarheiten, ihre national unterschiedlichen Gebrauchsweisen sind so gravierend, daß die Versuche einer Definition ebenso zahllos geworden sind wie jene, die Begriffe ganz aus der Wissenschaftssprache zu verbannen.« Die Romantik ist ein »Aufenthalt im Zwielicht unlösbarer Widersprüche«, bringt Hans-Joachim Müller die Unklarheit auf den Punkt. Versteht man den Begriff als einen »Annäherungsbegriff« und behält ihn bei, dann erinnern Beschreibungen der Romantik an eine Collage verschiedener widersprüchlicher Motive.

Müller Ernst in ÄGB 5, 315 Müller 2013a, 56 Wolf 2002b, 25

360

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

IX.3.8.1. IX.2.1.3.

Im Folgenden wird versucht, die beklagte Widersprüchlichkeit selbst zum Kenn­zeichen der Romantik zu machen und an ihr einen Epochenwechsel in folgendem Sinn festzumachen: Die jedes System sprengende Wirkung von dynamischen Elementen wurde in den philosophischen Erzählungen bis herauf zu Hegel stets durch ein jeweiliges Systemganzes zu entschärfen versucht. In der Romantik schien diese Gleichung nicht mehr zu greifen. Der Systembruch, das Dynamische und Fragmentarische, traten in den Vordergrund, wurden geradezu zum Markenzeichen einer ästhetischen Romantik. Zugleich verunklärte sich der entschwundene alte Systemgedanke, der insbesondere bei Hegel als Ziel der Phänomenologie des Geistes eine mehrdeutige Fassung erhielt. Dieser Verlust wurde zu einer stets entschwindenden Sehnsucht nach dem verlorenen Ganzen verklärt. Stellte diese Sehnsucht die Verbindung zur Vergangenheit her, kam die Romantik im Kleid einer nostalgischen Rückwärtsgewandtheit einher, wurde dem sprengenden Prozesselement eine aufklärerische Dimension zugesprochen, öffnete sie sich auf die Moderne. Insofern ist die Romantik eine kulturelle Erzählung, welche mit den Gehalten der Aufklärung spielte, sie auslotete. Die Philosophie hat eine solche Abwägung mit Adorno und Horkheimer erst im 20. Jh. nachgeliefert. Inhaltlich hat die Romantik ihren Phantasieraum, ja die bis zum Okkultismus reichenden Motive, ebenfalls an die Moderne weiter gereicht und ihr manch belastendes Erbe hinterlassen.

7.1. Kontexte

Schlegel 1800a, II, 317

Safranski 2007b, 49

Im Schoß der Philosophie des Idealismus geboren, setzte die Romantik bewusst einen Gegenpol gegen dessen Systemambition und gab sich eo ipso fragmentarisch. Der Philosoph möge sich »vom kriegerischen Schmuck des Systems« entkleiden und mit Homer und Dante »die Wohnung im Tempel der neuen Poesie« teilen, riet Friedrich Schlegel. Das ist ein Hinweis auf die Tatsache, dass die Romantik erst nach der Aufklärung stattfinden konnte. Sie reibt sich an ihr und führt sie dennoch weiter. Grundlage für dies alles ist eine vorangegangene Befreiung des Individuums aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit«. In der Romantik findet sich beides: begriffsgestützte Reflexion als auch ästhetische Anschauung. Und es findet sich ebenso das Motiv der unabgeschlossenen Offenheit als auch die real erreichbare Utopie. Die bevorzugte literarische Form ist die offene und prozesshafte Form des Romans gegenüber dem in der Klassik präferierten formal geschlossenen Drama. Diese Offenheit reichte bis zur Erzeugung einer eigenen Wirklichkeit. An die Stelle der Mimesis trat die Imagination. Weil sowohl Literatur als auch Kunst zu phantastischer Verrätselung neigten, war die imaginative Einbildungskraft von Autorin wie vom Rezipienten stark gefordert. Zur Romantik gehört eine starke Genieästhetik. Neben das Autorengenie, das nun – so klärt uns Herder angesichts einer befreienden Seereise nach Frankreich auf – endgültig die Regeln aus sich selbst entwickelt, trat der Rezipient. Gemessen an der Tradition der Hermeneutik kann man in solchen Aussagen bereits Anklänge an die spätere Dekonstruktion heraushören. Und dies ist keinesfalls unpassend, artikuliert sich doch hier die ausdrückliche Systemskepsis der Romantik, der Bruch gegenüber einer ein-

361

Die Romantik

deutigen Sinnstruktur. Dazu kommt noch, dass die offene Form andere Genres als nur die literarischen auf dem Weg zum Gesamtkunstwerk mit einbezieht: Malerei und Musik. Die Romantik als kultureller Epochenbegriff ist ein phasenverschobenes Phänomen. Sie ist im Kern eine literarische Epoche, deren Anfänge – als Präromantik bezeichnet – ins 18. Jh. zurück reichten und die als literarische Epoche mit E.T.A. Hoffmann Mitte des 19. Jh.s zu Ende ging. Die Romantik als Kunstepoche begann hingegen erst in den Zwanzigerjahren mit der Malerei und ein Jahrzehnt später mit der Bildhauerei. Die Kunst übersetzte dabei zunächst den Kerngedanken des Idealismus, wonach die reale Welt bloße Erscheinung und Abbildung der wahren geistigen Welt sei. Doch der Idealismus allein war eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Romantik. Der Idealismus umspannte in der Philosophie die Denksysteme von Kant bis zum späten Schelling. Als Kunstform spielte er hingegen eine untergeordnete und kaum schärfer konturierte Rolle. Die Unterscheidung einer dezidiert idealistischen Kunst von einer romantischen Kunst ist eher willkürlich. Am nächsten einer idealistischen Kunst käme wohl Anselm Feuerbach mit seinen unwirklich edlen Geschöpfen in den Erinnerungen an Tivoli (1867) oder Arnold Böcklin in seinen Werken. Novalis hat der ganzen Schwammigkeit solcher Zuordnungen Ausdruck verliehen, indem er über das Tun Feuerbachs und Böcklins schrieb: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.«

Wolf 2002b, 25

5.0.

Novalis, zit. nach Ebd., 26

7.1.1. Der Begriff Romantik Der Ausdruck romantisch fand zunächst als ästhetische Stimmungsbezeichnung Anwendung, bevor er sich zu einem Epochenbegriff verdichtete. Der Terminus selbst scheint im 18. Jh. in England im Umkreis der Landschaftsmalerei und der pittoresken Gartenarchitektur entstanden zu sein und er wurde bereitwillig als literarhistorischer Gegenbegriff gegen das klassisch-antike Regelwerk der Literatur übernommen. Die Kennzeichen des Romantischen ließen sich vom Platonismus Shaftesburys ableiten: Enthusiasmus, Schwärmerei und Melancholie. Dies passte sowohl auf das Erhabene wie das Pittoreske. Lorenz Hirschfeld zählte in seiner Kategorisierung der Gärten auch den romantischen Garten auf. Kant verband die Begriffe des Erhabenen und Romantischen in seiner ursprünglichen Bedeutung des Romanhaften: »In so ferne die Erhabenheit oder Schönheit das bekannte Mittelmaß überschreitet, so pflegt man sie romanisch [C: romanhaft] zu nennen.« John Miltons Paradise Lost (1667), Edward Youngs Nachtgedanken (1743), Thomas Wartons Of the Origin of Romantic Fiction in Europe (1774), das Vorwort des William Wordsworth 1798 zu seinen zusammen mit Samuel Taylor Coleridge verfassten Lyrical Ballads bildeten Inspirationsquellen oder gar eine Programmouvertüre der Romantik. Sie stellten das Romantische (vor allem jenes des Mittelalters)

VII.5.2.4.f.

Kant 1764, A 16

362

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Müller Ernst in ÄGB 5, 316ff

VII.4.2.ff. Schnerb 1983, 108 Beyer 2006a, 30

Nerdinger 1988

Töchterle Karlheinz in Sexl 2004, 63

gegen das Klassische und die Antike. Diese frühe literarhistorische Verortung des Romantikbegriffs wollte ausdrücklich die klassizistische Regelpoetik durch eine romantische Ästhetik ablösen. Ob sich Friedrich Schlegels Unterscheidung von klassischer und romantischer Dichtung darauf zurückführen lässt, ist in der Forschung umstritten. Mit Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, der in seinen Briefen über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1766–1770) Thomas Wartons Buch rezensierte und die Ablösung der Nachahmung der Klassik zugunsten der romantischen Dichtung lobte, und Friedrich Bouterweks Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des 13. Jahrhunderts (1819) fand der Begriff Eingang in die deutsche Literaturgeschichte. Dort wurde der Ausdruck reichlich und ganz unterschiedlich verwandt, eine systematische Beschreibung erfuhr er nie. Die beiden Schweizer Philologen Johann Jakob Breitinger und Johann Jakob Bodmer verdichteten die zahlreichen Bezüge im Zuge eines Streits (im Sinne der alten Querelle) mit Johann Christoph Gottsched Mitte des 18. Jh.s in einen ästhetischen Begriff. Die Botschaft lautete: schöpferische Phantasie gegen Naturnachahmung. Die Positionierung der Romantik gegen die Klassik ist durch zahlreiche Hinweise zwar gut begründbar, trotzdem mag eine klare Abgrenzung namentlich vom Klassizismus nicht gelingen. Auch wenn man den Klassizismus auf einen Stilbegriff einengt und die Romantik als einen geistig-philosophischen Entwurf nimmt, bringt das nicht allzu viel ein. Die Versuche einer klaren Abgrenzung – so scheint mir – stellen im Sinne des alten Querelle-Paradigmas, das hier nur mehr partiell einsetzbar ist, zu sehr die Konfrontation von Romantik, mit ihr dem freien Genie, und einer in den Institutionen oder gar aus politischen Gründen festgezurrten klassizistischen Regel in den Fokus. Der Klassizismus aber ist seinerseits als eine Idealisierung des Klassischen in eine romantische Sehnsuchtstopographie einzuordnen. Die Romantik entwickelte sich daher durchaus »im Schoß einer klassizistischen Tradition.« Und: »Klassizismus und Romantik sind als zwei konkurrierende, zugleich aber auch dialogisierende Diskursformationen der einen ästhetischen Moderne zu werten.« Das kann gelten, auch wenn sich eine kunsthistorische Systematisierung, wie sie 1922 Sigfried Giedion in seiner Dissertation bei Wölfflin versucht hatte (Spätbarocker und romantischer Klassizismus), nicht durchsetzen konnte. Anders war das im englischsprachigen Raum, wo der Ausdruck romantic classicism Verbreitung fand und nach Ansicht mancher Kunsthistoriker bis heute das Verständnis der deutschen Architektur blockiert. Man kann durchaus auch in der romantischen Verehrung des freien Genies eine Brücke zum Klassizismus sehen: »Das führt zur Feier des ›Originalgenies‹, das die Fesseln von Regelpoetik und Musterautoren sprengt und seine Werke allein aus seiner natürlichen Begabung heraus schafft. So konnte nun der scheinbar ›regellose‹ Shakespeare zum Vorbild werden, vor allem aber diejenigen, die alle Dichtungsgattungen, ja, alle Künste und Wissenschaften scheinbar aus dem Nichts schufen: die Griechen. In ihnen fand man die schöpferische Menschennatur ideal verwirklicht, Nachahmung der Natur konnte so zur Nachahmung der Griechen werden.« Das

363

Die Romantik

mag am Beginn des Barock, wo man verbreitet noch an den Formen der Renaissance hing, anders gewesen sein. Gemäß meinem Vorschlag, den Klassizismus ambivalent zu nehmen, ihn in einen an der Renaissance orientierten strengen und einen an der Romantik orientierten schwachen Klassizismus zu teilen, wäre gerade Karl Friedrich Schinkel ein schönes Beispiel, wie Klassizismus und Romantik sich die Hand reichen konnten. Trotz aller Klassikverliebtheit müsste man auch Goethe – wie in der Musik Beethoven – in dieser Weise interpretieren. Die Romantik belebte die Paradoxie gegen die Strenge und Instrumentalität der Vernunft. Bei Herder spielte die Dialektik von Klassik und Romantik ausdrücklich mit den Volksdichtungen und dem seiner Meinung nach regellosen gotischen Geschmack. In Vom gothischen Geschmack (1766) wird dieser durch Tapferkeit, Liebe und Religion charakterisiert, und weil er als regellos galt, wurde er als romantisch qualifiziert. Hegel und Goethe sind dieser Versöhnung »zwischen klassischer Antike und romantischem Mittelalter« gefolgt. Die Vielfalt der Romantik führte konsequent zu einer ebenso vielfältigen und teils auch widersprüchlichen Rezeption, die auf der einen Seite die Blut-und-Boden-Romantik und Nation-Romantik stützen musste, andererseits den Symbolismus und Surrealismus speiste. Der Romantikbegriff diente vor diesem Hintergrund sowohl als revolutionärer Kampfbegriff als auch als Chiffre für eine Restauration, wobei manchmal präziser die Frühromantik eher als aufklärerisch, die Hoch- und Spätromantik hingegen tendenziell als restaurativ angesehen wird.

3.2.2.1.

Müller Ernst in ÄGB 5, 323

Béguin 1937

7.1.2. Das Genie, die Inspiration und die Revolution Wie nun bereits öfters dargelegt, ist es schwierig, den Romantikbegriff abgelöst von politischen Kontexten zu betrachten. Genau das hat Karl Heinz Bohrer in seinem Buch Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne (1989) versucht. Er wollte den Begriff von Belastungen frei machen, um ihn vorurteilsfrei untersuchen und rein ästhetisch buchstabieren zu können. Dabei erhebt sich allerdings die Frage, ob der Begriff nicht auch ästhetisch ausgehöhlt wird, wenn man ihn von jeder politischen Implikation freispielt. Im folgenden soll dieser Gedanke anhand der Aspekte der Romantik, die politischen ebenso wie die ästhetischen, entwickelt werden. Zu letzteren gehört zentral die Frage nach dem Genie. Auch wenn man sich in der Diskussion um die Romantik vom Querelle-Paradigma fernhalten sollte, bietet der Geniegedanke zweifellos eine griffige Abgrenzung der Romantik von der Klassik. Das freie Genie wurde stets gegen die Regel in Stellung gebracht und fungierte sozusagen als kennzeichnendes Motiv für die Romantik. Es ist die aktualisierte Form der alten Genieästhetik, wie sie bereits in der Renaissance am strengen Regelwerk genagt hatte. Die Aktualisierung liegt in der nun erfolgten ansatzweisen völligen Öffnung des Genies. Dieses Genie, das nicht mehr wie das »Demiurgen-Genie« des 18. Jh.s von Vor­ gaben göttlicher Ideen gesteuert war, ist die Figur der Romantik. Die Inspiration dieses Genies ist jetzt areligiös und pantheistisch. Hegel komponierte die Ouvertüre

Geniegedanke

364

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hegel 1797, 234

Goethe 1773a, 28

571 Georg Friedrich Kersting, Caspar David Friedrich in seinem Atelier (um 1812); ANB

Beyer 2006a, 22 Fragment und Ganzes

Safranski 2007b, 71 Herder, zit. nach Ebd., 20

5.1.

Bloch 1951, 59

dazu im Ältesten Systemprogramm: »Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzige wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts.« Goethe projizierte die Idee in die Figur des Prometheus (1773): »Hier sitz’ ich, forme Menschen, / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei, / Zu leiden, zu weinen, / Zu genießen und zu freuen sich / Und dein nicht zu achten / Wie ich!« Die Ikonographie des Genies ist freilich zwiespältig. War das Genie im 18. Jh. manchmal der Kopf einer bunten Betriebsamkeit, wie sie in den barocken Ateliers herrschte, damit eigentlich sehr modern, wird das Genie der Romantik als einsam und träumerisch stilisiert. Es steht sinnend in seinem sauber aufgeräumten Atelier. Zweifellos ließe sich das auch als Bild der alten Inspiration auslegen. In Friedrich Hölderlins Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797– 1799) wird solcher Rückzug literarisch stilisiert. Achim von Arnim gab anonym (mit Unterstützung von Clemens Brentano und Joseph Görres) im Jahr 1808 einige Monate lang eine Zeitung für Einsiedler heraus. Diese Einrichtung der Heidelberger Romantik sollte Menschen dienen, die sich der gelehrten Muße hingeben konnten. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein schuf das berühmte Porträt Goethe in der römischen Campagna (1787). Der Sehnsuchtsblick des Dichterfürsten, der im weißen Mantel auf den überwucherten Bruchstücken eines Obelisken sitzt, schweift in die Ferne einer Landschaft klassisch-antiker Ruinen (obwohl Goethe gar kein Freund von Ruinen war). »Einsamer aber ist selten jemand in einem Porträt erschienen, und nirgendwo sonst hat die an sich ja liebliche römische Campagna so verlassen wie eine Wüste dagelegen.« Doch diese harmlos scheinende verträumte Seite des Genies war nur die eine. Inspiration und Revolution, Poesie und Wissenschaft, Religion und Pantheismus, das Zyklische und Diskontinuierliche – das alles ist nur scheinbar widersprüchlich. Es steht für die Spannung von Fragment und der diesem inhärenten Sehnsucht nach dem Ganzen. Wichtig bleibt, dass sich individuelle Entwürfe unbeeindruckt von einer normierenden und einebnenden Vernunft frei entfalten können. »Unter diesem Blick verwandeln sich Welt und Natur in ein Laboratorium der individuellen Ausdrucksexperimente.« Johann Gottfried Herder schätzte Kants vorkritische Spekulationen über Gott und die Welt als kreativen Impuls, während er die Beschränkung der Vernunft als »leeren Wortkram« abtat. Man könnte in der klaren Begrenzung durch die Vernunft und ihrer Ausrichtung auf einen kausalen Mechanismus das klassische Element sehen, in Fichtes Überschreitung der Grenzen Kants im hypostasierten Ich hingegen den romantischen Anteil. Romantiker lassen sich nicht in ein System sperren, sie sind ständig auf einem Weg, sie brechen auf und scheuen gleichzeitig ein Ankommen. Hegel bot beides an: Er schickte das Ich auf den Weg, »es ist der ›Siebenmeilenstiefel des Begriffs‹, der das Subjekt durch die Welt bringt und Objekt wie Subjekt aneinander belehrt […].« Hegel verrückt das Ziel des Ankommens in schiere Unwirklichkeit.

365

Die Romantik

Das führt uns zur bereits mehrfach angemerkten Beobachtung, dass die Romantik, namentlich die deutsche, nicht selten als Gegenentwurf zur Aufklärung verstanden (und entsprechend denunziert) wurde. Besonders die linkshegelianische Schule und später die offizielle Kulturgeschichtsschreibung der osteuropäischen kommunistischen Länder (diese argumentierte zudem gegen ein von der nationalsozialistischen Propaganda vereinnahmtes Bild der Romantik) haben dies so gesehen. Der Sache nach hat das freilich nie gestimmt. Die Romantik kennt in ihrem aus dem Deutschen Idealismus geerbten utopischen Potential durchaus revolutionäre Ambitionen. Vereinzelt wurde das auch erkannt. Sogar Marx stellte in einem Brief an Engels fest, dass manchmal im »Ältesten das Neuste zu finden« sei. Und der vermeintlich reaktionäre Schelling, der in Berlin von Friedrich Wilhelm IV. als Vertreiber der linkshegelianischen »Drachensaat« installiert worden war, konnte von Pierre Leroux in einem sozialistischen Geist rezipiert werden. In fast allen romantischen Dokumenten bricht die Morgenröte an. Die Revolution, besonders die Mutter aller Revolutionen, die Französische, wird verherrlicht als das Elixier des Aufbruchs in eine neue Welt. Für Friedrich Schlegel war der Idealismus »in praktischer Ansicht nichts anders als der Geist jener Revolution […].« Darin ging es in erster Linie um das Motiv des Neuen aus dem zerstörten Alten. Das ganze Pathos, das Aufklärung und romantischen Sturm und Drang miteinander verbindet, hat Hegel formuliert. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte resümiert er im letzten Kapitel, das Aufklärung und Revolution behandelt: »Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der nous die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang.« Die 11. These von Karl Marx (»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern«) ist in diesem Geist geschrieben, nur war ihm ein Bauen in Gedanken zu wenig, es musste schon ein real-materielles Bauen sein, das er mit der neuen Technik der Maschine verbinden konnte. Entsprechend der Hegelschen Dialektik war für die Romantik das Geschichtsverständnis nicht linear, sondern diskontinuierlich, ein Umschlag von Quantität in Qualität und ein Zerbrechen von Synthese in These und Antithese. Immer war das Revolutionäre, das Bacchantische und Emotionale im Blick. Mag sein, dass bei einer schöngeistigen Klientel die Revolution vor allem ästhetisch verstanden wurde. Friedrich Schlegel will das Leben und die Gesellschaft poetisch machen. Hier wird noch einmal das Systemprogramm des Deutschen Idealismus zelebriert, dieses Protestmanifest gegen die Entzauberung der Welt durch Kants Beschränkung auf Gegenstände möglicher Erfahrung. Eichendorff schrieb, man habe »die Welt wie ein mechanisches, von selbst fortlaufendes Uhrwerk sich gehörig zurechtgestellt […].« Goethe, der Anti-Romantiker, ließ sich über Prometheus aus, aber im Ernstfall rümpfte er doch vor der Massenbewegung, der Mobilisierung des Mobs, der neu-

revolutionäre Ambitionen

Marx 1868, 51 Müller Ernst in ÄGB 5, 336

Schlegel Friedrich, zit. nach Safranski 2007a, 32

Hegel 1840, 529

Eichendorff, zit. nach Safranski 2007a, 194

366

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Jaeger 2005, 23/62/68

4.1.

Westerwelle 1993

en Macht des Primitiven die Nase und zog sich in seine wissenschaftlich-ästhetische Welt zurück. Gegen das »Veloziferische« seiner Zeit, die Industrialisierung und »Überreizung« empfiehlt er die antiken Tugenden der Gemütsruhe. Wird die Klassik hier eine romantische Entschleunigungsstrategie durch die Antike? Oder stellte Goethe das Nordischen, in dem er nur Konfuses und Barbarisches auszumachen vermochte, gegen den Süden, den er verehrte? Schiller, ebenfalls nicht glatt in die Romantik einzugemeinden, hatte angesichts der Auswüchse der Revolution ohnehin Kunst und Ästhetik den Menschen als Befreiungselixier verschrieben. Beim Scheitern der hohen Ideale oder auch schon bei der Verweigerung des revolutionären Engagements schlug die Stimmung um ins Gegenteil, in den Rückzug in das scheinbar gemütliche Ambiente des Biedermeier. Es ist kein allzu weiter Weg von dieser schöngeistigen Epoché gegen die materiellen Spuren der Revolution und der Mobilisierung der einbrechenden Moderne hin zur universellen Ästhetisierung der Lebenswelt in der neuen Empfindsamkeit. Sie verband die Naturbegeisterung Rousseaus, die Wahrnehmungslehre Baumgartens, das in England verbreitete Gefühl des Erhabenen, wie es Edmund Burke formuliert hatte, und die modische Gefühlsempfindung, wie sie in Deutschland seit Goethes Werther zum Ausdruck kam. Aus dem Schöngeist wurde der Dandy und Flaneur des 19. Jh.s. Er ästhetisierte die Welt und schuf dafür die Mode des Jugendstils. Er begeisterte sich für pantheistische und okkulte Symbole, für orientalische Ornamentik und japanische Federzeichnungen. Die Einbildungskraft erschien als pathologische Wahnsinnsformel. Dieser Weg führte in die Moderne.

7.2. Romantik als ästhetischer Begriff

Schnerb 1983, 107 Ludwig Tieck

Nach dem bisher Gesagten könnte man ein Kennzeichen der Romantik gerade in dem offen durchexerzierten Spiel von Widersprüchen sehen. Das ist anders als bisher, wo diese Widersprüche unter dem Schirm eines Systemgedankens entschärft wurden. An die Stelle einer metaphysischen Metaerzählung mit ihrer bindenden Kraft trat eine Pluralisierung von Erzählungen, die die idealistisch-klassizistische als eine davon duldete. Abgesehen von manch origineller Datierung wie derjenigen nach der Titelgebung von Friedrich Maximilian Klinger, dem man für sein Schauspiel Wirrwarr (1777) den Titel Sturm und Drang aufgenötigt hatte, was schließlich als neue Epochenbezeichnung »die Unbändigkeit der neuen Strömung beschwor«, stellt man an den Beginn der literarischen Romantik gemeinhin das geniale Wunderkind Ludwig Tieck und dessen Kunstreisen zusammen mit seinem Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder. In Süddeutschland entdeckten die beiden auf Schloss Pommersfelden die Malerei der italienischen Renaissance und in der Umgebung die Pracht der katholischen Hochämter. Von der Wiederentdeckung der deutschen Volksdichtung, der Dürer-Verehrung, der Doktrin der Nazarener oder der Venusberg-Phantasien des 20. Jh.s: Es gibt kaum etwas Einschlägiges, wozu Tieck nicht Kommentierungen und Anregungen geliefert hätte. Eine begriffliche Präzisierung des Romantikbegriffs durch ihn oder

367

Die Romantik

andere Proponenten gab es freilich nicht. Tieck gab nach dem Tod Wilhelm Heinrich Wackenroders aus dem Nachlass dessen Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst heraus, angereichert durch eigene Beiträge (obwohl Tieck selbst dies bestritt). Darunter waren auch Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796), die mit Anleihen bei Vasari, Winckelmann, Sandrart, Moritz die mittelalterliche Vergangenheit idealisierten. Die Einstellung zur Kunst bildete den exakten Gegenentwurf zu Hegels »Ende der Kunst«. »Kannst Du ein hohes Bild recht verstehen und mit heiliger Andacht es betrachten, ohne in diesem Momente die Darstellung zu glauben?« Tieck thematisierte auch die Musik, die – anders als etwa in der Aufklärung – in der Romantik neben der Literatur eine wichtige Rolle spielte. E.T.A. Hoffmann beschwor in der Musik ein Reich, das den Blick zum Göttlichen zu öffnen vermöge. »Musik als abgeschlossene Schöpfung trat an die Stelle der großen Architektur.« Sie war ein Mittel des Absoluten und wollte sich nicht mehr dem Nachahmungsparadigma unterordnen. Mit dieser Fähigkeit wird sie umgekehrt zum Vorbild für die Poesie, die nun ihrerseits antimimetisch und selbstreflexiv werden musste. Besonders für den 1772 geborenen norddeutschen Adeligen und berühmten Frühromantiker Friedrich von Hardenberg (Novalis) waren Poesie und Philosophie eins, die Philosophie nichts anderes als eine Theorie der Poesie. »Aus der alten Dienerin der Theologie ist eine Dienerin der Ästhetik geworden.« Hegel hatte in seiner Distanz zur Romantik nicht unähnlich argumentiert. Blieb für ihn das Klassische die höchste Form der Versinnlichung, kann in der romantischen Kunstform eine solche Versinnlichung der Idee, jetzt als unendliche Subjektivität gedacht, nicht mehr gelingen. Neben dem Klassischen prägte das Historische und Nationale die Romantik, eine Beimengung, die unter anderem Johann Gottfried Herder, wichtiger Theoretiker der Weimarer Klassik, maßgeblich ins Spiel brachte. Herder teilte, wie im Kapitel VII.7.2. ausführlicher dargestellt, Winckelmanns Begeisterung für die Antike, aber er kritisierte ihn zugleich wegen seiner ungeschichtlichen Verabsolutierung der griechischen Kunst. Durch die Destruktion dieses Maßstabs verlor Winckelmanns kunstphilosophische Theorie ihre normative Gewalt. Politisch begrüßte Herder die Einigung Deutschlands als Voraussetzung einer deutschen Nationalliteratur. Im Anschluss an Herder verstand Novalis Romantik geradezu als Versöhnung von Individualisieren und Universalisieren: »Alles Nationale, Temporelle, Locale, Individuelle läßt sich universalisieren, und so canonisiren und allgemein machen. […] So ist jeder National, und selbst der persönliche Gott ein romantisirtes Universum. Die Persönlichkeit ist das romantische Element des Ichs.« »Romantisieren« bedeutet bei Novalis, dem Gewöhnlichen die Dignität des Absoluten zu verleihen, dem Bekannten jene des Unbekannten und umgekehrt: Das Mystische wird geläufig. Novalis nannte das eine qualitative Potenzierung. »Novalis geht vom Endlichen aus, um darin das Unendliche zu finden, […].« Das wird geradezu zum Kennzeichen des Romantischen: »Dieser Ansatz bestimmt die romantische Denkstruktur: den fragmentarisch-unsystematischen Ansatz, das Oszillieren zwischen Begriffen, zwischen Endlichem und Unendlichem, zwischen Differenz und Identität. Disparate Begriffe

Wackenroder, zit. nach Schreier 1987, 132

Naumann 1990 Benz Richard in PWG VIII, 211 Preisendanz 1967, 60ff Novalis

Klinger Cornelia in ÄKPh, 594

Novalis, zit. nach Müller Ernst in ÄGB 5, 325

368

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Müller Ernst in ÄGB 5, 325 Klinger Cornelia in ÄKPh, 595

Jena und ­Heidelberg

werden durch ein Verfahren unmittelbarer Identifikation oder Analogisierung zur Einheit gebracht.« Aus der Kritik am Bruch zwischen Ich und Welt bei Fichte wird nun bei Novalis eine Sehnsucht nach einem neuen Zeitalter der Harmonie und Versöhnung. Es ist eine Suche nach dem verlorenen Sinn im Zerbrechen der alten Bindungen. »[…] sein Heimweh heißt ›überall zu Hause sein‹ zu wollen.« Ein solches methodisches Vorgehen, dessen neuplatonische Wurzeln offensichtlich sind, ist nun doch eine griffigere Bestimmung der Romantik als allein die der alten Querelle-Typik entlehnte Gegenüberstellung von Regelästhetik und Freiheit des Genies. Eine fassbare Form der Romantik als ästhetischer Begriff bildete sich am ehesten in den beiden Hochburgen der literarischen und ästhetischen Romantik, in Jena und Heidelberg, heraus, insbesondere bei Vertretern des Schlegel-Kreises. Der Begriff des Romantikers erhielt paradoxerweise durch die Kritiker der Bewegung Kontur. Der dänische Schriftsteller Jens Immanuel Baggesen gab 1810 den Karfunkel oder Klingklingel-Almanach heraus, mit dem Untertitel: Ein Taschenbuch für vollendete Romantiker und angehende Mystiker. Besonders der Heidelberger Kreis war Zielscheibe von viel Spott. Dabei ging es allerdings weniger um ästhetische Fragen als um politische. Ganz grob tendierten die Romantiker eher dazu, die Befreiung von Napoleon zu zelebrieren, und neigten zur nationalen Restauration, während bei den Romantik-Skeptikern, bei denen das aufklärerische Denken überwog, darunter Goe­ the und Hegel, das Vertrauen in Napoleons Reformpolitik und die frankophile Bewunderung für ihn (Hegels »Weltgeist zu Pferde«; eigentlich »Weltseele zu Pferde«) noch anhielt. Die ohnehin schon schwierige Einordnung der Romantik in das politische Koordinatensystem wird hierdurch nicht einfacher. Grundsätzlich musste der Romantik die politische Funktionalisierung des französischen Klassizismus durch Napoleon ein Dorn im Auge sein, weshalb ihre Stellung gegen die französische Dominanz verständlich war. Jacques-Louis David hatte Napoleon gemalt – hoch zu Ross die Alpen überquerend. Gegenüber solch künstlerischer Apotheose des Weltgeistes profilieren sich die reflexartige Betonung des deutschen Patriotismus, die Mittelalterverehrung und die christliche Restauration mancher Romantiker. Die zweifelhaften Attribute, die dieser Befreiung mitunter anhafteten, hat Goethe im Titel eines Aufsatzes von 1816 verdichtet: Über christlich-patriotisch-neudeutsche Kunst. In diesem Aufsatz setzte er die Romantik mit einer Krankheit gleich, während das Klassische dem gesunden Zustand entsprach. In der Frage nach der Religion versammelten sich in der Romantik antiklerikale Positionen und klerikale. Der französische Romantiker François-René de Châteaubriand schrieb 1802 eine Verteidigung der Religion gegen die Aufklärung (Le Génie du Christianisme). Darin verherrlichte er die Gotik als eigentlich christlichen und vaterländischen Stil. Victor Hugo popularisierte die mittelalterliche Bauweise mit seinem Roman Notre Dame de Paris (1831). Daneben hielt der romantische Sehnsuchtsblick Ausschau nach exotischen Quellen der Weisheit, die gleichsam eine Erneuerung der alten erstarrten (auch religiösen) Erzählungen Europas bringen sollten. Dabei kam ihm die okkulte Relek-

369

Die Romantik

türe der hermetischen Texte Ägyptens entgegen, die der englische Platoniker Ralph Cudworth wieder ins Spiel gebracht hatte. In seinem The true intellectual system of the universe (1678) hatte er die Theologie der Ägypter pantheistisch als Naturlehre gedeutet. In Frankreich hatte der Feldzug Napoleons, der 1798 bei den Pyramiden über die Mamluken siegte und Kairo einnahm, der Ägyptenbegeisterung einen neuen Schub verliehen. Zwar zog sich Frankreich bereits 1801 wieder aus Ägypten zurück, aber es blieb ein französisches Institut in Kairo zurück, das eine systematische Erforschung von Ägypten und Palästina in Angriff nahm. Dominique-Vivant Denon, der als Diplomat und Zeichner das napoleonische Corps begleitete, fertigte Reisebeschreibungen an: Voyage dans la basse et la haute Égypte, pendant les campagnes du général Bonaparte. Sie erschienen auf Betreiben Napoleons 1802 und lösten ein gewaltiges Echo in Architektur und Innenausstattung der Paläste aus. Orientalische Stoffe waren in der Romantik in allen Sparten der Kunst begehrt. Die »Orientalisten« unter den Malern und Kunsthandwerkern schufen ein eigenständiges Genre. Auch boten diese Themen reiche Möglichkeit, literarische und biblische Vorlagen psychologisierend aufzubereiten. Neben Ägypten trat die Verehrung der arabischen Dichtung und Philosophie, die auch Goethe zu Werken inspirierte und Philosophen wie Lessing zur Formulierung der Toleranzidee diente.

II.2.7. Assmann 1998, 118–130

7.3. Friedrich und August Wilhelm Schlegel Zu den philosophischen Programmschriften der Romantik muss man auch das Älteste Systemprogramm von 1796/97 zählen. Mythologie soll die Philosophie ablösen und der Kunst den Charakter einer öffentlichen Institution geben. Diese Programmatik hätten alle, die man der Romantik zurechnet, unterschreiben können. Teilweise taten sie dies auch ausdrücklich, etwa die Brüder Schlegel, die als programmatische Leitfiguren der Romantik gelten dürfen. Friedrich Schlegel, 1772 in Hannover geboren, beklagte in seiner Rede über die Mythologie deren Verlust und er war sich ebenso sicher wie Hegel und Schelling, dass es eine neue Gestalt der Mythologie geben würde. Sie sollte »aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es soll das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle anderen umfassen.« Mit dem Konzept einer »progressiven Universalpoesie«, die Poesie und Philosophie wieder vereinigen sollte, entwarf er im berühmten Athenäums-Fragment Nr. 116 die Grundlinien eines solchen romantischen Programms. Es ist damit nichts weniger gemeint, als »ein dynamisch fortschreitender Prozeß mit der Kraft zur universellen Poetisierung von Welt und Leben.« Dieses Fragment kann man in eine Reihe mit der Vision des Ältesten Systemprogramms stellen. Die Entwürfe kommen darin überein, dass sie ein kraftvoll gestaltendes Subjekt im Sinne von Fichtes Ich postulieren, das Schranken, wie sie Kant in seinem Ding an sich aufgestellt hatte, ignorieren konnte. In einem pantheistischen Sinn wird das Individuum zum Spiegel des Absoluten – frei nach den von Schiller entlehnten Worten, mit denen Hegel in der Phänomenologie des Geistes abschließend das absolute Wissen oder den sich »als Geist

5.2.3.

Friedrich Schlegel

Schlegel Friedrich, zit. nach Behler C. 1987, 177

Wanning o.J., 15

370

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hegel 1807, 591 Schlegel Friedrich, zit. nach Behler C. 1987, 177

8.1.

Huyssen Andreas in Schlegel 1798a, 231

X.1.3.1. Reschke Renate in ÄGB 5, 415

Ebd., 416

wissenden Geist« beschrieb: »nur – aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.« Aber es war jetzt die Sache einer Metaphorik, eben einer Mythologie, und wurde nicht mehr aus metaphysischer Überzeugung gesprochen. Und das angesichts der Französischen Revolution in einer Zeit, in der die »Morgensonne wirklich emporsteigt.« Friedrich Schlegel war wie sein Bruder August Wilhelm einer der wichtigsten Intellektuellen der Zeit und an den Brennpunkten des zeitgenössischen kulturellen Geschehens. Er war mit der hochgebildeten Tochter von Moses Mendelssohn, Dorothea Veit, verheiratet, deren Kinder aus erster Ehe, Jonas und Philipp Veit, zu den Gründern der Nazarener gehörten. Schlegel, der sich ebenfalls der Erneuerung des Mittelalters verschrieben hatte, mag an der Ideologie der Nazarener nicht unbeteiligt gewesen sein. Er selbst half bei der Rettung mittelalterlicher Kunstschätze, die in von Napoleon okkupierten Gegenden nach der Auflösung von Klöstern zerstört wurden. Seine früheren Beiträge in der Zeitschrift Athenäum, die er von 1798 bis 1800 gemeinsam mit seinem Bruder herausgab, und die intensive Beschäftigung mit dem klassischen Altertum vertragen sich nur schwer mit dem späteren Katholizismus, zu dem er 1808 konvertierte, was letztlich den Bruch mit seinem Bruder 1827 einleitete. Friedrich Schlegel begann seine Überlegungen zur Ästhetik mit Blick auf die aus seiner Sicht vollendete griechische Poesie. Der Optimismus, davon eine ästhetische Norm für die Gegenwart ableiten zu können, schwand bald. Die moderne Kunst orientiere sich an der »Künstlichkeit« und sie strebe ganz zum Unterschied von der Antike zu Neuem und »Frappantem«. Das war mehr deskriptiv als normativ gemeint. Zwar zog die Moderne in diesem Vergleich den Kürzeren, aber es war das Bestreben des Romantikers Schlegel, die Moderne mit Blick auf die ideale Antike zu bewahren und zu erneuern. Hoffnung für ein solches Unterfangen boten aus seiner Sicht die Konzepte von Fichte, Hegel und Goethe. Das Anliegen Schlegels war also »eine künftige Synthese von Klassik und Moderne, die aus dem Zentrum der Moderne selbst entwickelt werden soll.« Auch bei ihm versammelten sich Kontinuität und Bruch – dies zeigte sich entlang der Athenäums-Fragmente. Schlegel entwarf dort kühne ästhetische Theorien über das Fragment, den Witz, die Arabeske, die Philosophie und die Wissenschaft – alles gedacht als Teile seiner »progressiven Universalpoesie«. Am deutlichsten vielleicht kann der Bruch am Verlust des Schönheitsbegriffs festgemacht werden. Schönheit entschwand angesichts des Erstarkens des Hässlichen in einen Sehnsuchts-Raum. »Es wird Modeobjekt mit wechselnden Inhalten, verschleißbare Ware […] Schlegel gibt es auf, objektiv Schönes formulieren zu wollen.« Das sind die unausweichlichen Begleiterscheinungen der Moderne, sodass die Universalpoesie den Preis entrichtet, ohne Schönheit aufzutreten. Und dieser Preis scheint die Typik der Romantik zu treffen: »Der Kontur romantischer Kunst ist unausgesprochen eine andere Schönheit eingeschrieben, eine, die mit Widersprüchen umzugehen weiß.« Darunter subsumierte er die romantische Literatur, die auf Imagination und nicht auf Mimesis beruhte – wieder aus dem 116. Fragment: »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie […] Die romantische Dichtart ist noch

371

Die Romantik

im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen.« Ganz im Sinne Schellings gab es auch für Schlegel nur das Werden, niemals das statische Sein. Die Poesie wird »gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters […].« Mit Worten aus dem Ältesten Systemprogramm könnte man sagen, der poetischen Reflexion sollen Flügel wachsen: »[…] die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.« Wie Schelling und Hegel suchte auch Schlegel »eine Wissenschaft, […] die alle Künste und Wissenschaften in eine verbindet, die also die Kunst wäre, das Göttliche zu produziren […].« Das war in einer Zeit gesprochen, in der Schlegel dem Pantheismus viel Sympathie entgegen brachte. Später klangen die Dinge ähnlich, dann war dies allerdings christlich gemeint. Die Transzendentalphilosophie nahm er freilich in seiner Poetik-Theorie beim Wort. Poesie habe sich in ihrer Illusionskunst stets selbst mit zu bedenken und sich »bis zur Höhe der Philosophie [zu] erheben […]. Darunter verstand Schlegel eine offene Poesie, »auf sich selbst verwiesen, reflexiv und vorläufig.« Eine solche offene Poesie ist nicht nur ein Beispiel einer selbstreferentiellen Kunst, sie steht auch gegen die Auflösung des imaginierenden Ich in ein universell Absolutes. Schlegel stand hier bereits »konsequent auf dem Boden einer nachmetaphysischen Welterfahrung, die die tradierte mimetisch-repräsentative Auffassung von Kunst unmöglich werden läßt: es gibt keine vorgängige Ordnung, die im Kunstwerk ihr Abbild finden könnte […]« Eine solche Leseart scheint angesichts der schwärmerischen Visionen um die Jahrhundertwende zwar gewagt, man kann die These jedoch unterstützen, wenn man sie aus der zeitlichen Differenz betrachtet und sie als konsequente Hinordnung auf diese späte Weichenstellung liest, die in die Moderne weist. Mit dieser Abkoppelung der Kunst von jeder mimetischen, aber auch metaphysischen Ordnung reagiert die romantische Rezeption Hegels auf die knapp vier Jahrzehnte nach dem jugendlich-schwärmerischen Systemprogramm erfolgte Proklamation des Endes der Kunst. Das macht die Bedeutung dieses Paradigmenwechsels auf dem Weg zur Moderne dann doch sehr deutlich. Beinahe parallel zu Hegels Überlegungen über das Ende der Kunst war Schlegel im Bann der präraffaelitischen Ideologie, wo die metaphysische Konnotation wieder aufgenommen wurde. Die romantische Brucherfahrung ist – philosophisch gesprochen – nichts weniger als eine Vorwegnahme der negativen Dialektik eines Adorno. »Nie gelangt das menschliche Subjekt zu einem Absoluten, Unbedingten als festen Besitz. Daran zu erinnern ist vor allem die Funktion der Ironie, die alles Feste verflüssigt und das Element der Nichtigkeit in jeder, auch noch der vermeintlich höchsten Setzung erkennbar macht.« Karl Heinz Bohrer meint mit Blick auf die Irritationen, die Schlegel ausgelöst hat, dass die Sprache der Athenäums-Fragmente, also die Ironie, im 19. Jh. gar nicht verstanden worden sei, sondern erst mit Walter Benjamins Schrift über die romantische Kunstkritik auf die heutige Rezeptionsschiene gestellt wurde. Schlegel hat diese Unverständlichkeit in seinem Aufsatz Über die Unverständlichkeit (1800) selbst noch

Schlegel 1798a, 90f Hegel 1997, 235 Schlegel 1800/01, 105

Schlegel 1797, 152 Töchterle Karlheinz in Sexl 2004, 64 X.2.5.

