Kumpel, Kohle und Krawall: Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion [1 ed.] 9783666370663, 9783525370667

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Kumpel, Kohle und Krawall: Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion [1 ed.]
 9783666370663, 9783525370667

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Arne Hordt

Kumpel, Kohle und Krawall Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion

Nach dem Boom Herausgegeben von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Arne Hordt

Kumpel, Kohle und Krawall Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion

Mit 17 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Diese Publikation entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 923 »Bedrohte Ordnungen« (Teilprojekt A03: »Aufruhr in Montanregionen: Deutschland und Großbritannien im 20. Jahrhundert«) und wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Easington 20. August 1984, am ersten Tag des angekündigten »return to work« spricht ein Polizeioffizier mit NEC-Vertreter Billy Stobbs, © Keith Pattison Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-7246 ISBN 978-3-666-37066-3

Inhalt

I.

Aufruhr in der Montanregion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Einleitung: Miners’ Strike und Rheinhausen . . . . . . . . . . . . 9 2. Literaturbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Zur Methode: Ereignis und Struktur im interregionalen Vergleich 27 4. Quellengrundlage und Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . 36

II.

Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren . . . . 43 1. Vergangene Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.1 Die Ordnung Montanregion und der »Strukturwandel« . . 43 1.2 Planung des Raums – Modernisierung der Industrie . . . . . 59 1.3 Routinekonflikte als integrierendes Element der sozialräumlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Arbeit und Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2.1 Legitime Solidarität und verhandelter Konflikt . . . . . . . . 91 2.2 »Arbeit« und »Gemeinschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.3 »Rheinhausen muß leben!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Protest, Macht und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3.1 »Black has been made white…« . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3.2 Macht und Protest zwischen nationalen Diskursen und lokalen Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.3 Zuspitzungen: Konfliktlagen zwischen Erleben, Erfahrung und Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.4 »Sinnlose Gewalt«? Die Krawalle vom 23. bis 25. August 1984 in Durham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.5 »Diese Ringe halten lebenslang« – Gewalt und Empörung in Rheinhausen . . . . . . . . . . . . 193 3.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 4. Gerechtigkeit und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.1 »they have one pair of shoes each at the present time« – Die Krise des Sozialstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.2 »Sinnvolle Arbeit« – Die strukturpolitische Bewältigung des Aufruhrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

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Inhalt

4.3 Ein rebellischer Bischof und ein ratloser Arbeiterpfarrer – auf dem Weg zu einem neuen Regionalbewusstsein . . . . . 251 4.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 III. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Verzeichnis der Abbildungen und Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

SAMPSON: Gregory, o’ my word, we’ll not carry coals. GREGORY: No, for then we should be colliers.

S.: I mean, an we be in choler, we’ll draw. G.: Ay, while you live, draw your neck out o’ the collar. S.: I strike quickly, being moved. G.: But thou art not quickly moved to strike. William Shakespeare, Romeo and Juliet I, 1 (1597)

I. Aufruhr in der Montanregion

1. Einleitung: Miners’ Strike und Rheinhausen Der britische Miners’ Strike und die Rheinhausener Proteste waren symbolische Konflikte von außerordentlicher Reichweite, die in Großbritannien und Westdeutschland fundamentale Debatten über gesellschaftliche Selbstbilder auslösten. Besonders intensiv wurden diese Diskussionen in den schwerindustriell geprägten Montanregionen geführt, wo die Verflechtung zwischen der industriellen Produktion von Kohle und Stahl und dem politischen Herrschaftsanspruch des Staates im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts eine Regionalgesellschaft eigenen Typs hervorgebracht hatte. Die wirtschafts- und sozialgeschichtlich geprägte Forschung zu Streiks und Protesten im Bereich der Schwerindustrie sieht diese zumeist als Erscheinungen, die sich zwingend aus Krisen einzelner Branchen oder der Gesamtwirtschaft ergaben. In dieser Lesart kommt sozialem Protest kein eigener Sinn zu, konkrete Motive und Handlungsbedingungen von Akteuren spielen keine Rolle.1 Dabei sollte einige Jahrzehnte nach dem linguistic turn und dem Aufkommen der Neuen Ideengeschichte klar sein, dass strukturelle Faktoren von Ungleichheit niemals aus sich selbst heraus politischen Protest hervorbringen. Dazu bedarf es immer auch sprachlicher Artikulationsmöglichkeiten und institutioneller Ausdrucksformen.2 Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit besteht deshalb darin, diese Lücke im Hinblick auf Miners’ Strike und Rheinhausen zu schließen und eine akteurszentrierte Perspektive auf den Aufruhr in der Montanregion in den 1980er Jahren zu entwickeln, die auch zu einem realistischeren Bild sozialer Konflikte am Ende des 20. Jahrhunderts beiträgt. Regionale Konflikte um Schließungen von Zechen, Stahlwerken oder Schiffswerften bilden auf den ersten Blick einleuchtende Beispiele für Proteste, die sich gegen unaufhaltsame Neuerungen richteten, und über die mit der Benennung der zugrundeliegenden Prozesse (Deindustrialisierung, Globalisierung, Stahlkrise) alles gesagt sein dürfte. In Bezug auf den Miners’ Strike spricht Richard Vinen in seiner Gesamtdarstellung der Thatcher-Jahre z. B. vom »victory foretold« für die britische Regierung,3 während Tony Judt die Sache der britischen 1 John McIlroy, Trade Unions in Britain today, Manchester 1995 (1990), S. 385–408; Michael Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 2000, hier S. 370–387. 2 Gareth Stedman Jones, Introduction, in: Ders. (Hrsg.), Languages of Class. Studies in English Working Class History 1832–1982, Cambridge 1983, S. 1–24, hier S. 20–24. 3 Richard Vinen, Thatcher’s Britain. The Politics and Social Upheaval of the Thatcher Era, London 2009, hier S. 7.

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Aufruhr in der Montanregion

Bergleute als »hopeless« bezeichnet.4 In Abgrenzung zu diesen Interpretationen sollen hier die Ambivalenzen politischer Diskurse, die prinzipielle Offenheit von Ereignissen und Handlungsverläufen, die Spielräume von Akteuren sowie die Rolle von Gewalt und sozialstaatlicher Legitimität in den Mittelpunkt der historischen Betrachtung rücken. Damit trägt die Arbeit einer Kernforderung von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Rechnung, die für die Zeit ab 1973 fordern, dass Historiker viel stärker als bisher dem »spannungsreichen Nebeneinander unterschiedlicher Geschwindigkeiten und Richtungen von Entwicklungen«5 nachspüren sollten. Dazu muss die Untersuchung – im Sinne der Kulturgeschichte des Politischen oder New Political History – vor allem implizite Vorstellungen von Akteuren, die in der Verwendung politischer Sprache zutage treten, in Frage stellen und sie auf historisch lokalisierbare Überzeugungen, Erfahrungen und Organisationsformen zurückführen.6 Für eine historische Untersuchung des Miners’ Strike und der Rheinhausener Proteste ist diese Herangehensweise besonders gut geeignet, weil beide Ereignisse Merkmale einer bedrohten Ordnung tragen, in der Überzeugungen und Handlungsroutinen brüchig werden und die Akteure somit unter einem erhöhten Druck standen, Handlungen zu begründen. Der zeitliche, sachliche und kommunikative Ereignisdruck sorgte wiederum dafür, dass beide Seiten in den Konflikten eine ausgeprägte Bedrohungskommunikation entwickelten: Sowohl die Entwicklungen, gegen die sich der Protest richtete, als auch die Protestaktionen selbst wurden als Bedrohungen wahrgenommen und dargestellt. Die Wahrnehmungen, Mitteilungen und Handlungen, die aus dieser Bedrohtheit erwuchsen, waren von einer kurzfristigen, situativen Dynamik geprägt und die Konfliktparteien sprachen sich – »in Aufruhr« – gegenseitig die Legitimität ihrer jeweiligen Position ab.7 Die Fragestellung der Arbeit nimmt so einen einzelnen Aspekt des sozialen, kulturellen und politischen Wandels am Ende des Industriezeitalters in den Blick: Warum, wie und mit welchen Folgen entwickelte sich ›normaler‹ Protest gegen Werksschließungen im Miners’ Strike und in Rheinhausen zu einem fundamentalen Konflikt um die Verteilung politischer Macht, die Organisation der Wirtschaft und die kulturelle Identität einer Bevölkerung? Aus dieser Frage nach 4 Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, London 2010 (2005), hier S. 542. 5 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, hier S. 13. 6 Stedman Jones, Introduction, hier S. 7–12; Willibald Steinmetz, New Perspectives on the Study of Language and Power in the Short Twentieth Century, in: Ders. (Hrsg.), Political Languages in the Age of Extremes, Oxford, New York 2011, S. 3–51, hier S. 3–8, 30 f.; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606, hier S. 588–591. 7 Vgl.: Arno Anzenbacher, Legitimität, in: Hans Dieter Betz u. a. (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft Bd. 5, Tübingen 42002, Sp. 179 f; Arne Hordt u. a., Aufruhr! Zu epochenübergreifenden Beschreibung beschleunigten sozialen Wandels in Krisenzeiten, in: HZ 301 (2015), S. 31–62.

Einleitung: Miners’ Strike und Rheinhausen

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einer historischen Konflikttypologie ergeben sich vier konkrete Leitfragen, die in jedem Teil der Untersuchung empirisch beantwortet werden müssen: Warum und inwiefern wurde in den beiden Konflikten von einer oder allen Parteien die Legitimität der Ordnung Montanregion in Frage gestellt? Welche Spielräume standen den individuellen und kollektiven Akteuren dabei – in Abhängigkeit von oder in Abgrenzung zu sich wandelnden Strukturen – zur Verfügung? Inwiefern veränderte der soziale Protest das Verhältnis von regionaler Identität und industrieller Struktur in den Montanregionen Nordostengland und Ruhrgebiet? Schließlich, wie ändert sich das Bild der regionalen Konflikte um Betriebsschließungen, wenn man sie als Ereignisse betrachtet, die von kontingenten Verläufen, Handlungsspielräumen von Akteuren und einer kulturellen Sinndimension bestimmt waren? Mit diesen Leitfragen sind zwei Thesen verbunden, die sich gegen vorherrschende Bilder vom Miners’ Strike und »Rheinhausen« richten: Erstens, nicht die Betriebsschließungen selbst waren der Auslöser für den Aufruhr in den Montanregionen, sondern lediglich die Art und Weise, in der sie angekündigt wurden. Zweitens, der Verlauf der Proteste wurde nicht von ideologischen oder politischen Gegensätzen bestimmt, sondern von der Einhaltung oder dem Bruch größtenteils regionaler Handlungsroutinen. Lokale Konfliktpraktiken sind freilich nur im Hinblick auf nationalgesellschaftliche Diskurse zu verstehen, während nationale Verläufe sich umgekehrt nur aus der regionalgesellschaftlichen Dynamik des Geschehens befriedigend erklären lassen. Aus diesem Grund bildeten die Regionen North East England und Ruhrgebiet im Miners’ Strike und bei den Rheinhausener Protesten die entscheidende Vermittlungsebene für politische Selbstbilder, gewerkschaftliche Solidarität und staatliches Handeln. Und deshalb sollen beide Konflikte im Folgenden vor allem auf dieser regionalen Ebene untersucht werden. Zur besseren Einordnung bedarf es hier jedoch auch einer kurzen Darstellung über den Ablauf der Ereignisse und die wichtigsten Akteure. Die in der National Union of Mineworkers (NUM) organisierten britischen Bergleute streikten von März 1984 bis März 1985, um gegen Schließungspläne des staatlichen Bergbauunternehmens National Coal Board (NCB) zu protestieren und die damit einhergehende Restrukturierung der britischen Kohleförderung zu verhindern. In einigen Revieren in den midlands, Nottinghamshire, Derby­ shire und Staffordshire, schloss sich allerdings nur eine Minderheit der NUMMitglieder dem Streik an. Dieser Miners’ Strike bildete für die Zeitgenossen ein Großereignis ersten Ranges. In den Medien wurde er als Konflikt zwischen der britischen Arbeiterbewegung und der Regierung von Margaret Thatcher um die politische Macht im Vereinigten Königreich verstanden.8 Vor allem der persönliche Kontrast zwischen Thatcher und dem Vorsitzenden der Bergarbeiter­ gewerkschaft NUM, Arthur Scargill – hier die vornehme Lady mit Wahlkreis in Finchley, dort der großmäulige Arbeiterführer mit vernehmbarem Dialekt aus Yorkshire – diente als Projektionsfläche für ­Vorstellungen von einer ideo8 Vgl. Geoffrey Goodman, Why Scargill Can Cast His Spell, Daily Mirror 24.8.1984.

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Aufruhr in der Montanregion

logischen Spaltung der britischen Gesellschaft.9 Diese Sichtweise überdeckt bis heute die regional- und industriepolitischen Machtfragen, die in Wahrheit den Konflikt auslösten. Schon vor Beginn des Streiks hatte sich im britischen Kohlesektor nämlich ein gewaltiges Konfliktpotential zwischen den von der NUM vertretenen Arbeitnehmern und dem staatlichen Unternehmen NCB aufgebaut. Seit Jahren arbeitete das NCB defizitär, von vielen Zechen war bekannt, dass sie niemals oder nur nach sehr hohen Investitionen profitabel werden würden, zudem war die Privatisierung möglichst vieler verstaatlichter Industriezweige seit 1979 Teil des Regierungsprogramms der Konservativen. Als die Bergarbeiter im März 1984 spontan die Arbeit niederlegten, waren in den Jahren zuvor bereits zwei Anläufe der NUM-Führung unter Scargill, per Urabstimmung einen Streikbeschluss zu erreichen, gescheitert. Seit dem Winter bestand jedoch ein sogenannter overtime ban in allen Revieren. Die Mitglieder der NUM weigerten sich, essentielle Reparatur-, Wartungs- und Montagearbeiten außerhalb der normalen Schichtzeiten durchzuführen. Diese Maßnahme sollte die Produktion stören, weil die Arbeiter so die Zeiten für den reibungsfreien Förderbetrieb verkürzten. Der overtime ban wurde während des folgenden einjährigen Streiks in allen Bezirken befolgt, auch dort, wo die Arbeiter nicht in Streik traten. In Schottland gab es schon vor dem landesweiten Streikbeginn kurze Arbeitsniederlegungen auf einzelnen Zechen, weil die regionale Leitung des NCB dort versucht hatte, ohne die vorgeschriebene Konsultation der Gewerkschaft Zechen zu schließen.10 Der Streik brach aus, als NCB und NUM sich in Tarifverhandlungen befanden, in denen das Coal Board die Vereinbarung eines neuen Tarifvertrages mit der Bedingung verknüpfte, dass Zechenschließungen in Zukunft einfacher, also mit einem kürzeren Verfahren, über dessen Ende alleine das Unternehmen entscheiden sollte, möglich sein müssten. Der eigentliche Miner’ Strike begann, als ein Vertreter des regionalen Managements in South Yorkshire, dem Heimatbezirk Arthur Scargills, ausplauderte, dass das Bergwerk Cortonwood geschlossen werden sollte. Daraufhin traten die Bergleute zuerst auf dieser Zeche und innerhalb von ein paar Tagen in ganz Yorkshire in den Ausstand. Schon bald schwärmten sogenannte flying pickets, mobile Streikposten, von Yorkshire und Schottland in andere Landesteile aus, wo die Belegschaften sich größtenteils dem Streik anschlossen. Nur in den profitablen Kohlerevieren der Midlands, vor allem in der Grafschaft Nottinghamshire, weigerte sich eine Mehrheit der Bergleute, ohne Urabstimmung (engl. ballot) in den Ausstand zu treten. Im Nordosten, dem Kohlerevier um Newcastle, standen sich zwei Wochen lang Belegschaften, die spontan streiken wollten, und andere, die eine Urabstimmung abwarten wollten, gegenüber.

9 Vgl. Paul Routledge, Scargill, London 1993. 10 Jim Phillips, Collieries, Communities and the Miners’ Strike in Scotland, 1984–85, Manchester 2012, hier S. 65–75.

Einleitung: Miners’ Strike und Rheinhausen

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Dieser inkrementelle Streikbeginn, ohne landesweite Urabstimmung, aufgrund von Beschlüssen einzelner Betriebsgruppen (lodges) oder Bezirke (areas), bildete von Beginn an ein Einfallstor für Kritik. Die Satzung der NUM sah tatsächlich zwei Arten vor, auf die ein landesweiter Streikbeschluss erwirkt werden konnte: Neben der landesweiten Urabstimmung (national ballot) zu einem festen Termin, waren auch Beschlüsse der areas nach regionalen Abstimmungen oder auch nur durch die satzungsgemäß vorgesehenen Gremien (area-by-area)  zulässig. Die Ergebnisse der einzelnen Bezirke konnten dann vom Vorstand der NUM, dem National Executive Committee (NEC), für allgemeinverbindlich erklärt werden. Regierung und Medien stellten die unterschiedlichen Positionen zur Frage der Urabstimmung innerhalb der NUM aber als prinzipiellen Konflikt um demokratische Verfahrensweisen in der britischen Gewerkschaftsbewegung dar, was dem Streikbeginn und dem später erfolgten Streikbeschluss des NEC der NUM von vorneherein den Ruch der Illegalität eintrug.11 Auch praktisch hatten die lange Anlaufphase des Streiks und der inkrementelle Streikbeginn negative Auswirkungen: Überall dort, wo nicht alle Bergarbeiter einer Zeche oder eines Reviers streikten, spitzte sich die Situation an den Zechentoren zu. Hier standen sich Streikposten und arbeitende Bergleute, die von ihren streikenden Kumpeln abschätzig »scabs« (aus altenglischer Wurzel sceab – analog zu deutsch: »schäbig«, etwa: Gauner, Halunken) genannt und von der Regierung als »working miners« bezeichnet wurden, gegenüber und mussten häufig von der Polizei getrennt werden. Die Regierung in London erklärte die Nicht-Teilnahme am Streik daraufhin zu einem fundamentalen Bürgerrecht: »The right of miners who want to work and vote [in the ballot, A. H.] is something that is fundamental to a free society.«12 Infolgedessen entwickelten sich die Auseinandersetzungen vor den Zechentoren zu einer Machtprobe zwischen streikenden Arbeitern und Regierung. Diese Entwicklung konnten die Funktionäre der NUM so nicht vorhersehen und auch radikale Streikbefürworter und Gegner einer landesweiten Urabstimmung erkannten, dass der lange und wechselhafte Streikbeginn die Gewerkschaft schwächte. Obwohl von nun an Gewalt das Bild der Ereignisse im Fernsehen prägte, blieb der Streik bis zum Sommer 1984 vor allem in den alten, traditionsreichen Revieren wie Südwales, Schottland und im Nordosten für die allermeisten Streikenden eine relativ friedliche Angelegenheit. Neben den offiziellen Strukturen der NUM etablierten sich Unterstützergruppen aus dem Umfeld des labour move­ ment. Sogenannte miners’ support groups und auch miners’ wives support groups trugen erheblich dazu bei, die streikenden NUM-Mitglieder zu ­unterstützen 11 David Howell, Defiant Dominoes. Working Miners and the 1984–85 Strike, in: Ben Jackson / Robert Saunders (Hrsg.), Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012, S. 148–164, passim. 12 The Secretary of the State for the Home Department (Mr. Leon Brittan), HC Deb 15 March 1984, vol 56 cc. 512–521, S. 512 f.

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Aufruhr in der Montanregion

und Öffentlichkeitsarbeit für die Gewerkschaft zu betreiben.13 Auch innerhalb der Organisationsstruktur der NUM änderte sich viel. Neben den hierarchischen Aufbau der areas aus lodge, executive committee, general secretary und president traten in vielen Fällen außerordentliche Basiskonferenzen, sogenannte coalfield conferences, auf denen jüngere Aktivisten vom linken Gewerkschaftsflügel das Geschehen dominierten. Immer wieder gab es auf der nationalen Ebene Ansätze dazu, durch Verhandlungen eine Lösung für den Konflikt um die drohenden Zechenschließungen zu finden. Dabei drehte sich alles darum, ob und unter welchen Bedingungen der Vorstand des NCB dazu berechtigt sei, sogenannte »unwirtschaftliche Z ­ echen« (uneconomic pits) zu schließen. Tatsächlich zeigte sich der linke Flügel der NUM-Funktionäre um Arthur Scargill hier relativ intransigent – angesichts der unabgesprochenen Schließungsdrohung für Cortonwood sahen sie das gesamte, fein-austarierte System der review procedures, also des Wechselspiels von Schließungsankündigungen, Prüfungen, Gegengutachten und Abfindungen, in Gefahr. Die oberste Führungsebene des National Coal Board, insbesondere der von Thatcher aus der amerikanischen Industrie geholte Vorstandsvorsitzende Ian McGregor, waren hingegen der Auffassung, dass im NCB endlich ein sogenanntes management’s right to manage durchgesetzt werden müsse. Immer wieder scheiterten Verhandlungen über eine Beendigung des Streiks an diesen Maximalforderungen und an der gegenseitigen Erwartung, dass die Gegenseite in nächster Zeit unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse nachgeben würde. Im Sommer 1984 begann die Führung des NCB, auf eine Taktik des aktiven Streikbrechens zu setzen. McGregor forderte alle Beschäftigten in den Bergwerken per Brief dazu auf, gegen die Beschlüsse ihrer Gewerkschaft an die Arbeit zurückzukehren. Damit endete eine Ära der industriellen Beziehungen in Großbritannien, die mit der Einheitsregierung von 1939 begonnen hatte. Seitdem hatten die staatlich kontrollierten Grubenfirmen bzw. das 1947 geschaffene Staatsunternehmen National Coal Board die Arbeiter nicht mehr zum Streikbrechen aufgefordert. Zugleich eskalierte die Lage an bestimmten Orten. Von Ende Mai bis Mitte Juni scheiterte eine Blockade des Koks- und Kohledepots in Orgreave, im Bezirk South Yorkshire. Dieses Ereignis ging als »Battle of Orgreave« in die Geschichte des Streiks ein, vor allem die Bilder von langen Reihen sich gegenüberstehender Polizisten und Bergleute, von Arbeitern und Zivilisten, die von berittener Polizei verfolgt und von den Pferden aus mit Knüppeln geschlagen wurden, und von Polizisten, die sich vor Steinen und anderen Wurfgeschossen schützen mussten, sind bis heute Teil der kollektiven Erinnerung an den Streik. 13 Im Herbst 2014 ist der Film »Pride« erschienen, der die Aktivitäten der Gruppe »Lesbians and Gays Support the Miners« (LGSM) lebendig und glaubhaft darstellt – insbesondere den Spagat zwischen schwullesbischer Solidarität und der tendenziell homophoben Sozialkultur in den Montanregionen.

Einleitung: Miners’ Strike und Rheinhausen

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Im Nordosten kam es allerdings erst im August 1984 im Osten von Durham zu Krawallen, weil das NCB nun auch dort versuchte, Arbeiter am Ende der Schulsommerferien zurück an die Arbeit zu locken. Dadurch prallten die für selbstverständlich erachteten Gewohnheiten der gewerkschaftlich organisierten Bergleute und das neue Rechtsverständnis der Zentralregierung und des Unternehmens NCB auch im Nordosten unversöhnlich aufeinander. Die Bergarbeiter in Durham waren fest davon überzeugt, dass es ihr Recht sei, Streikbrecher zu sanktionieren und am Zechentor bloßzustellen. Die Regierung in London wollte hingegen, dass working miners, ohne den Anblick von mehr als den gesetzlich zulässigen vier Teilnehmern eines Streikpostens dulden zu müssen, an ihren Arbeitsplatz gelangen konnten. Diese Vorgabe war der Auslöser dafür, dass Streikposten umgangen oder mit Straßensperren und Gewalt von Zechen ferngehalten wurden, aber auch für heftige Ausschreitungen, die von den Arbeitern ausgingen. Im Herbst 1984 zeichnete sich immer deutlicher ab, dass der Miners’ Strike für die NUM nicht mehr zu gewinnen war. Außer bei den mittlerweile in vielen Fällen hochverschuldeten Bergleuten, ihren Familien und den Betriebspensionären des NCB gab es keine Engpässe bei der Strom- oder Wärmeversorgung. Seit dem November 1984 kehrten in allen Kohlerevieren – außer in Südwales – immer mehr Bergleute gegen den Willen der NUM in die Zechen zurück. Als die Verhandlungen in London endgültig scheiterten, sah sich die Gewerkschaft im März 1985 gezwungen, eine Rückkehr ohne Vereinbarung, den sogenannten organised return to work, zu beschließen. Der Daily Mirror, die Boulevardzeitung der Labour-wählenden Arbeiter, interpretierte dieses Ergebnis als Niederlage für die britische Nation: »No Victory • Margaret Thatcher has not WON • The miners have not WON • The people of Britain have not WON. WHO THE HELL HAS WON?«14 Die konservative Presse scheute sich hingegen nicht, mit Häme die Niederlage der NUM zu feiern: »Surrender • NO agreement on closing pits • NO amnesty for serious crime«15. In einer langfristigen Perspektive war nun der Weg frei für eine massive Umstrukturierung des britischen Steinkohlebergbaus. Beschleunigte Zechenschließungen, die Privatisierung der Gruben Anfang der 1990er Jahre und die befürchtete Verödung der ehemaligen Kohlereviere folgten mit unabwendbarer Konsequenz. Bis heute bildet der Miners’ Strike in den ehemaligen Kohlerevieren einen schmerzhaften Erinnerungsort, der im kollektiven Bewusstsein einerseits fest mit der wirtschaftlichen Hoffnungslosigkeit und der voranschreitenden Entvölkerung dieser Regionen verknüpft ist, andererseits aber auch für heroischen Widerstand gegen eine ungerechte Zentralregierung und »die da oben« (engl. us-and-them) steht. Dieser Opfermythos sorgt in den damals betroffenen Regionen mit dafür, dass der Streik dort nicht als abgeschlossene Geschichte gilt. Rheinhausen ist in Deutschland hingegen, aufgrund des relativ verträglichen Ausgangs des Konflikts und des völlig anderen Selbstbilds als wirtschaftlich 14 O. A., Daily Mirror 5.3.1985 (Titelseite). 15 O. A., Daily Mail 4.3.1985 (Titelseite).

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Aufruhr in der Montanregion

erfolgreiche Industrienation, nicht in gleichem Maße zu einem Erinnerungsort geworden wie der Miners’ Strike in Großbritannien. Dabei wies der Protest dort – gerade in den ersten Tagen und Wochen – eine vergleichbare Intensität und Dramaturgie auf. Bis heute gibt es allerdings nur eine lokale Erinnerungskultur in Duisburg und im gewerkschaftlichen Milieu des Ruhrgebiets. Was ist in Rheinhausen passiert? Wie kam es zum letzten westdeutschen Arbeiteraufstand? Rheinhausen war bis 1974 eine kreisangehörige Stadt im Kreis Moers und ist seitdem ein Stadtteil von Duisburg, der, wie viele Siedlungen im Ruhrgebiet, alleine aufgrund einer Industrieanlage entstanden ist. Das 1893 gegründete Stahlwerk bot im Jahr 1987 noch über 6.000 Menschen, mehrheitlich Männern, Arbeit. Die Jahre vor 1987 waren von tiefen Einschnitten in der Montanindustrie des Ruhrgebiets geprägt. Von der Schließung des Hochofenbetriebs auf der stadtbildprägenden Gutehoffnungshütte in Oberhausen im Jahr 1979 bis zur Schließung der Henrichshütte in Hattingen 1987 eilte die Region von Krise zu Krise. Doch im Sommer 1987 hatten die Gewerkschaft IG Metall und die großen Stahlkonzerne die sogenannte »Frankfurter Vereinbarung« geschlossen. Die meisten Stahlarbeiter verstanden dies als Garantie dafür, dass es nun keine großen Schließungen mehr geben würde. Da verbreitete sich in der Nacht auf den 27. November 1987 ein Gerücht aus gewöhnlich gut informierten Kreisen in der Gewerkschaft: Krupp plane, das Stahlwerk in Rheinhausen vollständig zu schließen und die Produktion mit derjenigen von Mannesmann im Stadtteil Huckingen, auf der rechten Rheinseite, zusammenzulegen. Arbeiter der Nachtschicht und der Frühschicht rückten spontan aus, um die Rheinbrücke von Rheinhausen nach Hochfeld, die spätere »Brücke der Solidarität«, zu blockieren. Die Rheinhausener Proteste explodierten kurz aber heftig. Auf einer Betriebsversammlung am 30. November wurde Vorstandschef Gerhard Cromme mit Eiern und Apfelsinen beworfen als er erklärte, dass er im Interesse des Gesamtkonzerns und des Erhalts von möglichst vielen Arbeitsplätzen am Standort Duisburg das Werk in Rheinhausen schließen müsse. Die Arbeiter verbrannten Cromme-Puppen, auf den Ortseingangsschildern wurde aus »Rheinhausen« – »tothausen«. Wenige Tage später wurde sogar das Denkmal für Friedrich Alfred Krupp in der Werkssiedlung gestürzt. Bald bildete sich ein Bürgerkomittee unter Vorsitz des evangelischen Pfarrers Dieter Kelp, Politiker aller Couleur kamen zu Podiumsdiskussionen nach Rheinhausen und die drohende Werksschließung beschäftigte alle möglichen Gruppierungen von kommunistischen Sekten und katholischen Frauen, über die Industrie- und Handelskammer Niederrhein und den Landesparteitag der CDU NordrheinWestfalen, bis hin zur Bundestagsfraktion der SPD. Im Laufe des Dezembers gelang es der IG Metall zusehends, den anfangs eruptiven Protest in geordnete Bahnen zu lenken. Sogenannte Stahlaktionstage im Dezember und Januar, an denen auch Belegschaften anderer Werke die Arbeit niederlegten, bildeten den Rahmen für einige spektakuläre Einzelaktionen, so stürmten Arbeiter etwa eine geplante Sitzung des Vorstands von Krupp-Stahl in Bochum und eine Abordnung von Rheinhausener Arbeitern drang während

Einleitung: Miners’ Strike und Rheinhausen

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einer Sitzung des Aufsichtsrats des Krupp-Gesamtkonzerns in die Villa Hügel in Essen ein. Ein adventlicher Gottesdienst zum Thema »Brot und Rosen« im Walzwerk der Krupp-Hütte und das sogenannte »AufRuhr-Festival«, bei dem unter anderem Herbert Grönemeyer und die Toten Hosen auftraten, bildeten ein breites und buntes Spektrum des Protests ab, ohne jedoch zu einer Lösung des industriepolitischen Problems beizutragen. Ähnlich wie im Miners’ Strike traten die Verhandlungen zwischen Unternehmen, Betriebsrat und Gewerkschaft auf der Stelle. Bei der Belegschaft der Hütte setzte sich bald die Ansicht durch, dass man sich auch auf die IG Metall nicht mehr vollständig verlassen könne, da diese nicht bereit war, das Maximalziel, die Erhaltung der Hütte in Rheinhausen um fast jeden Preis, mitzutragen. Der Betriebsrat und die Vertrauensleute in Rheinhausen legten zwar ein Gutachten vor, das den Erhalt der Hütte ermöglicht hätte. Allerdings nur um den Preis von Entlassungen und Kapazitätsabbau in Bochum und Siegen. Die Verhandlungen um Rheinhausen wurden zuerst nur zögerlich von der Landesregierung in Düsseldorf begleitet, die sich seit 1980 auf eine absolute Mehrheit der SPD stützen konnte. Ministerpräsident Johannes Rau führte persönliche Gespräche mit den Vorständen der Stahlkonzerne, ließ die Verhandlungen aber ansonsten von seinem Wirtschaftsminister und der Ministerialbürokratie begleiten, ohne direkt einzugreifen. Das änderte sich erst im April 1988, als die Verhandlungen zu scheitern drohten und die Rheinhausener Arbeiter ihre Hütte – nun erklärtermaßen gegen Krupp – besetzt hielten. Erst jetzt griff Rau persönlich ein. Unter seiner Leitung kam es zur sogenannten »Düsseldorfer Vereinbarung«, die später die Grundlage für einen umfangreichen Sozialplan bildete, der auch sogenannte »Ersatzarbeitsplätze« in Rheinhausen vorsah. Allerdings stimmten die Belegschaft von Rheinhausen und damit auch der Betriebsrat diesem Abkommen nicht zu, weil der Erhalt des Werks darin nicht garantiert wurde. Ende der 1980er Jahre und insbesondere nach der Wiedervereinigung stieg die Nachfrage nach Stahl soweit an, dass Krupp im Rheinhausener Werk bis 1993 weiterproduzierte. 1998 begann die Duisburger Hafen AG damit, das Gelände des ehemaligen Hüttenwerks zu einem Umschlaghafen für Container umzubauen. Bei den Zeitgenossen fand der Konflikt in Rheinhausen erhebliche Beachtung und sie schrieben ihm weit über das Ausmaß an tatsächlich Betroffenen hinaus symbolische Bedeutung zu.16 Sogar die FAZ scheute sich nicht vor Überschriften wie »In Duisburg glimmt die Lunte  – in Rheinhausen steht das Pulverfaß«17. In vielen Fällen, etwa bei Saarstahl, auf der Maxhütte in Sulzbach oder bei der Vulkan-Werft in Bremen, waren Regionen objektiv viel härter von industriellem Strukturwandel in der Schwerindustrie betroffen. Doch Rheinhausen wurde 16 Vgl. dazu: Kaspar Maase, Die Kulturen in der Arbeiterbewegung und die Arbeiterbewegung in der Kultur. Ein Versuch am Beispiel Rheinhausen, in: Wolfgang Kaschuba / Gottfried Korff / Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.), Arbeiterkultur seit 1945 – Ende oder Veränderung? Tübingen 1991, S. 102–122. 17 Lothar Bewerunge, FAZ , 2.12.1987.

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nicht nur regional und überregional wahrgenommen, auch die betroffenen Stahlarbeiter selbst wählten von Anfang an Aktionsformen und Ausdrucksmittel, die nicht den Gepflogenheiten des »Strukturwandels« entsprachen: Sie protestierten nicht bloß gegen den Beschluss der Unternehmensleitung, ihr Werk zu schließen, sondern auch gegen die eigene Gewerkschaft, die IG Metall, der sie vorwarfen, sich nicht genug für den Erhalt »ihrer« Hütte in Rheinhausen eingesetzt zu haben. Die Rheinhausener Arbeiter legten ihre Arbeit mehrfach nieder, ohne dass sie sich in Tarifverhandlungen befanden und praktizierten damit einen wilden Streik den sie als »stille Besetzung« bezeichneten. Damit verstießen sie gleichermaßen gegen geltendes Recht wie gegen implizite Regeln der westdeutschen »Konfliktpartnerschaft«18 zwischen Unternehmen und Gewerkschaften. Wurde im Miners’ Strike oder in Rheinhausen also eine »neue Art von Politik« geboren, die weitreichende soziale und politische Bewegungen anstoßen würde?19 Oder handelte es sich um das letzte Aufbäumen von Menschen, die in obsolet gewordenen ›Altindustrien‹ zurückgeblieben waren, weil sie sich nicht rechtzeitig nach anderer Arbeit umgeschaut hatten?20 Die zeitgenössischen Analysten folgten mit solchen Fragen tagesaktuellen Konfliktlinien und etablierten so eine Herangehensweise an die Auseinandersetzungen, die von einer affirmativen oder kritischen Parteinahme gekennzeichnet ist. Für den Miners’ Strike haben sie Erzählungen vorstrukturiert, welche die zeitgenössische Personalisierung und Ideologisierung des Konfliktes als Kampf um die Macht der Bergarbeiter­ gewerkschaft NUM unreflektiert übernehmen. Für Rheinhausen wurde einerseits eine betuliche, regionale Erinnerung an einen Moment gerechter Empörung festgeschrieben und andererseits ein heißer Konflikt im friedlichen Strukturwandel erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt. Im Litera­turbericht ist deshalb zu fragen: Wie lassen sich diese Erzählungen über die Ereignisse historisch einordnen und in welchem Verhältnis stehen sie zu den Konflikten, kurz: Welchem Zweck dienen sie?

18 Walter Müller-Jentsch, Vorwort des Herausgebers, in: Ders. (Hrsg.), Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen, München, Mering 1999, S. 7–13, hier S. 8–10; Ders., Gewerkschaften und soziale Marktwirtschaft seit 1945, Stuttgart 2011, hier S. 193–198. 19 Herbert Mies auf der 12. Tagung des Parteivorstands der DKP am 17./18.6.1988 in Düsseldorf (Auszüge aus dem Referat), in: Harry von Bargen u. a. (Hrsg.), Vom Widerstand zur Reformbewegung? Soziale Bewegungen in Krisenregionen und -branchen, Frankfurt a. M. 1988, S. 139–143; Kim Howells, Stopping Out. The Birth of a New Kind of Politics, in: Huw Beynon (Hrsg.), Digging Deeper. Issues in the Miners’ Strike, London 1985, S. 139–149, hier S. 146. 20 Paul Johnson, The Coal War. Scargill’s leading the miners on a charge as futile as the Light Brigade’s, Daily Mail 7.3.1984; Helmut Uebbing, Das Elend mit dem Stahl, Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.12.1987; Rolf-Dietrich Schwarz, Strukturwandel ins Nichts, Frankfurter Rundschau 8.12.1987.

Literaturbericht

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2. Literaturbericht Eine Forschungsbibliographie zum Miners’ Strike, die in der Winterausgabe 1985 des Journal of Law and Society erschien, enthielt bereits sechs Monate nach den Ereignissen 283 Einträge, von denen die meisten auf Zeitungsartikel in Tageszeitungen und Beiträge in linken politischen Journalen wie New Society, New Statesman oder New Left Review entfielen.21 Die zeitgenössischen Analysen und Interpretationen blieben dabei naturgemäß dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der 1980er Jahre verpflichtet.22 Die Forschung zum Miners’ Strike lässt sich in Anbetracht dieser zeitgenössisch motivierten Interessen in drei Gruppen einteilen: Eine sympathisierende Forschung, die wissenschaftlich zu begründen sucht, warum die Forderungen und das Vorgehen der National Union of Mineworkers im Streik berechtigt gewesen seien, eine Deutungstradition New Labours, welche die Führung der NUM scharf kritisiert und damit die Unterordnung der Gewerkschaften unter den Prärogativ der Parliamentary Labour Party rechtfertigen soll, und schließlich eine sozialwissenschaftlich geprägte, unternehmenshistorische Schule, die den Miners’ Strike vor allem als epochalen Bruch in der Geschichte der industriellen Beziehungen beschreibt.23 Das Erkenntnisinteresse der sympathisierenden Forschung besteht darin, die Folgen des Miners’ Strike für die betroffenen Gewerkschaften, die Arbeiterbewegung und soziale Bewegungen zu bestimmen und so zu konkreten Folgerungen für politische Strategien beizutragen. Der Streik wird deshalb als zielgerichtete, einheitlich motivierte Bewegung gedeutet und sein Scheitern muss in Begriffen von Verrat, Untreue und mangelnder Solidarität erklärt werden: »The patterns of activism demonstrate how only a small minority became active, and how the Area Union failed to recognise the importance of community organisation in the strike«24. Dabei bleibt zumeist unklar, woher der theoretische Anspruch an einen erfolgreichen Streik kommt. Schon früh entwickelten andere Arbeiten dagegen ein Interesse an Differenzen zwischen idealisierten Selbstbeschreibungen der Gewerkschaftsbewegung und dem kontingenten Verlauf der Ereignisse: An unsentimental demythologised reading of the history shows that the NUM has never been the solid militant radical union of legend. The Union has always embraced 21 Andrew Green, Research Bibliography of Published Materials Relating to the Coal Dispute 1984–85, in: Journal of Law and Society 12 (1985), S. 405–414. 22 Zu »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« vergleiche: Reinhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: Ders. (Hrsg.), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 349–375, hier S. 354–359. 23 Arne Hordt, Von Scargill zu Blair? Der britische Bergarbeiterstreik von 1984–85 als Problem einer europäischen Zeitgeschichtsschreibung, Frankfurt a. M. u. a. 2013, hier S. 63–102. 24 Jonathan Winterton / Ruth Winterton, Coal, Crisis and Conflict. The 1984–85 Miners’ Strike in Yorkshire, Manchester, New York 1989, hier S. 108.

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conflicts of economic interests and diverse political views. Its industrial strength has often been limited and its ability to protect its members has fluctuated with market shifts and political changes. The traditional stereotype never existed, so could never collapse as a consequence of 1984.25

Bei aller historischen Tiefenschärfe argumentiert auch der Historiker David Howell hier zeitgenössisch, wenn er dem Mythos NUM ein objektives Bild entgegensetzen will. Die historisierende Einteilung der Forschung in solche Beiträge, die eher Quellencharakter haben, und in solche, die eher als Sekundärliteratur zu betrachten sind, bleibt also selbst relativ und perspektivengebunden. Eine kulturgeschichtliche Rekonstruktion regionaler Konfliktlinien muss dennoch bei Howells Schlussfolgerung ansetzen und sie historisierend umkehren: Inwiefern entstand das »traditional stereotype« erst durch den Streik von 1984 und die überbordenden Sinnzuschreibungen, die vor allem in der sympathisierenden Literatur entwickelt wurden und die für die britische Arbeiterbewegung in den 1980er Jahren eine wichtige Rolle spielten? Die sympathisierende Forschung zum Bergarbeiterstreik deckt ein weites Spektrum von aktivistischer Erinnerungsliteratur26 über theoretisch ausgefeilte Betrachtungen aus eurokommunistischer Perspektive27 bis hin zu reflexionsarmen Verschwörungstheorien ab.28 Alle Beiträge interpretieren den Streik als »Klassenkonflikt«,29 wobei gerade die aktivistisch geprägten Beiträge häufig ein Klassenbewusstsein propagieren, das Gruppen außerhalb der klassischen Industriearbeiterschaft einschließen soll.30 Damit bilden sie eine Entwicklung in der britischen Arbeiterbewegung der 1980er Jahre ab: Die Krise Labours brachte neue, aktivistische und radikal linke Strömungen hervor und sorgte dafür, dass die Zugehörigkeit von ehemals randständigen Gruppen wie Migranten, Homosexuellen oder Frauen zum progressive consensus der Labour Party nach kontroversen Debatten festgeschrieben wurde. Die Autoren der sympathisierenden Forschung trugen aktiv zu diesem Wandel bei, indem sie Elemente der Neuen Sozialen Bewegungen als passförmig zu einer Arbeiterbewegung beschrieben, die vor dem Miners’ Strike und seiner erinnerungspolitischen Aufarbeitung viel 25 David Howell, The Politics of the NUM . A Lancashire View. Manchester, New York 1989, hier S. 218. 26 Huw Beynon (Hrsg.), Digging Deeper. Issues in the Miners’ Strike, London 1985; Raphael Samuel / Barbara Bloomfield / Guy Boanas (Hrsg.), The Enemy Within. Pit Villages and the Miners’ Strike, London 1986. 27 Ralph Darlington, Agitator ›Theory‹ of Strikes Re-evaluated, in: Labor History 47 (2006), S. 485–509; Ders., An Alterfactual. 28 Ken Coates / Tony Topham, Trade Unions and Politics, Oxford 1986; Gero Fischer, United We Stand – Divided We Fall. Der britische Bergarbeiterstreik 1984/85, Frankfurt, New York 1999; Seumas Milne, The Enemy Within. The Secret War against the Miners, London 2004 (1994). 29 Andrew J. R. Richards, Miners on Strike. Class Solidarity and Division in Britain, Oxford / New York 1996. 30 Howells, New Kind of Politics, passim.

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exklusiver und konservativer war, als die Aktivisten es wünschten. Die unpublizierten lokalhistorischen Arbeiten zur Geschichte der Durham Miners während des Bergarbeiterstreiks sind diesem aktivistischen Teil der sympathisierenden Forschung zuzuordnen.31 Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeiten besteht in der Rekonstruktion aktivistischer Narrative vom »Klassenkampf« und deren Unterfütterung mit sozialstatistischen Daten oder historischen Narrativen der britischen Klassengesellschaft. Ein Beispiel dafür ist ein Beitrag von Chris Jones und Tony Novak, zwei Dozenten für Sozialarbeit, in Huw Beynons Band »Digging Deeper«. Jones und Novak deuteten den Widerstand der Bergleute darin als entscheidende Voraussetzung für einen unausweichlichen Wandel der britischen Gesellschaft: »Is it any wonder that the Thatcher Government cannot contemplate defeat in this strike when the possibilities, the visions, the chances that are being suggested throughout its conduct are so rich in promise and inspiration?«32 Dieser Beitrag zeigt insbesondere, dass Aktivisten und linke Akademiker im Nordosten gemeinsam Vorstellungen über den Sinn und die Ziele des Streiks entwickelten, denn der Hauptzeuge für Jones und Novak war Harry Walker, ein Bergarbeiter aus D ­ awdon, der zugleich NUM-Funktionär war und die Dawdon Miners’ ­Support Group leitete. Dialektische Verrenkungen wie diese waren aber nur nötig und möglich, weil der Miners’ Strike ein fundamentales Dilemma der NUM als Gewerkschaft offenbarte: Die Bergarbeiter bewiesen durch den Entzug ihrer Arbeitskraft keinesfalls Stärke, sondern stellten vielmehr ihre eigene Hilfsbedürftigkeit zur Schau. Durch die Streiktaktik der NUM waren die Bergleute auf Hilfeleistungen der britischen Gesellschaft angewiesen, diese benötigte aber längst nicht mehr die Arbeitskraft aller Bergarbeiter, um ihren stetig sinkenden Bedarf an Steinkohle zu decken. Das heißt, die streikenden Kumpel hatten zwar weitreichende Ansprüche an die Solidarität der britischen Gesellschaft, doch stand ihnen weder im Nordosten noch anderswo ein ökonomischer Hebel zur Verfügung, um diesen Anspruch auch durchzusetzen. Botschaften von unbedingter Solidarität oder gar einem unausweichlichen Sieg dürften daher letztlich mit zur Schwere der gewerkschaftlichen Niederlage beigetragen haben. Die verschwörungstheoretischen Arbeiten der sympathisierenden Forschung nehmen den klassischen Topos des Verrats durch reformorientierte Teile der Arbeiterbewegung auf: Die NUM sei durch die »Brudergewerkschaften« und das 31 Michael Atkin, The 1984/85 Miners’ Strike in East Durham. A Study in Contemporary History, Durham 2001, http://etheses.dur.ac.uk/2015/, 3.12.2012; Mary Patricia McIntyre, The Response to the 1984–85 Miners’ Strike in Durham County. Women, the Labour Party and Community, Durham 1992, http://etheses.dur.ac.uk/3462/, 15.5.2014; Jonathan Renouf, A Striking Change. Political Transformation in the Murton Miners’ and Mechanics’ Branches of the National Union of Mineworkers, County Durham, 1978–1988, Durham 1989, http://etheses.dur.ac.uk/6470/, 8.4.2014. 32 Chris Jones / Tony Novak: Welfare against the Workers. Benefits as a Political Weapon, in: Huw Beynon (Hrsg.), Digging Deeper. Issues in the Miners’ Strike, London 1985, S. 87–100, hier S. 100.