Klinger Cornelia in ÄKPh, 717

Ebd.

Fragment und Ironie

Bohrer 2000a, 12

372

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schlegel 1800b, 370

Schlegel 1798a, 82

Schuster 1995, 47

Schlegel 1798b, 164

Schlegel Friedrich, zit. nach Thimann 2006, 356 Schlegel Friedrich, zit. nach Behler C. 1987, 199

Wanning o.J., 58 Schlegel 1800a, 324

einmal ironisch gebrochen und sie als Unabschließbarkeit positiv gewertet: »Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde.« Der Ironiebegriff Schlegels gilt als eine der großen Innovationen. Nur von da her ist sein Roman Lucinde zu lesen, der 1799 – eigentlich gegen Systemphilosophie und Wissenschaftslehren gerichtet – einen veritablen Skandal auslöste. Unter der Oberfläche eines freien romantischen Liebesideals, einschließlich der sexuellen Selbstbestimmung der Frau, verbarg sich ein revolutionäres poetologisches Konzept: Die offene, systemlose Form der Literatur wurde zu einem Anstoß für den modernen Roman. Den Sinn des Fragments als literarische Form erläuterte er in seinem 53. Fragment: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben.« Wiederum ist die spannendste programmatische Botschaft der Romantik, die vom Klassizismus in die Moderne führt, in diese Dialektik von System und Systemlosigkeit verpackt. Hier klingt Adornos »Das Ganze ist das Unwahre« an, aber mit deutlicher Grundierung durch eine Sehnsucht, die sich darüber sorgt, was denn wäre, setzte man dies in die Tat. Blickt man auf die Systemseite, dann blickt man auf das verlorene Paradies: »Unter den ernsten Spielen der Romantik ist die Suche nach dem verlorenen Paradies das ernsthafteste und zugleich das heiterste. Wie in einem Brennglas faßt es zusammen, was uns als Inbegriff des Romantischen erscheint. Die Sehnsucht nach etwas Verlorenem, wehmütige Erinnerungen an Ursprung und Einheit […].« Darin klingt an, weshalb die Position Schlegels nicht völlig den Ritterschlag der Moderne erhalten kann. Es liegt an der latenten Sehnsucht nach der Totalität. Immerhin bleibt sie Sehnsucht und wird kein erreichbarer Ort wie jener des Geistes in Hegels Phänomenologie. Ein solches Szenario destruierte das Fragmentarische und die Ironie. Bei Schlegel herrschte statt Systemanspruch Liebhaberei: »Hat man nun einmal die Liebhaberei fürs Absolute und kann nicht davon lassen; so bleibt einem kein Ausweg, als sich selbst immer zu widersprechen, und entgegengesetzte Extreme zu verbinden.« Diese Sehnsucht nach der Totalität äußerte sich bei ganz konkreten Fragestellungen wie in solchen zur Kunst. Friedrich Schlegel fordert 1803 von der Malerei »ganz vollständige Gemälde«. Gemeint war eine Versammlung von Landschaft, Porträt und Stillleben in einem Bild. Jede Zersplitterung führe die Malerei von ihrem poetischen Zweck und von der mystischen Philosophie weg. Es wird kaum überraschen, dass er für die alte Scholastik, die er despektierlich die »aufs Höchste ausgebildete logische Turnierkunst […]« nannte, nicht das geringste Verständnis aufbrachte, musste doch seiner Meinung nach in der Sprache das Bildhafte der Poesie zum Ausdruck kommen. In dieser Zeit hatte Schlegel Jakob Böhme dafür gelobt, dass bei ihm Religion, Philosophie und Poetik miteinander verschmelzen würden. Er verehrte Böhme auch wegen seines Allegoriebegriffs, der damals synonym zum Symbolbegriff verwandt wurde und einem »eher intuitiv als diskursiv verstehbaren Bildtypus« entsprach. »Das Höchste kann man eben, weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen.« Überhaupt scheute er sich nicht, alle möglichen parapsychologischen und spiritis-

373

Die Romantik

tischen Erscheinungen in das Reservoir seiner »christlichen Wissenschaft« aufzunehmen. Aber diese christliche Wissenschaft äußerte sich auch in seinen Visionen eines »mütterlichen Bodens«, ja eines »Himmels« und des »höchsten Heiligen« in seinem Gespräch über die Poesie: »Soll die Kraft der Begeisterung auch in der Poesie sich immerfort einzeln versplittern […] Soll das höchste Heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall überlassen?« Ist das nun Ironie oder Ernst? Und sollte man daran Maß nehmen für die Modernetauglichkeit Schlegels oder gar der gesamten Romantik? Bei solchen Fragen muss man Vorsicht walten lassen. Die Romantik war nie nur das Zwielicht, nachdem das Licht der Aufklärung niedergebrannt und jenes der Moderne entzündet war. Das große Problem an der Moderne war und ist nämlich durchaus ihre »Kehrseite«, die keineswegs frei war von ganz ähnlichen Sehnsüchten und diese teilweise ungeniert in tiefstem Okkultismus zu suchen unternahm. Blieb im Gespräch über die Poesie (1800) die Frage nach Ernst oder Liebhaberei fürs Absolute im Kontext der Mythologie noch offen, griff Schlegel wenig später unmissverständlich auf den christlichen Glauben zurück. Nicht unähnlich wie Schelling in seiner zweiten Münchener Zeit, entwarf er die Vision einer positiven christlichen Philosophie als einer »Erfahrungswissenschaft«. 1804 war Dorothea vom Judentum zum Protestantismus übergetreten, 1808 wechselte sie zum Katholizismus und entwickelte einen Konvertiten oft eigenen missionarischen Eifer. Schlegels Wandel, der in seiner Zeit ab 1808 als Beamter in Wien auch durch Einflüsse aus der katholischen Wiener Romantik um Klemens Maria Hofbauer verstärkt worden war, hatte Konsequenzen für die Sicht auf die Kunst, die nun auf die Darstellung der christlichen Wahrheit verzweckt wurde und wieder einen metaphysischen Sinnrahmen erhielt. Er beklagte den Verfall der christlichen Kunst nach Raffael zugunsten eines reinen Sinnesreizes und der Effekte. In dieser Konzentration auf den religiösen Charakter der Malerei, die ihn unter anderem auch zu einer Verteidigung der vielfach kritisierten Nazarener veranlasste, stand Friedrich Schlegel nun auf einmal gegen die Antikenverehrung und auch gegen die deutlich breitere Basis seines Bruders August Wilhelm. Schlegel vollzog jetzt »jenen Salto mortale in den Schoß göttlicher Barmherzigkeit […] Der Versuch, eine radikal moderne Poesie und Poetik zu entwerfen, war gescheitert und wurde erst im späteren 19. Jahrhundert bei Baudelaire, Rimbaud und Nietzsche wieder aufgenommen […].« Jetzt war es so, dass sich »die Kunst- mit der Religionsphilosophie« berührte. Bei manch zustimmender Reaktion wie etwa von Seiten des katholischen Joseph von Eichendorff, hagelte es Kritik und Spott. Heinrich Heine sah bei Schlegel »lauter tonsurierte Gedanken hervorlauschen.« Die Frage, inwieweit dieser Schwenk bereits in der frühen Zeit angelegt war (also die Frage nach Ernst oder Ironie), ist Gegenstand einer in der deutschen Schlegelrezeption angeregt geführten Diskussion. Lässt sich ein früher (revolutionärer) von einem späten (katholisch-reaktionären) Schlegel scheiden? Der Streit darüber – ursprünglich einer um den »echten Schlegel« – begann gleich nach seinem Tod. August Wilhelm versuchte, das Frühwerk seines Bruders stark zu machen, was Friedrichs Witwe Dorothea erboste und auf den Plan rief, das Spätwerk in den Vor-

Schlegel 1798a, 190

IX.2.1.3.

Schreier 1987, 141ff

Huyssen Andreas in Schlegel 1798a, 244 Wanning o.J., 105 Heine, zit. nach Ebd., 132

374

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

August Wilhelm Schlegel

8.1. Schlegel 1799, 134

6.2.

dergrund zu schieben. Zumindest oberflächlich betrachtet stimmt die Diskrepanz und vom eindrücklichen Aufbruch in der Moderne blieb zuletzt kaum etwas übrig. Der 1767 geborene August Wilhelm Schlegel, Schriftsteller, Philologe, Übersetzer, Indologe, Philosoph, war der ältere Bruder Friedrichs und bis zum Bruch der Beziehung einer der treuesten Weggefährten. 1801/02 hielt er in Berlin öffentliche Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, die, 1884 in Buchform erschienen, den Anspruch einer ausdrücklichen Kunsttheorie erhoben. Die gesamte Theorie entfaltete sich an jener Gretchenfrage, welche den Romantiker-Kreis in Atem hielt: Wie hält man es mit der Religion in der Kunst? Für August Wilhelm Schlegel war diese Sache klar. Große Kunst ist schön und deshalb wahr; nicht aber, weil sie religiös ist. Zwar war auch ihm die katholische Religion näher als die protestantische, aber nur wegen ihrer Sinnlichkeit, die für die Kunst so anregend war. Schlegel teilte die Künste in räumliche Künste für den Seh- und Tastsinn, also Malerei und Skulptur, und in zeitliche Künste für den Gehörsinn, Musik und Literatur. Alle Künste seien aus dem Tanz, der simultan-sukzessiven Urkunst, entstanden. Ansonsten folgte Schlegel in der Beurteilung der Skulptur den Überlegungen Winckelmanns, inklusive der Verehrung des antiken Vorbildes die menschliche Form betreffend. Allerdings bedeutete das keineswegs eine Verehrung der Regelästhetik. Dazu dachte der Romantiker bereits zu modern und zu sehr von einer Wahrnehmungstheorie her. Schlegel heiratete 1796 die verwitwete Schriftstellerin Caroline Böhmer (geb. Michaelis), Anhängerin der Revolution und in der Jenaer Gesellschaft geächtete »Democratin«, die zu einer ebenso klugen wie einflussreichen Förderin der Romantiker-Kreise wurde. Schlegel arbeitete mit Hilfe Carolines an einer (bis heute als Standard geltenden) Shakespeare-Übersetzung. 1803 trennte sich Caroline von ihrem Mann und heiratete Schelling. Man berichtet, dass Friedrich Schlegel, der Caroline überaus schätzte, darüber erzürnter war als der verlassene Ehemann. Aus der Übersetzungsarbeit erwuchsen 1808 die Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur in Wien (publiziert 1809–1811). Die romantische Aufklärung brachte auch eine Absetzung vom idealistischen Pathos Schillers und eine Hinwendung zu Goethe. Der Kreis um die Schlegel-Brüder, der im Haus von August Wilhelm seinen Fokus hatte, diskutierte im Athenäum (1798–1800) ausgiebig über die künstlerische Form, die dialektische Natur und über Werke der bildenden Kunst. Eine besondere Würdigung erfuhren die Landschaften, aber auch Raffaels Sixtinische Madonna. Absicht war, die Kunst zu poetisieren. Die Poesie soll »immer die Führerin der bildenden Künste seyn, die ihr wieder als Dollmetscherinnen dienen müssen«. Künste bleiben also übersetzbar und in diesem Sinn in einer Einheit. Mme de Staël spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Thesen des Schlegel-Kreises in ganz Europa. Vorlesungen von A. W. Schlegel, der Hauslehrer der Kinder de Staëls war, wurden in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt. In ihrem De l’Allemagne (1810 in Frankreich von der Zensur untersagt, 1813 in London und 1814 doch noch in Paris erschienen) stellte Mme de Staël ein geistig freies Deutschland einem durch Zensur und Regelästhetik normierten Frankreich gegenüber. Südliche Länder neigten ihrer Auffassung nach zu Begrenzungen der künstleri-

375

Die Romantik

schen Form, während die nördlichen Länder diese offen gestalteten und die Freiheit des Genies sicherten. Ihr Blick war dabei vorwiegend auf die Literatur und Philosophie, weniger auf die bildende Kunst und gar nicht auf die Architektur gerichtet. Die europäisch gewordene Diskussion führte zu einem (literarischen) Romantiker-Zirkel in Italien. Sogar in Frankreich kam es im Umkreis des von Pierre Leroux 1824 gegründeten und ab 1831 zu einem Sprachrohr der Saint-Simonisten gewordenen Journals Le Globe zu einer vor allem antiklassizistisch ambitionierten Romantik. Eine ähnliche Ausrichtung mit mehr oder weniger Erfolg hatte die aufkommende Romantik in Spanien, Portugal und den slawischen Ländern. Einen schwierigen Stand hingegen hatte sie in England. Dort betrachtete man sie weitgehend als kontinentales Phänomen und die Zuschreibung romantisch für einige englische Dichter des 19. Jh.s blieb stets schwammig. Neben dem Jena der Schlegels, wo mit Novalis, Tieck, Schelling und Schleiermacher die Frühromantik spielte, wurde Heidelberg mit Clemens Brentano und seiner Frau, der Schriftstellerin und Übersetzerin Sophie Mereau, die einzige Frau übrigens, deren Gedichte Schiller in den Horen abdruckte, Achim von Arnim, Joseph Görres zum zweiten Zentrum der Romantik. Joseph von Eichendorff schrieb dort mit Des Knaben Wunderhorn ein Kultbuch. Es war ein großer Mix, der die Romantik umtrieb: »Zwischen Weimar, Jena, Berlin, Königsberg, Göttingen und vielen anderen Orten gehen Briefe, Traktate, Bücher hin und her; ihre Autoren schauen parallel auf das Absolute und auf Napoleon, auf das Paradox, das Fragment und auf Gott.«

7.4. Romantik in der Kunst Der Titel Romantik in der Kunst wird hier nur kurz und auf das 19. Jh. hin orientiert abgehandelt. Das wird dem Thema freilich nicht gerecht. Denn in Wahrheit ist die Romantik in der Kunst eine Klammer, die das 19. Jh. mit dem 20. verbindet. Romantische Gehalte reichen bis weit in die Avantgarde, weshalb wir auch im nächsten Abschnitt mit dem Thema umgehen werden. An dieser Stelle seien einige typische Charakteristika herausgearbeitet. Ähnlich wie in der Literatur ging es auch in der Kunst der Romantik um die Aufkündigung der Regelästhetik durch das freie Genie. Gerade in der Kunst zeigte sich diese Dialektik in all ihrer Vielfalt, in den Sujets ebenso wie in der Stellung der Künstler. Die Romantiker mieden die großen Metropolen, Rom, Paris oder London; das waren in der Rückschau die Orte des Neoklassizismus und das wurden in der Vorschau jene Orte, die sich bei gleichzeitigem Rückzug der Regelästhetik in die geschützte Werkstätte der Akademie, zu Orten der Erregung und des Transitorischen verwandelten. Dazwischen standen die Romantiker, die diesen Orten die Weiten der Landschaft mit der urtümlichen Natur und die Gegenden der Volkskultur gegenüberstellten. Damit sind Orte und Topoi der romantischen Kunst abgesteckt. Sie lassen sich auf das Rückgrat der Romantik zurückführen: das Subjekt. Der Deutsche Idealismus hatte bei seinem rationalistischen Erbe eher beim Pantheismus Spinozas und allenfalls bei Teilen des vielschichtigen Leibniz angeknüpft, aber wenig bei der wissenschaftlichen Ambition eines Konstruierens more

Pochat 1986, 517–520

Meyer Thomas 2012

376

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hegel 1797, 235

Nietzsche 1876, 433

Goethe, zit. nach Hofmann 1995, 38

Schlegel 1800b, 370 5.2.1.

geometrico oder bei einer Erkenntnis clare et distincte durch das cartesianische Subjekt. Das Subjekt verstand sich nicht mehr als Teil einer Maschine. An ihre Stelle muss, dazu rief Hegel im Ältesten Systemprogramm auf, wieder die Poesie treten: Sie »wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit […].« Das Subjekt bot der Seele jetzt einen Imaginationsraum für ihre Höhenflüge, damit sie sich in einer universellen Subjektivität verlieren konnte. Diese bot Raum für das, was Nietzsche mit Blick auf Wagner die »erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst« nannte. Was uns Platon im Phaidros mit dem Bild eines gefiederten Gespanns, das durch die Lenkung des Göttervaters zum Geschick wurde, geschildert hatte, sieht bei den Künstlern der Romantik anders aus. In vielen Bildern sind die in die Landschaft blickenden Menschen mit Rückenansicht dargestellt. Das verweist in romantischer Verkleidung, die der Betrachterin ihre eigene Imagination ermöglicht, auf ein modernes Konzept der Wahrnehmung, die sich im Kopf der Betrachterin bildet. Insofern gilt auch hier, dass die Romantik in der großen Ambivalenz von Mythos und Moderne gesehen werden muss. Sie ist zugleich eine Ambivalenz von Totalität und Individuellem und von Ent- und Ermächtigung des Subjekts. Das trifft sich mit der zweiten Eigenart des 19. Jh.s, der Öffnung zum Prozesshaften. Goethe, zuerst Stürmer, dann Klassizist, stand vielleicht wie kein zweiter erstaunt und fasziniert diesem Widersprüchen gegenüber und wusste noch nicht so recht, wie damit umzugehen sei. Ratlos äußerte er sich zu den Lithografien zum Faust, die ihm Eugène Delacroix zukommen ließ: »Herr Delacroix scheint hier in einem wunderlichen Erzeugnis zwischen Himmel und Erde, Möglichem und Unmöglichem, Rohstem und Zartestem, und zwischen welchen Gegensätzen noch weiter die Phantasie ihr verwegnes Spiel treiben mag, sich heimatlich gefühlt und wie in dem Seinigen ergangen zu haben.« Mit der Verwirrung eines Auditoriums, das den schnellen Revolutionen im Poetischen nicht mehr zu folgen vermochte, spielte auch Friedrich Schlegel mit seiner Ironie, die nur wenige verstanden: »Die neue Zeit kündigt sich an als eine schnellfüßige, sohlenbeflügelte; die Morgenröte hat Siebenmeilenstiefel angezogen.« Das Bedrohliche einer ungezügelten Beschleunigung hatte Schelling zu seiner Identitätsphilosophie bewogen. Sie war ein Entschleunigungsprojekt, eine Rückführung auf die im Zyklus ruhende Dynamik mystischer Anschauung. Goethes Rat zur antiken Gemütsruhe zurückzukehren wiederum war seine persönliche Entschleunigungsstrategie.

7.4.1. Das Subjekt in der Spannung von Entmächtigung und Ermächtigung In der Offenheit der Dialektik von Beschleunigung und Entschleunigung sowie in der Entmächtigung und Ermächtigung des Subjekts könnte man eine wegweisende Weichenstellung sehen, die in der Kunst deutlich vor der Philosophie praktiziert worden ist. Die Romantik zeigt die Dialektik offen, spielt mit ihr, macht sie auf ihre Widersprüchlichkeit transparent. Genau diese Offenheit, die nicht mehr durch ein sie aufhebendes Systemganzes entschärft wird, findet man in der bildenden Kunst. Entmächtigt wird das Subjekt, indem das einzelne Individuum den Imaginationen des totalen Subjekts unterliegt, also – mit Hegel gesprochen – dem absoluten

377

Die Romantik

Weltgeist, der im Individuum agiert. Es ist beispielsweise zurückgeworfen auf das Gefühl des Erhabenen. In der Literatur erfreute sich das Trauerspiel großer Beliebtheit. Es schildert die Tragik der Unentrinnbarkeit vor den Mächten des Schicksals. Die romantische Kunst ist früher als die Philosophie dabei, Hegels System sozusagen mit seinen eigenen Mitteln zu dekonstruieren, die Dialektik nicht als positive für einen dynamischen Aufbau des Systemganzen zu nehmen, sondern als negative. In diesem Sich-zur-Wehr-Setzen gegen die Entmächtigung des Individuums durch das System findet ein starkes, mächtiges Subjekt seine Rolle, das jetzt in dieser Dialektik das alte metaphysische Systemkonzept abschüttelte. Zugleich schüttelte es die Regelästhetik ab, welche die Natur mit Verweis auf eine göttliche Ordnung einer geometrischen Domestikation unterworfen hatte. Damit wird das im wahrsten Sinne des Wortes Gott-verlassene Individuum klein gegenüber dem Agieren der Gewalten, dem Übermächtigen der Natur, die jetzt weit entfernt ist von ihrer Rationalisierung und Domestikation in der französischen Gartenkunst. In England, wo die Romantik zwar als deutsches Phänomen betrachtet wurde, trugen Burkes Gedanken über das Erhabene zur Romantik bei. Darin verweigerte sich das Bild der Natur auch der Idealisierung Rousseauscher Prägung. Caspar David Friedrich hatte in seinem Bild Gartenterrasse (1811/12), das einen englischen Garten zeigt und während der französischen Besatzung gemalt wurde, ganz bewusst die Vision einer Welt der Freiheit gegenüber der französischen Regulierungspolitik entworfen. William Turners Schiffbruch (1805), Caspar David Friedrichs Eismeer (Gescheiterte Hoffnung; 1824; ihm folgte Schiff im Eismeer; 1798), das ein von Eisschollen zermalmtes Schiff zeigt, schlagen einen nochmals anderen Ton an, nämlich jenen der »Verlorenheit des Menschen in den Gewalten der Natur […].« Es ist das Kippen in die Entmächtigung des Subjekts und diese starken Bilder sind eindrucksvolle Zeichen der Absurdität, der Welt in klassizistischer Attitüde ein Ordnungsraster aufdrücken zu wollen. Weil sich die Schiff-Metapher für solch dramatische existenzielle Erzählungen besonders eignet, hat sie Hans Blumenberg zu einem geistreichen Essay über das Subjekt vis-á-vis des Bedrohlichen angeregt. »Es [das Erhabene; BB] verbindet angesichts der mächtigsten Erscheinungen der Natur das Bewußtsein von Selbstgefährdung und Selbststeigerung, indem es sich aus der Identität mit dem Lebenswillen loslöst und die Ruhe der Anschauung trotz der Bedrängnis der nackten Existenz erlangt.« Fassungslosigkeit im Gefühl des Erhabenen einerseits, pantheistische Einswerdung mit der ebenso übermächtigen Natur andererseits – wie in einem Vexierspiel mag man auf die Paarung Mensch und Natur blicken und die bei den Künstlern

Rauch Alexander in Toman 2009, 321 572 Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818); 573 Caspar David Friedrich, Schiff im Eismeer (1798); KHH Blumenberg 1979, 58f

378

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schmied 1995, 33

Hegel 1797, 235 IV.7.2.

Neidhardt 1995

verschiedenen Wahrnehmungen in den Vordergrund treten lassen: »Darum steht bei Friedrich immer die Landschaft im Mittelpunkt, bei Delacroix der von seinen Gefühlen überwältigte Mensch.« Das ist richtig, ich wüsste aber nicht zu sagen, was daran falsch wäre, wenn man die Zuordnung genau umgekehrt vornähme. Die Botschaft scheint zu sein, dass das Subjekt jede Gestaltungskompetenz einbüßte, die cartesianische ohnehin, aber auch jene Lenkung des Genies aus einer göttlichen Kosmosordnung. Die Ermächtigung des Subjekts hatte nun – so könnte man das weiterspinnen – aus sich selbst zu erfolgen, nicht durch externe Faktoren. »Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.« Dieser pantheistische Spruch ist zugleich einer der Aufklärung. Auch die Porträtkunst der Romantik lässt einen Blick zu auf ein Subjekt in seiner Ambivalenz von Vereinsamung – angesichts der verlorenen bergenden Systemwelten –, die zugleich Voraussetzung visionärer Kreativität ist, auf der einen und der Eingemeindung in die allenthalben sprießenden Gemeinschaften Gleichgesinnter auf der anderen Seite. Wenn die Überlegung richtig ist, dass das Subjekt aus sich selbst heraus agieren muss, dann setzt die Ermächtigung die Einsicht in die Grenzen, in die Entmächtigung, voraus. Daher zeigt die Kunst auch die Macht des Subjekts in der Geschichte, wo es zum Weltrevolutionär werden kann, wie es Eugène Delacroix so visionär entworfen hat (Die Freiheit führt das Volk an; 1830). Die Macht der Geschichte verkörpern allgemein der Heros und das Genie. Heros und Genie sind wie der Träumer in der Einsamkeit inspiriert, sie sind keine Zentralmonaden eines riesigen Uhrwerks mehr, wie es die auf den König ausgerichteten Anlagen nach dem Muster von Versailles noch imaginiert hatten. Das Genie zeigt hier, dass es sich aus den Fängen einer prästabilierten Harmonie, damit aus denen der klassizistischen Regel befreit hat und selbst den Gestaltungswillen verkörpert. Der lange Streit um die Genieästhetik kippt in der Romantik in die Befreiung des Genies aus den Vorgaben einer Harmonievorstellung. Dass das Ausloten der Quellen dieser Inspiration ein weites Feld war, versteht sich von selbst. Aber die Tendenz zur Autonomie des Subjekts ebnete jedenfalls den Weg in die Moderne.

7.4.2. Die Natur als Chiffre der Seele

Philipp Otto Runge

Runge, zit. nach Büttner 2010, 24; Thimann 2006, 358

Die oben allgemein angedeutete Leseart der Romantik als ihrem Wesen nach widersprüchlich lässt sich in der Kunst besonders gewinnbringend durchexerzieren. Dazu gehört die Bandbreite des Naturthemas. Philipp Otto Runge war der große Visionär einer Natur, die nichts Mechanisches an sich hatte, sondern zum Behälter innerer Stimmungen in der großen Seelenlandschaft von Betrachter und Künstler wurde. Mit Eindrücken aus der Literatur der Frühromantik, namentlich Ludwig Tiecks, scheiterte er als Historienmaler. Mythologische Sujets reichten ihm nicht mehr, weil »wir keine Griechen mehr sind«. Also »drängt sich alles zur Landschaft.« Das schrieb Runge im Februar 1802 an seinen Vater. Landschafts- und Naturdarstellung erschienen ihm als Orte des Gefühlsausdrucks. Die Landschaft, wohin »alle schöne Kompo-

379

Die Romantik

5.2.1. Thimann 2006, 358

3.2.3.2.1.

Mix 2011, 23f Landschafts­ malerei

574 Philipp Otto R­ unge, Der Tag, Kupferstich nach ­Zeichnung (1805); KSK



sition« tendiere, eröffne uns einen Blick in jene Weltseele, in der Gott und Mensch zusammenkommen und die der mit Runge befreundete Schelling so ausführlich beschrieben hatte. »Runges Plädoyer für die Landschaft ist dabei einerseits Symptom der allgemeinen Aufwertung der Gattung um 1800, markiert andererseits aber auch die Schwelle zu ihrer ideengeschichtlichen Entgrenzung.« Der Sache nach treffen diese Äußerungen den entscheidenden Punkt. Dennoch sollte man bei Runge beim Naturbegriff bleiben, mit Landschaft im herkömmlichen Sinn haben seine Darstellungen wenig zu tun. Vielmehr trifft das zu, was von John Ruskin kritisch als pathetischer Betrug (pathetic fallacy) bezeichnet wurde, nämlich wenn die Natur plötzlich menschliche Züge erhielt. Runge thematisierte »Licht und Zeit als existenzielle und eschatologische Chiffre […] In Runges Werk fügen sich ausgedehntes Wissen um die Antike und die christliche Kunst, Vertrautheit mit den in Kopenhagen und Dresden studierten europäischen Maltraditionen, umfassende Kenntnis der zeitgenössischen ästhetischen Leitdiskurse sowie ein waches Interesse für die durch Claudius und Herder vermittelte indische Mythologie zu einem Bildkomplex zusammen […].« Um 1800 hatte die Landschaftsmalerei viele Aspekte. In ihr versammelten sich der alte arkadische Landschaftsmythos, das wissenschaftliche Naturstudium im Sinne der anbrechenden Naturwissenschaft, die Evokation des Erhabenen etwa bei Joseph Anton Koch und eben die neue idealistisch-romantische Weltseelekonzeption – und schließlich malte Georg Ferdinand Waldmüller die Natur frei von all diesen Evokationen als gemütlichen Ort der Sommerfrische. Rainer Maria Rilke schrieb 1902 in einem Essay über die Künstlerkolonie Worpswede, dass die Malerei der Natur und der Landschaft Gelegenheit bot, »gerade das Innerste und Eigenste, das Allerindividuellste, bis in seine feinsten Nüancen hinein, sinnlich und sichtbar zu sagen.« Was mit Petrarca am Mont Ventoux begann und von Hegel theoretisch vorgedacht wurde, gilt nun für die malerische Behandlung der Landschaft. »Natur als Landschaft ist Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes.« Sie ist Imaginationsraum des Subjekts. Hält man es mit Hegel, wäre die Landschaft überhaupt erst durch diese Aufwertung darstellungswürdig geworden. Die Landschaftsmalerei am Beginn der Moderne war damit, gemessen an der Hierarchie der Akademie-Sujets, zweifach anstößig: einmal vom Sujet her und zum zweiten, weil das Bild keine Nachahmung, sondern Ausdruck subjektiver emotionaler Befindlichkeit war. In einem Brief an seinen Bruder Daniel beschwor Runge diese ewige Seele, die Alleinheit und die unergründliche Ewigkeit Gottes in der Natur. Selten sind uns anderswo so intensive Dokumente der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies erhalten: Zurück zur Kindheit, zurück zur Innigkeit des Gefühls, zurück zur Ursprünglichkeit von Schöpfung und Schöpfer – das sind die programmatischen Leitlinien seiner Kunst, die allesamt wegführen von der Kälte der aufklärerischen Normen und damit auch vom Klassizismus. Die Tageszeiten wurden Runge zu einem Gleichnis einer dynamisch gedachten

Rilke 1902, 69 Ritter 1963, 146

380

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Runge, zit. nach ­Lankheit 1965, 154 Lankheit 1965, 153

Schuster 1995, 47

Schleiermacher, zit. nach Lankheit 1965, 166 Schlegel Friedrich, zit. nach Safranski 2007a, 135 Hegel 1797, 236

Schöpfung: »aufblühen, zeugen, gebären, wieder versinken« – so schreibt er an Georg Büchner. In der Tat hörte Runge den Puls des »ewigen Rhythmus des Weltalls«. Unschwer tönt hier im Hintergrund die dynamische Naturauffassung Schellings an, welche für die Romantik ein wichtiges Element war. Es waren Allegorien und Schmuckelemente wie Arabesken, ins Phantastische kippende Figurenkonstellationen, mit denen Runge die Geheimnisse der Natur umschrieb. Clemens Brentano applaudierte ihm dafür, dass in seinen Bildern, (in den Vier Tageszeiten) die Arabeske wieder ihren Auftritt feierte und dass er in ihr eine Hieroglyphe sah und diese als mythische Einheit von Schrift und Bild deutete – als eine gemalte Poesie. Wie Brentano das verstand, zeigen am besten die von ihm selbst angefertigten Illustrationen seines Märchens Gockel Hinkel Gackeleia (1838), die ihn als Mitbegründer der Moderne ausweisen könnten: »Die Realität dieser aus disparaten Fundstücken und Überresten zusammengesetzten künstlichen Paradiese, die Brentano in gleichsam proto-surrealistischen Collagen aus Bildmotiven von Hieronymus Bosch, Albrecht Dürer und Philipp Otto Runge selbst illustriert hat, sie wird mit Entschiedenheit gegen alle konventionellen Vorstellungen von Wirklichkeit und vernünftiger Bildung verteidigt.« Lange vor Freud und Jung werden Seelen ausgelotet, das Unbewusste beschworen und archetypische Symbolwelten gemalt. Kaum könnte eine Bemerkung besser zum Identitätssystem Schellings und zu Runges Weltseelenkonzept passen als jene Schleiermachers, dass »das Anschauen des Universums […] die allgemeinste und höchste Formel der Religion sei.« Die Religiosität der Romantik war pantheistisch. Aber in den alten Pantheismus mischte sich die aufgeklärte Macht des Subjekts, das den Pantheismus zu seinen Bedingungen buchstabiert: »Frei ist der Mensch, wenn er Gott hervorbringt!«, schrieb Friedrich Schlegel in den Ideen und die deutschen Idealisten formulierten im Ältesten Systemprogramm: »[…] diese neue Religion […] wird das letzte größte Werk der Menschheit sein.«

7.4.3. Die romantische Kunst und Architektur als Wegbereiter der Moderne In der Romantik wird jene Gemengelage sortiert, die sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als Moderne darstellt. Es ging um offene Ablehnung der Regelästhetik, um Unterminierung jeder rationalistischen Systemkomponente. Zwischen Prozess und System lief das Spiel, wie es der Deutsche Idealismus vorgedacht hatte, nun ganz offen. Und so wurde auch das System auf seine Identität befragt und auf eine Vielfalt von Bedeutungen geöffnet. Sie reichte von einer diffusen Verehrung einer »Freiheit und Gleichheit der Geister« über die pantheistische Naturdeutung oder einer religiös-restaurativen Stimmung bis zur ironischen Brechung der Wirklichkeit bei Schopenhauer. Etliche dieser Motive finden sich in den Konzepten der Moderne wieder. Den Gegensatz von Stadt und Land artikulierte ein Diskurs über den industriellen Fortschritt. Es war das alte Narrativ von der Erregung der Metropole auf der einen und der einsamen Zurückgezogenheit als Raum für Inspiration auf der anderen Seite. Beides fand Anhänger in der Moderne: das Lob der Zurückgezogenheit

381

Die Romantik

und die Feier des Dynamischen. Die Genieästhetik wurde einfacher in dem Sinn, dass der ideologische Überbau einer göttlichen Vormundschaft über das Genie zerbrach. Das Genie wurde auf seine eigene Subjektivität zurückgeworfen. Ansatzweise – ich erwähnte die Rückenansichten der dargestellten Menschen in der Landschaft – wird der Weg in eine Rezeptionsästhetik angezeigt. An vielen Künstlern, die die Romantik in die Moderne trugen, lassen sich die Ambivalenzen verfolgen. Einer von ihnen war Franz Marc. Die Farbe Blau, die Novalis in seinem Heinrich von Ofterdingen 1800 in Gestalt der blauen Blume in die Romantik gebracht hat, spielte eine große Rolle für Marc. Die 1911 gegründete Avantgardebewegung des Blauen Reiter griff auf dieses spirituelle Symbol zurück. Das oberbayrische Voralpenland wiederum steht sinnbildlich für die Flucht aus der Stadt, die zur Metapher für Rationalität und Effizienz, für Diesseitigkeit und Technik, geworden war. Wie die französischen Künstler der Moderne Paris verließen und die Akademie durch den Wald von Fontainebleau ersetzten, taten es auch die deutschen Künstler, die ihre Kolonien in der Ursprünglichkeit der Natur begründeten. Paradies gegen Zivilisation! Freilich war das ein Trugschluss. Die Ungleichung funktionierte nur aus der Konfrontation mit der Stadt. Die überregionale Bedeutung, die Marc als organisatorisch begabter Manager für seine Bewegung anstrebte, war nur in der Stadt zu gewinnen. Die erste Ausstellung des Blauen Reiter fand 1911 in der Modernen Galerie in München statt und der Almanach Der Blaue Reiter erschien 1912 ebenfalls in München. Der Name rührte vom logo-ähnlichen, die Dynamik ausdrückenden Reiter her, den Kandinsky für den Einband geschaffen hatte. Der Spannung von Natur und Stadt war nicht zu entkommen: »Unser modernes Leben und Denken ist so durch und durch futuristisch vom Telefon bis zu den X-Strahlen.« Zudem hatten die Städter ihre liebe Not mit dem Leben in der Provinz. Bald gewann die Abneigung gegen die Grobheit der bäuerlichen Gegenkultur Oberbayerns die Oberhand. Franz Marc klagte, dass er zunehmend das Grausame in der Natur entdeckt und daher zur Abstraktion gedrängt werde: »Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir mit jedem Jahr mehr häßliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst jetzt plötzlich die Häßlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewußtsein kam.« Dem Schauerlichen und Schrecklichen, wie es das Gefühl des Erhabenen auslöste, den Erschütterungen der Seele, konnten und wollten die Modernen mit Blick auf die aufgeklärte unpathetische Vernunft widerstehen. Die Nachtseite dieser Vernunft gipfelte im großen Thema von Tod und Weiterleben, das von Runge so ausufernd bearbeitet worden ist. Tod und Leben sind jetzt nichts anderes als die Tagesund Jahreszeiten des einen Lebens. Die Nacht ist der Ort des Okkulten, der Visionen, des sternübersäten Himmels, der damals ohne Licht- und Luftverschmutzung noch viel beeindruckender leuchtete als heute, und des Poetischen, was sich alles gegen die »hellwache Heuristik der Aufklärung« wandte. Es kann nicht erstaunen, dass die Romantik vom nationalsozialistischen Regime in den Dienst genommen werden konnte. Der romantische Blick zurück in die Geschichte der Mythen und Kulturen, die Verherrlichung des Freiheitskampfes von Völkern auf der Suche nach der Heimat konnte revolutionär oder rückwärtsgewandt

Franz Marc

IX.1.2./IX.2.1.2.