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»trade union movement« nicht ausreichend unterstützt worden.33 Einige dieser Arbeiten sehen überdies im Handeln der Polizei während des Streiks eine Verschwörung des britischen Staates, der mit Hilfe des Inlandsgeheimdiensts MI5 und der Medien versucht habe, die Macht der Arbeiterbewegung zu brechen.34 Oft ist es schwierig zu bestimmen, inwiefern dahinter Vermarktungsstrategien einzelner Autoren stecken oder ob es sich um reale Überzeugungen handelt. Wissenschaftlich sind die verschwörungstheoretischen Publikationen höchst unbefriedigend, da sie ausnahmslos die Mühe vermeiden, Solidarität und kollektives Protesthandeln rational nachvollziehbar zu erklären. Sie tragen aber erheblich zur Haltbarkeit der geschichtspolitischen Erzählung vom heroischen Widerstand der Bergarbeiter gegen übermächtige Feinde bei und reflektieren außerdem den Schock der britischen Öffentlichkeit über das Ausmaß von polizeilicher Kontrolle im »peacable kingdom«, den der Miners’ Strike auslöste. Die politisch und publizistisch einflussreichste Deutung des Miners’ Strike stammt von den Reformern innerhalb der Labour Party und des Trades Union Congress, die in den 1980er Jahren als New Realists bekannt waren und seit den 1990er Jahren unter dem Titel New Labour firmieren. Sie ist inhaltlich weniger komplex und divers als die zwei anderen Deutungstraditionen, was – neben dem machtpolitischen Erfolg der Parteireformer um Kinnock, Smith und Blair  – erheblich zu ihrer Durchschlagskraft beigetragen haben dürfte. In dieser Interpretation war der Miners’ Strike von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil die National Union of Mineworkers unter dem Einfluss des charismatischen, aber politisch ungeschickten Vorsitzenden Arthur Scargill schwere strategische und taktische Fehler beging.35 Vor allem die Entscheidung, den Streik ohne landesweite Urabstimmung auszurufen, weckte die Kritik der moderaten Kräfte innerhalb der Labour Party.36 Die taktischen Fehler der radikalen NUM-Führung gelten diesen Autoren als bedauerlich, weil damit endgültig alle Chancen auf gute Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen und damit eine Renaissance der britischen Industrie verspielt wurden.37 Der New R ­ ealism beruhte auf einer historischen Analyse der 1970er Jahre und frühen 1980er Jahre als Phase des Scheiterns der Labour Party am politischen Radikalismus innerhalb der eigenen Reihen. Diese Interpretation der Probleme Labours passte zu der öffentlichen Deutung des Miners’ Strike als ideologischer Konflikt.38

33 Fischer, United We Stand, hier S. 117 f. und 301–307. 34 Milne, The Enemy Within, S. 1–6. 35 Michael Crick, Scargill and the Miners, Harmondsworth u. a. 1985; Geoffrey Goodman: The Miners’ Strike, London 1985. 36 John Lloyd, Understanding the Miners’ Strike (Fabian Tract 504), London 1985, S. 23 f. 37 Martin Adeney / John Lloyd, The Miners’ Strike 1984–5. Loss Without Limit, London 1987; Francis Beckett / David Hencke, Marching to the Fault Line. The Miner’s Strike and the Battle for Industrial Britain, London 2009. 38 Donald MacIntyre / Michael Jones / Peter Wilsher, Strike. A Battle of Ideologies. Thatcher, Scargill and the Miners, London 1985.

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Mit dem Siegeszug von New Labour übernahm die Partei daher zentrale Elemente eines thatcheristischen decline-Narrativs, das die 1970er Jahre als Gipfelpunkt einer »sozialistischen« Entwicklungstendenz in der britischen Politik darstellte. In der klaren Verurteilung der NUM-Führung und der ›militanten‹ Aktivisten des Miners’ Strike spiegeln sich die inneren Konflikte der Labour Party in den 1980er und frühen 1990er Jahren wider. Die New-Labour-Tradition bietet damit Einblick in eine Gegenerzählung zu dem aktivistischen Narrativ vom Verrat der restlichen Arbeiterbewegung an der NUM. Allerdings fehlt in der Deutungstradition New Labours eine nachvollziehbare Erklärung für die reale Solidarität der Bergarbeiter und die Anerkennung der NUM-Führung durch die Gewerkschaftsmitglieder. Schließlich gibt es eine Anzahl von Arbeiten, die eine unternehmenshistorische Schule in der Tradition der industrial relations history bilden. Dieser sozialgeschichtlich geprägte Zweig der Forschung hat unter anderem die einflussreiche magistrale Darstellung der »History of the British Coal Industry« hervorgebracht.39 Diese Reihe wurde vom National Coal Board begründet und ist deshalb von der technik- und unternehmenshistorischen Selbstwahrnehmung des ehemaligen Staatsunternehmens durchdrungen. Vorstellungen von techno­ logischem Fortschritt, rationalen Produktionsmethoden und industriellen Beziehungen als interessengeleitete, sachliche Kooperation bestimmen diese Deutungslinie. Die Autoren der unternehmenshistorischen Schule versuchen zudem, Handlungsmuster und Interaktionsformen im Miners’ Strike mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Modelle zu erklären.40 Der Wert dieser Forschungsrichtung liegt darin, dass sie Deutungen und Methoden anbietet, die es erlauben, der subjektiven Sinndimension der Akteure eine strukturelle Dimension der Interaktionsmuster und institutionellen Rahmenbedingungen gegenüberzustellen. So gelingt es Arbeiten aus dieser Deutungsrichtung, Fälle von mangelnder Solidarität historisch zu erklären, ohne die zeitgenössischen Gefühle der Empörung zu reproduzieren.41 Dieser Ansatz enthält somit eine entscheidende Erkenntnis für eine akteurszentrierte Konfliktgeschichte: Klassenpolitische Deutungen können nicht erklären, warum Gewerkschaftsfunktionäre und Vertreter des lokalen Managements während des Miners’ Strike ähnliche Einstellungen zur Produktivität »ihrer« Zechen äußerten oder die Stahlarbeiter in Rheinhausen ihren Protest hauptsächlich mit der Leistungs-

39 Barry Supple, The History of the British Coal Industry. Volume 4: 1913–1946: The Political Economy of Decline, Oxford 1987; William Ashworth, The History of the British Coal Industry 5: The Nationalized Industry 1946–1982, Oxford 1986. 40 Peter Ackers / Jonathan Payne, Before the Storm. The Experience of Nationalization and the Prospects for Industrial Relations Partnership in the British Coal Industry 1947–1972, in: Social History 27 (2002), S. 184–209. 41 Colin P. Griffin, »Notts. have some very peculiar history«. Understanding the Reaction of the Nottinghamshire Miners to the 1984–85 Strike, in: Historical Studies in Industrial Relations 19 (2005), S. 63–99.

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fähigkeit des Werks begründeten. Einerseits helfen bestimmte Modelle dieser Forschungsrichtung, wie das von Gibbon und Bromley,42 die den Status des National Coal Board als politische Institution ernstnehmen, hier weiter. Andererseits hat die reine Betrachtung der Geschichte industrieller Beziehungen auch Studien hervorgebracht, die genau den sozialgeschichtlichen Determinismus reproduzieren, den es im Folgenden durch die Beachtung der regionalen Akteure zu überwinden gilt.43 Das zeitgenössische Schrifttum zu Rheinhausen ist ebenfalls zu einem großen Teil von aktivistischen Interessen geprägt, die sich in Reportagen aus Sicht der Betroffenen niederschlagen.44 Zeitgenössische Publikationen linker Forschungsinstitute, wie jene des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF) der DKP oder des linksalternativen Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS), die sich mit den Rheinhausener Protesten beschäftigen, gehen dagegen stärker analytisch vor. Die Publikation des IMSF kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie die Betrachtungen des Miners’ Strike aus der Perspektive der New Left: Die Proteste geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus hinsichtlich der Kooperation von Neuen Sozialen Bewegungen mit dem verloren geglaubten Mobilisierungspotenzial der traditionellen Industriearbeiterschaft.45 Der Band des DISS vermittelt hingegen ein eher diffuses Bild regionaler Solidarität und bezieht Position gegen eine »Unterordnung unter notwendige Kapitalentscheidungen«, die der Autor der SPD vorwirft.46 Diese Publikation schließt mit einer Reportage aus Nordostengland ab, in der die Folgen des dortigen Strukturwandels unter dem Schlagwort »Liverpoolisierung« als mögliche Zukunft für Duisburg beschrieben werden.47 Quer zu diesen Publikationen aus dem aktivistischen und linken Spektrum des Protests steht eine zweibändige Veröffentlichung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, in der die Rheinhausener Proteste aus der Perspektive der evangelischen Sozial-

42 Peter Gibbon / Simon Bromley: ›From an Institution to a Business‹? Changes in the British Coal Industry 1985–9, in: Economy & Society 19 (1990), S. 56–94; Gibbon, Analysing the British Miners’ Strike of 1984–5, in: Economy & Society 17 (1988), S. 139–194. 43 Roy A. Church / Quentin Outram / David N. Smith, The Militancy of British Miners, 1893–1986. Interdisciplinary Problems and Perspectives, in: Journal of Interdisciplinary History 22 (1991), S. 49–66; James E. Cronin, The Peculiar Pattern of British Strikes since 1888, in: Journal of British Studies 18 (1979), S. 118–141. 44 Bernd Hendricks, 160 Tage und Nächte in Rheinhausen. Mit einem Vorwort von Dieter Kelp, Helmut Laakmann und Theo Steegmann und einem Nachwort von Max von der Grün, Köln 1988; Werner Balsen / Hans Nakielski / Karl Rössel, Erlebte Geschichte. Montanmitbestimmung in Rheinhausen und anderswo, Köln 1995. 45 Harry von Bargen, Rheinhausen im Aufruhr, in Ders. u. a. (Hrsg.), Vom Widerstand zur Reformbewegung? Soziale Bewegungen in Krisenregionen und -branchen, Frankfurt a. M. 1988, S. 67–96, hier S. 85–94. 46 Theo Syben, Abstich in Rheinhausen. Dokumente, Analysen, Geschichtliches und Geschichten, Duisburg 1988, hier S. 130. 47 Ebd. S. 167–178.

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ethik betrachtet werden.48 Diese Veröffentlichung transportiert – ähnlich wie die Beiträge der linken Forschungsinstitute – eine hohe Identifikation mit den Zielen der Aktivisten des Protests, die zu einem großen Teil dem Umfeld der evangelischen Gemeinden in Rheinhausen entstammten.49 Den Veröffentlichungen aus dem linken und kirchlichen Spektrum stehen der Dokumentationsband des Betriebsrats und ein Sammelband mit Beiträgen von Funktionären der IG Metall und gewerkschaftsnahen Journalisten gegenüber.50 Dieses Buch mit dem Titel »Schmelzpunkte. Stahl: Krise und Widerstand im Revier« wurde von der Journalistin und metall-Redakteurin Waltraud Bierwirth und dem Bevollmächtigten der IG Metall für Hattingen, Otto König, herausgegeben.51 Die Beiträge versuchen, zwischen Positionen der gewerkschaftlichen Aktivisten vor Ort, der Rolle der IG Metall als Branchengewerkschaft im montanmitbestimmten Stahlsektor und linken Reformideen für die Gewerkschaftsbewegung zu vermitteln. Ähnlich wie die zeitgenössisch motivierte Forschung zum Miners’ Strike ist diese Publikation von Fragen nach dem Verlust von Gewerkschaftsmacht gekennzeichnet. Zehn Jahre nach den Protesten gab die Stadt Duisburg einen Erinnerungsband in Auftrag, der nurmehr eine nostalgisch-verklärende Interpretation des Arbeitskampfes als gemeinsschaftsstiftender Erinnerungsort entwickelte.52 Jenseits dieses zeitgenössischen Schrifttums gibt es nur zwei publizierte, wissenschaftliche Arbeiten zu Rheinhausen. Der Kulturwissenschaftler Kaspar Maase beschreibt den Konflikt als ambivalentes Phänomen in einer Phase der allgemeinen Geschichte, in der die Arbeiterbewegung nicht mehr dazu in der Lage ist, aus sich selbst heraus kulturelle Sinnangebote und Handlungsoptionen zu generieren.53 Die Soziologin Ingrid Schumacher zieht hingegen einen reizvoll-schiefen Vergleich mit den Mai-Krawallen der späten 1980er Jahre in Berlin-Kreuzberg. So nähern sich beide Autoren der kulturellen und subjektiven Dimension des Protests an, ohne sie aber historisch mit Strukturen oder Ereignissen zu verknüpfen.54

48 Harry W. Jablonowski (Hrsg.), Betriebsschließungen im Ruhrgebiet. Kirche in Konflikten des Strukturwandels. Analysen und Dokumente, Bochum o. J. (1988); Ders. (Hrsg.), Betriebsschließungen im Ruhrgebiet. Kirche in Konflikten des Strukturwandels. Der Fall Rheinhausen. Chronik und Analysen, Bochum 1991. 49 Vgl. Marlis Kurfeß-Thiesbonenkamp, »Brot und Rosen«. Die Fraueninitiative von Rheinhausen, ebd. S. 56–66. 50 Betriebsrat und IGM-Vertrauenskörperleitung, Jugendvertretung der Krupp Stahl AG , Werk Rheinhausen, IGM Verwaltungsstelle Duisburg (Hrsg.), Rheinhausen muß leben – Erhalt aller Stahlstandorte. Eine Dokumentation der Krupp Stahlarbeiter in Rheinhausen, o. O. o. J. (Duisburg 1988). 51 Waltraud Bierwirth / Otto König (Hrsg.), Schmelzpunkte. Stahl: Krise und Widerstand im Revier, Essen 1988. 52 Waltraud Bierwirth / Manfred Vollmer, AufRuhr Rheinhausen 1987/1997, Essen 1997. 53 Maase, Kultur, S. 106–109. 54 Schumacher, Ingrid. Sozialer Protest. Konfliktkommunikation, kollektive Deutungsmuster und die kulturelle Selbsterzeugung von sozialem Protest – Duisburg-Rheinhausen 1987/88 und Berlin-Kreuzberg 1987. Osnabrück 2001.

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In allgemeinen Darstellungen zur westdeutschen Geschichte der 1980er Jahre kommt Rheinhausen hingegen kaum vor. Wenn doch, so werden die Proteste als Epiphänomen des industriellen Strukturwandels erklärt, ohne dass ihnen ein eigener Sinn zukommt.55 Der deutschsprachigen Zeitgeschichte scheinen methodische Werkzeuge zu fehlen, mit denen fundamentaler sozialer Protest in der relativ friedlichen Wohlstandsgesellschaft der 1980er Jahre beschrieben werden kann.56 Diese Selbstbeschränkung nimmt im Bereich wirtschaftlicher Konflikte einen geradezu unumstößlichen Charakter an. So erzählt die erste monographische Studie der Steinkohlenkrise, Karl Lauschkes »Schwarze Fahnen an der Ruhr«, im Wesentlichen die Geschichte dieses sozialen Konflikts als eine Aneinanderreihung von gewerkschaftlichen Beschlüssen,57 ohne die politischen oder gesellschaftlichen Bedingungen und Praktiken des Protests zu reflektieren. Diese Blindstelle der zeitgeschichtlichen Erforschung von Streiks in ihrem sozialen Zusammenhang ist einerseits der Fixierung der DGB -Gewerkschaften auf das Tarifwesen geschuldet.58 Man könnte im Hinblick auf die deutsche Gewerkschaftskultur von einem regelrechten »Tarifismus« als Leitideologie sprechen, der erst langsam aufbricht, weil die Mechanismen des Flächentarifvertrags zusehends versagen und damit wieder umfassendere Ordnungsfragen in den Vordergrund rücken. Andererseits ist die Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Konflikten und Streiks im rechtlich überformten deutschen Tarifsystem – bei aller Mühe  – häufig nur schwer in sozialen Daten oder historischen Quellen aufzufinden.59 Die Forschung zum Miners’ Strike und zu den Rheinhausener Protesten weist mithin bemerkenswerte Gemeinsamkeiten auf: Beide Ereignisse haben mehrheitlich männliche Wissenschaftler und Publizisten beschäftigt, die sich politisch links verorten lassen. Die verschiedenen Deutungen konvergieren darin, dass sie zeitgenössische Narrative reproduzieren und ihnen dadurch Evidenz verleihen. Sie schildern die Konflikte nämlich als Kämpfe um Gewerkschafts-

55 Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, hier S. 968–978; Gerhard Brunn / Jürgen Reulecke, Kleine Geschichte von Nordrhein-Westfalen 1946–1996, Köln u. a. 1996, hier S. 197–205. 56 Vgl. Klaus Weinhauer, Konflikte am Arbeitsplatz und im Quartier. Perspektiven einer sozialgeschichtlichen Erforschung von Arbeitskämpfen und Konsumentenprotesten im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 337–356; Manfred Gailus, Was macht eigentlich die historische Protestforschung? Rückblicke, Resümee, Perspektiven, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 34 (2005), S. 127–154. 57 Karl Lauschke, Schwarze Fahnen an der Ruhr. Die Politik der IG Bergbau und Energie während der Kohlenkrise 1958–1968, Marburg 1984. Lauschke bezog sich damit auf den Zeitungsartikel von Michael Jungblut, Schwarze Fahnen an der Ruhr, DIE ZEIT 26.2.1966. 58 Vgl. Reinhard Bispinck (Hrsg.), Zukunft der Tarifautonomie. 60 Jahre Tarifvertragsgesetz. Bilanz und Ausblick, Hamburg 2010. 59 Eine Problemskizze bei: Heiner Dribbusch, 60 Jahre Arbeitskampf in der Bundesrepublik Ein Überblick, ebd., S. 145–168.

Zur Methode: Ereignis und Struktur im interregionalen Vergleich

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macht angesichts eines wirtschaftlichen und politischen Strukturwandels.60 Die vorhandene Literatur zu den beiden Ereignissen bildet damit zwar weiterhin einen validen Ausgangspunkt für die empirische Erforschung der Konflikte, dennoch ist nicht zu übersehen, dass diese Beiträge vor allem zeitgenössische Selbstbeschreibungen sind und daher als Quellen verstanden werden müssen. Dies macht weitere methodische Überlegungen zum Konzept der bedrohten Ordnungen und zum begrifflichen Vorschlag »Aufruhr in der Montanregion« nötig. Insbesondere ist zu überlegen, wie sich mit dem begrifflichen Apparat der bedrohten Ordnungen und des Aufruhrs in der Montanregion eine stärker historisch orientierte Perspektive für eine Kulturgeschichte regionaler industrieller Konflikte gewinnen lässt.

3. Zur Methode: Ereignis und Struktur im interregionalen Vergleich In der Forschungsperspektive bedrohte Ordnungen werden Konflikte aus dem Blickwinkel kurzfristiger Ereignisse betrachtet. Handlungsoptionen und Verhaltenserwartungen von Akteuren werden in Momenten untersucht, in denen sie unsicher werden: »Ordnungen verändern sich im Moment der Bedrohung.«61 Der Begriff »Aufruhr« hebt für eine vergleichende, politische Kulturgeschichte des Miners’ Strike und der Rheinhausener Proteste drei Aspekte hervor. Einmal lenkt er die Aufmerksamkeit auf den sozialmoralisch motivierten Legitimitätskonflikt als Grundmotiv im Handeln der Akteure und zweitens privilegiert er einzelne, zeitlich hochgradig verdichtete Gewaltereignisse als Kern des historischen Geschehens. Der Begriff soll nicht dazu dienen, andere Begriffe wie »Strukturwandel« oder »Deindustrialisierung« zu ersetzen, sondern den Blick auf diese Prozesse durch eine Betrachtung der Akteursebene zu ergänzen. Für eine Kulturgeschichte des Politischen ist »Aufruhr« in besonderer Weise dazu geeignet, die Relativität von Positionen in Konflikten herauszustellen, denn der Begriff bezeichnet einen Kommunikationsprozess, in dem Konfliktparteien sich gegenseitig die Legitimität ihrer Positionen absprechen:62 Die Bergarbeiter empfanden die Schließungspläne des National Coal Board als Unrecht, während Arbeitgeber und Staat versuchten, den Protest gegen die Schließungen als illegitim darzustellen. Die Empörung der Rheinhausener Stahlarbeiter richtete 60 Vgl. auch die Darstellung der Geographen Kai-William Boldt / Martina Gelhar, Das Ruhrgebiet. Landschaft, Industrie, Kultur, Darmstadt 2008, hier S. 64–70. 61 Ewald Frie / Mischa Meier, Bedrohte Ordnungen. Gesellschaften unter Stress im Vergleich, in: Dies. (Hrsg.), Aufruhr-Katastrophe-Konkurrenz-Zerfall, Tübingen 2014, S. 2–27, hier S. 5. 62 Hordt u. a., Aufruhr.

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Aufruhr in der Montanregion

sich sogar gegen die Funktionäre der eigenen Gewerkschaft; hier wurde der Konflikt jedoch erfolgreich entschärft, indem diese Reaktion von Medien und Politik als legitim dargestellt wurde. Der Begriff »Aufruhr« bietet darüber hinaus den Vorteil, dass er als Bezeichnung, die normalerweise für vormoderne Konflikte benutzt wird,63 quer zu den modernisierungstheoretischen Richtungsbegriffen »Niedergang« (decline) und »Strukturwandel« (industrial redevelopment) steht, die den zeitgenössischen Diskurs prägten.64 Er eignet sich daher besonders gut dazu, die Alterität der 1980er Jahre als vergangene Epoche zu betonen und so zu einer »Problemgeschichte der Gegenwart«65 beizutragen. Aufruhr bezeichnet typologisch »Fundamentalkonflikte«, die institutionelle Mechanismen der Konfliktregelung überfordern, weil sie mehr als eine politische Regelungsebene betreffen und deshalb schlecht begrenzt werden können. In der Konfliktsoziologie bilden Routine- und Fundamentalkonflikte in vier unterschiedlichen Dimensionen die Enden eines idealtypischen Kontinuums von 1. einem regulierten Mehr-oder-Weniger zu einem unregulierten EntwederOder (Regulierungsdimension), 2. von einem Interessenkonflikt zu einem Anerkennungskonflikt (Anerkennungsdimension), 3. von einer passiven zu einer aktiven Öffentlichkeit (Öffentlichkeitsdimension) und 4. von prozeduralen zu substantiellen Frames (Framedimension).66 Aus historischer Sicht muss dem eine zeitliche »Verlaufsdimension« hinzugefügt werden und im Sinne der Kulturgeschichte des Politischen ist davon auszugehen, dass die Deutungsmuster, also die Framedimension, und der zeitliche Ablauf von Konflikten, also die Verlaufsdimension, die anderen drei Dimensionen steuern. Denn Regulierung, Anerkennung und Öffentlichkeit hängen von Deutungsmustern ab, die sich mit dem Verlauf von Zeit verändern. Durch diese soziologisch geprägte Sicht auf historische Konflikte ergeben sich bestimmte Abgrenzungen und Überschneidungen für die regional vergleichende Geschichte der beiden Arbeitskonflikte Miners’ Strike und Rheinhausen. Zudem ist methodisch näher zu bestimmen, weshalb in diesen

63 Reinhart Koselleck, Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 5, S. 653–788, hier S. 690–712 und S. 780–782. Koselleck vertritt hier die These, dass mit dem Verlauf der Neuzeit zunehmend nur noch der Begriff »Revolution« relevant gewesen sei. 64 Vgl. Rüdiger Graf / Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), S. 479–508, hier S. 495–504; Lutz Raphael, Jenseits von Strukturwandel oder Ereignis? Neuere Sichtweisen und Schwierigkeiten der Historiker im Umgang mit Wandel und Innovation, in: Historische Anthropologie 17 (2009), S. 110–120. 65 Hans-Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 98–127, hier S. 105 ff. 66 Kurt Imhof, Öffentliche Konflikte vor und nach dem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Klaus Arnold u. a. (Hrsg.), Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeiten und Politik im 20. Jahrhundert. Leipzig 2010, S. 363–396, hier S. 368–371.

Zur Methode: Ereignis und Struktur im interregionalen Vergleich

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beiden Fällen aus vermeintlichen Routinekonflikten in der historischen Realität Fundamentalkonflikte entstanden. Die klassische Geschichte der Arbeiterbewegung geht bei der Erklärung von Streiks davon aus, dass die objektiven wirtschaftlichen Strukturen so viel ökonomischen Druck erzeugen, dass es an einem bestimmten Punkt zu einem offenen Konflikt kommen muss. Doch bereits seit einigen Jahren ist diese Sichtweise auf Arbeitskonflikte und das Verhältnis von Struktur und Ereignis, das ihr zugrundeliegt, unhaltbar geworden, denn ein direkter Zusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und Klassenbewusstsein  – Grundannahme der älteren sozialgeschichtlichen Arbeiterbewegungsforschung – lässt sich empirisch nicht nachweisen.67 Dietmar Süß fordert deshalb eine Erneuerung der Arbeiterbewegungsgeschichte zu einer »Arbeitnehmergeschichte als Gesellschaftsgeschichte«.68 Diese Erneuerung ist seitdem in Angriff genommen, aber noch nicht geleistet worden, so warten die Forschungsberichte zur Geschichte der Arbeit von Jörg Neuheiser und Kim Priemel, die während der Entstehung dieses Buches erschienen sind, z. B. mit Zweifeln an den vorhandenen Erklärungsmustern auf, ohne selbst schon eigene zu bieten.69 Ein Ausweg scheint sich mittlerweile mit dem Ansatz der historischen Praxeo­ logie abzuzeichnen. Dieser Ansatz, der keineswegs auf die Erforschung von Themen der alten oder erneuerten Arbeitergeschichte beschränkt ist, weist zumindest Wege dazu auf, wie man in der Geschichtswissenschaft mit der neuen Unübersichtlichkeit der jüngsten Vergangenheit umgehen könnte, ohne dabei die Einheit der Neueren und Neuesten Geschichte aufzugeben. Thomas Welskopp hat für eine Neufassung einer allgemeinen Geschichte der Industriegesellschaft nach dem »Ende der großen Erzählungen« mit den Mitteln der Giddensschen Strukturationstheorie Überlegungen zum Zusammenhang von Struktur und Ereignis verfolgt, die für die anstehende Untersuchung fruchtbare Anknüpfungspunkte bieten: »Gerade weil soziale Systeme aus handlungsfähigen Akteuren bestehen, sind sie immer auch sozial konstruierte Ordnungen einer interpretierten Wirklichkeit.«70 Die Arbeit sieht im Aufruhr in den Montanregionen im Sinne dieser handlungsorientierten »Praxisgeschichte« einen Moment bedrohter 67 Dietmar Süß, A scheene Leich? Stand und Perspektiven der westdeutschen Arbeitergeschichte nach 1945, in: Mitteilungsblatt des Instiuts für soziale Bewegungen 34 (2005), S. 51–76, hier S. 57. 68 Ebd. S. 67. 69 Jörg Neuheiser, Arbeit zwischen Entgrenzung und Konsum, NPL 58 (2013), S. 421–448, hier S. 447; Kim Christian Priemel, The Ways of Labour History, in: H-Soz-u-Kult 23.1.2014, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2014-01-001, 23.1.2014. 70 Thomas Welskopp, Die Dualität von Struktur und Handeln. Anthony Giddens’ Strukturierungstheorie als »praxeologischer« Ansatz in der Geschichtswissenschaft, in: Ders. (Hrsg.), Unternehmen Praxisgeschichte. Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft, Tübingen 2014, S. 55–76, hier S. 61, an anderem Ort bereits 2001 erschienen; vgl. dazu: Anthony Giddens, The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Cambridge / Oxford 1984, hier S. 25–28.

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Aufruhr in der Montanregion

Ordnung, in dem sich Strukturen in einem Ereignis verdichten und so Wandel hervorbringen. Der Fluchtpunkt einer solchen Analyse muss, wenn sie sich als Beitrag zu einer kritischen Geschichtswissenschaft versteht, in der Verknüpfung von sozialen Handlungen mit handlungsleitenden Ideen politischer und sozialer Legitimität liegen.71 Der Begriff Aufruhr dient als Zugang zur Frage danach, welche Art von Wandel bedrohlich genug erscheint, um einen zeitlich begrenzten Bruch von Strukturen in der Form eines Fundamentalkonflikts auszulösen. Soziale oder politische Gegensätze können sich nur zu Fundamentalkonflikten entwickeln, wenn deren Gegenstand von Akteuren in einen Bezug zur Legitimität der jeweiligen sozialen Ordnung gebracht wird. Im Sinne der hier vorliegenden Untersuchung kleinräumiger und kurzfristiger Unruhen machte bereits E. P. Thompson als Vertreter einer der New Left nahestehenden älteren Sozialgeschichte die moral economy, das lebensweltliche Ungerechtigkeitsempfinden subalterner Schichten, als entscheidenden Auslöser von Aufruhr (riots) im späten 18. und frühen 19. Jahr­hundert aus.72 Jim Phillips hat Thompsons Begriff in seiner regionalgeschichtlichen Untersuchung des Miners’ Strike in Schottland mit einer dichten Beschreibung der Arbeitsbeziehungen und Lebenswelten in den schottischen Bergbaugebieten verknüpft.73 In einer bemerkenswerten Arbeit über den Miners’ Lockout von 1926 in der Grafschaft Durham hat Hester Barron, ohne den Begriff der moral economy zu nennen, die widersprüchlichen allgemeinpolitischen und lebensweltlichen Faktoren von community herausgearbeitet, die in den 1920er Jahren den Verlauf des landesweiten Konflikts im Nordosten bestimmten.74 Selbst in dieser scheinbaren Hochzeit objektiver Klassengegensätze entschieden institutionell vermittelte Deutungsmuster und lebensweltlich bestimmte Wahrnehmungen über Streikbereitschaft oder deren Ausbleiben.75 In Anlehnung an Thompson geht auch die neuere Konfliktsoziologie davon aus, dass objektive soziale Ungleichheit nur dann soziale Handlungen hervorbringt, wenn sie von Akteuren als subjektive Ungerechtigkeit wahrgenommen wird.76 Sie greift dafür Axel Honneths Begriff der Anerkennung auf, der eine empirisch bestimmbare Moralität definiert: Alltagswissen in Form von zu Erwartungen geronnenen Erfahrungen bildet den Maßstab für Ungerechtigkeitserfahrungen.77 Als ungerecht 71 Vgl. Gabriele Metzler, Zu neuen Ufern? Die Zeitgeschichtsschreibung zur Bundesrepublik im Jubiläumsjahr 2009, in: NPL 57 (2008), S. 233–252, hier S. 247 ff. 72 Edward P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Past & Present 50 (1971), S. 76–136. 73 Phillips, Collieries. 74 Hester Barron, The 1926 Miners’ Lockout. Meanings of Community in the Durham Coalfield, Oxford u. a. 2010. 75 Ebd., S. 23, 58–65, 75–77. 76 Sylvia Terpe, Ungerechtigkeit und Duldung. Die Bedeutung sozialer Ungleichheit und das Ausbleiben von Protest. Konstanz 2009, S. 43 ff. 77 Axel Honneth, Moralbewußtsein und soziale Klassenherrschaft. Einige Schwierigkeiten in der Analyse normativer Handlungspotentiale, in: Ders. (Hrsg.), Das Andere der Ge-

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wird empfunden, was nicht den sicher geglaubten Erwartungen entspricht. Was als legitim oder illegitim erachtet wird, gehorcht einer »moralischen Logik«.78 Legitimitätsglaube ist damit nicht nur für die Aufrechterhaltung jeder politischen Herrschaft und sozialen Ordnung entscheidend,79 sondern bleibt gleichermaßen an spezifische, lebensweltlich vermittelte Ordnungen zurückgebunden.80 Damit gerät für den interregionalen Vergleich zwischen dem Miners’ Strike und Rheinhausen die sozialräumliche Ordnung Montanregion in den Blick. Montanregionen sind monostrukturell von Bergbau und Metallverarbeitung dominierte Industriegebiete. Sie zeichnen sich, wie im Ruhrgebiet und im Nordosten Englands, durch eine geringe industrielle Diversifizierung aus, die sich in einer erhöhten Konjunkturabhängigkeit und damit auch in einem höheren Konfliktpotential zwischen Arbeitern und Unternehmern niederschlägt.81 Die Forschungsperspektive »Aufruhr in der Montanregion« setzt diesen historischen Raumtyp in eine Beziehung zu kurzfristigen und kleinräumigen Konflikten. Region soll hier, in Anlehnung an Martina Löw,82 vor allem als kulturell geprägtes Bewusstsein für und Kommunikation über Regionalität verstanden werden. Als geschichtswissenschaftlicher Begriff bedeutet Region, Martina Steber zufolge, eine relationale Kategorie sozialer Beziehungen und politischer Herrschaft.83 Löw selbst weist darauf hin, dass »Räumen sowohl eine Ordungsdimension, die auf gesellschaftliche Strukturen verweist, als auch eine Handlungsdimension, das heißt der Prozess des Anordnens, innewohnt«.84 Damit spiegelt Raum als Analysekategorie für soziale Prozesse genau die Dualität von Struktur und Handeln wider, die jede soziale Ordnung kennzeichnet,85 und die auch Welskopp bei Giddens für sein »Unternehmen Praxisgeschichte« entlehnt hat.

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rechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 2000, S. 110–129, hier S. 113–118. Ders., Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 72012 (1994), S. 256–273. Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: Edith Hanke (Hrsg.), Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 4: Herrschaft, Tübingen 2005, S. 726–742, hier S. 726. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992, hier S. 563–570. Detlef Briesen, Historische Ausprägung und historischer Wandel von regionaler Identität in ausgewählten Montanregionen. Einleitung zu einem Abschlußbericht, in: Ders. / Rüdiger Gans / Armin Flender (Hrsg.), Regionalbewußtsein in Montanregionen im 19. und 20. Jahrhundert. Saarland – Siegerland – Ruhrgebiet, Bochum 1994, S. 7–47. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001. Martina Steber, Region, Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) Mainz, http://www.ieg-ego.eu/steberm-2012-de, 20.08.2014; Dies., Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben von Kaiserreich bis zum NS -Regime, Göttingen 2010. Löw, Raumsoziologie, S. 131. Ebd. S. 171 f.

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Aufruhr in der Montanregion

Diese enge Verknüpfung zwischen Raumbildung und sozialer Ordnung zeigt sich auch darin, dass Montanregionen im 20. Jahrhundert in vielen europäischen Ländern mit besonderer Härte von gesamtgesellschaftlichen Krisen getroffen wurden, häufig aber auch besondere Beiträge zu politischem und sozialem Wandel leisteten.86 In Polen etwa trug der Protest in den schwerindustriellen Produktionszentren in Oberschlesien und an der Ostseeküste in den 1980er Jahren erheblich zur friedlichen Revolution des Ostblocks bei.87 Für das nordspanische Asturien lässt sich eine besondere Dynamik beschleunigten sozialen Wandels in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und während der transición zwischen FrancoDiktatur und Demokratie beobachten.88 Auch in Nord- und Ostfrankreich spielte regionale Identität eine nicht zu unterschätzende Rolle in sozialen Konflikten in der Zeit »nach dem Boom«, etwa bei Protesten gegen einzelne Betriebsschließungen oder der Schaffung einer lokalen Erinnerungskultur.89 Ähnlich wie im Nordosten und im Ruhrgebiet fiel industrieller und sozialer Wandel in diesen Regionen, besonders in Folge sozialer Konflikte, immer wieder mit Veränderungen des Regionalbewusstseins zusammen. Während für einige dieser ehemaligen Montanregionen ein Verschwinden regionaler Besonderheiten auf der Ebene der Industriestruktur und parteipolitischen Präferenzen konstatiert werden kann,90 definierten sich andere Regionen nun durch ihr industriekulturelles Erbe.91 Auch die Regionen Nordostengland und Ruhrgebiet unterlagen solchen Prozessen und bieten sich gerade deshalb für einen Vergleich an, weil sie jeweils in besonderer Weise mit der Geschichte Großbritanniens und Deutschlands als moderne Industrienationen verbunden sind und einen besonderen Platz im kulturellen Gedächtnis ihrer Nationen beanspruchen. »The North East« bezeichnet 86 Stefan Berger, Introduction, in: Ders. / Andy Croll / Norman LaPorte (Hrsg.), Towards a Comparative History of Coalfield Societies, Aldershot, Burlington 2005, S. 1–11, hier S. 2 f.; René Leboutte, Vie et Mort des Bassins Industriels en Europe 1750–2000, Paris 1997, S. 29–31. 87 Paulina Codogni, Okrągły stół czyli Polski Rubikon, Warschau 2009. 88 Rubén Vega Garcia, Crisis industrial y conflicto social. Gijón 1975–1995, Gijón 1998. 89 Ingrid Hayes, Radio Lorraine Coeur d’Acier, Longwy-France, 1979–1980. Reacting to the Threat of Unemployment, in: Matthias Reiss / Matthew Perry (Hrsg.), Unemployment and Protest. New Perspectives on Two Centuries of Contention, Oxford 2011, S. 323–342; Pierre Jourdain / Jacques Cottin, Tréfiméteaux à Couëron. Chronique d’une fermeture annoncée 1985–1988, in: Laurent Jalabert / Christophe Patillon (Hrsg.), Mouvements ouvriers et crise industrielle dans les regions de l’Ouest atlantique des années 1960 à nos jour, Rennes 2010, S. 119–131. 90 Jean-François Eck, Die Entwicklung der Mentalitäten im nordfranzösischen Montan­ revier während des 20. Jahrhunderts, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 39 (2008), S. 67–75. 91 Stefan Berger, Von »Landschaften des Geistes« zu »Geisterlandschaften«. Identitätsbildungen und der Umgang mit dem industriekulturellen Erbe im südwalisischen Kohlerevier, ebd., S. 49–65; Holm-Detlev Köhler, Industriekultur und Raumbewusstsein in Asturien / Spanien, ebd., S. 77–96; Vgl. auch: Tobias Gerstung, Stapellauf für ein neues Zeitalter. Die Industriemetropole Glasgow im revolutionären Wandel nach dem Boom (1960–2000), Göttingen 2016.

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in jüngerer Zeit die zwei Grafschaften Durham und Northumberland, die Subregion Teesside, den nördlichsten Teil der Grafschaft Yorkshire und die Metropolregion Tyne and Wear mit dem Zentrum Newcastle upon Tyne.92 Die Region steht bereits seit dem 18. Jahrhundert in ganz Großbritannien symbolisch für den Abbau von Steinkohle;93 dem deutschen Sprichwort »Eulen nach Athen tragen« entspricht im Englischen der Ausdruck »carrying coals to Newcastle«. Wie alle europäischen Montanregionen blieb der Nordosten Englands von einer peripheren Lage zu politischen und wirtschaftlichen Machtzentren, einer unvollständigen Urbanisierung und männlicher Industriearbeit gekennzeichnet.94 Ähnlich wie das Ruhrgebiet von den 1920er bis in die frühen 1960er Jahre als Region nationaler, deutscher Arbeit definiert wurde,95 galt Durham, das oft stellvertretend für den ganzen Nordosten steht, vielen Beobachtern als besonders britische bzw. englische Region.96 Der hier angestrebte Vergleich eröffnet daher Möglichkeiten zur kritischen Gegenüberstellung von nationalen und regionalen Deutungsmustern, Erfahrungsbeständen und Handlungsverläufen, ohne die prinzipielle Ungleichgewichtigkeit des Miners’ Strike und der Rheinhausener Proteste zu ignorieren. Das Ziel des Vergleichs liegt nämlich nicht in der Gleichsetzung verschiedener Ereignisse und Strukturen, sondern im methodischen Reiz der gesteigerten Differenzierungsmöglichkeiten, die sich aus ihm ergeben,97 und die angesichts der etablierten 92 A. W. Purdue, The History of the North East, The History of the North-East in the Modern Period. Themes, Concerns and Debates since the 1960s, in: Northern History 52 (2005), S. 107–117, hier S. 107–110; Adrian Green / A. J. Pollard, Conclusion. Finding North-East England, in: Dies. (Hrsg.), Regional Identities in North East England, 1300–2000, Woodbridge 2007, S. 209–225, hier S. 221–223. 93 Vgl. Joyce Ellis, The ›Black Indies‹. Economic Development of Newcastle, c. 1700–1840, in: Robert Colls / Bill Lancaster (Hrsg.), Newcastle upon Tyne. A Modern History, Chichester 2001, S. 1–26, passim. 94 Klaus Tenfelde, Raumbildung als ökonomischer, sozialer und mentaler Prozess, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 39 (2008), S. 5–20, hier S. 9–11. 95 Karl Ditt, Die Entwicklung des Raumbewusstseins in Rheinland und Westfalen, im Ruhrgebiet und in Nordrhein-Westfalen während des 19. und 20. Jahrhunderts. Charakteristika und Konkurrenzen, in: Ders. / Klaus Tenfelde (Hrsg.), Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen. Koexistenz und Konkurrenz des Raumbewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2007, S. 405–473, hier S. 443–451; Vgl. zu »nationaler Arbeit«: Werner Conze, Arbeit, in: Ders. / Otto Brunner / Reinhart Koselleck (Hrsg), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154–215, hier S. 208–211. 96 Bill Lancaster, England’s Most Distinctive Region?, in: Ders. / D. Newton (Hrsg.), An Agenda for Regional History, Newcastle 2007, S. 23–41, hier S, 28–30 und 37 f.; Natasha Vall, Cultural Region North East England 1945–2000, Manchester, New York 2011, S. ­50–63. 97 Vgl. Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka, Historischer Vergleich. Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt, New York 1996, S. 9–39, hier S. 14, 24–26, 34 f.

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Aufruhr in der Montanregion

Geschichtsbilder vom industriellen Strukturwandel und der beiden Konflikte dringend geboten erscheinen. Allerdings sollen weder der Beschreibungsbegriff Aufruhr noch die Kategorie Montanregion neue Meistererzählungen begründen. Beides sind relationale Kategorien, die dazu dienen, empirisch fassbare Sinngehalte und Handlungsweisen von historischen Akteuren zu beschreiben, die zwischen individuellem Erleben, Erfahrung im sozialen Nahbereich und übergreifenden nationalen und supranationalen Diskursen einzuordnen sind. Zudem stellen weder »bedrohte Ordnungen« noch »Aufruhr« Wertentscheidungen zugunsten des Bestehenden dar. Die Begriffe sollen vielmehr die Dynamik von Konflikten hervorheben, in denen Akteure für die Erhaltung des Bestehenden kämpfen und damit – gegen ihre eigenen Intentionen – letztlich zu Veränderungen beitragen. Diese andere Sicht auf nur scheinbar bedeutungslose Konflikte trägt letztlich zu einer notwendigen Ergänzung des gängigen Bildes von »Strukturwandel« als einer nicht-gestaltbaren und somit unausweichlichen Entwicklung bei. Damit eröffnet die Arbeit auch eine Perspektive, um die in manchen Zeitdiagnosen der 2010er-Jahre durchscheinende, angebliche Alternativlosigkeit der Gegenwart in Frage zu stellen. Der konkrete empirische Gegenstand, an dem diese Sicht entwickelt wird, ist das Handeln der Akteure im Protest, genauer das scheinbar spontane, situative, gewaltförmige Handeln an Zechen- und Werkstoren. Die Gewalt von Arbeitern und Polizisten im Miners’ Strike ist bis heute ein historiographisch ›vermintes‹ Gelände. Dafür gibt es gute Gründe, denn das Beklagen von Gewalt, die von Bergarbeitern ausging, stellte einen cantus firmus der Antistreikpropaganda dar,98 während das Reden über police violence für die streikenden NUM-Mitglieder und ihre Unterstützer eine mobilisierende Wirkung besaß.99 Es kam während des Miners’ Strike tatsächlich zu Gewaltausbrüchen, aber bei weitem nicht in dem Maße und nicht primär aus den politisch-ideologischen Gründen, die der zeitgenössische Diskurs suggeriert.100 Üblicherweise reflektiert die Literatur zum Miners’ Strike weder die strategische Funktion von Gewaltdiskursen, noch die Beziehungen von Gewaltpraktiken zu sozialer Ordnung. Manche Studien zum Miners’ Strike sehen in Gewalt bis heute eine irrelevante Kategorie, die in einer historischen Analyse des Streiks nicht vorkommen sollte, weil sie von den ›echten‹ industriepolitischen Fragen ablenke.101 Auch in Rheinhausen galt gewaltförmiges Handeln bereits in der zeitgenössischen Perspektive der Gewerkschaftsseite bloß als spontaner, unüberlegter Ausdruck von Empörung, der in rationale Bahnen gelenkt werden musste. Doch die Untersuchung der gewalttätigen Ausschreitungen

98 Raphael Samuel, Introduction, in: Ders. / Barbara Bloomfield / Guy Boanas, The Enemy Within. Pit Villages and the Miners’ Strike of 1984–5, London 1986, S. 1–39, hier S. 3–6. 99 R. Geary, Policing, S. 1 f. 100 Vgl. Keith Jeffery / Peter Hennessy, States of Emergency. British Governments and Strikebreaking since 1919, London u. a. 1983. 101 Insbesondere Phillips, Collieries, S. 2 f.

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im Miners’ Strike und in Rheinhausen lohnt sich, wenn man Gewalt als Teil einer historischen Konfliktpraxis – in Abhängigkeit von zeitgenössischen Deutungsschemata und habituell verankerten sozialen Handlungsroutinen – erklärt.102 Ein derart wertneutraler Blick auf Gewalt ergibt sich aus der Gewaltsoziologie der letzten dreißig Jahre, mit denen sich diese Subdisziplin der Sozialwissenschaften von einem ethisch-normativen Projekt zu einer empirischen Soziologie der Logik von Gewalt als Handlungsform entwickelt hat.103 Entscheidende Beiträge zu diesem Wandel haben die Polizeisoziologie und Polizeigeschichte geliefert. So haben die Polizeisoziologen David P. Waddington und Chas Critcher z. B. aus der Beschäftigung mit dem Bergarbeiterstreik heraus das sogenannte flashpoints model of disorder entwickelt.104 P. A. J. Waddington (nicht mit David P. Waddington verwandt) hat dagegen versucht, den von den zeitgenössischen Kritikern der Polizeieinsätze vorgebrachten Vorwurf des paramilitary policing in ein normatives Leitmodell für gute Polizeiarbeit umzudeuten.105 Beide Modelle kontrastieren eskalierende und deeskalierende Interaktionsformen zwischen der Polizei und den von ihr kontrollierten Menschen bzw. Menschenmengen.106 Zum Beispiel können Critcher und David P. Waddington zeigen, wie einfachste räumliche Faktoren, z. B. das Vorhandensein von breiten Zugängen zu einem öffentlichen Demonstrationsplatz, die Auswahl von Ordnern durch die Veranstalter einer Kundgebung und ständiger Kontakt zwischen der Veranstaltungsleitung und der Einsatzleitung der Polizei, gewalttätige Eskalationen normalerweise verhindern. Die genaue Untersuchung der Gewalt im Nordosten wird darüberhinaus deutlich machen, dass eine Analyse von historischen Konflikten auf eine dichte Beschreibung aus Quellen heraus angewiesen bleibt. Bei dem Aufruhr im Zechendorf Easington am 24. August 1984 wurde die regionale Öffentlichkeit z. B. nicht durch bewusste, programmatisch begründete T ­ eilnahmeentscheidungen in den Konflikt einbezogen, sondern durch historisch überkommene Diskurs­figuren von einer friedlichen Region und einer zentralen Stellung des Steinkohlebergbaus für die regionale Identität. Ein gewichtiger Teil der Öffentlichkeit war nicht einmal medial-vermittelt am Geschehen beteiligt, sondern durch face-to-face102 Koller, Streikkultur, S. 26–29. 103 Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37 (1997), S. 9–56, hier S. 10–16; Vgl. neuerdings: Wolfgang Knöbl, Perspektiven der Gewaltforschung, in: Mittelweg 36, 26 (2017), S. 4–27. 104 David Waddington / Maggie Wykes / Chas Critcher, Split at the Seams? Community, continuity and change after the 1984–85 Coal Dispute, Milton Keynes, Philadelphia 1991; David Waddington / Chas Critcher, Policing Pit Closures, 1984–1992, in: Richard Bessel / Clive Emsley (Hrsg.), Patterns of Provocation. Police and Public Disorder, S. 99–120, hier S. 104–109. 105 P. A. J. Waddinton, Towards Paramilitarism? Dilemmas in Policing Civil Disorder, The British Journal of Criminology 27 (1987), S. 37–46; Ders., The Strong Arm of the Law. Armed and Public Order Policing, Oxford 1991, insbesondere S. 123–155. 106 Ebd. S. 171–178.