Marc in Lankheit 1978, 119

Marc Franz, zit. nach Kliche Dieter in ÄGB 3, 60

Tod und ­Weiterleben

Keisch 1995, 538

382

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Eberlein 1940, 3f

Marc, zit. nach Schuster 1995, 56 Rosenblum 1975, 153

Schlegel Friedrich, zit. nach Schulz-Hoffmann 1995, 507

Marc in Lankheit 1983, 267

IX.1.2.

interpretiert werden. Caspar David Friedrich hatte in der Stimmung eines Stadtflüchtigen den Norden verherrlicht und die Sehnsucht nach dem südlichen Arkadien verspottet. Einhundert Jahre nach dem Tod des Künstlers wurde 1940 in wirren Gedanken eine nordische Kunst beschworen, die gleich den »blonde[n] Hellene[n] der vorsokratischen Zeit« mitumfasste, und damit die deutsche Volkskunst, den gotisch-germanischen Geist mit der griechischen Welt verband: »[…] denn Griechen und Deutsche, beide Kinder der nordischen Heimat, sind die schöpferischen Völker unsrer Geisterwelt. […] Wenn auch mit Goethes Tod das jüdische Zeitalter begann und der letzte Ansturm der fremden Rassen […] dennoch kam die Rettung, der Führer, der Sieg und der Siegeszug der alten nordischen Bewegung.« Runge hatte im Jahre 1809 einen Umschlag für die Zeitschrift Vaterländisches Museum mit dem Bild eines gefallenen Soldaten unter der Erde versehen, über dem die Witwe mit ihrem Kind einen Pflug führt. Ein Bild, das schon damals nur in überarbeiteter Fassung zugelassen wurde. Der Tod wird hier zum fruchtbaren Acker eines neuen Lebens. Franz Marc war von solchen Gedanken fasziniert und in geistiger Verwandtschaft mit Platon hielt er fest: »Mit dem Tode beginnt das eigentliche Sein, das wir Lebende unruhvoll umschwärmen wie der Falter das Licht. Die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein, nach Befreiung von den Sinnestäuschungen unseres ephemeren Lebens ist die Grundstimmung aller Kunst. Ihr großes Ziel ist, das ganze System unserer Teilempfindungen aufzulösen, ein unirdisches Sein zu zeigen, das hinter allem wohnt, den Spiegel des Lebens zu zerbrechen, daß wir in das Sein schauen.« Kunst wurde ihm eine Katharsis, »die mit der Leidenschaft religiöser Erneuerung jenen Materialismus bekämpfen konnte, von dem Marc die Welt beherrscht sah.« Es ist ein erschreckendes Dokument einer Flucht aus dem körperlichen Hier und Jetzt in eine neue Welt, deren Gestalt ebenso unklar ist wie die Konsequenzen des Umgangs mit unserer Welt. Ein Endzeitpessimismus wird umgemünzt in die Hoffnung auf eine kathartische Verwandlung und Erneuerung. Ganz allgemein entstand aus der uralten Dialektik von Tod und neuem Leben vor solchem Hintergrund ein Antrieb zur Revolution, ja gar der Verherrlichung des Krieges als ein reinigendes Feuer. »Nur in der Mitte des Todes entzündet sich der Blitz des ewigen Lebens«, notierte Friedrich Schlegel in seinen Fragmenten. Was den Krieg betrifft, schreibt Marc an den entsetzten Kandinsky folgende Zeilen: »[…] mein Herz ist dem Krieg nicht böse, sondern aus tiefem Herzen dankbar, es gab keinen anderen Durchgang zur Zeit des Geistes, der Stall des Augias, das alte Europa konnte nur so gereinigt werden, oder gibt es einen einzigen Menschen, der diesen Krieg ungeschehen wünscht?« In der Hölle dieses ersten industriell geführten Krieges hat Marc kurz vor seinem Tod die Sinnlosigkeit erkannt und in einem Brief eingeräumt, inzwischen ginge es ihm nur mehr ums Überleben. 1916 ist Franz Marc sechsunddreißigjährig vor Verdun gefallen. Weniger martialisch wurde Marcs Vision der Umsetzung des verlorenen Paradieses in der naiven Malerei eines van Gogh oder Paul Gauguin aufgenommen, die naturmystische und religiöse Visionen beschworen, besonders aber von Robert Delaunay, in dem er einen engen Geistesverwandten fand. Marcs himmelstreben-

383

Die Romantik

der Turmbau der blauen Pferde ist ein romantischer Fingerzeig zum Paradies, aber zugleich ein Meilenstein auf dem Weg zur Abstraktion. Noch weiter ging die Forderung im Almanach nach rein geistiger, also symbolischer Kunst, die auf die materielle Seite, die Marc immer unheimlicher und hässlicher erschien, verzichten konnte. Runge hatte seine Suche nach dem verlorenen Paradies in das Bild der Hülsenbeckschen Kinder verschlüsselt. Da erhält sogar die Kunst den Status des nur Vorläufigen, eigentlich so etwas wie – in Blochs Worten – das Hereinscheinen des Paradieses in die Welt, was die Kunst zu einem Vor-läufigen im besten Sinn des Wortes macht. »Wir suchen den Weg dahin ordentlich fahrbar zu machen«, schrieb Runge 1802 während der Arbeit an den Tageszeiten an Tieck. »Runges Kunsttheologie zielt mithin auf die selbstschöpferische Wiederherstellung des Menschen als gottebenbildliches Wesen und so auf die Wiedergewinnung des verlorenen Paradieses am Individuum wie in der Gesellschaft und damit zugleich auf das Ende der Kunst.« Das Revolutionäre, der Zukunfts- und Technikoptimismus der Romantik speiste den italienischen Futurismus eines Filippo Tommaso Marinetti ebenso wie die Bewegungen der Brücke-Maler, den Blauen Reiter, die rheinischen Expressionisten, die auf die Futurismus-Ausstellungen mit optimistischen Zukunftsentwürfen reagierten, was die Technik oder die Großstadt betrifft. Die gegenläufige Seite zu Zukunftsund Fortschrittsverherrlichung war die sehnsüchtige Rückschau in die Vergangenheit, ein Element, das die Romantik einer Instrumentalisierung durch rückwärtsgewandte Ideologie öffnete. Die Märchen in den großen Sammlungen (Jacob und Wilhelm Grimm) sollten, getarnt als vermeintlich mündliche Überlieferung deutschen Volksguts (in Wahrheit flossen schriftliche Quellen ein, die Märchen stammten auch aus italienischen, französischen und orientalischen Sammlungen), die Volksidentität festigen. Insbesondere die Architektur zelebrierte die nationale Identitätsstiftung – ob das Monumento Vittorio Emmanuele in Rom (1885–1911), die Freiheitsstatue in New York (1871–1884) oder Leo von Klenzes Walhalla (1830–1842). Dieser mit verschiedenen Zitaten angereicherte, einem griechischen Tempel nachempfundene Bau liegt an der ostwärts, also zu den vermeintlich gemeinsamen Ursprüngen der Völker fließenden Donau und evozierte das Blühen und Absterben, Tag und Nacht eines Volkes. So wollten es jedenfalls Friedrich Schlegel, Johannes von Müller und Joseph Görres aufgrund ihrer Forschungen gedeutet wissen.

7.5. Vormärz und Biedermeier Der Karlsruher Dichter Joseph Victor von Scheffel schuf in zwei Gedichten den Typ des Spießbürgers unter den Namen Biedermann und Bummelmaier. Die Gedichte erschienen 1848 in den Fliegenden Blättern. Aus den beiden Namen konstruierten

575 Franz Marc, Der Turm der blauen Pferde (1913)

IX.2.1.2.

Runge, zit. nach Schuster 1995, 53

Schuster 1995, 53

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Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Böhmer 1968, 10

Nipperdey 1998, I, 285

Kohle 2008, 16

Ludwig Eichrodt und der Arzt und Schriftsteller Adolf Kußmaul die fiktive Figur des Spießbürgers Gottlieb Biedermaier. Kußmaul hatte in der väterlichen Bibliothek seines Freundes Heinrich Goll in Karlsruhe Die Sämtlichen Gedichte des alten Dorfschulmeisters Samuel Friedrich Sauter gefunden. Der Dorfschullehrer und Volksdichter Sauter schrieb über Menschliches-Allzumenschliches. Es waren »Gelegenheitsgedichte ernst- und scherzhafter Art für alle erdenklichen Anlässe und Lebenslagen, Sprüche, Rätsel, gereimte Rechenaufgaben und Lektionen für den Religionsunterricht sowie Kegelregeln.« Kußmaul und Eichrodt veröffentlichten, angeregt durch diese Trouvaillen, zwischen 1855 und 1857 in den Fliegenden Blättern Parodien auf die Sauterschen Gedichte unter dem Pseudonym Gottlieb Biedermaier. Der Ausdruck (in neuer Schreibweise) wurde zu einem Epochenbegriff – präziser einem die eigentümliche Wohnkultur der Vormärzzeit kennzeichnender Begriff –, der den Geruch des Restaurativen in der Zeit zwischen Wiener Kongress 1815 und dem Revolutionsjahr 1848 umfasste. Es ist der Gegenbegriff zu jenem des Vormärz, der die revolutionäre Erwartung im Jahrzehnt vor der Märzrevolution 1848 in einen Begriff fasste und als neue Stimmungslage die Restauration zwischen 1815 und 1830 ablöste. Liberalismus und Nationalismus standen gegen die konservative Reaktion der Heiligen Allianz von Österreich, Preußen und Russland. Es ging also um eine eigenartige Durchdringung von Revolution und Rückzug in die sprichwörtlich gewordene biedermeierliche Solidität und Gemütlichkeit. Sie passt phänomenologisch in die Romantik und ihre sich durchdringenden Parallelwelten von Schöngeistigem und Revolution. Die harmlose Bezeichnung Biedermeier darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch unter dieser Oberfläche einer glücklich-schrulligen Bürgerlichkeit revolutionäres Potential gärte. Die üblichen Zuschreibungen der »Gemütlichkeit«, »Resignation« und des »Apolitischen« sind nur die halbe Wahrheit. Das Biedermeier hatte durchaus auch eine satirische, subversive Seite und pflegte die Karikatur. Zur Ironisierung sowohl des Heroentums, der großen klassischen Gesten, aber auch der kleinbürgerlichen Idylle, am unnachahmlichsten wohl bei Carl Spitzweg umgesetzt, kam bald, etwa bei Ferdinand Georg Waldmüller, auch eine realistische und sozialkritische Komponente. Der Wandel von der Romantik zum Realismus war eingeleitet. Nicht nur bei unverdächtigen Namen wie Max Slevogt oder Lovis Co­ rinth, sondern auch bei Spitzweg ging die »Entauratisierung des Themas mit der Steigerung in der Virtuosität seiner Verarbeitung« einher. Spitzweg hatte sich immerhin in Frankreich an der Malerei von Barbizon geschult. »Die Skurrilität der Gemälde kennzeichnet insofern nur die eine Hälfte von Spitzwegs Kunst: in der malerischen Bravour seiner Werke war er ein durch und durch der internationalen Moderne verpflichteter Vertreter deutscher Kunst im 19. Jh.« Entsprechend mühevoll gestaltet sich für viele die Zuordnung des Biedermeier zur Romantik. Blickt man auf den spießbürgerlichen Teil, neigt man zur Unvereinbarkeit, die Günter Böhmer anführt, wenn die Romantik nach Früchten greife, »die am höchsten, am unerreichbarsten hängen […] den erhabensten Gegenständen der

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Das Ringen um die Moderne

Natur und der Geschichte […] Das Biedermeier nimmt sich daneben wie ein kleiner Vorstadtgarten mit Gießkanne und Komposthaufen […]« aus. Blickt man auf die unter dieser Fassade liegende satirische Seite, mag die Sache anders aussehen und man könnte dem Biedermeier in manchen Vertretern eine ähnliche Distanzierungsstrategie zubilligen wie dem Rokoko gegenüber dem Klassizismus. Aber es ist mit dem Biedermeier in seiner ganzen Dimension betrachtet nicht anders als mit der Romantik ganz generell. Kaum Eingang gefunden hat die Stilrichtung des Biedermeier in die Bildhauerei. Trotzdem wird von Kunsthistorikerinnen auf Parallelen hingewiesen. »So wie in der Biedermeier-Malerei das Interieur zu einer großen Blüte gelangte, so in der Skulptur die Weltabgewandtheit hermetisch in sich versunkener Figuren. Meist sind es weibliche Gestalten, die schönlinig gelagert ihre feingliedrigen Körper präsentieren, wobei nahezu ausnahmslos eine züchtige Drapierung der so gefürchteten Erotik die Spitze bricht; doch auch wohlgeformte Knabengestalten finden sich. Nixen, Nymphen und Najaden, Fischer und Jäger, Spinnerinnen und Flachsbrecherinnen, flötende Schäfer und lammtragende Hirtinnen sowie Jahreszeitenallegorien in Statuettengröße – sie alle verweisen ihre meist urbanen Käufer und Betrachter auf die Natur als eine Gegenwelt zur entstehenden (Groß-)Stadtkultur.« Es geht nicht mehr um Heldentum und Geschichtsheroismus, sondern um eine verinnerlichte Gefühlsregung und eine Poetik der Natur.

Böhmer 1968, 31

VII.3.6.

Maaz 2006, 301

8.0. Das Ringen um die Moderne Um die Mitte des Jahrhunderts tat sich offenbar eine große Bruchkante auf. Es war wiederum eine Zeit des Gottes Janus: Ein in der Vergangenheit haftender Blick traf auf den erwartungsvollen optimistischen Blick nach vorne. Der Widerstand gegen das Neue formierte sich umso entschiedener, je lauter die Rufe nach Fortschritt und die Neugier nach den modernen Entwicklungen wurden. Er formierte sich vor allem im Umkreis von Kirche und religiös inspirierten Künstlern.

8.1. Nazarener und Präraffaeliten Ein herausragender Ort dieses Ringens war Rom, in Stein gemeißelter Erinnerungsort der Antike und Renaissance, Ort der Kirche und neuerdings Kolonie nordeuropäischer Künstler. Zwischen 1814 und 1848 sollen an die 1200 Künstler aus Deutschland in Rom gewesen sein und aus dem beliebten Treffpunkt, dem Café Greco, ein »Café Tedesco« gemacht haben. Nicht weit davon entfernt, an der Spanischen Treppe, befand sich das Café Inglesi, wo die Engländer saßen. Die Künstler waren eine bunte Gruppe, in der Klassizisten auf Moderne trafen und Aufklärer auf christliche Nostalgiker. Solche waren die Nazarener. Ihre Wurzeln lagen an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Viele deutsche Kunststudenten kamen an die in ganz Europa geschätzte, 1692 nach dem Vorbild der Accademia di San Luca als Privatakademie gegründete Kunsthochschule.

Dankl 1995, 18

386

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Lukasbund

7.3.

8.2.

Kaffanke Eva-Maria in Kohle 2008, 300–311

Der aus Lübeck stammende Friedrich Overbeck und der Frankfurter Franz Pforr, beides Studenten an der klassizistisch ausgerichteten Akademie, die viel Zeit im Antikensaal verbrachten und die Abgüsse antiker Statuen zeichneten, hoben zusammen mit anderen 1809 eine ordensähnliche Gemeinschaft aus der Taufe, den Lukasbund, benannt nach dem malenden Evangelisten. Was ihnen bei ihrer auf die technischen Fertigkeiten ausgerichteten Ausbildung abging, war die Empfindung, der Ausdruck. Nach einem Zerwürfnis mit der Akademie, deren historistischen Klassizismus sie ablehnten, ging die Gruppe 1810 auf Anregung des deutschen Malers Eberhard von Wächter nach Rom und bezog (bis 1812) das leer stehende Franziskanerkloster Sant’ Isidoro auf dem Pincio. Sie waren nicht wie die meisten ihrer Künstlerkollegen am antiken Rom interessiert, sondern am Rom des christlichen Mittelalters. Beinahe alle Künstler der Gruppe konvertierten zum katholischen Glauben, Overbeck tat dies auch wegen des frühen Tods seines Freundes Pforr, der 1912 an der Tuberkulose starb. Philosophisch waren die von romantischen Ideen geprägten Gründerväter von Schlegel, Novalis und Tieck beeinflusst. Als Joseph Anton Koch 1812 von Rom nach Wien zog, fand er seine geistige und künstlerische Heimat im Kreis der Romantiker, die sich im Haus der Schlegel-Brüder trafen. Außerhalb dieses Kreises wurde jede Abweichung vom Klassizismus nachdrücklich abgelehnt. Trotzdem ist immer wieder bestritten worden, dass die Nazarener ein Kapitel der Romantik sind. Sie favorisierten nach Anfängen mit Landschaftsmalerei, historischen und mythologischen Themen, zunehmend religiöse Sujets. Overbeck legte sein Programm in einem Bildtitel nieder: Triumph der Religion in den Künsten (1832–1840). Dieses drückte nicht nur seine persönliche Überzeugung aus, sondern es wurde das künstlerische Programm der Kirche an der Schwelle zur Moderne, die sich standhaft weigerte, diese Schwelle zu überschreiten. Die bildende Kunst der Zeit hatte sich durchaus religiöser Themen angenommen, sie aber in säkularisierter Form buchstabiert. Christus erschien als Parapsychologe, die heilige Familie wurde im Atelier nachgestellt, den religiösen Motiven wurden politische oder kulturelle übergestülpt. Eine Kunstreligion trat an die Stelle der alten Religion, denn der Umgang mit der Religion verlief inzwischen in aufgeklärten und historisch-kritischen Bahnen. Mit der kunstgeschichtlichen Rezeption der religiösen Malerei im 19. Jh. in all ihren Facetten jenseits eines reinen Kulturpessimismus ist in der Wissenschaft noch immer kaum richtig begonnen worden. Die Mitglieder des Lukasbundes wandten sich den vordergründig klassischen Themen zu, darunter dem nackten Körper. Allerdings brachen sie die akademischen Darstellungsweisen, indem sie den Körper enterotisierten, seine Ganzheit im Raum brachen, ihn introvertiert und bezugslos zur Betrachterin hinstellten, was den Eindruck der malerischen und zeichnerischen Unbeholfenheit erweckt. Der Kunsthistoriker und Franziskanerpater Beda Kleinschmidt würdigte in seinem Lehrbuch der christlichen Kunstgeschichte 1910 diese Absicht aus seinem Kunstverständnis: »Es war immerhin ein Verdienst der Klassizisten, die Überschwenglichkeit des Barock und Rokoko verdrängt zu haben, aber ihre eigenen kalten, blut- und andachtsleeren Ge-

387

Das Ringen um die Moderne

stalten nach antikem Schema konnten ebensowenig befriedigen. […] Sehnsüchtig wandte sich der Blick nach den naiven, erbaulichen Kunstwerken des christlichen Mittelalters.« Kleinschmidt bezeichnet Overbeck als »Meister inniger Andacht und keuscher Gefühle.« Dort, wo der nackte Körper der Augenlust diente, sahen die Nazarener »nichts anderes als Unzucht und verstecktes Heidentum.« Einzig Raffael erfreute sich in Deutschland seit der Ankunft der Sixtinischen Madonna 1754 in Dresden einer besonderen Verehrung. Winckelmann verklärte das Werk zum Idealbild der Antikennachahmung und wie die katholischen Rezipienten ihre Muttergottes sahen die protestantischen und jene der Religion fern Stehenden ihre antike Göttin ideal umgesetzt. Ein Höhepunkt der Raffael-Verehrung war die umfangreiche Sammlung von Raffael-Kopien, die Friedrich Wilhelm IV. 1858 im Raffael-Saal der Orangerie in Sanssouci einrichtete. »Die Sixtinische Madonna war um 1800 ohne Frage ein ›deutsches‹ Leitbild, an dem sich der Beweis führen ließ, dass die Deutschen in der Lage waren, nicht nur die griechische Antike, sondern auch die Kunst der italienischen Renaissance besser zu verstehen als die Italiener selbst.« Der romantische Raffaelkult fand zudem Nahrung in der frühromantischen Literatur, die Raffael und Dürer wie Italien und Germanien verbanden, ein Sujet, das Overbeck aufnahm und in der Zeichnung Dürer und Raffael vor dem Thron der Kirche (1817) künstlerisch umsetzte. Die noch immer vorwiegend von der Kirche abhängige Kunstszene in Rom und die Anfang des Jahrhunderts noch anhaltende Dominanz des Vatikans kamen den Lukasbrüdern sehr entgegen. Papst Pius IX. zeigte seine Zuneigung durch einen persönlichen Besuch im Haus von Overbeck. Neben der eben erwähnten Verschmelzung von Dürer und Raffael stand Overbecks Gemälde Italia und Germania (1811–1828) gleichsam als Kult- und Programmbild für die Gruppe. Es zeigte die Verbindung deutscher Innigkeit mit dem italienischen Schönheitsideal, das sich auf den frühen Raffael und die Maler vor ihm, Fra Angelico und Fra Filippo Lippi, bezog, also auf jene, die sich der strengen Perspektive noch verweigerten. Weitere Künstler stießen in Rom zur Gruppe, Peter Cornelius etwa, dessen Faustillustrationen von Goethe »wirklich wundersam« genannt wurden, Julius Schnorr von Carolsfeld, der Tiroler Joseph Anton Koch, der sich in Rom von der »Sklavenplantage« der klassizistischen Stuttgarter Hohen Carlsschule befreit fühlte, und Wilhelm von Schadow. In Rom erhielten sie den Spottnamen Nazarener (der Begriff selbst ist älter), weil sie ihr Haar wie Jesus und seine Jünger lang und in der Mitte gescheitelt trugen. Den großen Durchbruch in der Kunstgeschichte brachte 1815 bis 1817 die Ausmalung des Palazzo Zuccari, der Residenz des preußischen Gesandten Jacob Salomon Bartholdy, des Onkels von Felix Mendelssohn. Cornelius, Overbeck und andere freskierten die Casa (der Palazzo wurde später in Casa Bartholdy umbenannt; heute Bibliotheca Hertziana) mit der Josephslegende. Die seit 1887 in Berlin befindlichen Arbeiten haben Anklänge an das Historiensujet und an

Kleinschmidt 1910, 400f Zeitler 1966, 64

Thimann 2006, 367 576 Friedrich Overbeck, Italia und Germania (1828); NPM

Nazarener

Dankl 1995, 17f

388

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Grave 2006, 448

7.3.

Hollein Max in Kat. 2005, 9 Ebd.

renaissancehafte Ausblicke. Das Sujet des Freskos war zugleich programmatisch, man schloss ganz bewusst wieder an diese Technik der religiösen Kunst an. Zudem trat das disegno in den Vordergrund, die Idee der Zeichnung. Der Pinselstrich fungierte nur mehr als notwendiges Mittel zum Zweck, jede Individualität und Virtuosität des Künstlers sollte vor dem religiösen Ganzen zurücktreten. Es gab geradezu eine Scheu vor Virtuosentum und der Sichtbarkeit des Materials. Die Nazarener liebten den harten und spitzen Bleistift. Er unterstützte die Naturtreue, indem er atmosphärische Effekte vermied. Neben der Casa Bartholdy in der Via Gregoriana lag übrigens das Atelier von Jean-Auguste-Dominique Ingres, der von der Malweise der deutschen Maler nicht unbeeindruckt blieb. Vor allem seine Schüler waren mit ihren restaurativen Themen und ihrer Maltechnik dem Geiste der Nazarener verbunden. Ein weiteres Zentrum wurde durch das geschickte Agieren von Peter Cornelius (er malte im Auftrag Ludwigs die Fresken der Glyptothek Leo von Klenzes) und durch die Förderung Ludwigs I. die Münchner Akademie, deren Direktor 1824 schließlich Cornelius wurde. Der romantische Nationalismus bewirkte, dass sogar in Wien ab den Dreißigerjahren die Nazarener die Ablehnungsfront durchbrechen und Fuß fassen konnte. Die Bewegung, die schließlich in der ersten Jahrhunderthälfte mehrere Akademien in Deutschland beherrschte (darunter jene in Düsseldorf, die Wilhelm von Schadow leitete, der die Kunst einige Jahrzehnte des Jahrhunderts prägte), verengte sich mehr und mehr auf religiöse Themen, die voll Inbrunst und frömmelndem Glaubenseifer umgesetzt wurden. Die Nazarener bildeten die stärkste Gruppe der Restauration gegenüber den revolutionären und säkularen Ambitionen der Romantik. 1819 reiste eine Delegation des Wiener Hofs mit Fürst Metternich und dem zur Exkursion eingeladenen Friedrich Schlegel zu einer Ausstellung italienischer Künstler im Palazzo Caffarelli nach Rom. Die Nazarener waren prominent vertreten. Ihr Auftritt führte zu einem vernichtenden Urteil in der zeitgenössischen Kritik. Friedrich Schlegel, der zu dieser Zeit bereits den Schwenk zur Religiosität getätigt hatte, sah sich genötigt, in einer Schrift die christliche Kunst der Nazarener zu verteidigen. In neueren Ausstellungen wird bisweilen versucht, die positiven Seiten der Nazarener zu würdigen. Demnach wären sie als Sezessionisten gegenüber der Akademieästhetik, ja als Avantgardisten anzusehen, die dem verbreiteten Kunstgeschmack zuwiderliefen: »[…] die liebliche Präsenz ihrer Motive im Alltag basiert auf strategischen Kommunikationsmethoden, ihr fragwürdiger Lebensstil als Künstlermönche des 19. Jahrhunderts ist Zeichen für die zukunftsgerichtete Utopie, Kunst und Leben miteinander zu vereinen, ihre hemmungslosen Nachahmungen von Raffael und Dürer sind innerhalb des Kunstdiskurses als ein extrem modernes Aneignungsverfahren zu erkennen, […] Die nazarenische Bruderschaft prägt keine fragwürdige Seitengasse der Kunstgeschichte in Richtung Vergangenheit, sondern einen Weg in die Zukunft.« So originell die Sichtweise der Nazarener »als Pioniere der Moderne, als erste Sezessionisten, als originäre Konzeptkünstler« auch sein mag, sie kann, angesichts die Sehnsucht nach einer religiösen Stabilisierung mitten in den napoleo-

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Das Ringen um die Moderne

nischen Kriegswirren, nur mit größter Mühe geteilt werden. Vielleicht ist es doch eher so, dass die Nazarener rückwärtsgewandt blieben und ihr Aufbegehren gegen die Akademie aus einer prämodernen Ideologie geschah, die die verbreitete Kulturkampf-Situation nach den Achtundvierziger-Revolutionen nicht überlebte. Ihre bemerkenswerte Bedeutung in der ersten Jahrhunderthälfte löste in England die Bildung einer ähnlichen Gruppierung aus. Allerdings ging es dort weniger um Religion, aber sehr wohl um ein Unbehagen an der Moderne. Künstler des Victorian Painting mit konservativer Grundstimmung stellten der Macht der aufstrebenden Industrie die Armut eines ursprünglichen Lebens gegenüber. Eine solche Gruppe wurde 1848 in London gegründet. John Everett Millais, William Holman Hunt, der lange das Atelier mit Millais teilte, und der Dichter und Maler Gabriel Rossetti nannten sich Early Christians. Sie gingen jedoch als Pre-Raphaelite Brotherhood, also als Präraffaeliten, in die Kunstgeschichte ein. Sie strebten nach dem Ideal der mittelalterlichen Kunst vor dem aus ihrer Sicht akademischen Raffael. Das schlug sich auch in der bevorzugten Technik der Freskomalerei in kräftigen Farben nieder. 1849 rief die Gruppe die Zeitschrift The Germ ins Leben. Nach nur vier Ausgaben ging sie wieder ein. Schlug ihnen zuerst Ablehnung entgegen, wuchs die Achtung, als sich John Ruskin 1851 in mehreren Äußerung in der Times für die Gruppe stark machte. Ruskin sah mit seiner Abscheu gegenüber der Industrialisierung in der Bewegung eine Rückkehr zur vermeintlichen Größe des Mittelalters. Im Unterschied von den Nazarenern waren die englischen Präraffaeliten mehr an sozialen Aspekten interessiert als an religiösen Inhalten. Das brachte sie in die Nähe der Arts-and-Crafts-Bewegung und zum Symbolismus. Die Gruppe, die als typische Reaktion auf die frühe Moderne angesehen werden kann, löste sich schon 1853 wieder auf, nachdem Millais in die Royal Academy gewählt worden war.

Präraffaeliten

3.2.3.2.1.

8.2. Die katholische Kirche und ihr Kampf gegen die Moderne Die vergangenen Kapitel zeigten, welch zentrale Bedeutung frühe religiöse Erzählungen für die Gestalt von Kunst und Kultur hatten. Die Idee der Inkarnation im Christentum stand an der Wiege der europäischen Kunst. Davon ausgehend erwies sich auch die Institution der Kirche erstaunlich anpassungsfähig, etwa was die Veränderung des Christusbildes und des Kulthauses anging. Eine analoge Entwicklung ließe sich auch in der philosophischen und theologischen Lehre festmachen. Diese Flexibilität in bildlicher Darstellung und theologischer Lehre fand allerdings ein abruptes Ende im 19. Jh. An diesem Ende gab es im 18. und 19. Jh. noch eine größere Zahl von theologischen Entwürfen, die von einer positiven Rezeption der Moderne getragen waren. Die Überlegung, wo die Kirche heute stünde, wenn sie nicht die Last der Neuscholastik hätte schultern müssen, hat daher einigen, wenngleich spekulativen Reiz. Das ziemlich pauschale Urteil Richard Münchs gilt in weiten Bereichen für die Institution und sie gilt für das Handeln der katholischen Kirche in der Moderne, sie gilt hingegen nicht gleichermaßen für alle historischen Epochen und auch nicht unbedingt für viele fruchtbare Ansätze einzelner Theologen und theologischen Schulen im 18. und 19. Jh.: »Eine bewußte Veränderung der Gesellschaft, gar

IV.3.5.

Coreth/Neidl/­ Pfligersdorffer 1987

390

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Münch 1986, 508

Weisbach 1921, 39

9.2.1.ff.

ihre permanente Fortentwicklung, wie dies der modernen bürgerlichen Einstellung zur Welt zugrunde liegt, besitzt in der katholischen Lehre keinen legitimen Platz. Jede Umgestaltung bringt nach ihrer Theorie die von Gott eingerichtete Ordnung der Welt durcheinander und gefährdet in der Praxis auch die angestammte Stellung der Kirche in dieser Welt.« Angesichts eines jahrhundertelangen gegenseitig befruchtenden Verhältnisses zwischen Kunst und Architektur auf der einen und der Kirche auf der anderen Seite kommt dem Bruch zwischen diesen beiden Institutionen im 19. Jh. eine epo­chale Bedeutung zu. Beide, Kunst und Kirche, gingen auf der Zeitachse der Moderne ganz verschiedene Wege. Während die Kunst die Räume nach ihrer Befreiung aus der metaphysischen Sinnstiftung zu nützen wusste und sich mit großer Dynamik der neuen Zeit öffnete, erkor sich die Kirche des 19. und beginnenden 20. Jh.s die Moderne ganz pauschal als Feindbild und Bedrohung und begann, sich von der Entwicklung abzuschotten. Freilich war dieser Prozess bereits länger vorbereitet. Die Gegenreformation war der erste Kampf der katholischen Kirche gegen eine Tendenz der modernen Welt und man kann mit dem Ende des Barock durch den Klassizismus vermutlich tatsächlich das Ende der christlichen Kunst verbinden: »Die Kirche geriet bei einer neuen Kulturkonstellation nach und nach einem philosophischen Rationalismus gegenüber ins Hintertreffen, was auch der Kunst, die von ihr gestützt war, den Boden entzog. […] Das verursachte aber nicht nur das Absterben jener gegenreformatorischen Kunst, sondern führte überhaupt das Ende einer christlichen Kunst im alten Sinne herbei.« Im Laufe des Jahrhunderts hatte sich das Christusbild in der Kunst deutlich verändert. Man erkannte in ihm jene Zweifel, die sich durch die Aufklärung in die theologische Diskussion gemischt hatten. Christus und Gott wurden eine Sache persönlichen Glaubens und die religiösen Bilder – so sie nicht der rückwärtsgerichteten Norm der Nazarener entsprachen – transportierten immer auch das Ringen am und um den Glauben mit. Zudem trat die religiös inspirierte Kunst insgesamt zurück, die Kunst wandte sich dem Alltäglichen und Temporären zu, stellte das Hässliche dar, interessierte sich für die Reflexionen über den Wahrnehmungsvorgang und die subjektiven strukturellen Bedingungen des Gegenstandes. Sie stärkte die Rezipientin als aktiven Part in der Begegnung von Subjekt und Kunstwerk. Sie setzte sich als Avantgarde (urspr. aus der Militärsprache: Vorhut) an die Spitze der Moderne, während die Kirche die Moderne verzweifelt abwehrte. Eine weitere Alarm auslösende Weggabelung war die Französische Revolution. Ende des 18. Jh.s versicherten sich Adelige der Unterstützung der Kirche im Kampf gegen die Ideen der Revolution. Joseph de Maistre verfolgte als Gegenentwurf die Idee einer theokratischen Monarchie. In manchen Ländern war das Klima aufgeheizt und ein regelrechter Kulturkampf tobte um das Verhältnis von Kirche und Staat. In Frankreich erklärten die Anhänger von Auguste Comtes Positivismus den Klerikalismus zum Feind (Le cléricalisme, voilà l’ennemi). Die offizielle Politik verfolgte einen klaren Kurs der Trennung zwischen dem Staat und der Privatangelegenheit Religion und Kirche. In Italien und Spanien hielt die Kirche zu Großgrundbesitzern und

391

Das Ringen um die Moderne

Adeligen, die durch die Demokratisierung und den Parlamentarismus viel zu verlieren hatten. In Italien verbot die Kirche zeitweise den Gläubigen sogar, ihr Wahlrecht auszuüben. »In den katholischen Ländern des Mittelmeerraumes hatte der Staat sein Gewaltmonopol in viel geringerem Maß durchsetzen können als in den mehr oder minder protestantisch geprägten Ländern West-, Nord- und Mitteleuropas. Damit fehlte hier eine wichtige Vorbedingung für das Gelingen eines anderen Modernisierungsprozesses: der Erneuerung der gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen im Zuge der Industrialisierung.« Trotz einzelner Priester, die einen Ausgleich von Demokratie, Liberalismus und Katholizismus für möglich hielten, wie Félicité Lamennais, steuerte die Kirche auf eine klare Konfrontation mit den Inhalten der Moderne zu. Zwar verfolgte der Kirchenstaat die liberalen Revolutionäre der Dreißigerjahre weniger scharf als etwa die Habsburger in Italien, aber Papst Gregor XVI. erklärte den Liberalismus als Irrlehre, wetterte gegen den »Wahnsinn« der Gewissens- und Meinungsfreiheit und ging in zwei Enzykliken gegen diese »verderblichen Irrtümer« (und gegen Lamennais) vor. Die Dogmen von der Unbefleckten Empfängnis Marias (1854) und der Unfehlbarkeit des Papstes (1870) waren Instrumente zur Stärkung der Institution im Ringen gegen die neuzeitlichen philosophischen Positionen. Mit Universalismus und Absolutismus wollte man dem Relativismus der Moderne begegnen. Diese Bestrebungen waren keineswegs erfolglos, jedenfalls das gläubige Publikum zogen sie in ihren Bann. Neue Orden wurden gegründet, Massen von Gläubigen zogen in Prozessionen durch Städte und Landschaften und an vielen Orten wurden einfachen frommen Menschen – dem neuen Marienkult geschuldet – wundersame Marienerscheinungen zuteil. Die Botschaft der Gottesmutter war meist eine verklausulierte Warnung vor den apokalyptischen Zeiten und ein Aufruf zu Einkehr und Frömmigkeit und Abschottung von der verdorbenen Welt. Papst Pius IX., selbst durch einen »schlichten Glauben« ohne viel theologische Reflexion ausgezeichnet, griff auf alte Positionen zurück und belastete mit seinen heftigen Angriffen auf die Moderne die Beziehungen zu zahlreichen Staaten, in denen nicht selten kulturkampfähnliche Gegenbewegungen ausbrachen. 1864 verfasste Pius einen Syllabus der hauptsächlichsten Irrtümer unserer Zeit (Syllabus Errorum), wo er gegen achtzig »Verirrungen der Moderne« zu Felde zog und Toleranzdenken, Religionsfreiheit, Materialismus, Aufklärung, Sozialismus, Nationalismus, moderne Wissenschaft, aber auch die staatliche Hoheit über die Schule und die rechtliche Gleichstellung von Katholiken und Nicht-Katholiken im Staat verdammte. 1870 verkündete er feierlich und gegen großen Widerstand aus dem hohen Klerus die schon erwähnte Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit, eine Weichenstellung, die aus der Schwäche eines sich auf Rückzug befindlichen Pontifikats erklärbar ist. Anders als im 18. Jh., in dem es im Klerus zahlreiche »Selbstdenker« (ein Ausdruck Bernhard Weltes) gab, wurde im 19. Jh. der Kampf gegen die Moderne vom Papst dirigiert und die kirchlichen Institutionen, darunter die kirchlichen Universitäten, auf die mittelalterliche Scholastik verpflichtet.

Winkler 2009, 1119

Schnerb 1983, 426

Syllabus Errorum

392

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Neuscholastik

Schmidinger 1988, 49

V.7.2.2.6.1.

Das Pontifikat von Giacchino Pecci als Leo XIII. war geprägt von einer Renaissance des Thomismus. Schon vor seiner Zeit als Pontifex hatte er zusammen mit seinem Bruder Giuseppe eine Restauration einer auf christlichen Prinzipien beruhenden Gesellschaft angesichts der verbreiteten »liberalen und sozialistischen« Ideen betrieben. In seiner ersten Enzyklika Inscrutabili Dei 1878 verteidigte Leo die wahre christliche Gesellschaft gegen die falsche zeitgenössische. Die Enzyklika Aeterni Patris ein Jahr später machte den Thomismus für die theologischen Lehranstalten verbindlich. Um die Inkongruenz dieses Restaurationsversuchs der geistigen Macht über die irdische Gesellschaft mit dem Zeitgeist zu demonstrieren, bietet sich der Verweis auf den aus dem oberfränkischen Buttenheim stammenden Levi Strauss an, der fünf Jahre vorher seine Jeans – nach der Stadt Genua, woher die Baumwolle für den Stoff kam, benannt – als Patent angemeldet hatte. Und am 8. Mai 1886 mischte der Apotheker John Styth Pemberton in Atlanta – eigentlich auf der Suche nach einem Mittel gegen Kopfschmerzen – jenen süßen Sirup, der als Coca Cola zu einem weltweiten Signum der modernen Welt wurde. Theologisch schob die Enzyklika Leos eine Bewegung an, die von den Theologen Jakob Frohschammer und Alois von Schmid als Neuscholastik bezeichnet wurde. Der Begriff diente ursprünglich als ultramontanes (lat. ultra montes/ über die Alpen, nach Rom orientiert) politisches Schlagwort. Es ist heute in der einschlägigen Diskussion weitgehend unbestritten, dass es bei der Beförderung des Thomas von Aquin weniger um dessen Philosophie ging als um ein Instrument klerikal-restaurativer Politik. Er war also ein Kampfbegriff für »die Interessen der römischen Kurie und den päpstlichen Universalprimat […].« Die Neuscholastik in dieser Dimension wurde vor allem von den Jesuiten und deren Zeitschrift La Civiltà Cattolica angeschoben. Es lag ihr eine Rückorientierung auf die Theologie der mittelalterlichen Scholastik zugrunde, sowie eine klare Unterordnung der Philosophie unter das kirchliche Lehramt und – damit verbunden – der Kampf gegen die säkulare Philosophie des modernen Geisteslebens. Die Enzyklika von 1879 beendete die bunte Fülle eigenständiger theologischer Entwürfe aus dem 18. und noch 19. Jh. ziemlich flächendeckend. Die Enzyklika Leos XIII. gab der Neuscholastik freilich (entgegen ihrer Intention) auch einen fortschrittlicheren Spin. Viele Theologen und ganze Ordenstraditionen fühlten sich durch die Beschränkung ihres wissenschaftlichen Arbeitens auf Thomas von Aquin beschnitten und versuchten, durch »kreative« Thomasdeutungen den Aquinaten für die Moderne zu rekonstruieren, indem man ihn mit modernen Philosophien verschnitt. Die neuscholastischen Thomasdeutungen reichten von ganz originären und entsprechend konservativen bei den Dominikanern, etwa von ihrem Ordensbruder Gallus Manser, bis zu transzendentalphilosophischen Deutungen (also Kombinationen mit Kant wie in der Schule des Jesuiten Joseph Maréchal, zu der auch Karl Rahner gehörte) oder Verschnitten von Hegel, Heidegger, Husserl, Bergson und andern mit Thomas. Daneben gab es auch neoscotistische und suarezianische Schulrichtungen. Trotz dieser relativen Vielfalt unter dem Terminus Neu-

393

Das Ringen um die Moderne

scholastik blieb die Bewegung fasziniert von Letztbegründungsansprüchen und orientierte sich lieber an der mittelalterlichen Philosophie als an der Zukunft. Zu Fragen der Kunst hatte sie so gut wie keinen Zugang. Bei den zeitgenössischen Theologen und christlichen Philosophen hat die Neuscholastik weitgehend an Kredit verloren, allenfalls in der Schule der Analytischen Philosophie, soweit sich deren Exponenten der katholischen Lehre verbunden fühlen, wird diese Strömungen auch noch in unseren Tagen hochgehalten. Der Nachfolger Leos, Pius X., setzte den Kampf gegen die Moderne insbesondere in der Enzyklika Pascendi Dominici Gregis 1907 fort, in der er vor den monistischen, pantheistischen, sozialistischen und materialistischen Irrtümern der Welt warnt. Die Enzyklika entstand in einem kleinen Beraterkreis in kurzer Zeit, angefeuert durch den deutschen Dominikaner Albert Maria Weiß. Der Papst prägte darin den Ausdruck »Modernismus« als Sammelbezeichnung der verurteilten Positionen. Innerhalb der Kirche hatte sich ziemlich geräuschvoll ein Flügel zu Wort gemeldet, der sich der Moderne durchaus öffnete. Es waren Theologen wie George Tyrrell (1907 exkommuniziert), der von Bergson und Maurice Blondel beeinflusste Alfred Loisy (1908 exkommuniziert), Lucien Laberthonnière oder Édouard Le Roy sowie Ernesto Buonaiuti in Italien, die vordergründig und unbeabsichtigt – mit einem Ende des Jahrhunderts (vermutlich erstmals vom belgischen Nationalökonomen, dem konservativen Laien Charles Périn 1881 gebraucht) aufgekommenen Ausdruck als »Modernisten« bezeichnet – der ungeliebten Moderne ein Gesicht gaben. Inter­ essanterweise dachten die der Moderne zugerechneten Theologen eher antiintellektualistisch, spekulativ, gegen den razionalismo teologico der Neuscholastik und gegen die burocrazia sacramentale der Kurie, wie Buonaiuti sich ausdrückte. Dagegen beschworen die Montanisten die aus ihrer Sicht schlagende Stringenz rationaler Begründungsverfahren. Im gleichen Jahr 1907 verurteilte das Dekret Lamentabili Sane Exitu 65 »gefährliche Irrtümer über die Theologie, die Deutung der Heiligen Schrift und die wesentlichsten Glaubensgeheimnisse« modernistischer Autoren und 1910 wurde – fünf Jahre nach der Publikation von Einsteins Relativitätstheorie – eine Eidesformel, der sogenannte Antimodernisteneid, eingeführt, den Priester und teilweise auch Theologieprofessoren an den Universitäten schwören mussten. Er wurde erst 1967 abgeschafft. Während des gesamten Jahrhunderts gab es zahlreiche Verurteilungen, Exkommunikationen und Indizierungen von Werken. Die Rückwendung der Kirche ins Mittelalter war zwar eine nachhaltige Behinderung der Rezeption der modernen Philosophie, aber sie hatte für die theologische Wissenschaft auch positive Folgen. So erhielt die Mittelalterforschung im 19. und 20. Jh. einen gewaltigen Impuls. Die einzelnen Orden versuchten, sich über Rückgriffe auf das Mittelalter zu positionieren. Die Franziskaner trieben in internationalen Forschungsstätten gegen das Thomismus-Monopol der Dominikaner und Jesuiten die Studien an Bonaventura und den (meist franziskanischen) Vertretern des Nominalismus voran. Wir verdanken großen Forschern wie Clemens Baeumker oder Martin Grabmann aufregende Entdeckungen zur mittelalterlichen Lichtmetaphysik,

Modernismus

Arnold 2005, 207–217 Arnold 2007; Böhm 1988; Padinger 1988

Mittelalter­ forschung

V.7.2.2.2.

394

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Schola Artium Beuronensis

Welsh Robert P. in Tuchman/Freeman 1988, 78

Speyer 2010, 223

Beissel 1885

Beissel 1890, 532

zit. nach Rapp 1984, 55f

Weiß, zit. nach Stock 1997, 17; Braun 2008b

zur platonischen Schule Alberts des Großen sowie zur spekulativen Grammatik und Sprachlogik des Mittelalters. Die Kunst verlief völlig unberührt von solchen theologischen Introspektionen und gewann in einer intensiven Bejahung der Moderne eine bislang nicht gekannte Autonomie und Avantgardefunktion. Eine ausführliche Debatte um Kunst und Architektur bei den Theologen hatte in dieser antimodernistischen Stimmung kaum einen Platz. Trotzdem gab es einige Inseln, die sich mit Kunst beschäftigten, aber diese Beschäftigung offenbarte, wie sehr man den Bezug zur Gegenwart verloren hatte. Eine solche Insel war die Reformbewegung in der um 1077 gegründeten Benediktinerabtei Beuron, in deren Rahmen der 1872 als knapp Fünfzigjähriger in den Klosterverband eingetretene Desiderius Lenz eine Kunstschule gründete (Schola Artium Beuronensis). Zu ihm gesellten sich Gabriel Wüger, Paul Krebs und andere. Die dort betriebene monastisch-liturgische Erneuerung war eine Reform zurück, hin zu den Idealen der Regel Benedikts samt der Verehrung der gregorianischen Kirchenmusik. Beuron wurde dadurch zu einem ergiebigen und wertvollen Forschungszentrum für Gregorianik und liturgiegeschichtliche Quellenkunde. Lenz entwarf Spekulationen über pythagoreische Geometrie, die noch einigen Vertretern der abstrakten Kunst als Anregung dienten. In der Kunstauffassung dominierten montanistische Parolen von der Wiederauferstehung der alten christlichen Kunst bzw. der Verbindung von Ägyptischem (dem Fluchtort Jesu) und Christlichem. Selbst der den Verlust einer echten christlichen Kunst beklagende Wolfgang Speyer nennt die Kunst der Mönche von Beuron »kraftlose[s] Archaisieren.« Lenz und Wüger versuchten sich als Gestalter einer dem Hl. Maurus geweihten Kapelle auf dem Klostergelände. Es sollte darin eine dogmatische und symbolische Kunst zur Anwendung kommen unter Verzicht auf Landschaft und Naturalismus. Die Sprachlosigkeit zwischen Kunst und katholischer Kirche am Ende des 19. Jh.s kann aus all diesen Gründen nicht überraschen und sie trieb manchmal seltsame Blüten. In einer Ausstellungsrezension in den Stimmen aus Maria Laach schrieb der Jesuitenpater und Kunsthistoriker Stephan Beissel: »Unsere heutigen Künstler aber sind fast ausnahmslos der Kirche entfremdet.« An anderer Stelle beklagte er die Abweichung von der Normkunst des Nazarener-Stils: »Wenn die Religion nicht die Führung übernimmt, versinken die Künstler in Materialismus und Sinnlichkeit. Das ist eine durch die Kunstgeschichte aufs Klarste bewiesene Tatsache.« Eine Resolution am 43. Katholikentag 1896 in Dortmund verbot jede naturalistische Kunst, »welche Personen und Begebenheiten der heiligen Geschichte in den Darstellungen der Plastik und Malerei in die gemeine Wirklichkeit herabzieht und auf diese Weise profaniert und fälscht […].« Gegen diese rigorose antimodernistische Ausrichtung der Kirche meldeten sich einzelne Stimmen, denen der Rückzug in ein künstlerisches Ghetto zu weit ging. Konrad Weiß, Sekretär in der Redaktion der vom katholischen Laien Carl Muth 1903 gegründeten Zeitschrift Hochland, die die kulturelle Isolierung des deutschen Katholizismus durchbrechen wollte, beklagte: »[…] wir Katholiken haben in künstlerischen Dingen keine eigene Sprache mehr.« Muth war geprägt durch Aufrufe von

395

Das Ringen um die Moderne

Herman Schell, der in Streitschriften eine Öffnung der Kirche zur modernen Zeit forderte. Besonders anstößig wurde die Diskussion um das Christusbild empfunden. Die im Umfeld der Nazarener-Kunst vollzogene Idealisierung des schönen Körpers führte vice versa zu Stereotypisierung des hässlichen, moralisch verwerflichen Juden. Insbesondere der Ostjude galt als roh und kulturell rückständig. Die Verwirrung ging so weit, dass es bei der Präsentation des Bildes Der zwölfjährige Jesus im Tempel des jüdischen Künstlers Max Liebermann 1879 im Münchner Glaspalast zu einem Eklat kam, weil das Bild keine antisemitischen Bezüge, also keine jüdischen Stereotypen aufwies. Im Gegenzug wurde die Forderung nach einem »deutschen Jesus« erhoben. Nur diesem komme das Attribut christlich zu. Auch Kunsthistoriker schlossen sich dieser Forderung an. Cornelius Gurlitt, der sich andernorts, nämlich bei der Bemühung um eine positive Sicht des Barock, große Verdienste erworben hatte, kritisierte die aufkommende orientalisierende Malerei, die sich bemühte, den historischen Jesus zu erfassen. Dies sei eine Unterordnung der Kunst unter die Wissenschaft, sie suche »nicht Christus den Weltenrichter, sondern Christus, den Sohn der Jüdin Maria.« Dem sei eine deutsche Deutung entgegenzusetzen. Gurlitt wurde vor seinem Tod 1938 trotz seiner Sympathie zu Hitler selbst zum Halbjuden erklärt. Bei Max Klinger wird Christus zum blonden Siegfried (oder Parsifal), zum germanischen Siegertypus. Auch im protestantischen Bereich gab es Bemühungen um eine »Verdeutschung« des Christentums. Sie war getragen von einem nationalistischen Kreis, der sich Bund für deutsche Kirche nannte und teilweise aus Bayreuth-Anhängern bestand. 1917, anlässlich des Vierhundert-Jahr-Jubiläums der Reformation, wurden 95 Thesen für eine Verdeutschung des Christentums publiziert, wozu auch eine schon von Cosima Wagner geforderte Trennung des rachsüchtigen jüdischen Gottes des Alten (»schädigender Fremdkörper«) vom liebenden Gott des Neuen Testaments gehörte. Zudem wird die von Richard Wagner vertretene These vorsichtig abgewandelt, dass Jesus kein Jude, sondern Arier gewesen sei. Religion, Kunst und Deutschtum verschmelzen zu einer Einheit, die nun wahres Christentum ausmache. Noch schlimmer aus der Sicht der Kirche waren die Deutungen, welche die Jesusgeschichte mit der sozialen Frage verknüpften und Jesus gar als Sozialisten darstellten. »Für mich war jener Rabbi Jesus Christ nichts weiter als – der erste Sozialist« ließ sich 1885 der Dichter des Naturalismus und Impressionismus Arno Holz vernehmen. Der Bruch zwischen Kirche und Kunst war nachhaltig. Das Vakuum, das dieser Bruch schuf, wurde durch religiösen Kitsch gefüllt. Man könnte mutmaßen, dass »dieser religiöse Kitsch der Zeit von 1815 bis 1960« eine Waffe war »im Kampf der katholischen Kirche um die Herzen der ländlichen Bevölkerung aber auch der städtischen Unterschichten […].« Bis heute ist dieses Verhältnis nicht korrigiert und scheint nahezu irreparabel, auch wenn sich neuerdings sogar Päpste um einen Dialog bemühen. Papst Benedikt XVI. lud 2009 Künstler und Architekten in die Sixtinische Kapelle. Es folgten viele dieser Einladung, unter ihnen klingende Namen der Szene – freilich ging es weniger um Dialog als um das Zuhören bei päpstlichen Ausfüh-

Berning 1987 Christusbild

Kaffanke Eva-Maria in Kohle 2008, 305ff Kaffanke 2001, 228

Gurlitt 1899, 545

Bermbach 2017

Holz, zit. nach Kaffanke Eva-Maria in Kohle 2008, 308

Michalski 2015, 129

396

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Rauchenberger 2015 I, VIIf

Glettler 2016 Stock 1991

zit. nach Maak 2010, 8 IX.2.3.5.

Maak 2010, 10f

rungen zum Thema Schönheit. Dennoch gibt es im 20. und 21. Jh. für das Gespräch zwischen Kirche und zeitgenössischer Kunst einige bemerkenswerte Einzelinitiativen, auf die hier beispielshaft verwiesen sei. Als einer der ersten entfernte sich der Domprediger Otto Mauer in Wien von ausdrücklich christlicher Kunst und förderte mit seiner Galerie nächst St. Stephan die (vorwiegend) österreichische Avantgarde. Er selbst schrieb eine Theologie der bildenden Kunst (1941). Der Kunsthistoriker und Theologe Johannes Rauchenberger legte 2015 eine dreibändige Dokumentation über die Sammlung zeitgenössischer Kunst im Rahmen des Kulturzentrums für zeitgenössische Kunst, Gegenwartskultur und Religion (KULTUM) der Minoriten in Graz vor, gewissermaßen ein virtuelles Museum: »Ihr Gegenstand: Kunst, reflektiert auf die Frage nach Religion, mitunter auf Gott im noch jungen 21. Jahrhundert. Diese kann [als] ein Desiderat im aktuellen Kunst-Diskurs und vor allem in der Sammlungspolitik gegenwärtiger Museen bezeichnet werden.« Das Erzbistum Köln übernahm 1989 ein vom Christlichen Kunstverein 1853 gegründetes Kunstmuseum. Das Kolumba genannte Museum erhielt 2007 einen von Peter Zumthor entworfenen Neubau und öffnet sich auch der zeitgenössischen Kunst. Der 2017 zum Bischof der Diözese Innsbruck ernannte Hermann Glettler, selbst Kunsthistoriker und Künstler, baute in seiner vorherigen Wirkungsstätte in der Steiermark seit Studentenzeiten eine eindrucksvolle Kunstsammlung auf. Alex Stock versammelte in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts theologische Positionen der Kunsttheorie. Deutlich besser sah es im 20. Jh. mit der Architektur aus, wo einige spektakuläre Meilensteine in kirchlichem Kontext umgesetzt werden konnten. Beispiele wie Fritz Wotrubas Dreifaltigkeitskirche in Wien/Mauer (1976), Peter Zumthors Kapelle Sogn Benedetg im schweizerischen Sumvitg (1989), Tadeo Andos Kirche des Lichts im japanischen Ibaraki (1989), Juha Leiviskäs Männistö Kirche im finnischen Kuopio (1992) oder Mario Bottas Cathédrale d’Evry (1995) sind nur einige erlesene Beispiele von vielen. Allerdings muss auch hier eingeräumt werden, dass die anfängliche Rezeption schwierig war. Als Le Corbusier 1955 seine Kirche in Ronchamp der Öffentlichkeit präsentierte, war die Erregung groß. Die Kunstbeauftragten der Erzdiözese Paderborn etwa teilten der Öffentlichkeit ihre Besorgnis über die weitgehend positive Beurteilung dieser Kirche in der Presse mit. Man sah in dem Bauwerk nichts weiter als ein »nicht zu überbietendes Beispiel von Neuerungssucht, Willkür und Unordnung« und beklagte »den Bruch mit der Tradition des katholischen Kirchenbaus mit einem bisher unerhörten Radikalismus.« Was die zuständigen Herren so erregte, war, dass sich Corbusiers Kirche an der Topographie des Ortes orientierte und ihr organische Formquellen zugrunde lagen. So weit war noch kein Architekt moderner Kirchenbauten gegangen. Auch hier waren es Einzelpersonen, die originellere positive Deutungen fanden. Der Abbé Ferry fand die Mystik der Romanik oder der Katakomben in der Kirche wieder. Begeistert wurde der Bau von der Bevölkerung aufgenommen. In kurzer Zeit war die Kirche ein Pilgerziel, nicht nur eines der Spiritualität, sondern eines der Architektur. Anfang des 20. Jh.s gab es vor allem in Deutschland eine liturgische Reformbewegung, die sich auch in den Ideen der Kirchenarchitekten niederschlug. Die Ten-

397

Die Moderne

denz war, den Altar in die Mitte einer als Communio verstandenen Gemeinde zu rücken, was sich vor allem bei Zentralbaukirchen anbot. Die Architektur war demnach wesentlich mehr mit pastoralen und liturgischen Fragen verschränkt als die bildende Kunst.

Tietz 2015

9.0. Die Moderne Unsere Moderne, d.h. die Moderne der Neuzeit, entstand nicht an einer scharfen Bruchkante, sondern in einem längeren Geburtsvorgang. Weil auch andere Epochen ihre Moderne kannten, die Antike im Athen des Perikles und der Sophisten, ansatzweise das Mittelalter im Nominalismus, der sich als via moderna selbstbewusst vom Scotismus und Thomismus als via antiqua absetzte, die Renaissance im Humanismus, muss »Moderne« von der »Neuzeit« als historische Epoche unterschieden werden. Ein solcher Wandel erfolgt über längere Perioden – seit dem Mittelalter ist immer wieder die Rede von der Querelle des Anciens et des Modernes und es wurde um die Ablösung alter Formen durch neue gerungen. Ältere kulturelle Bestände mischen sich mit neuen und verändern dabei ihr Gesicht. Ernst Bloch machte sich Gedanken über diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen und die daraus entstehende Notwendigkeit einer geschichtsphilosophischen Dialektik. Für die Moderne der Neuzeit wirkte die Aufklärung, die philosophisch von flächendeckenden Weltbildern befreite und die bürgerliche Gesellschaft erzeugte, besonders nachhaltig. Dazu kamen die auf dem hohen Stand der Wissenschaft basierende industrielle Revolution und die Säkularisierung. Gott verschwand weitgehend (wenn auch bei den Philosophen nicht endgültig) aus dem geistesgeschichtlichen Kalkül. Im Gefolge dieser Entwicklung fand die Kunst zu ihrer Autonomie, befreite sich von kirchlichen und adeligen Auftraggebern und von religiösen und historischen Themen. Die Kunst emanzipierte sich philosophisch aus ihrer Rolle im Rahmen einer metaphysischen Ordnung und wurde zur Ästhetik. Die Moderne, die im 19. Jh. begann, ist eine kulturphilosophische Bewegung und als solche soll sie hier beschrieben werden. Innerhalb dieses Kontextes führten mehrere Wege der Kunst in die Moderne. Die Intellektuellen des 19. Jh.s waren sich durchaus der Epochenschwelle bewusst. Der Goethekritiker Heinrich Heine prägte 1828 – im gleichen Jahr übrigens, in dem Heinrich Hübsch nach dem Stil fragte, in dem man bauen solle – das Wort vom »Ende der Kunstperiode« Goethes. Gemeint war jene Kunstperiode, welche die antike Welt romantisch verzauberte. In seinem Gedicht Die Götter Griechenlands (1825) erscheinen die Götter als leblose versteinerte Marmorbilder, die nur als klassizistische Wunschbilder überleben. »Gebrochener Klassizismus und Ironie der Moderne verbünden sich gegen die Anfälligkeit gegenüber vergangener Schönheit.« Die Bewegung des Jungen Deutschland, zu der sich um 1830 Karl Gutzkow, Ludwig Börne und Heinrich Heine zusammengeschlossen hatten (1834 gründeten deutsche Emigranten in der Schweiz einen gleichnamigen Geheimbund zur Vorbe-

III.2.4.3. V.8.0. VI.4.1. VII.2.1.

Bloch 1977b, 104–160

3.2.2.

Reschke Renate in ÄGB 5, 419

398

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Kohle 2008, 11

Klinger Cornelia in ÄGB 4, 150

X.2.5.

Ebd., 152

Ebd., 158 Adorno 1970, 274

reitung der Revolution), suchte demgegenüber in der Kunst eine Ausdrucksform der Realität und eines der Unterdrückung entgegengesetzten demokratischen Geistes. Ihre Schriften wurden bis 1842 verboten. Die Bewegung war eine von vielen, die nicht nur politische Bedeutung hatten, sondern den Paradigmenwechsel in der Kunst begleiteten. In einer überaus reizvollen Betrachtung hat Hubertus Kohle diesen Paradigmenwechsel an einem eindrucksvollen Bild von Hans Thoma (Selbstbildnis mit Tod und Amor; 1875) beschrieben: »Angesprochen wird hier die bedeutungsschwangere Dimension klassischer künstlerischer Produktion, die mit dem Lorbeer der Dichterkrone, aber auch mit dem von diesem bekrönten, in ein Leichentuch gehüllten Knochenmann daherkommt und in einer dunklen, den Galerieton des Museums assoziierenden Farbe erscheint. Aber der Maler im Selbstbildnis hat dieser Seite den Rücken zugekehrt und wendet sich der warmtonig gestalteten, sonnendurchfluteten Gegenwartslandschaft zu, die er mit seinem rotfarbig durchtränkten Pinsel in einer merkwürdigen Ineinssetzung von Maler im Bild und Maler vor dem Bild zu gestalten sich anschickt. Angeleitet wird er dabei von einem Amor […]. Die Entgegensetzungen sind hier vielfältiger Art: Gegenwart setzt sich über Vergangenheit hinweg, Leben über Tod, Farbe über Dunkel. Und kunsttheoretisch gefasst: Landschaftsmalerei über Historienmalerei, Realismus über Idealismus.« Cornelia Klinger grenzt die Moderne im Dreieck Autonomisierung, thematische Reinigung und Spezialisierung (mit den Schlagworten Autonomie, Authentizität und Alterität) ab. Es geht um das von Schlegel erklärte Recht der gesetzlichen Selbständigkeit der schönen Kunst. Kunst emanzipierte sich von einem metaphysischen Gesamtkontext und wurde neben anderen wie Wissenschaft, Recht, Ökonomie, Wirtschaft, Politik ein eigenständiges Subsystem der Gesellschaft. Und die Kunst stellte als epochaler Paradigmenwechsel auf Selbstreferentialität um, das heißt, sie folgte ihrer eigenen ästhetischen Spur und war nicht mehr auf externe Interessen verzweckt. Diese »Interesselosigkeit« der Kunst ist bis heute ein wichtiges Prinzip der Ästhetik. Wenngleich dieses Prinzip idealisiert ist und nur in Ausnahmefällen realisiert erscheint, gibt es diesen Paradigmenwechsel von einer Fremd- auf eine Selbstreferenz, die man in der Kunst des Jugendstils verfolgen kann, nicht nur in der Kunst, sondern »analog in allen sich ausdifferenzierenden Bereichen der modernen Gesellschaft [statt].« Kunst wird idealerweise durch ihre Interesselosigkeit geradezu zum Anderen der alltäglichen Welt und damit letztlich die in der Moderne stets notwendige Gegeninstanz, welche eine notwendige Bedingung für die aufgeklärte Vernunft darstellt. »Aufgrund der paradoxen Funktionalität des Nicht-Funktionalen rückt die Kunst in eine Art säkularer Transzendenz und somit strukturell an die Stelle, an der traditionell Religion stand: […].« Auf dieser Alterität konnte Adorno seine Funktionsbeschreibung von Kunst bauen: »Fremdheit zur Welt ist ein Moment der Kunst; wer anders denn als Fremdes sie wahrnimmt, nimmt sie überhaupt nicht wahr.«

399

Die Moderne

9.1. Topografie der Moderne Es kann hier nicht die Aufgabe sein, eine genaue Beschreibung des komplexen Themas Moderne zu geben. Dazu ist auf die unüberschaubare Literatur zu verweisen. Worum es hier geht, ist einzig und allein, in groben Strichen eine Stimmungslage zu umreißen, die letztlich zur Ausbildung der Moderne in der Kunst geführt hat. Eine solche kulturphilosophische Topographie scheint schon deshalb angebracht, weil die Moderne kein kunst- oder architekturtheoretischer Stilbegriff ist, sondern, wie gerade gesagt, ein gemeinsames Substrat abgibt für verschiedene – sich formal und von ihren Intentionen her gesehen auch widersprechende – künstlerische und architektonische Positionen. »Die Moderne« entzieht sich einer engeren kunstphilosophischen oder ästhetischen Begriffsbildung. Der Begriff selbst stammt aus dem 19. Jh. Die Substantivform Moderne, die im Kontext von Literatur und Kunst auftauchte, dürfte nicht vor dem Gebrauch durch den Literaturhistoriker Eugen Wolff 1886 verbreitet gewesen sein. Wegen dieser Verwendung hatte der Begriff zunächst eine ästhetische Schlagseite. Die nun schon mehrfach beschworene Breite des Eintrittstors in die Moderne ermöglicht den verschiedenen Disziplinen, ihr passendes Anfangsereignis zu platzieren. Dies führte dazu, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Diskussion um die Moderne außerordentlich komplex geworden ist. Trotzdem lässt sich das breite Eintrittstor in die Moderne auf unser Interesse hin verengen. Reinhard Koselleck hat den Umbruch entlang Hegels Analysen der »neuesten Zeit« in der Vorrede seiner Phänomenologie mit dem an Bergmetaphorik angelehnten Begriff »Sattelzeit« bezeichnet und diese Transformation zwischen 1750 und 1830 angesiedelt. In dieser Zeit um die Französische Revolution war die »›Wasserscheide‹ erreicht, an welcher sich die Orientierung der Gegenwart von Herkunft auf Zukunft umstellt. […] An die Stelle eines göttlichen Heilsplans tritt die Idee des Fortschritts, die Vorstellung der im Lauf der Geschichte zu sich selbst kommenden, ihre Humanität verwirklichenden Menschheit.« Es folgten zahlreiche gesellschaftliche und politische Umwälzungen, die zur Neuordnung von Staat und Bürgern führten. Neue Begriffe wie Demokratie, Republik, Klasse, Imperialismus, Kommunismus und vor allem dynamische Begriffe, Revolution, Fortschritt, Epoche, Entwicklung, beschrieben diese Neuordnung. Daneben gab es immer auch soziologische Zugänge zum Thema. Die lange Zeit dazu maßgeblichen Analysen von Max Weber sind inzwischen einer differenzierteren Sicht gewichen. Max Weber ging von der Frage aus, warum der offensichtliche Gang in zunehmende Rationalisierung aller Kulturbereiche nur im Okzident geschah. Rationalisierung bedeutete für ihn im Wesentlichen einen Entzauberungsprozess, der aus zerfallenen religiösen Inhalten profane Kultur, autonome Moral- und Rechtssysteme, Kunst, Wissenschaft, zweckrationale Politik-, Bürokratie- und Wirtschaftssysteme, erzeugt hat. Am bekanntesten wurde Max Webers These, dass die protestantische Ethik des anständigen und arbeitsreichen Lebens in rationalisierter Form ein Stimulans für den Kapitalismus war. Kunst war demgegenüber für Weber eine nicht-rationale, gar irrationale Kulturleistung, um rationalen Ordnungen entrinnen zu können. Weber verband mit seinen Analysen keinen geschichtspessimistischen

Jauß 1970

Sattelzeit

Koselleck Reinhard in Conze/Brunner/Koselleck 2004 Klinger Cornelia in ÄGB 4, 129

Münch 1986, 11–34

400

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Säkularisierung

Luckmann 1991 Gabriel/Gärtner/Pollack 2012

IX.4.0.

10.1.

IX.4.1.

Verfallsgestus, sondern wies deskriptiv auf die zunehmende Selbstverantwortung und Selbstbestimmung des Subjekts in der Moderne hin. Größeren Diskussionsbedarf hat die These der Säkularisierung ausgelöst. Ursprünglich ein juridischer Begriff, der die Umwandlung von Kirchen- in Staatsbesitz meinte, dehnte sich die Bedeutung bald auf soziologische und philosophische Felder aus. Max Weber sah – in diesem Punkt ähnlich wie Ernst Troeltsch – in der Rationalisierung der Moderne auch die Abkehr von religiösen und kirchlich-institutionellen Rahmen zugunsten einer innerweltlichen Selbstreferenz. Mit Berufung auf solche Überlegungen wurde die Moderne häufig auf den Vorgang der Säkularisierung reduziert. Dem ist in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s vielfach widersprochen worden, vor allem mit dem etwa von Thomas Luckmann formulierten Hinweis, dass ein empirisch feststellbarer Rückgang aktiver Beteiligung an den kirchlichen Institutionen nicht automatisch ein Ende des Bedürfnisses nach religiöser Sinnstiftung in der Gesellschaft bedeutet. Religion sei vielmehr, abseits institutioneller Formen, auch im aufgeklärten 20. Jh. noch eine überraschend starke gesellschaftliche Macht. Aus der Sicht dieser Institution wird hier eine Form eines »religiösen Analphabetismus« geortet. Die Diskussion darüber ist im Gange. Neben Weber wurde von Émile Durkheim und George Herbert Mead auf einen reflexiven, damit erodierenden Umgang mit Traditionen verwiesen sowie auf die verstärkte Herausbildung von Individualität. In der weiteren Diskussion wurde die Modernisierung mehr und mehr aus ihrer Kulturgebundenheit gelöst. Insbesondere die Postmoderne hat die Modernediskussion mit neuen Impulsen und Ideen versorgt. Der Blick auf die Geschichte der Philosophie lässt den Eindruck aufkommen, dass die Aufgeregtheit in Literatur und Kunst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an der Philosophie weitgehend spurlos vorüber gegangen ist. Man schien sich im bequemen Schema des Positivismus Auguste Comtes (Cours de philosophie positive; 1842) eingerichtet zu haben. Von den bedeutenderen Philosophen schien einzig Friedrich Nietzsche an einer Phänomenologie der modernen Vernunft selbst interessiert, verfolgte dies aber in einem schwer kommunizierbaren Binnendiskurs. Erst die Katastrophen des 20. Jh.s lenkten den Blick der Philosophen auf die geheimnisvolle Architektur der Vernunft, was man als Nachholen einer Reflexion verstehen könnte, die in der Kunst mit ihren Mitteln bereits früher antizipiert wurde. Der Kern dabei ist, dass sich die Moderne auf philosophischem Abstraktionsniveau als ständige Verteidigung des Dynamischen gegenüber dem Beharrenden und des individuellen Subjekts gegenüber einer ins Absolute projizierten Subjektivität griffig beschreiben lässt.

9.1.1. Das Transitorische gegen das Finale

Koselleck 1987, 278 Bauer 2004, 31

Wie bereits in 2.2.1. beschrieben, ist das 19. Jh. jenes »der Bewegung und des Wandels«. Die Zeiterfahrung der Moderne ist eine der Beschleunigung und des Transitorischen – hin auf eine offene Zukunft. Oder anders gesagt: »Auch die Menschen dieses Jahrhunderts erkannten übrigens in der Bewegung das Kennzeichnende ihrer Zeit […].« Moderne geht einher mit Individualisierung, Technisierung, Beschleunigung und dem ständigen Abschied von der »Natur« zugunsten der »Kultur«, das heißt

401

Die Moderne

zugunsten der Stadt und der Kunst. Gerade dieser Blick auf das Dynamische verlängert gegenüber rein soziologischen Befunden eines »Sattelzeit-Blicks« den Anlauf zum Eintrittstor in die Moderne erheblich. Die Länge des Anlaufs zeigt einmal mehr, wie viel Vorsicht beim Reden von »Kulturbrüchen« angeraten ist und wie viel Kontinuität die Schwellen- und Wendezeiten begleitet. Der Anlauf reicht zurück bis in die Renaissance und wurde als solcher mit besonderer Prägnanz von der Wiener Schule der Kunstgeschichte mit Alois Riegl, Franz Wickhoff, Julius von Schlosser, Hans Sedlmayr und Ernst Gombrich erkannt. Im Zuge der Rehabilitierung von »Verfallszeiten« (Spätantike, Manierismus) wurde von dieser Schule entweder den Künstlern (so v.a. der nominalistisch beeinflusste Julius von Schlosser) oder der Periode ein eigenständiges Kunstwollen zugesprochen. Einen ähnlichen Befund lieferte der Dichterphilosoph Paul Valéry, der ebenfalls beim Dynamismus der Renaissance, im Speziellen bei Leonardo da Vinci, ansetzte. Aus einer solchen modernen Sicht wird die Regelverletzung zu einer interessanten und kreativen, ja zu einer eine Epoche konstituierenden Quelle. Die Verletzung des Idealschönen macht die Regel erst zur Norm. Von da her ist die Beobachtung Werner Hofmanns zu lesen, dass erst die Verletzung der Norm im Manierismus und dem beginnenden Barock die Akademie als Hort der Verteidigung des Idealschönen geboren hat: »Die zur Schau gestellte artistische Selbstbezüglichkeit dialogisiert nicht nur mit den klassischen Mustern, sie ist auf deren Kanon angewiesen, um als Gegenstimme wahrgenommen zu werden.« Es ist die gegenüber der bis zur Renaissance gültigen Auffassung der Schönheit als ontologisches Geschäft umwälzende Einsicht, dass Schönheit relativ und subjektiv ist. Inwieweit bereits die Renaissance selbst solche Gegenbewegungen bewusst gesetzt hat, ist eine interessante Frage. Aby Warburgs Deutungen leben jedenfalls von diesem Topos und entdecken (mit unübersehbarem Nietzsche-Hintergrund) einen »elementaren Lebenswillen« in den klassischen Ensembles. In seiner fragmentarisch gebliebenen Erinnerungsarbeit mit seinem Bilderatlas (Mnemosyne) wollte Warburg die Kontinuität der europäischen Bildkultur demonstrieren. Man kann darin geradezu ein neues Kulturmodell sehen, »welches die Erinnerungsleistung als synästhetische Vergegenwärtigung von je individuellen Vergangenheiten zugunsten einer in die Zukunft gerichteten Energie (Ereignis, Erregung, Impuls, Intensität, Intuition) umformuliert und diese einem neuen Kunstbegriff zugrundelegt.« Es handle sich bei dieser Wende um eine von statischen Bildräumen, vom Speichern und Sammeln, vom dauerhaften Einschreiben zum dynamischen Prinzip ständigen Überschreibens. Martin Seel übertrug ein solches Paradigma auf die Kunst. An die Stelle statischer Repräsentation trete das Prozessuale, eine Ästhetik des Erscheinens. Dass der überwiegende Teil der Kunst einen dynamischen oder besser: performativen Charakter hat, ist eine interessante Spur, die in die zeitgenössische Performance-Kunst führt. Als eine Signatur der Moderne ist also auf das Flüchtige zu verweisen, auf das Transitorische und das Komplementäre, auf Spruch und Widerspruch, Behauptung und Gegenposition. Häufig wird dies als Ambivalenz gesehen und damit die Moderne – im Anschluss an die Geschichtsphilosophie Jacob Burckhardts – als »Palimpsest

9.1.4.

Hofmann 2004, 93

IX.3.4.1.

Hülk 2008, 171 Assmann Aleida 1999, 20

IX.5.2.6.ff.

402

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hofmann 2004, 182

Ebd., 96f

IX.2.1.3.

von zwei Jahrtausenden« dargestellt. Sie reiche von der coincidentia oppositorum des Cusanus und dem Wort von der harmonia als discordia concors des Franchino Gaffurio bis Flauberts harmonie des choses disparates. Solches sollte man freilich mit Bedacht formulieren. Die alte (vorgeschichtliche) Ambivalenzidee löste eine scheinbare Spannung in interesselose Harmonie auf. Die Moderne lebt hingegen genau aus diesem Moment der Spannung. Und auch wenn etwa Ernst Gombrich nach Hofmanns Meinung in seiner kunstgeschichtlichen Methode nicht die Gesetze der (Hegelschen) Dialektik anwandte, also keine Synthese erzeugt und nicht zwischen Über- und Unterbau differenziert, kennt die Moderne eine Fortschrittsfigur. Diese muss zwangsläufig in Widerspruch zur System- und Utopieambition treten. Sie wird gespeist von einem Zufluss an Mythen, der über die Romantik und den Deutschen Idealismus in die Moderne mündete. Vielleicht gilt ja: ohne Romantik keine (oder jedenfalls eine andere) moderne Kunst, die in den meisten ihrer Positionen eine neue Mythologie mit sich führte und Gesellschaftsveränderung betrieb. Die Moderne zeigt sich demnach janusköpfig: Sie umfasst Teleologie und Zerstörung, Aufklärung und Fetischisierung – ganz gemäß der Ambivalenz des Begriffs. Am Beginn der Moderne stehen auch Gnosis, Theosophie, Okkultismus und Anarchismus. C.G. Jung scheute sich nicht, die Schizophrenie als eine Erscheinung der Moderne zu bewerten.

9.1.2. Charles Baudelaire

577 Charles Baudelaire fotografiert von Nadar (1855) Hülk 2012, 16

Dogramaci 2010, 8 Neumeyer 1999, 67–96

Die Moderne zeigt sich in allen Genres der Kultur stets in der schmalen Gratwanderung von Avantgarde und deren antithetischem Rückschlag. Für die Literatur gilt der 1821 geborene Charles Baudelaire, von dessen Gedichtzyklus Les fleurs du mal (Die Blumen des Bösen; 1857) einige Gedichte wegen »Verhöhnung der öffentlichen Moral und der guten Sitten« verboten wurden, mit seiner Diagnose der Flüchtigkeit und Kontingenz der Erfinder der Moderne. Seine Arbeiten umfassen auch eine Ästhetik des Hässlichen und zelebrieren aufreizend und provokativ den Dandysmus – politisch zwischen Aristokratie und anhebender Demokratie changierend. Als »unaufgeregtes Gründungsmanifest der ästhetischen Moderne« darf mit der Figur des Flaneurs – als Vorbild diente ihm der heute vergessene niederländische Maler Constantin Guys – und der Behandlung von Kunst und Wissen im Kontext von Dynamik und Alltäglichkeit Le peintre de la vie moderne angesehen werden. Baudelaire feiert in dieser 1863 erschienenen Schrift den Einzug der Moderne in die Kunst und setzte einen entscheidenden »Anstoß zu einer Aufwertung des Alltags als künstlerisches Thema […].« Der Künstlerflaneur (Constantin Guys) sucht im Flüchtigen das Ewige, in der vergänglichen die eigentliche Schönheit. Baudelaire verstand Schönheit dualistisch. Sie hat einen zeitlosen und einen zeitgebundenen Anteil. Der »Körper« der Schönheit ist vergänglich, ihre »Seele« ewig. Er dekonstruierte die naive Schönheitsvorstellung, die sich an Trugbildern orientiere und zum bloßen Schein verkomme, während die wahrhafte Schönheit uneinlösbar und vergänglich sei. Es sei nicht zuletzt Aufgabe der Kunst der Moderne, diesen Schein zu zerstören – etwa durch das Hässliche. »Das Brüchige hat eine

403

Die Moderne

gewisse Schönheit, mitunter, aber es bricht auch, und zwar immer«, kommentierte Bertolt Brecht. Der Maler des modernen Lebens sollte den seismographischen Sinn für das Besondere in der Flüchtigkeit dieses Lebens entwickeln. Der Meister dieses künstlerischen Screenshots war eben Guys. Baudelaires Zeitdiagnose stellte sich dem Dynamismus, der Geschwindigkeit der neuen Zeit und ihren darin involvierten Zeitgenossen. Seine »Entdeckung und Poetisierung der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit […] wurde durch die französischen Impressionisten erstmals eingelöst.« Der Rückschlag – so wird gerne argumentiert – erfolgte dann im Futurismus. Denn die Verherrlichung der Bewegung bei den Futuristen ist nicht Aufklärung über die wahre Schönheit, sondern sie feiert einen eindimensionalen Fortschrittsprozess per se bis hin zur Gewalt. Während im Futurismus der Prozess eine anarchisch-destruktive Offenheit aufweist, liest Jürgen Habermas Baudelaire im Sinne eines Projekts der Aufklärung. Für Baudelaire ist die Moderne »das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.« Die Moderne indes bewähre sich nach Habermas als das, »was einmal klassisch sein wird; ›klassisch‹ ist nunmehr der ›Blitz‹ des Aufgangs einer neuen Welt, die freilich keinen Bestand haben wird, sondern mit ihrem ersten Auftritt auch schon ihren Zerfall besiegelt.« Das – so Habermas – habe der Surrealismus auf seine Weise fortgeführt. Dass vor solchem Hintergrund der Surrealismus und Futurismus, eine esthétique du surréel und eine esthétique du mouvement, »in einer Fluchtlinie gleichsam zueinander finden«, hat Walburga Hülk im auch in der Sprachwissenschaft bewährten Schema des Flüchtigen und Fixierten dargelegt. Sie verweist dabei auf den oben angedeuteten Medienumbruch um 1900, auf Fotografie und Kinematografie, die von der Bewegung geprägt waren – zumal in der damaligen Hauptstadt der Fotografie, Paris. Jonathan Crary unterscheidet die camera obscura als Ausdruck des dominanten Sehmodells des 17. und 18. Jh.s, das von einem geschlossenen Raum ausging, vom prozesshaften Akt des Sehens in der Moderne, das gleichsam eine Entsprechung im Panorama, Diorama, dem Thaumatrop (Wunderscheibe), Phenakistiskop (Wunderrad) und Zootrop (Wundertrommel) fand. Bleibt man im Bild des Flüchtigen, der Allegorie »sich unablässig koppelnder und auflösender Begegnungen in der Metropole«, dann ist man in der Moderne, in die auch Karl-Heinz Bohrer Baudelaire unter dem schönen Titel »Melancholie als Zeitbewußtsein« stellt. Die moderne Schönheit ist gleich »einem screenshot – flüchtig, doch eingeprägt in das Gedächtnis […] ›le transitoire, le fugitif, le contingent … tirer l’éternel du transitoire‹.« Über die Frage, inwieweit Baudelaire 1863 in seinem Le Peintre den Begriff des Schönen im Sinne eines beau relatif völlig historisierte und in Opposition zu einem objektiv Schönen stellte, gehen die Meinungen in der einschlägigen Literatur auseinander. Es geht darum, ob die Apotheose einer Ästhetik des Hässlichen mit oder ohne Utopie im Hintergrund zu lesen ist. Die Beantwortung dieser Frage entscheidet letztlich auch über die Form des platonischen Gehalts, der in der Bedeutung der

Brecht 1938, 452

Padberg Martina in Kohle 2008, 391 IX.2.2.6.