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Aufruhr in der Montanregion

Kontakte in politisch offenen Geselligkeitsformen wie dem Zusammentreffen in der Kneipe oder den working men’s clubs. Die Akteure wurden also durch Praktiken sozialen Handelns, die auf diskursiven und materiellen Strukturen von Solidarität und Identität in der politischen Kultur der Montanregion North East beruhten, in den Konflikt einbezogen. Aus diesen Beobachtungen und deren Synthese im Begriff Aufruhr ergibt sich keinerlei Rechtfertigung für die untersuchte Gewalt, aber sehr wohl ein differenzierteres Verständnis von Ereignissen, die bisher entweder als sinnlos galten oder nur mit Begriffen der zeitgenössischen Konfliktparteien als kriminelle Zerstörungsakte bzw. gerechter Widerstand beschrieben werden konnten.107 Mit Hilfe des Beschreibungsbegriffs Aufruhr lässt sich also zeigen, dass die gewaltsame Eskalation des Miners’ Strike im Nordosten genau den Zeitpunkt markiert, an dem der Routinekonflikt um Betriebsschließungen auf der regionalen Ebene in einen sozialen, politischen und ökonomischen Fundamentalkonflikt um die Ordnung der Montanregion kippte.

4. Quellengrundlage und Aufbau der Untersuchung Für die Erarbeitung des Aufruhrs in der Montanregion bildeten archivalische Schriftquellen und Zeitungen das Hauptmaterial. Da weder zum Miners’ Strike noch zu den Rheinhausener Protesten archivbasierte Monographien vorliegen, musste die Quellengrundlage zunächst gefunden und erschlossen werden. Die Sperrfristen liefen zwar für einen Großteil der Akten zum Miners’ Strike während des Schreibens aus, blieben aber in der entscheidenden Phase der Archivrecherchen bis 2013 gültig. Schmerzhafte Lücken in der Quellenbasis ergaben sich durch die Vernichtung der Polizeiakten in Durham108 sowie aus der Unauffindbarkeit der Akten des National Coal Board North East Area109 und der Weigerung des Historischen Archivs Krupp, Akten zu Rheinhausen vor Ablauf der Sperrfrist freizugeben.110 Aussagen über die Haltung der lokalen Polizei, des

107 Vgl. Huw Beynon, Authority and Change in the Coalfields, in: Journal of Law and Society 12 (1985), S. 395–403, hier S. 402 f. 108 Freedom of Information Request Reference No. 685/13, Hilary Penfold, Information Officer Durham Constabulary, an Arne Hordt, E-Mail 18.11.2013, im Besitz des Verfassers. 109 In den National Archives gibt es die Signatur COAL 55, die eigentlich diese Akten enthalten müsste, tatsächlich aber keinen Bestand enthält. Nach mündlicher und schriftlicher Anfragen bei den National Archives, bei der COAL Authority, der beauftragten Firma Iron Mountain PLC und bei Professor Chris Wrigley (Nottingham) sowie eigener Recherche vor Ort in den National Archives stellen sich die Akten bisher als unauffindbar heraus. 110 Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Historisches Archiv Krupp, an Arne Hordt, Universität Tübingen, HA-Sta / D62, Essen 16.1.2012, im Besitz des Verfassers.

Quellengrundlage und Aufbau der Untersuchung

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NCB und von Krupp mussten deshalb aus Parallelüberlieferungen und der Presse

erschlossen werden. Die archivalischen Quellen fanden sich für den britischen Teil der Studie vor allem im Durham County Record Office (DCRO), in den Tyne and Wear Archives in Newcastle upon Tyne und im North East England Mining Archive and Research Centre (NEEMARC) an der University of Sunderland. In Durham erwiesen sich die Protokolle des county council und die Dormand Papers, der Nachlass des Parlamentsabgeordneten Jack Dormand (Lord Dormand of E ­ asington), als ergiebige Fundstellen. Die Tyne and Wear Archives enthalten als absolute Rarität den Bestand einer außergewerkschaftlichen Aktivistengruppe, der North Tyneside Miners’ Support Group. Außerdem findet sich hier ein Teil des Vorlasses von Dr. Gordon Adam (Adam Papers), des Europa-Abgeordneten der Labour Party für Northumberland. Im NEEMARC konnten die Verbandsakten der NUM Durham Area und der Durham Mechanics eingesehen werden. Besuche in den Northumberland Archives im Woodhorn Museum (Ashington), in den Special Collections der Durham University Library und im North East England Film and Television Archive der Teesside University halfen dabei, verschiedene Aspekte der regionalen Quellenbasis abzugrenzen. Um die nationale Ebene des Konfliktgeschehens erfassen zu können, kamen Besuche im Conservative Party Archive in Oxford, im Labour History Archive and Study Centre in Manchester, in den National Archives in Kew und in der British Library hinzu. Die dort erhaltenen Dokumente und Publikationen sind zentral für die Einordnung des Geschehens in den historischen Kontext. Für den deutschen Vergleichsfall erfolgten längere Besuche im Stadtarchiv Duisburg, im Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, und im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn. Im Stadtarchiv Duisburg konnte Sammelgut aus der Presse und aus den Aktivitäten des Betriebsrats benutzt werden. Die Schriftstücke der für die Polizeieinsätze zuständigen Bezirksregierung Düsseldorf, des Innenministeriums und des mit den abschließenden Verhandlungen betrauten Büros des Ministerpräsidenten im Landesarchiv NRW bieten gute Einblicke in die Vorgänge um Rheinhausen. Die Bestände der IG Metall im Archiv der sozialen Demokratie eignen sich dagegen lediglich zur Kontextualisierung der Rheinhausener Proteste. Für beide Konflikte erwiesen sich auch einzelne Quellensammlungen wie die Bände der »Documents in Contemporary History« von Alan Booth und Chris Wrigley als hilfreich.111 Dem Lesebuch Ruhrgebiet von Klaus Tenfelde und Thomas Urban steht leider keine vergleichbare Quellensammlung zur Geschichte Nordostenglands gegenüber.112 Dafür sind die zentralstaatlichen Quellen in Großbritannien sehr viel gründlicher und umfassender online aufbereitet worden. Hansards, die Cabinet Papers oder aktuelle 111 Alan Booth (Hrsg.), British Economic Development since 1945, Manchester 1995; Chris Wrigley (Hrsg.), British Trade Unions 1945–1995, Manchester 1997. 112 Klaus Tenfelde / Thomas Urban (Hrsg.), Das Ruhrgebiet. Ein historisches Lesebuch, Essen 2010.

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Aufruhr in der Montanregion

und historische Gesetzestexte konnten während der Zeit der Recherche und des Schreibens, genauso wie die Publikationen des Centre for Policy Studies, im Netz abgerufen werden. Neben den Archivquellen stellen Zeitungsberichte und Fotografien zwei weitere zentrale Quellengruppen für die Untersuchung dar. Tageszeitungen boten angesichts der großen Lücken im Forschungsstand die einzige Möglichkeit, die Chronologie der lokalen Ereignisse zu rekonstruieren. Die Bilder und zeitgenössischen Fotos dienen dazu, die Welt der Montanregionen auch in einem nichtsprachlichen Medium zu vermitteln, das besonders triftige Eindrücke hinterlässt. Zudem geben die Fotografien Aufschluss über Handlungsabläufe, die so nicht aus den schriftlichen Quellen hervorgehen. Bei einer Studie über Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, die sich mit zwei Medienereignissen beschäftigt, liegen zwei Fragen auf der Hand: Erstens, wären Methoden der Oral History geeignet gewesen, zur Erzeugung zusätzlicher Quellen beizutragen? Zweitens, welche Rolle hätte Film- und Fernsehmaterial für eine solche Untersuchung spielen können? Eine systematische Oral-HistoryStudie wäre in der gegebenen Zeit und mit den gegebenen Mitteln nur für eine der beiden Regionen durchführbar gewesen. Viel schwerer wiegt, dass sowohl für eine Oral History als auch für eine Mediengeschichte des Streiks eine Gesamtdarstellung aus einer historisch-kritischen Distanz fehlt. Spricht man mit Protagonisten des Miners’ Strike oder der Rheinhausener Proteste, so bekommt man die vorgefertigten, zeitgenössischen Interpretationen der jeweiligen Konfliktpartei des Sprechers zu hören. Eine systematische Arbeit mit Film- und Fernsehmaterial erwies sich nach kurzem Ausprobieren als wenig zielführend. Die lokale und regionale Überlieferung von Fernseh- und Videomaterial ist stark fragmentiert, aus ihr ließen sich nur mit unverhältnismäßigem Aufwand Handlungsverläufe rekonstruieren. Die Problematik beider Quellengattungen zeigt sich darin, dass Studien, die mit ihnen arbeiten, bisher nur Erfahrungstatbestände reproduziert haben und nicht analytisch auf die Ereignisse zugreifen konnten.113 Um zu einer historisch-kritischen Perspektive zu gelangen, sollen im Folgenden vier übergeordnete Kategorien die empirische Untersuchung des Aufruhrs in der Montanregion strukturieren: 1. Die historische Genese der Proteste aus der sozialen Ordnung Montanregion, die in den 1980er Jahren vor allem das Ergebnis einer politischen Kultur des Strukturwandels war. 2. Die Entstehung bzw. Eskalation der Konflikte als Ergebnis des Handelns der gewerkschaftlichen, staatlichen und unternehmerischen Akteure im Geflecht der industriellen Beziehungen. 3. Die Eskalation der Konflikte zu Gewalt im Spannungsfeld von regionalen Protestpraktiken und nationalen Diskursen über legitime und nicht-legitime Formen von Gewalt. 4. Die Spannungen zwischen dem Gerechtigkeitsempfinden

113 Vgl. Michael Atkin, The 1984/85 Miners’ Strike in East Durham. A Study in Contem­ porary History, Durham 2001, http://etheses.dur.ac.uk/2015/, 3.12.2012; Khabaz, Deniz. Thatcher, the Miners and the Culture Industry, London 2006.

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der Betroffenen, ihrem – an den ursprünglichen Zielen gemessenen – Scheitern und dem neuen Regionalbewusstsein in den ehemaligen Montanregionen nach dem Aufruhr. Das erste Kapitel des Hauptteils untersucht daher unter dem Titel »Vergangene Zukunft« Diskurse und Praktiken des regionalen Strukturwandels, die einerseits eine notwendige Bedingung für die eruptiven Proteste der 1980er Jahre bildeten, andererseits aber durch den Aufruhr in Frage gestellt wurden. Die Konstruktion einer regionalen Identität hing dabei aufs engste mit Diskursen über regionalen Strukturwandel und nationalgesellschaftliche Werte zusammen, die von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 2000er Jahre andauerten. Die Proteste der 1980er weisen hier ein eigentümliches Zeitverhältnis auf, da die Betroffenen für die Erhaltung bestehender Industrien eintraten, die gemeinhin als nicht-zukunfts­ fähig galten. Diese konservative Stoßrichtung der Proteste widersprach den auf die Gestaltung von Zukunft ausgerichteten regionalen und nationalen Traditionen der Raum- und Sozialplanung und der zukunftsorientierten Ideologie der Arbeiterbewegung.114 Der geschichtspolitische Zustand der Montanregionen North East und Ruhrgebiet in der Zeit nach dem Boom kann deshalb auf die von Reinhart Koselleck geprägte Formel »Vergangene Zukunft« gebracht werden: Sie verkörperten Zukunftsvisionen, die sich überlebt hatten. Die Diskurse über die Montanregionen North East und Ruhrgebiet sind damit in einer longue durée der europäischen Nachkriegszeit verankert. Sie dynamisierten sich aber durch den spezifischen, sozialmoralischen Charakter des »Aufruhrs«. Protest, der Wandel verhindern sollte, wurde selbst zum Katalysator von Veränderungen. Im zweiten Kapitel geht es um das Verhältnis von Arbeit und Mitbestimmung in den industriellen Konflikten der 1980er Jahre. Miners’ Strike und Rheinhausen zeichneten sich auf der lokalen und regionalen Ebene dadurch aus, dass diejenigen Institutionen und Mechanismen, die eigentlich zur Konfliktregelung bestimmt waren, selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzungen wurden. Zugleich spielten die Institutionen der Mitbestimmung eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung von Streik- und Protestteilnehmern in den Betrieben, der Erzeugung und Aufrechterhaltung von Solidarität und der Selbstbeschreibung der Akteure als Verteidiger der bestehenden Ordnung. Daraus ergaben sich Spannungen zwischen den Interessen der Arbeiter und denen der Gewerkschaften NUM und IG Metall. Erfahrungen aus der Mitbestimmungskultur des britischen Steinkohlebergbaus und der Montanmitbestimmung strukturierten die Handlungsoptionen der Unternehmen, des Staates und der Gewerkschaftsfunktionäre bei der Regelung der Konflikte. In Nordostengland bedeutete der gegenseitige Boykott von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite nicht bloß ein segmentäres Nichtfunktionieren in einem Bereich des Wirtschaftslebens. Der Zusammen-

114 Vgl. Lucian Hölscher, »Ich sah alles so nah und greifbar.« Zukunftsentwürfe, in: Wolfgang Ruppert (Hrsg.), Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur, München 1986, S. 251–257.

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Aufruhr in der Montanregion

bruch der industriellen Beziehungen nahm dort bereits das Ende der Ordnung Montanregion vorweg. Die Proteste in Rheinhausen konnten dagegen in das etablierte Modell des Strukturwandels zurückgeführt werden. Im dritten Kapitel wird untersucht, wie Miners’ Strike und Rheinhausen punktuell zu gewalttätigen Unruhen eskalierten. Diese Erscheinungsform der Konflikte bot den Zeitgenossen einen Anlass für erregte Debatten über den friedlichen und demokratischen Charakter der britischen und westdeutschen Gesellschaft. Hier geht es allerdings – im Gegensatz zu diesen zeitgenössischen Debatten – um eine dichte Beschreibung gewaltförmiger Interaktion und deren Beziehung zur sozialen Ordnung Montanregion. Gewalt war weder im Miners’ Strike noch in Rheinhausen ideologisch motiviert, vielmehr entstand sie aus lebensweltlichem Ungerechtigkeitsempfinden, das auf einer moral economy of provision beruhte. Für die Bergarbeiter stellte die körperliche Erfahrung von Polizeigewalt häufig einen radikalen Bruch in ihrem Selbstbild dar, welcher die Akzeptanz klassenpolitischer Deutungen und damit in einem gewissen Maße auch die Streikbereitschaft erhöhte. In Rheinhausen wurde gewaltförmiger Protest dagegen von den meisten Beobachtern als legitimes Ventil für berechtigten Frust angesehen. Während die Deutung von Gewalt als inakzeptabler und »unbritischer« Protestform in Nordostengland zur Eskalation des Konflikts beitrug, sorgte das breite Verständnis für die Form der Rheinhausener Proteste in Westdeutschland dafür, dass wichtige Elemente der sozialen und politischen Ordnung Montanregion weiterbestehen konnten. Viertens muss der Zusammenhang zwischen den auf staatliche Unterstützung gerichteten Erwartungen der protestierenden Arbeiter und dem durch die politische Kultur des Strukturwandels hervorgebrachten Regionalbewusstsein betrachtet werden. Der Miners’ Strike war in Nordostengland auch eine Krise des Sozialstaats. In Rheinhausen gab es zwar keine solche ökonomische Not, aber auch hier waren Erwartungen an ein ausgleichendes und gerechtes Handeln des Staates ein wichtiger Faktor im Konflikt. Die Diskussionen bezogen sich allerdings eher auf die konkrete Ausgestaltung der Schließung von Rheinhausen und künftiger Schließungen. Auch hieran kann man erkennnen, dass die politische Kultur des Strukturwandels im Ruhrgebiet bestehen blieb, während sie im Nordosten als soziale Ordnung und auch als konkrete Form der industriellen Beziehungen durch den Miners’ Strike abrupt endete. Das ermöglichte Interventionen von Akteuren, die bisher eher außerhalb der sozialen Ordnung Montanregion gestanden hatten, insbesondere der Volkskirchen und ihrer Vertreter. So deutete sich bereits in den sozialen Konflikten der 1980er Jahre ein Wandel des Regionalbewusstseins an, das sich von der Orientierung auf Fortschritt und sozialen Konsens löste und nunmehr von konkurrierenden Narrativen geprägt wurde, die mit scheinbar überzeitlichen Denkmustern wie religiöser Spiritualität, proletarischer Identität oder, im Fall des Ruhrgebiets, mit »Industriekultur« operieren. Durch die vergleichende Untersuchung von Protesten gegen Betriebsschließungen in den Montanregionen North East und Ruhrgebiet wird deutlich, dass

Quellengrundlage und Aufbau der Untersuchung

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diese Konflikte einerseits von situativen und lokalen Interaktionsdynamiken und andererseits von weit zurückreichenden gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen geprägt waren. Die Arbeit trägt damit zu einem anderen Blick auf das Verhältnis von Struktur und Ereignis in der Epoche nach dem Boom bei. Die Hypothese eines harten Strukturbruchs in den 1970er Jahren bestätigt sich aus der Perspektive einer Ordnung, die in den Augen der regionalen Akteure bedroht war, nicht. Politisches Handeln blieb in den Konflikten der 1980er Jahren weiterhin von den Mustern der Nachkriegszeit geprägt. Sowohl der Protest gegen die Betriebsschließungen als auch die Vorstellungen von technischer und wirtschaftlicher Rationalisierung, die den Schließungsplänen zugrunde lagen, orientierten sich an handlungsleitenden Vorstellungen von Fortschritt, Produktivität und sozialer Gerechtigkeit, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden waren. In den Montanregionen Nordostengland und Ruhrgebiet hatten sie eine spezifische sozialräumliche Ordnung hervorgebracht, deren Konturen es nun herauzuarbeiten gilt.

II. Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

1. Vergangene Zukunft1 1.1 Die Ordnung Montanregion und der »Strukturwandel« Als sich im März 1984 im Nordosten Englands der Miners’ Strike ausbreitete, diskutierte der regionale Dachverband des Trades Union Congress, der Northern T. U. C., wie die Gewerkschaften auf eine Reform der regionalen Strukturpolitik reagieren sollten, die im Dezember 1983 von der Regierung in Westminster angekündigt worden war: If this government are stimulated to Regions being able to create or stimulate »selfgenerating growth«, then those regions must have greater say themselves in the allocation of finance, particularly when the aid is to become more selective, and when the service industries are to be included in the range of industries available for grant aid. Therefore the government should consider setting up an executive of key figures from amongst the North’s principle representative organisations […].2

Die Repräsentanten der Gewerkschaftsbewegung schlugen vor, eine regionale Entwicklungsagentur, Regional Development Agency, einzurichten, die von einer sogenannten Regional Industrial Executive beaufsichtigt werden sollte, in der die Gewerkschaften eine tragende Rolle spielen würden. Das Beratungsdokument des Northern T. U. C. stellte eine direkte Reaktion auf ein White Paper der Regierung vom Dezember 1983 dar,3 das bereits zum Zeitpunkt seines Erscheinens kontroverse Diskussionen ausgelöst hatte: »If the Secretary of State believes that there is no economic case for regional policy, is that not because his Government’s policies have made the whole country into a development area?«4 Während die Abgeordneten der Labour Party den neuen Ansatz in der Regionalförderung vor 1 Nach: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: Ders. (Hrsg.), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 17–37. 2 A Response for a Stronger North. A Statement by the Northern T. U. C., Durham County Record Office D / X 953/7/30 (Durham County Association of Trades Councils), vor dem 19.3.1984, S. 2. Ein Hinweis zur Rechtschreibung im Englischen: In den Quellen werden Wörter wie »region« oder »trade union«, die normalerweise kleingeschrieben werden, häufig großgeschrieben, weil die Verfasser sie für besonders wichtig hielten. 3 Regional Industrial Development (White Paper), 1983/84 Cmnd 9111. 4 Mr. Derek Foster (Bishop Auckland), Hansard’s House of Commons Debates, 13.12.1983, Bd. 50, S. 839–852, hier S. 847.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

allem als Beleg für ein Versagen der Regierung und als Angriff auf die Eigenständigkeit der lokalen Verwaltung begriffen, wollte der konservative Industrieminister Norman Tebbit seine Reform als Reaktion auf einen jahrelangen, von Labour verschuldeten Niedergang der britischen Industrie verstehen: »[…] the extent to which we have suffered more greatly than many others is not least because of the accumulated inefficiencies of British industry and commerce, the excessive rates of taxation which have been imposed, and the excessive rate of inflation which had been caused by the Labour Government’s spending policy.«5

Tebbit verknüpfte in seiner Perspektive auf die Regionalpolitik den Niedergang der britischen Industrie mit den Fehlern der Labour-Party. Die Vertreter der Gewerkschaften im Nordosten, die sich durchweg als Mitglieder des labour move­ ment betrachteten, setzten sich angesichts dessen besonders intensiv mit den Teilen des White Paper auseinander, die sie als antigewerkschaftlich verstanden. Sie wiesen Vorwürfe zurück, nach denen die Gewerkschaften für die »Unterentwicklung« bestimmter Landesteile verantwortlich seien, weil sie zu hohe Löhne verlangt hätten. Als Gegenentwurf präsentierten sie die wirtschaftliche Stärke des »Nordens« als Resultat gewerkschaftlicher Kampfbereitschaft: The wage bill is of course, important to a prospective employer, but so is productivity and good industrial relations. […] The Trade Union Movement does not apologise for looking to the best interests of the people it represents, and refutes the claim that progress made in wages and conditions as a result of hard fought for agreements, have been to the detriment of the economy either nationally or regionally.6

Die Debatte, die im Winter 1983/84 zwischen Regierung, Opposition und Interessenverbänden geführt wurde, berührte nicht nur den begrenzten Bereich der regionalen Strukturpolitik, sondern andere grundlegende Bereiche, wie die Fiskalpolitik, das Verhältnis von Zentralregierung zu lokaler Verwaltung und die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der Gewerkschaftsverband beharrte gegenüber diesem umfassenden Veränderungsanspruch auf einem genuin korporatistischen Modell der Regionalplanung: In der Regional Industrial Executive sollten, neben den wichtigsten Gewerkschaften, auch die Lokalverwaltung, die Confederation of British Industry und die zuständigen Ministerien für Industrie, Umwelt und Arbeit vertreten sein. Das Konzept war wohl lose an den sogenannten National Economic Development Council (NEDC) angelehnt, und sollte vor dem Hintergrund einer langen Vorgeschichte ähnlicher Institutionen in Großbritannien nicht vorschnell als Forderung nach staatlicher Wirtschaftslenkung verstanden werden. Vielmehr handelte es sich um den Versuch, einen branchenübergreifenden, starken Korporatismus eigenständiger Verbände zu begründen. Allerdings zeigt die Abschaffung des NEDC unter Thatcher-Regierung auch, wie weit solche Vorstellungen von den Reformideen der Konservativen entfernt waren. Die De5 Mr Tebbit, ebd. S. 848. 6 Response for a Stronger North, DCRO D / X 953/7/30, S. 3.

Vergangene Zukunft

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batte um die Ausgestaltung des industriellen Strukturwandels im Nordosten, die sich parallel zum Ausbruch des Streiks entwickelte, deutet darauf hin, dass nicht der Niedergang bestimmter Industriesektoren allein, sondern vielmehr der Streit um dessen politische Ausgestaltung und Bedeutung geeignet war, fundamentale Konflikte hervorzubringen. Die sozialgeschichtlich geprägte Literatur geht davon aus, dass die Zuspitzung des »industriellen Niedergangs« (industrial decline)  bzw. »Strukturwandels« Konflikte wie den Miners’ Strike hinreichend erklärt und vermeidet deshalb eine nähere Beschäftigung mit sozialem Protest als eigenständigem Phänomen.7 Doch Vorstellungen von einem beschleunigten industriellen Niedergang bildeten bereits für die zeitgenössischen Beobachter eine bevorzugte Erklärung für die Konflikte und zwar unabhängig davon, wo sie sich selbst ideologisch und politisch verorteten. Sowohl marxistische Sozialwissenschaftler als auch konservative Kommentatoren8 erklärten den Miners’ Strike mit der ökonomischen Krise der Steinkohleförderung. Für die Rheinhausener Proteste lässt sich das Gleiche feststellen: Wirtschaftsjournalisten der FAZ wie auch Vertreter des linken Flügels der IG Metall waren sich darin einig, dass die Hauptursache der Proteste in der Krise des Stahlsektors lag.9 Die Deutung der Konflikte als Epihänomene des wirtschaftlichen Strukturwandels fand daher Eingang in die historische Literatur. Sie ist aber aus mehreren Gründen methodisch unbefriedigend: Einmal vermag sie höchstens das Vorhandensein eines Protestpotentials zu erklären, nicht aber das tatsächliche Auftreten von Protest und dessen spezifische Erscheinungsform als Aufruhr. Zweitens führt Protestpotential nur dann zu Protesten, wenn es institutionelle und sprachliche Artikulationsmöglichkeiten für Konflikte gibt.10 Nicht Ungleichheit als solche, sondern ihre Wahrnehmung als subjektive Ungerechtigkeit führt zur Austragung von Konflikten.11 Der strukturgeschichtliche Ansatz bietet deshalb für sich genommen keine befriedigende historische Erklärung für das Ausbrechen der Proteste in den 1980er Jahren, geschweige denn für deren fundamentalen Charakter. Dennoch liefert das Fortschreiben dieser Deutungsmuster einen Hinweis auf den Erfahrungsraum Montanregion: Die Proteste der 1980er Jahre hatten ihre Wurzeln in einem

7 Chris Howell, Trade Unions and the State. The Construction of Industrial Relations in Britain 1890–2000, Princeton, Oxford 2005, S. 153–164; Keith Middlemas, Power, Competition and the State. Volume 3: The End of the Postwar Era. Britain since 1974, Basingstoke 1991, S. 297–303; Brunn / Reulecke, Kleine Geschichte, S. 198–205; Karl Lauschke, Krisenstrategien in der Stahlindustrie des Ruhrgebiets, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 20 (2003), S. 85–90, hier S. 88. 8 Middlemas, Power, S. 197–303. 9 Uebbing, Das Elend, FAZ 10.12.1987; Helmut Badekow, »Man hätte es versuchen müssen…«. Sozialplanpolitik der IG Metall. Von der Schwierigkeit vor lauter Bäumen den Wald noch zu sehen, in: Bierwirth / König (Hrsg.), Schmelzpunkte, S. 22–26. 10 Stedman Jones, Introduction, S. 7–12. 11 Terpe, Ungerechtigkeit, S. 47 ff.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

lockeren Bündel von Überzeugungen, die man als »Regionalbewusstsein«12 bezeichnen kann und die von den meisten Historikern, Sozialwissenschaftlern und Ökonomen geteilt werden, die zu schwerindustriell geprägten Regionen geforscht haben. Allgemeine Vorstellungen von einer zukunftsgerichteten, planmäßig gestalteten Gesellschaft konnten also in den älteren Darstellungen der Proteste nicht historisch-distanziert als zeitgebundene Deutungs- und Handlungsmuster betrachtet werden, weil sie für wissenschaftliche Autoren, die vor 1970 geboren wurden, meist selbstverständliche Überzeugungen darstellen.13 In einer historischen Perspektive kommt es aber nicht darauf an zu klären, ob der »Strukturwandel« in einer bestimmten Region oder einem bestimmten Bundesland nun erfolgreich gewesen sei,14 vielmehr muss es darum gehen, warum die »politische Regionalkultur« in den Montanregionen derartig tiefgreifend von Vorstellungen staatlich gesteuerter Gesellschaftsplanung geprägt war, und welche Wirkungen dieses Regionalbewusstsein in Konfliktsituationen entfaltete. Denn Ideen über den Ort der Montanregionen in der britischen und (west)deutschen Gesellschaft, die über die gesamte Nachkriegszeit eine politische Praxis des Strukturwandels hervorgebracht hatten, bildeten den entscheidenden historischen Kontext für das Umschlagen der Routinekonflikte zu Fundamentalkonflikten. Im Miners’ Strike und bei den Rheinhausener Protesten spielte das Deutungsmuster Strukturwandel auf der regionalen Ebene von Anfang an eine große Rolle. In Nordostengland gab es zum Beispiel noch zu Beginn des Streiks ein Treffen zwischen der Gebietsdirektion des National Coal Board und der NUM Durham Area, bei dem der area director seine Pläne für das Fördergebiet ganz selbstverständlich mit der Führung der NUM diskutierte.15 In der lokalen Presse wurde die Frage, ob der Bezirk Durham am Streik teilnehmen würde, detailliert mit den Prozeduren für einzelne Zechenschließungen verknüpft: »The Durham coalfield could be swept into any national action because of doubts about Herrington colliery near Sunderland. Up to 700 jobs are threatened at the pit and the union has been waiting since February to see if an appeal to keep it open has succeeded.«16 Auch der Generalsekretär der NUM in Durham, Tom Callan, bezog sich in seiner Begründung für die Streikentscheidung auf einen regionalen Faktor, den ›gemäßigten‹ Charakter der Bergleute in Durham: »Durham has 12 Hans Heinrich Blotevogel / Günter Heinritz / Herbert Popp, »Regionalbewußtsein«. Zum Stand der Diskussion um einen Stein des Anstoßes, in: Geographische Zeitschrift 77 (1989), S. 65–88. 13 Vgl. für eine solche positivistische Darstellung: Hubert Kiesewetter, Raum und Region, in: Gerold Ambrosius / Dietmar Petzina / Werner Plumpe (Hrsg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen. München 22006, S. 117–133. 14 Vgl. Stefan Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen. Vergleichsweise mißlungen oder den Umständen entsprechend erfolgreich?, in: Ders. (Hrsg.), Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, Münster 2004, S. 11–53, hier S. 17 f. 15 O. A., Crunch day in Geordie pits, The Northern Echo 9.3.1984. 16 O. A., Pit axe ›to cut deep‹, The Northern Echo 6.3.1984.

Vergangene Zukunft

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always been moderate but this time we have to be in the front line rather than being pressured into it.«17 Auch als es später darum ging, ob Arbeiter gegen die Beschlüsse der Gewerkschaft den Streik brechen würden, enthielten viele Durchhalteappelle Referenzen an eine besondere, traditionelle Solidarität im Nordosten: »It has been a privelege [sic] to have represented the Durham members who have stayed so loyal to the union and the strike.«18 Die Rheinhausener Arbeiter bemühten sich ebenso um eine regionale Dimension ihres Protests, indem sie für den »Erhalt aller Stahlstandorte« und die »Chance im Revier leben zu können« eintraten.19 Auch staatliche Stellen und die Unternehmensseite verstand es in beiden Konflikten, die »Region« als Argument zu gebrauchen. Die Manager des NCB beriefen sich auf dieselbe regionale Tradition der Mäßigung (moderation) wie Generalsekretär Tom Callan, um gegen den Streik einzutreten: And another impression must be that the Geordie miners  – famed for their levelheaded approach to problems – are being used as a vanguard in the national dispute because others are trading on one of their strongest attributes – loyalty. Leaving aside the question where these others were when Northumberland and Durham were enduring the trauma of pit closure in the 1960s, the question must now be – what’s in it for the North East?20

Auch bei den Protesten in Rheinhausen beriefen sich regionalpolitische Akteure, wie der Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Niederrhein, Theodor Pieper, unentwegt aber mit ganz unterschiedlichen Zielen auf einen Zusammenhang zwischen dem Image des Ruhrgebiets, den Protesten gegen die Werksschließung und einen verträglichen Modus für den industriellen Struktur­ wandel der Region: Wenn die weiteren Proteste der Stahlarbeiter »zügellos und ohne Maß und ohne Ziel« ausfallen sollten, dann sieht der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer, Dr. Theodor Pieper, die Stadt Duisburg insgesamt als Standort für Wirtschaftsunternehmen gefährdet. […] Im übrigen hält Pieper Rheinhausen für ein »Fanal«. »Zum ersten Male wird in der Bundesrepublik ein voll wettbewerbsfähiger Hüttenkomplex aufgegeben. Und dies an einem Standort, der der beste im Bundesgebiet oder sogar in Europa ist«.21

17 Tom Callan, General Secretary NUM Durham Area, zitiert nach: Nick Thompson, Durham’s pitmen put to test, The Northern Echo 10.3.1984. 18 O. A., Christmas Messages from Billy & Tom [Bill Etherington und Tom Callan, A. H.], The Durham Striker December 1984. 19 Betriebsrat und IGM-Vertrauenskörperleitung, Jugendvertretung der Krupp Stahl AG , Werk Rheinhausen, IGM Verwaltungsstelle Duisburg (Hrsg.), Rheinhausen muß leben – Erhalt aller Stahlstandorte, o. O. o. J. [1988], S. 4: »Es geht um die Überlebensfähigkeit einer Region, um die Chance, im Revier leben und arbeiten zu können.«. 20 George Atkinson, Strike fallacy, The Northern Echo 16.4.1984. Atkinson war Area Industrial Relations Officer des NCB für den Nordosten. 21 Peter Hardt, »Zügellose Aktionen schaden der Stadt«, Rheinische Post 9.12.1987.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

Die Bedeutung, die den Regionen North East und Ruhrgebiet in den beiden Konflikten zugeschrieben wurde, ist bisher entweder gar nicht beachtet worden oder diente Beobachtern als Anlass, die Konflikte als Ausdruck einer regionalen Identität zu verstehen, die schon vor den Ereignissen bestanden habe und die bei deren Analyse in sozialkritischer Absicht herauszuarbeiten sei: The memories of 1984–85 are part of a larger pattern, just as are those of the closure of shipyards, steel mills or factories. […] What unites the various strands of the broader regional pattern is a richly textured sense of a hard-worked past, whose marks evoke not only bitterness and poverty, but the greatness, too, of industrial achievement and the pride that went with it. The stories, legends, myths and moral tales encoded in the past […] are the ways and means by which the identities of Geordies are made.22

Der Miners’ Strike und Rheinhausen wurden so im Rückblick als Bestätigung einer essentiellen regionalen Identität der Montanregionen Nordostengland und Ruhrgebiet verstanden. Diese Interpretation passte einerseits zu bestimmten nationalen Selbstbildern, in denen der englische »Norden« für besonders authentische Lebensverhältnisse, einen von industrieller Arbeit gekennzeichneten Lebensstil und Widerstandsgeist gegenüber dem verfeinerten, privilegierten Süden des Landes steht.23 Solche Entwürfe passen andererseits aber auch zu einer Geschichtsschreibung, in der die Industrieregionen paradigmatisch für allgemeine Entwicklungen des Industriezeitalters in Großbritannien oder Deutschland stehen.24 Historische Untersuchungen über Streiks, Konflikte und soziale Unruhe haben, insbesondere für die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine regelrechte »Poetik« moderner Krisengeschichte am Beispiel des englischen Nordostens, des Ruhrgebiets und anderer Industrieregionen entwickelt.25 Dabei ist anzuerkennen, dass historische Akteure mit solchen regionalen Deutungsmustern durchaus einen Wandel der sozialen Realität und ihre eigene, wachsende Erwartungsunsicherheit im Umgang damit verarbeiteten. Doch worin bestand jener Wandel und wie hing er mit dem spontanen, eruptiven Protest der 1980er Jahre zusammen? 22 Bill Williamson, Living the Past Differently. Historical Memory in the North East, in: Robert Colls / Bill Lancaster (Hrsg.), Geordies. Roots of Regionalism, Newcastle upon Tyne 2005 (im Original Edinburgh 1992), S. 149–168, hier S. 156. 23 Vgl. Stuart Rawnsley, Constructing »The North«. Space and a Sense of Place, in: Neville Kirk (Hrsg.), Northern Identities. Historical Interpretations of ›The North‹ and ›Nor­ thernness‹, Aldershot u. a. 2000, S. 3–22, hier S. 6–9; Dave Russel, Looking North. Nor­ thern England and the National Imagination, Manchester, New York 2004, hier S. 268 f. 24 Purdue, The History, S. 111 f.; Natasha Vall, Regionalism and Cultural History. The Case of North-Eastern England, 1918–1976, in: Adrian Green / A. J. Pollard (Hrsg.), Regional Identities in North-East England, 1300–2000, Woodbridge 2007, S. 181–207, hier S. 196 f. 25 Vgl. John McIlroy / A. Campbell / K. Gildart (Hrsg.), Industrial Politics and the 1926 Mining Lockout. The Struggle for Dignity, Cardiff 2004; Detlev Peukert, Ruhrarbeiter gegen den Faschismus. Dokumentation über den Widerstand im Ruhrgebiet 1933–1945, Frankfurt / Main 1976.

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Die Schließungspläne, die 1984–85 in Großbritannien bekannt wurden und die 1987 die Belegschaft des Krupp-Werks in Rheinhausen überraschten, bedrohten ein Muster für staatliches, unternehmerisches und gewerkschaftliches Handeln, das in den Montanregionen während der gesamten europäischen Nachkriegszeit, vor allem aber seit dem Ende der 1960er Jahre, für stabile Zukunftserwartungen angesichts einer schrumpfenden industriellen Grundlage gesorgt hatte. Politische Diskurse über die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der schwerindustriell geprägten Siedlungsräume North East und Ruhrgebiet besaßen Wurzeln in der Zwischenkriegszeit.26 Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg und verstärkt seit den 1960er Jahren wurde das Sprechen über regionale Strukturkrisen mit einem spezifischen Modernisierungsdiskurs verknüpft.27 Diese Verbindung von Krisendiagnosen mit modernisierender Gesellschaftsplanung etablierte in den Montanregionen North East und Ruhrgebiet eine sozialräumliche Ordnung eigenen Typs. Bereits seit den späten 1950er Jahren waren im Nordosten massenhaft Zechen geschlossen worden, ihre Zahl schrumpfte zwischen 1959 und 1970 von 163 auf nur noch 50, im gleichen Zeitraum verringerte sich die Zahl der Bergleute von 130.000 auf 48.000.28 Seit Mitte der 1960er Jahre führten Rationalisierung und Produktivitätssteigerung auch in der deutschen Stahlindustrie dazu, dass trotz steigender Produktionszahlen weniger Arbeitsplätze zur Verfügung standen. Stieg die Stahlproduktion im Bundesgebiet bis 1974 mit konjunkturellen Schwankungen noch auf knapp unter 55.000 t, so fiel die Beschäftigtenzahl bereits 1965 unter die Marke von 400.000, die sie dann nie mehr erreichen sollte.29 Der heutige Nordosten verlor seit 1921 erhebliche Bevölkerungsanteile durch Abwanderung und im Gebiet des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk schrumpfte die Bevölkerung seit 1962.30 Die soziale und wirtschaftliche Ordnung der Montanregionen North East und Ruhrgebiet war darauf ausgerichtet, die Folgen dieses wirtschaftlichen Strukturwandels und der damit einhergehenden Bevölkerungsverluste »sozialverträglich« abzufedern.31 Lösungen mussten einerseits auf einer betrieblichen, andererseits aber auch auf einer volkswirtschaftlichen und politischen Ebene gefunden werden, wobei sich 26 Vgl. Heinz-Wilhelm Hoffacker, Entstehung der Raumplanung. Konservative Gesellschaftsreform und das Ruhrgebiet 1918–1933, Essen 1989. 27 Vgl. Gerald Wood, Die Umstrukturierung Nordost-Englands, Dortmund 1994, S. 136–147; Christoph Nonn, Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958–1969, Göttingen 2001, S. 244–258 und S. 311–322. 28 Wood, Umstrukturierung, S. 138. 29 Ebd. S. 123; Karl Lauschke, Die halbe Macht. Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie, Essen 2007, S. 335. 30 Nonn, Die Ruhrbergbaukrise, S. 389. 31 Stefan Goch, Akteure und Politik im Strukturwandel des Ruhrgebiets, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 30 (2003), S. 57–65, hier S. 58–60; Ders., Die Selbstwahrnehmung des Ruhrgebiets in der Nachkriegszeit, Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 39 (2008), S. 21–48, hier S. 35–38; Helke Stadtland, Gewerkschaften, sozialer Konflikt, Mitbestimmung, Sozialdemokratisierung, in: Klaus Tenfelde / Thomas Urban (Hrsg.), Das Ruhrgebiet. Ein historisches Lesebuch, Essen 2010, S. 889–895.

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im interregionalen Vergleich die Unterschiede im Staatsaufbau und in der institutionellen Struktur der industriellen Beziehungen jeweils spezifisch auswirkten. Der britische Zentralismus und der westdeutsche Föderalismus boten verschiedene Möglichkeiten, mit Problemen des industriellen Niedergangs umzugehen. Während die lokale Verwaltung im Nordosten direkt mit Ministerien in London verhandeln musste,32 gab es im Ruhrgebiet immer die Ebene der Landespolitik, auf der sich die zwei großen Parteien SPD und CDU als Interessenvertreter der regionalen Bevölkerung präsentieren mussten.33 Verstaatlichung (nationalisation) und consultation prägten andere Muster für Konflikt und Kooperation zwischen Gewerkschaft und Unternehmen als die Montanmitbestimmung, wo Vertreter der Gewerkschaften in zentralen Entscheidungsgremien der Konzerne ›mit am Tisch saßen‹. Es ist zwar falsch von einer grundsätzlichen Konfliktkultur im Verhältnis zwischen britischen Gewerkschaften und Unternehmen auszugehen – das Klischee wurde in den 1980er Jahren vor allem von ganz linken und ganz rechten Publizisten gepflegt und in Deutschland aufgrund der ausgeprägten Konsenskultur gerne zur Bestätigung eines positiven Selbstbilds herangezogen. Dennoch blieben die britischen Gewerkschaften stets einer Strategie des free collective bargaining verpflichtet, bei der freie Verhandlungen durch die Marktmacht und das Mobilisierungspotential der Arbeitnehmer garantiert wurden und Gewerkschaftsfunktionäre nicht an unternehmerischen Entscheidungen beteiligt sein sollten, um die »freien Verhandlungen« nicht zu gefährden.34 Während in Großbritannien bereits in den 1920er und 30er Jahren die Mono­ struktur im Nordosten als Problem erkannt worden war,35 galt der montanindustrielle Komplex im Ruhrgebiet  – in wirtschaftlicher Hinsicht  – bis zum Ende der 1950er Jahre als weniger problematisch.36 Ein gemeinsamer Nenner der Entwicklung in beiden Regionen in der Zwischenkriegszeit war jedoch die Wohnungs- und Stadtplanungspolitik. Elende Wohnverhältnisse galten in Nordostengland und im Ruhrgebiet gleichermaßen als Anzeichen wie als Ursache sozialer Spannungen, deshalb nahmen großflächige Umbaupläne für die Industrieregionen bereits nach dem Ersten Weltkrieg Gestalt an.37 Daraus entstanden Institutionen wie die New Town Development Corporations im Nordosten oder der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk. In ihnen ist eine wichtige Keimzelle für 32 Gerald Wood, Regionalentwicklung und raumbezogene Politik in Großbritannien im Zeichen von »Thatcherismus« und »Post-Thatcherismus«, in: Europa Regional 5 (1997), S. 12–22, hier S. 19–21. 33 Goch, Akteure, S. 62 f. 34 Chris Howell, Trade Unions, S. 82–85. 35 Natasha Vall, The Emergence of the Post-Industrial Economy in Newcastle 1914–2000, in: Robert Colls / Bill Lancaster (Hrsg.), Newcastle upon Tyne. A Modern History, Chichester 2001, S. 47–70, hier S. 57–59; Supple, The Political Economy, S. 35–40. 36 Goch, Die Selbstwahrnehmung, hier S. 28–34. 37 Douglas Pocock / Roger Norris, A History of County Durham, Chichester 1990, S. 68–73; Joan Taylor, England’s Border County. A History of Northumberland County Council 1889–1989, o. O. [Morpeth] 1989, S. 59–60.

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ein Bewusstsein von der Zusammengehörigkeit der Montanregionen zu sehen, das sich mithin nicht aus der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, sondern erst einige Jahrzehnte nach der Entstehung der Industriegebiete entwickelte.38 Zugleich wurde den Montanregionen North East und Ruhrgebiet schon im Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit eine besondere Bedeutung für die britische bzw. deutsche Nation zugeschrieben.39 Die wirtschaftliche Funktion jener Regionen als Orte der Schwer- oder Grundstoffindustrien (basic industries) wurde so in einen Zusammenhang mit einem essentiellen Regionalcharakter gebracht: Die Bergarbeiter von Durham wurden zum Symbol für loyalty, also echte britische Treue angesichts schwerster Gefahren,40 das Ruhrgebiet wurde zur Verkörperung »deutscher Arbeit«,41 zum Symbol für sichere Pflichterfüllung in nationaler Not und Krise. Erst in der Nachkriegszeit wurden die ursprünglich militärisch und nationalistisch geprägten Identitäten der Regionen mit Vorstellungen von Modernisierung, gesellschaftlich verankerter Demokratie in der Wirtschaft und schließlich auch sozialstaatlicher Fürsorge aufgeladen. Im Zweiten Weltkriegs wurden die Anlagen der Schwerindustrie im Nordosten und im Ruhrgebiet zunächst ›auf Verschleiß gefahren‹; Wartung und Modernisierung der Produktion unterblieben zugunsten der Massenproduktion für Kriegszwecke. Und auch nach dem Krieg standen in beiden Ländern Versorgungsprobleme (Kohle als Brennstoff, Stahl als Baustoff) im Vordergrund.42 Deshalb wurde die regional konzentrierte Schwerindustrie nicht nur wieder auf- und ausgebaut, obwohl sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts schon länger keine Zukunftsbranche mehr darstellte, sondern sie wurde sogar zum Symbol der vergangenen Kriegsanstrengungen und des erfolgreichen Wiederaufbaus überhöht.43 Gleichzeitig hofften die organisierten Arbeiterbewegungen im sieg­ reichen Großbritannien und im besiegten Deutschland auf eine umfassende Reorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft,44 wobei sich die konkreten Ansätze dazu, vor historisch sehr unterschiedlichen Hintergründen, durchgehend auf die Schwerindustrie bezogen.45 In Großbritannien sollte die Verstaatlichung der Steinkohlezechen im Jahr 1947 zusammen mit der kostenlosen Gesund38 Hans Heinrich Blotevogel, Die Region Ruhrgebiet zwischen Konstruktion und Dekonstruktion, in: Westfälische Forschungen 52 (2002), S. 453–488, hier S. 470 ff.; als zeitgenössische Quellen für ein Regionalbewusstsein, das sich auf die Institutionen der 1920er und 30er Jahre bezieht: Pocock / Norris, Durham, S. 74–84; Taylor, England’s Border County, S. 7–14 und 56–104. 39 Karl Ditt, Die Entwicklung, S. 442 f.; Barron, The 1926 Miners’ Lockout, S. 78–137. 40 Ebd. S. 58–65. 41 Ditt, Die Entwicklung, S. 443–451. 42 Ashworth, The Nationalized Industry, S. 155–234. 43 Vgl. dazu: Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bonn 2005, S. 223 ff.; Goch, Die Selbstwahrnehmung, S. 28–32. 44 Stefan Berger, Wege und Irwege des demokratischen Sozialismus. Das Verhältnis von Labour Party und SPD zum Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: AfS 53 (2013), S. 411–422. 45 Judt, Postwar, S. 153–160.

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heitsversorgung (National Health Service) und dem sozialen Wohnungsbau zu einer besseren und gerechteren Gesellschaftsordnung führen.46 Im besetzten Deutschland erzwangen die Westalliierten die sogenannte »Entflechtung« der schwerindustriellen Konzerne an der Ruhr, denn die ›Ruhrbarone‹ wurden von ihnen als tragende Säule des deutschen Militarismus betrachtet. Die Montan­ mitbestimmung bildete aus Sicht der Westalliierten eine Voraussetzung dafür, dass die deutsche Schwerindustrie wieder vertikal integrierte Großkonzerne bilden durfte.47 Die Ordnungen der britischen und westdeutschen Montanregionen, die in der Nachkriegszeit entstanden, unterschieden sich damit grundlegend von den älteren regionalgesellschaftlichen Konstellationen vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit, obgleich die entscheidenden Veränderungen auf negativen Erfahrungen mit sozialer und politischer Instabilität in jenen Krisenjahren beruhten.48 Dazu gehörten in Westdeutschland vor allem die Spaltung der Arbeiterbewegung in einen kommunistischen und sozialdemokratischen Flügel, die extrem gewalttätigen, bürgerkriegsartigen Zustände im Ruhrgebiet zwischen 1919 und 1924 sowie – erneut – in den frühen 1930er Jahren, und, für die aus Exil und KZ -Haft zurückgekehrten Gewerkschafter und Politiker, das Ausbleiben großflächigen Widerstands der Ruhrarbeiter gegen Krieg und Nationalsozialismus. Parteiübergreifende Industriegewerkschaften und Mitbestimmung sollten hier Abhilfe schaffen. In Großbritannien stand hingegen eher die Beseitigung sozialen Elends, der Abbau von materiellen und kulturellen Klassenschranken sowie Lehren aus den als gescheitert geltenden Labour-Regierungen der 1920er Jahre im Vordergrund.49 Der verstaatlichte Steinkohlebergbau in Großbritannien und die Montanmitbestimmung in Westdeutschland sollten also von staatlicher Seite aus für sozialen und politischen Frieden sorgen. Diese Beziehung zwischen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Zwischenkriegszeit und derjenigen der Nachkriegszeit lässt sich damit als ein Versuch zur Bewältigung des Scheiterns der älteren Ordnung verstehen. In der unmittelbaren 46 Supple, The Political Economy, S. 619–632. 47 Gabriele Müller-List, Montanmitbestimmung. Das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 21. Mai 1951, Düsseldorf 1984, S. XX–XXXVII . 48 Für das Ruhrgebiet: Lutz Niethammer, Einleitung des Herausgebers, in: Ders. (Hrsg.), »Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll«. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 1., Bonn, Berlin 1983, S. 7–29, hier S. 9–16; für die britischen Montanregionen ist eine »Kontinuitätsproblematik« erst neuerdings reflektiert worden, im Sinne der hier vertretenen Position argumentiert: Phillips, Collieries, S. 23–33; Ganz eindeutig sprechen Pocock / Norris, History of County Durham, S. 74 für die Zeit nach 1945 von »A New County«; vgl. für die nationale Ebene: Supple, The Political Economy, S. 320–358 und 591–627. 49 Vgl. für den Nordosten: Huw Beynon / Terry Austrin, The Performance of Power. Sam Watson  a Miners’ Leader on Many Stages, in: Journal of Historical Sociology, onlineAusgabe DOI 10.1111/johs.12052, 6.3.2014.

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Abb. 1: Die Fahne der NUM-Betriebsgruppe des Schachtes Sleekburn »A«, Bezirk Northumberland, 1949, Vorderseite: Der Palast von Westminster in einem Kohleblock, mit freundlicher Genehmigung von © Paul Plews.

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Abb. 2: Rückseite: Die Errungenschaften der »New Era« – welfare hall, Schule und mechanisierter Förderzug, mit freundlicher Genehmigung von © Paul Plews.

Nachkriegszeit und im Wiederaufbau stand die industrielle Reorganisation in der Schwerindustrie für eine allgemeine Hoffnung auf wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fortschritt, weil sich alle Vorstellungen dazu an konkreten Erfahrungen mit den unhaltbar gewordenen Ordnungsmustern der Zeit davor orientierten. Diese Verbindung von allgemeinen Zukunftshoffnungen mit der Umstrukturierung der Steinkohleproduktion lässt sich für den Nordosten an den Gewerkschaftsfahnen der Nachkriegszeit zeigen. Auf einer Fahne der Betriebsgruppe von Sleekburn (Abb. 1 und 2) wird die Verstaatlichung des Bergbaus in einen direkten Zusammenhang mit der parlamentarischen Demokratie und sozialen Errungenschaften gebracht. Auf der Vorderseite zeigt das lodge banner den Palast von Westminster inmitten eines Anthrazitblocks, auf der Rückseite, unter dem Motto »The New Era«, eine miners’ welfare hall, eine Schule und einen mechanisierten Förderzug. Die Verstaatlichung des Bergbaus durch das Parlament bildete in der lokalen Erinnerungskultur des labour movement den entscheidenden Schritt der peaceful revolution unter Clement Attlee.50 Sie ging mit 50 Nina Fishman, Coal. Owned and Managed on Behalf of the People, in: Jim Fyrth (Hrsg.), Labour’s High Noon. The Government and the Economy 1945–51, London 1993, S. 61–77, hier S. 61–66.

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weitreichenden Vorstellungen einer Verbesserung der regionalen Sozialstruktur durch Bildung einher, die durchaus die Abschaffung von harter körperlicher Arbeit beinhalteten.51 Doch in der Bildsprache der 1940er Jahre beruhten alle Maßnahmen der »neuen Zeit«, Bildung, Wohlfahrt und bessere Arbeitsbedingungen, noch darauf, dass die Bergarbeiter durch das Parlament die Macht in den Kohlegruben erhalten hatten. Der Bestand der houses of parliament ist als Inbegriff der Nation von den Bergleuten abhängig, so wie der parlamentarische Weg sich für den britischen Sozialismus aufgrund der sichtbaren Erfolge als richtig erwiesen hat.52 Mit solchen Gewerkschaftsfahnen wurden politische Botschaften nicht nur bildlich hergestellt, sondern auch regelmäßig zu wichtigen Festtagen, wie der ­Miners’ Gala in Durham, dem Miners’ Picnic [sic!] in Northumberland, und besonderen Anlässen wie Trauerfeiern, Streiks oder politischen Demonstrationen zur Schau gestellt und in Erinnerung gerufen. Die Fahnen markierten bei diesen festlichen Umzügen die Ankunft (adventus) des »Sozialismus« im Raum der Industrieregion.53 Teils erinnerten ältere Fahnen aus den 1920er Jahren an die gewerkschaftlichen Kämpfe des frühen 20. Jahrhunderts, etwa wenn einzelne lodges die Porträts von regionalen Gewerkschaftsführern der 1890er und 1920er Jahre auf ihren Fahnen abbildeten.54 Die Bildprogramme der lodge banners unterschieden allerdings nicht zwischen einem ideologisch reinen, revolutionären Sozialismus und dem pragmatischen labourism der britischen Gewerkschaftsbewegung.55 So finden sich zwar einzelne Fahnen mit scheinbar revolutionärer Bildsprache, etwa diejenige der Chopwell Lodge von 1926, auf dem Marx und Lenin und der erste Abgeordnete der Parliamentary Labour Party, Keir Hardie, abgebildet sind (Abb. 3). Doch steht Hardie an vorderster Stelle, und die Erwähnung seiner Rolle als »M. P.« (member of parliament) verweist auf die parlamentarische Strategie der Arbeiterbewegung. Während im rechten unteren Bildteil das Emblem der Labour Party mit Feder (freies Wort), Spaten (körperliche Arbeit) und Fackel (Licht des Wissens) die liberale, aufklärerische Tradition des labour movement wachruft, steht der rote Stern mit Siegerkranz sowie Hammer und Sichel für einen revolutionären Sozialismus.56 Diese Ambivalenz zwischen revolutionärem und progressiv-liberalem Sozialismus zog sich von der 51 Vgl. Natasha Vall, Cultural Improvers in North-East England 1920–1960. Polishing the Pitmen, Northern History 41 (2004), S. 163–180. 52 Vgl. John Callaghan, Socialism in Britain since 1884, Cambridge 1990, S. 151–169. 53 Vgl. Klaus Tenfelde, Zur Ikonologie des Festzugs, in: Jürgen Kocka / Paul Nolte (Hrsg.), Arbeiter, Bürger, Städte. Zur Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2012, S. 143–173, hier S. 168–173. 54 Keith Armstrong, ›The Big Meeting‹. A People’s View of the Durham Miners’ Gala, Newcastle upon Tyne 1994, S. 23, »Philadelphia Lodge 1950«, auf der Fahne sind A. J. Cook, Keir Hardie und Peter Lee abgebildet, deren Tätigkeitszeitraum sich von den 1890ern bis in die mittleren 1920er Jahre erstreckte. 55 Vgl. Callaghan, Socialism, S. 62–77. 56 Vgl. zum banner der Chopwell Lodge: Barron, Miner’s Lockout, S. 103–114.

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Abb. 3: Fahne der Chopwell Lodge, Nachbildung, Original vor 1926, mit freundlicher Genehmigung von David Temple und der Durham Miners’ Association.

Zwischen- in die Nachkriegszeit durch. Die soziale Praxis des Fahnentragens trug dazu bei, diesen Zwiespalt in der Ausrichtung der NUM-Bezirke Durham und Northumberland zu verankern und prägte so den politischen Erfahrungsraum der Montanregion North East mit. In Westdeutschland war das Verhältnis der Arbeiterbewegung zu den Kämpfen der Vergangenheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch die Spaltung in einen kommunistischen und einen sozialdemokratischen Flügel nach dem Ersten Weltkrieg und der Erfahrung des Nationalsozialismus viel gebrochener als in Großbritannien.57 Der Anbruch eines paradiesischen Zeitalters der Arbeiterbewegung stand nicht zur Debatte, vielmehr herrschte bei der Forderung 57 Stefan Berger, Wege und Irrwege, S. 416.

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nach Demokratie in der Wirtschaft häufig ein Subtext von Not und Misstrauen sowie der Wunsch nach Verhinderung einer erneuten Diktatur vor.58 Doch gab es ebenso überschießende Hoffnungen bzw. berechtige Erwartungen an gesellschaftliche Veränderungen, die von der Schwerindustrie ausgehen sollten. In der Bundesrepublik galten die Montanmitbestimmung und die Gemeinwohlverpflichtung von Kapitalinhabern in Gewerkschaftskreisen vielfach als erste Schritte auf dem Weg zu einer vollständigen Sozialisierung der Produktionsmittel. Manche Gewerkschafter, wie Viktor Agartz, sahen Mitbestimmung gar als besonders effektives Instrument gesellschaftlicher Kontrolle.59 Erst seit dem »Wirtschaftswunder« und nach der Westernisierung von DGB und SPD in den späten 1950er Jahren wurde »Mitbestimmung« nicht mehr ausschließlich als antagonistisches Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gedacht.60 In den Betrieben des Stahlsektors zeitigte die Montanmitbestimmung aber bereits in den 1950er Jahren eine kooperative Unternehmenskultur, die vor allem bei der Rationalisierung von Produktionsanlagen zum Tragen kam.61 Das Aufblühen spezifischer Zukunftshoffnungen der Arbeiterbewegung im Kontext der industriellen Neuordnung in den britischen und westdeutschen Montanregionen wirft Fragen nach der sozialen Gruppe »Arbeiterschaft«, deren politischem Bewusstsein und Organisationsformen auf. In Nordostengland deklamierten jüngere Aktivisten der NUM im Miners’ Strike permanent, dass sie sich in einem »Klassenkampf« befänden. Bei den Rheinhausener Protesten spielte der Begriff »Klasse« hingegen nur eine untergeordnete Rolle, obschon der Rekurs auf »Arbeiterschaft« hier ebenfalls ein stabiles rhetorisches Muster der Gewerkschaftsseite bildete. Während in Großbritannien die Selbstbeschreibung »Klassengesellschaft« bis heute von vielen Beobachtern als gültig erachtet wird,62 bestimmten in der Bundesrepublik spätestens seit den 1950er Jahren harmonischere Selbstbilder die Wahrnehmung.63 Der industrielle Strukturwandel generierte in Westdeutschland ein ganzes Forschungsfeld, in dem Sozialwissenschaftler der Frage nach dem Wandel von industrieller Arbeit und den daraus resultierenden Konsequenzen für die politische Ausrichtung lohnabhängig Beschäftigter nachgingen.64 Redet man mit einer dieser Studien vom »langen Abschied vom 58 Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, S. 47–58 und 90–102. 59 Schneider, Kleine Geschichte, S. 270–282. 60 Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB , München 2003, S. 430–451. 61 Karl Lauschke, Die Praxis der Montanmitbestimmung im Ruhrgebiet, in: Jan-Pieter Barbian / Ludger Heid (Hrsg.), Die Entdeckung des Ruhrgebiets. Das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen 1946–1996, Essen 1997, S. 173–190, hier S. 181–183. 62 Vgl. Marwick, Arthur: Class, in: Paul Addison / Harriet Jones (Hrsg.), A Companion to Contemporary Britain 1939–2000. Oxford 2005, S. 76–92. 63 Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970, Frankfurt a. M. 1984, S. 233–236. 64 Vgl. Horst Kern / Michael Schumann, Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein. Eine empirische Untersuchung über den Einfluß der aktuellen technischen Entwicklung auf die industrielle Arbeit und das Arbeiterbewußtsein, Frankfurt a. M. 1985 (1977).

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Malocher«65, muss man deshalb betonen: Dieser Abschied erfolgte nicht nur durch die Schließung großer Produktionsanlagen, sondern schon vorab durch eine stetige Verberuflichung ungelernter Tätigkeiten, die gerade Branchen wie Kohle, Stahl oder Maschinenbau ergriff. Bergleute und Stahlarbeiter steuerten in den 1980er Jahren zumeist komplexe Maschinen oder ganze Produktionssysteme. Josef Mooser hat mit dem Begriff »Proletarität« eine Deutung entwickelt, die geeignet ist, zwischen der divergierenden zeitgenössischen Wahrnehmung von Verberuflichung und Aufstieg sowie Selbstbeschreibungen der Akteure als working class und »Arbeiterschaft« zu vermitteln: Während für die gesamte Nachkriegszeit eine Abnahme spezfisch proletarischer Lebensrisiken und eine Zunahme an Aufstiegschancen und Lebensstiloptionen zu konstatieren sind, blieben bestimmte soziokulturelle Faktoren einer Herkunft aus proletarischen Milieus für soziale und betriebliche Aufsteiger bestehen.66 Die Arbeiter der 1980er Jahre waren in diesem Sinne weder in Nordostengland noch in Rheinhausen milieumäßig und organisatorisch geschlossene Klassenkämpfer, sondern relativ wohlhabende Facharbeiter und Konsumenten der späten Nachkriegszeit, denen eine Auswahl an Lebensstilen und Aufstiegsmöglichkeiten zur Verfügung standen.67 Zugleich blieben Elemente von Proletarität in beruflichen, privaten und politischen Bereichen erhalten und wirkten sich in den Konflikten um Betriebsschließungen auf eine ganz bestimmte Weise aus. Viele der Facharbeiter, die in den 1980er Jahren protestierten, hatten viel zu verlieren, weil sie durch berufliche Bildung im Betrieb aufgestiegen waren. Dieser Prozess war zudem häufig mit einer Funktionärslaufbahn in der gewerkschaftlichen Hierarchie verbunden.68 Sozialer Aufstieg war also für diejenigen, die in den Zechen oder im Rheinhausener Stahlwerk arbeiteten, untrennbar mit ihrer industriellen Arbeit und der gewerkschaftlichen Mitbestimmungskultur verbunden. Für die Untersuchung des Aufruhrs in der Montanregion bildet eine differenzierte Betrachtung von Proletarität in den 1980er Jahren eine zentrale Voraussetzung. Einerseits dürfen die oftmals simplifizierenden und vor allem der Streikmobilisierung dienenden Selbstbeschreibungen als Angehörige der working class oder »Arbeiterschaft« nicht unreflektiert übernommen werden. Andererseits können sie auch nicht einfach ignoriert werden, wenn es darum gehen soll, die Bedeutung kulturell 65 Wolfgang Hindrichs u. a., Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen 2000, hier S. 7 und 29–33. 66 Josef Mooser, Abschied von der »Proletarität«. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze und M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem. Stuttgart 21985, S. 143–186. 67 Vgl. für Großbritannien: Richard Whiting, Affluence and Industrial Relations in Post-War Britain, in: Contemporary British History 22 (2008), S. 519–536; für Westdeutschland: Andreas Wirsching, Konsum statt Arbeit? Zum Wandel von Individualität in der modernen Massengesellschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. ­171–199. 68 Hindrichs u. a., Der lange Abschied, S. 95–99.

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vermittelter Selbstbilder in sozialen Konflikten zu erfassen. Schließlich entfalteten die Topoi und Stereotypen, mit denen der Nordosten und das Ruhrgebiet als Regionen der industriellen Arbeit identifiziert wurden – ganz unabhängig davon ob sie faktisch zutrafen – eine erhebliche Wirkung im Miners’ Strike und bei den Rheinhausener Protesten. Denn immer wieder wurde mit der Verteidigung der working class communities in den Zechendörfern oder im Stadtteil Rheinhausen Solidarität eingefordert. Den Montanregionen Nordostengland und Ruhrgebiet wurde also schon in der unmittelbaren Nachkriegs- und Aufbauzeit eine hohe Bedeutung für wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt zugesprochen. Steinkohle und Stahl waren nicht nur entscheidende Rohstoffe für den wirtschaftlichen Wiederaufbau; die Verstaatlichung der Schwerindustrie galt in Großbritannien auch als Gradmesser für das Durchbrechen der Klassengesellschaft und Garant für einen nachhaltigen, demokratischen und freiheitlichen Sozialismus.69 In Westdeutschland sollte der Umbau montanindustrieller Unternehmen einen Baustein in der Demokratisierung der Gesellschaft bilden. Im Kontext des postwar consensus in Großbritannien und des ›Neuanfangs‹ in Westdeutschland wurden die Montanregionen so zu kraftvollen Symbolen für weitreichende gesellschaftliche Reformhoffnungen. Die positiven Zukunftserwartungen, die auf diese Regionen projiziert wurden, vermittelten in den Nachkriegsgesellschaften Großbritanniens und Westdeutschlands gesellschaftliche Legitimität für Parteiendemokratie, eine begrenzte Marktwirtschaft und den Sozialstaat. Im Miners’ Strike und bei den Rheinhausener Protesten wurden deshalb in großem Stil Geschichtsbilder der wirtschaftlichen Not in den 1920er und 30er Jahren70 sowie Betrachtungen über vergangene Konflikte in der Arbeiterbewegung zitiert.71 Dieser populäre Geschichtsdiskurs diente in den Konflikten nicht nur dazu, Nostalgie nach einer vermeintlichen Glanzzeit der Arbeiterbewegung zu befriedigen, vielmehr wurden diese Bilder aufgerufen, um die gegenwärtigen Konflikte in einen historischen Kontext einzubeziehen und der eigenen Position dadurch politische Legitimität zu verleihen.72 Die Zukunftsentwürfe der unmittelbaren Nachkriegszeit bildeten für die sozialräumliche Ordnung der Montanregionen deshalb in 69 Richard Saville, Commanding Heights. The Nationalisation Programme, in: Jim Fyrth (Hrsg.), Labour’s High Noon. The Government and the Economy 1945–51, S. 37–60, hier S. 40. 70 Joy Copley, Fighting for their Lives, Labour Weekly 6.7.1984; Peter Dobson, Surviving the march of time, The Northern Echo 30.4.1984; O. A., The Jarrow spirit, ebd. 71 Waltraud Bierwirth, »Ich bin nicht der Arbeitsdirektor vom Bürgerkomittee«. Arbeitsdirektor Karl Meyerwisch und Viktor Agartz’ Überlegungen zur Mitbestimmung, in: Dies. / König (Hrsg.), Schmelzpunkte, S. 64–78, hier S. 73–78; David Howell, ›Where’s Ramsay McKinnock?‹. Labour Leadership and the Miners, in: Huw Beynon (Hrsg.), Digging Deeper. Issues in the Miners’ Strike, London 1985, S. 181–198, passim; Nick Thompson, Another battle, the same old war, The Northern Echo 10.4.1984. 72 Vgl. zur sogenannten »heritage debate« der britischen Linken: Peter Mandler, The English National Character. The History of an Idea from Edmund Burke to Tony Blair, New Haven and London 2006, hier S. 233 f.

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den 1980er Jahren noch immer eine wichtige Sinnressource an der Schnittstelle von Wirtschaft, Politik und kultureller Identität. Sie wirkten nicht zuletzt deshalb gesellschaftsbildend, weil sie einen Kommunikationsgegenstand bereitstellten, auf den sich in Krisenzeiten verschiedene Akteure beziehen konnten. Selbst mit dem Einsetzen diverser Industriekrisen nach dem Ende der unmittelbaren Wiederaufbauperiode blieben Vorschläge, Pläne und Hilfsmaßnahmen für die strukturschwachen Regionen überwiegend an wachstumsorientierte Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt gebunden. Rationalisierung der veralteten Bergwerke in Nordostengland oder Humanisierung der Arbeit in den Stahlwerken des Ruhrgebiets bedeutete zunächst vor allem kapitalintensivere, effektivere Produktion, nicht Schließung von Betrieben.73 Damit befanden sich die Montanregionen in den 1980er Jahren in einem eigenartigen Zeitverhältnis zur Gegenwart, das sich in lockerer Anlehnung an Reinhart Koselleck als »vergangene Zukunft« bezeichnen lässt. Sie bildeten Relikte vergangener Zukunftsentwürfe, die zwar in einem völlig anderen historischen Kontext entstanden waren, aber dennoch in Form langfristiger gesellschaftlicher Erwartungen und politischer Handlungsmuster prägend für die Bewältigungsstrategien der ­A kteure in Krisenzeiten blieben.

1.2 Planung des Raums – Modernisierung der Industrie Ein Bewusstsein für den spezifischen Charakter der Montanregionen North East und Ruhrgebiet entstand vor allem in Kontexten staatlicher und korporativer Planung für die industrielle Produktion, die Siedlungen der Industriebevölkerung und die urbane Infrastruktur der industriellen Ballungsgebiete.74 Das Wort »Ruhrgebiet« avancierte erst im Rahmen dieser planungsrechtlichen Reformen von einem Fachbegriff für das Entwässerungsgebiet des Flusses Ruhr zur alltagssprachlichen Bezeichnung für die zuvor als »Rheinisch-Westfälisches Industrie­ revier« bezeichnete Agglomeration. Die Bezeichnung North East begann erst in den 1950er Jahren den älteren Begriff »North East Coast« zu ersetzen und wurde mit dem amtlichen Plan »The North East« im Jahr 1963 zum feststehenden Begriff.75 73 Ashworth, The Nationalized Industry, S. 249–265; Hindrichs u. a., Der lange Abschied, S. 179; Lauschke, Die halbe Macht, S. 159–173. 74 Karl Rohe, Regionalkultur, regionale Identität und Regionalismus im Ruhrgebiet, in: Wolfgang Lipp (Hrsg.), Industriegesellschaft und Regionalkultur. Untersuchungen für Europa, München 1984, S. 123–154, passim; allg zu Planung: Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 305–326; Andreas Benedict, 80 Jahre im Dienst des Ruhrgebiets. Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) und Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR) im historischen Überblick 1920–2000, Essen 2000, S. 28–68. 75 Dazu ausführlich: Adrian Green / A. J. Pollard, Identifying Regions, in: Dies. (Hrsg.), Regional Identities in North-East England, 1300–2000, Woodbridge 2007, S. 1–25, hier S. 19–21.

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Im Verlauf der Nachkriegszeit gerieten zudem, statt der älteren Probleme planlos gewachsener Industriesiedlungen, immer stärker die Konsequenzen des ökonomischen Strukturwandels in den Blick der Regionalplaner: This White Paper […] presents an important new departure involving a comprehensive programme of modernisation and growth deployed and co-ordinated on a regional basis. […] the North East is not a region in decline. It is a region in transformation, with rapid progress being made in the application of advanced technologies to industrial production. […] The overriding need is to diversify the industrial structure, […] these measures need to be reinforced by positive action to improve the whole range of services which underpin the region’s economic activity and to make it demonstrably an attractive place in which to live and work.76

Mit diesem Weißbuch der britischen Regierung wurde der Name der Region durch den bestimmten Artikel und die Weglassung eines zu qualifizierenden Objekts wie »Development Corporation« substantiviert und ein umfassender Modernisierungsanspruch für die Bereiche Industrie-, Siedlungs-, Verkehrs-, Umwelt- und Bildungspolitik formuliert. Bis 1961 hatten die North East Develop­ ment Corporation und die Nachfolgeorganisation North East Industrial and Development Association den eigenen Tätigkeitsbereich stets als »Northern Region«77 oder als »North East Coast of England«78 bezeichnet, im Jahr 1961 tauchte zum ersten Mal der verkürzte Begriff »The North East«79 auf. Die Autoren des Weißbuchs von 1963 problematisierten die wirtschaftliche Struktur des Gebietes, allerdings wollten sie in deren Defiziten vor allem eine Chance für eine weitreichende Einbindung des Nordostens in eine fortschrittliche nationale Entwicklung sehen. Die politische Rhetorik in dem Dokument ist durchweg zukunftsorientiert und richtet sich explizit gegen eine decline-Diagnose. Der Plan wurde in der Regierungszeit des Premierministers Harold MacMillan (Earl of Stockton) verfasst, dessen Wahlkreis seit den 1920er Jahren in Stockton-onTees im Nordosten lag. MacMillan war daher als einziger konservativer Premierminister des 20. Jahrhunderts »dem Norden« persönlich und politisch verbunden.80 Zudem galt MacMillan als herausragender Vertreter des sogenannten one-nation-toryism, einer Spielart des britischen Konservatismus, die den Einbezug der Arbeiterschaft unter sozialstaatlichen Voraussetzungen zum politi76 The North East. A Programme for Regional Development and Growth, 1963–64, Cmnd. 2206, S. 5. 77 North East Development Association, The Northern Region August 1950, DCRO, DC / EDRU Planning Titles 1950–60. 78 North East Industrial and Development Association, The Northern Region (North East Coast of England) December 1954, ebd. 79 Inquiry into Means of Promoting Industrial Development in the North East, Published in February 1960, ebd. 80 H. C. G. Matthew, ›Macmillan, (Maurice) Harold, first earl of Stockton (1894–1986)‹, Oxford Dictionary of National Biography 2004, http://www.oxforddnb.com/view/article/ 40185, 16.04.2014.

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schen Prinzip gemacht hatte. Sein fortschrittsorientierter Politikstil ist vor allem aufgrund des Ausspruches »We never had it so good.« bekannt worden. Damit stand MacMillans Regierungshandeln nicht nur für eine inklusive Vorstellung der britischen Nation, sondern auch für ein auf die Zukunft gerichtetes Ideal konservativer Politik.81 Mit dem Weißbuch von 1963 sollte der Nordosten also – unter konservativen Vorzeichen – zur regionalen Verkörperung einer fortschrittlichen Industriegesellschaft in Großbritannien gemacht werden. Dafür wurden die vereinzelten lokalen Anstrengungen der Zwischen- und Nachkriegszeit gebündelt, wobei der Horizont der Planer auf die 1930er Jahre als Vergleichszeitraum bezogen blieb.82 Für die Bildung eines Regionalbewusstseins war vor allem die planerische Umsetzung des programme for regional development wichtig. Es diente als Grundlage für die Arbeit der lokalen Verwaltung. Die zuständigen Abteilungen der Lokalverwaltung schlossen sich zu einem sogenannten Joint Consultative Committee as to Regional Planning zusammen und mussten sich in ihren Planungsdokumenten auf die Vorgaben des White Paper beziehen.83 Das Weißbuch verknüpfte den Bau von modernen Zechen und Wohnsiedlungen mit langfristigen Plänen für Straßen und Gewerbeansiedlungen im gesamten Nordosten. Die Kohleproduktion sollte in rationalisierten Großzechen im Osten der Grafschaft Durham und im Südosten von Northumberland in sogenannten coastal pits zusammengefasst werden. Ähnliche Ideen waren schon vor dem Weißbuch in Umlauf gewesen, sie wurden aber erst dort als konkrete Handlungsanweisung für ein modernisierendes »redevelopment« bzw. eine »reconstruction« der gesamten Region, über die Grenzen der einzelne Kommunen und counties hinweg, zu einer verpflichtenden, politischen Leitlinie gemacht. Für die Umsetzung dürfte die Verknüpfung mit Fördermitteln entscheidend gewesen sein, denn die kommunalen Verwaltungen mussten, um von den Ministerien in London Geld für Restrukturierungsmaßnahmen zu erhalten, die Vorgaben des Weißbuchs erfüllen. Die Reichweite dieser Siedlungsplanung sollte keinesfalls unterschätzt werden. Praktisch alle Bergarbeiter in Durham waren persönlich davon betroffen. Entweder gehörten sie zu denjenigen, die von kleineren und älteren Zechen im Osten der Grafschaft auf größere und neuere Zechen versetzt wurden, oder sie mussten mit immer mehr 81 Vgl. Clarke, Hope and Glory, S. 248–282; Auch in den späten 1980er Jahren diente der Verweis auf MacMillan im Wahlkampf dazu, eine nordenglische Identität der Konservativen zu beschwören: Vgl. John Rennie / Terry Murden, Minister’s [Peter Walker, A. H.] tribute to Supermac [Macmillans Spitzname in der Presse, A. H.], The Northern Echo 1.6.1987. 82 The North East, Cmnd. 2206, S. 8. 83 Joint Consultative Committee as to Regional Planning, Industry, Employment and ­Population in the North East 1963–1981, Technical Sub-Committee of Planning Officers, Durham County Record Office DC / EDRU 10, Septemper 1964, S. 1; Northumberland County Council, The Reconstruction of South East Northumberland. A Review of Recent Progress and Prospects. Report of the County Planning Officer presented to the County Planning Committee March 1967, Northumberland Record Office / Woodhorn Archives, CC / TC/95, S. 4.

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Kollegen aus den stillgelegten Zechen West-Durhams zusammenarbeiten. Manche, die den Ruhestand einer Versetzung vorzogen, blieben in Dörfern wohnen, die laut offizieller Planungspolitik keine Zukunft mehr haben sollten und deren Infrastruktur daher nicht mehr erneuert wurde, sogenannte »D-villages«.84 Die planerische ›Erfindung‹ des Nordostens als moderne Industrieregion blieb nicht auf die Grafschaft Durham und den Steinkohleabbau begrenzt. Auch die stärker urbanisierten Bezirke der Region, wie die vier Städte Newcastle, Gateshead, North Shields und South Shields, die zumeist gemeinsam als »Tyneside« bezeichnet werden, und das an der Mündung des Wear gelegene Sunderland, wurden industriell und städtebaulich umgestaltet.85 Hier waren die Probleme anders gelagert als in den ausschließlich von Kohleabbau geprägten Gebieten Durhams und Northumberlands. Es ging in den urbanen Problemzonen des Nordostens stärker um Infrastrukturprobleme und Fragen der Ausbildung als um den langfristigen Rückbau schwerindustrieller Produktion. Ähnlich wie in anderen peripheren Regionen des Vereinigten Königreichs, etwa Belfast oder Glasgow, geriet der Schiffsbau seit Mitte der 1960er Jahre in eine schwere Krise. Doch ließen sich die beruflichen Qualifikationen vieler Werftarbeiter etwas besser an die Erfordernisse der Leichtindustrie anpassen und die Tertiarisierung der Wirtschaft bot gerade Frauen neue Arbeitsplätze. Trotz aller nötigen Differenzierungen brachte die modernisierende Strukturpolitik im Nordosten insgesamt einen relativ einheitlichen Politikstil und einen ganz bestimmten Typus des Politikers hervor.86 Nationale Bekanntheit erlangte vor allem T. Dan Smith, der als voice of the North aus der Labour-Party die Interessen der Region gegenüber Westminster vertrat. Der Sohn eines Bergmanns aus Durham war erst Kleinunternehmer in Newcastle und füllte dann fünf Jahre lang die Position des leader of the city council, vergleichbar einem deutschen Oberstadtdirektor, seiner Wahlheimat aus. Danach wurde Smith Vorsitzender der Peterlee New Town Development Corporation und des Northern Economic Planning Council, er bestimmte also gleichzeitig auf mehreren Ebenen über die regionale und lokale Politik. 1974 wurde Smith wegen Korruption zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weshalb sein Name seitdem nicht nur für umfassende Planungspolitik, sondern auch für den Amtsmissbrauch von Lokalpolitikern steht.87 Smith orientierte seine Politik stets an Vorgaben einer 84 Gary Pattison, Planning for Decline. The Category D Village Policy of County Durham, UK , in: Planning Perspectives 19 (2004), S. 311–332. 85 David Byrne, The Reconstruction of Newcastle. Planning since 1945, in: Robert Colls / Bill Lancaster (Hrsg.), Newcastle upon Tyne. A Modern History, Chichester 2001, S. 341–360, passim; Fred Robinson, Industrial Structure, in: Ders. (Hrsg.), Post-Industrial Tyneside. An Economic and Social Survey of Tyneside in the 1980s, Newcastle upon Tyne 1988, S. 12–61, hier S. 46–57; Vall, The Emergence, S. 57. 86 David Byrne, Local Government in the North-East in the Post-War Years. The Politics of the Local Versus the Politics of Politics, in: North East History 40 (2009), S. 58–77, passim. 87 Vgl. Chris Foote Wood, T. Dan Smith. »Voice of the North«. Downfall of a Visionary, Durham 2010.

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wissenschaftlichen Stadt-, Regional- und Wirtschaftsplanung und instutionalisierte diesen technokratischen Politikstil innerhalb der lokalen Verwaltung in Form einer Planungsabteilung (planning department). T. Dan Smith ist nur das prominenteste Beispiel für Lokalpolitiker der Labour Party, die in zahlreichen Gremien mit der Umsetzung von Entwicklungsplänen betraut waren und die – anders als Smith selbst – häufig der Gewerkschaftsbewegung entstammten.88 Für die neue Generation linker Aktivisten aus dem Umfeld der Universitäten in Newcastle und Durham, die vor und nach dem Miners’ Strike an der Konstruktion eines ›kritischen‹ Regionalbewusstseins arbeiteten, war Smith zeitweise eine regelrechte Hassfigur, »a liberal, authoritarian moderniser«89, auch wenn dieselben Autoren später in der Lage waren, die Ambivalenz der modernisierenden Planungsbürokratie anzuerkennen: »What drove him [T. Dan Smith] was a sense of ›vision‹ – vision not so much of social justice as of the ›new‹ as ›good‹.«90 Im Vergleich mit dem Ruhrgebiet fällt auf, dass die modernisierende Siedlungspolitik in beiden Montanregionen etwa zur gleichen Zeit in eine Krise geriet. Seit der Mitte der 1970er Jahre gelangten Skandale wie die Korruption in der Stadtverwaltung von Newcastle und die Misswirtschaft bei der Neuen Heimat an die Öffentlichkeit,91 auch formierte sich jetzt in den schwerindustriellen Ballungszentren immer häufiger lokaler Widerstand gegen Planungsvorhaben.92 Solche Kritik an den ambivalenten Folgen der regionalen Modernisierungspolitik wurde häufig von linken Akademikern formuliert. Im Ruhrgebiet ist der Architekt Roland Günter bekannt geworden, der als »kritischer Denkmalpfleger« eine umfangreiche publizistische Tätigkeit entfaltete, eine Bürgerinitiative für die Erhaltung der Siedlung in Oberhausen Eisenheim gründete und dafür mit seiner Familie sogar in ein Siedlungshaus zog, das er bis heute bewohnt.93 Im County Durham sammelte ein Autorenkollektiv um den Soziologen Huw Beynon am Ende der 1970er Jahre Eindrücke zu den ambivalenten Folgen der Regionalplanung. In den im Protokollstil verfassten Beiträgen von ›einfachen Leuten‹ mischte sich Bedauern über die Zechenschließungen der 1960er Jahre mit Wertschätzung für die neuen Möglichkeiten, die sich daraus ergaben: 88 Ein anderes prominentes Beispiel ist Sam Watson, der von 1947 bis 1963 Generalsekretär der NUM Durham Area war und als »Mr. County Durham« bezeichnet wurde, vgl.: Beynon / Austrin, Sam Watson, S. 6 ff. und 11 ff. 89 David Byrne, The Disastrous Impact of a Liberal, Authoritarian Moderniser, in: North East Labour History 28 (1994), S. 19–26, passim. 90 Byrne, The Reconstruction of Newcastle, S. 350. 91 Peter Kramper, Das Ende der Gemeinwirtschaft. Krisen und Skandale gewerkschaftseigener Unternehmen in den 1980er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 111–138. 92 Vgl. als Beispiel für das Ruhrgebiet: Anwohner der Dunkelschlagsiedlung Dammstraße und Zechenstraße (Oberhausen) an den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Herrn Johannes Rau, vom 20.9.1985, Archiv für soziale Bewegungen Bochum, IGBE Archiv Nr. 857, zitiert nach: Tenfelde / Urban, Das Ruhrgebiet, Bd. 2, S. 827 f. 93 Vgl. Roland Günter, Zu einer Theorie der Geschichtlichkeit sozialgeschichtlicher Bau­ dokumente, insbesondere der Arbeitersiedlungen, Kritische Berichte. Mitteilungsorgan des Ulmer Vereins Verband [sic] für Kunst- und Kulturwissenschaften 4 (1976), S. 15–19.

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Looking back, I don’t think we fought hard enough to stop the closures. […] I think we were conned a bit by Sam Watson [Generalsekretär der NUM Durham Area in den 1960er Jahren, A. H.] and the union. […] We’d been miners all our lives, and we’d run away with the idea that we were only good enough for one thing and that was digging coal, nothing else. […] So in a way the closures were one of the best things that’s ever happened to the miners.94

Im Ruhrgebiet wurden zukunftsorientierte Leitlinien für die Regionalplanung 1968 im »Entwicklungsprogramm Ruhr« der Landesregierung von NordrheinWestfalen formuliert. Ähnlich wie im Weißbuch der britischen Regierung sollten wirtschaftlicher, technischer und sozialer Fortschritt ein Mittel gegen den Niedergang der alten Industrien bilden. Die Autoren begründeten die Notwendigkeit einer kohärenten Strukturpolitik mit weitreichenden, allgemeinpolitischen Zielen: Freie Entfaltung der Persönlichkeit und soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sind oberste Ziele staatlicher Tätigkeit. Sie können nur erreicht werden, wenn wirtschaftliches Wachstum und damit die stetige Mehrung des materiellen Wohlstandes für jedermann langfristig gesichert sind. In einigen Teilen Nordrhein-Westfalens ist dieses Ziel durch die Entwicklung in der Kohle-, Stahl- und Textilindustrie gefährdet. Es muß daher durch öffentliche Förderungsmaßnahmen eine strukturelle Anpassung in den von diesen Wirtschaftszweigen geprägten Landesteilen erleichtert werden.95

Im Entwicklungsprogramm Ruhr wurde die praktische Bewältigung von Problemen mit sehr grundsätzlichen Auffassungen von politischer Legitimität verknüpft. Die planerische Bewältigung des »Strukturwandels« stand damit im Zentrum eines politischen Handelns, das durch einen umfassenden Moder­ nisierungsanspruch für die Region gekennzeichnet war. Diese Orientierung auf die Zukunft durch Planung rechtfertigte nicht nur einzelne politische Maßnahmen, sondern verankerte diese in einem Ordnungsdenken, das über parteipolitische Orientierungen hinausreichte.96 Die Ordnung der Montanregion war also durch den Strukturwandel keineswegs bedroht, vielmehr erzeugte die Berufung auf die aktuellen und bevorstehenden Veränderungen erst die notwendige Legitimität für konkretes politisches Handeln in der von steter Veränderung geprägten regionalen Industriegesellschaft. 94 Ron Rooney, Changing Times, in: Strong Words Collective u. a. (Hrsg.), But the World Goes on the Same. Changing Time in Durham Pit Villages, Whitley Bay 1979, S. 36–41, hier S. 38. 95 Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Entwicklungsprogramm Ruhr 1968–1973, Düsseldorf 1968, S.  11, http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/ finde/langDatensatz.php?urlID =4295&url_tabelle= tab_literatur, Zugriff 18.03.2014. Die »Textilindustrie« spielte in einigen Städten des südlichen Ruhrgebiets wie Wattenscheid oder Kettwig eine große wirtschaftliche Rolle. 96 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung jenseits der politischen Systeme. Planung im 20. Jahrhundert, Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 398–406, hier S. 402 f.

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So wurde die Notwendigkeit einer Strukturpolitik für das Ruhrgebiet in dem Programm der Landesregierung von 1968 nicht nur theoretisch begründet, die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten wurden auch historisch und moralisch in einen umfassenden Kontext gesellschaftlicher Modernisierung eingebettet: Eine vorübergehende Vorrangstellung des Ruhrgebiets ist gerechtfertigt, da dieses Gebiet nach wie vor das industrielle Herzstück Nordrhein-Westfalens und das bedeutendste Industriegebiet der Bundesrepublik ist. Die Lösung seiner Struktur- und Wachstumsprobleme ist von entscheidender gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Zu der vom Ruhrgebiet erwarteten Hilfe verpflichten auch die Leistungen, die dieser Raum mit seinen Menschen und Produktionsstätten in der Vergangenheit für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und für die technische und industriewirtschaftliche Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft erbracht hat.97

Die Landesregierung formulierte damit kategorisch ein Selbstverständnis von Nordrhein-Westfalen als »Industrieland«, das in besonderer Weise den Charakter der westdeutschen Gesellschaft als »Industriegesellschaft« verkörperte. Dieser moralisch aufgeladene Geschichtsmythos verlieh dem staatlichen Handeln im Strukturwandel Legitimität, indem er die bereits vorhandenen Elemente eines Regionalbewusstseins an die aktuelle Lage anpasste. Die 1966 ins Amt gekommene Regierung Kühn hatte aufgrund ihrer eigenen Reformversprechen, der erstmals in der Nachkriegszeit schlechter laufenden Gesamtkonjunktur und einer erneuten »Kohlekrise« im Ruhrgebiet einen erhöhten Legitimationsbedarf.98 Zudem wollte die erste sozialdemokratisch geführte Landesregierung in den späten 1960er Jahren ein reformorientiertes Bild von den historischen Kompromissen vermitteln, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine politische und soziale Befriedung der westdeutschen Gesellschaft ermöglicht hatten.99 Die Kompromisse bei der Montanmitbestimmung sollten als taugliche Grundlage für eine Reformpolitik der SPD dargestellt werden. So wurde der modernisierende industrielle »Strukturwandel« im Ruhrgebiet auch zu einer Chiffre für inneren Frieden und soziale Sicherheit in der jungen Bundesrepublik. Der von der Regierung Kühn angenommene Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum, dem Ansehen der Region und einer friedlichen gesellschaftlichen Ordnung bildet den Ansatzpunkt für die letzte Maßnahme im Katalog des Entwicklungsprogramms, der Verbesserung des regionalen Images,100 das besonders unter der Darstellung der Krisen und Konflikte gelitten habe: 97 Entwicklungsprogramm Ruhr, S. 13. 98 Vgl. Brunn / Reulecke, Kleine Geschichte, S. 155–165. 99 Vgl. Lutz Niethammer, Einleitung, hier S. 8–10; Müller-List, Montanmitbestimmung, S. XXXV–XXXVII . 100 Daniela Fleiß, Auf dem Weg zum »starken Stück Deutschland«. Image- und Identitätsbildung im Ruhrgebiet in Zeiten von Kohle- und Stahlkrise, Duisburg 2010, hier S. 17–20.

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Information und Aufklärung über das Ruhrgebiet […] Durch die starke Publizität, die die Kohlenkrise und die damit zusammenhängenden Auseinandersetzungen erhalten haben, ist […] der Eindruck entstanden, als sei Nordrhein-Westfalen und insbesondere das Ruhrgebiet ein »krisengeschüttelter Unruheherd«. Dieses negative »Image« bringt für die Industrieansiedlung eine merkbare psychologische Belastung mit sich.101

Das Ruhrgebiet durfte kein »krisengeschüttelter Unruheherd« sein, weil eine permanente Krise schädlich für die gesamte politische Ordnung NordrheinWestfalens gewesen wäre. Dem regionalen Image wurde so eine politische Dimension zugeschrieben, die in jeder Hinsicht den legitimierenden Parametern des westdeutschen Nachkriegsstaates, Wachstum, sozialer Friede und politische Ruhe, verpflichtet war.102 Das Programm für das Ruhrgebiet gehörte zu einem Bündel politischer Reformen, mit denen die neue Landesregierung in Nordrhein-Westfalen die Verwaltungsstruktur des Landes vereinfachen wollte, um sich selbst mehr Macht zu sichern.103 Im Ruhrgebiet kam es zur Eingemeindung von kreisfreien Städten in größere Städte oder Verbundgemeinden; so gelangte unter anderem Rheinhausen zu Duisburg. Gleichzeitig zog das Land die Zuständigkeit für viele überkommunale Aufgaben, z. B. in den Bereichen Planung und Versorgung, die bis Mitte der 1970er Jahre auf Verbandsebene zwischen den Kommunen geregelt worden waren, in den eigenen Kompetenzbereich. Unter anderem verlor der Kommunalverband Ruhrgebiet, der Nachfolger des in den 1920er Jahren gegründeten Siedlungsverbands Ruhr­kohlenbezirk, seine Planungshoheit. Einerseits hatte der Machtantritt der SPD die Landespolitik unter einen gewissen Zugzwang gesetzt, versprochene Reformen durchzuführen. Andererseits war es gerade im Ruhrgebiet nicht leicht, Akzeptanz für diese Maßnahmen zu erlangen.104 Es bildete sich eine starke Bürger­bewegung gegen die Eingemeindungen heraus, die als Widerstand gegen modernisierende Planung eine Art Vorläufer der Proteste gegen Betriebsschließungen in den 1980er Jahren war. Der Verein »Aktion Bürgerwille e. V.«

101 Entwicklungsprogramm Ruhr, S. 71. 102 Vgl. Dieses Paradigma der sozialstaatlichen Modernisierung der regionalen Gesellschaft bestimmt weiterhin einen Teil der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Ruhrgebiet, vgl: Jörg Bogumil u. a., Viel erreicht – wenig gewonnen. Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet, Essen 2012, insbesondere S. 34–37. 103 Brunn / Reulecke, Kleine Geschichte, 165–176, 197–206; Dietmar Petzina, Krise und Aufbruch. Wirtschaft und Staat im Jahrzehnt der Reformen 1965–1975, in: Stefan Goch (Hrsg.), Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, Münster 2004, S. 105–135. 104 Sabine Mecking, Bürgerwille und Gebietsreform. Demokratieentwicklung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen, München 2012; Dies., Neues Bürgerbewusstsein im Bürgerstaat? Staatliche Planung und bürgerschaftlicher Eigensinn am Beispiel von Nordrhein-Westfalen, in: Dies. (Hrsg.), Zwischen Effizienz und Legitimität. Kommunale Gebiets- und Funktionalreformen in der Bundesrepublik Deutschland in historischer und aktueller Perspektive, Paderborn 2009, S. 65–90.