Baudelaire 1863, 226

Habermas 1989, 18

Hülk 2006, 165

Crary 1990; Crary 2002 3.1.2.

Bohrer 1996, 43–221 Hülk 2006, 173

404

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

z.B. Klinger Cornelia in ÄGB 4, 137

Barck Karlheinz in ÄGB 1, 352

3.1.2.

Baudelaire 1857, 263

Ebd., 23 Pochat 1986, 558–561

Klinger Cornelia in ÄGB 4, 137

ewigen Schönheit im Flüchtigen und Greifbaren verborgen liegt. Baudelaire ließe sich auch so rekonstruieren, dass der Dichter eine Versöhnung des Flüchtigen mit dem Ewigen anstrebte. Unbestritten ist aber, dass er sich gegen das Festklammern an die Tradition wandte, gegen ein Ausweichen vor dem prinzipiell Transitorischen der Kunst. Das Paradigma des beau relatif diagnostizierte er vor allem in der Mode. Diese Ästhetik der Zeit (l’esthétique du temps) habe wenig mit Schönheit, aber viel mit dem Interesse zu tun. Baudelaire lobte Théophile Gautier, dem er seine »kränkelnden Blumen« gewidmet hatte (dem »vollkommenen Magier der französischen Dichtung«), dafür, dass er als einer der Ersten die Relativität der Schönheitskonzepte erkannt habe. Die Formel Ästhetik verwandte Baudelaire als »Selbstreflexion auf die eigene künstlerische Praxis (und auf die kongeniale anderer Künstler) als semantisches Indiz einer individuellen Künstlerästhetik […].« Der Dandy-Dichter liebte Wagner-Ouvertüren (das verband ihn mit Cézanne), wo ihn das schicksalshafte Ringen zwischen dem Diabolisch-Düsteren und dem Erlösend-Lichtvollen faszinierte. Dieses Düstere bezog sich bei Baudelaire auch auf den Fortschrittsdiskurs der Moderne. In einem an Schopenhauer erinnernden Gedanken entlädt sich diese Abneigung des in Paris geborenen Baudelaire gegen die vermeintlichen Früchte des Zivilisationsprozesses im Schmerz der Traurigkeit (tristesse) und Melancholie (mélancholie), was einen Lebenswillen gebiert, der als Leiden in der ständigen Spannung von »Trübsinn und Vergeistigung« (so Stefan Georges Übersetzung von animalité und spiritualité) ausgehalten werden muss. Baudelaire sah – ähnlich wie Valéry – im Fortschritt in der Tat auch Dekadenz und den Verlust von Vitalität. Daher rührt die Ablehnung der aufkommenden Fotografie. Solche fortschrittskritischen Bewertungen wurden im Symbolismus und auch von Stefan George, der die erste Übersetzung ins Deutsche besorgte, begierig aufgesogen. Trotz – oder vermutlich besser: wegen – allen Flanierens, wegen Baudelaires Revolte gegen die bürgerliche Saturiertheit in der Großstadt, dieses »Babel ganz aus Treppen und Arkaden«, sind Die Blumen des Bösen auch Ausdruck einer Sehnsucht nach dem Paradies. Ja, sie gehören in den Code der Evokation romantisch-mythischer Ureinheit. Götz Pochat konstatiert von da her einen Neuplatonismus bei Baudelaire, den er vor allem an Gleichsetzungen festmacht wie jener von der Natur als Tempel – »der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen, die mit vertrauten Blicken ihn beobachten«, was an das Diktum Delacroix’ von der Natur als Lexikon erinnert, dem der Maler nicht plump kopierend, sondern mit Einbildungskraft gestaltend folgen müsse (Salon 1846). Baudelaire setzte die alte Naturnachahmung außer Kraft. »Baudelaires Auffassung ist modern in dem Sinne, daß er in der Natur nicht mehr den Ausdruck einer transzendental [gemeint: transzendent; BB] begründeten Ordnung und daher auch keinen Leitfaden und Maßstab für das Wahre, Gute und Schöne sieht, wie es noch das 18. Jh. getan hat.« An dieser Stelle sei nochmals an Walburga Hülks Deutung des Mnemosyne-Projekts von Aby Warburg erinnert, das nach ihrer Ansicht aus von Renaissance und Manierismus inspirierter synästhetischer Vergangenheitssondierung gleichsam den Blick auf Impuls und Erregung der Moderne freimachte.

405

Die Moderne

Baudelaire, der in der Kunst tiefe Erfahrungen gemacht hat, setzte die Tradition der Salonbesprechungen von Diderot fort, ja mit ihm erreichte die Kunstkritik »eine neue Qualität«. Die erste Besprechung 1845 folgte noch dem Muster Diderots, ein Jahr später begann er, sie zu allgemeinen Reflexionen über Kunst auszubauen. Kritik sollte von nun an parteiisch, leidenschaftlich und politisch sein. Er wandte sich vom Klassizismus eines Ingres ab und der Farbintensität eines Delacroix zu. Zudem verlangte er von der Kunst Innovationskraft und übertrug Motive der neuen kapitalistischen Ordnung und des Fortschrittsgedankens in den Bereich der Kunst. Im Fokus stand das Kunstwerk und keine Regel, in die es intellektuell eingebettet werden konnte. Das sei bloß etwas für einen »Pedant[en] wie der Philosophaster«, der das magische Verfahren der Malerei nicht verstehe. »Ästhetische Größe liegt weder in der Anlehnung an die Tradition noch in einem doktrinären Bruch mit ihr, sondern in der Einmaligkeit des schöpferischen Temperaments, in deren Hervorhebung und Erläuterung die vornehmste Aufgabe der Kritik besteht.« Die Künstlerpersönlichkeit tritt als autonome Figur auf, als origineller Schöpfer ohne Vorläufer. Die Stellung des modernen Künstlers nahm »paradigmatische Züge für den modernen Menschen an.« Die Einbildungskraft des modernen Subjekts wird bei Baudelaire so stark, dass ihm die Welt als bloßes Lager von Bildern und Zeichen erscheint, die Natur als Wörterbuch und nicht als fertige Komposition. Kunst wird von einer göttlichen Inspiration auf sich selbst zurückgeführt, wird zur bloßen Metapher und ist keine Entmächtigungsstrategie des Genies mehr. Dieses Projekt der Kunst um ihrer selbst willen prägt den Romantikbegriff Baudelaires. Es geht darin abseits von Motiven und Wiedergabemodi um das Empfinden. Romantik trifft sich mit den Kriterien der Moderne. So betrachtet müsste man dann doch Platon durch Kant ersetzen, die jenseitige Ideenwelt durch die diesseitige Einbildungskraft. Die Einbildungskraft wird ihm zur Königin der Fähigkeiten (reine des facultés), die jeder normativen Bestimmung von Schönheit entgegen steht. Sie gewinnt eine allenfalls physiologische Basis, mehr noch eine der Exzentrik und Energie, und wird dem pathologischen Kontext, in dem sie im 19. Jh. nicht selten stand, entzogen. »Der ›poetische Zustand‹ nämlich, in den der Dichter verfällt, ist allererst eine cura sui, eine technologie de soi oder eben eine Anthropotechnik, die gegen die Hysterisierung des romantischen Künstlers und ebenso gegen den Hang zum Verlust der Selbstkontrolle und die Liebe zur Dekadenz und Nervenschwäche gesetzt ist.«

9.1.3. Hippolyte-Adolphe Taine Das Interesse an den physiologischen und psychologischen Fragen im Zusammenhang mit der Kunst prägte die Überlegungen des 1828 in den Ardennen (Vouziers) geborenen Hippolyte-Adolphe Taine, dem engen Freund von Baudelaire und Flaubert. Er lehrte Rhetorik und Kunstgeschichte. In einem Werk über den Verstand (De l’intelligence; 1870) legte er eine empiristische, an John Stuart Mill, Herbert Spencer und Hermann von Helmholtz orientierte Psychologie vor. Auch Zeichen und Bilder basierten demnach als Abstraktionen durch den Verstand auf Sinnesempfindungen.

Schneider 1996, 104 VII.5.2.2.

Ebd., 105

Baudelaire 1855, 232 Rauseo Chris in ÄKPh, 62

Ruppert 1998, 233

Hülk 2012, 20

406

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Ebd., 97

Zweig, zit. nach Ebd., 98

Pochat 1986, 564

Karcher Eva in ÄKPh, 772

Hülk 2012, 94ff

Sein Forschungsprogramm lief darauf hinaus, beide Genres, Geistes- und Naturwissenschaften, zur Erklärung solcher Phänomene des Ich heranzuziehen. Das bot aus seiner Sicht auch einen Ansatz, die Kunstphilosophie auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Das Ergebnis seiner einschlägigen Vorlesungen an der École des BeauxArts in Paris legte er in der fünfbändigen La philosophie de l’art (1865–1869) nieder. Neben der Naturnachahmung als der ersten Aufgabe von Kunst entstehe diese nach Regeln und unter bestimmbaren Bedingungen. Diese Regeln entsprechen seiner Ansicht nach aber nicht wie im Klassizismus einem starren Korsett, sondern sie sind Folge sozialer und gesellschaftlicher Bedingungen, wozu auch der Publikumsgeschmack gehört. Taine kann »mit Nietzsche und sodann Aby Warburg, als einer der ›Erfinder‹ eines Post-Winckelmannsch’en Antike gelten, die gegen die Vereinnahmung der Griechen durch die französischen Klassizisten gewendet ist und stattdessen, im Namen Platons und als Alternative zur ermüdenden Moderne, vor allem eines ausstrahlt: Neugier, Beweglichkeit des Geistes, Lebensfreude.« Nietzsche rezipierte Taine und schrieb ihm 1886 einen zustimmenden Brief und er machte Taine als Widerständler gegen Winckelmanns Antikendeutung erst bekannt. Die Regeln sind durch diese energetischen Tendenzen der Moderne gebrochen und – wie Stefan Zweig in einer Auseinandersetzung mit Taine feststellte – durch eine »eigentümliche Erregung«, die Künstler in der Gegenwart von Dingen empfinden müssten. Auch bei Taine sondert der Künstler das Bleibende aus der Flüchtigkeit und es gibt eine ständige, durch Platonismus und Rationalismus ausgelöste Annäherung an klassizistische Vorstellungen, wenn der Künstler das darstellt, wozu die Natur selbst nicht imstande war. Genial sind seine Deutungen der Bilder Tintorettos, in denen er den élan vital erkennt und die die dynamische Befindlichkeit der Zeit besonders treffend rekonstruieren. Taine fand in Tintoretto das von ihm verehrte Venedig exemplarisch verdichtet. Anhand dieser zeittypischen Erregungsbegriffe sondert er die Künstlerpersönlichkeit vom Durchschnittsmenschen ab. »Tintoretto erweist sich als ein Genie, das außerhalb von milieu und moment steht, von derselben schöpferischen Phantasie beseelt wie Delacroix in Baudelaires Beschreibungen.« Indem er Kunstwerke als Spiegel einer Epoche liest, »gelingt es Taine, anhand verschiedener kunstgeschichtlicher Epochen zu zeigen, wie und daß sich soziologische, mentalitätsgeschichtliche und naturbedingte Faktoren schon in der griechischen Plastik der Antike, der italienischen Malerei der Renaissance und der niederländischen Malerei des 14. bis 16. Jahrhunderts vermischen.« Dass hier auch der Begriff der Rasse fällt, darf nicht zu einer Fehleinschätzung verleiten. Gemeint ist keine biologische Kategorie, sondern eine religiöse, ökologische und linguistische. Taines Kunstphilosophie rekonstruiert das Bildprogramm als große Erzählung einer instabilen kulturellen Dynamik. Es zeigt uns die Wirklichkeit, wie sie durch unsere Sinneswahrnehmung gegangen ist und nicht – kantisch gesprochen – in ihrem AnSich-Sein. Es ist Spiegel seiner physiologischen Forschungen, gleichsam ein Muster »einer unablässigen Kinetik und Prozessualität der menschlichen Einbildungskraft und einer enormen kinetischen und semantischen Beschleunigung des inneren Ge-

407

Die Moderne

schehens in schöpferischen Augenblicken und Phasen.« Die Kunst wird ihm zur Droge und zum Rausch neben Arbeit und Reflexion. In einer abgelehnten Doktorarbeit hatte Taine, der um 1860 seine Grand Tour unternahm (mit seinem Bericht Voyage en Italie in der Hand bereiste später Le Corbusier Italien), aus seiner Verehrung Platons, mit dem bereits alles gesagt sei, kein Hehl gemacht. Das war weniger anstößig als die damit verbundene Abwertung der französischen Philosophie, die in den Bibliotheken Falten werfe (une vieille ridée, habitante des bibliothèques).

Ebd., 131

9.1.4. Paul Valéry In diesen Kontext ist auch der 1871 in Südfrankreich geborene Dichterphilosoph Paul Valéry einzuordnen. In der Valéry-Rezeption teilen sich die Ansichten den Beitrag zur Moderne betreffend je nach Blickrichtung. »Manches an Valérys Kunstauffassung wirkt jedoch heute neoklassizistisch und ist historisch überholt«, schreibt Paul Mog mit Blick auf seine Aphorismensammlung Tel Quel. Walburga Hülk hingegen legt ihr Augenmerk unter Zuhilfenahme der zwischen 1893 und 1894 geschriebenen, erst 2005 publizierten Carnet inédit dit ›Carnet de Londres‹ – sie bildeten den Auftakt für die bis zum Tod fortgeführten Cahiers – auf die dynamische Seite und rekonstruiert Valéry als kongenial mit Leonardo, dem »›Erfinder‹ und Experimentator des Paragone und zugleich Leitfigur einer frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Kultur […].« Nicht Wissens- und Erinnerungsmelancholie, sondern geistige Euphorie im Zeichen des »élan vital« zeichneten ihn aus. Als solcher »französischer Leonardo« schaffte Valéry, der in der Introduction à la méthode de Léonard de Vinci die Verschränkung von Technik, Kunst, Mathematik, Philosophie bei diesem gefeiert hatte, ein »Erregungsmuster« und eine »schöpferische Konstruktivität in der Nachfolge Baudelaires«, er »aktualisiert und mobilisiert die ganze Leonardo-Welt«. Valéry soll Viollet-le-Ducs Gotik-Deutung sehr geschätzt haben, weil sie die Kraftfelder des Baus und des Baustils thematisierte. Dies passte gut zu seiner Neigung zu einer »hermetischen, auf möglichst reine Konstruktion und immanente Harmonie setzenden, sozusagen durchmathematisierten Poetik; als Essayist widmete er sich, vor allem in seinen ›Cahiers‹, erkenntnis- und entwurfstheoretischen Fragen.« Wieder, wie schon bei Taine, das Beschwören eines notwendigen Zusammen-Spiels der beiden Wissenschaftskulturen auf dem gemeinsamen Nenner des élan vital! Obwohl er von großen Literaten umgeben war bzw. sie als Vorbilder sah, Victor Hugo, Baudelaire, André Gide, den verehrten Mallarmé, und obwohl er selbst seit dem achtzehnten Lebensjahr Gedichte schrieb, zelebrierte er anfangs die Ablehnung der Literatur und begeisterte sich für so entgegengesetzte Felder wie Naturwissenschaften und Esoterik, was manche als intellektuellen Snobismus ansehen. Valéry, der »Mann des Mittelmeeres«, hatte die Flora und Fauna in Kultur und Geschichte eingeschrieben und teilte diese Sensibilität mit Le Corbusier, dem großen Architekten der Moderne. Die Topoi der Architektur und Kunst fielen ihm aus dem Strandgut entgegen. »Die maritime Welt forderte ihn dazu auf, Dauer und Augenblick, Festigkeit, Geschmeidigkeit und Flüssigkeit als archaische, in unser individu-

Mog Paul in KNLL 16, 1027

Hülk 2010, 352

Ebd., 362 3.2.3.2.2.

Maak 2010, 131

408

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hülk 2012, 171

IX.2.3.5.

elles und kollektives Gedächtnis eingeschriebene Mneme, als seit langem vertraute Ausdrucksformen des Lebens, der Evolution und der Kulturgeschichte zu beobachten und zu reflektieren.« Wenn Valéry an Schneckengehäusen und Muschelschalen sowie an den Formen der Kalkklippen den kristallinen Niederschlag des élan vital studierte, hatte er bei Leonardo seinen Vorläufer, der Zeichenstudien zu Wasserstrudel angefertigt hatte. Valérys Eupalinos ou L’architecte (1921), der erste von drei Dialogen, macht Sokrates zu einem Strandläufer, der ein an den Strand geschwemmtes Gebilde von wunderbarem Weiß findet, ein Gebilde, wo sich Natur und Kultur, Naturform und Kunstform nicht mehr unterscheiden lassen. Vermutlich hatte Le Corbusier diese Stelle im Kopf, als er die Geschichte von dem Krebspanzer öffentlich machte, der ihm auf Long Island zugefallen war und der ihn zu einer neuen, besser: einer erweiterten Architektur inspirierte. Auf eine mögliche Rekonstruktion einer Architekturtheorie Valérys bezogen, hat dieser platonische Dialog einige antiplatonische, aristotelische Schlagseiten. Das gefundene Objekt ist ein konkretes und von ihm leitet sich eine auf Wirkung angelegte Architektur ab und nicht etwa von einer abstrakten Idee. Auch die Wirkungsästhetik widerspricht dem objektiven Schönheitskonzept Platons vollkommen. Ein weiterer Dialog war L’Âme et la danse. Es ist eine hymnische Preisung des Tanzes als kosmische Kunst und Instrument der Verwandlung im der flammenähnlichen Verwirbelung. Zu Enthusiasmus und Ekstase in den dynamischen Prozessen trat gleich die Technik. Die Faszination der Spiralbewegung bezog sich auch auf die Form des Propellers der neuen Flugzeuge. Das Schwindelerregende von Strudel und Wirbel (tourbillon) verwies im technischen Zusammenhang auf die Leidenschaft der Futuristen. Mit dem Interesse am Tanz stieß Valéry auf das Œuvre von Degas, das er in einer schon medienphilosophischen Weise beschrieb.

9.2. Die Wege in die Moderne der Kunst

IX.4.4.2. Frascina 1993 Gombrich 1996, 543 Novotny 1938

Lange bevor die Philosophen die Architektur der Vernunft kritisch unter die Lupe zu nehmen begannen und die Historiker einen prägnanten Modernebegriff aus der Sattelzeit-Unschärfe herauslösten, bildete sich die Moderne in der Literatur und der Kunst heraus. Es gibt einen breiten Konsens darüber, den Beginn der Moderne in der Jahrhundertmitte, an jener Scheidelinie, die Roland Barthes als Nullpunkt der Literatur bezeichnete, stattfinden zu lassen. Ernst Gombrich wählte Paul Cézanne, denn er habe sowohl die Natur als auch die Ordnung gemalt, also souverän beide Pole, die Farbe und die Form, zu vereinen versucht. Bereits Fritz Novotny hatte Cézanne gewählt und auf die Überwindung der Perspektive verwiesen. Werner Hofmann setzt aus kunsthistorischer Sicht auf das Dreigestirn Cézanne, van Gogh und Gauguin, vielleicht noch George Seurat. Cézannes Blick in die Natur impliziert immer zugleich die Beobachtung des eigenen Sehens. Dieses Ende des scheinbar unabhängigen, vom Künstlersubjekt getrennten Sujets ist eine (gegenüber der Perspektive) konstruktivistische Fortschreibung der transzendentalen Wende Kants.

409

Die Moderne

578 Theódore ­Rousseau, Landschaft bei Barbizon (1853); NGB

Dieser konstruktivistische Anteil wird in der Fachliteratur manchmal Perspektivität genannt und pointiert die Rolle des Subjekts. Es ging letztlich bei der Überwindung des malerischen Illusionismus um die Überwindung der Illusion, dass »der Raum früher als die Erfahrung existiert und passiv darauf wartet, angefüllt zu werden, und die Ablehnung eines psychologischen Modells, in dem das Selbst bereits von seinen Bedeutungen erfüllt ist, bevor es in Kontakt mit seiner Welt tritt.« Es ging also jetzt um die Einlösung Kants, nach dem das Subjekt Raum und Zeit erst erzeugt. An die Stelle der strengen Konstruktionsperspektive der Renaissance trat als Radikalisierung eine »Polyperspektivität« im Sinne Walter Biemels. Bereits die Barockarchitektur wusste um die Brisanz dieser Instabilität der Perspektive, wie der Streit um die Fluchtpunkte zeigte. Nun sei hier der Vorschlag gemacht, die Moderne in der bildenden Kunst mit der Schule von Barbizon beginnen zu lassen. An diesem magischen Ort liefen mehrere Fäden zusammen: Es war ein Fluchtort aus Paris, das laut und schnell geworden war, schmutzig und unhygienisch. Feinsinnige Geister, die Maler und nun auch die Fotografen mit ihrer schweren Ausrüstung nutzen die neue Eisenbahn, um das nahe Barbizon und den verwunschenen Wald von Fontainebleau zu entdecken. In Barbizon, wo es sich auch preiswerter leben ließ als im teuren Paris, begann eine wahre Revolution in der Malerei. Keine mythischen, historischen oder religiösen Themen mehr wurden gemalt, sondern die Natur, aber diese wurde weder aus der alten Naturnachahmungs-Ambition noch aus biedermeierlicher Heimatsehnsucht gewählt, sondern die Maler interessierten sich für ihre Lichtspiele und Elementarereignisse. Mit den Hilfsmitteln des Fortschritts begann die Moderne paradoxerweise mit der Verherrlichung des Elementaren der Natur. Die Künstler malten bewusst im Freien und nicht mehr im muffigen Plüsch der akademischen Ateliers. Sie machten die Natur – bisher allenfalls Kulisse – mit einer Verbeugung vor der englischen und niederländischen Landschaftsmalerei selbst zum Thema. Dass die malenden Künstler neben den konkurrierenden Fotografen standen, die eine mimetische Ab-

Krauss Rosalind in Stemmrich 1995, 481f

Biemel 1966/67 VII.4.2.2. Schule von ­Barbizon

410

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Berman 2007, 133

bildung wesentlich besser zustande brachten, gab der modernen Malerei einen zusätzlichen Impuls. Wie gesagt gab es für die Landschaftsmalerei, die eine solche Richtung einschlug, Vorbilder. Von William Turner wird berichtet, dass er sich bei seinen vielen Reisen aus Wagen und Zug beugend den Naturgewalten aussetzte, um sie möglichst intensiv zu erleben. Das Erleben und das Malen in der Natur begannen so gesehen bereits bei den Romantikern und nicht erst im Wald von Fontainebleau. Pierre-Henri de Valenciennes und Jean-Baptiste Deperthes schufen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ähnliche Werke wie die Barbizon-Schule. Und die Künstlerkolonie in Barbizon, als deren offizieller Begründer Théodore Rousseau gilt, blieb nicht allein. Ähnliche Gruppierungen entstanden in Berlin (1867), Dachau bei München (ab 1875), Darmstadt (1899), im nordöstlich von Bremen gelegene Worpswede (ab 1889), wo die Landschaftsbilder gerne eine menschengemachte Kulturlandschaft zeigten. Auch das Licht des Nordens entfaltete seinen Reiz. Am nördlichsten Punkt Dänemarks, dort, wo Nord- und Ostsee aufeinanderstoßen und Skagerrak und Kattegat sich treffen, malten die Skagenmaler plein air Natur, Menschen und die hinreißenden Lichtspiele in der Manier des Impressionismus. »However, by the 1880s, Skagen had become one of Scandinavia’s most famous artist colonies, attracting painters, writers, and musicians from throughout the Nordic countries.« Es waren vor allem zwei Themenkreise, welche die Malerei revolutionierten und der alten Akademieästhetik völlig zuwider liefen: das, was man schließlich als Realismus, und das, was man als Impressionismus bezeichnete. Barbizon mag der symbolische Ort der Geburt der Moderne in der bildenden Kunst gewesen sein, aber es gab mehrere Wege, die in die Moderne führten. Sie waren geographisch auf verschiedene Gebiete verteilt. Es gibt daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wenn im Folgenden einige dieser Wege skizziert werden.

9.2.1. Der Realismus Die Maler in Barbizon malten nicht nur Landschaft (auch wenn es eine dem Realismus frönende Landschaftsmalerei gab, etwa jene des Carl Blecken). Gustave Courbet, über dessen sozialkritische Ambition die Meinungen geteilt sind, war zwar nur kurz, aber sehr inspirierend in Barbizon und er setzte neben der Landschaft die Arbeit der einfachen Bauern und Handwerker ins Bild. Ähnliches unternahm der erst 1849 nach Barbizon gekommene Jean François Millet, selbst Sohn einer bäuerlichen Familie aus der Normandie. Er malte pastorale Bilder mit demütigen Menschen beim mühsamen Tagwerk, an denen sich van Gogh ein Vorbild nahm. Damals ein skandalöses Tun! Courbet nannte dieses Unternehmen »Realismus« (in Italien sprach man von verismo) und Millet sprach die neue Richtung als »demokratische Kunst« an, was – politisch wie künstlerisch – abschätzig gemeint war. Der Streit um die neue Doktrin zog die Szene in ihren Bann. Der Kunstkritiker und Verfasser mehrerer Salons, Jules-Husson Champfleury, war einer der wenigen Verteidiger des Realismus und namentlich von Gustave Courbet. 1857 beschrieb er in Le réalisme zustimmend die neue Doktrin.

411

Die Moderne

Millet pries die Bäume als beseelte Wesen und in einem frühen ökologischen Protest gab die Künstlerkolonie den Bäumen Namen, um sie vor einem Abholzungsbeschluss zu schützen. Die Industrie benötigte reichlich Holz für Schwellen von Bahngeleisen und als Energiequelle. Ende des Jahrhunderts wurde es durch Stahl für die Schwellen und Kohle, dann Öl als Energiequelle abgelöst. Nicht nur die bäuerliche Welt, auch die Welt der Industriearbeiter wurde von Dîaz de la Peña, Jean-Baptiste Camille Corot und Théodore Rousseau gemalt: anonyme schmutzige Menschen, rauchende Fabrikschlote und das Unbeständige dieser neuen schnellen industriellen Welt. Fernand Léger baute später mit einem nouveau réalism darauf auf und verstand darunter Geschwindigkeit und die Formen der Industrialisierung. Der Realismus in der Kunst war geboren. Eine Flut von Schriftstellern, Theaterautoren, Künstlern und Musikern folgten dem neuen Paradigma. »Die Leidenschaftslosigkeit ermöglichte es, die Gesellschaft in aller Ruhe zu sezieren und rücksichtslos Charaktere zu zeichnen.« In der Literatur war die Strömung älter als in der bildenden Kunst. Bereits weit vor 1848 forderte der russische Literaturkritiker Vissarion Belinskij eine realistische Dichtung und meinte damit eine, in der sich der faktische Zustand der Gesellschaft widerspiegelt. Naturgemäß ließ sich der Realismus bei den russischen Revolutionären und später bei den Marxisten breit verankern. Allerdings ging es hier weniger um ein ästhetisches als um ein geschichtsphilosophisches und gesellschaftspolitisches Interesse. Im französischen und deutschen Roman äußerte sich dieser Realismus in der neuen Gewohnheit, Alltagsereignisse mit detaillierter Genauigkeit zu beschreiben. Vor allem in der französischen Literatur propagierte man diese Beschreibung nach genauer Beobachtung. Edmond Duranty, Henri Thulié und Jules Assézat gaben die kurzlebige Zeitschrift La Réalisme heraus. In ihr forderten sie die Zutaten realistischer Kunst ein. Gustave Flaubert stand beim Schreiben seiner Madame Bovary vor einer ähnlichen Aufgabe wie die Künstler des Realismus, nämlich die abstoßende Realität des Lebens stilistisch möglichst vollendet darzustellen. Taines in seiner Philosophie de l’art entwickelte Ästhetik des effet de réel (Barthes), in der klassischen Philosophie redet man meist von Widerspiegelung, bildete eine passenden theoretischen Rahmen. Ähnliche Entwicklungen gab es in England, Frankreich und im deutschsprachigen Raum. Der realistische Roman in Europa ist eine der »charakteristischen Kunstformen des 19. Jahrhunderts.« Den Boden dafür bereiteten die empirischen, positivistischen und sensualistischen Strömungen in der Philosophie und im Ästhetikdiskurs, sowie die Aufklärung seit dem 18. Jh. Philosophisch und wissenschaftsgeschichtlich stand zunächst die für viele Wissenschaften wichtige methodische Weichenstellung zur Methode des Empirismus, der Induktion, im Vordergrund. Die revolutionäre Bewegung am Beginn des 19. Jh.s brachte zudem eine sozialkritische Note ins Spiel. »Gesellschaftskritische und revolutionäre Antriebe solcher Art rührten in Deutschland seit den 1830er Jahren jenen Bodensatz des Empirismus neu auf, den die idealbetonenden Erkenntnis- und Kunsttheorien nach Kant hatten absinken lassen.«

Schnerb 1983, 390 Literatur

9.1.3. Osterhammel 2009, 48

Klein Wolfgang in ÄGB 5, 171

412

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

V.8.2.f.

VII.5.2.2.

579 Jean-Auguste-­ Dominique Ingres, Die große Odaliske (1814); LP

Inhaltlich davon zu unterscheiden ist die Bedeutung des Realismus, die dieser in der erkenntnistheoretischen Debatte des Mittelalters hatte. Realismus bezeichnete dabei eine im Universalienstreit des Mittelalters engagierten Position, die an einer vom Subjekt unabhängigen Außenwelt festhält. Der Streit schwelte bis in die frühe Neuzeit. Weil der Realismus das Erbe einer vom Subjekt unabhängigen Realität samt einem Abbildungsverhältnis transportiert, ist das heutige Urteil über ihn eher kritisch. In Literatur und Kunst wurde der Ausdruck eben im Sinn einer ungeschminkten Darstellung der Realität gebraucht. Davon ausgehend wurde der Begriff zur Stilbezeichnung. Inwieweit der Realismus seinerseits auch idealistische Komponenten beförderte, ist eine berechtigte Frage. Man stößt unwillkürlich auf sie, wenn man das Lob Honoré Daumiers durch Baudelaire hört. Daumier habe auf das Wesentliche hinter der realen Wirklichkeit verwiesen. Historienbildsujets werden dann auf Darstellungen zeitloser Lebensrhythmen in der bäuerlichen oder arbeitenden Welt aufgeschlüsselt. In der Tat muss man sich vor allzu schnellen und eindeutigen Zuschreibungen hüten, eine kunstphilosophische Analyse stößt im Einzelfall in der Kunst des Realismus bald auf idealistische Komponenten. Dennoch verstanden sich Adolph Menzel und Carl Blecken in Berlin und Wilhelm Leibl in seinem Münchener »Leibl-Kreis« durchaus als Gegner von Idealismus und Romantik. Auch in der Kunstpraxis schlug sich die Bedeutung des Realismus für den Eintritt in die Moderne nieder. Gegen die offizielle Verwaltung der Kunst entstanden die Salons, benannt nach dem Salon Carré des Louvre. Diese Ausstellungen machten auf die zeitgenössischen Künstler aufmerksam, die sich nun selbst um den Verkauf ihrer Werke kümmern mussten. Ab 1765 hatte Diderot seine Salonberichte verfasst. Spätestens mit der Gründung des Pariser Salon der Zurückgewiesenen (des Refusés)1863 emanzipierten sich diese Einrichtungen als Gegeninstanzen zu den Akademien. Auch Monet und Manet stellten in ihnen aus. Ende des 19. Jh.s führten die Sezessionen diese freie Kunst fort. Es waren vor allem diese Plattformen, die Paris im 19. Jh. zum Nabel der Kunst machten, der neuen Kunst. Jean-August-Dominique Ingres, Schü­ ler von Jacques-Louis David und Bewunderer Canovas, fand als in Italien geschulter Vertreter der Akademie­ ästhetik in Eugène Delacroix einen Gegenspieler. Baudelaire hat diese schon geschichtsmächtige Konfrontation in einem Exposé zur Weltausstellung 1855 formuliert. Farbe statt Zeichnung, Gefühl statt Verstand – die alten Bruchlinien wurden nun neu buchstabiert. Dies, obwohl Ingres’ Odaliske von 1814 keine Venus des Klassizismus mehr war, sondern eine dies­seitige Erscheinung mit weicher, warmer, atmender, vibrierender Haut, »die Wohlsein ausstrahlt.« Ingres’ Bild erreichte »das Zurücktreten des

413

Die Moderne

Greifbar-Körperlichen, den Umschlag ins Unberührbare, ins Entrückte.« Die Körperproportionen in vielen seiner Bilder sind jedenfalls so falsch, dass man nur Absicht unterstellen kann. Auch hier könnte man sich – diesmal umgekehrt – trefflich streiten über den inhärenten Realismus im klassizistischen Idealismus. Delacroix, Anhänger der Französischen Revolution, der 1803 den Sturz der bourbonischen Restauration feierte, orientierte sich an den Venezianern und an Rubens und Rembrandt, brach aus dem üblichen Curriculum aus und ging nach Marokko, um dort die Tradition des Islam zu studieren. 1833 wandte sich der Maler und Kritiker Gabriel Laviron gegen Delacroix: »L’art actuelle, l’art de l’avenir, c’est le naturalisme.« Die naturalistische Kunst sollte die Kunst der Zukunft sein! Der neoklassizistische Maler Antoine-Jean Gros nannte die Szenen aus dem Massaker von Chios ein »Massaker der Malerei«. Es sind Schreckensszenen ohne jede Verklärung und Milderung. Auch Stendhal empfand Abneigung, aber er räumte ein, dass sich hier eine Revolution in den schönen Künsten anbahnte. »In der realistischen Malerei tut sich eine neue Kluft zwischen Kunst und Wirklichkeit auf. Im Akt der malerischen Durchdringung der sichtbaren Dinge erfahren diese bei aller Gemeinheit doch eine Verklärung durch die Kunst.« Mitte des Jahrhunderts näherten sich die Bildhauer in ihren Porträt-Büsten der Realität immer mehr an. Emile Zola schrieb in L’Evénement illustre 1868: »Die naturalistischen Bildhauer sind die Herren von morgen.« Der Realismus war eine Revolution in den Metropolen, er war eine Rezeptionsambition des kritischen und aufgeklärten, meist sozial engagierten Städters. Eine wichtige Rolle für den erfolgreichen Durchbruch des Realismus spielte die Druckgrafik, wo als populärster Illustrator der Weltliteratur Gustave Doré herausragte. Die Karikaturen Honoré Daumiers, des »Epikers der Sitten im Paris des Dixneuvième«, überragten sowohl in der handwerklichen Meisterschaft als auch in der Schärfe der politischen Zeitkritik alles andere. Die Karikatur wird zum Spiegel der Seelenlandschaft. Es waren Leute wie Daumier, die eine große Tradition der Satire in Frankreich begründeten, die – durch die Französische Revolution verstärkt – bis heute anhält und in den bekannten Blättern Le Canard enchaine oder Charlie Hebdo praktiziert wird. Ein anderer Zugang war die Genremalerei, die an die Stelle der alten Historien­ malerei trat. Die durch einen im 18. Jh. entstandenen Begriff bezeichnete Malerei war vor allem in den Niederlanden verbreitet und wurde erst um die Mitte des 19. Jh.s in Deutschland zum Lehrfach. Erster Professor für die Genremalerei war seit 1842 Jakob Becker in Frankfurt. Den Alltag, für den sich die Künstler nun interessierten, fanden sie im betriebsamen Deutschland, im fortschrittlichen England und den Niederlanden, besonders in Paris, aber ausdrücklich nicht mehr in Italien. Die Reisen in den Süden verebbten. Italien hatte den Künstlern des Realismus und der Moderne nichts mehr zu bieten. Nur die Romantiker, die Nazarener und Symbolisten fanden im antiken und katholischen Rom ihr spirituelles Zentrum. Paris hingegen wurde zu einem Magneten ähnlich gestimmter Künstler aus ganz Europa. Wilhelm Leibl, der Konkurrent von

Zeitler 1966, 59f

Delacroix

Pochat 1986, 556

Zola, zit. nach Pingeot Anne in SK IV, 71

Druckgrafik

Meyer 2008

Genremalerei

VII.5.2.2. Partsch Susanna in Kohle 2008, 489

414

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Franz von Lenbach, verbrachte acht Monate in Paris, um vor allem Courbet zu studieren. Der Leiter der Berliner Sezession, Max Liebermann, war 1872 in der französischen Hauptstadt.

9.2.2. Der Impressionismus

580 Claude Monet, Flusslandschaft, Herbst (1900); NGI

Claude Monet

IX.2.1.ff.

Der Realismus stellte einen Paradigmenwechsel in der Kunst von der alten Akademieästhetik zur Darstellung der Realität dar. Er brachte eine soziale und politische Komponente ins Spiel, machte die Kunst zu einer unabhängigen Instanz und markierte damit einen Weg in die Moderne. Ein anderer Zugang zur Moderne führte – mit Hegel gesprochen – über das »Ende der Kunst«. Dieser Weg reichte bis zur Abstraktion. Das »eingerahmte«, illusionistische Kunstwerk besaß nicht nur in religiöser, sondern auch in ästhetischer Hinsicht keine Überzeugungskraft mehr. Das klassische Bildsujet einer voll geräumten Bühne, wo sich Unüberschaubares abspielt, hatte jede Glaubwürdigkeit verloren. Zudem machte die Erfindung der Fotografie die reine mimetische Dokumentationsarbeit für die bildenden Künstler überflüssig. Schon Runge spielte in der »Farbkugel« mit der Kluft zwischen der symbolischen und realen Bedeutung der Farbe. Er nahm Überlegungen der Impressionisten, von van Gogh und den späteren Avantgardebewegungen vorweg. Als Claude Monet 1883 sich in Giverny ein Haus kaufte und dort beinahe manisch die Seerosen in seinem japanischen Wassergarten malte, löste er diese Objekte – ähnlich wie die Fassade der Kathedrale in Rouen – auf in den Wahrnehmungsakt selbst, in reines Licht und Impression – das Abstrakte in der Malerei war geboren! Von Monets Frau wissen wir, dass der Künstler seine Venedig-Bilder gerne von einer Gondel aus malte. Die gemalten Gebäude lösten sich auf in Erscheinungen der Natur, die sich aus dem Wasser erheben. 1874 machte Monet in der ersten Gruppenausstellung in der Galerie des Fotografen Nadar seine Impression soleil levant (Impression aufgehende Sonne; 1872) öffentlich und wurde daraufhin von einem Kritiker als Impressionist beschimpft. Damit war mit einem durchaus schon länger bekannten Ausdruck die Bezeichnung für eine Kunstrichtung geboren, die beides zugleich war: Inspiration aus und kritische Kommentierung des neuen dynamischen Lebensgefühls. Die Kritik am Impressionismus richtete sich nicht so sehr gegen die Motive, sondern die fleckige und vibrierende Malweise, die radikale Bevorzugung des Colorire gegenüber der verschwindenden zeichnerischen Linie. Allerdings stand die große Mehrheit der Rezensenten dieser neuen Bemühung durchaus positiv gegenüber. Die Impressionisten stellten ihre Reflexionen über den Sehvorgang ins Bild. Sie dekonstruierten die vielfältige Illusionsarbeit um das Licht, die Farbe und die perspektivische Konstruktion. Das Naturlicht trat gegenüber dem nur einer Illusion entsprungenen Eigenlicht des Bildes in den Vordergrund. Charles François Daubigny erwarb ein Atelierboot (auf dem auch Baudelaire zu Gast war), um die Spiegelungen

415

Die Moderne

des Wassers zu malen. Hier kippte die duftige Barbizon-Malerei in den Impressionismus. Vincent van Gogh zerlegte die Farbe mit seinem sich an japanischen Holzschnitten orientierenden Pinselstrich. Den Künstlern ging es um die Thematisierung des künstlerischen Tuns selbst. So gesehen geschah das Anheben der Moderne auf einer empirischen Basis und es mischte sich ein Realismus in den Impressionismus. Von den Zeitgenossen wurde deshalb postwendend der Vorwurf eines Materialismus erhoben. Man verweist bisweilen auf den Unterschied zwischen dem Realismus als Stilform und dem Realismus in der Motivwahl, wie er im Impressionismus gepflegt wurde. Zum Unterschied vom politisch engagierten Realismus würden Themen aus der technischen Welt im Impressionismus wertfrei und nur unter ästhetischen Gesichtspunkten gewählt. Das mag so sein. Beim Realismus im Impressionismus ging es nicht mehr darum, das Reale als Metapher für soziale und politische Aussagen zu nehmen, sondern die Realität auf ihre physikalischen Grundlagen zu zerlegen, aber dann doch weniger um der Physik, sondern um der conditio humana und der Ästhetik willen. Physik und Anthropologie statt Politik, das freie Spiel der Form anstelle eines Gestus sozialer Anklage. So ließe sich der Unterschied zwischen dem Realismus als Kunstposition und dem Realismus im Impressionismus unterscheiden. Am überzeugendsten setzte das Gemeinte der Pointillismus Georges Seurats um, der zwar der physikalischen Tatsache Rechnung trug, dass nicht die Sinne, sondern die Einbildungskraft das Bild strukturiert und zusammensetzt. Aber Seurat ging es bestimmt nicht um Illustration der Physik, sondern eher um das Spiel der Wahrnehmungsweise. Er löste die Welt dynamisch auf, wie es gleichzeitig in der Musik geschah, bei Claude Debussy oder Modest Mussorgskij. Italien kannte seine eigene Spielart, die macchiaioli (ital. macchia/Fleck), sozusagen die »Fleckenmaler«, zu denen unter anderem Telemacos Signorini und Giovanni Fattori gehörten. Die Impressionisten waren sich ihrer revolutionären Kritik an der bürgerlichen Akademieästhetik durchaus bewusst. Die Linie wurde von einem malerischen Duktus verdrängt für einen neuen künstlerischen Weg der Naturdarstellung. Er war »Ausdruck für ein sehr vielgestaltiges, vielfach abgestuftes Leben und Erleben: für den unendlichen Reichtum im Erlebnis des Raumes mit seinen perspektivischen Sensationen, aller offenen und heimlichen Bewegtheit der Lebewesen und der Materie, des Lichts und der Atmosphäre.« Man kann vom Verlust eines Festen zugunsten des Liquiden eines Lebensprozesses sprechen. Das Umgehen mit dem Flüchtigen löste das Reale und Feste ebenso auf wie die Spiegelung des Realen im Wasser. Das Wasser war den Impressionisten ein wichtiges Element. Sie studierten seine Gebrauchbarkeit als Metapher auf ihren Bootstouren der Seine abwärts ausgiebig. Mit solchen Metaphern ließen sich neben der Arbeit an der Reflexion des eigenen Tuns auch Botschaften formulieren, die weit in die Avantgarde des 20. Jh.s hineinreichten. Eine der beliebtesten Metaphern in dieser Hinsicht war die Sonne. Sie stand für die Erneuerung des Lebens (schloss damit an den altorientalischen Topos an) und hatte eine Aura des Pantheismus. In van Goghs Sämann vom Juni 1888 nimmt die Sonne jenen Platz ein, »an dem man in der Kunst früherer Zeiten

Pointillismus

Novotny Fritz in Zeitler 1966, 130

416

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Rosenblum 1975, 95

Novotny Fritz in Zeitler 1966, 132

Heisenberg 1959, 35

IX.5.2.1.

Bocola 1994, 117 X.1.3.2.3.

die symbolische Darstellung eines allmächtigen Gottes erwarten würde; und Form und Farbe – eine kreisrunde Scheibe aus reinem Goldgelb, von deren deutlich sich abzeichnender Peripherie goldenes Licht in symmetrischen Speichen abstrahlt – deuten an, daß es sich tatsächlich um das pantheistische Äquivalent eines goldenen Heiligenscheins handelt.« Das Motiv findet Verwendung von Runge über van Gogh bis zu Munch und Nolde. Ein weiteres unter den vielen hervorragenden Themen war die Dynamik! »Jederlei Abwendung vom Impressionismus war gleichbedeutend mit dem Aufgeben des Ehrgeizes, den Augenblickseffekt festzuhalten.« Besser noch müsste man vom Aufgeben des Ehrgeizes sprechen, dem Dynamischen selbst nachzuspüren, das sich freilich erst im Akt der Rezeption einstellt. Das berührt ein gewichtiges Kapitel der vorher angesprochenen Physik, das über ein halbes Jahrhundert später der Physiker Werner Heisenberg beschrieb und aus der damals neuen Quantentheorie den erkenntnistheoretischen Schluss zog, dass »die Beobachtung eine entscheidende Rolle bei dem Vorgang [das Doppelspaltexperiment; BB] spielt, daß die Wirklichkeit verschieden ist, je nachdem, ob wir sie beobachten oder nicht.« Nicht die Priorität des Subjekts ist modern, sondern die Einsicht Kants, dass das Subjekt nicht ohne den jeweiligen Gegenstandsbezug zu haben ist und umgekehrt. Die Tatsache also, dass es keine klare Subjekt-Objekt-Trennung mehr gibt, sondern dass das Subjekt selbst stets mit im Spiel ist. Es gibt keinen Boden im Visà-Vis mit der Realität. Es ist dieser dynamische Wahrnehmungsakt selbst, der Thema des Impressionismus war. Um ihn darzustellen, war das Motiv von sekundärer Bedeutung. Es konnte die Natur sein oder im Sinn des Realismus der Bahnhof, der Hafen – Symbole der neuen dynamischen Welt. Und schließlich trat der Blick auf das Material erstmals in den Fokus, etwas, das in der Kunst des späteren 20. Jahrhunderts eine große Rolle spielen wird. Dies ging einher mit der Forderung nach einer reinen Malerei und einem reinen Sehen. Edouard Manet malte seine Olympia 1863 flächig, ohne jede Tiefenwirkung. »Manet zwingt den Betrachter, auf sein Bild zu sehen, statt in dieses hinein; […] er will nicht nur ein nacktes Mädchen zeigen, sondern auch die aufgetragene Farbe.« Die Bedeutung von Farbe und Tageslicht war unübersehbar. Der symbolistische französische Dichter Jules Laforgue verwies in einer Besprechung impressionistischer Malerei auf die Bedeutung des Tageslichts.

9.2.3. Der Jugendstil – ein Weg in die Moderne

Hohl Reinhold in SK IV, 109

Ein anderer Weg (vielleicht sollte man ihn Umweg nennen) in die Moderne war der Jugendstil. Er entsprang der Romantik, entwickelte dann einen Sinn für die Autonomie der Form und wurde so zu einem bunten und vielfältigen Eintrittstor in die Moderne. Man kann den Jugendstil in eine Nähe der sich bildenden Sezessionen stellen, deren Künstleravantgarde sich an der alten Akademieästhetik rieb. »[…] die Ernte der Kolonisierung von Indien, Ostasien und zuletzt Afrika war in die Handelshäuser und Museen des alten Kontinents eingebracht.«

417

Die Moderne

9.2.3.1. Höhepunkt und Ende der Akademieästhetik

Liessmann 2004, 21 Bohème gegen ­Malerfürsten

Ruppert 1998, 356–367 581 Gustav Klimt, Isis (1891); KHM



Die Moderne ist gekennzeichnet dadurch, dass sich die Künstler von den Abhängigkeiten der alten Auftraggeber befreiten. Das bedeutete freilich de facto, dass Produktion und Rezeption auseinanderklafften und dass dies in letzter Konsequenz auf eine staatliche Alimentierung der Künstler hinauslief, weil offenbar der Markt nicht die Aufgaben der früheren Mäzene übernehmen konnte. Denn es haben sowohl die Demokratie als auch die Staatsformen des 19. Jh.s weder »einen individuellen Geschmack, der ästhetisch befriedigt werden will […] noch ein politisches Programm, das einer ästhetischen Veranschaulichung bedarf.« Das führte zu einer Spaltung der Kunstszene. Auf der einen Seite stand eine künstlerische Bohème, die sich als kritisches Potential in den Salons und Sezessionen versammelte, auf der anderen eine arrivierte Gruppe wohlhabender Malerfürsten, die eine Kommerzialisierung der Kunst betrieben. Wer große private oder staatliche Aufträge lukrieren konnte, war eine angesehene Künstlerpersönlichkeit. Beispiele dafür sind Franz von Lenbach und Wilhelm von Kaulbach, der Leiter der Münchener Akademie mit seiner protzig-historisierenden Gründerzeit-Ideologie, in München und Hans Makart in Wien, der 1858 aus der Wiener Akademie als untalentiert entlassen worden war. Er lernte dann in München in der Klasse Carl Theodor von Pilotys. Diese Herren führten die alte Akademieästhetik in ihrem Sinne als künst­ lerisches Dienstleistungsunternehmen weiter, was die gut betuchte Klientel zu schät­ zen wusste, und sie inszenierten sich – auch mit wohlkalkulierten Skandalen – für ein Massenpublikum. Zur Ausstellung von Makarts Bild Venedig huldigt Caterina Cornaro pilgerten 1873 30 000 Menschen in das Künstlerhaus in Wien. Anlässlich der Silberhochzeit von Kaiser Franz-Joseph und Kaiserin Elisabeth organisierte der geniale Selbstvermarkter einen Festumzug mit 27 Festwägen und tausenden Teilnehmern in Kostümen. 300 000 Menschen säumten am 27. April 1879 die Straßen der österreichischen Hauptstadt. Zu dieser Inszenierung gehörten auch die pompösen, überladenen Ateliers, wo die Künstler nicht nur ihre riesigen Formate unterbrachten, sondern die zu begehrten Treffpunkten für berühmte Besucher und Besucherinnen wurden. Meist waren die Ateliers Teil von üppigen Villen, mit denen »werbemächtige Selbstrepräsentation mit einem programmatisch nach außen getragenen Kunstverständnis verknüpft […]« wurde. In der Architektur steht kaum jemand so für einen erfolgreichen architektonischen Massenbetrieb wie das Duo Ferdinand Fellner und Hermann Helmer, die in Wien ihr Konzernzentrale-Atelier hatten und in mehr als 40 Städten in ganz Europa von Fürth über Wien, Prag, Szeged, Sofia bis nach Odessa über 40 Theater bauten. Es waren prunkvolle Gebäude mit viel Samt, spielenden Putti, Karyatiden an allen Ecken und Enden, Loggien und Säulen. Das Team Fellner & Helmer arbeitete mit einem Baukastensystem und garantierte den Bauherren die Fertigstellung innerhalb von zwei Jahren. Das Sicherheitssystem und die Bauorganisation galten als wegwei-

Kepetzis Ekaterini in Kohle 2008, 329

418

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

VI.4.1.2.

send. Es kam schon einmal vor, dass durch Verzögerungen ein für eine bestimmte Stadt geplantes Gebäude für eine andere verwandt wurde. Durch einen solchen Umstand stehen in Czernowitz und Fürth zwei praktisch identische Theater. Die Kritik an dieser »Massenware von der Stange« war kräftig, schadete dem Geschäftsgang des Architekturbüros jedoch nicht. Gegen diese Selbstgenügsamkeit eines Event- und Kunstbetriebs positionierten sich Künstler, die solche Abhängigkeit von vermögenden Kreisen für kunstfeindlich hielten. Sie entschieden selbst über Motive und Gestaltung. Auch diese Anti-Inszenierung war inszeniert. Man verstand sich als Avantgarde, die sich von den alten ästhetischen Vorgaben emanzipierte, und lebte in selbstgewählter Armut und stilisiertem Verkanntsein. Dieses Leben in der Bohème brauchte indes auch institutionelle Stützen. Die Akademie, die in der Renaissance gegen die verkrusteten Universitäten des Mittelalters gegründet worden war, war nun ihrerseits kompromittiert. Die Abspaltungen von den offiziellen Kunsteinrichtungen wurden selbst Institutionen. In praktisch allen großen Städten gründeten sich Sezessionen, München (1892), Wien (1897), Berlin (1898) als Brennpunkte der neuen Kunst. Sie alle waren anfangs vom Jugendstil geprägt.

582 Hans Makart, Lünetten­malerei (o.), Gustav Klimt, griech. Antike (Athene) und Ägypten (Isis) (u.); KHM

9.2.3.2. Das neue Gesamtkunstwerk Obwohl international, wird der Jugendstil dennoch nicht als (nun endgültig) letzter eigenständiger Kunst- und Architekturstil nach Barock und Klassizismus gewürdigt. Dazu ruft die dekorative Bewegung mit ihren Höhepunkten im Kunstgewerbe zu viele Gegner einer solchen Nobilitierung auf den Plan. Außerdem kann man dem Jugendstil kaum eine längere Blütezeit als gerade einmal eine Generation zusprechen. Das legt es nahe, eher von einer Mode oder einem Umbruch als von einem Epochenstil zu sprechen. Allerdings wurde diese Mode von zahlreichen Zeitschriften und Magazinen getragen und verbreitete sich rasant in Europa und in der Neuen Welt.

419

Die Moderne

Die Bewegung fand ihr einigendes Band zunächst in der Stellung gegen das Technische und Effiziente, ebenso gegen die alte Kunstwelt und den Historismus, der als Wiederaufbereitung dieses Alten schlechthin als Ballast einer scheinbar nicht mehr notwendigen, überflüssigen Bildung galt. Es gab das Leichte, Schwebende, Aufgebauschte, eigentlich Überflüssige. Es ging um einen verspielten Anti-Stil, um einen demonstrativen Hinweis auf das Andere des bloß (in der Architektur) statisch Notwendigen und ökonomisch Effizienten. »Die Idee des Jugendstils bietet dieser entfremdeten Epoche, deren Ideale Fortschritt, Differenzierung und Analyse sind, Einheitskonzepte als Korrektiv an: den von historischen Vorbildern unabhängigen Einheitsstil anstelle des historistischen Stilpluralismus; die Synthese der Künste anstelle akademischer Gattungstrennung; die Wiedervereinigung von Kunst und Handwerk anstelle maschineller Produktionsbedingungen; […].« Der Jugendstil erfuhr – vor allem in Deutschland – eine umfangreiche und schnelllebige publizistische Begleitung in diversen Zeitschriften. An erster Stelle stand die namengebende, von Georg Hirth zwischen 1896 und 1940 in München herausgebrachte Zeitschrift Die Jugend, die für eine neue junge Kunst eintrat. Außer dem Namen hatte die Zeitschrift für die Entwicklung des Jugendstils allerdings keine Bedeutung. Der Begriff variierte zudem in den verschiedenen Ländern. In Frankreich sprach man von der Art nouveau, in Holland von der Nieuwe Kunst, in Spanien vom Modernismo und in Österreich wurde manchmal von Sezessionsstil gesprochen. Erwähnt seien weiters die von Julius Meier-Graefe und Otto Julius Bierbaum zwischen 1895 und 1900 herausgegebene Quartalsschrift Pan, die von Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder publizierte Zeitschrift Die Insel, das esoterisch angehauchte Organ des Stefan George-Kreises, blätter für die kunst, die Massenblätter Deutsche Kunst und Dekoration, Dekorative Kunst und das berühmt gewordene, 1896 gegründete Münchener Satireorgan Simplicissimus (1896–1944) mit den genialen Zeichnern Bruno Paul, Eduard Thöny und Thomas Theodor Heine. Hier ging es allerdings mehr um Kunstfragen und kaum um philosophische Begleittheorien. Solche die Bewegung stützende philosophische Diskurse sind zahlreich auszumachen: der Vitalismus, Ernst Haeckels Kunstformen der Natur (1899), Henri Bergsons élan vital, Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918–1922), Reformpädagogik, Vegetarismus, Freikörperkultur, Tanz. Haeckel postulierte in einem philosophischen Monismus die Rückführbarkeit der Welt auf ein einziges Prinzip. Studienobjekte waren ihm in erster Linie »ornamentalisierte« Pflanzen und Tiere, vor allem sogenannte »Zwischenwesen« wie Quallen, Seetang, Korallen. Der Blick durch das Mikroskop faszinierte nicht nur die Naturforscher, sondern auch die Laien und die dort bewunderte Formenvielfalt fand sich im Jugendstilornament wieder. »So verleiht das Jugendstilornament alltäglichen Gebrauchsgütern auch äußerlich die Dignität von Kultgegenständen einer innerweltlichen Heilslehre […], die den modernen Menschen von den Schlacken einer überalterten Zivilisation befreien und mit seinen kreatürlichen Wurzeln versöhnen soll.« Henri Bergson ist mit élan vital und durée der Philosoph sowohl der Erregung der Moderne als auch des Jugendstils. In ähnlichen Worten wie Zuccaro die Skulp-

Drude Christian in Kohle 2008, 455

Drude Christian in Kohle 2008, 459

420

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

VI.8.3. Bergson, zit. nach Fahr-Becker 2007, 85 6.2.2.

Endell, zit. HW, 83 8.1.

Fahr-Becker 2007, 217 IX.2.1.2.

Ebd., 223 Ebd., 221

Ästhetisierung der Welt

tur im Manierismus (figura serpentinata) beschrieben hatte, sah Bergson Lebewesen durch »wellenartige beziehungsweise schlangenartige Linien gekennzeichnet.« Ein beträchtliches Echo in den ästhetischen Theorien der Zeit löste auch Theodor Lipps Einfühlungstheorie aus. August Endell, Architekt und Kunsthandwerker, schlug vor solchem Hintergrund den Bogen von einer Naturästhetik zur reinen Form. In seinen Schriften vertrat er eine Kunst, die sowohl abstrakt als auch expressiv sein sollte. Es sollte eine neue Kunst sein, mit Formen, »die nichts bedeuten und nichts darstellen und an nichts erinnern, unsere Seele so tief, so stark zu erregen, wie es nur immer die Musik mit Tönen vermag.« Ein weiterer Hintergrund der Jugendstilbewegung waren die Präraffaeliten. Allerdings ging es weniger um ihre philosophisch-religiösen Ansichten als vielmehr um die Formelemente, die sowohl als Symbole als auch als Ornamentik gebraucht wurden. Dass gerade eine in München erscheinende Zeitschrift den Namen für diese Bewegung gab, ist kaum ein Zufall. Im München der Jahrhundertwende gewann für einmal die jugendliche Avantgarde gegenüber der stark verwurzelten Tradition die Oberhand. Der Jugendstil gedieh im Klima einer städtischen Bohème vorzüglich. Das damalige München »gab der Moderne eine Bühne, eine Bühne für moderne Kunst, moderne Literatur und modernes Leben.« Schließlich entstand um 1910 dort mit Wassily Kandinsky die abstrakte Malerei. 1892 gründete sich die Münchener Sezession. Mit dabei war Franz von Stuck, dem der Spagat zwischen Jugendstil-Avantgardismus und etabliertem Künstlertum gelang. Stuck lieferte eine Reihe von Stil-Ikonen der Moderne und des Jugendstils. Seine Villa war ein Künstlerhaus voll von Fabelwesen und Arabesken. »Der ›Grandseigneur mit der Palette‹ wurde zum gesellschaftlichen Mittelpunkt eines selbstinszenierten Arkadien im ›Athen an der Isar‹.« Franz von Lenbach, der Leuchtturm der alten Akademieästhetik, beschimpfte die Künstler des neuen Vereins hingegen als »Verbrecher« und »moderne Lausbuben«. Der Jugendstil war international, aber mit pointiert regionalen (auch noch die Nationalstaaten fragmentierenden) Prägungen. Die Internationalisierung gelang vorwiegend über die Weltausstellungen, die durch die Verbindung von Industrialisierung und Kunst ein ideales Metier für den Jugendstil abgaben. Eine große Hilfe bei dieser Verbreitung und Popularisierung war die neue Technik des Plakatdrucks (1879 Farblithografie). Der Tscheche Alfons Maria Mucha war der bedeutendste Plakatkünstler der Zeit. Verträumte Frauen mit zu Arabesken geflochtenen Haaren wurden sein Markenzeichen. Er fand große Fortsetzer im mondänen Jules Chéret mit seinen Rokoko-Anklängen, zu denen er durch die häufigen Museumsbesuche angeregt worden war, und Henri de Toulouse-Lautrec mit seinen mitfühlenden, aber wenig idealisierenden Chroniken aus der Pariser Halbwelt. Dahinter stand das Bestreben einer universellen Ästhetisierung der Welt, inklusive des neuen Genres einer Maschinenästhetik. Auch der Jugendstil lebte vom Widerspruch zwischen Ablehnung des technisch Effizienten und dessen Sublimierung in einer Belle Epoque. Es war die Idee einer Verbindung der unübersichtlich gewordenen Welt in einem neuen Gesamtkunstwerk. Es ging weniger um die Faszination an der Form allein,

421

Die Moderne

sondern die Ästhetisierung war Ausdruck einer Sehnsucht nach »einer neuen Spiritualität, die den drohenden lebensfeindlichen Implikationen der wachsenden Industriegesellschaft die Verbundenheit mit der äußeren wie inneren Natur entgegensetzt.« Den diese Formen verehrenden Zeitgeist bediente in genialer Weise die amerikanische Tänzerin Loïe Fuller mit ihrem Schlangentanz und dem angeblich zufällig entstandenen Schleiertanz. In ihren Auftritten im Pariser Folies Bergére setzte sie Kostüm und (elektrische) Beleuchtung für illusionistische Bühneneffekte ein. Die Autodidaktin revolutionierte den Tanz und diente zahllosen Künstlern als Vorlage für Bilder und Skulpturen. Die Ornamentik des Jugendstils ist nicht einfach Dekor. Sie ist Ausdruck einer seelisch-geistigen Organik, die sich in der Realität nicht erleben lässt, vielmehr diese sublimiert. Das Motivrepertoire reichte von Tier- und Pflanzenformen (gerne in England, Belgien und Frankreich) bis zu abstrakt- geometrischen Formen (ausgereift in Wien). Wiederkehrende Motive wie der typisierte Schwan oder die Lilie unterstrichen das schwache Element, das der Strenge des Rationalen und Rationellen gegenübergestellt wurde. »Selbst den abstraktesten Figuren, den einfachsten graphischen Elementen sind nach der Theorie des Jugendstils jeweils gewisse Gefühle oder ›Erlebnisse‹ zugeordnet, ja einwohnend.« Was Dolf Sternberger hier beschrieb, charakterisiert zugleich den Symbolismus, auf dessen Höhe man den Jugendstil heben kann, wenn man seine ureigenste philosophische Intention ernst nimmt. Wenn man den Bogen so weit spannt, gibt es kaum einen Literaten, Musiker, bildenden Künstler oder Architekten im und um das Fin de Siècle, also von der Romantik, dem Umkreis der Präraffaeliten bis zur Moderne von Bauhaus und Werkbund, bei dem man auf der Suche nach Jugendstil-Motiven nicht fündig würde. Dazu kamen starke Einflüsse aus dem Orient. Vor allem die Arabeske genannte Ornamentform der Araber, Muster aus der Nomadenkultur und der ganze Vorrat aus dem Fernen Osten. 1890 schlug eine Ausstellung von japanischer Kunst an der École des Beaux-Arts in Paris Scharen von Bewunderern aus ganz Europa in ihren Bann. Dieses Ereignis festigte eine durch Weltausstellungen bereits hervorgerufene Faszination, die auch von den Künstlern der Moderne wie Monet, Pissarro, Gauguin, van Gogh oder Toulouse-Lautrec nicht unbemerkt geblieben war. Die Inspiration durch Motive fremder Kulturen war grundsätzlich ein wichtiges Charakteristikum der Avantgarde des 20. Jh.s. Es gab keine Kunstbewegung vor dem Jugendstil, die dem Handwerk – sowohl als Einzelanfertigung als auch als industriellem Massenprodukt – einen so hohen Rang einräumte. Der Jugendstil verdichtete die einschlägigen Bewegungen und Vorläufer wie John Ruskin und seinen Kampf für das Handwerk im Zeitalter der beginnenden industriellen Produktion und das von seinem Schüler William Morris in England ins Leben gerufene Arts and Crafts Movement, das die Verbindung von Kunst und Leben zum Programm hatte. Sowohl diese sozialreformerischen Ideen als auch die Idee der universellen Ästhetisierung, die den Typus des Dandy gebar, machten England zu einem wichtigen Impulsgeber des Jugendstils. Dem englischen Snob, der sich in vielen zeitgenössi-

Ebd., 10

Sternberger 1956, 15 IX.2.2.4.

Einflüsse aus dem Orient

IX.2.1.1.

3.2.3.2.3./8.1.

422

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Hoffmann, zit. nach Fahr-Becker 2007, 10

Kunstgewerbe

Fahr-Becker 2007, 39

IX.2.2.8.

IX.2.3.3.

schen Intellektuellen verkörperte, ging es um eine Selbstinszenierung im Namen des Ästhetizismus angesichts eines vermeintlich drohenden kulturellen Verfalls. Tatsächlich hob der Jugendstil jede Differenzierung von hoher und niederer, also angewandter Kunst auf. Eine solche Egalisierung konnte man beim japanischen Vorbild studieren. »Was wir wollen ist das, was der Japaner immer getan hat«, erklärte Josef Hoffmann als Programm der Wiener Werkstätten. Hier trat der Jugendstil das Erbe des noch auf klassizistischer Basis entstandenen Gesamtkunstwerks an, wenn auch in anderer Weise. Die großen Erfolge bei den Weltausstellungen fuhr der Jugendstil nicht mit elitärer Kunst ein, sondern mit kunstgewerblichen Schmuckgegenständen. Die einschlägigen Stände waren Publikumsmagneten. René Lalique war einer jener Stardesigner, der die Besucher mit seinen Schmuckvitrinen in Scharen anzog. Sogar Museen kauften für ihre Bestände den aus relativ einfachen Materialien gefertigten Lalique-Schmuck an. Für einige Edel-Automarken schuf er die Kühlerfiguren. Der wohl größte amerikanische Kunsthandwerker, der sich seine Anregungen in ausgedehnten Europareisen holte, war Louis Comfort Tiffany. Seine Spezialität war die Glaskunst, 1885 gründete er die Tiffany Glass Company. Ein anderer Kommerzialisierer des Handwerks war der aus der Grafschaft Buckinghamshire stammende Arthur Lasenby Liberty. Er wurde »zum ›Jugendstilunternehmer‹ schlechthin«, indem er geradezu ein Handelszentrum für Kunst und Kunstgewerbe« gründete, wobei Liberty »sich vor allem auf Waren aus dem Orient spezialisierte.« Liberty wurde zu einem Jugendstil-Label, das über Europa hinaus Bekanntheit erlangte. Zahlreiche Designer arbeiteten für die Marke. In der Gestaltung der neuen technischen Produkte wuchs dem Jugendstil eine große Aufgabe zu. Es war eine kongeniale Verbindung für die Entstehung des modernen Designs. Der Pionier des Industriedesigns Peter Behrens, der ab 1907 Architekt und künstlerischer Berater der Allgemeinen Elektricitätsgesellschaft (AEG) war, entwickelte für den Konzern typisierte Formen, die sich kostengünstig in Serienproduktion herstellen ließen. Dies entsprach dem Programm des Werkbundes, der antrat, den Materialismus der Maschine durch den Geist der Kultur zu beseelen. Aber auch Architekten wie Frank Lloyd Wright schöpften viele Anregungen aus dem Jugendstil, namentlich dessen im japanischen Formenschatz gründende Reduktion der stilisierten Form. Die als Eigenheit des Jugendstils zu verstehende Verbindung der Kunstgenres im Kunsthandwerk macht den Blick auf die Architektur unerlässlich. Das ist zugleich jenes Feld, wo der Jugendstil eine besonders deutliche Bresche in die Moderne schlug.

9.2.3.3. Der Jugendstil in der Architektur Die Jugendstil-Architektur prägte weniger eine eigenständige Bauform, man könnte eher von einem Diskurs über die äußere Form sprechen, von der aus sich dann verschiedene Wege (mit mehr oder weniger Ornamentik z.B.) ausbildeten. Insofern lässt sich im Sinne des Gesamtkunstwerk-Gedankens die Architektur als Fortsetzung der bildenden Kunst, gar des Handwerks und Designs, verstehen. Dass die Architektur des

423

Die Moderne

Jugendstils in die Moderne führte, hat genau damit zu tun, nämlich mit einer Debatte um das Maß des Gestaltungsmehrwerts gegenüber der statischen und funktionalen Notwendigkeit. Es gab in der Architektur die Strömung der Sachlichkeit bis hin zu Loos’ Ornament als Verbrechen und es gab daneben eine üppig-barocke Architektur nach dem Prinzip des horror vacui. Nur unter solchem Gesichtspunkt sei hier mit dem schottischen Architekten und Designer Charles Rennie Mackintosh angefangen. Er gilt nicht zuletzt mit seinem Paradebeispiel, der Glasgow School of Art (1896–1899), als führender Vertreter der Art nouveau-Bewegung. Modern an dem Gebäude ist der sparsame Einsatz der Dekoration, die den Bau nicht bedeckt, sondern ihn beinahe wie nach den alten Vorgaben der Renaissance zur Wirkung bringt. Es war letztlich ein Quartett, das den Glasgow-Stil in ganz Europa propagierte und populär machte. Neben Charles Rennie Mackintosh und seiner Frau Margaret gehörten der Architekt James Herbert MacNair und seine Frau Frances MacDonald, Margarets Schwester, dazu. Sie nannten sich The Four. Vom Aquarell über Design-Aufgaben aller Art bis zur Innenraumgestaltung reichte das Tätigkeitsfeld des Künstlerkollektivs. Das übliche Formenrepertoire wurde mit dem keltischen Ornamentvorrat bereichert, es fanden aber auch Inhalte alter Mythen Eingang, weshalb man »die Vier« manchmal als »Spukschule« verspottete. Mackintosh wechselte 1889 in das Architekturbüro Honeyman and Keppie. Zum relativ abrupten Ende der erfolgreichen Karriere Mackintoshs um das Jahr 1906 gibt es verschiedene Versionen. Es ist die Rede von einem Rückfall in den Klassizismus, von fehlender Geschäftstüchtigkeit, bis hin zu Alkoholismus und Depression. Die Anregungen aus Glasgow fielen nicht nur in Wien, anlässlich einer Ausstellung in der Wiener Secession bei Gustav Klimt und Josef Hoffmann, auf fruchtbaren Boden, sondern durch ähnliche Anlässe bei Peter Behrens, Frank Lloyd Wright und bei den um Funktionalität bemühten Künstlern und Architekten in den Niederlanden. Wien wurde geradezu »a center of reaction against the Art Nouveau […].« Im Umfeld des Jugendstils kursierte das berühmte Wort des L’art pour l’art. Vermutlich von Victor Cousin geprägt und von Théophile Gautier popularisiert, traf es die herrschende Einstellung einer Ästhetisierung um der Schönheit willen. Es gibt in dieser Losung der Zweckfreiheit den Zungenschlag einer ästhetizistischen Attitüde und sie verbreitet den Geruch von demi monde und décadence. Zu dieser Dekadenz gehört vielleicht auch der oben erwähnte Widerspruch, dass die Art nouveau nun zur Ästhetisierung technischer Einrichtungen schritt. Hector Guimard wurde unsterblich mit seinen grün bemalten gusseisernen Stängeln an den Eingängen zu den Stationen der neuen Metro in Paris, tropische florale Formen, aus Gusseisen geformt – eine eigenwillige Umsetzung des Vermächtnisses Viollet-le-Ducs. Es war dies nicht nur eine Architektur der Funktionalität, sondern auch ein neues Kapitel

583 / 584 Palais de la Méditerranée, ArtDéco-­Fassade (1929); Nizza

Charles R. ­Mackintosh

Ebd., 56

Hitchcock 1958, 297 L’art pour l’art

424

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Fahr-Becker 2007, 84

IX.2.2.4.

IX.5.2.4.

Victor Horta

Benevolo 1960, 326

IX.2.2.8.

IX.2.2.9.

van Doesburg, zit. nach Fahr-Becker 2007, 175 2.2.2.

der Naturnachahmung. Die zweite Jahrhunderthälfte in Paris umfasste originelle architektonische Ideen, ehe um die Jahrhundertwende wieder ein neobarocker Stil um sich griff. Die Ornamente erinnern an Arabesken-artige Rhythmus-Formen in der Musik, etwa bei Claude Debussy. »Europa um die Jahrhundertwende erlag weniger dem formalen Reiz der Arabeske als vielmehr dem rhythmischen Wechsel der Bewegung, den sie innerhalb der zu ornamentierenden Fläche auslöst.« In Belgien fielen die Ideen Ruskins und Morris’ ebenso auf fruchtbaren Boden wie der Symbolismus – poetisch vorgespurt durch Stéphane Mallarmé. Er war der große Meister darin, einen Gegenstand, ohne ihn direkt zu benennen, in der Leserin zu evozieren. Diese Eigenheit ließ Mallarmé gelegentlich zu einer Bezugsperson für die Konzeptkunst werden. Solche philosophischen und literarischen Bewegungen ließen im umtriebigen Brüssel eine Reihe von Künstlervereinigungen aus dem Boden sprießen. Auch dort waren die Gedanken Viollet-le-Ducs präsent. Neben Hector Guimard in Paris war der 1861 in Gent geborene Victor Horta ein kongenialer Fortsetzer von dessen Werk und gilt vielen als einer der Initiatoren des Jugendstils. Im Urteil mancher Architekturtheoretiker war es in der Tat so, dass Horta von den Protagonisten der Art nouveau am engsten an einem alten Stilkonzept hing. »Deswegen ist Horta der sensibelste Künstler des Art nouveau, in gewissem Sinne aber auch der antiquierteste, der einem Architekten der Vergangenheit ähnlichste.« Horta formte aus dem Stahl zerbrechliche Pflanzen. Er bezog alle Materialen, auch Stein, Glas und Holz in eine gemeinsame Dynamik ein. In Hortas Architektur, wie er sie im Hôtel Tassel (1893) oder im Maison du Peuple (1899; 1965 abgerissen) in Brüssel realisierte, lassen sich mehrere Aspekte der Architektur des 19. Jh.s studieren. Sie folgte sowohl der Funktion als auch einem stilistischen Eklektizismus. Es gab die klare Form, aber auch die Ornamentik. Horta pflegte das Narrative wie den Symbolismus. Und es gab eine Bemühung um Verbindung aller Kunstgenres in einer neuen Art eines Gesamtkunstwerks. Keineswegs ließen sich alle diese Widersprüche harmonisch unter einen Hut bringen. Zwischen Horta und Henry van de Velde kam es etwa zu einem Zerwürfnis um die Frage nach der Ornamentik. Van de Velde war der Vertreter der klaren Linie, der das Ornament nur zur Unterstützung des Konstruktiven zulassen wollte, bis er schließlich das Ornament überhaupt verbannte. Auch in den Niederlanden konkurrierten eine ornamentale und eine klare Linie miteinander. Jene, die für Klarheit, Rationalität und Funktionalität plädierten, versammelten sich in einer 1917 in Leiden von van Doesburg gegründeten Künstlervereinigung, die sich De Stijl nannte. Von dort ging die Linie zur Neuen Sachlichkeit und zu den Konstruktivisten. Van Doesburg, jener wichtige Exponent, der im Bauhaus gegen Romantik und Expressionismus kämpfte, drückte sich so aus: »Im Atelier des modernen Malers sollte eine Atmosphäre herrschen wie in 3000 Metern Höhe auf den Bergen des ewigen Schnees; Kälte tötet die Mikroben.« Die Mikroben standen für alles, was über die reine Gebrauchsnotwendigkeit hinausging, und waren Chiffren für den Hygienediskurs in der Architektur.

425

Die Moderne

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass gerade in Ländern, die sich sehr schnell auf avantgardistische Konzepte einschworen, der Jugendstil wenig Spuren hinterließ. Das war so in Italien mit dem aufbrechenden Futurismus und in Russland mit dem dort populär werdenden Suprematismus und Konstruktivismus. Turin richtete 1902 die Weltausstellung (Le Arti Decorative Internazionali Del Nuovo Secolo) aus, bei der es zum ersten Mal zu einer internationalen Begegnung der verschiedenen Künstlervereinigungen und Künstlerbewegungen kam. Ähnliches gelang der Biennale von Venedig, die 1897 gegründet worden war. Solche Veranstaltungen rückten Italien, vor allem: seine Peripherie außerhalb Roms, als Umschlagplatz der Kunst und des Designs in den Mittelpunkt der damaligen Kunstwelt. Raimondo D’Aronco wurde mit seinem Siegerprojekt des Ausstellungspavillons in Turin, bei dem seine Vorliebe für orientalische Vorlagen zur Geltung kam, so bekannt, dass ihn der kosmopolitisch eingestellte Sultan Abdülhamid II. 1893 nach Istanbul holte. D’Aronco renovierte Teile des großen Basars und baute in einem Gemisch von osmanisch-arabischen und Art nouveau-Elementen. Auch der Mailänder Kunsthandwerker Carlo und dessen Sohn Rembrandt Bugatti (Bruder des Autobauers Ettore Bugatti, für dessen Bugatti Royal er die Kühlerfiguren schuf) waren mit ihrer Firma in engem Kontakt mit Architekten in islamischen Ländern. Sie statteten dort Häuser aus, bedienten aber auch die heimische Ägyptomanie, die durch die Eröffnung des Suezkanals 1869 einen neuen Schub erfuhr. Einen besonderen Konnex zur arabischen (und byzantinischen) Tradition hatte naturgemäß der spanische Jugendstil, der dort als modernismo bezeichnet wurde. Mit einer eigenwilligen stilistischen Mischform, namentlich der Übernahme der arabischen Ornamentik, gelang die Überwindung der traditionellen katholischen Strenge. Der dynamisch-prozessuale Charakter der arabischen Ornamentik wurde zu einem tragenden Motiv. »Der dynamische Dekorationswille überwand die vergeistigte Form der Gotik und weitete das Barock zur ›Architekturplastik‹.« Mit diesen Worten ist der Weg zum katalanischen Architekten Antoni Gaudí i Cornet gezeichnet. Es mag überraschen, dass sich Gaudí eingehend mit Viollet-le-Duc beschäftig hatte. Er las aber die Gotik buchstäblich von der Naturform her und nahm die Waldmetapher wörtlich, indem er die schräge Stütze zu seinem Hauptelement machte. Diese Architektur wollte ihre religiöse Konnotation keineswegs verbergen, nur wurde diese jetzt symbolistisch und pantheistisch buchstabiert, gipfelnd wohl in seiner Sagrada Familia (1882 begonnen und bis jetzt unvollendet), diesem atemraubenden amorph-üppigen Gotikverschnitt. Eine gotische Fassade erhält organische Rundungen und bunte Farben; eine alt-ehrwürdige Formenregel wird durch dynamische Organik aufgebrochen. Ob man sich eine architektonische Umsetzung des naturschwärmerischen Sonnengesangs eines Franz von Assisi so vorstellen mag, ist Geschmacksache, aber der Vergleich ist jedenfalls zulässig, zumal Gaudí auf die Natur als Vorbild verweist: »Wollen Sie wissen, wo ich mein Vorbild gefunden habe? Ein aufrechter Baum; er trägt seine Äste und diese die Zweige und diese die Blätter. Und jeder einzelne Teil wächst harmonisch, großartig, seit der Künstler Gott ihn geschaffen hat.« Ähnliches veranstaltete Gaudí mit antiken Formvorräten, Tempel-

IX.2.2.6. IX.2.2.7.