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organisierte unter der Führung des sozialdemokratischen Unternehmers Klaus Steilmann das erste Volksbegehren der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen, das sich erfolglos gegen die Gebietsreform richtete. Rheinhausens Nachbargemeinde Moers konnte die Eingemeindung nach Duisburg durch den weniger spektakulären Widerstand der lokalen Politik erfolgreich abwenden. Die kommunale Gebietsreform bot in den 1970er Jahren also einen Rahmen, in dem zum ersten Mal während der Nachkriegszeit lokaler Widerstand gegen modernisierende Planungsvorhaben entstand, auch wenn sich daraus außerhalb von einzelnen Zentren wie Kettwig und Wattenscheid keine dauerhafte und breite Protestbewegung entwickelte. Der sozialdemokratische Charakter der regionalen politischen Kultur wurde von der beginnenden Modernisierungskritik kaum berührt. Am Ende der 1970er Jahre herrschte gerade in der sozialdemokratischen Funktionärselite des Ruhrgebiets nach wie vor ein völlig ungebrochenes Verhältnis zu Stadtplanung im Zeichen modernisierender Fortschrittspolitik vor, wie z. B. ein Zitat aus einem Gedenkbuch der SPD in Mülheim an der Ruhr zeigt: »Beim Mülheim-Plan wird deutlich, in welchem Ausmaß Parteigeschichte und Stadtgeschichte identisch sind.«105 In Sinne dieser »Identität« wurde der umfassende Gestaltungsanspruch der SPD -geführten Landesregierung unter dem neuen Ministerpräsidenten Johannes Rau 1979 mit dem »Aktionsprogramm Ruhr« bekräftigt. Hier wurde der gegenwärtige Modernisierungsbedarf erneut mit der schwerindustriellen Vergangenheit der Region begründet und auf politische Stabilität in der Gegenwart bezogen: Das Ruhrgebiet ist der größte und einer der ältesten Industrieräume Europas. […] Die Entwicklungsschwierigkeiten des Reviers wirken weit über die Region hinaus auf die Beschäftigungssituation, auf die wirtschaftliche Lage, auf das soziale Klima und auf die politische Stabilität des Landes und des Bundes. […] Das Zusammenwirken von technischem Fortschritt und lebenswerter Umwelt wird die Zukunft des Ruhrgebiets bestimmen.106

Auch in Großbritannien wurden in den 1970er Jahren weiterhin zukunftsorientierte Entwürfe für eine regionale Industriepolitik propagiert, allerdings rückte im Weißbuch The Regeneration of Industry, das die neue Labour-Regierung als Einlösung von Wahlversprechen verstanden wissen wollte, noch stärker als in den 1960er Jahren ein Narrativ des national decline in den Vordergrund: Since the war we have not as a nation been able – for a variety of reasons, social, economic and industrial – fully to harness the resources of skill and ability we should be 105 O. A., Mülheim-Plan und Fortschreibungen, in: Willi Müller (Hrsg.), Demokratie vor Ort. Ein Lesebuch zur Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Mülheim an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr 1979, S. 390–403, hier S. 390. 106 Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Politik für das Ruhrgebiet. Das Aktionsprogramm, Düsseldorf 1979, S.  9–11, http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/txt/normal/ txt239.pdf, 18.03.2014.

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able to command […] Planning Agreements will bring about a closer understanding between companies – workforce as well as management – and the Government. […] they will also provide a securer and more coherent basis than has existed in the past for ensuring that Government financial assistance is deployed where it will be most effectively used.107

Diese Niedergangserzählung bot auch in den 1980er Jahren noch eine Grundlage für einen parteienübergreifenden Konsens darüber, dass regionale Strukturpolitik vor allem auf eine bessere Zukunft hin orientiert sein müsse. Bei den Unterhauswahlen von 1983 waren im Nordosten in einigen Wahlkreisen, die vorher jahrzehntelang nur Labour-Abgeordnete nach London entsendet hatten, Tories gewählt worden. Einer dieser Abgeordneten, Michael Fallon, war ein junger Thatcher-Anhänger, der sich als Repräsentant eines nicht-sozialdemokratischen Regionalbewusstseins verstand. Dementsprechend entwarf Fallon während des Miners’ Strike ein Gegenbild der Region, das er mit einem Rezept für die wirtschaftliche und kulturelle Erneuerung des Nordostens jenseits staatlicher Planung verband: I see three great priorities. One, more new technology. People caught up in this horrific industrial change need a fairer share in the future. […] Second, money for new businesses. […] A Northern Venture Agency run, not by Government, but by the people who know best – accountants, bankers and businessmen. Third, an end to parochial pessimism. I see the North-East as England’s last frontier – a region with space, good communications, easy access to EEC markets and some of the loveliest countryside I know. On TV every pit strike, every shipyard dispute loses us all votes – the votes of businessmen.108

Fallons Beitrag stellt zwar ein genuin marktliberales Rezept für den regionalen Strukturwandel vor, bleibt aber dennoch von einem grundlegenden Gestaltungsoptimismus geprägt. Fallon sieht in privaten Unternehmern die einzigen Akteure, die einen positiven wirtschaftlichen Wandel vollbringen können. Sogar die Regionalplanung möchte Fallon einer »Venture Agency« übergeben, denn die dominanten politischen Kräfte, Gewerkschaften und Labour Party, vertreten in seiner Darstellung einen engstirnigen, lokalen Pessimismus. Der Titel von Michael Fallons Zeitungsbeitrag, »Region need the Keegan quality«, bezieht sich daher bewusst auf einen Athleten, den Fußballstar Kevin Keegan, der mit seiner individuellen Leistung stellvertretend für das Leistungsvermögen des Einzelnen und seine individuelle Willenskraft steht. Auch wenn mit solchen konservativen Gegenentwürfen ein größerer Pluralismus in den regionalpolitischen Diskurs

107 The Regeneration of Industry, Department of Industry 1974 Cmnd. 5710, S. 1–2. 108 Michael Fallon, Region needs the Keegan quality, The Northern Echo 11.06.1984. Der Titel bezieht sich auf den Fußballer Kevin Keegan, der in Deutschland als Spieler des HSV berühmt ist. Keegan spielte von 1982 bis 1984 für Newcastle United F. C.

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einzog, blieb das Ordnungsmuster »Zukunftsorientierung« bestehen; in gewisser Weise verstärkte es sich sogar durch den unbedingten Glauben an die freien Kräfte des Marktes, die sich freilich zuerst in einer Entmachtung der Labourdominierten Lokalverwaltung durch den Zentralstaat und seine »Agenturen« zeigen sollte. Fallons Äußerungen stehen im Kontext einer regelrechten Neuordnung des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie im Großbritannien der Thatcher-Jahre109, die untrennbar mit der Industrie- und Stadtpolitik der Thatcher-Regierungen verbunden war.110 Die Northern Venture Agency sollte eine ­development corporation thatcheristischer Prägung sein, die an Stelle der lokalen Stadtverwaltungen und älteren Körperschaften, wie den New Town ­Development Corporations, die Planungshoheit ausübte. Sie kam zwar nie zustande, aber 1987, im Jahr nach der Auflösung des gewählten Tyne and Wear County Council durch die Regierung in London, wurde zumindest in Newcastle die Tyne and Wear ­(Urban) Development Corporation gegründet.111 In den Gebieten der durchgehend bestehenden county councils in Durham und Northumberland wurden hingegen keine development corporations eingerichtet. Michael F ­ allons thatcheristischer Gegenentwurf trat in eine Lücke, die vom vermeintlichen oder tatsächlichen Scheitern korporatistischer Regionalplanung hinterlassen worden war. Der Mechanismus zukunftsorientierten staatlichen Handelns für die regionale Ebene blieb aber nicht nur gewahrt, Fallon zufolge wurde der Nordosten sogar zur last frontier, einem unbegrenzten Möglichkeitsraum für die Erschaffung einer neuen, besseren Gesellschaft des freien Unternehmertums. Aber diejenigen, die noch nach Subventionen fragten oder gar streikten, gehörten in dieser Vision zu einer primitiven Vergangenheit, die abgeräumt werden musste. Die zukunftsorientierte Stoßrichtung der regionalen Planungspolitik zeigte sich zu Beginn des Miners’ Strike, als der japanische Autokonzern Nissan Ende März 1984 seine Pläne mitteilte, ein neues Werk in Washington, im schwer von der Zechen- und Werftenkrise gebeutelten Bezirk Sunderland, zu errichten.112 Die Berichte über Nissans Entscheidung für Sunderland verdrängten den Streik im wörtlichen Sinne aus den Schlagzeilen des Northern Echo. Die Ansiedlung von Nissan nahm auf der Titelseite der Nachmittagsausgabe des Echo am 30. März 1984 genau den Platz ein, den am Vormittag die Meldungen vom Streik gefüllt hatten: Nissan picks Washington! Washington emerged last night as victor in the battle for the car plant to be set up by Japanese giant Nissan. […] Initially, Nissan will invest £50m in

109 Martin Loughlin, The Demise of Local Government, in: Vernon Bogdanor (Hrsg.), The British Constitution in the Twentieth Century, Oxford u. a. 2003, S. 521–556, insbesondere S. 540–550; Jenkins, Thatcher and Sons, S. 76–83. 110 Wood, Regionalentwicklung, passim; Ders. Die Umstrukturierung, S. 244–251. 111 Byrne, The Reconstruction of Newcastle, S. 351. 112 O. A., Nissan Picks Washington!, The Northern Echo, Friday 30.3.1984; o. A., Land of eastern promise, Northern Echo, Saturday, 31.3.1984.

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an assembly plant producing 24,000 cars a year and employing about 500 people. But in a second phase, production could reach more than 100,000 cars a year – boosting employment by more than 2,000 jobs.113

Die Journalisten der Zeitung stellten die Entscheidung von Nissan für den Standort im Nordosten als positives Zeichen für die Zukunft der gesamten Region dar. Dazu dienten vor allem die Informationen über den möglichen Ausbau der geplanten Fabrik. Daneben betonten die Reporter, dass Politiker der beiden großen Parteien aus der Region sich in Westminster für Sunderland eingesetzt hätten: But Harry Cowans, secretary of the Northern group of Labour MPs said last night: »We will keep our fingers crossed that the arguments will prevail.« It was taken as significant that Langbaurgh Tory Richard Holt has put forward a Commons question asking Industry Secretary Norman Tebbit if Nissan has decided on a site.114

Dass Vertreter beider Parteien sich an der »Schlacht« um die Autofabrik beteiligt hatten, war den Journalisten der Regionalzeitung nicht nur aus Proporzgründen wichtig, sondern auch, weil der zukünftige Ausbau der Produktion wiederum von gedeihlichen industriellen Beziehungen abhängen sollte: »The project could attract Government grants of up to £112m. The initial plant will be a pilot project testing Britain’s industrial relations before a final decision is made on building a full scale factory.«115 Der Zusammenhang zwischen guten Arbeitsbeziehungen und der Investition des »japanischen Riesen« verband die Region mit dem industriellen Schicksal der gesamten Nation, denn die Zulieferindustrie im Land würde einerseits profitieren, müsste andererseits aber in der Lage sein, die technisch fortschrittliche japanische Produktionskette zu beliefern: »This would provide  a major challenge to Britain’s component industry to meet the tough demands laid down by Nissan to supply parts […].«116 Ganz im Sinne der Beschreibung des Nordostens als last frontier für individuelles Unternehmertum reagierte Michael Fallon: »It is a marvellous tonic for the North-East, not just for immediate jobs it will create but for the future. It shows that the North-East is not a forgotten corner of England.«117 Die Berichterstattung zur Nissan-Investition liest sich tatsächlich wie ein Antidot zu den Berichten über den Miners’ Strike, da friedliche industrielle Beziehungen in der neuen Fabrik nicht nur den Nordosten, sondern das ganze Land als guten Investitionsstandort empfehlen sollten. Deshalb warnte das Northern Echo auch vor Konflikten, die sich aus militanten Positionen der regionalen Arbeiterschaft ergeben könnten:

113 Ebd. 114 O. A., Is today the day for Nissan?, The Northern Echo, 30.3.1984. 115 Ebd. 116 O. A., Nissan picks Washington!, The Northern Echo, 30.3.1984. 117 Ebd.

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WANTED: Workers who don’t regard the shop floor as a battleground and are eager to

become part of a world-wide family – Nissan. The working practises [sic] and labour relations at Nissan’s Washington plant will mark  a startling departure for its 500 North-East workers. […] One shock might be the extent of union influence. When Nissan union leader Ichiro Shioji made a speech last year extolling productivity all 74,000 workers at Nissan’s Japanese plants were obliged to listen to a recording. But in Japan, unions are virtually a tool of management, committed to ensuring compliance with company policy.118

Der Titel des Artikels »We have ways of making you work« spielt auf das populärkulturelle Zitat »We have ways of making you talk« an.119 Diesen Satz verwendeten Nazi-Schergen in britischen Kriegsfilmen angeblich gegenüber gefangenen alliierten Soldaten, um ihnen Folter anzudrohen. Die Arbeiter des Nordostens wurden so als Vertreter einer zweifelhaften britischen Arbeitsmoral dem ehemaligen Kriegsgegner Japan gegenübergestellt.120 Die Ansiedlung der Zukunftsindustrie Autobau aus Japan, das in den 1980er Jahren als Synonym für wirtschaftlichen Erfolg galt, diente aber nicht nur konser­vativen Vertretern der Region und der Regionalpresse als Anlass, über den Charakter der schwerindustriellen Region North East nachzudenken. Jenseits der alten Industrien bemühten sich auch gewerkschaftliche Akteure nach Kräften darum, bei der Planung der neuen Großfabrik für ein möglichst konfliktfreies Umfeld zu sorgen. So beriet das Joint Industry Board for the Electrical Contracting Industry Anfang 1985 die Vertreter der Baufirma Sir Robert MacAlpine & Son Ltd. und betonte bei den strittigen Punkten Entlohnung und Zahl der Beschäftigten trotz erheblicher Meinungsunterschiede stets die Bedeutung des Fabrikneubaus für die Region121: It was and is felt that the importance of the Nissan Project to the North East of England is of sufficient significance to warrant every effort being made to minimise or eliminate industrial relations problems and disruptions to programme and completion of the first phase of the project.122 118 O. A., The company with ways of making you work, Northern Echo, 31.3.1984. 119 Es handelt sich um ein Pseudo-Zitat mit kulturellem Eigenleben. Es gibt keinen Film, in dem es tatsächlich vorkommt, aber es wird in Großbritannien bis heute gerne benutzt und variiert. 120 Vgl. Mandler, The English, hier S. 200–203. 121 The Joint Industry Board for the Electrical Contracting Industry North East Regional Joint Industry Board, Minutes of the Fifty-Ninth Meeting of the North East Regional Joint Industry Board held at Lumley Castle Hotel, Chester-le-Street, Co. Durham, on Tuesday, 22nd January, 1985, S. 7–10. The Modern Records Centre, University of Warwick, Coventry, 794/9/4 North Eastern Joint Industry Board for the Electric Contracting Industry, Minutes and papers (1968–2000). 122 A. Gupwell to B. Kelly, 24.01.1985, The Modern Records Centre, University of Warwick, Coventry, 794/9/4 North Eastern Joint Industry Board for the Electric Contracting Industry, Minutes and papers (1968–2000).

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

Im Fall von Nissan führte das gewerkschaftliche Co-Management zur kooperativen Aushandlung von Löhnen zwischen der Gewerkschaftskammer (contracting board)  und dem Generalunternehmer. Die populistische These von konservativen Politikern wie Michael Fallon, dass gewerkschaftlicher Einfluss unternehmerisches Handeln hemme, wird also durch das Beispiel der NissanAnsiedlung nicht bestätigt. Vielmehr wirkten staatliche, gewerkschaftliche und unternehmerische Akteure hier gemeinsam an der Erhaltung der industriellen Basis der Region. Diese Art der Zusammenarbeit folgte tendenziell eher dem korporatistischen Modell einer Regional Industrial Executive, wie sie vom Northern T. U. C. angedacht wurde, und weniger dem einer Northern Venture Agency, das Fallon vorschwebte. An der Entscheidung über die Nissan-Ansiedlung im Nordosten während des Miners’ Strike werden Signaturen der industriepolitischen Ordnung der Region jenseits des Konfliktes zwischen NUM und NCB und Regierung deutlich. Unter bestimmten Voraussetzungen konnten politische, gewerkschaftliche und unternehmerische Akteure im Nordosten auch in den 1980er Jahren weiterhin gut kooperieren. Arbeitskonflikte wie der Miners’ Strike lassen sich also nicht dadurch erklären, dass einzelne Aspekte dieses Konflikts zu allgemeinen Merkmalen der regionalen politischen oder industriellen Kultur gemacht werden. Nicht grundsätzlich gestörte, sondern relativ funktionale und institutionell fest verankerte Mechanismen der Mitbestimmung bildeten eine entscheidende Vorbedingung für den Protest und den daraus resultierenden »Aufruhr«. Die sozialräumliche Ordnung der Montanregionen North East England und des Ruhrgebiets war vom Leitbild eines umfassenden sozialen Fortschritts geprägt. Regionalpolitisches Handeln blieb deshalb während der gesamten Nachkriegszeit mit grundlegenden Fragen von wirtschaftlicher Entwicklung, staatlicher Legitimität und historisch begründeter, gesellschaftlicher Solidarität aufgeladen. Diese Vorstellungen fanden ihren Niederschlag zuerst in der Verstaatlichung und Einrichtung gewerkschaftlicher Mitbestimmung als Montanmitbestimmung bzw. consultation während der unmittelbaren Nachkriegszeit. Seit den 1960er Jahren nahm dieses Fortschrittsideal eine konkretere Form an: Industrielle Modernisierung und Raumplanung bestimmten nun das politische Handeln auf allen Ebenen  – lokal, regional und überregional. Obwohl oder vielmehr gerade weil die weitreichenden Fortschrittsversprechen nie eintrafen, konnten sie relativ beliebig zur Legitimierung aller möglichen Maßnahmen in verschiedenen Politikbereichen von der industriellen Produktion über die Errichtung von Siedlungen bis hinein in den Bildungssektor genutzt werden, solange diese auf eine bessere Zukunft hin orientiert waren. Die Bewältigungsmodi der späten 1960er Jahre sollten bis in die 1980er Jahre hinein relativ stabil bleiben, vor allem die tripartistische Kooperation zwischen Staat, Unternehmen und Gewerkschaften wurde im industriellen Strukturwandel schnell zu einem festen Bestandteil der regionalen Ordnung. Ein Niederschlag von planungskritischen Debatten linker oder rechter Provenienz, wie etwa der deutschen Diskussion über Unregierbarkeit, lässt sich auf der regionalen Ebene hingegen nicht

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nachweisen.123 Planung und Zukunftsoptimismus blieben auf der regionalen Ebene die herausragenden Kennzeichnen staatlichen Handelns.

1.3 Routinekonflikte als integrierendes Element der sozialräumlichen Ordnung Den staatlichen Reformen der 1960er und 1970er Jahre standen wiederkehrende Krisen der Montanindustrien Kohle und Stahl gegenüber, die ebenfalls in ein Umfeld betrieblichen Wandels eingebunden waren. 1966 schloss die National Union of Mineworkers mit dem National Coal Board das sogenannte National Power Loading Agreement ab, zum ersten Mal in der Geschichte wurden jetzt fast alle britischen Bergarbeiter nach landesweit vergleichbaren Stundenlöhnen bezahlt. Doch schon 1969 kam es in vielen Kohlerevieren zu lokalen Streiks auf einzelnen Zechen, die sich gegen die Veränderung von Arbeitspraktiken infolge der vollmechanisierten Förderung und gegen weitere Stilllegungen richteten.124 Die nunmehr landesweit einheitliche Lohnstruktur führte zu den landesweiten Bergarbeiterstreiks von 1972 und 1974. Mit diesen Streiks sorgte die NUM zudem dafür, dass die von der konservativen Regierung Heath angestrebte zurückhaltende Lohnpolitik aufgegeben werden musste. Zugleich führte die Ölkrise zu einer Rückbesinnung auf Steinkohle als heimischen Energieträger. Die neue Labour-Regierung von Jim Callaghan vereinbarte deshalb 1976 mit den Gewerkschaften und dem NCB den sogenannten Plan for Coal, der einen massiven Ausbau der Kohleförderung vorsah. In den Bergarbeiterstreiks von 1972 und 1974 spitzte sich der Diskurs über eine regionale Strukturkrise im Nordosten zwar weiter zu, aber die Diskussionen über die wirtschaftliche Zukunft der Region wurden weiterhin innerhalb der Parameter eines staatlich gesteuerten, modernisierenden Strukturwandels geführt. Die Streiks der 1970er Jahre entwickelten sich daher nicht zu Fundamentalkonflikten, obwohl die offizielle Linie der NUM inzwischen von der bedingungslosen Unterstützung von Rationalisierungen abwich. Aus der Modernisierung und Rationalisierung der 1960er Jahre ergab sich zwar ein erhöhtes Konfliktpotential, aber dies konnte auf der regionalen Ebene – in gewisser Weise ordnungserhaltend – aufgefangen werden. Die Konflikte, die zu Beginn der 1970er Jahre tatsächlich ausbrachen, überforderten keineswegs die internen Regelungsmechanismen der britischen Steinkohleindustrie. Insbesondere die großen Streiks von 1972 und 1974 stabilisierten letztlich die industriellen Beziehungen und die unternehmerische Position des NCB. Die Vorstellung von einer kumulativen Ereigniskette, die von 1969 über die Streiks der frühen 1970er zum Streik von 1984–85 führt, vermag hingegen nicht zu erklären, warum der Streik von 1984–85 zu einem Fundamentalkonflikt eskalierte. 123 Vgl. dagegen: Henner Jörg Boehl, Der britische Bergarbeiterstreik von 1984/85. Entscheidung eines Konflikts um Recht und Regierbarkeit, Bochum 1989, hier S. 147. 124 Ashworth, The Nationalised Industry, S. 289–303.

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Im Ruhrgebiet wurde 1968 die Ruhrkohle AG gegründet, um die Kohlekrise in einen geplanten Rückbau der Steinkohleförderung zu überführen. Damit übernahm der Staat an der Ruhr die Rolle, die er in Großbritannien im Kohlesektor bereits seit 1947 spielte. Der Krupp-Konzern geriet Ende der 1960er Jahre ebenfalls in eine Krise, denn seit 1966 verweigerten die zuständigen Banken der Firma die notwendigen Kredite; nur durch Millionenbürgschaften des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen konnte Krupp seine Liquidität wahren. Zwischen 1966 und 1967 gestaltete der Generalbevollmächtigte Bertold Beitz den Krupp-Konzern infolgedessen grundlegend um. Das operative Geschäft wurde in eine GmbH umgewandelt, die nach dem Tod von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach im Jahr 1967 von der Krupp-Stiftung kontrolliert wurde. Krupp hörte auf Familienunternehmen zu sein und Beitz etablierte nicht zuletzt durch seine hervorragenden Beziehungen zur IG Metall und zur Landesregierung von Nordrhein-Westfalen eine Art Alleinkontrolle des Unternehmens.125 Sowohl im National Coal Board als auch bei Krupp verstärkten Reformen und Krisen korporatistische Handlungsmuster, in denen Unternehmen, Staat und Gewerkschaften gemeinsam Lösungen fanden, auch wenn sie – wie in den Streiks von 1972 und 1974 – vorher Konflikte austrugen. Im Ruhrgebiet verschärfte sich die Wahrnehmung der regionalen Strukturkrise trotz der politischen Reorganisation des Steinkohlebergbaus und der staatlich begleiteten Umstrukturierung des KruppKonzerns mit dem Einsetzen der Stahlkrise seit 1974.126 Die westdeutschen Stahlunternehmen reagierten zuerst kaum auf die Ölkrise von 1973, weil sie bis weit ins Jahr 1974 davon ausgingen, dass Auftragsrückgänge konjunkturell bedingt seien und daher keinen Einfluss auf langfristige Planungen haben sollten.127 Deshalb planten die Konzerne einen massiven Ausbau ihrer Kapazitäten und bauten in den späten 1970er Jahren dementsprechend große und neue Anlagen auf. Sie wollten auf eine erneute Hochkonjunktur vorbereitet sein, schufen aber Überkapazitäten, die in den späten 1970er Jahren Lösungen verhinderten, da die Konzerne das investierte Kapital nicht mit Verlust abschreiben wollten.128 Die 125 Harold James, Krupp. Deutsche Legende und globales Unternehmen, München 2011, S. 268–276. 126 Vgl. zur regionalen Wahrnehmung im Dreieck von Gewerkschaften, Wissenschaft und Regierungsexperten: Industriegewerkschaft Metall Vorstand (Hrsg.), Ringvorlesung 1978/79. Stahlkrise  – Krise des Ruhrgebiets? Ursachen  – Auswirkungen  – Antworten (Gemeinsame Veranstaltungen Ruhr-Universität Bochum IG -Metall Bildungszentrum, Heft 3), Frankfurt a. M. 1979. 127 Lauschke, Krisenstrategien, S. 86 f. 128 Helmut Wienert, Nachfrageschwäche und Staatsintervention. Zur Entwicklung der Stahlkrise seit 1975, in: Ders. (Hrsg.), Stahlkrise – Ist der Staat gefordert? (Schriftenreihe des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung Essen, Neue Folge, Heft 45), Essen 1984, S. 5–15, passim; Ders., Technischer und wirtschaftlicher Wandel in der Stahlindustrie seit den sechziger Jahren unter besonderer Berücksichtigung NordrheinWestfalens (Untersuchungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung 20), Essen 1996, S. 65–69.

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neuen Kapazitäten wurden nach 1974 dann aber weder gebraucht noch abgebaut und verschärften so die weltweite und regionale Stahlkrise. Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Vereinigten Königreichs hatten die Pläne zu einem Beitritt in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft seit dem Ende der 1960er Jahre erneut an Fahrt aufgenommen. Deshalb wurden die Vor- und Nachteile dieses Schrittes auch im Nordosten diskutiert. Das Northern Echo lud für eine Sonderbeilage (Industrial Review Supplement) zum möglichen EWG -Beitritt die Vertreter verschiedener Interessengruppen und Unternehmen aus der Region ein, Gastbeiträge zu verfassen. Einen besonders prominenten Platz erhielten die Texte des NCB -Vorsitzenden Derek Ezra (Baron Ezra) und des Generalsekretärs der NUM, Lawrence Daly. Die Beilage erschien während des Bergarbeiterstreiks von 1972, dem ersten landesweiten Bergarbeiterstreik in Großbritannien seit 1926, der von der NUM aufgrund einer Lohnforderung geführt und in allen NUM-Bezirken befolgt wurde. Ezra und Daly tauschten deshalb in ihren Artikeln nicht nur Argumente über die regionalen Auswirkungen eines EWG -Beitritts Großbritanniens aus,129 sondern auch über die Streiksituation. Aus dieser Diskussion traten unterschiedliche Vorstellungen über den Modus des industriellen Strukturwandels in der Region hervor: The British mining industry, in which the Northumberland and Durham coalfield is geared to make a substantial contribution, has one clear aim for the Seventies – to pay its way. […] Imported oil prices have escalated. Gas prices are on the increase, […] the opportunities are waiting to be grasped. But they will not wait for ever [sic]. Now is the time to act. We need positive action to effect a sustained improvement in efficiency […] with the added prospects of increasing our exports to the Continent.130

Der gerade neuberufene NCB -Vorsitzende verknüpfte das Ideal einer effizienten Produktion mit dem Ziel einer ausgeglichenen Unternehmensbilanz innerhalb eines begrenzten zeitlichen Handlungsspielraums. Damit grenzte er sich von älteren Zielvorstellungen für das Staatsunternehmen ab, denn bei der Verstaatlichung 1947 sprach der Coal Industry Nationalisation Act lediglich davon, dass Zechen und Kohlevorkommen vom National Coal Board im Interesse der Allgemeinheit zu verwalten seien – »to further the public interest in all respects«131. Diese Vorgabe war in den 1950er und 1960er Jahren jeweils unterschiedlich interpretiert worden. In den 1950er Jahren verstand man sie als Forderung, mit den gegebenen Mitteln möglichst viel Kohle zu produzieren, in den 1960er Jahren

129 In den 1970er und 1980er Jahren waren die Labour Party und die Gewerkschaften im Allgemeinen gegen einen EWG -Beitritt und die Konservativen für den Beitritt. Michael Fallon führte als Mitglied der Young Conservatives eine Kampagne für den EWG -Eintritt an. 130 Derek Ezra, Coal’s chance to pay its way, The Northern Echo 24.1.1972 (Industrial Review Supplement). 131 Coal Industry Nationalisation Act 1946, ch. 59, 1 (1) (c), p. 1.

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als Verpflichtung, die Produktion zu modernisieren.132 Die Interpretation, dass das NCB Gewinn erwirtschaften müsse, war zu Beginn der 1970er Jahre einigermaßen neu, damit war für die regionale Industriepolitik aber weiterhin ein umfassendes Modernisierungsversprechen verbunden. Obwohl sein Beitrag von einer gewissen Dringlichkeitsrhetorik erfüllt ist, bleibt Produktivität für Ezra ein zentraler Maßstab für die industriellen Beziehungen auf der regionalen Ebene: […] the board are entitled to look for improving results. These may well have been achieved at some pits but for industrial troubles that have been biting into the performances of the mining industry in a region which up to now has always been held out as an industrial relations model for the rest of the country.133

Ezra entwirft also ein Bild des industriellen Strukturwandels innerhalb des Steinkohlensektors, in dem regionale wirtschaftliche Entwicklung, kooperative industrielle Beziehungen und Modernisierung untrennbar miteinander verbunden sind. Streiks wie derjenige von 1972 können dieses diffizile Gleichgewicht zwar stören, doch indem er den Modellcharakter des Nordostens für die industriellen Beziehungen herausstreicht, benennt Ezra zugleich ein Mittel gegen eine weitere Verschlechterung der Situation und erkennt an, dass die Bergarbeiter keine grundsätzlich destabilisierenden Ziele verfolgen. Indem Ezra einen Idealtypus des politisch moderaten Bergarbeiters aus Durham entwirft, trägt er zur Konstruktion eines industriepolitischen Regionalcharakters bei. Die Bergarbeiter aus Durham und Northumberland werden zu typischen Vertretern ihrer Region mit den feststehenden Eigenschaften Mäßigung, Vernunft und Produktivität.134 Als diese Argumentationsfigur zwölf Jahre später, zu Beginn des Streiks von 1984, wieder­auftauchte, hatte sie ihren Sinn geändert: Nun diente sie ausschließlich dazu, Streik als ökonomische Schädigung des Unternehmens zu desavouieren. 1972 konnte die Vorstellung vom Nordosten als »industrial relations model« jedoch problemlos in Beziehung zum technischen Produktivitätsideal des NCB Vorstands gesetzt werden: […] the North East has six out of the 24 1m tonners in the country. Many of these are respected nationally as pacesetters in pioneering new mining technologies: Dawdon’s new radio-controlled shearer and pithead computer terminal link; Westoe’s all hydraulic, remotely operated roof supports and coal face lighting; and the highly specialized U. S. equipment that is enabling Ellington to set new standards in productivity.135

Ezra versuchte nicht nur, die Bergarbeiter im Nordosten als einen ganz spezifischen, regionalen Teil in das Unternehmen National Coal Board einzubeziehen, 132 Ashworth, The Nationalized Industry, S. 630–647. 133 Ezra, Coal’s chance. 134 Dahinter steckte auch die sehr alte Vorstellung, dass die Menschen im Norden Großbritanniens besonders rebellisch seien, vgl.: Rawnsley, Constructing ›The North‹, S. 5 und 7. 135 Ebd.

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sondern gleichzeitig, technischen Fortschritt und Produktivität in die einzelnen Zechen der Region einzuschreiben. Derek Ezra wird in der Literatur zum ­Miners’ Strike von 1984–85 häufig als Gegenentwurf zum NCB -Vorsitzenden Ian MacGregor dargestellt, weil er den Bergbau in besonderer Weise ›verstanden‹ habe: »But at the NCB, instead of the brash US -trained MacGregor, the Chairman was a moderate figure with no love for making redundancies, Sir Derek Ezra.«136 Der Zeitungsbeitrag von 1972 lässt ein anderes Bild hervortreten. Ezra bekannte sich als NCB -Vorsitzender durchaus zu einem neuartigen, betriebswirtschaftlich ausgerichteten Denken, vermochte aber zugleich ältere Vorstellungen von technischer Modernisierung und regional verankerter Produktivität zu bedienen.137 Lawrence Daly138 hingegen nutzte seinen Zeitungsbeitrag, um im Kontext des Streiks die Entwicklung der Steinkohle seit den 1960er Jahren kritisch zu bewerten und stellte einen Zusammenhang zwischen dem geplanten EWG -Beitritt und dem Wachstum des Kohlesektors her: A great deal has been written about the bonanza facing Britain and the country’s coal industry should we become part of the European Economic Community. In particular, the National Coal Board has projected an export market of up to 30m tons of coal a year and a brave new world for an industry that has reduced in size by 50 per cent over the last decade.139

Dalys Kritik war nicht prinzipiell gegen die Idee eines stetigen Wachstums gerichtet, sondern nur gegen eine seiner Meinung nach falsche, privatwirtschaftliche Wachstumsstrategie. Nachdem er ausgeführt hatte, weshalb die Lebenshaltungskosten bei einem EWG -Eintritt steigen würden, forderte Daly, dass es angesichts der regionalen Entwicklungsunterschiede mehr staatliche Unternehmen geben solle: At such a time, the prospect of more industries leaving the depressed regions for high profits elsewhere cannot be accepted. So far, regional policy has meant massive state handouts to private enterprise, boosting company profits and providing all too few jobs. […] Instead of giving money to profiteers, the Government should establish its own industries in the regions to provide jobs, and maintain the size of the existing regionally based nationalized industries, in particular coal.140

136 Beckett / Hencke, Marching, S. 32. 137 Das Gleiche gilt für den unmittelbaren Vorgänger MacGregors, Norman Sidall, vgl. Martin Adeney, Sidall, Sir Norman (1918–2002), in: Oxford Dictionary of National Biography: http://www.oxforddnb.com/view/article/ 76675, 24.01.2013. 138 Zur Person: Lawrence Goldman, Daly, Lawrence (1924–2009), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2013, http://www.oxforddnb.com/view/article/101595, 28.1.2015. 139 Lawrence Daly, Low-paid will be destitute in Six, The Northern Echo 24.1.1972 (Industrial Review Supplement). 140 Ebd.

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Für Daly bot die Diskussion um die regionalen Folgen des EWG -Beitritts vor allem eine Gelegenheit, klassische Positionen der britischen Arbeiterbewegung in die Industrieregion North East einzuschreiben. Der Anteil des Staates am Wirtschaftsleben sollte ausgebaut werden, weil die regionale Industrie primär der Versorgung mit Arbeitsplätzen diente und nicht unternehmerische Zwecke wie Profit verfolgte. Im Gegensatz zur kämpferischen Position Dalys entwickelte der damalige Generalsekretär der NUM Durham Area, Kit Robinson, eine zwar ebenfalls kritische, aber stärker an der regionalen Kooperation orientierte Perspektive auf die Rationalisierungspolitik des zurückliegenden Jahrzehnts:141 He describes the decade from 1960 to 1970 as »probably the worst this union has ever had.« […] In the past, he feels, the union might have settled for less in negotiations than perhaps it should. »But the image of pit closures was always behind us. I’m not satisfied that we always got the best offer for our members that we could, but there were always closures threatened.« Yet, his life in the NUM hadn’t been all bad, he said. »The training for youngsters, the safety precautions, and the holiday today are all good. […] At most times, we’ve had good consultation with the NCB, we’ve sat down man to man.« […] It escaped some people, he thought, that the miners on the coalface […] trained hard and did a highly skilled job. They’d adapted from the days of pick and shovel to full mechanization. »They’re specialists and should be treated as such.«142

Robinsons Erinnerungen verweisen trotz der Selbstvorwürfe und der Verdammung der massenhaften Schließungen in den 1960er Jahren auf ein paradoxes Verhältnis zu technischem Fortschritt und wirtschaftlicher Rationalisierung in der regionalen Elite der NUM. Die Spezialisierung der Bergarbeiter, die Robinson lobend erwähnt, wäre ohne die von ihm kritisierte und mitgeplante Rationalisierungswelle gar nicht möglich gewesen. Robinsons Einschätzung der Arbeit in den mechanisierten Gruben der 1970er Jahre steht im Widerspruch zu neomarxistischen Deutungen des Konfliktpotentials, das sich seit dem Ende der 1960er Jahre in den britischen Zechen aufbaute. Autoren der New Left neigten nämlich dazu, die Mechanisierung der Bergwerke ausschließlich als einen Prozess zunehmender Entfremdung von der eigenen Arbeit zu beschreiben.143 Robinsons Einschätzung dieser Entwicklung entsprach aber auch nicht dem technokratischen Fortschrittsoptimismus von Derek Ezra oder dem Beharren Lawrence Dalys auf staatlicher Wirtschaftskontrolle. Es stand vielmehr in der Kontinuität eines

141 Kit Robinson hatte 1924 angefangen auf Easington zu arbeiten. D. h. er erlebte die Aussperrung von 1926, die gesamte Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg und den Wiederaufbau als jugendlicher bzw. erwachsener Bergarbeiter und Gewerkschaftsfunktionär. 142 Zitiert nach: Bill Campbell, Imports prove closing pits was wrong. It’s my one bitter thought says Kit, The Northern Echo 12.01.1972. 143 Winterton / Winterton, Coal, Crisis and Conflict, S. 12–18; J. Winterton, The 1984–85 Miners’ Strike and Technological Change, in: British Journal for the History of Science 26 (1993), S. 5–14.

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handwerklichen Arbeitsstolzes angesichts des technischen Wandels. Eine ähnliche Auffassung herrschte auch bei mittleren Funktionären in der Stahlindustrie des Ruhrgebiets vor. Man war stolz darauf, als Gewerkschafter die Berufe in dem eigenen Industriezweig von einfachen, angelernten Tätigkeiten zu komplexen Ausbildungsberufen verändert zu haben.144 Insbesondere der Rheinhausener Streikführer Helmut Laakmann hatte eine solche Aufstiegsbiographie hinter sich, die für seine Rolle als Anführer der Proteste eine nicht unerhebliche Rolle spielte.145 Die Beiträge von Ezra und Daly sowie das Interview mit Kit Robinson zeigen für die Montanregion North East in den 1970er Jahren Wandel und Kontinuität an. Sie belegen klar, dass große Fortschrittserwartungen innerhalb des Steinkohlesektors von einer Kultur des ›managed decline‹ abgelöst wurden. Das Handeln des National Coal Board blieb aber gerade deshalb von dem Ideal einer modernen, produktiven Industrie gekennzeichnet. Ezras Beitrag zeigt, dass auf der höchsten Führungsebene schon lange vor Ian MacGregor Grundsätze für ein ›effizientes‹ Management des Staatsunternehmens etabliert waren. Im Vergleich zwischen Dalys und Ezras Artikel wird erneut deutlich, dass der Rekurs auf die »Region« dazu geeignet war, ein breites Spektrum politischer Lösungen von betriebswirtschaftlicher Effizienz bis hin zu staatssozialistischen Vorstellungen zu bedienen. Mit Blick auf den regional eingefärbten Protest der 1980er Jahre ist deshalb festzuhalten: Die Verknüpfung von neu-linken, gewerkschaftlichen Positionen mit regionalen Bedeutungen folgte keinesfalls einer vorgegebenen Entwicklungslogik. Die klassischen Positionen der Arbeiterbewegung, die von Lawrence Daly vertreten wurden, und die sozialliberalen Positionen Ezras teilten einen gemeinsamen Glauben an moderne Technik und Produktivität. Auch die Argumente des regionalen Gewerkschaftsfunktionärs Kit Robinson, Stolz auf soziale Errungenschaften und qualifizierte Berufsausbildung, waren im Prinzip anschlussfähig an eine modernisierende Gesellschaftspolitik. In der moral economy Robinsons scheint die Gleichberechtigung in Mitbestimmungsverfahren, das »man to man« zwischen Arbeitern und Managern, der wichtigste Maßstab für funktionierende industrielle Beziehungen gewesen zu sein. In Dalys Beitrag war 1972  – im Gegensatz zum Miners’ Strike von 1984–85  – keine Rede von Lebenschancen in mining communities, sein Schlüsselbegriff lautete workers und diese Arbeiter definieren sich bei ihm durch ihre Abhängigkeit von Löhnen. Den Beiträgen von Ezra und Daly ist gemeinsam, dass sie gegenwärtige und zukünftige Bedrohungen für die regionale Industrie als Begründung für Handlungsbedarf anführen. Die Veränderungen der 1960er Jahre spielten für die politische Kultur der Montanregion also durchaus eine wichtige Rolle, aber sie wirkten

144 Wolfgang Hinrichs u. a., Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen 2000, besonders S. 86–89 und 95 f. 145 Bierwirth / Vollmer, AufRuhr, S. 20 f.

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weder im Sinne einer linearen Radikalisierung der Bergleute, noch im Sinne eines unreflektierten Beharrens auf ›gemäßigten‹ Positionen. Die ambivalente Position der Mitbestimmungskultur in Nordostengland zwischen Kontinuität und Wandel lässt sich mit einigen Bildern von der Siegesparade der NUM Northumberland am Ende des Streiks von 1972 illustrieren. Hier wird deutlich, dass auch die Routinekonflikte der frühen 1970er Jahre geeignet waren, kulturellen Wandel in der sozialräumlichen Ordnung Montanregion zu bewirken. Denn der Umzug der Bergarbeiter entspricht keineswegs einem Eindruck von rückständiger Proletarität: Die meisten Bergleute tragen Anzüge, vermutlich den Sonntagsstaat oder die Ausgehkleidung. In vielen Gruppen marschieren Frauen als Arbeitnehmerinnen oder Angehörige mit, einige Familien haben Kinder dabei (Abb. 4), auf einem anderen Bild sieht man sogar einen Mann, der einen Kinderwagen schiebt.146 Zugleich findet sich bei den älteren Gewerkschaftsfunktionären (Abb. 5) ein betont traditioneller Habitus, bis auf die Koteletten (sideburns) hätten so auch Gewerkschaftsfunktionäre in den 1950er Jahren aussehen können. Anlässlich der Kundgebung in Ashington reisten auch Mitglieder der Newcastle University Socialist Society an. Sie durften im Demonstrationszug mitlaufen und wurden nachher sogar zum Empfang der Gewerkschaft eingeladen.147 Die sozialistischen Studenten aus Newcastle waren langhaarig und trugen Jeans und Parka statt Anzüge. Doch diese äußerlichen Kontraste verhinderten bereits 1972 nicht, dass sich linke Aktivisten aus der Universitätsstadt Newcastle und die Bergleute der NUM aus den Zechendörfern Northumberlands gegenseitig unterstützten. Im Bergarbeiterstreik von 1984 sahen junge Bergarbeiter häufig so aus wie die Studenten von 1972, zudem kam es nun zu einer flächendeckenden gegenseitigen Unterstützung von solchen aktivistischen Gruppen und der traditionellen Gewerkschaft. Im Miners’ Strike und bei den Rheinhausener Protesten standen schließlich konkrete Vereinbarungen über einen geplanten Kapazitätsabbau im Mittelpunkt, die in den Konflikten der 1970er und frühen 1980er Jahre erkämpft worden waren. Der Plan for Coal aus dem Jahr 1976 enthielt Zusagen über einen Ausbau der Kohleförderung. Die Rheinhausener hatten erst 1982 gegen eine Stilllegung des Walzwerks protestiert und fühlten sich zudem durch die Frankfurter Vereinbarung zwischen IG Metall und Arbeitgebern sowie einen separaten Vertrag zwischen Betriebsrat und Krupp abgesichert. Im Bergarbeiterstreik wie in Rheinhausen wurden diese Vereinbarungen über Kapazitätsaus- oder -abbau von den protestierenden Arbeitern stets mit großer Ernsthaftigkeit zitiert, um einen Vertragsbruch der Unternehmer- bzw. Regierungsseite zu belegen. Die Rolle dieser 146 Northumberland Record Office, NRO 06980/15. 147 Digital copy of a black and white photograph of Newcastle University Socialist Society parading down Woodhorn Road, Ashington, Northumberland, after the 1972 Miners Strike, NRO 06980/16 und digital copy of a black and white photograph of members of the Newcastle University Socialist Society, at Ashington, Northumberland, after the 1972 Miners’ Strike, NRO 06980/36.

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Abb. 4: Die Führung (Executive Committee) der NUM Northumberland, Demonstration am Ende des Streiks von 1972, in Ashington. (NRO 06980/18)

Abb. 5: NUM Northumberland, Demonstration am Ende des Streiks von 1972 in Ashington, Betriebsgruppe Woodhorn. (NRO 06980/1)

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Pläne in den Konflikten der 1980er Jahre belegt das eigenartige Zeitverhältnis, das sich im Hinblick auf die Ordnung der Montanregion als »Vergangene Zukunft« im Sinne Reinhart Kosellecks interpretieren lässt.148 Für die Ordnung der Montanregion bedeutete der planmäßige, modernisierende Rückbau der Schwerindustrie mehr als ein beliebiges, politisches Verfahren; die Bewältigung des »Strukturwandels« war zum Inhalt der Ordnung geworden. Durch den Bruch jener Vereinbarungen geriet daher 1984 in Nordostengland und 1987 in Rheinhausen die Legitimität der Verfahrensweisen, die den Kern der sozialräumlichen Ordnung ausmachten, in Gefahr. Die Vereinbarungen wurden zwar zumeist als endgültige, langfristige Wendepunkte dargestellt: Coal’s major role and new importance in the entirely changed energy situation facing Britain is clearly presented in the Coal Board’s Plan for Coal. It is the most ambitious forward strategy ever prepared by the mining industry, calling for £ 600 million of new investment, first to stabilize and then to expand the nation’s coal mining capacity over the next decade. […] It marks a complete and significant change in the industry’s fortunes after nearly two decades of enforced contraction.149

Doch obwohl dieses Sprechen von einer völlig veränderten Lage einen »Überschuss stilisierter Weltbeherrschung«150 aufbaute, änderte sich der zeitliche Horizont der Zukunftsentwürfe für die Montanregionen seit dem Ende der 1960er Jahre nur wenig – die Funktion der neuen Vereinbarungen lag weiterhin darin, den schrittweisen Abbau von Produktionskapazitäten und Arbeitsplätzen verträglich zu gestalten.151 Dennoch verlief die Aufladung der Montanregion mit Visionen von einer besseren Gesellschaft in den 1970er Jahren in anderen Bahnen als im vorangegangenen Jahrzehnt. Sowohl im Nordosten Englands, als auch im Ruhrgebiet wurde »Regionalplanung« spätestens seit den frühen 1970er Jahren nicht mehr nur hingenommen, sondern zunehmend von inoffiziellen Zusammenschlüssen wie Anwohnerverbänden und Bürgerinitiativen, aber auch durch konservative und marktliberale Meinungsmacher kritisiert.152 Während der zwölf Monate des Miners’ Strike gab es auf der Ebene der Aktivisten und in der von Labour 148 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 33–35. 149 The National Coal Board, Plan for Coal, London 1974. 150 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 30. 151 Goch, Die Selbstwahrnehmung, S. 35–38. 152 Sabine Mecking, Neues Bürgerbewusstsein im Bürgerstaat? Staatliche Planung und bürgerschaftlicher Eigensinn am Beispiel von Nordrhein-Westfalen, in: Dies. / Janbernd Oebbecke (Hrsg.), Zwischen Effizienz und Legitimität. Kommunale Gebiets- und Funktionalreformen in der Bundesrepublik Deutschland in historischer und aktueller Perspektive, Paderborn u. a. 2009, S. 65–90; Als Quellenbeispiele für den englischen Nordosten, aus linker Perspektive: Robert Colls, Born-again Geordies, in: Ders. / Bill Lancaster (Hrsg.), Geordies. Roots of Regionalism, Newcastle upon Tyne 2005 (1992), S. 1–33; aus der Perspektive eines Umweltschützers (conservationist): Douglas Pocock, The Futures of Durham. A Reflective Essay, Durham 2006.