V.3.3.1./V.3.3.3. Fahr-Becker 2007, 195 Antoni Gaudí

Gaudí, zit. nach Taschen/ Taschen 2016, 219

426

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Günther 2009, 206

Argan 1977, 56

Julius Meier-Graefe

Fahr-Becker 2007, 260f

Meier-Graefe, zit. HW, 66f/67/66

fassaden beispielsweise. Auch die Idee der Waldmetapher für die Gotik ist hier aufgenommen. Bereits Baldassare Peruzzi erklärte in der Renaissance die Herkunft des gotischen Spitzbogengewölbes damit, dass die Germanen für ihre Waldbehausungen zusammengebundene Äste verwandt hätten. In seinem Architekturtraktat notierte er 1529, dass die Gewölbe der Tempel das Vorbild in solchen Ast-Gewölben hätten. Die positivste Deutung des Œuvres von Gaudí kann mit Giulio Carlo Argan so zusammengefasst werden: Es handle sich bei ihm um »bewußt in phantastische Formen gekleidete Evokationen des Gemeinsinns der mittelalterlichen Stadt, keineswegs aber Stilnachahmungen.« In Deutschland ragten einzelne Zentren hervor. Neben dem bereits erwähnten München noch Darmstadt, Dresden, Weimar und Berlin. In Berlin musste sich der Jugendstil an den ästhetischen Vorgaben des wilhelminischen Klassizismus abarbeiten. Die Gründung der dortigen Sezession 1898 (die sich 1906 spaltete) war durch einen heftigen Skandal mit Handgreiflichkeiten anlässlich einer Edvard Munch-Ausstellung 1892 im Architekturhaus ausgelöst worden. Der Zufluss von Ideen in die Berliner Avantgarde geschah kräftig aus Skandinavien (August Strindberg) und Polen, aber es wurden auch Texte Nietzsches rezipiert. Die Programmatik wurde in der 1895 gegründeten (bis 1900), aufwendig ausgestatteten Zeitschrift Pan diskutiert. Auch hier war ein bestimmendes Thema die Frage nach der Ornamentik. Eine Schlüsselfigur der Szene war der kosmopolitische Julius Meier-Graefe, »die brillanteste Erscheinung des internationalen Kunstbetriebs der Jahrhundertwende […].« Der Kunstschriftsteller und Galerist war ein Kenner der französischen Malerei und ein besonderer Förderer des Impressionismus. Nicht nur schrieb er zahlreiche Monographien über zeitgenössische Künstler, diesem Zweck diente auch seine dreibändige Entwickelungsgeschichte der modernen Kunst: Vergleichende Betrachtung der bildenden Künste als Beitrag zu einer neuen Ästhetik (1904). Er unterschied die zeitgenössische Kunst von der Tradition. Das klassische gemalte oder gemeißelte Kunstwerk stehe für einen abgesonderten Raum, wo sich nur schwer eine Verbindung zum Alltäglichen herstellen lasse. Daher lag es nahe, es mit einem religiösen Kult zu verbinden. »Selbst mit allen Eigenschaften des Heiligen versehen, eine göttliche Erleuchtung, vermochte sie den Zug der Seele nach dem Mystischen […] zu fördern und gab das denkbar beste Mittel für jene Versinnlichung der Gottheit, die der primitive Mensch in der Religion sucht. / […] in Griechenland war Religion und Kunst eins: Schönheit. […] Als der Tempel zur Kirche wurde, gab die Kunst ihre ursprüngliche Reinheit auf, sie wurde zur Dienerin der Hierarchie.« Anders die moderne Kunst seiner Zeit: »Heute ist das reine Kunstwerk in die unmittelbare Nähe des Alltäglichen gerückt; man hat etwas vollkommen anderes aus ihm zu machen gesucht.« Zusammen mit Meier-Graefe und dem impressionistischen Maler und Grafiker Max Liebermann war einer der wichtigen Vermittler der Moderne in Deutschland der von Bruno und seinem Cousin Paul Cassirer geführte Kunstsalon Cassirer (eigentl. Bruno & Paul Cassirer, Kunst- und Verlagsanstalt, 1898; 1901 trennten sich die beiden, der Salon bestand aber weiter) in Berlin. Die Ausstellungen der zeitge-

427

Die Moderne

nössischen Künstler wurden nach einer anfänglichen Gewöhnungsphase schließlich gefeiert. Ein besonders origineller Ort eines vielfältigen Nebeneinanders von Lebensentwürfen war das Wien der Jahrhundertwende. Nach der Schleifung der Befestigungsanlagen gab Kaiser Franz Josef 1857 den Wiener Prachtboulevard Ringstraße in Auftrag, der 1865 eröffnet wurde. Die Ringstraßenarchitektur repräsentiert bis heute pointiert wie kaum sonst irgendwo die Stilvielfalt des Jahrhunderts und den rückwärtsgewandten Blick des Historismus. Daneben grassierte in den Gärten und Musikhäusern eine Walzerseligkeit, die anzeigte, dass Wien den vielleicht einmal existierenden Ernst einer verantwortungsbewussten Metropole eines europäischen Weltreichs über die Schockerfahrung des Fin de Siècle für immer verloren hatte. Anstelle dessen trat die Introspektion einer komplexen Seelenlage durch Sigmund Freud. Das Fin de Siècle kann schon beinahe als eine Unterepoche in der langen Epoche des Jahrhunderts angesehen werden, wie Jürgen Osterhammel es schön auf den Begriff gebracht hat: »nicht eine, sondern die Jahrhundertwende.« Es gab einen symbolgeladenen überornamentierten Jugendstil, aber die Stadt glänzte zugleich mit einer unvergleichlichen Kritik an allen diesen Kompensationen und mit der Begründung einer faszinierenden Moderne, was Wien für kurze Zeit geradezu zu einer Speerspitze der Avantgarde machte. Es traten junge Literaten der Moderne auf: Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg, Karl Kraus. In der Baukunst war die interessanteste Figur der 1870 in Brünn geborene Adolf Loos, der nach Aufenthalten in den USA, wo er unter anderem bei Louis Sullivan in Chicago lernte, ab 1896 in Wien lebte. Es gibt von ihm nur bruchstückhafte theoretische Äußerungen, die sich im geistigen Umfeld von Gottfried Semper bewegen. Er rückte die Materialgerechtigkeit in den Vordergrund und sah in der Architektur nicht in erster Linie Konstruktion, sondern einen Raum, der Wirkungen auf den Menschen hat. Anders als die Giedion-Schule setzte sich bei Loos durchaus die Tradition der architecture parlante fort, allerdings nicht mehr in Form bloßer Dekoration, sondern getragen vom Raumentwurf: »Denn das ist die große revolution in der architektur: das lösen eines grundrisses im Raum.« Das Verschwinden des Ornaments wurde von ihm gleichgesetzt mit dem Fortschritt der Kultur: »evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande. […] wir haben uns zur ornamentlosigkeit durchgerungen. […] Bald werden die straßen der städte wie weiße mauern glänzen! Wie Zion, die heilige stadt, die hauptstadt des himmels. Dann ist die erfüllung da.« Ein hygienetheoretischer Aspekt scheint hier Platz zu greifen, der das Ornament (und damit auch gleich den gesamten Jugendstil) mit verschleuderter Arbeitskraft und geschändeter Material-Wahrhaftigkeit in Verbindung bringt. »denn das ornament wird nicht nur von verbrechern erzeugt, es begeht ein verbrechen […]«, schrieb Adolf Loos in seinem Ornament und Verbrechen. Selbst moderne Zeitgenossen, die sich tätowieren ließen, nannte Loos zum Unterschied von den Papua-Eingeborenen, denen er Naivität attestierte, Verbrecher und Degenerierte. In der Zeitschrift der Sezession, Ver Sacrum, publizierte er 1898 unter dem Titel Die Potemkin’sche

Echte/Feilchenfeld 2010/2013 Wien der ­Jahrhundertwende

Osterhammel 2009, 103

Adolf Loos

Loos, zit. nach Kruft 1985, 420

Loos 1908, 375f

Ebd., 378

428

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Lupfer Gilbert in ATh, 674

Fahr-Becker 2007, 358

2.2.2.

Olbrich, zit. nach Fahr-Becker 2007, 341

Fahr-Becker 2007, 335f

Stadt eine herbe Kritik am Historismus der Ringstraßenarchitektur. Das Haus für die Schneiderei Goldman & Salatsch am Michaelerplatz in Wien (1910) darf wohl als ein »gebautes Manifest, das die Ablehnung jeglichen Ornaments, ob es nun dem Historismus oder dem Jugendstil entspringt, illustriert und stattdessen auf Materialien und Proportionen setzt«, als konsequenter Loos-Bau angesprochen werden. Es rief einen Skandal hervor und wurde – gegenüber dem überladenen Tor in die Hofburg – als Respektlosigkeit gegen den Kaiser verstanden. (Blom 2009, 86) »Das Michaeler-Haus, erbaut 1909–11, bedeutete eine Attacke des Schmucklosen in der Welt der geschmückten Wiener Architektur.« Dabei ging es Loos durchaus nicht um eine völlige Beseitigung des Ornaments und er kannte auch historisierende Tendenzen, die sich aus der Verehrung der klassischen Antike ergaben. Was ihn störte, war die Ornamentik, die dem Material widersprach. In dieser Einschätzung traf er sich mit Positionen, wie sie auch Horatio Greenough (Form and Function; 1947), Louis H. Sullivan (Ornament in Architecture; 1892) und John Wellborn Root (Architectural Ornamentation; 1885) vertraten. Er hatte sogar Respekt vor den klaren Linien eines Klassizismus Schinkels. Seine Kompromisslosigkeit ließ Loos in Amerika, das er als Dreiundzwanzigjähriger bereiste, in Frankreich und in Deutschland zu hohem Ansehen gelangen und zu einem Vorreiter der modernen Architektur und der Werkbund-Bewegung werden. In Österreich führte er eher ein isoliertes Leben. Er selbst stand dem Werkbund mit Blick auf dessen Jugendstilavancen distanziert bis zynisch gegenüber und verspottete seine Vertreter publizistisch mit Titeln wie Die Überflüssigen. Auch mit den Freunden der Sezession hatte er sich bald überworfen, zu bissig fiel seine Kritik stets aus. Loos war ein kompromissloser Verfechter einer Wahrhaftigkeit und er wollte mehr als nur Architektur. Sie war ihm Mittel dafür, eine neue Lebensform zu stiften, womit er an die Tradition der sozialen und pädagogischen Funktion von Architektur anknüpfte. 1922 zog er sich nach Frankreich zurück, wo er unter anderem für Le Corbusier fruchtbar wurde. Die leere weiße Fläche (bald werden die straßen der städte wie weiße mauern glänzen!), eine originelle Fortsetzung des Hygienediskurses des Jahrhunderts in Kunst und Architektur, war keineswegs eine singuläre Idee von Loos. Auch Gustav Klimt hatte geradezu aufreizend die leere Fläche zur Schau gestellt; dies ging neben den als viel provokanter und daher interessanter empfundenen erotischen Frauenbildnissen unter. Nur die an Architektur Interessierten entdeckten diesen zukunftsträchtigen Zug. Joseph Maria Olbrich beschrieb die Mauern seines großartigen Sezessions-Gebäudes in Wien als »weiß und glänzend, heilig und keusch«. Dieses Klima des Unvereinbaren mag zu politisch bescheidenen, aber kulturell durchaus kreativen Ergebnissen geführt haben. »Die scheinbar unverträgliche Gleichzeitigkeit von Reaktion und Moderne, von naivem Entzücken und eindringlicher Ernsthaftigkeit, gerade der Wiener Sprach-, Kultur- und Volkspluralismus barg den Glücksfall zu einem ›artistischen‹ Umgang mit Komplexität.« Mit der Gründung der Secession 1897 im Café Griensteidl hatte auch in Wien die Moderne ein kräftiges Ausrufezeichen gesetzt. Der Wortführer der Bewegung war

429

Die Moderne

Gustav Klimt. Er hatte in einem ersten Ausstellungsplakat Pallas Athene als Schutzgöttin des Theseus in dessen Kampf gegen Minotaurus (symbolisch für Historismus und Akademie) inszeniert. Neben ihm traten Oskar Kokoschka, Egon Schiele und dann die dem Umfeld der Wiener Werkstätte angehörigen Josef Hoffmann, Koloman Moser sowie der Architekt Otto Wagner in das Rampenlicht. Das Organ war die bereits erwähnte von 1898 bis 1903 herausgegebene und nach einem Gedicht von Ludwig Uhland benannte Zeitschrift Ver Sacrum (lat. heiliger Frühling). Unter diesem Geiste eines heiligen Frühlings verstand sich schließlich die neue Bewegung als Erneuerung der Welt und des Menschen im Zeichen der Kunst. Bevor Hoffmann 1903 zusammen mit Koloman Moser, dem Industriellen und Mäzen Fritz Wärndorfer und Carl Otto Czeschka die Wiener Werkstätte nach dem Vorbild der Arts and Crafts-Bewegung und der Glasgow-School, und 1912 den österreichischen Werkbund gegründet hatte, war er vorwiegend als Architekt tätig. Die Schulen hatten sich die Erneuerung des Kunstbegriffs in allen Sparten des Kunstgewerbes zum Ziel gesetzt. Für eine Ausstellung der Werkstätten 1906 entwarf Kolo Moser sogar Gebäcksorten, die von einem nur mühsam gefundenen Bäcker geformt und gebacken wurden, was in den Tageszeitungen Wiens für gehörigen Spott sorgte. Als Architekt schlug Kolo Moser einen großen Bogen von einem dynamischen und ornamentreichen Stil hin zu einer reduzierten klaren Form, die auf dem Quadrat aufbaute und die Farbe mied. In einiger Distanz, aber dem Geiste der Moderne verbunden, stand der in Baden bei Wien geborene Architekt Josef Frank, Gründungsmitglied des österreichischen Werkbunds. Er zitierte gerne den architektonischen Schatz der Architekturgeschichte, vor allem der Antike, die er durch seine Dissertation über Alberti auch in der Brechung der Renaissance kannte. Frank war ein Pionier des sozialen Wohnbaus und ein Anhänger einer klaren Formensprache. Nach seiner Emigration 1933 wurde er in Schweden Chefdesigner des Einrichtungshauses Svenskt Tenn, wo er für das Design von Möbeln, Vorhängen und Stoffen aller Art zuständig war. Die Werke des Wiener Kunsthandwerks gelangten mit der Weltausstellung 1900 in Paris zu internationalem Ruhm, sie waren auch – vom Österreichischen Museum für Kunst und Industrie (heute: Museum für angewandte Kunst) klug vertrieben – ein finanzieller Erfolg. Der Stil der Wiener Werkstätten wurde von Josef Urban bei seiner Emigration 1911 nach New York gebracht. »Wien wurde durch seine frühe Öffnung nach England […] aber auch durch die Verarbeitung amerikanischer Ideen im Werk von Loos in Mitteleuropa zum ersten wichtigen Vorposten einer neuen Architekturauffassung.« Otto Wagner war mit seinem Atelier, wo er zeitweise über 70 Mitarbeiter beschäftigte, der Architekt des modernen Wien. Als Zeitzeuge der Errichtung der Ringstraßenbauwerke bemühte er sich, der neuen Metropole Wien, die um die Jahrhundertwende bei der Einwohnerzahl die 2 Millionen-Marke überschritt, einen gegenläufigen Stempel aufzudrücken, indem er die Versöhnung der Jugendstil-Or-

Wiener Werkstätte

585 Secessions­ gebäude Wien

Ebd., 369f

Kat. 2016a

Kruft 1985, 422

Otto Wagner

430

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

586 / 587 Otto Wagner, Stadtbahnstation (1898); Wien Blom 2009, 89

Vereinigte Staaten von Amerika

Åman Anders in Zeitler 1966, 179 Chicago School

namentik mit der aktuellsten Technologie demonstrierte. Ab 1894 gestaltete er die Stadtbahn, die noch heute das Grundgerüst des S- und U-Bahn-Netzes ist. »Für Wagner wurden die zweckdienlichen Details selbst, die Pfeiler, Schrauben, Nieten und Lüftungsschächte, zu Quellen der Schönheit am Bau.« Anders gesagt: Er irritierte manchmal mit seinem Lavieren zwischen Klassizismus, Jugendstil und Moderne. Sein Weg wies aber eindeutig in die Richtung des Letzteren. Wagner verehrte die Klarheit Sempers, kritisierte aber, dass er die an der Funktion ausgerichtete Konstruktion mit zu viel Symbolik auflud. 1894 formulierte er seine Gedanken in einer Antrittsvorlesung und 1895 im Traktat Moderne Architektur. 1911 äußerte er sich in der Schrift Die Großstadt zum Städtebau. Er entwarf darin ein Stadtkonzept mit »Luftzentren«, monumentalen Plätzen, Parkanlagen und riesigen Wasserbecken. Besonders interessierte ihn das städtische Wohnhaus, von dem zwei Beispiele an der Wienzeile noch erhalten sind. Er hatte Detailpläne für einen kompletten Neubau der Wiener Innenstadt in seinem Atelier liegen. Sein architektonisches Vermächtnis legte er freilich in den Bau der Postsparkasse (1903/04) in Wien, die als Signum dieser Zeit neben das Loos-Haus trat. Das Hauptwerk sollte das Stadtmuseum neben der Karlskirche werden, es blieb unausgeführt. In der zweiten Jahrhunderthälfte wurde in der Architektur in den Vereinigten Staaten von Amerika jene Geschichte geschrieben, die schließlich auch Europa eine endgültige Ablösung vom Historismus brachte. Vor allem in den Großstädten der Vereinigten Staaten rückte als ein neues Problem die Knappheit der Ressourcen in den Blick. Im Städtebau spielten Argumente der Effizienz und Wirtschaftlichkeit, des knappen Bodens und der Bauzeit eine Rolle. In solchem Zusammenhang ist der Hinweis von Anders Åman erwähnenswert, dass auch dieses Argument gegen den alten Klassizismus sprach, wo die Beziehung eines freistehenden (und horizontalen) Baukörpers zur Umgebung ein wesentliches Gestaltungselement war. Für solche luxuriösen Konzepte fehlte inzwischen der Platz. In der Neuen Welt zeigte sich bald das spektakulärste Ergebnis der neuen Zwangläufigkeiten: Die Chicago School in den USA wurde zum Pionier des Hochhausbaus und das Hochhaus symbolisierte eine Architekturidentität der Neuen Welt, um die seit Jefferson gerungen wurde. Damit war freilich noch keine Theorie des Hochhau-

431

Die Moderne

ses entworfen. Zwar wurden Bezüge zur Neugotik und zu Ruskin thematisiert, sie blieben aber vage. Es ging um Pragmatismus und dieser führte eine beeindruckende Ökonomie des Bauens vor. Ermöglicht wurde dieser Bautyp durch die geniale Technik des Stahlskelettbaus mit dünnen Mauern und schließlich den sogenannten Vorhangfassaden (curtain wall). Grundlage war die Verbesserung der Stahlerzeugung ab Mitte des Jahrhunderts in Amerika. Eine weitere Voraussetzung war die Erfindung einer Sicherheitsvorrichtung für den Fahrstuhl, die Elisha Grave Otis 1854 bei der Weltausstellung in New York einem staunenden Publikum vorführte. Sie ermöglichte den Durchbruch der ersten dampfbetriebenen Personenaufzüge. Ein zufälliger Anlass für die Innovation war der große Brand 1871 in Chicago, der eine Neuorientierung beim Wiederaufbau ermöglichte. Durch die florierende Wirtschaft ließ sich dieser Wiederaufbau großzügig finanzieren. Die Idee der Skelettbauweise für den Hochbau steuerte der in Paris ausgebildete William Le Baron Jenney, der bedeutendste Vertreter der Schule, bei. Das erste Stahlskelett-Hochhaus, das siebenstöckige Leiter I Building, wurde 1878 in Chicago von Jenney entworfen. 1885 folgte das zehngeschossige Home Life Insurance Building (1883–1885), in dem noch traditionelles, tragendes Mauerwerk verwandt wurde. Von 1886 bis 1889 errichteten William Holabird und Martin Roche das Tacoma Building, erstmals mit Stahlskelett und Vorhangfassade. Unterstützt wurde Jenney beim Leiter-Building von seinem Mitarbeiter Louis Henri Sullivan, der anfangs für Fassadengestaltung und Ornamentik zuständig war. Mit dem Hochhaus war zwar ein bewusster Bruch mit der Vergangenheit verbunden, aber für die formale Gestaltung blieben die Motive aus eben dieser Vergangenheit ein Thema. Sullivan, der als großer Vorbereiter des Funktionalismus in die Architekturgeschichte eingegangen ist, war ursprünglich dem Deutschen Idealismus und der Romantik verbunden und besaß eine breite kunsthistorische Bildung. Er kannte diese Traditionen aus seinem Studium an der École des Beaux-Arts in Paris 1874/75, das er in Italien abschloss. Aus dieser Schule sind viele Architekten der neuen »Wolkenkratzer« hervorgegangen. Ein weiterer Vermittler scheint der ebenfalls im Büro Jenneys arbeitende deutschstämmige John Edelmann gewesen zu sein. Sullivan wird der in seiner Autobiographie und 1896 im Lippincott’s Magazine publizierte und im 20. Jh. so wichtig gewordene Satz form follows function zugeschrieben. Allerdings dürfte die Losung von seinem langjährigen Partner Dankmar Adler stammen, der ihn wiederum aus der Tradition, vielleicht von Henri Labrouste oder dem amerikanischen Bildhauer Horatio Greenough abgeleitet hat. Greenough war von 1825 bis 1827 in Italien und hatte dort unter anderem Bertel Thorvaldsen kennen gelernt. Greenough koppelte den Funktionsbegriff vor allem in der Natur an den Schönheitsbegriff – eigentlich über die alt-ehrwürdige Brücke des Organismus, also der integritas. Dennoch ist klar: »Der Funktionsbegriff ist der Kernbegriff bei Sullivan. Alle Formen des Lebens sind für ihn Ausdruck von Funktionen, jede Funktion schafft sich ihre Form. […] In bezug auf die Architektur bedeutet dies, daß die Funktion eines Gebäudes seine Organisation und Form bestimmen muß.« Architektur war für Sullivan dann gut, wenn die Form die Funktion auszudrücken

Louis Henri Sullivan

Kruft 1985, 410

Ebd., 411

432

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Jones 1856, 5

Fahr-Becker 2007, 313

Kruft 1985, 411

Adler, zit. nach Ebd., 412

IX.2.3.3.

Root, zit. nach Ebd., 416

vermochte. Das galt auch politisch. Es gab demnach eine typisch demokratische Architektur, die für ihn zugleich das Kennzeichen einer amerikanischen Architektur war. Der Funktionsbegriff bei Sullivan sollte also durchaus soziologisch und philosophisch und nicht bloß technisch und konstruktivistisch interpretiert werden. Um das noch zu unterstreichen, diente ihm das Ornament als jener Mehrwert (garment of poetic imagery), um der Architektur eine Sprache und einen Ausdruck zu verleihen. Sullivan hatte das unter anderem im Bestseller The Grammar of Ornament von Owen Jones in dieser Weise vorgefunden. Von diesem stammt der Satz: »The Decorative Arts arise from, and should properly be attendant upon, Architecture.« Das ist die erwähnte Durchlässigkeit der Kunstgenres. Dies gilt es in einem strengen Sinn zu verstehen. Der aufkommende Beaux-Arts-Historismus und die Stilvielfalt des 19. Jh.s waren keineswegs mit Sullivans Verständnis der Rolle des Ornaments vereinbar. Es ging um den entscheidenden Unterschied zwischen der »Eigenmacht der Form, die in seinen Chicagoer Bauten früh visionäre Gestalt annahm«, und dem bloß rezipierenden Ornament, das »für lange dem Spott der Nachwelt anheim« fiel. Es war nun Amerika, das eine Entscheidung in der doppelten Konnotation des europäischen Jugendstils traf, und zwar in die Richtung der Moderne. Anders als bei Sullivans zeitweiligem Partner Dankmar Adler war sein Funktionsbegriff »ein romantisch-nationaler.« Adler hingegen beschrieb in einem Aufsatz über die Möglichkeiten des Stahlbaus 1896 einen konstruktivistischen Funktionsbegriff und begrüßte in einer geschichtsphilosophischen Anwandlung eine neue Epoche, die den Stilbegriff aufgegeben hatte und auf der Funktionsweise neuer Materialien und Technologien, Stahl, Glas, Elektrizität, basierte. Das sei zugleich die »contribution to the architecture of the new world, the new age of steel, electricity and scientific progress.« Die Paarung Sullivan-Adler könnte man demnach als eine von Romantik und Moderne charakterisieren. Aufgegeben wurde hier nicht nur die funktionslose Ornamentik, sondern auch die von Ruskin geäußerte Kritik an der Maschine und der technischen Herstellung. Während Sullivan das Ornament im erwähnten Sinne durchaus einzusetzen wusste, gab sein Schüler Frank Lloyd Wright das Ornament auf. Wright, der mit Vorliebe Wohnhäuser baute, wo er den menschlichen Maßstab vorfand, prägte die Prärie-Architektur mit langgezogenen Wohngebäuden. Wesentlich war ihm die adäquate Anwendung der Baumaterialien einschließlich des Lichts. Der Hochhaus-Diskurs wurde dann in diese Richtung einer fortschrittlichen Maschinenphilosophie weitergeführt. Für John Wellborn Root spiegelte das Hochhaus »the age of steam, of electricity, of gas, of plumbing and sanitation […]. Konsequenterweise verwahrte er sich aus solchen Überlegungen auch gegen jedes Ornament. In Deutschland war die Rezeption der Hochhäuser zurückhaltend. Sie galten als hässlich beziehungsweise als Ausgeburt des Neuen. Anders verhielt es sich mit den reinen Zweckbauten. Der vielleicht erste Stahlskelettbau Deutschlands ist der Borsigturm auf dem Gelände der Borsigwerke in Berlin-Tegel, der 1924 fertiggestellt war. Solche Zweckbauten wurden im Umkreis des Werkbundes als reine Technikform



433

Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein n­ eues Jahrhundert

gepriesen. Das Hochhauses schlechthin musste jedoch durch den Geist der europäischen Kultur veredelt und ihm ein »Wesen« gegeben werden.

IX.2.2.8.

10.0. Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein ­neues Jahrhundert Wie die Darstellung der Wege in die Moderne, namentlich jene des Jugendstils, gezeigt hat, ist es nicht einfach, einen Wechsel in der Kunst zwischen dem 19. und dem 20. Jh. festzumachen, sei es an der Jahrhundertwende um 1900 oder am Ersten Weltkrieg. Zu sehr dominiert die Kontinuität der romantischen und Jugendstil-Konzepte in der Kunst – jedenfalls bis zum Zweiten Weltkrieg. Nicht viel anders verhält es sich mit kunstphilosophischen und kunsttheoretischen Konzepten. Friedrich Nietzsche starb im Jahr 1900, sein Vermächtnis spiegelt den Abschied von der Metaphysik und den Eintritt in die Moderne und bei allen Unterschieden gibt es Ähnlichkeiten mit Konrad Fiedler und Jacob Burckhardt, die hier zum Schluss vorgestellt werden.

10.1. Friedrich Nietzsche Friedrich Nietzsche, 1844 in Röcken bei Lützen im heutigen Sachsen-Anhalt geboren, gehört zentral zur Bruchgeschichte der alten Metaphysik. Er begleitete metaphysikkritisch, aber zugleich auch in einer Ambivalenz von Moderne und Praemoderne, das Entstehen der Moderne. Im liberalen Geist der Eliteschule in Pforta (»Schulpforta«) erzogen, ging es ihm schon früh um den Sturz der Götter und begierig saugte er die Aischylos-Stelle auf: »Auch Zeus wird seinem Schicksal nicht entgehen.« 1869 wurde Nietzsche außerordentlicher Professor für Philologie in Basel. Die Promotionsurkunde wurde ihm später nachgeschickt. Sein großer Erstlingswurf Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik erschien 1872. Entstanden war das Buch aus zwei öffentlichen Vorträgen in Basel und diese erste große Publikation markierte zugleich bereits den Abschied von seinem eben erst eroberten Brotberuf, der klassischen Philologie, zugunsten der Philosophie. Das umstrittene und die akademische Philologie provozierende Werk – ein Buch, »das alle Sitten und Gesetze der Zunft verletzte« – legte die Grundlage für Nietzsches ästhetisches Denken. Ende der Siebzigerjahre verunmöglichten ihm gesundheitliche Probleme die Fortsetzung der Lehrtätigkeit. Er ließ sich 1879 pensionieren und suchte rastlos in Italien, Frankreich und in der Schweiz nach Orten, die ein zumindest zeitweiliges Arbeiten zuließen. Selbst ein begnadeter Formulierer und Poet, positionierte er (ab dem 1878 erschienenen Werk Menschliches, Allzumenschliches) das gewählte Genre des Fragments und des Aphorismus bewusst als Affront gegen die Ambition des geschlossenen Systems. Wenn man Nietzsche in die Tradition »der inspirierten Dichter-Sänger-Propheten des Altertums« stellt, ist damit ein selbstgewählter Gestus Nietzsches entschlüsselt, aber in der Sache scheint es ratsam, eine klassisch-hermeneutische Nietzschedeutung durch Einsichten des Poststrukturalismus zu erweitern, um die Bruch-Ambition deutlicher sichtbar zu machen. Nietzsche drehte die Konse-

588 Friedrich Nietzsche, Fotografie v. Gustav-Adolf Schultze (1882) Nietzsche, zit. nach Ross 1980, 67

Ross 1980, 283

Speyer 2010, 251

Behler 1988a

434

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Nietzsche 1872, 24

VII.4.2.4.2. Apollinisches und Dionysisches

III.2.1.3.2.

6.1.4.

Ebd., 73

Ebd., 72

quenz Hegels, gemessen am Maßstab der Moderne, geradewegs um. Hatte Hegel die Kunst verabschiedet, weil sie ästhetisch geworden war und ihre ontologische Verbindlichkeit verloren hatte, verabschiedete Nietzsche gleichsam den ontologischen Anspruch der Metaphysik selbst – zugunsten der Kunst. Im Vorwort der Geburt der Tragödie sah er in der Kunst die höchste Aufgabe und die »eigentliche metaphysische Tätigkeit dieses Lebens […].« Provozierend an diesem Buch war vor allem, dass Nietzsche die Griechendeutung aus dem Geiste Winckelmanns, die zum Standard nicht nur des zeitgenössischen Bildungsbürgertums, sondern auch der akademischen Welt geworden war, auf den Kopf stellte. Der Haupttopos seiner Ästhetik in der Geburt der Tragödie war die Unterscheidung des Apollinischen und Dionysischen. Diese auf den orphischen Dionysos-Mythos zurückgehende und bereits vor Nietzsche rezipierte Paarung beschwor die alte Konfrontation von Griechischem und Orientalischem oder – noch zugespitzter – die Konfrontation alter rauschhafter Erdgebundenheit und der indogermanisch-griechischen Rationalisierung. Das Apollinische steht für den schönen Traum, durch den gleichsam wie durch einen Schleier das Wahrhafte durchscheint. Dieser Traum ist ambivalent: Einerseits steht Apoll für die Welt der Inspiration, andererseits für jene des falschen Scheins und der rechnenden Vernunft. Worauf Nietzsche beim Sezieren indes stieß, war das Dionysische. Er stieß auf Rausch und den Trieb, das Niederreißen von Beschränkungen und Kontrollen, die das Apollinische errichtet. Was bei Schopenhauer eine Leerstelle blieb, wurde bei Nietzsche zur Fülle des dionysischen Quellgrundes. Dabei teilen sich die Kunstgattungen in das Bild, die (apollinisch) vom Begriff gestützte Sprache und auf die Musik (dionysisch). Wollte man bei Nietzsche an der analysierten Dichotomie von Dionysischem und Apollinischem die Ablösung der Religion durch die Kunst festmachen, müsste man formulieren: Für Nietzsche waren die Anfänge der Religion als Kult der Götter nichts anderes als eine Form der Kunst und diese »Kunst« erhielt erst durch die sich in den Vordergrund drängende Rationalisierung die Gestalt einer reflektierten begrifflichen Religion (im Sinne des Apollinischen). Bis Euripides seien die beiden Pole noch in einem ausgewogenen Verhältnis gestanden. Die Kunst erzählte wie die Tragödie, die im dionysischen Chor ihre Ursprünge hatte, von der »Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.« Bei Euripides, dem aufgeklärten Sophisten, übernahm der analytische Verstand, dessen Vater für Nietzsche Sokrates war. Mit ihm schlug die ausgewogene Beruhigung des Dionysischen, seine Sublimierung in der Tragödie, in den falschen Schein des analytischen Verstandes um, in den Selbstbetrug, der Instinkte und Emotionen ausblendete, zumal diese Vernunft auch noch eine moralische war. Dionysos wurde der »die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott.« Apoll, ursprünglich als Gott der Wahrsagekunst der Gott des schönen Scheins, changierte zum Gott des Rationalen, damit zur Ursache des falschen Scheins – also von der Kunst zur Religion und Theologie. Unter metaphysisch-anthropologischem Gesichtspunkt bedeutete das Apollinische zugleich Individuation. Es fungierte als principium individuationis. Das bedeutet –



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Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein n­ eues Jahrhundert

gut griechisch gedacht – den Rückzug in die Isolation des Subjekts. Es stärkt Selbstbezug statt Selbstvergessenheit, den entfremdenden Herausstand statt der Geborgenheit in der All-Einheit. Die Überwindung dieses Leidens an der Vereinzelung, könne im Aufgehen in der All-Natur gelingen: »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche und unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.« Schließt man solche Zeilen kunstphilosophisch auf, kann man zu Recht festhalten: »Das Dionysische ist insofern das eigentliche Novum der Ästhetik N.s; es ist der Gegenbegriff, durch den der frühe N. zum Herold einer antiklassizistischen Ästhetik und der späte N. zum Lehrer einer antichristlichen Kunst-Religion der ewigen Wiederkunft wird.« Was diese romantische Vision ebenfalls ausdrückt, ist eine aufregende Nähe zu Karl Marx, dessen utopische Hoffnung auf Versöhnung des Menschen mit der Natur und mit dem Menschen abzielte. Den Übergang des mittels Kunst Welt entwerfenden Menschen zur technischen Weltaneignung spricht Nietzsche im Aphorismus 222 direkt an: »Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des künstlerischen.« Hier wird ein Fluchtraum alter, vormoderner Utopie aufgespannt. Er ließ sich nur in der völligen Selbstvergessenheit einlösen, eben im orgiastisch dionysischen Rausch. Diesen fand Nietzsche – ähnlich Schopenhauers Welt als Wille – im wirklichen Leben, das hinter und unter der von der Moral zurechtgemachten Welt »braust«. Schopenhauers Steigerung des Willens zu seiner Selbstaufhebung pries Nietzsche später als »Erlösung von sich selbst«. Aus einem größeren Blickfeld klingt dies wie die Beendigung des Programms der Aufklärung dort, wo diese von der immanenten Kritik der subjektzentrierten Vernunft lebte. Aber Nietzsche sistierte nicht die Aufklärung, sondern nur diese Aufklärung, die vermeintliche Aufklärung einer subjektiven Vernunft – aus seiner Sicht bloß eine durch philosophische Extravaganzen hochgerüstete Chimäre. Sie zu überwinden ist Teil des schwierig zu interpretierenden Willens zur Macht, »ein Wille, ohne ein Ich, das will.« Es muss eine teleologiefreie Zeit sein, eine solche der »ewigen Wiederkehr«, wie sie Zarathustra verkündete, damit eintritt, was Nietzsche in der Tragödienschrift prophezeite: »Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.« Zum Unterschied von Marx, der auf streng philosophischer und gesellschaftspolitischer Ebene dachte, waren Welt und Dasein des Menschen bei Nietzsche nur als »aesthetisches Phänomen […] ewig gerechtfertigt: […].« Die Welt als Kunstwerk (und – so muss man ergänzen – gerade nicht als moralische oder religiöse Anstalt) – das war damals das Programm Richard Wagners. Wagner hatte in seinen Schriften Das Kunstwerk der Zukunft (1850) und Oper und Drama (1852) angesichts eines beklagten Zerfalls der Kunst über die Vereinheitlichung der Kunst in einer alle Genres einbeziehenden Praxis geschrieben. Die Künste treffen sich im Musiktheater, das sich als Gesamtkunstwerk gestaltet. Inhaltlich war es Wagner um die Begleitung der großen Umwälzungen von 1848 gegangen. In Das Kunstwerk der Zukunft ging

Leiden an der Vereinzelung

Ebd., 29 Wohlfart Günther in ÄKPh, 579

6.1.1.f.

Nietzsche 1886b, 186

Safranski 2002, 36 Nietzsche 1874b, 382

Wohlfart Günther in ÄKPh, 582

Nietzsche 1872, 30 Welt als »ästhe­ tisches Phänomen

Ebd., 47

589 Das NietzscheHaus in Sils Maria

436

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Safranski 2002, 79 Habermas 1989, 109 5.2.3.