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dominierten Politik des Nordostens kaum weitreichende Diskussionen über die negativen Folgen der regionalen Strukturplanung. Diese Debatten verschärften sich erst in den Jahren nach dem Ende des Miners’ Strike und wurden durch die Schließungsankündigungen für die wenigen verbliebenen coastal pits ausgelöst. Erst mit dem absehbaren Ende der Kohleproduktion und der weiterhin steigenden Arbeitslosigkeit entfiel der Sinn der älteren Planungspolitik und ermöglichte eine Reorientierung der regionalen Gesellschaftsbilder. Die bereits im Streik entstandenen Allianzen zwischen linken Aktivisten, Teilen der alten Labour-Elite in den Stadträten und den Resten der National Union of Mine­workers fanden im Protest gegen Zechenschließungen und gegen neue Tagebaue im Westen der Grafschaft Durham einen gemeinsamen Gegenstand für politisches Engagement. So stellte z. B. die Kampagne gegen den Tagebau »Opencast – Casting a Shadow« ein Forum für die Begegnung fortschrittskritischer Umweltschutzgruppen mit jüngeren Aktivisten der Labour Party und der NUM dar. Nach dem Ende des Streiks bot diese Kampagne Aktivisten aus den miners’ support groups eine neue Plattform für politisches Engagement auf der regionalen Ebene, das sinnvolle an die Ziele des Miners’ Strikes anknüpfte. Das 1989 erschienene, professionell aufgemachte Heft »Opencast – Casting a Shadow« wurde von der im Miners’ Strike entstandenen Durham Area Miners’ Support Group mit Sitz in Newcastle herausgegeben. Es zeigt auf dem Titel einen Holzschnitt, der inmitten einer von Maschinen zerstörten Landschaft eine in der Erde liegende, unbekleidete Frau darstellt, die ein Kind stillt. Ein Schürfkübelbagger reißt diese symbolische Muttererde und einen bereits kahlen Baum fort.153 In dem Buch kommen hauptsächlich Betroffene zu Wort, um die Zerstörung der lokalen Gemeinschaft durch die Beeinträchtigung der Lebens- und Wohnumwelt in Folge der Tagebaue zu beklagen. Diesen Gegenwartsdiagnosen bzw. Prognosen für die unmittelbare Zukunft werden mehr oder weniger explizit Erinnerungen an die funktionierenden Dorfgemeinschaften zur Blütezeit der Steinkohlezechen gegenübergestellt. Zum Beispiel werden bergbautypische Elemente der Regionalkultur wie die Pflege der Schrebergärten, das Aufhängen der Wäsche im Hof und die individuellen Probleme einer jungen Familie, die kürzlich in eines der ehemaligen pit villages in Durham, Burnhope, gezogen ist, mit den Störungen durch den Tagebau in Zusammenhang gebracht: We used to be able to go out and work in the allotment peacefully. […] Since British Coal started working we’ve lost that tranquility. The dust is shocking too. We’ve got some cloches [weiße Ernteschutzvliese, A. H.] up in the allotment and they’re brown with dust. The back windows get covered and hanging out washing is a real problem, especially with all the nappies – they never seem as clean as when we first put them out.154 153 Romey Chatter, Cover Illustration, in: Andrew Pratt / Keith Pattinson (Hrsg.), Opencast – Casting a Shadow, Newcastle upon Tyne 1989, Titelseite. 154 Jackie Clogg zit. nach: Andrew Pratt / Keith Pattinson (Hrsg.), Opencast  – Casting  a Shadow, Newcastle upon Tyne 1989, S. 53.

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Das Zitat wird mit einem Foto der Familie Clogg vor ihrer Laube illustriert.155 Mutter Jackie hält die kleine Tochter Robyn auf dem Arm, während Vater Stuart hoffnungsvoll in die Kamera blickt. Hinter dem kleinen Acker und dem Gartenhaus ragt gerade noch die Spitze eines Kettenbaggers über die Laubenhäuser und Bäume hinweg. Die eindeutige Botschaft des Bildes lautet, dass gerade die jungen Familien, die wegen der neugewonnen Lebensqualität in die vom Niedergang bedrohten ehemaligen Zechendörfern gezogen sind  – die also für die Region eine Zukunft jenseits der alten Industrie verkörpern könnten – massiv von der menschenfeindlichen, neuen Abbaumethode beeinträchtigt werden. Sie müssen, wie die Bergarbeiter von einst, mit schmutzigen Fenstern, staubiger Wäsche und verdreckter Natur zurechtkommen. In der Kritik am Steinkohletagebau spiegelt sich also ein im Hinblick auf die Montanregionen paradoxer Aspekt des Zeitgeists der 1980er und des regionalen Protests wieder. Die in linken Gruppen und bei Menschen, die sich selbst als gesellschaftskritisch verstehen wollten, verbreitete Überzeugung, dass andere Formen von Politik, Machtverteilung und Wirtschaft möglich sein sollten156, spricht gegen eine Reindustrialisierung des Nordostens bzw. für eine Beibehal­ tung des Untertagebaus, während der Tagebau radikal abgelehnt wird. Die Solidarisierung mit den Bergarbeitern durch Unterstützergruppen sorgte schon während des Streiks nicht selten für Konflikte zwischen traditionell eingestellten Gewerkschaftern, vermeintlich wohlmeinenden Aktivisten von außerhalb und jüngeren, ›gesellschaftsoffenen‹ Gewerkschaftern. Doch zu der Zeit als »Opencast – Casting a Shadow« veröffentlicht wurde, spielten diese Differenzierungen bereits keine Rolle mehr. In den Gegenden, die in West-Durham vom Tagebau betroffen waren, gab es gar keine aktiven Zechen mehr, welche den Anwohnern die Beeinträchtigungen durch den Untertageabbau vor Augen geführt hätten. Zudem hatte sich auch in der NUM Durham Area in der Spätphase des Streiks eine Argumentation aus dem Blickwinkel der mining communities durchgesetzt. Das Zusammengehen der unterschiedlichen Gruppen in der Kampagne gegen Tagebaue wurde dadurch erleichtert, dass die Transportarbeiter an den Tage­ bauen während des Streiks die Streikposten der NUM ignoriert und deshalb die NUM und die Labour Party in der Region gegen sich aufgebracht hatten. In dieser Protestbewegung zeigte sich ein harter Bruch mit der Produktivitätslogik des regionalen Strukturwandels. Die Aussage des Tagebaubefürworters George ­Henderson, eines Funktionärs der Transport and Generals Workers Union, erhellt die Missverständnisse, die daraus resultierten: I have had sent to me from all sorts of groups complete documentation attacking opencast coal and if you examine these carefully, a lot of them are based on emotion 155 Keith Pattinson, Jackie, Stuart and Robyn Clogg in their allotment, in: Andrew Pratt / Ders. (Hrsg.), Opencast – Casting a Shadow, Newcastle upon Tyne 1989, S. 53. 156 Susanne Schregel, Die »Macht der Mächtigen« und die Macht der »Machtlosen«. Rekonfigurationen des Machtdenkens in den 1980er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 403–428, passim.

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[…] there are some strange bedfellows joining forces to attack opencast coal; and it is a free country. […] The problem is too much emotion and people telling stories.157

Als Gewerkschafter alter Schule verbittet sich Henderson die Einmischung »irgendwelcher« Gruppen in die Angelegenheiten ›seiner‹ Industrie. Technische Rationalität ist für ihn der entscheidende Maßstab, an dem sich alle Argumente messen lassen müssen, und das Zusammengehen von Gewerkschaftern der NUM mit Bürgerinitiativen wird mit schwersten rhetorischen Geschützen beantwortet – »it is a free country«. Doch die Gegner der Tagebaue ließen diese Darstellungen als rein emotional motivierte Akteure nicht auf sich beruhen und beharrten demgegenüber auf der Vernünftigkeit ihrer Argumente: […] Not surprisingly, we do not consider that we have been misinformed, nor that we are simply motivated by our emotions. On the contrary, we have some very sound reasons for campaigning against opencast mining. As one miner said after the strike: »The pits are all we have, and we’ve got to fight for them.«158

Die Argumente, die hier ausgetauscht wurden, deuten auf die Beharrungskraft eines technokratischen Paradigmas in der regionalgesellschaftlichen Kommunikation hin. Selbst im Protest gegen bestimmte Formen von Industrie musste man in jedem Fall rational argumentieren, um seinen Argumenten Gehör zu verschaffen und das eigene Engagment zu begründen. Im Ruhrgebiet wurden klassische Protestformen der Gewerkschaftsbewegung bereits seit der Mitte der 1970er Jahre mit Aktionsformen der Neuen Sozialen Bewegungen verknüpft. Diese Verbindung resultierte häufig in einer Heroisierung der alten Arbeitswelten, die durch Schließungen vom Verschwinden bedroht waren: Der lange Tag und die lange Nacht / dort am Streiktor / hab’n uns stark gemacht. / Das ist unser Streik und wir wissen sehr gut,/wir sind es, die schaffen,/und das gibt uns Mut. /  Und noch heute sind wir Tausende,/die da schuften rund / um die Uhr am Stahl. / In den nächsten Jahr’n steht die Hälfte vor’m Tor. / Wenn wir uns jetzt nicht wehren,/ist’s für’n Rest auch verlorn.159

Dieses Lied der linken Polit-Rock Band »Die Schmetterlinge« wurde 1978 in dem Stahlwerk in Duisburg-Huckingen aufgeführt, das 1987 die Ersatzarbeitsplätze für die Arbeiter in Rheinhausen zur Verfügung stellen sollte. In dem Text liegt bereits ein aktivistisches Deutungsangebot vor, die Stärke der Protestteilnehmer wird zu gleichen Teilen aus Streikbereitschaft und produktivem 157 George Henderson, zit. nach: Andrew Pratt / Keith Pattinson (Hrsg.), Opencast – Casting a Shadow, S. 7. 158 Andrew Pratt, ebd. 159 O. A., Streiklied der Schmetterlinge, Improvisiertes Streiklied der Schmetterlinge, zuerst aufgeführt auf der Streikversammlung am 4.12.78 bei Mannesmann in Duisburg-Huckingen, in: Tenfelde / Urban, Das Ruhrgebiet, S. 923 f.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

Arbeitswillen hergeleitet. Als Konfliktgegenstand werden in der ersten Strophe die Stahlproduktion selbst und die mit ihr verbundenen Arbeitsplätze genannt, nicht Lohnziele oder, wie in der zweiten Strophe des Liedes, Arbeitszeitverkürzungen. Die Mischung älterer und neuer Protestkulturen war im Ruhrgebiet der 1980er Jahre tiefer verankert als in Nordostengland. Dies erlaubte es den protestierenden Stahlarbeitern in Rheinhausen, schneller und erfolgreicher auf politisch akzeptable Bewältigungsmuster zurückzugreifen. Dennoch stand aktivistische Bedrohungskommunikation in Nordostengland und im Ruhrgebiet in den 1970er und 80er insgesamt in einem ambivalenten Verhältnis zu den Protesten gegen Betriebsschließungen. Bei den Arbeitern in den betroffenen Betrieben und traditionellen wie jüngeren Gewerkschaftsfunktionären blieb ein hergebrachtes Produktivitätsdenken und das Beharren auf den eingeübten Modi des »Strukturwandels« ein entscheidendes Motiv für Protest. Diese Muster wurden in den Routinekonflikten des Strukturwandels eingeübt und bildeten deshalb die Grundlage für die Eskalation des Protests zu Fundamentalkonflikten im Miners’ Strike und bei den Rheinhausener Protesten.

1.4 Zwischenfazit Die sozialräumliche Ordnung der Montanregionen Nordostengland und Ruhrgebiet, die im Miners’ Strike und bei den Rheinhausener Protesten bedroht war, beruhte auf der politischen Neuordnung der Schwerindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg und dem regionalpolitischen Management des industriellen Strukturwandels seit den späten 1950er Jahren. Angefangen bei der Krise der Steinkohleförderung seit 1958 und der Stagnation der Stahlerzeugung seit ca. 1964, entstand in verschiedenen Branchenkrisen ein spezifisches Bewältigungshandeln der Akteure in Industrie, Politik und Gesellschaft. Dieses Handlungsschema brachte eine strukturierte Form des Krisenmanagements hervor, die sich unter anderem in den Zechenschließungsprogrammen der 1960er Jahre im englischen Nordosten, der staatlich initiierten Reorganisation der Kohleförderung in der Ruhrkohle AG oder der vom Land Nordrhein-Westfalen und den Gewerkschaften unterstützten Rettung des Krupp-Konzerns zeigte. Auch intensivere Konflikte, wie die Bergarbeiterstreiks von 1972 und 74 in Großbritannien, stärkten auf der regionalen Ebene die etablierten Handlungsmuster, in denen industrieller Wandel immer mit Fortschrittsdenken und Modernisierung verbunden war. Durch zukunftsorientierte Raumplanung wurde das Verhältnis der einzelnen Elemente der Ordnung Montanregion, schwerindustrielle Produktion, Mitbestimmung und sozialer Ausgleich, so graduell verändert, dass der modernisierende Anspruch staatlicher Politik im Grundsatz nicht aufgegeben werden musste. Sozialpläne, Frühverrentungen und die schrittweise Zusammenlegung von Produktionsstätten entwickelten sich zwar tendenziell von Elementen einer modernisierenden Rationalisierung zu Schritten eines unumkehrbaren Rückbaus schwerindustrieller Produktion und der damit verflochtenen politischen Kultur

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und Lebenswelten. Das Ausbleiben von endgültigen Lösungen stabilisierte die sozialräumliche Ordnung jedoch auch, weil neue Probleme immer neuen Handlungsbedarf hervorbrachten. Die Zukunftsvisionen, die seit den 1960er Jahren für die Montanregionen formuliert worden waren, trafen zwar nie ein, aber sie ermöglichten dennoch politisches Handeln, das den sozialen und politischen Raum nachweisbar verändert. So wurden z. B. die Grafschaft Durham, der Südosten Northumberlands sowie das Gebiet des 1986 aufgelösten Tyne and Wear County Council mit dem Leitbild des industrial redevelopment komplett umgestaltet. Dabei stand im englischen Nordosten nicht das industriekulturelle Erbe der Region im Vordergrund der Bemühungen, vielmehr wurde häufig versucht, die industrielle Landnutzung unsichtbar zu machen. Dieses Bewältigungshandeln überforderte zu keinem Zeitpunkt die Parameter der politischen, beruflichen und lebensweltlichen Orientierungen der regionalpolitischen Akteure. Der Aufruhr in der Montanregion ging somit nicht aus kumulierter Enttäuschung über den langfristigen Niedergang der Montanindustrie hervor, vielmehr entstand er kurzfristig aus Empörung über den Bruch von etablierten Mechanismen für Konflikte des »Strukturwandels«. Das Protestpotential speiste sich daher nur über Umwege aus dem von Modernisierung und Planbarkeit des Sozialen gekennzeichneten Regionalbewusstsein. Die Akteure selbst erklärten ihren Protest aber als längst fällige Reaktion auf diese Prozesse. So entstand aus dem situativen Protesthandeln ein Bedeutungsüberschuss, der zu einer neuen Form regionaler Identifikation unter Bezugnahme auf den Miners’ Strike und die Rheinhausener Proteste führte. Die staatliche Erschaffung der Region als politische Planungseinheit diente den Bergarbeitern des Nordostens und den Stahlarbeitern in Duisburg nicht nur als – teils bewusst reflektierte, teils unreflektiert übernommene – rhetorische Blaupause für ihren Begriff der Region. Sie übernahmen auch spezifische Denkmuster aus der regionalen Industrieplanung der Nachkriegszeit. Bei den Protesten und Streiks wurde stets die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der schwerindustriellen Produktion herausgestellt. Die Forderungen orientierten sich am gewohnten, konsensual ausgerichteten Management des Strukturwandels und wurden mit den historischen Leistungen der Arbeiterschaft in der Region begründet. Dementsprechend brachte sowohl im Ruhrgebiet als auch in Nordostengland erst die Zeit des »Strukturwandels« eine politische Dominanz sozialdemokratischer Parteien hervor. Deren Herangehensweise an politische Probleme stellte unter den Bedingungen beschleunigten sozialen Wandels länderübergreifend einen besonders gut zu vermittelnden Bewältigungsmodus dar, weil sie aus dem Strukturwandel und dem Niedergang der klassischen Schwerindustrie unter den Bedingungen einer modernisierenden Strukturpolitik politisches Kapital zu erzeugen wussten.160

160 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, »Soziale Demokratie« als transnationales Ordnungsmodell im 20. Jahrhundert, in: Jost Dülffer / Wilfried Loth (Hrsg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 313–333.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

Der Aufruhr in den Montanregionen in den 1980er Jahren spielte sich deshalb vor dem Hintergrund einer vergangenen Zukunft ganz eigener Art ab. Die Empörung der Protagonisten über die Schließung ›altindustrieller‹ Betriebe war nur auf den ersten Blick irrational oder nostalgisch. Sie speiste sich aus der Verteidigung der gewohnten Verfahren des Strukturwandels. Im Miners’ Strike und in Rheinhausen gab es jeweils einen situativen Moment, in dem konsensual gefundene Lösungen, hier der »Plan for Coal« dort die »Frankfurter Vereinbarung«, kurzfristig von den Arbeitgebern aufgekündigt wurden. Damit war das Versprechen auf wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, das mit Begriffen wie redevelopment und Strukturwandel einherging, offensichtlich unhaltbar geworden. Die Enttäuschung über diesen Vertrauensbruch bildete aber nur eine notwendige und nicht die hinreichende Bedingung für den Aufruhr in der Montanregion. Angesichts der regionalen politischen Kultur betraf die Aufkündigung des staatlich gesteuerten und für Individuen und Kommunen abgefederten Strukturwandels dort nicht nur die industriellen Beziehungen, sondern die regionale Ausprägung der nationalen Gesellschaft als solche. Dieser kurzfristige Bruch der gewohnten Handlungsmuster spielte sich auf der Ebene von Arbeit und Mitbestimmung in den Betrieben und innerhalb der Gewerkschaften ab und wurde in der Öffentlichkeit als Konflikt zwischen Gewerkschaften und Unternehmern thematisiert. Der Aufruhr in den Montanregionen in den 1980er Jahren lässt sich also insgesamt nicht aus dem Kontext einer strukturell bedrohten Ordnung Montanregion erklären. Zwar standen die Proteste in den Montanregionen in einem direkten Zusammenhang mit der vergangenen Zukunft schwerindustrieller Urbanität, doch weder die extremen Formen des Protesthandelns, noch deren diskursiver Rahmen als Bedrohung der staatlichen und öffentlichen Ordnung erklären sich allein aus der gegebenen sozialräumlichen Ordnung. Um den Aufruhr in der Montanregion historisch fassen zu können, muss auch das Handeln der regionalen Akteure im zeitlichen Verlauf des Miners’ Strike und der Rheinhausener Proteste untersucht werden.

Krefeld

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Die Montanregion Ruhrgebiet um 1987, mit einigen Stahlstandorten

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Karte 1: Die Montanregion Ruhrgebiet um 1987, mit einigen Stahlstandorten, © Klaus Kühner, huettenwerke.de

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Ellington

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Zeche Lynemouth Zechen Ashington und Woodhorn

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Die Montanregion Nordostengland um 1984

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Karte 2: Die Montanregion Nordostengland um 1984, mit einigen wichtigen Zechenstandorten, © Klaus Kühner, huettenwerke.de

2. Arbeit und Mitbestimmung 2.1 Legitime Solidarität und verhandelter Konflikt Auf einer tumultartigen Betriebsversammlung diskutierten die Arbeiter der Zeche Dawdon am 21. März 1984, ob sie, wie alle anderen Kumpel in Durham, die Arbeit niederlegen sollten. Vor den Werkstoren warteten Journalisten und Kollegen von den benachbarten Zechen auf die Entscheidung. In der Zeche versuchte der Vorsitzende der NUM-Betriebsgruppe, lodge chairman Ernie Taylor, seine Kollegen von der Teilnahme am Streik zu überzeugen. Die Bergleute in Dawdon arbeiteten zu diesem Zeitpunkt als einzige im Bezirk Durham, obwohl das area executive committee der NUM bereits zwölf Tage zuvor allen Mitgliedern empfohlen hatte zu streiken und die Belegschaften aller anderen Zechen in Durham seit dem 14. März nicht mehr arbeiteten. Teils hatten sie von sich aus die Arbeit niedergelegt, teils die Streikempfehlung des area executive committee vom 9. März befolgt – einige Betriebsgruppen mussten von Streikposten ihrer streikenden Kollegen, den flying pickets, überredet werden. Im Gegensatz zu den Bergarbeitern in Nottinghamshire, die bis zu einer Urabstimmung arbeiten wollten, lag es für die große Mehrheit der Bergleute im Nordosten näher, zuerst die Arbeit niederzulegen und dann abzustimmen. Nur die Männer von Dawdon weigerten sich, ohne eine Urabstimmung im gesamten Bezirk in den Ausstand zu treten und ertrugen die Schmährufe der Streikposten von den anderen Zechen.1 Doch der Vorstand der Durham Miners bestand darauf, dass ihr Vertreter im National Executive Committee der NUM sich erst für ein national ballot einsetzen würde, sobald alle Bergleute im Bezirk streikten.2 Trotz einzelner Zwischenrufe – »Erpressung!«3 – stimmte schließlich auch auf Dawdon eine Mehrheit für den Streik. Der Kompromiss lautete, dass sich die Bezirksleitung im Gegenzug für die Zustimmung von Taylors Leuten im National Executive Committee der NUM für eine Urabstimmung in allen britischen Kohlerevieren einsetzen würde. Ernie Taylor wählte folgende Worte, um der wartenden Presse das Ergebnis der Betriebsversammlung mitzuteilen: »There was a massive vote in favour of supporting the rest of the county. […] The people convinced against their will are of the same opinion. We think we made a brave stand. The rest of the county does not think so.«4 Taylor betonte mit der paradoxen Formulierung »convinced against their will« das Ausmaß der Zustimmung und bemühte den Kontext lokaler Solidarität, um die Zwecklosigkeit einer fortgesetzten Streikverweigerung zu verdeutlichen. 1 Nick Thompson, Angry scenes as 300 pickets pounce. And pressure prompts U-turn, The Northern Echo 14.3.1984. 2 O. A., North rebels get 48 hours, The Northern Echo 20.3.1984. 3 Thompson, Angry scenes. 4 Ernie Taylor, Lodge Secretary NUM, Dawdon Lodge, zit. n.: O. A., County miners call for national ballot, The Northern Echo 22.3.1984.

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In der zeitgenössischen Debatte über den Bergarbeiterstreik wurde die Geschichte seiner langsamen Ausbreitung und Durchsetzung in der Mehrzahl der britischen Kohlereviere meist als Kampf zwischen einem militanten und einem moderaten Flügel der NUM dargestellt: Hier radikale Streikbefürworter, die sich gegen eine Urabstimmung aussprachen, dort moderate Streikgegner, die mit Hilfe einer Urabstimmung den Streik verhindern wollten.5 Auch die ehemaligen Streikaktivisten in Durham zeichnen gerne ein Bild der Ereignisse, dem zufolge sich die Durham Area vor allem durch ihr Engagement radikalisiert habe.6 Die Ereignisse am Streikbeginn in Dawdon zeigen, dass es anders war: Im weiteren Verlauf des Konflikts kehrte auf Dawdon kein einziger Streikbrecher an die Arbeit zurück, obwohl die Arbeiter dort als politisch moderat galten und sich anfangs geweigert hatten, mitzustreiken.7 Für die Ausbreitung des Miners’ Strike kam es also weniger auf politische Überzeugungen als vielmehr auf praktische Streikbereitschaft an. Ausschlaggebend war die Vorstellung, dass die Einheit der Gewerkschaft erhalten werden müsse; weder eine abstrakte Klassenidentität, noch eine irgendwie geartete politische Programmatik trugen viel zur Beteiligung am Streik bei. Letztlich motivierte nicht einmal die Bedrohung durch Zechenschließungen die Bergleute von Dawdon, sondern nur die Verpflichtung zur Solidarität gegenüber den Kollegen im Bezirk Durham. Nach dem Streik wurde der neue Vorsitzende der Dawdon lodge, David Guy, im Jahr 1986 sogar zum Vorsitzenden (president) der NUM in Durham gewählt. Das praktische Verhalten im Streik beeinflusste also stärker als politische Selbstoder Fremdbeschreibungen aus der Zeit vor dem Konflikt, welche Individuen und Gruppen innerhalb der Durham Miners einen Führungsanspruch erheben konnten. Während der Beginn des Streiks im März 1984 in der Erinnerungskultur der National Union of Mineworkers als ein Moment verklärt wird, in dem die Bergarbeiter aus politischer Überzeugung oder aus Empörung über die Schließungsankündigungen in Streik getreten seien,8 gehen die Erzählungen der Streikgegner davon aus, dass die meisten Bergleute mit subtiler moralischer oder offener physischer Einschüchterung gezwungen worden seien am Streik teilzunehmen.9 Die Episode von Dawdon zeigt im Kontext des Streikbeginns jedoch recht deutlich, dass weder die eine noch die andere Auffassung zutrifft. Der Streik entstand

5 Beckett / Hencke, Marching, S. 66–68. 6 Interview mit Dave Temple am 30.10.2011. 7 O. A., The Pit Strike. Week 37, The Northern Echo 20.11.1984 und O. A., Halfway to return, The Northern Echo 01.03.1985. 8 David Temple, The Big Meeting. A History of the Durham Miners’ Gala, Washington 2011, S. 157. 9 »[…] this strike, started by manipulation of union rules, has been maintained by violence and intimidation – methods which are repugnant to the vast majority of miners.« The Rt. Hon. Margaret Thatcher, the Prime Minister, in: Hansard’s House of Commons Debates 31 July 1984, Bd. 65, S. 233–317, hier S. 248.

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zwar aus den Belegschaften heraus, aber nicht vollkommen spontan, sondern als Resultat von Verhandlungen, in denen Diskussionen und Überzeugungsarbeit von organisatorischer Disziplinierung und handfestem Druck begleitet wurden. Die Teilnahme am Streik galt für die meisten Bergarbeiter mithin als Ergebnis eines relativ demokratischen Prozesses. Die Ausein­andersetzungen um die Urabstimmung müssen als integraler Bestandteil einer regionalen Konfliktpraxis gesehen werden, durch welche die Autonomie der Gewerkschaftsseite betont wurde. Angesichts des Ziels der Streikbefürworter, Zechenschließungen zu ver hindern, war diese Taktik durchaus rational. Für die Führung der Durham Area um General­sekretär Tom Callan bot sie einen Ausweg aus einem Dilemma, denn einerseits stand das Executive Committee unter dem Druck derjenigen lodges, die bereits streikten, und andererseits musste die Leitung den restlichen Mitgliedern und der Öffentlichkeit vermitteln, dass die Durham Miners aus legitimen Gründen und aufgrund rechtmäßiger Verfahrensweisen in den Ausstand traten. Callan versuchte diesem Spagat gerecht zu werden, indem er betonte, dass es sich um eine ganz besondere Situation handele, die nicht mit vorherigen Konflikten verglichen werden könne: Area secretary Tom Callan said: »Durham has always been moderate but this time we have to be in the front line rather than being pressured into it.« Mr Callan also revealed that two or three lodges said they would strike regardless of the area’s decision. […] Mr Callan said arrangements would be made so that no pits would be endangered by the stoppage.10

Für die Streikempfehlung des Executive Committee der Durham Miners war die Gefahr gewerkschaftlicher Uneinigkeit daher mindestens genauso ausschlaggebend, wie das Bedürfnis gegen Schließungspläne zu protestieren. Insgesamt erhöhte der uneinheitliche Streikbeginn, bei dem jeder einzelne Bezirk einen Streik beschließen musste, den Entscheidungsdruck auf die regionale Ebene der NUM . Während die NUM in Durham keine Initiativen gegen flying pickets aus anderen Bezirken ergriff, achtete das Area Executive Comittee in Northumberland strikt darauf, dass sich bis zur Urabstimmung, die dort am 15. und 16. März stattfinden sollte, keine Streikposten aus Durham oder Schottland in ihrem Bezirk zeigten: »I hereby give categorical assurance that permission was neither asked for nor given for Durham Pickets to come into Northumberland.«11 Allerdings wurden die lodges im selben Schreiben dazu angehalten, auch die nichtautorisierten Streikposten zu beachten:

10 Nick Thompson, Durham’s pitmen put to test, The Northern Echo 10.3.1984. 11 National Union of Mineworkers Northumberland Area, Secretary S. Scott to each Local Secretary, Durham Pickets, 14.3.1984, Northumberland Record Office NRO 5021/B9/31 Northumberland Miners’ Strike Record 1984–1985, Most Important Circulars Despatches During the Strike 1984/85, S. 7.

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»Having said that I must, of course, reiterate the decision conveyed to you on 12th March, that we are [sic] unanimously agreed that in accordance with the T. U. C. Guidelines and the recognized Trade Union code of practice, our members are requested NOT to cross N. U. M. picket lines.«12

In Northumberland hatte der Bezirksvorstand eine Urabstimmung auf allen Zechen durchgesetzt, um eine formale Legitimation für den Streik zu gewährleisten. Angesichts dessen wird deutlich: Für die Führung der Durham Miners ging es zu Beginn des Streiks weniger darum, unter welchen Voraussetzungen gestreikt wurde, als vielmehr darum, die eigene Entscheidungsgewalt angesichts des ›wilden‹ Streiks wiederherzustellen. Durch seine Zustimmung zur allgemeinen Streikstimmung etablierte der Vorstand in Durham eine – angesichts der Entwicklungen der ersten Tage – überraschend einheitliche Haltung des Bezirks zum Streik. Allerdings waren Forderungen nach oder Betonungen von »Einheit« für die NUM-Bezirke in Durham und Northumberland nicht nur ein praktisches Ziel im Streik, sondern vor allem ein rhetorisches Mittel, das dazu diente Geschlossenheit herzustellen. Deshalb wurde immer wieder betont, dass Beschlüsse einstimmig (unanimously) zustandegekommen seien. Das Executive Comittee der Durham Miners fällte vor allem solche Entscheidungen, die – wie die zwei Streikentscheidungen vom 9. und 21. März 1984 – kontrovers oder schwierig waren, einstimmig und hob diese Einigkeit dann in allen Protokollen und öffentlichen Äußerungen besonders hervor: After discussion and debate  – (i) it was unanimously agreed to support the NEC resolution and so to recommend to Area Conference; (ii) on a motion the Durham Area Union undertake an individual ballot vote of the membership with  a recommendation for strike action being lost, it was agreed the Area Conference be recommended our members cease work at the end of the last production shift today, Friday, 9th March 1984.13

Diese Empfehlung des Vorstands der Durham Miners erfolgte unter großem Druck. Der Streikbeschluss selber wurde von der Area Conference, einer Versammlung von Delegierten aller Betriebsgruppen (lodges) gefällt, also von Vertretern der gewerkschaftlichen Basis, die sonst weder Sitz noch Stimme im Vorstand hatten. Streng genommen empfahl der Vorstand sogar nur, den Beschluss des National Executive Committees zu unterstützen, nachdem der alternative Vorschlag einer individuellen Urabstimmung keine Mehrheit gefunden hatte. Die meisten NUM-Funktionäre konnten die Kritik konservativer Medien und der Regierung am Zustandekommen des Streiks nicht verstehen, weil die Abstim-

12 Ebd. 13 North East England Mining Archive and Research Centre (künftig: NEEMARC) NUMDA /1/3/54: National Union of Mineworkers (Durham Area), Minutes of Committee Meeting held on Friday 9th March and Monday 14th March [sic] 1984, S. 6.

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mung in öffentlicher Versammlung und das Reden der Streikposten mit den unentschlossenen Kollegen für sie demokra­tische Verfahrensweisen bildeten. Auch die Entscheidung der Kumpel von Dawdon und Ernie Taylors Satz »The people convinced against their will are of the same opinion.« ist vor allem in dieser Hinsicht zu verstehen: Für Taylor gab es nach Diskussion und Abstimmung in der Betriebsgruppe kein Demokratiedefizit mehr. Abweichende Einzelmeinungen waren für das praktische Vorgehen der Belegschaft als Gruppe nun nicht mehr relevant. Auch wenn die Solidarität der Bergleute also keineswegs spontan entstand, sondern erst durch Verfahren hergestellt werden musste, stand sie dann als kollektiver Zwang über den Meinungen einzelner Arbeiter.14 Politisch moderate Funktionäre alter Schule wie Ernie Taylor teilten diese Ansicht mit politisch militanten jüngeren Gewerkschaftern wie z. B. Alan Cummings. Die britische Regierung bestand hingegen darauf, dass nur eine Urabstimmung aller Mitglieder der NUM einen Streik legitimieren konnte. Diese Auffassung wurde sogar während des Miners’ Strike in einem neuen Trade Union Act verankert.15 Die NUM blieb hingegen bei ihrer hergebrachten Position: Allein die Gewerkschaft selbst habe darüber zu bestimmen, wie sie einen Streikbeschluss fällt. Beide Haltungen spielten eine Rolle für die Entscheidung zu streiken oder nicht zu streiken, denn sie lieferten den Gewerkschaftsfunktionären und Bergleuten vor Ort Argumente, um den Streik zusätzlich zu legitimieren bzw. zu delegitimieren. Für die meisten zeitgenössischen Beobachter bildete dieser Teilkonflikt über die Urabstimmung den Grund für die Eskalation des Gesamtkonflikts von einem begrenzten Proteststreik zu einem fundamentalen, gesamtgesellschaftlichen Konflikt.16 Diese Beobachtungen treffen im Wesentlichen zu, nur war die Auseinandersetzung um die Urabstimmung auf der regionalen Ebene des Miners’ Strike eben kein prinzipieller Konflikt zwischen einer politisch moderaten und einer politisch militanten Gruppen von Bergarbeitern. Vielmehr entschieden traditionelle politische Praktiken der Solidarisierung und der Entscheidungsfindung in den einzelnen Bergbaurevieren über die Streikteilnahme. Die Diskussion um die landesweite Urabstimmung, die von der Regierung und den Medien initiiert wurde, stand im Zusammenhang mit Verschiebungen im Blick der britischen Öffentlichkeit auf die Gewerkschaften. Bereits seit den 1960er Jahren galten ihre ausufernden Lohnforderungen – insbesondere in den verstaatlichten Betrieben – als Hauptursache der hohen Inflation, die wiederum die wirtschaftliche Entwicklung des ganzen Landes hemme und so zum wirt-

14 Vgl. zum normativen Charakter von Solidarität: Kurt Bayertz, Begriff und Problem der Solidarität, in: Ders. (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt am Main 1998, S. 11–53, hier S. 21 und 40–48; Andreas Wildt, Solidarität. Begriffsgeschichte und Definition heute, ebd., S. 202–216, hier S. 210–215. 15 Trade Union Act 1984, Ch. 49, Part II, Sections 10–11. 16 Beckett / Hencke, Marching, S. 46–73.

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schaftlichen Niedergang (decline) beitrage.17 Ursprünglich ging der Impuls zu der gesellschaftlichen Debatte über das System des free collective bargaining unter Harold Wilson eher von Labour aus. Schlüsseldokumente dafür sind der Donovan-­Report des Arbeitsrechtlers Lord Donovan18 von 1968 und das Weißbuch »In Place of Strife« der Labour-Arbeitsministerin Barbara Castle aus dem Jahr 1969.19 Donovan sah in den industriellen Beziehungen in Großbritannien zwei unterschiedliche Systeme am Werke, ein formelles und ein informelles. Beide würde sich gegenseitig lahmlegen, da niemand die branchenweite Gültigkeit von Tarifverträgen garantieren könne: Zuschläge für besondere Leistungen oder Überstunden, die jeweils einzeln in Fabriken vereinbart wurden, verhinderten einheitliche und vergleichbare Löhne und damit auch die Möglichkeit für zentrale Entscheidungen, wirtschaftliche Planung und die universelle Anwendung von technischen Neuerungen.20 Castle nahm diese Analyse zum Anlass, die Häufigkeit von Streiks als Hauptproblem der britischen Wirtschaft zu sehen: 15. The deficiencies of Britain’s system of industrial relations are reflected in the character of our strike problem. It is true that, in comparison with many other countries, Britain’s strike record, […], is relatively good. But this does not mean that the industrial effects may not be more serious. […] The typical British strike is unofficial and usually in breach of agreed procedure.21

Daher schlug sie im abschließenden Maßnahmenkatalog eine Art »Friedenspflicht« nach kontinentaleuropäischem Vorbild vor: »13. To enable the Secretary of State by Order to require those involved to desist for up to 28 days from a strike or lock-out which is unconstitutional or in which for other reasons adequate joint discussions have not take [sic] place.«22 17 Für die äußerst umfangreiche Diskussion in der britischen Forschung vgl.: William Brown, Industrial Relations and the Economy, in: Roderick Floud / Paul Johnson (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Modern Britain III . Structural Change and Growth 1939–2000, Cambridge 2004, S. 399–423; Richard Hyman, What went wrong? In: John McIlroy / Alan Campbell / Nina Fishman (Hrsg.), British Trade Unions and Industrial Politics, Bd. 2, The High Tide of Trade Unionism 1964–79, Aldershot 1999, S. 353–364; Leslie Hannah, A Failed Experiment. The State Ownership of Industry, in: Roderick Floud; Paul Johnson (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Modern Britain III: Structural Change and Growth 1939–2000, Cambridge 2004, S. 84–111; Joseph Melling / Alan Booth, Waiting for Thatcher? Trade Unionism, Labour Politics and Shop Floor Bargaining in Postwar Britain, in: Dies. (Hrsg.), Managing the Modern Workplace. Productivity, Politics and Workplace Culture in Postwar Britain, Aldershot 2008, S. 125–163. 18 Royal Commission on Trade Unions and Employers’ Associations, 1965–68, Report, London 1968 (Cmnd. 3623) [Donovan Report], S. 261 f., in: Alan Booth (Hrsg), British Economic Development since 1945, Manchester, New York, 1995, S. 120–122. 19 In Place of Strife. A Policy for Industrial Relations (Cmnd. 3888), January 1969, in: Chris Wrigley (Hrsg.), British Trade Unions 1945–1995, Manchester, New York 1997. 20 Cmnd. 3623, ebd. 21 Cmnd. 3888, S. 6–9 bzw. 79. 22 Ebd. S. 81.

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Castles Vorschläge wurden von der ersten Regierung Harold Wilsons nicht mehr durchgesetzt. Doch der nächste konservative Premierminister, Edward Heath, versuchte sich daran, die Gewerkschaften zu einer allgemeinen Lohnzurückhaltung zu bewegen, um das in Großbritannien seit Kriegsende regelmäßig ablaufende Wechselspiel aus Boomjahren und Wirtschaftskrisen (boom and bust) zu durchbrechen. Damit scheiterte er jedoch, weil die Bergarbeiter im Winter 1973/74 streikten und Heath die daraufhin von ihm ausgerufenen Neuwahlen unter dem Motto »Who governs Britain?« verlor. Jedoch zeigte sich auch, dass weder der erneut an die Macht gelangte Harold Wilson noch sein Nachfolger James Callaghan dazu in der Lage waren, die Inflation dauerhaft zu begrenzen. Der sogenannte winter of discontent, ein Streik einiger Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes im Winter 1977–78, wurde schließlich zum großen Triumph von Thatcher. Ange­heizt durch allerlei Horrormeldungen von Streiks in Krematorien und dem für viele Briten nervtötenden Ausbleiben der Müllabfuhr, konnte sich die Oppositionsführerin wochenlang als glaubwürdige Alternative zum planlos agierenden Callaghan präsentieren. Das Problem der galoppierenden Inflation und der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften u n d Arbeitgeberverbänden, wurde auch weiterhin von Labour u n d den Konservativen erkannt. Die Kooperationsvereinbarung »for a new realism« zwischen Labour Party und TUC , die den Vorläufern von New Labour, den New Realists, ihren Namen geben sollte, entstand z. B. im Wahlkampf 1979, um Labour eine bessere Ausgangsposition bei Wählern der Mittelschicht zu verschaffen.23 Allerdings hatten Partei und Gewerkschaften ihre Glaubwürdigkeit weitestgehend verspielt, sodass die Analyse der neokonservativen Reformer um Thatcher und ihren Mentor, Sir Keith Joseph, zunehmend mehr Wählerinnen und Wähler überzeugte. Joseph und Thatcher sahen in der angeblich viel zu starken Stellung der Gewerkschaften das Hauptproblem der britischen Politik. Joseph hielt bereits im Februar 1979 einen vielbeachteten Vortrag, der von seinem eigenen Think-Tank, dem Centre for Policy Studies, unter dem knallharten Titel »Solving the Union Problem is the Key to Britain’s Recovery«24 vermarktet wurde. Für Joseph waren die Gewerkschaften der Übeltäter. Vor allem ihre rechtliche Stellung, die in der gerichtlich bestätigten Immunität und Indemnität im Streikfall bestand, war ihm ein Dorn im Auge. Daher zielten auch alle Versuche der konservativen Regierung und ihr nahestehender Unternehmer, ab 1979 ein restriktiveres Streikrecht zu erreichen, darauf ab, die Gewerkschaften mit Hilfe von Gerichtsverfahren für die wirtschaftlichen Folgen von Streiks in 23 Vgl. The Economy, the Government and Trade Union Responsibilities: Joint Statement by the TUC and the Government, in: Report of the Proceedings of the 111th Annual ­Trades Union Congress (Blackpool September 3rd to 7th, 1979), S. 392–397, Labour History Archive, Trades Union Congress Conference Reports, ohne Signatur. 24 The Rt. Hon Sir Keith Joseph Bt MP, Solving the Union Problem is the Key to Britain’s Recovery (A Talk given to the Bow Group, House of Commons 5 February 1979), Centre for Policy Studies: London 1979.

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Haftung zu nehmen. Ab 1979 tritt dadurch allerdings die ältere Überlegung von Lord Donovan und Barbara Castle in den Hintergrund, die ja noch argumentiert hatten, dass die angeblich so starke Stellung der Gewerkschaften vielleicht nur deshalb entstehen konnte, weil es in Großbritannien insgesamt keine effektiven Strukturen der industriellen Beziehungen gab. Der Blick auf den Kohlesektor spricht allerdings sogar gegen diese – vergleichsweise gewerkschaftsfreundliche Diagnose – denn hier gab es ja einigermaßen verlässliche und wirksame Strukturen der Kooperation zwischen einem relativ starken Arbeitgeber, und einer relativ starken Gewerkschaft. Erst der unbedingte Wille der NUM-Führung, die politische Speerspitze der Arbeiterbewegung zu sein, und der unbedingte Wille der Thatcher-Regierung, auch funktionierende gewerkschaftliche Strukturen zu zerschlagen, führte schrittweise zur Auflösung des Systems der industriellen Beziehungen im Bergbau und in den Montanregionen. Das sieht man unter anderen daran, dass die Machtposition der NUM – jedenfalls zu Beginn des Streiks – für alle Beteiligten im englischen Nordosten ein unhinterfragter Ausgangspunkt des Konflikts und keinesfalls Gegenstand der Auseinandersetzung war. Doch in der nationalen Öffentlichkeit etablierten journalistische Experten, wie der Industrial Editor der Financial Times, John Lloyd, sehr bald ein Bild der Ereignisse, in dem das Fehlen einer landesweiten Urabstimmung als planvolle Strategie der NUM-Führung dargestellt und – retrospektiv – mit dem Scheitern des Streiks in Verbindung gebracht wurde: The NUM promoted  a national strike without holding  a national ballot: from that decision flowed the necessity of widespread and increasingly violent picketing of working miners, a lukewarm response from the trade union movement and in increasing success for the NCB’s strategy of coaxing miners back to work.25

Diese Sicht auf den Streik als Konflikt um ›Gewerkschaftsmacht‹ bildete für die Akteure im Miners’ Strike alsbald ein Argument, um eigene Strategien zu begründen. Denn sie passte als Interpretation der Ereignisse in die nationale Debatte über die Stellung der Gewerkschaften in Gesellschaft und Politik. Der Miners’ Strike konnte so umstandslos als ein weiteres Beispiel für die angeblich problematische Stellung der Gewerkschaften in der britischen Gesellschaft verstanden werden, und damit ein wohletabliertes (Selbst-)Bild bestätigen.26 In der regionalen Perspektive wird an der symbolischen Aufladung der Urabstimmung aber eher deutlich, dass die Verschiebungen im politischen Diskurs und der erhöhte Regelungsanspruch des Staates einen zuvor relativ funktionsfähigen lokalen Mechanismus der Konflikbewältigung außer Kraft setzten. Diese Ebene des Konfliktgeschehens lässt sich aber nur durch die Untersuchung der konkreten Strukturen von Arbeit und Mitbestimmung in der Region unter den Be-

25 Lloyd wurde für seine Berichterstattung über den Miners’ Strike von der British Press Association als »Specialist Writer of the Year« ausgezeichnet: Lloyd, Understanding, S. 36. 26 Hordt, Von Scargill, S. 39–46.

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dingungen des Miners’ Strike rekonstruieren. Sie kann nicht aus den allgemeinen Linien einer Geschichte der industriellen Beziehungen abgeleitet werden.27 Wenn man Sprache mit den Methoden der New Political History28 als Zeichensystem auffasst, das die Wahrnehmung der Realität und die Aushandlung von politischer Macht strukturiert,29 dann rücken für den Miners’ Strike im Nordosten vor allem die Selbstbeschreibungen der Bergleute als moderate bzw. militant und Vorstellungen vom »Klassenkampf« bzw. unnötigen Protest politisch verführter Arbeiter in den Blick. Diese dürfen nun nicht länger als Voraussetzungen für den Konflikt verstanden werden, sondern müssen als Positionen untersucht werden, die erst unter den Bedingungen des Konflikts entstanden sind und dann die Selbstbeschreibungen und politischen Strategien der Akteure bestimmten.30 Nur wer rhetorisch erfolgreich behaupten konnte, eine richtige Vorstellung vom politischen Bewusstsein der Bergarbeiter des Nordostens zu besitzen, konnte beanspruchen, »die Arbeiter« in der Region politisch zu repräsentieren und so den eigenen Machtanspruch legitimieren.31 Dabei zeigte sich der Konflikt um die richtige Darstellung der Arbeiter im Bergarbeiterstreik auf der regionalen Ebene besonders heftig, weil die Region zwischen der Mikroebene des Betriebs und der Makroebene des nationalen Diskurses lag und sie deshalb für die Protagonisten des Bergarbeiterstreiks zentral war, um ihren Vorstellungen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Hier lassen sich deshalb einzelne Momente im Verhältnis von Arbeit und Mitbestimmung isolieren und beschreiben, die wesentlich zum Aufruhr in der Montanregion beitrugen. Mit den Abstimmungen in öffentlichen Versammlungen, wie sie auf Dawdon und anderen Zechen erfolgten, waren allerdings niemals endgültige Festlegungen verbunden; so wie die erste Area Conference eine Streikteilnahme ohne Vorbedingungen empfohlen hatte, stimmte die folgende – wiederum einstimmig – dafür, eine landesweite Urabstimmung zu fordern: On Wednesday, 21st March 1984, a specially convened Conference of the Durham Area Union consisting of Lodge Chairmen, Secretaries and Delegates, cognizant by full prior consultation with the membership to ascertain their views through the Association’s constitutional processes, unanimously decided to request an emergency meeting of the National Executive Committee fortwith and an individual ballot vote of the member27 Vgl. zu dieser Unterscheidung: Werner Plumpe, Arbeit und Mitbestimmung, in: Gerold Ambrosius / Dietmar Petzina / Ders. (Hrsg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 22006, S. 391–426. 28 Vgl. Steinmetz, New Perspectives, hier S. 4 f., 35–38 und 49–51; Koller, Streikkultur, S. 24 f. 29 Angelika Linke, Politics as Linguistic Performance. Function and ›Magic‹ of Communicative Practices, in: Steinmetz (Hg.) Political Languages, S. 53–66, hier S. 53 f. 30 Stedman Jones, Introduction, S. 8. 31 Stephan Schaede, Stellvertretung, V. Ethisch, in: Hans-Dieter Betz u. a. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Vierte Auflage Tübingen 2004, Sp. 1712 f.; Wolfgang Sofsky / Rainer Paris, Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition, Frankfurt a. M. 21994, S. 158–167 und 217–228.

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ship by implementation of NUM Rule 43 without delay. Your urgent attention would be appreciated.32

Bis zum 21. März hatten die Funktionäre und Basisdelegierten der Durham Miners mit ihren Beschlüssen den Streik im gesamten Bezirk etabliert. Der Kompromiss mit den Männern von Dawdon zeigt, ebenso wie der Streikbeschluss vom 9. März, dass die Führung des Bezirks und die Funktionäre vor Ort unter gewaltigem Handlungsdruck standen. Einerseits mussten sie den auf den meisten Zechen spontan angetretenen Streik in die ordentlichen Bahnen gewerkschaftlicher Entscheidungsstrukturen lenken, andererseits durften sie der Initiative von unten nicht zu viel entgegensetzen, wenn sie nicht ihre Macht verlieren wollten. Es war extrem schwierig, beide Anforderungen miteinander zu vereinbaren, wenn sich die Belegschaft einer einzelnen Zeche weigerte, die Beschlüsse der Bezirksleitung umzusetzen. Neben spontaner Solidarisierung konnte nämlich ein ganz anderer Effekt eintreten, wenn auf einmal Arbeiter von einem benachbarten Bergwerk vor den eigenen Werkstoren zum Streik aufforderten. Die Zwischenrufe bei der Betriebsversammlung auf Dawdon zeigen, dass die Mannschaft einer derart ›belagerten‹ Zeche ihrerseits das Gefühl entwickeln mochte, sich gegen Eindringlinge verteidigen zu müssen. Es war für die Führung der National Union of Mineworkers in Durham also relativ schwierig, zu Beginn des Bergarbeiterstreiks von 1984 die Streikfähigkeit ihres Bezirks zu gewährleisten. Die Autorität der Gewerkschaftsführung wurde sowohl dadurch, dass die Kumpel in vielen Zechen ohne gewerkschaftlichen Beschluss streikten, als auch durch die Weigerung anderer Belegschaften, sich am Streik zu beteiligen, gefährdet. Die Streikempfehlung des Area Executive Committee bildete daher einen Versuch, diesem drohenden Autoritätsverlust entgegenzuwirken. Denn nun folgten zumindest alle streikenden Bergarbeiter der Empfehlung des offiziell zuständigen Gremiums und es sah – ganz unabhängig von der tatsächlichen Motivlage einzelner Belegschaften – in jedem Fall so aus, als hätte die Gewerkschaftsführung ihre Mitglieder unter Kontrolle. Die Ereignisse am Streikbeginn in Durham stellten die industriellen Beziehungen auf der regionalen Ebene somit nicht prinzi­piell in Frage, da es dem Vorstand der Durham Miners gelungen war, den spontanen Aktivismus ihrer Mitglieder organisatorisch aufzufangen und prozedural abzufedern. Diese Feststellung widerspricht dem in der gewerkschaftseigenen Erinnerungskultur und der sympathisierenden Literatur gepflegten Bild eines Streiks, der ausschließlich von radikalen Aktivisten initiiert wurde. Die Führung der Durham Miners hatte die Forderung nach einer landesweiten Urabstimmung übernommen, weil man so leichter von anderen Bezirken eine Beteiligung am Streik einfordern konnte. Der Kompromiss mit den Kumpeln von Dawdon bestätigte für überzeugte Gewerkschafter in

32 NEEMARC NUMDA 1/3/54, Minutes of Committee Meeting held on Thursday, 22nd March, 1984, S. 5.

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Durham, dass Streikbereitschaft eine Vorbedingung für eine Abstimmung sein musste. So gelang es dem Executive Committee schließlich, die Handlungsfähigkeit der Durham Miners wiederherzustellen, die durch den irregulären Streikbeginn gefährdet gewesen war. With the decision of the Dawdon Lodge members to join in County strike action, it was formally reported the recalled area Conference on Wednesday, 21st March, had resolved these requests be made to the National Union. […] Dear Mr. Heathfield, […] On Wednesday, 21st March 1984, a specially convened Conference of the Durham Area Union consisting of Lodge Chairmen, Secretaries and Delegates, […] unanimously decided to request an emergency meeting of the National Executive Committee fortwith and an individual ballot vote of the membership by implementation of NUM Rule 43 without delay. Your urgent attention would be appreciated.33

Obwohl der hier zitierte Brief des Gewerkschaftsbezirks nach einer eindeutigen und endgültigen Positionierung für die Urabstimmung klingt, wurde der Beschluss vom 21. März von den Funktionären ganz anders ausgelegt. Die Vertreter der meisten lodges und der entscheidende Delegierte im National Executive Committee der NUM, Billy Stobbs, zogen den Schluss, dass auch eine landesweite Urabstimmung erst dann erfolgen dürfte, wenn alle Bergleute streikten. Solidarität bzw. die erwiesene Handlungsfähigkeit der Gewerkschaft war für sie eine Voraussetzung dafür, dass überhaupt abgestimmt werden konnte. Diese Gruppe konnte sich in Durham durchsetzen, als sich der Konflikt über die Urabstimmung innerhalb der NUM Anfang April erneut zuspitzte: Durham miners have agreed on a significant tactical change which might have major repercussions for the national coal strike. The area’s delegate on the NUM’s national executive committee, Bill Stobbs, is now under instructions to call for a special oneday conference before  a national pit-head ballot is held. The change represents  a victory for the left wing within the union. It upset Durham NUM president Harold Mitchell, and overturned a recommendation made by the Durham Area executive on Monday 34

Eine Abstimmung machte jetzt nur noch Sinn, wenn die Kampffähigkeit der Gewerkschaft unabhängig vom Ergebnis durch einen Streik unter Beweis gestellt werden konnte. Es ging den Vertretern dieser »Streik-zuerst«-Politik also ebenfalls um die Einigkeit der Gewerkschaft, nur verstanden sie unter Einigkeit eben etwas anderes als einen formalen Mehrheitsbeschluss für oder gegen Streik: Harold Mitchell came out saying the Durham area delegate on the NEC was still under instructions to call for the ballot. While Mr Stobbs agreed with that, he appeared to be saying that the call for the one-day national conference was now equally, if not more, important. He said a national conference would allow striking miners to talk to the 33 Ebd., S. 4 f. 34 Nick Thompson, Durham’s miners hold key, The Northern Echo 11.4.1984.

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Nottingham men. […] »We need to speak to them because we need unity in the NUM now more than ever before.«35

Das Northern Echo verstand dieses Ergebnis zwar als Triumph des linken Flügels, doch macht die Einlassung von Bill Stobbs deutlich, dass auch ›linke‹ Funktionäre um die internen Spannungen der NUM wussten und diese beseitigen oder zumindest glätten wollten. Sie handelten also aus der Konfliktsituation heraus und orientierten sich dabei an den praktischen Organisationsproblemen des Streiks und nicht an ideologischen Vorgaben. Selbst die Vertreter einer militanten Streikpolitik waren keineswegs so sehr von ihrer eigenen Rhetorik oder von einer unverbrüchlichen, automatischen Solidarität überzeugt,36 dass sie diese Realität verkannten. Mit ihren öffentlichen Äußerungen wollten sie vielmehr Solidarität erzeugen, moralischen Druck auf das Management aufbauen und diejenigen Arbeiter, die bereits streikten, emotional motivieren. Die Vertreter des National Coal Board betonten zu Beginn des Streiks häufig, dass dem Nordosten im Konflikt eine zentrale Rolle zukommen würde. Diese Behauptung trug wesentlich dazu bei, die nationalen Konfliktlinien und Argumentationsmuster auf die Verhältnisse vor Ort zu übertragen. So fand eine entscheidende Krisensitzung von Ian MacGregor mit den area directors der einzelnen NCB -Bezirke am 13. März nicht in der NCB -Zentrale in London, sondern in der Zentralverwaltung des nordöstlichen Bezirks in Gateshead statt. Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits die meisten Zechen im Nordosten bestreikt wurden, bemühte sich MacGregor, vermutlich in Absprache mit area director David Archibald, der Gastgeber und Teilnehmer des Treffens war, um Deeskalation: Pickets were out at most Durham pits yesterday and about 70 men from Wearmouth and Easington arrived at the Board’s area headquarters in Gateshead when they heard Ian MacGregor was attending a meeting. The 72-year-old chairman met NCB directors from all over Britain to discuss the strike. […] Talking about the North-East coalfield, he said: »I find the strike impact here has been much less than was forecasted. I’m gratified so many of our employees understand the proposals that have been put forward and are prepared to help us achieve the goals which are clearly of benefit to the industry.«37

MacGregor behauptete also trotz der Entwicklung des Streiks weiterhin, die Bergarbeiter im Nordosten würden in dem Konflikt eine gemäßigte Haltung an den Tag legen. Diese Strategie entsprach einerseits der allgemeinen Taktik des NCB zu Beginn des Streiks, denn strategisch ging das Management – aufgrund der allgemeinen Erfahrungen und der in den Jahren zuvor verlorenen Streikabstimmungen  – davon aus, dass eine schweigende Mehrheit der Bergarbeiter moderate Positionen vertreten würde. Bei den wirklich militanten 35 Ebd. 36 Vgl. Beckett / Hencke, Marching, S. 262–65. 37 Nick Thompson, Scargill’s cry wins the day, The Northern Echo 13.3.1984, S. 7.

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Streikbefürwortern handelte es sich nach dieser Analyse nur um einen kleinen Teil der Belegschaften, die aber in der Lage seien, den großen Rest dazu zu zwingen, am Streik teilzunehmen. Andererseits ging MacGregor damit auch auf ein wohl­etabliertes Muster regionaler Selbstbeschreibung ein, dem zufolge die Bergarbeiter in Durham und Northumberland dem Unternehmen gegenüber besonders loyal seien. Da die Bergleute 1984 jedoch gegen die Schließungspläne des NCB protestierten, fehlte die gemeinsame Grundlage für die derart gerühmte moderation der Bergleute des Nordostens, die bis dato in Gestalt des verhandelten Rückbaus von Produktionskapazitäten existiert hatte. Die NUM bezeichnete Ian MacGregor schon vor seinem Amtsantritt als Vorstandsvorsitzender des NCB stets als »elderly American butcher«. Hinter dieser agressiven Rhetorik verbarg sich eine grundlegende Verunsicherung über die Zukunft des Bergbaus. Auch die verschärfte Klassenrhetorik der NUM lässt sich als Reaktion auf den Verlust von Erwartungssicherheit interpretieren, die sich dann wiederum auf die Interaktion von Gewerkschaft und Unternehmensleitung in der Region auswirkte. Beide Seiten entfalteten infolgedessen in der regionalen Öffentlichkeit eine ausufernde Bedrohungskommunikation: NORTH-EAST pits are set to bear a major part of the cuts announced by coal boss Ian MacGregor yesterday, says the Miners’ union. The NUM claimed last night that just over 25 per cent of the four million tonne output cut would be shouldered by the North-East coal field. […] Durham Miners’ leader Tom Callan last night pledged his area’s support for any national action. »We will be holding a coalfield conference on Friday when we will be given a report by our national executive member,« he said. »I am sure we will follow any instructions passed on by the executive.«38

Die regionalen Manager des National Coal Board versuchten, die Situation zu beruhigen, um den Ausbruch des Streiks zu verhindern. Area director David Archibald betonte zwar, dass bereits beschlossene Maßnahmen ausreichen würden, um die neuen Bilanzziele zu erreichen, aber er versuchte auch, die bereits laufende Streikinitiative zu delegitimieren. The Director […] demolished the speculation about closures and affirmed that he had NO new closures to announce for 1984/85. The major part of the output reduction is taken care of by steps already completed or announced […] Stressing the importance of continuing to improve financial results through joint co-operation, Mr. Archibald said that in November 1983 55 % of the Area output was profitable – a firm base from which to face the challenge of the new financial framework – and a sign that we can succeed in the North East if we work together. […] Finally Mr. Archibald expressed the hope that future prospects will not be jeopardized by precipitate industrial action […].39

38 O. A., Pit axe ›to cut deep‹, The Northern Echo 6.3.1984, Hervorhebung im Original. 39 NEEMARC NUMDA /1/3/54, National Union of Mineworkers (Durham Area), Minutes of Committee Meeting held on Friday 9th March and Monday 14th March 1984, S. 6 f., Hervorhebung im Original.

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Archibald nutzte die Region als Argument, um den Unterschied zwischen Wahrheit, die zu Kooperation führen müsste, und Lügen, mit denen ein voreiliger Streik provoziert werden sollte, zu illustrieren. Zwar argumentierte der area director letztlich mit Profitabilität, doch betonte er ebenso den Sinn der Arbeit, der nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden dürfte. Andererseits drückte er Achtung für die Gewerkschaftsseite aus, da er ihr nicht das Recht zu streiken absprach, sondern lediglich vor »voreiligen« Streiks warnte. Die Vertreter der NCB North East Area stellten in den ersten Monaten des Streiks niemals das Recht der NUM in Frage, eigenständig – nach dem von der Gewerkschaft festgelegten Modus – über den Streik zu entscheiden. Diese Autonomie in den industriellen Beziehungen wurde zeitgenössisch weder von Funktionären, noch vom regionalen Management explizit thematisiert, weil sie für alle Beteiligten selbstverständlich war. Dennoch bildeten die rules and procedures immer wieder ein Argument in der Debatte, etwa in dem bereits zitierten Beitrag, den der industrial relations officer des NCB, George Atkinson, im Northern Echo veröffentlichte: The miners are entitled to query the future of the industry, if they wish, but there are agreed procedures through which they can do it. But how can there be discussions if the union leaders simply do not a t t e n d c o n s u l t a t i v e meetings?40

Die Spielregeln der korporatistischen Autonomie, des free collective bargaining, waren fest im Denken derjenigen Manager verankert, die in der Abteilung industrial relations arbeiteten und dort das Alltagsgeschäft der industriellen Beziehungen besorgten. Manager wie Atkinson sahen gleichberechtigte Kommunikation als essentielles Merkmal des National Coal Board an und empfanden den Streik deshalb ihrerseits als einen empörend-einseitigen Kommunikationsabbruch. Atkinsons Argumentation zeigt, dass traditionell eingestellte Manager viele Vorstellungen mit der Gewerkschaftsseite teilten. Doch für Atkinson bedeutete das Beharren auf korrekten Verfahrensweisen, dass in der gegebenen Situation nicht gestreikt werden sollte. Wie sehr dieser Standpunkt demjenigen vieler Bergarbeiter ähnelte, wird an einem anonymen Leserbrief im Northern Echo deutlich: My association had a secret area ballot resulting in a two-to-one majority against strike. This has been largely academic as other sections of the NUM have set up picket lines which, as trade unionists, we will not pass. Although, I agree about not crossing colleauges’ [sic] picket lines, I wonder how long men in the North-East will accept this lockout as long as the NEC , who are only representatives of the men, will not mandate a national ballot.41

40 Atkinson, Strike fallacy, Hervorhebung im Original. George L. Atkinson MBE starb 2014 und hatte in der Royal Air Force als Schütze an Bord eines Lancaster Bombers gedient, sein Geburtsjahr muss also vor 1927 liegen: the banner magazine, Durham Aged Mineworkers Homes Associaton, Winter 2015/Issue 69, S. 2. 41 Easington Mechanic, Hear All Sides. To The Editor, The Northern Echo 26.3.1984.

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Dieser anonyme Leserbriefschreiber, der angab, der mechanic’s association der

NUM anzugehören, bevorzugte zwar eine Urabstimmung, erkannte aber auch

die Legitimität der Streikposten an. In seiner Sicht ist aber nicht die Durham Area, sondern ausschließlich das National Executive Committee für diesen prozeduralen Fehler verantwortlich. Am umkämpften Streikbeginn in Durham zeigen sich Konfliktpraktiken, die einer spezifischen sozialräumlichen Ordnung der Montanregion entsprachen: Der Primat regionaler gewerkschaftlicher Organisation vor der nationalen Ebene, Solidarisierung als praktisches, betriebliches Projekt und rhetorische Strategien der politischen (De)Legitimierung, die sich auf Kohle als öffentliches Gut bezogen, bestimmten sowohl Handlungsstrategien als auch die öffentliche Kommunikation der Konfliktparteien. Diese Praktiken vermittelten daher gerade im Streikfall Muster sozialer, politischer und ökonomischer Legitimität, die auf dem Verhältnis von Arbeit und Mitbestimmung beruhten, das sich nach der Verstaatlichung des Bergbaus 1947 und während der langen Zeit des industriellen Strukturwandels entwickelt hatte. Der Staat war dafür zuständig, die Folgen des relativen industriellen Niedergangs so zu bewältigen, dass keine massenhafte Arbeitslosigkeit entstand. Daher lag den Rationalisierungsmaßnahmen bis zum Streik immer die Annahme zugrunde, dass vorhandene und erschließbare Kohlevorkommen auch ausgebeutet werden müssten. In der moral economy des Nordostens (und anderer Kohlereviere)  stand Machbarkeit vor Wirtschaftlichkeit. Die Schwierigkeiten des Kohleabbaus in den verbliebenen coastal pits unter der Nordsee trugen in den Augen vieler Arbeiter und Manager sogar zum Prestige der Arbeit bei, denn hier waren die persönlichen Fähigkeiten von Ingenieuren und Arbeitern in besonderem Maße gefordert. 1984 gerieten beide Seiten dieser moral economy in Gefahr: Die neuen Schließungspläne bedrohten sowohl den Handwerksstolz und das Produktivitätsdenken, als auch die Ansprüche auf Versorgung und Ausgleich, die bisher eine Verständigung auf einer gemeinsamen Basis ermöglicht hatten. Der Streikbeginn in Durham zeigt daher vor allem, dass der Konflikt um die Urabstimmung innerhalb der NUM keine prinzipielle Auseinandersetzung zwischen moderaten Streikgegnern und militanten Streikbefürwortern war. Spezifische regionale Erfahrungen und der kontingente Verlauf der Ereignisse bestimmten die mehrfachen Strategiewechsel zwischen Anfang März und Ende April. In Revieren wie Durham, in denen bereits alle Bergarbeiter streikten, machte eine Urabstimmung nur noch wenig Sinn, weil der Streik in der regionalen Perspektive der Funktionäre und Aktivisten, aber auch eines signifikanten Teils der Arbeiter, auf legitime Weise zustande gekommen war. Noch weniger sinnvoll erschien es den Männern, dass Kollegen in anderen Revieren nun bis zu einer Abstimmung weiterarbeiten sollten, deren Ausgang ungewiss blieb, während sie selbst schon seit einem Monat streikten. Auf der regionalen Ebene des englischen Nordostens zeigt sich deutlich: Das »wir-gegen-die«-Gefühl, das einen selbstverständlichen Teil der kollektiven Erinnerung an den britischen Bergarbeiterstreik ausmacht, entwickelte sich erst im Laufe des Streiks. Die Entstehung des Streiks, zu der gleichermaßen spontane

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Arbeitsniederlegungen auf einzelnen Zechen, nachholende Streikbeschlüsse des area executive committee wie das Beharren einer Belegschaft im Bezirk Durham und des gesamten Bezirks Northumberland auf einer Urabstimmung beigetragen hatten, deutet vor allem auf allgemeine Unsicherheiten hinsichtlich der Erwartungen an einen Konflikt zwischen Gewerkschaft und Unternehmensleitung hin. In den industriellen Beziehungen und den Mitbestimmungsverhältnissen innerhalb der NUM lässt sich auf der regionalen Ebene kein prinzipieller ideologischer Gegensatz zwischen den Konfliktparteien finden. Doch setzte sich zu Beginn des ­Miners’ Strike in der Gewerkschaft auch auf der regionalen Ebene recht schnell eine militante Deutung des Konflikts als unvermeidlicher Abwehrkampf gegen das Management des National Coal Board durch. Zudem störte die Entstehung des Streiks aus lokalen Arbeitsniederlegungen das hergebrachte Muster der industriellen Beziehungen in der Region, weil die Kontrolle des area executive committee über die Vorgänge in der Durham Area zeitweise zusammenbrach. Indem sie sich seit Beginn des Streiks der Zusammenarbeit in den gemeinsamen Gremien des Coal Board verweigerte, stellte die NUM auf nationaler wie auf regionaler Ebene überdies das Ko-Management des Unternehmens fundamental in Frage. Zudem betraf dieser Kommunikationsabbruch genau den Bereich der industriellen Beziehungen, in dem ansonsten auf Bezirksebene über die Schließung von Zechen verhandelt wurde. Das National Coal Board kündigte erst später, mit den verschiedenen return-to-work Initiativen des Sommers, die Grundlagen für funktionierende industrielle Beziehungen im Steinkohlesektor auf, die im Wesentlichen seit 1939 als gültig erachtet worden waren. Der ursprüngliche Regelungskonflikt zwischen Management, Regierung und Gewerkschaft um die Zechenschließungen wurde spätestens jetzt zu einem grundsätzlichen Anerkennungskonflikt. Die Arbeitsniederlegung entwickelte sich aber insgesamt zu einem Aufruhr in der Montanregion, weil beide Konfliktparteien im Rückgriff auf geteilte Werte wie Produktivität, Solidarität oder Gemeinschaftssinn eine umfassende Bedrohungskommunikation entfalteten.

2.2 »Arbeit« und »Gemeinschaft« An einem heißen Julitag im Jahr 1984 herrschte Aufruhr im britischen Unterhaus. Am letzten Tag vor den Parlamentsferien stand eine Generaldebatte über die Regierungspolitik an, traditionell die Gelegenheit für den Führer der »Opposition Ihrer Majestät«, die Regierung scharf anzugreifen. Seit dem März des Jahres wurden alle Aussprachen im Unterhaus vom Miners’ Strike dominiert. Wie so oft gelang dem Oppositionsführer Neil Kinnock gegen Premierministerin Margaret Thatcher auch im heißen Streiksommer 1984 kein Punktgewinn in der Debatte.42 Die Regierungschefin sprach der Labour Party sogar ab, dass sie überhaupt »Ar42 Vgl. den Bericht: O. A., MPs cheer as Maggie bites back, The Northern Echo 1.8.1984.

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beiter« repräsentieren würde, weil sich im Miners’ Strike zeige, wie weitgehend sie die »wahren Interessen der arbeitenden Menschen« vernachlässige: The Labour party is the party which supports every strike, no matter what its pretext, no matter how damaging. But, above all, it is the Labour party’s support for the striking miners against the working miners which totally destroys all credibility for its claim to represent the true interests of working people in this country. (…) He leads a party which has allied itself to the wreckers against the workers.43

Das Reden über Arbeit und die politischen Vorstellungen, die mit Arbeit verbunden waren, beeinflusste direkt, wie Akteure im Miners’ Strike eigene Positionen definierten und politische Legitimität für ihr Handeln konstruierten. Indem Thatcher behauptete, die Labour Party vertrete nicht die »wahren Interessen arbeitender Menschen«, attackierte sie nicht nur das Fundament des politischen Repräsentationsanspruches der britischen »Partei der Arbeit«,44 vielmehr definierte sie den Begriff Arbeit um und nutzte ihn für ihre eigenen Zwecke. Damit schlug die Premierministerin, wenige Tage nachdem sie die Führung der National Union of Mineworkers vor dem 1922 Committee der Konservativen Partei als »enemy within«45 bezeichnet hatte, einen anderen Ton in der politische Debatte an. Sie wollte nun zwischen einer schlechten Führung der Gewerkschaft und den Bergarbeitern als Teil der arbeitenden Bevölkerung unterscheiden. Während des Streiks standen im öffentlichen Diskurs drei verschiedene Bilder von Arbeit als konkurrierende Identifikationsangebote mit regionalem Bezug zur Verfügung. Manager und Gewerkschafter teilten zu Beginn des Streiks eine Vorstellung von der Tätigkeit der Bergleute als hochqualifizierter und gefährlicher Schwerstarbeit mit dem Ziel eines möglichst hohen Ausstoßes von Steinkohle. In erwartbarer Weise betonten Vertreter des Managements dabei tendenziell die Komponente der Produktivität, während die Arbeiter und ihre Vertreter zumeist die körperliche Härte der Arbeit und soziale Errungenschaften wie Sicherheit am Arbeitsplatz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und bezahlten Urlaub hervorhoben. Die Think-Tanks im Umfeld der späteren Premierministerin Thatcher hatten seit den 1970er Jahren hingegen ein Bild von guter Arbeit als individueller Leistungsfähigkeit entworfen bzw. reaktiviert. Damit rückte Streik in die Nähe eines politisch und moralisch verwerflichen Handelns.46 Seit den frühen 1980er Jahren entwickelten linke Gewerkschafter, Aktivisten aus den Neuen Sozialen Bewegungen und kritische Sozialwissenschaftler dagegen eine Auffassung von industrieller Schwerarbeit als eigensinniger Lebensform und Grundlage für 43 Government Policy, Hansard’s House of Commons Debates 31 July 1984, Bd. 65, S. 233–317, hier S. 247–252. 44 Vgl. Priemel, Gewerkschaftsmacht, S. 110 f. 45 Speech to 1922 Committee (»the enemy within«), 19.7.1984, The Margaret Thatcher Foundation, http://margaretthatcher.org/document/105563, 7.3.2013; Julian Haviland, Thatcher Makes Falklands Link. Attack on ›Enemy Within‹, The Times 20.7.1984, zitiert nach: http://margaretthatcher.org/document/105563, 7.3.2013. 46 Ben Jackson, An Ideology of Class, hier S. 277–281.

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erhaltenswerte Gemeinschaften (communities). Wie wurden diese Bilder von Arbeit auf der regionalen Ebene des Miners’ Strike im englischen Nordosten eingesetzt und wie veränderten sie dort die Dynamik des Konflikts? Die Darstellungen der Arbeit im Bergbau, die von der NUM im Miners’ Strike propagiert wurden, wirken auf den ersten Blick nicht sehr radikal. Grundsätzlich streikte die NUM für den Erhalt der Zechen und die meisten ihrer Funktionäre vertraten dabei Vorstellungen von Produktivität im Sinne wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Diese Ideen wurden vor allem als Bild harter Arbeit und handwerklichen Geschicks zu Argumenten im Streik. In einer Karikatur (Abb. 6), die in einem Flugblatt der NUM (»Coal not Dole«) noch vor dem Ausbruch des Streiks abgedruckt wurde,47 erreicht ein Bergarbeiter symbolisch das 1976 vereinbarte Produktionsziel von 200 Millionen Tonnen auf einem Hau-den-Lukas (engl. high striker). Mit dieser Zeichnung wollte die Gewerkschaft an das Produktivitätsdenken ihrer Mitglieder appellieren. Im Bild ist ein Wortspiel versteckt, neben der Kirmesattraktion Hau-den-Lukas, die für ein öffentliches Kräftemessen steht, kann high striker auch einen Arbeiter bezeichnen, der besonders viel erreicht. Doch striker bedeutet auch »streikender Arbeiter«.48 Ein Streik sollte also dem Ziel hoher Produktivität dienen und helfen, das 1976 im Plan for Coal vereinbarte Produktionsziel von 200 Mill. Tonnen Steinkohle pro Jahr zu erreichen. Wie wurden solche Bemühungen der Gewerkschaft, den Streik als eine Maßnahme zum Erhalt von Arbeitsplätzen im Interesse einer produktiven Industrie darzustellen, von den Arbeitern selbst aufgenommen? Leserbriefe von betroffenen Bergarbeitern im Nordosten zeigen, dass diese Strategie zunächst ambivalente Folgen zeitigte. Zumindest bei einigen Arbeitern lag der Schluss näher, dass im Interesse höherer Produktivität ohne Streik weitergearbeitet werden sollte, um die gefährdeten Arbeitsplätze zu erhalten. Manche Bergarbeiter, die sich in besonderem Maße mit einem Ethos der Produktivität identifizierten, bezogen deshalb Stellung gegen den Streik und führten die Streikbereitschaft auf die schädigende Einstellung von radikalen Heißspornen (hotheads) in den eigenen Reihen zurück. Eine solche Position wird in dem folgenden Leserbrief im Northern Echo deutlich, dessen Verfasser sich selbst anonym als »Four Miners, Easington Colliery« bezeichneten: The recent pit closure in Fife was caused by McGahey refusing permission to essential maintenance. Do not blame the NCB. What other union would deliberately destroy its workshops? […] Unfortunately, we have to remain anonymous, as we have hotheads who want to strike. […].49 47 Dt. »Kohle statt Sozialhilfe«, »coal« ist im Englischen allerdings kein Ausdruck für Geld. 48 Vgl. dazu den Titel der Streikzeitung der NUM Durham Area, »The Durham Striker«, die von Dezember 1984 bis Juni 1985 unter diesem Titel erschien und erst danach als »The Durham Miner« weitergeführt wurde, The Durham Striker, Labour History Archive Manchester, MS84/Lab/1/3/1–7 und ebd. Martin Walker Papers, MS84/MW/6/1. 49 »Four Miners«, Pit Strike Built on Bullying. Hear All Sides. To the Editor, The Northern Echo, 14.3.1984: Die Behauptung, dass man anonym bleiben »müsse«, war freilich

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Abb. 6: Millson, 200 Million Tonnes, NUM Coal Not Dole, o. D. [Januar–März 1984], S. 8, Durham County Record Office, D / Dor 6/8 Coal Industry Dispute 84–85, Item 05, mit freundlicher Genehmigung durch das Durham County Record Office.

Die angeblichen oder tatsächlichen Bergleute aus Easington wandten sich gegen die nationale Linie der Gewerkschaft, weil sie eine physische Zerstörung der Arbeitsstätten befürchteten und grenzten sich damit scharf von der nationalen Führung und dem als radikal verschrienen Bezirk Schottland ab. Der Leserbrief kann trotz des polemischen Tons als relativ glaubwürdig bewertet werden, weil sich die Verfasser auf sehr konkrete Vorkommnisse beziehen und mit ­»maintenance­« einen bestimmten Aspekt der Arbeitswelt unter Tage hervorheben, dessen Bedeutung Außenstehenden nicht deutlich gewesen sein dürfte. Die Instandhaltung (maintenance) der technischen Vorrichtungen wie Förderanlagen, Bewetterung und Pumpen, sowie der im Steinkohlebergbau stets Teil einer Inszenierungsstrategie. Michael (Mick) McGahey war Vorsitzender der National Union of Mineworkers in Schottland und als Mitglied der Communist Party of Great Britain bekennender Kommunist. Wahrscheinlich wählte der Leserbriefschreiber absichtlich McGahey aus, da dieser sich aufgrund seiner politischen Überzeugungen als Sündenbock eignete, vgl.: Robert Taylor, McGahey, Michael [Mick] (1925–1999). Oxford Dictionary of National Biography 2004, http://www.oxforddnb.com/view/article/71995, 24.1.2013.

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durch Hebung und Senkung gefährdeten Strecken, stand bei fast allen Kompetenz- und Machtkonflikten zwischen Arbeitern und Managern im britischen Bergbau im Mittelpunkt.50 Denn die Wartung bildete die Voraussetzung für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Kohleproduktion und die Sicherheit der Bergleute.51 In Zeiten eines Streiks steigt ihre Bedeutung an, da die technischen Einrichtungen weiter gepflegt und erneuert werden müssen, obwohl die Produktion stillsteht. Zudem kann ein Stillstand der Produktion nach kürzester Zeit zur Zerstörung einzelner Förderabschnitte oder eines ganzen Bergwerks führen. Indem sie in ihrem Leserbrief mit »maintenance« argumentierten, benutzten die anonymen »vier Bergarbeiter« aus Easington ihr Selbstverständnis als handwerklich fähige, verantwortungsbewusste und politisch gemäßigte Facharbeiter, um gegen den Streik Partei zu ergreifen. Dies war der Bereich der eigenen Arbeit, für den jede Seite Expertise reklamierte; die Bergleute selbst waren hochqualifizierte oder zumindest nach einer Anlernphase hochspezialisierte Arbeiter und alle Positionen im Management des Coal Board wurden mit Bergwerksingenieuren besetzt, für die technische Kenntnisse über den Bergbau ebenfalls das entscheidende Kriterium beruflicher Qualifikation bildeten. Der Rekurs auf Wissen und Fähigkeiten war ständig von graduellen Verschiebungen durch Rationalisierung und technischen Wandel betroffen; im Streik von 1984–85 fehlte aber in gewisser Weise von vorneherein die gegenseitige Anerkennung des Expertenstatus der jeweils anderen Gruppe, da es von Anfang an um die Definitionshoheit über einen zentralen technisch-ökonomischen Aspekt der Produktion ging: Unter welchen Bedingungen waren Zechen »unrentabel« oder »ausgebeutet«? Doch kam die Gegnerschaft zum Streik, die häufig mit einer Abgrenzung gegenüber radikalen Gewerkschaftsführern einherging, keineswegs einer Abkehr von der NUM, der Arbeiterbewegung oder der Labour Party gleich. Vielmehr argumentierten Lesebriefschreiber mit dem Beharren auf Mäßigung auch für eine stärkere Einmischung in die Angelegenheiten von Gewerkschaft und Partei: We of the NUM are cats-paws to satisfy the ego of Arthur and his Marxist staff (…) It is time for the vast majority of moderate [union members, A. H.] and Labour voters to rise up against this man and other trade union leaders who wish to destroy the Labour Party and the ballot box. (…) Durham Miner Easington Colliery 52 50 Bill Griffiths, Pitmatic. The Talk of the North East Coalfield, Newcastle upon Tyne 2007, hier S. 46 f., und S. 66–84. 51 Dazu allgemein: Günter Hegermann / Wolfhard Weber, Bergbautechnik nach 1945, in: Michael Farrenkopf u. a. (Hrsg.), Glück auf! Ruhrgebiet. Der Steinkohlenbergbau nach 1945, Bochum 2009, S. 330–341, hier S. 332; speziell für den Strebausbau: Karl-Richard Haarmann, Gebirgsdruck und Grubenausbau unter besonderer Berücksichtigung des Strebausbaus, ebd., S. 351–362, passim. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass »maintenance« in dem Standardwerk zum britischen Kohlebergbau im Kapitel zur Technik nicht vorkommt, dort geht es ausschließlich um die Gewinnung der Kohle: Ashworth, The Nationalized Industry, S. 61–118. 52 »Durham Miner«, Rise up against Scargill, Hear All Sides Extra, The Northern Echo 14.4.1984.

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In diesem ebenfalls anonym verschickten Leserbrief wird ein Gegensatz zwischen der Gruppe der Gewerkschaftsmitglieder und der Gewerkschaftsführung um Arthur Scargill konstruiert. Aber dem Verfasser ging es darum, eine angeblich schweigende Mehrheit zur Erhebung gegen die radikalen Anführer anzustiften, um die Labour Party und die Gewerkschaft vor Schaden zu bewahren. Der Anonymus legte den Schwerpunkt seiner Argumentation also auf die politischen Beziehungen zwischen einer gemäßigten, aber ohnmächtigen Basis und deren radikale Repräsentanten. Wie den anonymen Verfassern des ersten Leserbriefes geht es ihm um die r i c h t i g e Darstellung der Arbeiter. Beide Autoren sprechen sich nicht gegen Mitbestimmung aus, denn ihre Briefe bezeugen eine eigentümliche, fast schon aneignende Sorge um die (vermeintlich) eigene Betriebsstätte. Für die meisten britischen Bergleute gehörte die Mitbestimmung in gewerkschaftlichen und betrieblichen Angelegenheiten untrennbar zu ihrer Arbeit; sie trug zusammen mit den handwerklichen Fähigkeiten und dem Produktivitätsglauben erheblich zu ihrem Selbstbild als e c h t e Arbeiter bei. Auch die NUM wusste um dieses eigensinnige Beharren auf Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und versuchte daher, es in die Bahnen der gewerkschaftlichen Organisation zu lenken. In einer zweiten Karikatur (Abb. 7) in dem bereits erwähnten Flugblatt »Coal Not Dole« wird die Gewerkschaft deshalb als Sachwalterin der betrieblichen Angelegenheiten dargestellt. Das Bild zeigt ein Anschlagbrett, auf dem bereits zwei Zettel mit den Aufschriften »pit closures« und »sackings« angeheftet sind. Darüber befestigt ein Arm, der in ein Nadelstreifensakko mit den Buchstaben NCB gehüllt ist, einen Zettel mit der Aufschrift »shift changes«. Vor dem schwarzen Brett steht ein grimmig dreinblickender Arbeiter, der eine Banderole mit der Aufschrift NUM trägt und die Hand erhebt, um dem Arm des National Coal Board Einhalt zu gebieten. Nur konnte das Beharren der Gewerkschaft auf Mitbestimmung am Arbeitsplatz, das so in den Mittelpunkt der Argumentation gerückt wurde, eben auch gegen die Streiktaktik der NUM verwendet werden, wie die anonymen Leserbriefe der echten oder vermeintlichen Bergleute im Northern Echo zeigen. Während die Autoren des ersten Briefes sich mit dem Argument der Produktivität gegen einen Streik aussprachen, zielten diejenigen des späteren Briefes auf die Demokratie innerhalb der britischen Arbeiterbewegung ab. Die demokratischen Prozeduren innerhalb der Gewerkschaften galten im offiziellen Diskurs britischer Funktionäre seit Beginn des 20. Jahrhunderts als wesentliches Merkmal einer freien, nationalen Gewerkschaftskultur und dienten in der Öffentlichkeit und im internen Diskurs der Arbeiterbewegung als Legitimation für den gesellschaftlichen Status der trade unions als autonome Korporationen.53 Das Verhältnis von Arbeit und Mitbestimmung bildete daher nicht bloß einen beliebigen Aspekt der industriellen Beziehungen, über den poli53 Gustav Schmidt, »Industrial Relations« und »Industrial Democracy«, in: Ders. (Hrsg.), »Industrial Relations« und »Industrial Democracy« in Großbritannien, Bochum 1984, S. 7–31, hier S. 10 f.

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Abb. 7: o. A. (Millson), »Notices«, NUM Coal Not Dole, o. D. [Januar-März 1984], S. 2, Durham County Record Office, D / Dor 6/8 Coal Industry Dispute 84–85, Item 05, mit freundlicher Genehmigung durch das Durham County Record Office.

tisch frei verfügt werden konnte, für überzeugte Gewerkschafter war es vielmehr Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung schlechthin. Deshalb unterlagen die unterschiedlichen Vorstellungen von Arbeit im Bergarbeiterstreik auf der regionalen Ebene schon innerhalb der NUM heftigen Deutungskämpfen und zeitigten gerade in der Mobilisierungsphase des Streiks höchst ambivalente Wirkungen. Die Mitwirkung der Gewerkschaft in Fragen des Betriebsablaufs (Schichtzeiten, Einfahrzeiten, Arbeitsgruppen) gehörte für die Bergarbeiter im Nordosten untrennbar zu ihrem Arbeitsverhältnis. Weder die Bergleute, noch die lokalen M ­ anager betrachteten kollektive und individuelle Elemente der Arbeitsbeziehungen als scharf getrennte Kategorien. Diese pragmatische Vermischung entwickelte sich jedoch zu einem Problem, weil die konservative Regierung in London während des Streiks immer wieder betonte, ein Arbeitsverhältnis sei ein Vertrag zwischen einem einzelnen Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber. Die Zentralregierung trennte also genau die Elemente, deren Vermischung ein wesentliches Element der Ordnung der Montanregion ausmachte. Damit existierte ein individualistisches Konkurrenzangebot zum kollektiven Alleinvertretungsanspruch der NUM. Einzelne Arbeiter übten in dieser Sichtweise ein individuelles Recht auf Arbeit (right to work) aus, wenn sie den Streik brachen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen des free collective bargaining, nämlich der Zwangscharakter kollektiver Vereinbarungen, war somit hinfällig geworden.

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Im kollektiven Gedächtnis blieben allerdings die widersprüchlichen Bilder von heldenhaft gescheiterten Streikenden, die eine proletarische Lebensform verteidigten, und privilegierten, aber dennoch militanten Bergarbeitern haften. Sie entstanden aus Vorstellungen von der Arbeit im Bergbau, die von den Unterstützern des Streiks aus den Neuen Sozialen Bewegungen bzw. den konservativen Streikgegnern propagiert wurden. Die Darstellung des Bergarbeiterstreiks als heroisches Scheitern defensiv handelnder Bergarbeiter lässt sich auf ein Interesse an schwerindustrieller Arbeit zurückführen, das in den 1970er Jahren einsetzte.54 Im Zuge einer umfassenden Kulturalisierung und Musealisierung industrieller Lebenswelten in den Montanregionen während der 1990er und 2000er Jahre ist verloren gegangen, dass ein derartiger Blick auf Industriearbeit sehr jungen Datums ist. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein war die Abschaffung von schwerer körperlicher Arbeit oder »Maloche« ein zentrales Ziel aller Arbeiterbewegungen.55 Die Vorstellung von Bergarbeiterdörfern als bedrohte communities existierte zwar bereits vor dem Miners’ Strike, aber erst durch den Konflikt wurde sie für die betroffenen Arbeiter zu einer akzeptablen Selbstbeschreibung und verdrängte schließlich Aspekte wie Produktivität und Facharbeiterethos. Auch die Führung der NUM begann bereits vor dem Beginn des Streiks, Elemente einer lebensweltlichen Argumentation zu gebrauchen. Im Flugblatt »Coal Not Dole« findet sich dieses rhetorische Muster neben der produktivitätsorientierten Argumentation: Pits must stay open to provide the coal we need. And they must remain publicly owned. […] The future of our pits and towns is threatened today as never before. The Government and the NCB are determined that 70,000 jobs and 70 pits will go. With them will go our villages. […] They are trying to destroy the nationalised industry past generations fought for.56

Ein Grund für die zweigleisige Argumentation der NUM bestand in der Ambivalenz produktivitätsorientierter Begründungen für den Streik: Sie konnten von Streikgegnern allzu leicht gegen die Gewerkschaftsführung gewendet werden und waren im allgemeinpolitischen Klima, in dem die Gewerkschaften als Hindernis für Produktivität galten,57 ohnehin schwierig zu vermitteln. Ebenso wichtig für den Strategiewechsel der Gewerkschaft war aber die Streiktaktik des

54 Vgl. Strong Words Collective / Terry Austin u. a. (Hrsg.), But the World Goes on the Same. Changing Times in Durham Pit Villages, Whitley Bay 1979; Niethammer, Einleitung, passim. 55 Vgl. Hindrichs u. a., Der lange Abschied, S. 7–10; Jürgen Kocka, Work as a Problem in European History, in: Ders. (Hrsg.), Work in a Modern Society. The German Historical Experience in Comparative Perspective, New York / Oxford 2010, S. 1–15, hier S. 9 f. 56 NUM Coal Not Dole, no date given [March 1984?], Durham County Record Office, D / Dor 6/8 Coal Industry Dispute 84–85, Item 05, S. 10 und ebd. Umschlagrückseite ohne­ Nummer. 57 Priemel, Gewerkschaftsmacht, S. 110 f.

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regionalen Managements im Nordosten.58 Der area industrial relations officer der

NCB -Region Nordost, George Atkinson, versuchte mit Bildern einer produktiven

Industrie die Stimmung bei den Bergleuten zu beeinflussen:

Management within the area are saddened by the current situation. They see an industry which after years of difficulty has reached a plateau of relative stability. Wages and conditions for miners are at least good, and some would say excellent. Certainly they are better than ever before. Why should all this be put in jeopardy […] when there is absolutely no need for it? […] As the pitman at the face often says: »Let’s get the belt started.« Then we can do some talking without losing wages and customers.59

Durch das Bild vom ›einfachen‹ Arbeiter verknüpfte Atkinson den gegenseitigen Respekt zwischen Arbeitern und Managern mit industrieller Produktivität, die sich in guten Arbeitsbedingungen und Löhnen niederschlägt. Daraus resultierte eine gewisse Verwechselbarkeit von gewerkschaftlichen und unternehmerischen Positionen, die für die Gewerkschaftsseite unter den Bedingungen des Streiks nicht länger vertretbar schien: »If miners allow MacGregor to destroy the British coalfields and also destroy mining villages, and with it the very way of life for thousands of families, then they do not deserve to call themselves miners.«60 Der lodge secretary der Zeche Easington, Alan Cummings, steigerte die lebensweltliche Argumentation in diesem Beitrag zu einer unverhandelbaren Frage der persönlichen Identität, um eine eindeutige Gegenposition zum lokalen management einnehmen zu können. Selbst bei pragmatischen oder gewerkschaftsfreundlichen Managern musste dieser Ton der Gewerkschaftsseite befremdlich wirken. Zumal die leitenden Manager der North East Area, area director David Archibald und area industrial relations officer George Atkinson, sich in den Jahren vor dem Streik gegenüber der Zentrale des NCB stets für einen langsameren Kapazitätsabbau in ihrem Bezirk eingesetzt hatten: The Headquarters [sic] proposals provided for a total of 12 closures during the 5 year period […]; the Area’s proposals provide for only 8 closures […] The Area propose to continue their policy of »nibbling away« at large closures and their plan provides for continuing reductions prior to closure […] The Area Director said the Area could become profitable after 5 years with an annual saleable output of 10.65m tonnes.61

Die regionale Führung des NCB plante im Sommer 1983, insgesamt 4 Mill. Tonnen mehr zu produzieren und 5.883 Stellen weniger abzubauen als die NCB Zentrale verlangte. Diese Abweichungen begründete Archibald nicht nur mit befürchteten Problemen in den lokalen Arbeitsbeziehungen, sondern vor allem mit spezifischen Anforderungen der regionalen Abnehmer: Die Kohle der Zechen in 58 59 60 61

Wiederum im Sinne der mittleren Verwaltungsebene des NCB. Atkinson, Strike fallacy. Alan Cummings, Miners MUST Triumph, The Northern Echo 11.4.1984. National Coal Board General Purposes Committee Area Five Year Strategies, The National Archives COAL 26/1005/1 (NCB GP / P(83)41, Appendix 2), 21.7.1983, S. 1 f.