Nietzsche 1886a, 17

Bolz 1990, 28

Margreiter 2007, 43

Nietzsche 1888a, 500

Liessmann 1994, 86ff

er gegen die Konventionen vor wie der von ihm geschaffene Siegfried, der sich gegen die Götter und die von ihnen gestiftete Ordnung auflehnte. Nietzsche, der zu seinem Verehrer geworden war, hatte Wagner die Tragödienschrift gewidmet, gleichsam als theoretischen Unterbau dessen, was dieser in der Musik unausdrücklich durchführte – eine lebensphilosophische Antwort auf die durch die Intellektualisierung der Moderne zerbrochene Welt. »Das Wagnersche Musikdrama erweckte beim jungen Nietzsche die Hoffnung auf Wiederaufrichtung des deutschen Geisteslebens, das er durch Materialismus, Ökonomismus, Historismus […] als schwer geschädigt empfand.« Darüber hinaus hatte Wagner die Religion in der Mythologie überwunden. »Eine ästhetisch erneuerte Mythologie […] wird das moderne Bewußtsein dezentrieren und für archaische Erfahrungen öffnen.« Nur in der Kunst bleibt die Welt lebbar, und zwar in der Kunst als öffentliche Institution, wie es das Älteste Systemprogramm verkündet hatte. Interessant ist der »Spin«, den Nietzsche dieser Lösung, die stark nach Systemambition und Utopie riecht, in einer späteren Kommentierung der Tragödienschrift gab: »[…] diese ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müssig, phantastisch nennen –, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist verräth, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird.« Das war eindeutig aus der Brucherfahrung der Moderne gesprochen und bereitete bereits die Anti-Utopie von Jenseits von Gut und Böse vor. Norbert Bolz verbindet Nietzsches Rückgriff auf das Dionysische mit Wagners Gesamtkunstwerk und deutet dies als »medientechnische Schwelle« hin zu den »synästhetischen Medien«: »Man muß also schon die ganze alphabetisierte Welt aus den Angeln heben, um in jene music of interrelation einzutauchen – deshalb die mythischen Festspielgebärden Wagners, deshalb Nietzsches salto mortale in die Antike.« Ergänzend dazu verweisen Reinhard Margreiter und andere auf die häufigen medienbezogenen Äußerungen Nietzsches, in denen er Abhängigkeiten des Denkens von der Wahrnehmung und der intellektuellen Verarbeitung vom Medium konstatierte. In solchem Zusammenhang betätigte sich Nietzsche als Kritiker der (damals) neuen Massenmedien und unterstützte im alten Streit um Literalität und Oralität im Gefolge Platons, und wohl auch als Anti-System-Reflex, die Oralität. Zurück zur Rolle der Kunst: Innerhalb dieser ästhetischen Welt der Geburt der Tragödie sind auch das Übel und das Böse gerechtfertigt, radikaler: für Nietzsche war die Sinnlosigkeit des Daseins überhaupt nur ästhetisch aufzufangen: »Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.« Man kann Nietzsches Ästhetik nicht einfach als Kompensationsunternehmen einer gescheiterten Welt verstehen. Die Welt ist gar nicht zu kompensieren, sondern nur als ästhetische auszuhalten. In diesem Sinne ist Nietzsches Anliegen tatsächlich eine ästhetische Anthropodizee, eine Rechtfertigung des Menschen – mehr noch: seine Neuschaffung (in der Neugeburt des Dionysos) – angesichts der Endlichkeit und Grausamkeit des Daseins. Zudem kann die Kunst auch das Negative ansteuern, wenn sie den moralischen Anspruch endlich verloren hat. Darin liegt ein kräftiges Stück Moderne. Der Befund Odo Marquards von der Entübelung der Übel und der



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Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein n­ eues Jahrhundert

Karriere des Hässlichen in der modernen Kunst findet hier ein angemessenes Exerzierfeld. Der »tragische Künstler […] sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch…« Schopenhauer hatte Nietzsche die »Binde des Optimismus« von den Augen gerissen und das Leben sei daraufhin interessanter geworden. Das interessantere Leben basiert auf dem Abschied von jedem Wahrheitsanspruch der Philosophie. Die Wahrheit der Philosophen, das sei »[E]in bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: […].« In der Zerstörung der Wahrheit wurde Nietzsche ein Vorläufer der postmodernen Zertrümmerung des intentionalen Subjekts. »Nietzsche reißt vor allem das Fundament der Wahrheit ein und somit die tausendjährige Idee vom rationalen und einheitlichen Subjekt.« Die positive Wissenschaft sei nach Nietzsche, wie das christliche Moralsystem, die größte Beschränkung der Lebenskraft. Wie schon erwähnt stellte Nietzsche gegen den »Willen zum System«, der für ihn ein »Mangel an Rechtschaffenheit« war, den Aphorismus und das Fragment als literarische Form. »Fragmentarisches Schreiben ist zuerst Zurückweisung des Systems, Leidenschaft für das Unvollständige, Gedankenreise. Es […] bringt die Vielheit zum Ausdruck – aber nicht auf dialektische Weise, sondern in der grenzenlosen Art der Differenz.« Dass das selbst nicht ganz rechtschaffen war und Nietzsche immer wieder mit der Darstellung des ganz großen Zusammenhangs liebäugelte, wofür die Zeit bloß noch nicht reif war, darauf hat Rüdiger Safranski verwiesen. Daran kann man eine grundlegende Weichenstellung in der Nietzscheinterpretation in Erinnerung rufen. In völligem Gegensatz zur hermeneutischen Deutung Heideggers leitete Gilles Deleuze 1962 eine Wende der Nietzschedeutung ein. Aus dieser Sicht habe Nietzsche nachhaltig mit der alten Hermeneutik und Dialektik gebrochen. Wahrheit sei durch Interpretation abgelöst. Derrida, der den Gedanken aufnahm und im Sinn von Nietzsches »beweglichem Heer von Metaphern« seine Philosophie auf eine poststrukturalistische Zeichentheorie erweiterte, sah bei Nietzsche einen »jeglicher präsenten Wahrheit baren« Zeichenbegriff. Dass eine solche Bruchdramaturgie vorhanden war und Nietzsche ein transzendentales Begründungsszenario längst verabschiedet hatte, ist unbestritten. Ob damit tatsächlich jeder hermeneutische Rest im Sinne Derridas zugunsten eines offenen Spiels aufgegeben war, erscheint angesichts der vor allem in der Spätphilosophie wieder auftauchenden religiösen Erlösungsambition freilich frag-würdig im besten Sinn des Wortes. Aus dieser Ambivalenz in Nietzsches Œuvre ergibt sich die Frage, wieweit die Liaison mit Wagner nicht von Anfang an ein großes Missverständnis war. So sehr Wagners Abneigung gegen eine säkulare, banale Welt, gegen die oberflächliche Ästhetisierungsmode und den ökonomischen Kunstbetrieb Nietzsche faszinierte, so sehr lag im Gegenentwurf die Wurzel für ein Kunstverständnis, das einen religiösen Kern beanspruchte. Insofern war Wagners christliche Wende im Parsifal nur ein Tausch einer pantheistischen Naturreligion in der Ringparabel gegen ein authenti-

VII.2.1. Nietzsche 1889, 79 Safranski 2002, 37 Zerstörung der Wahrheit

Nietzsche 1873, 880

Magris 1981

Nietzsche 1889, 63

Behler 1988a, 26

Safranski 2002, 158

Deleuze 1962

Derrida 1967, 425

das Wagner­Missverständnis

438

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Nietzsche 1888b, 431f

Nietzsche 1882, 481

Nietzsche 1886b, 143

Nietzsche 1873, 884 Nietzsche, Nachl., 692/828 Waibl 2009, 230 Kunst als Leben

Stegmaier Werner in Majetschak 2005, 203

Habermas 1989, 116

sches Christentum. Nietzsches Verehrung galt aber dem Immoralisten Wagner, dem Schöpfer des freien Menschen Siegfried, und nicht dem, der »plötzlich, hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze« niedersank. Verschärfend kam dazu, dass Wagner im Organisieren seines Gesamtkunstwerks selbst zum Manager und Vermarkter eines Labels im Kunstbetrieb wurde. Nietzsche wandte sich nach dem Besuch in Bayreuth 1876 mit Grausen von diesem Spektakel ab. Es war vielleicht diese Erfahrung, die Nietzsche bewusst machte, dass die Wiedergeburt eines Erlösungsmythos in der modernen Welt nicht mehr möglich ist. Nach dem Sterben der Götter, nachdem der tolle Mensch »Gott ist todt! Gott bleibt todt« verkündet hatte, kann es nur noch eine Ästhetik ohne religiöses Sinnpotential geben. Aus solcher Erfahrung schlug das Kunstverständnis Nietzsches Ende der Siebzigerjahre in das Gegenteil um. Wenn denn Kunst schon nicht ohne religiöse Konnotation auskommt, ist sie als Regression und Vorstellung denunziert. Die Dichter »halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten […].« Erst spät kehrte er zur Kunst zurück. Zu einer Kunst auf Grundlage einer Vorwegnahme des später in der postmodernen Bedeutungstheorie formulierten Bruchs der Erkennbarkeit eines Objekts durch ein Subjekt. An die Stelle einer sprachlichen Abbildung der Wirklichkeit trat die Metapher: »[…] denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten […].« »Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens«, jubelte er. Sie ist »ein Rausch am Leben, ein Wille zum Leben […].« Kunst eröffnet »eine Multiperspektivität, die den limitierten Horizont der Erkenntnis aufbricht.« Das schloss die Klammer von der Geburt der Tragödie zu seinem Spätwerk. Kunst ist weder interessefrei noch l’art pour l’art. Sie ist das Leben! Das echte Leben in der rauschhaften Befreiung aus seiner Schwächung durch das Christentum und der positiven Wissenschaft. »So kann die Philosophie in einer Zeit, in der […] der Anspruch, die Wahrheit des Lebens im ganzen zu erfassen, an die Wissenschaften übergegangen ist, ihren Horizont über diese hinaus nur dadurch erweitern, daß sie Kunst wird, philosophische Kunst.« Nietzsches Konzept stieß zu guter Letzt an die unüberwindbare Grenze des Selbstwiderspruchs, eine Bestimmung von Kunst zu liefern im Wissen darum, dass jede Bestimmung fiktional ist. Die Streichung des Subjekts ist nun doch weniger Folge einer kalkulierten Bedeutungstheorie, sondern Befreiung von den Unterdrückungsmechanismen des Ichs: »Erst wenn das Subjekt sich verliert, wenn es aus den pragmatischen Raum-Zeit-Erfahrungen ausschert, vom Schock des Plötzlichen berührt wird, […] und selbstverloren im Augenblick aufgeht; erst wenn die Kategorien des verständigen Tuns und Denkens eingestürzt, die Normen des täglichen Lebens zerbrochen, die Illusionen der eingeübten Normalität zerfallen sind – erst dann öffnet sich die Welt des Unvorhergesehenen und schlechthin Überraschenden […].« Vor diesem Hintergrund erhielt sogar das Schöne eine neue Funktion. Er verstand es jetzt als das Lebenssteigernde, das dem Hässlichen als Ausdruck des Schwächenden-Depressiven gegenüberstand. Nietzsches Bedeutung liegt vermutlich wirk-



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Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein n­ eues Jahrhundert

lich darin, dass er die große Frage nach der Funktion von Kunst als Bindung der Kunst ans Leben beantwortete, also darin, dass Dionysos »die Konstante seines vielschichtigen, so zerrissenen Werkes« war. Eines Lebens in seiner ursprünglichen, naturnahen Vitalität. Als erster Theoretiker der Kunst »radikalisiert Nietzsche deren funktionalen Charakter gegen ihre denkbare ›Wertfreiheit‹! Darin liegt das Verführerische, aber auch manches Bedenkliche von Nietzsches Kunstbegriff, […].« Solche Grenzphänomene sind Orte, an denen Martin Heidegger ansetzen musste, weil sie seinem eigenen Philosophieren so nahe kamen. Heidegger war von Nietzsches Absprung fasziniert. Allerdings sei Nietzsche seiner Meinung nach der Metaphysik zuletzt doch nicht entkommen, gipfelnd darin, dass er mit seiner Zarathustra-Geschichte selbst wieder zum Religionsstifter geworden war. Auch Dionysos wurde seiner Metaphorik entkleidet und in den Dionysos-Dithyramben als neuer Gott gefeiert, freilich als Gott einer weltlichen Religion, auch wenn sich immer wieder die Züge des Gekreuzigten darunter mischten. Bei Nietzsche, dem »frömmsten aller Gottesmörder«, hat man immer gerätselt, wie der »Antichrist« Dionysos, der Gott des Lebens, sich mit dem Gekreuzigten, dem Gott der Lebensunfähigkeit, vertragen soll. Hat Nietzsche die Ambivalenz zur Heimat? »Die Ambivalenz Gottes erlebt Nietzsche als Ambivalenz des eigenen Ich, das in sich die Pole ›Dionysos‹ und ›der Gekreuzigte‹ aufweist und damit die Pole Antike – Christentum.« Heinrich Detering schied in einem ebenso riskanten wie originellen Deutungsversuch einen paulinischen Jesus des Christentums von einem dionysischen Jesus. Bleibt der christliche Jesus zu schwach, um das Leben zu bejahen, feiert der dionysische Jesus mit den widrigsten Seiten des Lebens Versöhnung. Nietzsches späte Wahnsinnszettel wären dann nicht einfach Ausdruck seiner Paranoia, sondern anrührende und verzweifelte Botschaften eines neuen Evangeliums des Lebens. All diese Versuche, Nietzsches Ambivalenz einer Ordnung zu unterwerfen, sind letztlich nur Folgen davon, dass er selbst in den Fallstricken der Metaphysik gefangen blieb, was eben Martin Heidegger in seiner Nietzsche-Deutung anmahnte. Nietzsches Nihilismus stellt sich gegen den aufoktroyierten übersinnlichen Wertehimmel, der auch nach dem Tod Gottes noch bleibt, aber er selbst dient der Steigerung der Lebensmacht, ist daher funktional und selbst noch Metaphysik. Nietzsches Nihilismus ist über den Einsatz der Kunst ein »euphorisches Ja zum dionysischen Leben« für den Menschen der Zukunft, den Übermenschen. Oder wie Jürgen Habermas es wandte: Es sei Nietzsche nie um die »Verabschiedung« des Abendlands gegangen, sondern um dessen »Verjüngung«. Damit sei aus Heideggers Sicht – und in diesem Fall ist dies die Sicht eines Antimodernen – auch Nietzsche nicht der Seinsvergessenheit entkommen und blieb ebenfalls ein Beitrag zum Aufstand der Technik, dem letzten Ausfluss abendländischer Metaphysik. Weniger dramatisch wäre ein Ergebnis von Heideggers Analyse, das auch als ein Resümee zu Nietzsche gelten kann: Nietzsches Anlauf, mit Kunst Metaphysik zu verabschieden, unterstreiche geradezu die Unüberholbarkeit von Metaphysik, solange Menschen sprechen, schreiben, malen, bauen oder Musik machen.

Lütkehaus 2000, 49 Meyer 2004, 47

Lütkehaus 2000, 49

Speyer 2010, 259

Detering 2010

Safranski 1997, 339 Habermas 1989, 114

440

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

10.2. Konrad Fiedler

Wiesing Lambert in Majetschak 2005, 195f

Fiedler 1881, 109

produktives Sehen

Liessmann 1993, 100 Wiesing Lambert in Majetschak 2005, 180

Der 1841 in Sachsen geborene Konrad Fiedler stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Von der Ausbildung her Jurist, ermöglichte ihm sein Vermögen eine Grand Tour durch Europa und den Vorderen Orient, sowie kunstphilosophische und ästhetische Studien. Fiedler, der sich auch als Kritiker und Mäzen betätigte, pflegte umfangreiche Kontakte mit den bildenden Künstlern seiner Zeit: in Rom mit den Vertretern des vom Münchener Dichter und Kunsthistoriker Baron Friedrich von Schack unterstützten Malerkreises (Lenbach, Böcklin, Feuerbach), in Florenz mit dem Maler Hans von Marées und dem Bildhauer Adolf von Hildebrand. Später wurde Fiedler von Paul Klee, Franz Marc und Wassily Kandinsky begeistert rezipiert, mehr als von Kunsthistorikern und Philosophen. Die Umstände seines Todes durch einen Sturz aus einem Fenster in München 1895 blieben im Dunkeln. Obwohl 1913/14 eine Neuausgabe seiner Schriften veranstaltet wurde, geriet er weitgehend in Vergessenheit. Ins Bewusstsein der Forschung rückte er erst wieder durch Gottfried Boehms Einleitung zu einer von ihm 1971 organisierten Ausgabe seiner Schriften zur Kunst. Heute wird Fiedlers Kunstphilosophie als ein bedeutender Beitrag zur Moderne gewürdigt. Seine Kunstphilosophie, die durch die Erkenntnistheoretische Logik (1878) des Schlesischen Neukantianers und Phänomenologen Wilhelm Schuppe, daneben durch physiologische und psychologische Theorien von Wilhelm Wundt und Hermann von Helmholtz Anregungen empfangen hatte, brach mit den herkömmlichen Theorien, die Kunst mit Schönheit oder mit Mimesis verschränkten. Besonders hervorzuheben ist seine zukunftsweisende Bildtheorie. »Insgesamt wirkt Fiedler in diesem Rezeptionsstrang als ein Vater der Bildwissenschaft, der ein phänomenologisches Bildverständnis entwirft, das zu der These zugespitzt werden kann: Die Sichtbarkeit des Bildes ist grundlegender als die Lesbarkeit des Bildes.« Bei Fiedlers Kunstphilosophie ging es in erster Linie um die Ansicht, dass das Kunstwerk eine – mit Nelson Goodman gesprochen – Weise der Welterzeugung ist. Diese welterzeugende Kunstauffassung nahm zwischen Hegel und Marx eine Mittelposition ein: »Wenn von alters her zwei große Prinzipien, das der Nachahmung und das der Umwandlung der Wirklichkeit, um das Recht gestritten haben, der wahre Ausdruck des Wesens der künstlerischen Tätigkeit zu sein, so scheint eine Schlichtung des Streites nur dadurch möglich, daß an die Stelle dieser beiden Prinzipien ein drittes gesetzt wird, das Prinzip der Produktion der Wirklichkeit. Denn nichts anderes ist die Kunst, als eins der Mittel, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt.« Der mit Fiedler vertraute klassizistische Bildhauer Adolf von Hildebrand – er war Schüler des ausgleichenden Franz von Stuck, war aber zum Klassizismus zurückgekehrt – hatte in seinem Werk Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893) das »richtige Sehen« zur Grundlage einer künstlerischen Erkenntnis gemacht. Mit dieser Losung lässt sich der ästhetische Ansatz Fiedlers umreißen. Man kann seine Ästhetik, die von der großen Linie empirisch orientierter Richtungen (also im Rahmen der alten Bedeutung der aisthesis) beeinflusst ist, eine »Künstlerästhetik« oder eine »nicht-spekulative Ästhetik« nennen, jedenfalls eine Ästhetik »von un-



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Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein n­ eues Jahrhundert

ten« im Sinne Gustav Theodor Fechners. Richard Wollheim rückte Fiedler deshalb in die Nähe der Anschauungstheorie. Ästhetik beginnt für Fiedler beim Kunstwerk selbst und gerade nicht mit theoretischen Gebilden, die den Kunstwerken übergestülpt werden. Niedergelegt hat Fiedler seine Ansichten in mehreren Schriften, insbesondere in Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst (1876), Über Kunstinteressen und deren Förderung (1879) und in seinem wichtigsten Werk: Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit (1887). In diesen Äußerungen erprobte er einen dritten Weg zwischen dem spekulativen Ansatz des Idealismus und dessen Systemtheorien, und dem transzendentalphilosophischen Zugang Kants mit dem Empirie-freien Subjekt. Keinesfalls war damit ein naiver Realismus gemeint. Vielmehr verband er Rezeption mit Produktion. Einige Äußerungen deuten in eine Richtung, die man später bei Husserl als Phänomenologie bezeichnete. »Nur auf diesen Höhepunkten künstlerischer Tätigkeit kann der Urteilende die reine Erkenntnis dessen gewinnen, was ihm sonst nur in unendlich vielfachen Mischungen, Trübungen, Verkümmerungen entgegentritt.« Es gilt, dass dem Künstler keine Ausdrucksweise zur Verfügung stehe, die nicht grundsätzlich »falsch gedeutet oder überhatupt nicht verstanden« werden könnte. Das liegt daran, dass sich die Welt der Kunst von jener eines diskursiven Argumentierens gründlich unterscheidet. Der Künstler lebt bisweilen gar in einer »anderen Welt, er ist der gemeinen Wirklichkeit entrückt […].« Wie kann hier das entscheidende Instrument von Fiedlers Ästhetik, das Sehen, das einen produktiven Aspekt umfasste, greifen? Das Problem dabei ist ja, dass sich bei den meisten Menschen diese Fähigkeit längst kompensatorisch abgeschliffen hat. Denn das gemeine Anschauen ist von Konventionen geprägt. Deshalb lasse sich der Mensch auf Kunstwerke gar nicht näher ein, sondern sieht sie in jener üblichen Art an, wie er auch die natürlichen Dinge ansehe. Den meisten Menschen – so das von elitären Anmutungen nicht freie Fazit Fiedlers – bleibt daher die Wahrnehmung des Kunstwerks und vor allem die davon ausgelöste Wahrnehmung der Welt verschlossen. Der Künstler erzeuge nicht primär ein materielles Kunstwerk, sondern einen neuen, mit den Konventionen brechenden Blick auf die Welt. »Das Sehen ist eine Tätigkeit, die durch die Hand des Künstlers gleichsam verlängert werden kann, indem sie neue, gesteigerte Formen der Sichtbarkeit produzieren kann.« Arnold Gehlen feiert diese Kunstauffassung als eine »im Grunde genial einfache und klare Lehre«, die »alles Gewicht, das einem Bilde als Kunstwerk zugeschrieben werden kann, in seine Eigenschaft als eine aktive Selbststeigerung und Potenzierung der Sichtbarkeit« legte. Um das nachvollziehen zu können, helfen nach Fiedler philosophische Einstiege wenig, Ateliergespräche mit den Künstlerinnen jedoch viel, die Fiedler deshalb zur Grundlage seiner Kunstphilosophie machte. Anders gesagt: Wie das begriffliche Sprechen ist auch das Sehen Resultat eines Prozesses von Erziehung und Ausbildung. Mit den reduzierten Formeln der Konvention komme man weder in der Sprache noch im Sehen zu neuen Wahrnehmungen. Genau darum, um die Schärfung der Wahrnehmung, geht es aber. Um das zu erreichen, brauche es eine besondere Gestalt des Kunstwerks. Dazu entfaltet Fied-

6.2.1. Wollheim 1968, 74 X.3.5.1.1.

Fiedler 1876, 44/26 Fiedler 1991a, 31

Scholz Oliver Robert in ÄGB 1, 663 Gehlen 1960, 61 Schärfung der Wahrnehmung

442

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

IX.3.5.1. Bild als ­ästhetisches Objekt

IX.3.9.4./X.4.2.1.

Düchting Hajo in Kohle 2008, 539

IX.5.2.1.

Fiedler 1887, 168 Majetschak 2009, 172

Fiedler 1991a, 59

Wiesing Lambert in Majetschak 2005, 191 Fiedler 1876, 33

ler eine Bildtheorie, die einen starken Beitrag zur Kunstphilosophie darstellt. Sie hat – wie schon gesagt – Parallelen mit der späteren phänomenologischen Bildtheorie Husserls. Der Künstler erzeugt eine autonome Form, die weder Realität noch Begriff ist, sondern etwas Drittes, das Bild, das einer Sehweise des Künstlers entspricht. Allerdings ging es nicht um die materielle Seite des Bildes, sondern um das, was Husserl später Bildobjekt nannte und der Husserl folgende Richard Wollheim ästhetische Gegenstände. Das Bild ermöglicht dem Menschen letztlich einen Blick über die reine materielle Realität hinaus. »Wichtig für das Eindringen in die künstlerische Qualität ist die Schaffung eines reinen Seherlebnisses im Bild, welches nicht durch das Wiedererkennen von Gegenständen oder das Festlegen von Gehalten abgelenkt werden dürfe.« Ähnlich wie bei der Ikone, aber mit anderem Sinn (nämlich einer nicht mehr göttlichen Anagogie) schaut man durch die Materialität des Bildes gleichsam hindurch auf das ästhetische Objekt. Das gilt grundsätzlich für jedes Bild, nicht zwangsläufig nur für das Bild der Kunst. Ein künstlerisches Bild wird ein Bild nicht durch intrinsische Eigenschaften, sondern durch seine Funktion. Wegen dieser Bestimmung reiht man Fiedlers Bildtheorie in den Funktionalismus ein. Die Funktion ergibt sich aus der Wahrnehmungslehre. Vor allem wurde Fiedler für viele Künstlerinnen der gegenstandslosen Kunst eine theoretisch anregende Basis. Andererseits brachen Positionen der Moderne ausdrücklich mit jeder verweisenden Beziehung über die Materialität hinaus, etwa die Vertreter der Arte Povera, der ZERO- und Gutai-Gruppe. Fiedler setzte das Sehen als intellektive Leistung von begrifflicher Erkenntnis ab. Es ist individuell und historisch variabel. Diese Leistung der künstlerischen Wahrnehmung dient der »Entwickelung des Sehprozesses«, spielt also einen Part im Rahmen der Aufklärung. Die künstlerische Anschauung leistet die »Erhebung aus dem unentwickelten, verdunkelten Zustand des anschaulichen Bewußsteins zu Bestimmtheit und Klarheit.« Die künstlerische Tätigkeit beginne dort, wo das konventionelle Sehen aufhört, und führe die visuelle Erscheinung zu größerer Klarheit, Bestimmtheit und Stabilität. Die Aufgabe der bildenden Kunst sei es letztlich, die Sichtbarkeit der Welt zu verbessern. Geradezu programmatisch für Fiedler könnte man das Diktum werten: »Die bildende Kunst gibt die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie sie gesehen werden.« Das Bild macht etwas in der Natur sichtbar, was es vorher noch nicht war. Damit lehrt uns erst das Bild eine Weise des Entschlüsselns von Welt. Kurzgeschlossen mit seiner spezifischen Bildauffassung erfuhr mit Konrad Fiedler die Nachahmung der Welt eine Wende zur Erzeugung von Welt. Das verschärft das traditionelle Abbildverhältnis als Verhältnis von Natur und Kultur, indem die Kunst gleichsam die Kategorien einer Betrachtung der Natur liefert: »[…] durch die Formen der Kunst werden die Formen erkannt und gelernt, in welchen die Natur für jemanden eine so-und-so-erfahrene Natur sein kann.« Bei Fiedler klingt das so: »Nicht der Künstler bedarf der Natur, vielmehr bedarf die Natur des Künstlers.« Letztlich wird hier der kulturelle Blick zu dem die Natur bestimmenden, sie strukturierenden Blick. Der Mensch gewinnt die Wirklichkeit geradezu durch die



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Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein n­ eues Jahrhundert

Kunst als eine Weise der Welterzeugung, sprich: durch die Strukturierung eben dieser Wirklichkeit. Dass dies mit einer kräftigen Portion Genieästhetik des Idealismus gepaart war und dem Künstler ein entsprechend hohes Bewusstsein, eine »Originalität seines Genius« zugesprochen wurde, ist nicht zu übersehen. Konsequent ist dann, dass für Fiedler die Natur durch den Künstler ein »reicheres und höheres Dasein« erhält – Hegel hätte es nicht anders formuliert. Auf dem langen Weg des platonischen Theorieansatzes eines demiurgischen Ordnung-Schaffens liegt bei Fiedler ein bei Hegel anknüpfendes Strukturieren der Natur vor, das freilich im Kunst-Bereich verweilt und nicht eine technische Weltveränderung im Sinne von Marx wird. Die Bedeutung von Künstlern liegt darin, dass sie »mit den Mitteln ihrer Kunst dem erkennenden Bewußtsein des Menschen Neues zuführen; […].« Das greift nicht in die Natur ein, sondern es geht um die Ordnungsmacht über die Natur. Ein künstlerisches Bild ist dann gelungen, wenn es »die Welt durch eine neue Art der Anschauung bereichert.« Denn: »Kunst ist über der Natur – gewiß; aber nicht in dem Sinne, daß sie zur Natur etwas hinzubringe, was nicht Natur sei; sie ist deshalb über der Natur, weil sie nichts anderes ist als eine entwickeltere Vorstellung von der Natur, entwickelter als diejenige Vorstellung, die im gewöhnlichen Sinne die Natur ausmacht.« Das alte Schönheitskonzept Platons ist als Neuordnung des Realen hier bewahrt, aber Schönheit im Sinne eines ästhetischen Konzepts verabschiedet. Darin liegt Fiedlers Aktualisierung dieses Konzepts: »Dieser Argumentationsschritt Fiedlers, in den Formen nicht die Schönheit, sondern spezifische Inhalte zu suchen, kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden: Er ist sowohl innerhalb der Geschichte des Formalismus wie auch in der Entstehungsgeschichte des modernen Kunstverständnisses ein entscheidender Fortschritt. Denn es sind die ersten Schritte hin zu der heute so geläufigen Ansicht, daß Künste möglich sind, die nicht mehr schön sein müssen.« Daran, dass Kunst nicht primär schön sein muss, lässt Fiedler keinen Zweifel aufkommen: »Der Schönheit dienen, Schönheit suchen, nach Schönheit streben klingt zwar recht erhaben, erhebt sich aber doch nicht sehr über alle die niedrigen Triebe des Menschen, die auf nichts anderes hinausgehen, als das Leben angenehm zu machen.«/»Das eigentliche Feld der Kunst aber besteht darin, daß sie die sinnliche Anschauung zum Bewußtsein erhebt; […].« Fiedlers Distanzierungen von Schönheit und Mimesis waren für die Künstler der Moderne, insbesondere natürlich jene der gegenstandslosen Kunst, reizvoll. »Unter ›Ästhetik‹ versteht Fiedler offenbar […] die Ästhetik des Klassizismus, infolgedessen trägt seine Theorie dazu bei, die bereits erschütterte Autorität der traditionellen Regeln vollends zu zerstören.« Gegen eine Beschränkung der künstlerischen Tätigkeit auf Mimesis setzte er den Ausdruck der »freien Gestaltung«. Wenn man den Fokus weniger auf den konstruktivistischen Aspekt setzt, sondern mehr – verbunden mit der spezifischen Bildauffassung – auf diese Überwindung der Konzepte gegenständlicher Kunst, kann man Konrad Paul Liessmanns Aktualisierung Fiedlers für die ungegenständliche Kunst zustimmen: »Erst die solcherart vorbereitete Entwertung des Gegenständlichen im weitesten Sinn, erst die

Genieästhetik

Fiedler 1991a, 43 Fiedler 1876, 33

Fiedler 1991a, 42 Ebd., 43

Ebd., 76

schöne Kunst

Wiesing Lambert in Majetschak 2005, 182

Fiedler 1991a, 12/14

Benevolo 1960, 309 Fiedler 1876, 30

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Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

Liessmann 1993, 107

damit ins Zentrum gerückte Souveränität des Künstlers über die ästhetische Neugestaltung der Welt, erlaubte die Entwicklung zu einer Abstraktion, in der Formen und Farben ohne Gegenstandsbezug zu eben jenen Ausdrucksträgern eines künstlerischen Bewußtseins werden konnten, die für Fiedler überhaupt erst indizierten, was Kunst sei.«

10.3. Jacob Burckhardt

VII.4.2.4.2.

Noll 1997, 13

VI.3.0.

Der 1818 in Basel geborene Jacob Burckhardt gehört zu den bedeutendsten Historikern des 19. Jh.s. Seine bevorzugte Epoche fand er in der Renaissance, der Zeit der Aufklärung, die der aus einer Familie mit zahlreichen Geistlichen der reformierten Kirche unter den Vorfahren stammende Burckhardt gegen das klerikal geprägte Mittelalter in Position brachte. Vor allem die historische Aufarbeitung des Papsttums bot Möglichkeiten, nicht immer durch Quellen gedeckt, zur Polemik. Eine große Rolle spielt Burckhardt als Kunsthistoriker und kunstphilosophisches Interesse kommt ihm zu, weil sich in ihm wie in einem Brennglas mehrere kunstphilosophische, ästhetische und kunsthistorische Positionen sammeln. Burckhardts Vorbild war Winckelmanns Ästhetik und dessen normativer Schönheitsbegriff. Wie bei Winckelmann stand auch bei Burckhardt das Kunstwerk im Vordergrund, und wie Winckelmann sah er in der griechischen Kunst die Dienerin der reinen Schönheit. Das Griechen-Paradigma war ihm allerdings nicht von Anfang an der Leitfaden. Zunächst stand Italien im Fokus, das er 1846 und 1848 bereist hatte. 1855 erschien der Cicerone, eine vergleichende Beschreibung der italienischen Kunst von der Antike bis zu seiner Gegenwart, mit einem Hauptaugenmerk auf der Kunst von Florenz und Rom, von welchem Gesichtswinkel aus er auch die Kunst Venedigs beurteilte. Im Untertitel nannte Burckhardt sein Buch, in dem er an die 6000 Kunstwerke beschrieb, eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens. Unter Genuss verstand er hier ganz im Sinne Winckelmanns »die beglückende sinnlich-geistige Erfahrung einer lebenserhöhenden Macht […].« Zu genießen war in erster Linie die Kunst der Renaissance, der erneuerten Antike. Im Umfeld seines Cicerone erweiterte Burckhardt die Renaissance von einer Stilbezeichnung auf den Begriff einer Kulturepoche, eine Spur, die er bereits bei Winckelmann gelegt fand und die ihm so wichtig war, dass die bei Winckelmann noch deutlich sichtbaren stilistischen Untersuchungen an Kunstwerken bei Burckhardt zurücktraten. Die Bedeutung der Renaissance als Kulturepoche und als Eintrittstor in die Moderne in ein breites Bewusstsein gerückt zu haben, bleibt Burckhardts Verdienst, auch wenn in der heutigen Forschung manche Einordnungen anders gesehen werden. Den Bruch mit der neuen Aufklärung der Renaissance, die er im epochalen und geradezu mit Kultstatus ausgezeichneten Werk Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) grundlegend beschrieb, sah er im 16. Jh. Besonders auffällig schien ihm dies in der Dominanz der spanischen Habsburger und der von ihnen eingeleiteten und geförderten Rückkehr der Vormundschaft der Kirche und feudaler Verhältnisse.



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Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein n­ eues Jahrhundert

Seine Einschätzung des Barock war von seiner Sicht auf Kunst und Architektur der Renaissance geprägt. Er sprach von Prahlerei und kennzeichnete den Stil mit dem Begriff des Malerischen, meinte damit aber nicht das Pittoreske, sondern das Effekthaschende. Das Malerische nehme seiner Ansicht nach sogar Skulptur und Architektur in Geiselhaft. Heinrich Wölfflin, Schüler und Nachfolger Burckhardts in Basel, der der Perspektive seines Lehrers darin folgte, als er den malerischen Barockstil aus der Warte der als klassischer Maßstab fungierenden Renaissance bewertete, nahm den Ausdruck später auf (Der malerische Stil als Kapitelüberschrift). Aber er sah darin den Gegenpol zur Renaissance, nicht unbedingt ihren Verfall. Mit seinem monumentalen, erst aus dem Nachlass publizierten Werk Griechische Kulturgeschichte (1898–1902) vollzog Burckhardt den Schwenk vom Vorbild Roms zu Athen. Etwa seit den Siebzigerjahren war die Beschäftigung mit der griechischen Antike in den Vordergrund gerückt. Der Bruch zwischen dem vermeintlich kulturell hoch stehenden alten Europa und der Verlustgeschichte des neuen Europa war nun nicht mehr die Renaissance, sondern die Französische Revolution. Diese einschneidende Wende ließ – darauf kam es Burckhardt an – die Disposition verloren gehen, die für die Rezeption der griechischen Kunst notwendig war. Damit ging aus seiner Sicht auch Europa verloren, denn Europa wurde in Griechenland gegründet. An den Beginn seiner Kulturgeschichte stellte er einen sehr konstruiert wirkenden, »mit Schere und Klebstoff« zusammengebastelten Ursprungsmythos Griechenlands, den er zum »historiographisch inszenierten Ursprungsmythos Europas« stilisierte. Nur die Griechen seien seiner Ansicht nach in der Lage gewesen, die Welt interesselos (also nicht utilitaristisch und gewinnorientiert) zu betrachten. Dieses Spezifikum setzte er als moralische Qualität prägnant vom »Orient« ab, unter dem er nach der damaligen humanistischen Bildungskonzeption in erster Linie den hebräischen Orient meinte. Dies war ein antisemitisch angehauchter Ethnozentrismus, der nicht unterschlagen werden darf. Dem Alten Orient mit Ägypten erging es nicht besser. Er tat ihn stets als bloß »knechtischen Orient« ab. Namentlich Ägypten sei ein Reich auf religiöser Grundlage und daher kunstfeindlich und die Individualität unterdrückend gewesen. Das war ziemlich schematisch gedacht. Während der Regierungszeit Ismail Paschas 1863–1879 war das Land als osmanische Provinz nämlich toleranter und liberaler als die meisten europäischen Staaten. Der Regent lockte Ausländer (darunter viele Juden) mit Privilegien in das Land, um es zu einem modernen Staat zu machen. Er baute Infrastruktur und Unterhaltungsindustrie aus und suchte die Konkurrenz mit Paris, wo er ausgebildet worden war. Erst Mitte des 20. Jh.s wandte sich in Ägypten der Zeitgeist und es begann ein Nationalismus Platz zu greifen, der mit einem fundamentalistischen Religionsverständnis angereichert wurde. Wie erwähnt, begannen im 19. Jh. die großen archäologischen Grabungskampagnen, Unternehmungen, die Burckhardt mit größtem Unbehagen verfolgte. Denn das, was man namentlich aus dem hellenistischen Umfeld zutage brachte, torpedierte doch zu sehr die idealen Vorstellungen der Kunst der antiken Klassik und untermi-

Payne 2011, 39

VII.3.2.

Flaig 1998, 31/29

Kunze 1998, 78

446

Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert

III.2.5.4.

Burckhardt, zit. nach Kunze 1998, 82

III.2.5. Payne 2011, 53

Ebd., 54

nierte deren normativen Anspruch. Als Ideal wurde von den meisten Kunsthistorikern die Zeit des Phidias zur Norm erhoben. Unter ihnen war Johannes Overbeck, aus dessen Geschichte der griechischen Plastik (1857) Burckhardt viele Anregungen schöpfte. 1879 führte die Aufstellung des Pergamonaltars im Alten Museum Schinkels in Berlin zu heftigen Eruptionen und Debatten, welche die Entdeckung der originalen hellenistischen Kunst in dieser Zeit begleiteten. Burckhardt erhielt 1882 Fotos von den ausgestellten Figuren des Altars und eilte gleich nach Berlin, um sie dort im Original zu sehen. Man war verwirrt, weil dieses Meisterwerk des bislang als Verfallszeit taxierten Hellenismus malerisch und voller Pathos war, »ein Beißen, Hauen, Schlagen, Zerquetschen […] Der Styl stellenweise so, daß Phidias auf seinem Thron zittert«, schrieb er in einem Brief. Der damalige Direktor der Berliner Antikensammlung, Alexander Conze, warf die bisherige Kunstgeschichtsschreibung mit der These um, dass bereits die Griechen und nicht erst die (degenerierten) Römer das Malerische pflegten (Über das Relief der Griechen; 1882). Die Gegner versuchten, den Altar, den etwa der Münchner Archäologe Heinrich von Brunn mit Ausdrücken wie »Materialismus« und »Zeichen sinkender Kunst« bedachte, dadurch zu relativieren, dass sie ihm eine tektonisch-dekorative Funktion in einem größeren Ganzen zuschrieben. Die Befürworter einer Revision der hellenistischen Kunst setzten sich durch und sparten nicht mit Vergleichen zu zeitgenössischen deutschen Künstlern und Architekten. Alois Riegl zog 1901 in seiner Spätrömischen Kunstindustrie den Schluss, dass man Bauwerke innerhalb einer Epoche zu bewerten habe und sie nicht über solche Grenzen hinweg vergleichen dürfe. Auch Burckhardt kämpfte letztlich gegen das Narrativ der Verfallszeiten und billigte dem Hellenismus bei aller Verehrung der Blütezeit eine eigenständige Leistung zu. Damit schränkte Burckhardt in seiner Kunstbetrachtung die Ausgangslage von einer abstrakten historischen oder soziologischen Theorie ein und bekannte sich zu einem relativen, nämlich geschichtlichen Zugang, der die Kunstwerke in Abhängigkeit von Schulen und Epochen betrachtete. Das machte ihn neben Ranke und Droysen zu einem Vertreter einer historistischen Sicht, und er stimmte mit Droysens epochaler Hellenismus-Deutung überein. Diese umfangreiche Diskussion scheint ein Schlüssel gewesen zu sein, »to cut the Gordian knot of the relationship between the Renaissance and the baroque.« Wenn sich schon der »hellenistische Barock« in die große griechische Kunst integrieren ließ, sollte dies mit dem neuzeitlichen Barock im Hinblick auf die Renaissance auch gelingen: »Bernini is no longer a villain and malerisch no longer a pejorative.« Wenngleich es bei Burckhardt beispielsweise in den Vorlesungen über Geschichte der Malerei. Neuere Kunst seit 1550 nur mehr ein Ansatz blieb, konnten andere Kunsthistoriker der Epoche wie Wölfflin von dieser neuen Sicht profitieren. Grundsätzlich zeigt die heftige Diskussion, wie normativ die Ästhetik des 19. Jh.s noch konzipiert war.