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Ashington und Bates verkaufte sich gut für den Hausbrand in der Region und bis nach Nordirland, während Herrington und Horden vor allem Kohlen für die Verkokung im nahegelegenen Stahlwerk von Redcar lieferten.62 Wahrscheinlich wurden die Manager im Nordosten von den neuen Unternehmenszielen, die im März 1984 verkündet wurden, genauso überrascht wie die NUM. Noch Ende Mai versuchte Archibald, seine Position im Konflikt mit der Ankündigung eines möglichen Ausbaus der Zeche Wearmouth zu stärken: »›Our plan is to increase output from Wearmouth and to employ more men.‹ […] Mr Archibald also warned of the critical problems facing the supply of domestic coal to the region in the miners’ strike.«63 Angesichts dieses Einsatzes für den eigenen Förderbezirk im Sinne des hergebrachten Produktivitätsdenkens musste die lebensweltliche Protestrhetorik der NUM, die zusehends von jüngeren Gewerkschaftern wie Alan Cummings gebraucht wurde, das lokale Management befremden. Männer wie George Atkinson hatten ihr gesamtes Berufsleben damit zugebracht, die Produktivität der Zechen in »ihrer« area zu verbessern. Bei A ­ tkinson ging diese Identifikation mit der technischen Seite seines Berufes so weit, dass er 1980 unter dem Titel »A New Look at the Collieries of Northumberland and Durham« eine vollständige Beschreibung aller Zechen in Northumberland und Durham veröffentlichte.64 Es handelte sich um ein Werk absoluter Hingabe zu seinem Beruf und zu dem, was Atkinson »our northern heritage« nannte. Zugleich war sich der Bergwerksingenieur über die Bedeutung des industriellen Strukturwandels im Klaren: »The most striking feature about the coal industry in Northumberland and Durham today compared with 150 years ago is the impact of change.«65 Dann listete Atkinson für jede einzelne Zeche im Bezirk deren Geschichte, Produktivität in output per man­shift, die aktuelle Leitung und besonders prominente Gewerkschaftsvertreter auf. Atkinson benannte auch für jede einzelne Zeche die Zahl der Beschäftigten und die Hauptabnehmer der dort geförderten Kohle. In vielen Fällen ging er detailliert auf einzelne Abbaumaschinen, Vortriebstrecken oder sogar Fördersysteme ein. Das dicht geschriebene Büchlein schließt mit einer Liste der Zechen, die seit der Verstaatlichung geschlossen wurden. Insgesamt bietet es einen guten Einblick in die Perspektive des mittleren Managements des NCB vor den marktwirtschaftlichen Reformen der Ära MacGregor: Hier wurde auf regionaler Ebene ein regelrechter Eros der technischen Produktivität gepflegt. Diese Produktivität war für die Ingenieure des NCB aber ganz selbstverständlich mit der Schließung erschöpfter Zechen verknüpft. Auch area director David Archibald dürfte eine ähnliche Einstellung zu seinem Beruf gehabt haben. 1980 war er im Nordosten bereits Deputy Director (Mining) und also für alles, was in den Bergwerken ablief, zuständig. 62 Ebd. S. 4 f. 63 O. A., Wearside pit in line for expansion, The Northern Echo 30.5.1984. 64 G(eorge) L. Atkinson, A New Look at the Collieries of Northumberland and Durham, Gateshead 1980. 65 Ebd. S. 6.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

Auf der nationalen Ebene spielten solche lokalen und regionalen Besonderheiten der Produktions- und Marktbedingungen dagegen nur eine geringe Rolle. Vor allem von konservativer Seite wurde der Bergarbeiterstreik häufig als überflüssiger Protest einer privilegierten Gruppe von Arbeitern dargestellt: The cost of keeping uneconomic pits in operation, which has gone on far too long, is a burden on the rest of the community. We need to know who is subsidising whom […] It is strange that my constituents, many of whom are poorer than the miners concerned, are paying to provide them with concessionary coal.66

Die Umdeutung der Arbeit in den Bergwerken, die dem zugrunde lag, besaß zwar weit zurückreichende Wurzeln im Denken der britischen Konservativen,67 doch in den 1980er Jahren gewannen Vorstellungen von Arbeit als individueller Leistungsbereitschaft zusehends überhand: There is no basic lack of demand; the reason why we cannot use our full labour force is that we have not adapted well enough, particularly in our jobs market, to be able to exploit it. To put this right and create jobs, the people of Britain have to: • show enterprise and a willingness to take risks • respond and adapt continually to new ideas and changing circumstances (…).68

Diese individualistische Sicht auf Arbeit war in den 1980er Jahren schon aus sozialkulturellen Gründen in einer schwerindustriell geprägten Region wie dem englischen Nordosten äußerst schwer zu vermitteln. Schließlich hatten kollektive Großorganisationen wie Betriebe, Gewerkschaften oder kommunaler Wohnungsbau hier nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die individuelle Lebensgestaltung, Politikformen und eine ganze regionale Teilgesellschaft geformt. Besonders einzelne Aspekte von »Proletarität«69 hatten sich durch die Art des Strukturwandels im Nordosten und die Wirtschaftskrise der frühen 1980er Jahre in Großbritannien sogar noch verstärkt. Leichtindustrie, Service-Sektor und Werften konnten in den 1980er Jahren keine Ersatzarbeitsplätze zur Verfügung stellen.70 Sowohl der materielle als auch der ideelle Kontext des »Strukturwandels« hatten sich damit fundamental verändert. Für die Bergleute hing ihre wirtschaftliche Zukunft und die Aussichten, überhaupt in der Region beschäftigt zu sein, nun sogar stärker als zuvor vom Erhalt der Zechen ab. Mit dem White Paper zur Arbeitsmarktpolitik stellte die Regierung aber die Verantwortung des einzelnen 66 Terrence Higgins MP, Class IV, Vote 3, Hansard’s House of Commons Debates 8.3.1984, Bd. 55, S.1041–81, hier S. 1055. 67 Ewen Green, Ideologies of Conservatism. Conservative Political Ideas in the Twentieth Century, Oxford / New York 2002, S. 269–274. 68 Employment. The Challenge for the Nation, London 1985 (Cmnd 9474), S. 3–5, nach: Alan Booth (Hrsg.), British Economic Development since 1945 (Documents in Contemporary History), Manchester / New York 1995, S. 127. »We cannot use our full labour force« ist ein Euphemismus für Massenarbeitslosigkeit. 69 Mooser, Abschied, S. 145 f. 70 Wood, Umstrukturierung, S. 166–194.

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Menschen für seine Arbeit in den Vordergrund. Die Schlüsselbegriffe lauteten jetzt »jobs« und »employment«, während »work«, »industry« oder »labour« nicht mehr vorkamen. Wie wurde jenes neue Bild von Arbeit in die Region hineinvermittelt? Der konservative Abgeordneten für Darlington, Michael Fallon, rief im Juni 1984 auf dem Höhepunkt des Bergarbeiterstreiks im Northern Echo zu einem Wandel des regionalen Arbeitsethos auf: »We want (…) men who don’t hang about for grants, plead for protection but who can inspire and lead.«71 Fallons Gegenüberstellung von Menschen, die sich an Abhängigkeit gewöhnt haben und anderen, die aus eigenem Antrieb tätig werde, diente vor allem als Attacke gegen die Labour Party und die Gewerkschaften, die sich als Repräsentanten der Region verstanden. Die rhetorische Umkehrung glich derjenigen, die Margaret Thatcher etwas später in der Unterhausdebatte zum Miners’ Strike verwenden sollte: Die angeblichen Vertreter der arbeitenden Menschen verhinderten in Wahrheit die Entstehung neuer Arbeitsplätze, weil sie Abhängigkeit förderten. Fallon illustrierte seine Vorstellung von guter Arbeit dann am Beispiel einer Schiffswerft, die nach dem Konkurs von den Arbeitern als Kooperative weitergeführt wurde: 80 men (…) said »we want to work.« Men who put in their own redundancy money and resolved to discard the archaic working practices that have bedeviled shipbuilding and ship repair. In the worker-owned yard at South Shields lies the future for the old state-owned industries: not just privatisation but giving back work to the workers themselves.72

Gute Arbeit und gute Arbeiter zeichnen sich nach Fallon also vor allem durch einen Willen zur Arbeit aus. Fallon trat in den 1980er Jahren als dezidierter Gewerkschaftsgegner auf, der sogar gegen Gesetzesentwürfe der eigenen Regierung stimmte, wenn sie ihm zu gewerkschaftsfreundlich erschienen.73 Dennoch nahm er einige sprachliche Anpassungen seines neoliberalen Verständnisses von Arbeit an regionale Sagbarkeitsregeln vor. Im Zeitungsbeitrag bezeichnet er die verstaatlichte Industrie z. B. mit der ungewöhnlichen Formulierung »state-owned industries« (in Staatsbesitz), statt den üblichen Ausdruck »nationalised« (im Besitz der Nation) zu verwenden. Mit dem Begriff »worker-owned« insinuiert Fallon sogar eine rhetorische Nähe zur linken Forderung nach »workers’ ­control«, die – ähnlich wie im Deutschen »Arbeiterkontrolle« – für sozialistische oder basisdemokratische Modelle der Unternehmensführung standen.74 Selbstverständlich kam es Fallon hier darauf an, dass ein Unternehmer selbstverantwortlich sein Eigentum einsetzen musste. Dennoch näherte er sich mit der Formulierung »worker-owned« an kollektive Ideen von Arbeit an. So nutzte der konservative Gewerkschaftsgegner sprachliche Formen, die dem Traditionsbestand der so71 Michael Fallon, The Keegan quality, The Northern Echo 21.6.1984. 72 Ebd. 73 O. A., Tory MP to defy party whip, The Northern Echo 2.4.1984. 74 Schmidt, »Industrial Relations«, S. 7 ff.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

zialräumlichen Ordnung Montanregion entstammten, um Vorstellungen von individuellem Unternehmertum zu propagieren. Im Sommer 1984 übertrug Fallon diesen Versuch, die »true interests of working people«75 gegen das hergebrachte Verständnis der britischen Gewerkschaftsbewegung und den Repräsentationsanspruch der Labour Party umzudefinieren, öffentlichkeitswirksam von den Werftbetrieben auf die Zechen des Nordostens:76 Mr Fallon asked the Secretary of State for Trade and Industry if he is satisfied with progress on the privatisation of nationalised companies under his control. […] Does my right hon. Friend agree that the success of Weardale Steel, Tyne Ship Repair and Readheads Ship Repair shows the enormous scope in every public industry for giving workers a real stake in their future? Will he encourage his colleagues to transfer the Scottish and north-east pits to those who work in them?77

Der junge Abgeordnete durfte sich darüber im Klaren gewesen sein, dass sein Vorschlag bei der NUM auf Ablehnung stoßen würde.78 Allerdings gelang es ihm damit, einen prominenten Platz in der Berichterstattung des Northern Echo zu erlangen und seinen Parteifreunden in der Regierung zu zeigen, dass er zum Thatcher-Flügel gehörte. So erhielt Fallon für seine Frage eine anerkennende Antwort des Ministers Norman Tebbit: That is an interesting proposition for my right hon. Friend the Secretary of State for Energy. Wherever possible, we seek to give workers a substantial interest in companies that are denationalized […] I believe that that is a very good thing.79

Der Minister nutzte Fallons Einlassungen dankbar als rhetorische Steilvorlage, um den Vorgang der Privatisierung als »de-nationalization«, also Entstaatlichung umzudefinieren. So erlangte die potentielle Privatisierung, die im Kohlesektor erst in den 1990er Jahren durchgeführt wurde und 1984 noch lange kein greifbares Politikziel darstellte, in der Rhetorik der radikalen Konservativen eine verheißungsvolle Bedeutung. Als das National Coal Board im Frühsommer 1984 begann, auch in Revieren wie Durham, in denen alle Bergarbeiter streikten, eine Taktik des aktiven Streikbrechens zu verfolgen, blieben die damit einhergenden Überredungsversuche allerdings an eine traditionelle Sprache der Sicherheit und Produktivität gekoppelt. Die neuen ›unternehmerischen‹ Werte, die von der konservativen Regierung propagiert wurden, spielten hingegen kaum eine Rolle. Am 22. Juni wurde 75 76 77 78

M. Thatcher, Hansard’s 31.7.1984, Bd. 65, S. 247. O. A., MP gives mines take-over challenge, The Northern Echo 2.8.1984. Michael Fallon, Hansard’s 1.8.1984, Bd. 65, S. 331. Vgl: O. A., MP gives mines, Northern Echo 2.8.1984: »Easington NUM lodge secretary Alan Cummings, who has already been involved in a bitter row with Mr Fallon this week, condemned the Tory MP again last night. He said Mr Fallon’s remarks were absolutely stupid and had been made by numerous Conservatives in the last few months.« 79 Norman Tebbit (The Secretary of State for Trade and Industry), Hansard’s 1.8.1984, Bd. 65, S. 331.

Arbeit und Mitbestimmung

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in Lokalzeitungen in allen britischen Bergbauregionen ein offener Brief des

NCB -Vorsitzenden Ian MacGregor veröffentlicht:

A LETTER TO STRIKING MINEWORKERS Dear Colleague, YOUR FUTURE IN DANGER I am taking the unusual step of writing to you at home because I want every

man and woman who has a stake in the coal industry to realise clearly the damage which will be done if this disastrous strike goes on a long time. […] You are all aware that mines which are not constantly maintained and worked deteriorate in terms of safety and workability […] I ask you to join your associates who have already returned to work so that we can start repairing the damage and building up a good future.80

Der Inhalt des Briefes wurde unmittelbar vor der Veröffentlichung stark verändert. Die Art der redaktionellen Eingriffe tragen die inhaltliche Handschrift des Abteilungsleiters des industrial relations department, Ned Smith. Noch die vorletzte Entwurfsfassung richtete sich vor allem gegen die NUM-Führung und enthielt direkte Schuldzuweisungen wie »Politics have become a central issue:«81 oder »[…] the butchers will be Mr. Scargill and his colleagues, not the Coal Board.«82 Offenbar konnten Smith und seine Mitarbeiter in letzter Minute erkennen, dass eine solche Argumentation nur die Streikbereitschaft verstärken würde. In seinem zehn Jahre nach dem Streik erschienen Erinnerungsbuch zum ­Miners’ Strike sparte Smith nicht mit Kritik an der Strategie des NCB, die er dort als »second-front-tactics« bezeichnete. Smiths führt in dem Werk, das den rührigen Untertitel »The Actual Account« trägt, aus, wie die Vorschläge zu einer aktiven Anti-Streik-Politik ausschließlich vom Vorsitzenden Ian MacGregor und wahrscheinlich sogar von dessen externen Beratern gekommen seien: »Whether the idea had originated from the Chairman alone or from ›outside‹ advisors I don’t know, but it certainly hadn’t stemmed from senior Coal Board management.«83 Die return-to-work-Initiative des NCB -Vorstands stellte also nicht nur das Selbstverständnis der NUM als eigenständige Akteurin der industriellen Beziehungen grundlegend in Frage, einseitige Maßnahmen der Unternehmensleitung wurden auch von den traditionell eingestellten Mitgliedern des Managements abgelehnt. In Durham versuchte das NCB dennoch, zum ersten Mal am 9. Juli, einen »return to work« zu initiieren. Dabei kamen neben dem Brief MacGregors in der Lokalzeitung auch Briefe an einzelne Bergarbeiter zum Einsatz.84 Diese Kampagne 80 A LETTER TO STRIKING MINEWORKERS , The Northern Echo 22.6.1984; The National Archives COAL 26/1005/4 sowie COAL 26/1050. 81 Your Future is in Danger, The National Archives COAL 26/1005/4, o. D. [vor 20.6.1984], S. 1. 82 Ebd. S. 3. 83 Ned Smith, The 1984 Miners’ Strike. The Actual Account, Whitstable 1997, hier S. 210. 84 O. A. Strike revolt falls flat, The Northern Echo 10.7.1984; In den Archiven fanden sich nur zwei solche Briefe: Colliery Manager E. Dunbar an Bergarbeiter, 4. Juli 1984, o. O., Durham County Record Office D / Dor 6/8 [-13.]; Manager Westoe Colliery an »Dear Colleague«, 8.11.1984, Tyne and Wear Archives TU / TC/2/4 North Tyneside Miners’ Support Group.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

schuf zwar noch keine große Unruhe auf Seiten der Gewerkschaft, doch verschlechterte sich das Verhältnis von regionalem Management und der Durham Area der NUM dadurch merklich. Parallel zur neuen Streiktaktik forderte area industrial relations officer George Atkinson von der NUM ab Ende Juni fast wöchentlich Ausnahmegenehmigungen für Wartungsarbeiten und die manager der einzelnen Zechen verlangten von den einzelnen lodges, tatsächliche oder angebliche Notfälle in den Gruben zu beseitigen. Diese akute Bedrohungskommunikation wurde von Juni bis August, vor der zweiten return-to-work Initiative des NCB im Nordosten, immer heftiger. Es ging in den Schreiben um das drohende Versagen von Pumpen auf der Zeche Horden,85 ein Feuer in einem Kohlenbunker auf Hawthorn,86 und andere eilige Reparaturarbeiten in verschiedenen anderen Zechen.87 Diese Anfragen stürzten das Area Executive Committee in ein Dilemma, denn es befand sich nun an einer entscheidenden Schnittstelle zwischen den lodges und dem NCB, ohne gegenüber den einzelnen Belegschaften weisungsberechtigt zu sein: […] However, it was considered we should not be seen to assist the Board by adopting self-defeating measures jeopardizing the preservation of the pit’s safety and hoped there would be a response where emergency situations arose.88

Dieser neue Konfliktbereich betraf nun auch das Verhältnis der NUM zu den anderen Gewerkschaften im Bergbau, denn alle Grubenfahrten mussten von den Steigern, die in der National Association of Colliery Overmen Deputies and Shotfirers (NACODS) organisiert waren, überwacht werden. Schließlich waren auch die manager, die solche Arbeiten anleiten sollten, Mitglieder einer eigenen Gewerkschaft, der British Association of Colliery Management (BACM).89 Die neue Taktik des NCB führte deshalb in Kombination mit der unmittelbar bedrohlichen Situation in den Zechen zu neuen Verwerfungen zwischen den ver85 National Union of Mineworkers (Durham Area) Minutes of Committee Meeting Held on Monday, 2nd July, 1984, NEEMARC NUMDA /1/3/54, S. 3 f. und National Union of Mineworkers (Durham Area) Minutes of Committee Meeting Held on Tuesday 14th August, 1984, resumed following day Wednesday, 15th August, NEEMARC NUMDA /1/3/54, S. 10 f. 86 National Union of Mineworkers (Durham Area) Minutes of Committee Meeting Held on Tuesday 14th August, 1984, resumed following day Wednesday, 15th August, NEEMARC NUMDA /1/3/54, S. 5–7. 87 Im Protokoll vom 23.8.1984 finden sich Meldungen über Notfälle in Blackhall, Easington, Wearmouth, Hawthorn und Herrington: National Union of Mineworkers (Durham Area) Minutes of Special Committee Meeting Held on Thursday 23rd August, 1984, N ­ EEMARC NUMDA /1/3/54, S. 3–9. 88 National Union of Mineworkers (Durham Area), Minutes of Committee Meeting Held on Monday, 4th June, 1984, NEEMARC Sunderland, NUMDA /1/3/54, S. 3. 89 Vgl. zur wenig erforschten Geschichte der Angestelltengewerkschaften BACM: Andrew Perchard, The Mine Management Professions in the Twentieth-Century Scottish Coal Mining Industry, Lewiston u. a. 2007; Ders. »Colliers with a collar on«: the Mine Management Professions in the Scottish Coal Mining Industry, 1930–1966, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 36 (2006), S. 85–104.

Arbeit und Mitbestimmung

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schiedenen Gewerkschaften, weil Angehörige von BACM und NACODS sich teilweise von den Streikposten der NUM behindert fühlten, wegen der Bedrohung der Bergwerke aber unbedingt einfahren wollten, um die nötigen Reparaturen durchzuführen. Aufgrund der return-to-work-Kampagne wollte die NUM nunmehr aber um jeden Preis verhindern, dass einzelne Zechen Kohle produzierten. Deshalb wurden die Ausnahmegenehmigungen für die Angehörigen der anderen Gewerkschaften immer restriktiver gehandhabt: That Areas be instructed that under no circumstances should any coal-cutting or shearing be permitted by those authorised by the Union to undertake Safety Work as the Board were more concerned with their investment in machinery than the future and safety of the mine itself […]90

Dieser neuen Linie wurde in Durham sogar mit einer eigens einberufenen special area conference Nachdruck verliehen.91 Im August 1984 kam es dann zu punktuell verdichteter Gewalt an den Zechen Wearmouth und Easington. Dieser kurzfristige Aufruhr ist Gegenstand des nächsten Kapitels, aber er beeinflusste auch das Verhältnis von Arbeit und Mitbestimmung. Die gewalttätige Eskalation des Konflikts, die aus Reaktionen der Bergarbeiter auf die neue Streikstrategie des NCB entstand, bewirkte, dass alle Fragen, die bis dahin als Teil der unternehmensinternen Arbeitsbeziehungen zwischen National Coal Board und National Union of Mineworkers betrachtet wurden, nun endgültig von Seiten der Bergleute, aber auch des Managements, als politische Fragen behandelt werden mussten. Bis zum Ende des Streiks im März 1985 fand zwischen der NUM und dem NCB auf der regionalen Ebene deshalb keine Kommunikation mehr über den Streikzustand selbst statt. Die Rückkehr vieler Bergarbeiter des Nordostens in die Zechen der Region ereignete sich ab November, ohne einen Niederschlag in der offiziellen Korrespondenz zwischen Gewerkschaft und Unternehmen zu finden. Es machte für das NCB keinen Sinn mehr, die NUM um Ausnahmegenehmigungen für Arbeiten auf den Zechen zu bitten, seitdem die Manager in der Region eine Politik des aktiven Streikbrechens verfolgten. Für die Gewerkschaftsseite gab es keinen Grund, beim Unternehmen offiziellen Protest anzumelden, solange man annahm, allein durch die eigene Kampfkraft das Streikziel erreichen zu können. Die allzu simplen Deutungen der langen Schlussphase des Streiks als Erosion von Solidarität oder Verrat bestätigen sich aus der regionalen Perspektive nicht. Das National Coal Board hielt die Kampagne für eine Rückkehr an die Arbeitsplätze zwar aufrecht, versuchte aber auf der regionalen Ebene nicht, diese Erfolge in der Öffentlichkeit gegen die NUM auszuspielen. In der Durham Area zeigten sich mit dem Fortschreiten des Streiks die erwartbaren Abnutzungs90 National Union of Mineworkers (Durham Area), Minutes of Committee Meeting Held on Monday, 2nd July, 1984, NEEMARC Sunderland, NUMDA /1/3/54, S. 3. 91 National Union of Mineworkers (Durham Area) Minutes of Committee Meeting Held on Monday, 2nd July, 1984, NEEMARC NUMDA /1/3/54, S. 15.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

erscheinungen, obwohl viele Aktivisten weiterhin ein erstaunliches Maß an Einsatzbereitschaft zeigten. Dabei verstärkten sie einerseits Kampagnen, die den »victimised miners« helfen sollten, also denjenigen Kollegen, die wegen Vergehen im Streik entlassen oder sogar inhaftiert worden waren. Andererseits blieb die Aufrechterhaltung und sogar die Wiederherstellung von Solidarität mit Streikbrechern ein zentrales Anliegen der Streikaktivisten. Im Sommer 1984 warben die streikenden Arbeiter noch mit sehr freundlichen Worten für eine Rückkehr von Streikbrechern: »WE NEED YOUR HELP. […] COME OUT AND JOIN US LADS . […] YOU WILL BE WELCOMED WITH OPEN ARMS – ANY ANIMOSITY WILL BE FORGOTTEN.«92 Doch im Winter hatte sich der Ton gegenüber den scabs gerade im Nordosten verschärft und Appelle, die, wie der folgende, von Beleidigungen eingeleitet wurden, dienten wohl nicht mehr dazu, Kollegen zur Rückkehr in den Streik zu überreden: STRIKE BREAKERS We may be poor after nine months of struggle, but when we win we will have money with the dignity and pride of VICTORY. […] A scab is a traitor to his God his country his wife and family and his class. A REAL MAN NEVER BECOMES A STRIKE BREAKER : Join with us Brothers on the picket line and help bring victory closer.93

Trotzdem gab es weiterhin Möglichkeiten für Streikbrecher, wieder in den Streik einzutreten. Die Aktivisten der Durham Area machten im Dezember 1984 nur noch indirekt Werbung für diese Möglichkeit und bemühten sich dabei, Streikbrecher als arbeitsscheu zu denunzieren: The back to work movement went into reverse drive last week with more people rejoining the strike. […] At Wearmouth ten men have come back out. Seaham has welcomed back five. Easington also had five returning to the fold. […] Pit managers are known to be tearing their hair out because men report for work then immediately sign on the sick. The average standard of scab seems to be work-shy at best.94

Selbst in der relativ verzweifelten Situation, in der die Durham Miners sich im Dezember 1984 befanden, benutzten sie also weiterhin einen Ethos der Produktivität und des Fleißes, um diejenigen Gewerkschaftsmitglieder zurückzugewinnen, die bereits den Streik gebrochen hatten. Noch im Februar bestätigte Dave Hopper als lodge secretary von Wearmouth, dass keineswegs alle Streikbrecher aus der Gewerkschaft ausgeschlossen werden würden:

92 O. A., An Appeal to Working Miners, [handschriftlich von Jack Dormand ergänzt: (un­ leserlich) Notts’ strikers June 1984], Durham County Record Office D / Dor 6/8 [-13.]. 93 To the Miners of Northumberland, Flugblatt Bates NUM, 12.11.1984, Tyne and Wear Archives TU / TC/2/4 North Tyneside Miners’ Support Group, o. N., o. P. 94 O. A., More back on strike, The Durham Striker December 1984, Labour History Archive MS 84/LAB/1/1.

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They’re going around saying that men should get ready to form a breakaway movement because they’ll be expelled, but that’s not true. It’s only selected people who are being expelled, those who are actively involved in working against the national union.95

Der fundamentale Konflikt zwischen dem regionalen Management des National Coal Board und der NUM entwickelte sich im Nordosten Englands erst während des Miners’ Strike und entzündete sich vor allem an solchen Fragen, deren Regelung im Rahmen der alltäglichen Arbeit und industriellen Mitbestimmung auf Überzeugungen beruhte, die von Gewerkschaftsfunktionären und leitenden Angestellten geteilt wurden. Die entscheidenden Akteure griffen in den Debatten über den Streik und zur Begründung einzelner Handlungen auf Argumentationsmuster zurück, die mit weitreichenden Vorstellungen sozialer, politischer und ökonomischer Legitimität in der schwerindustriell geprägten Region North East verbunden waren. Dieses Bündel impliziter, gemeinsamer Überzeugungen lässt sich mit dem Begriff »Produktivitätsdenken« umreißen. Erst durch die Konfliktsituation des Streiks wurde klar, dass die in der NUM organisierten Arbeiter und die Manager aufgrund bestimmter politischer Haltun­gen, aber auch der allgemeinen Debatten über die Legitimität des Streiks, unterschiedliche Folgerungen aus dieser Orientierung an industrieller Produktivität zogen. Die Konfliktlinien des Streiks erlaubten es zudem sowohl neoliberalen Politikern, als auch linken Unterstützern des Streiks, neue Ideen in die industrielle Auseinandersetzung hineinzutragen. Die verschiedenen Versuche, ein ›richtiges‹ Bild von Arbeit zu konstruieren und in der nationalen wie regionalen Öffentlichkeit zu verankern, verstärkten bestimmte Konfliktlinien so weit, dass daraus unüberwindbare Gräben wurden. Insbesondere Debatten über den Stellenwert der Arbeit in den Kohlegruben verknüpften das Konflikthandeln einzelner Akteure mit handlungsleitenden politischen und ökonomischen Diskursen der Zeit: Die Neuerfindung von Arbeit als individueller Leistungsfähigkeit und Vertragstreue auf der einen Seite und die Argumentation mit schützenswerten Lebenswelten auf der anderen waren prinzipiell unvereinbar. Diese Gegensätze entstanden aber erst durch die Streiksituation und lagen vorher nicht als stabile, ideologische Einstellungen vor. Der Routinekonflikt um Zechenschließungen entwickelte sich erst durch die politische Rhetorik der Akteure zu einem Fundamentalkonflikt um grundlegende gesellschaftliche Werte und politische Zugehörigkeiten. Mit zunehmender Länge des Streiks wurde es schwieriger, Solidarität aufrechtzuerhalten, konkrete Hilfe gegen materielle Not anzubieten, und die eigenen organisatorischen Strukturen in einem entscheidungsfähigen Zustand zu erhalten. Doch diese Verschlechterung der Streiksituation verstärkte die etablierten Argumentationsmuster weiter.

95 Dave Hopper zit. n.: O. A., Rebels urged to quit union, The Northern Echo 4.2.1985.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

2.3 »Rheinhausen muß leben!« Die Nachricht von den Schließungsplänen für das Krupp-Stahlwerk in Rheinhausen wurde zu einem Zeitpunkt bekannt, als für die IG Metall eine Phase pausenloser Auseinandersetzungen um den Erhalt von Arbeitsplätzen zu Ende gegangen war. Seit 1982 hatte die Gewerkschaft mit den Stahlunternehmen, Arbeitgeberverbänden, der Bundesregierung und den betroffenen Landesregierungen intensiv um Zukunftsperspektiven für die gesamte Metallbranche, besonders aber die Stahlerzeugung gerungen. Über mehrere Stationen, den Gewerkschaftstag 1983, die »Stahlkonferenzen« und großangelegte Protestwellen in den betroffenen Regionen waren immer wieder Forderungen nach einer Lösung der sektoralen Probleme durch staatliches Eingreifen geäußert worden. Teils wurden diese Lösungsvorschläge in expliziter Abgrenzung zu politischen Vorgaben, wie dem Entwurf der sogenannten »Stahlmoderatoren«, einer Gruppe von hochrangigen Wirtschaftsführern, formuliert. Die Forderung nach einer Verstaatlichung der Stahlindustrie, die seit 1983 offiziell von der IG Metall erhoben wurde, hatte primär die Lösung dieser Krise zum Ziel und nicht den grundlegenden Umbau der westdeutschen Wirtschaftsordnung. Auch der »Kampf um die 35-Stunden-Woche«, der 1984 vor allem außerhalb der schwerindustriellen Regionen in den Zuliefererbetrieben Hessens und Württembergs ausgefochten wurde, bildete eine Antwort der Gewerkschaft auf den massiven Stellenabbau. Im Laufe des Jahres 1987 intensivierten sich diese Auseinandersetzungen noch einmal, besonders im Ruhrgebiet sorgten neue Schließungsankündigungen von Thyssen für die Standorte in Oberhausen und Hattingen für eine Welle des Protests. Die Gewerkschaft zog erneut das gesamte Register von Verhandlungen und Protesten, das ihr zur Verfügung stand. Es gab eine »Kanzlerrunde« in Bonn sowie Kundgebungen an den Werkstoren in der Oberpfalz, im Saarland und im Ruhrgebiet, die von Trauermärschen, Appellen und Petitionen begleitet wurden. Nach zähen Auseinandersetzungen, in denen die Vertreter der Konzerne für das Modell einer Stahlstiftung warben, während die IG Metall für sogenannte Beschäftigungsgesellschaften eintrat, wurde im Sommer 1987 die Frankfurter Vereinbarung geschlossen. Hier wurde vereinbart, dass betriebsbedingte Kündigungen durch eine »sozialverträgliche Gestaltung« der »notwendigen Strukturanpassungsmaßnahmen« ergänzt werden sollten.96 Diese neuen, kooperativen Ansätze galten für den neuen Vorstandsvorsitzenden der Krupp Stahl AG, Gerhard Cromme, als Fortschritt bei der Problembewältigung im Stahlsektor, weil es nun endlich zur Zusammenarbeit zwischen den Konzernen kam, die sonst aufgrund der je eigenen, integrierten Betriebsstrukturen nur schleppend vorankam:

96 Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 8–10.

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›Stehen die Chancen für Kooperationen heute besser als früher?‹ ›Ich glaube ja, denn, wie ich festgestellt habe, werden von allen großen Stahlunternehmen die Chancen und Risiken der Branche einheitlich und realistisch beurteilt – vielleicht im Gegensatz zum Beginn der achtziger Jahre. Einem übergreifenden und überzeugenden industriellen Konzept, das die Standorte an Rhein und Ruhr verbessert, wird man sich heutzutage kaum verschließen können.97

Die Überlegungen, Rheinhausen stillzulegen und Belegschaft wie Produktion in dem dann gemeinsam mit Mannesmann zu betreibenden Werk in Huckingen zu konzentrieren, bildete in dieser Perspektive einen großen Erfolg beim Versuch, vorhandene Kapazitäten besser auszulasten. Denn bereits als Ende der 1970er Jahre klar wurde, dass die Stahlkrise nicht konjunkturell, sondern strukturell bedingt war, hatten alle Unternehmen im Stahlbereich ihre Bemühungen um Rationalisierung verstärkt. Die Beschlüsse darüber wurden mit gewerkschaftlicher Beteiligung in den zuständigen Gremien gefällt und dienten der Krisenbewältigung, blieben jedoch häufig Stückwerk, weil die Unternehmen nicht miteinander kooperierten.98 In Rheinhausen hatte es erstmals 1982 größere Proteste gegen eine geplante Stilllegung des Walzwerks gegeben, das als Hauptabnehmer des vor Ort produzierten Stahls eine Schlüsselrolle für die Erhaltung des gesamten Werks spielte. Diese Proteste wurden bereits damals eng an die Identität des Stadtteils Rheinhausen geknüpft: Damals ging es nicht nur um die Arbeitsplätze, es ging um mehr: ›Ohne Walzwerk hat die Hütte überhaupt keine Chance.‹ ›Der Stadtteil verödet. Wir werden ein Armenhaus.‹ ›Rheinhausen stirbt‹ Dramatische Bilder vor Augen kämpft die Hüttenstadt um ihre Existenz.99

Die Rheinhausener Arbeiter unterstrichen ihren Protest auch schon mit sozialmoralisch konnotierten symbolischen Aktionen, indem sie etwa dem Vorsitzenden des Krupp-Aufsichtsrats, Bertold Beitz, eine Petition und ein Schienenstück aus ihrem Werk übergaben und den Arbeitsdirektor von Krupp-Stahl, Otmar Günther, zwangen, direkt mit der Belegschaft zu diskutieren, statt nur mit dem Betriebsrat zu sprechen.100 Die Wurzeln des Bürgerkomittees, das 1987/88 entscheidende Impulse für den Protest setzten sollte, indem es ein gemeinsames Diskussions- und Aktionsforum für Wohnbevölkerung und Stahlarbeiter schuf, lagen ebenfalls in einer lockeren Zusammenarbeit zwischen Gemeindepfarrern 97 Gerhard Cromme zit. n.: Katharina Oertzen, Interview »Ohne Scheuklappen«, Wirtschaftswoche 22.5.1987, HA Krupp WA 55/4. 98 Die Darstellung folgt weitgehend: Lauschke, Die halbe Macht, S. 285–319. 99 Günter Verstappen, Ein Schienenstück für Bertold Beitz. Entschlossener Kampf um die Erhaltung der Stahlindustrie in Rheinhausen, in: Freundeskreis lebendige Grafschaft e. V. (Hrsg.), Jahrbuch für Rheinhausen und Umgebung 1984. Beiträge zur Heimat- und Kulturpflege, o. O. (Duisburg) o. J. (1985), S. 18–23, hier S. 18. 100 Ebd. S. 20 f.

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und Betriebsräten, die bereits 1982 begonnen hatte.101 Der Umgang mit der Stahlkrise wurde von der IG Metall während dieser Zeit allgemeiner Unruhe immer in Zusammenhang mit einer notwendigen Umstrukturierung der regionalen Wirtschaft im Ruhrgebiet gebracht. Die Gewerkschaftszeitung metall kam am 2. Oktober 1987 mit dem Titel »Das Ruhrgebiet kämpft um seine Zukunft. Vor dem Wandel« heraus.102 Auf dem Cover war ein Stahlarbeiter abgebildet, der auf dem Kopf einen Schutzhelm mit Visier trägt und an den Armen noch in einen Hitzeschutzanzug gekleidet ist, ab der Mitte des Körpers aber bereits in einer Bürouniform aus Anzug, Hemd und Krawatte steckt. Die Führung der IG Metall propagierte also weiterhin das Ideal eines modernisierenden Strukturwandels. Doch mittlerweile wirkte sich die damit einhergehende Kombination aus Produktivitätssteigerung und Rationalisierung in den verbleibenden Stahlbetrieben negativ auf den Betriebsfrieden aus. Das war in Rheinhausen schon lange vor dem November 1987 zu spüren. Erst im Sommer hatten Betriebsrat und Werksleitung aufgrund der Frankfurter Vereinbarung und unter dem Eindruck des Konkurses der Maxhütte neue Schichtpläne für das Werk ausgehandelt, die zwar erst ab September gelten sollten, aber bei der Belegschaft schon im Juni erhebliche Irritationen hervorriefen: Was heute von 6.200 geschafft wird, sollen ab 1988 nur noch 4.200 Stahlkocher in Rheinhausen unter Feuer halten. Deshalb sollen im Walzwerk die üblichen 21 Schichten pro Woche auf zehn heruntergefahren werden. […] »Polnische Schichten« sagen dazu die sechs Männer im Leitstand des Walzwerkes. […] »Statt bisher sechs Mann sollen dann nur noch vier hier arbeiten«, sagt Karl-Heinz Vogt, 51 Jahre alt […] »Für die Rente zu jung, für die Umschulung zu alt«, resigniert er und baut darauf, »daß mich die Kollegen im Betriebsrat und die Gewerkschaft nicht im Stich lassen.« Damit löst er einen mittleren Tumult im aufgeheizten Leitstand aus, und Herbert Leimkühler [Betriebsrat, A. H.] ist Adressat für langaufgestauten Unmut, Enttäuschung und Zorn.103

Die Unzufriedenheit mit den offiziellen Strukturen der Mitbestimmung im eigenen Betrieb, im Krupp-Konzern und in der gesamten Stahlbranche war ein Hauptmotiv für den eruptiven Protest nach Bekanntwerden der Schließungspläne. Sie rührte zu einem guten Teil daher, dass die Phase akuter Rationalisierungen und Schließungen nun als beendet galt und gerade in Rheinhausen ein gewisses Gefühl der Sicherheit eingetreten war. Diese Bruchlinie bedrohte aber das »Stellvertreterprinzip« der betrieblichen Interessenvertretung, das im

101 Dieter Kelp, Der vergessene Teil der Rheinhausen-Legende. Eine Chronik des Bürger­ komittees, in: Harry W. Jablonowski (Hrsg.), Betriebsschließungen im Ruhrgebiet. Kirche in Konflikten des Strukturwandels. Teil 2. Der Fall Rheinhausen. Chronik und Analysen, Bochum 1991, S. 24–56, hier S. 25–27. 102 metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall, 2.10.1987. 103 Waltraud Bierwirth, Rheinhausener Protokolle. Zwischen Arbeitsfrieden und Streik, in: Dies. / König (Hrsg.), Schmelzpunkte, S. 137–161, hier S. 137 f.

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Ruhrgebiet zu einem festen Bestandteil der sozialpolitischen Ordnung geworden war.104 Nicht zufällig formulierte der Betriebsleiter Helmut Laakmann, also ein leitender Angehöriger der betrieblichen Führungsebene, eine Empörung gegen die neuen Arbeitsmethoden, die sich gleichermaßen gegen das Unternehmen Krupp wie gegen die IG Metall richtete: Da treibt man die Kruppsche Belegschaft zur Arbeit an wie noch nie. Da wird die Belegschaft auf unterträgliche Weise dezimiert. Und dann kommt der Herr Dr. Cromme, nachdem wir alle im Dreieck gesprungen sind, und knallt uns den Dolch in den R ­ ücken. […] Und dem Herrn Steinkühler: Dein Verein hat schon einmal versucht, für eine Mark was zu verkaufen. Wir in Rheinhausen lassen uns nicht verscherbeln.105

Laakmann konnte zum inoffiziellen Anführer der Proteste werden, weil er es verstand, die Unzufriedenheit der Belegschaft als Reaktion auf Vertragsverletzungen von Krupp-Stahl zu formulieren und zugleich Misstrauen gegenüber der IG Metall auszudrücken. Von Beginn an beriefen sich die Rheinhausener Arbeiter unermüdlich auf die Abmachungen mit Krupp, die Frankfurter Vereinbarung, einen sogenannten Interessenausgleich, den der Betriebsrat des Werks erst am 10. September 1987 mit dem Vorstand geschlossen hatte, und die weitergehende »Vereinbarung zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen«, die der Gesamtbetriebsrat am gleichen Tag mit Krupp-Stahl ausgehandelt hatte.106 Obwohl der Betriebsrat nie die Kontrolle über die Proteste verlor, teilten nicht alle Arbeiter Laakmanns Ansicht, nach der strikt zwischen der betrieblichen Interessenvertretung und der kompromittierten Führung der Gesamtgewerkschaft zu unterscheiden sei. Einen handfesten Beleg dafür gab es am 8. Januar 1988, als der Betriebsratsvorsitzende Manfred Bruckschen in der Hauptverwaltung des Rheinhausener Werks beim Versuch, Bundesarbeitsminister Norbert Blüm vor aufgebrachten Kollegen zu schützen, niedergeschlagen wurde: Im Foyer des Gebäudes gab es minutenlang ein Gedränge, in dem der Betriebsrats­ vorsitzende Manfred Bruckschen verletzt wurde. […] In dieser Situation erlitt Bruckschen Prellungen am Kopf, am Knie und in der Magengegend. […] Etwa 1000 De-

104 Michael Zimmermann, »Geh zu Hermann, der macht dat schon«. Bergarbeiterinteressenvertretung im nördlichen Ruhrgebiet, in: Lutz Niethammer (Hrsg.), »Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgelaufen ist«. Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960 Bd. 2, Berlin / Bonn 1983, S. 277–310. 105 Helmut Laakmann, »Glück auf, Kollegen, …«, Rede auf der Betriebsversammlung in Rheinhausen, 30.11.1987, in: Betriebsrat u. a. (Hrsg.), Rheinhausen muß leben, S. 13. Die Redewendung »für eine Mark was zu verkaufen« bezieht sich vermutlich auf den gescheiterten Verkauf des gewerkschaftseigenen Wohnungsbaukonzerns Neue Heimat für eine symbolische Mark, der 1986 bundesweit für Aufsehen gesorgt hatte, vgl.: Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008, S. 604–606. 106 Ebd. S. 8–10.

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monstranten hatten sich vor dem Verwaltungsgebäude versammelt und empfingen den Arbeits­minister mit einem gellenden Pfeifkonzert. Immer wieder wurde er als »Arbeiter­verräter« beschimpft, andererseits wurde er jedoch auch eindringlich und nicht selten unter Tränen um Hilfe für die Stahlarbeiter gebeten.107

Dieser gewalttätige Vorfall führt eindringlich die zwei Seiten eines sozialmoralischen Protests vor: Einerseits war zumindest ein empörter Stahlarbeiter so wütend, dass er für einen Moment nicht davor zurückschreckte, den eigenen Betriebsratsvorsitzenden körperlich anzugreifen, andererseits wird der Vertreter der Regierungsgewalt zugleich attackiert und um Hilfe angefleht. Die Rheinhausener Proteste nehmen im historischen Kontext der Stahlkrise und der allgemeinen Auseinandersetzungen um die Rolle von Gewerkschaften in der westdeutschen Politik eine ambivalente Position ein. Andere Arbeitskonflikte, wie diejenigen um Arbeitsplätze in der Druckindustrie oder um Arbeitszeitverkürzungen in der Metallindustrie, waren in den Jahren vor Rheinhausen viel härter ausgetragen worden und hatten im öffentlichen Diskurs viel weitergehende politische Fragen aufgeworfen. Bei der Neufassung des Mitbestimmungsgesetzes im Jahr 1976,108 den massenhaften Aussperrungen im 35-Stunden-Streik der IG Metall 1984109 oder den Streiks der IG Druck und Papier in den Jahren 1978 und 1984 wurde z. B.grundlegend über Eigentumsrechte, Arbeitnehmerrechte und den gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit diskutiert.110 Gewerkschaften wurden wahlweise als alternative gesellschaftliche Machtbasis111 oder als fundamentale Bedrohung für die »freiheitliche Ordnung« angesehen, etwa wenn Unternehmervertreter oder führende Politiker der CDU von einem »Gewerkschaftsstaat« schwadronierten.112 Selbst in der Zeit der Planungseuphorie scheiterten Politikmodelle wie die »konzertierte Aktion« des SPD -Wirtschaftsministers Karl Schiller daran, dass sie die wertrationalen und affektiven Gegensätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern unterschätzten.113 Die Rheinhausener Proteste blieben jedoch innerhalb der regional akzeptierten Grenzen des Strukturwandels. Denn für die Rheinhausener Arbeiter und den Betriebsrat war die Pro107 Tom Hegermann, Minister Blüm: »Ich kann den Standort nicht garantieren«, Rheinische Post 8.1.1988. 108 Karl Lauschke, Mehr Demokratie in der Wirtschaft. Die Entstehungsgeschichte des Mitbestimmungsgesetzes von 1976. Bd. 1: Textband, Düsseldorf 2006, S. 70–77. 109 Vgl. Reinhard Bahnmüller, Der Streik. Tarifkonflikt um Arbeitszeitverkürzung in der Metallindustrie 1984, Hamburg 1985. 110 Vgl. Hans Mayr / Hans Janßen (Hrsg.), Perspektiven der Arbeitszeitverkürzung. Wissenschaftler und Gewerkschafter zur 35-Stunden-Woche, Köln 1984. 111 Oskar Negt, Gewerkschaftliche Gegenmacht und die politisch-kulturelle Dimension des Kampfes um Arbeitszeitverkürzungen, ebd., S. 231–279. 112 Vgl. für eine typische Position der Arbeitgeberseite in diesen Konflikten: Peter Klemm, Machtkampf einer Minderheit. Der Tarifkonflikt in der Druckindustrie, Köln 1984. 113 Andrea Rehling, Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentral­ arbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion, Baden-Baden 2011, hier S. 422–435.

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duktivität des eigenen Werks das zentrale Argument für dessen Erhaltung. Selbst die sogenannte stille Betriebsbesetzung wurde damit begründet: »Wir fahren die Anlagen wieder hoch, um unsere Arbeitsplätze nicht zu vernichten. In Zukunft werden wir selbst bestimmen, wann und wieviel wir produzieren, ob wir ausliefern oder nicht.«114 Die Erinnerungen des inoffiziellen Streikführers Helmut Laakmann waren auch zehn Jahre nach den Protesten noch von einzelnen Produktionserfolgen während des Arbeitskampfs geprägt: Für eine kleine technische Revolution sorgte der Metallurge Laakmann im Arbeitskampf, als es ihm und seinen Meistern gelang, Edelstahlgüte im normalen Stahlkonverter zu erzeugen. ›Wir stellten Bouillabaisse in der Gulaschkanone her‹, zieht er den Vergleich.«115

Die Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Krupp-Stahl drohten im Frühjahr 1988 zu scheitern, weil der Betriebsrat darauf beharrte, das Werk in Rheinhausen in jedem Fall zu erhalten und Krupp-Stahl sich nicht auf das Modell einer Beschäftigungsgesellschaft, das von der IG Metall gefordert wurde, einlassen wollte. Obwohl der Betriebsrat in Rheinhausen erst anerkannt hatte, dass irgendeine Form der Kooperation zwischen Krupp und Mannesmann unumgänglich sei, kehrten die Vertreter der Belegschaft Anfang April zur Forderung nach dem unbedingten Erhalt der Rheinhausener Hütte zurück. Von der SPD -nahen WAZ wurde diese Rückkehr zu den ursprünglichen Forderungen als Ausdruck einer gefährlichen politischen Radikalisierung geschildert: Jene Kräfte, die den Konflikt politisieren wollten, um vom Scheitern ihrer Verhandlungsstrategie abzulenken, hatten ihr Ziel längst erreicht. […] In der allgemeinen Rheinhausener Empörung über die Schließungspläne von Krupp gelang es dieser Gruppe rasch, den Zorn der Belegschaft wachzuhalten und den Spielraum der sozialdemokratisch orientierten Betriebsräte einzuengen.116

Nach dem drohenden Scheitern der Verhandlungen übernahm Ministerpräsident Johannes Rau persönlich die Leitung der Gespräche.117 Die Interpretation der WAZ dürfte dazu gedient haben, diese Moderatorenrolle von Rau als Rettungstat in letzter Minute darzustellen. Weder die Rheinhausener Belegschaft noch der Betriebsrat stimmten dem abschließenden Kompromiss zu, doch diese Verweigerung entsprach den Forderungen, welche die Rheinhausener Arbeiter und ihre Vertreter seit Beginn des Konflikts erhoben hatten und bildete nicht das Resultat einer politisch oder ideologisch motivierten Radikalisierung. Für den führenden 114 Betriebsrat, Rheinhausen muß leben!, S. 12. 115 Bierwirth / Vollmer, AufRuhr, S. 21. 116 Ulrich Horn, Rheinhauser in der Sackgasse. Betriebsrat und Belegschaft stehen vor den Scherben ihrer Strategie, WAZ 15.4.1988. 117 Die Akten zu Raus Vermittlertätigkeit sind in NW 763 Nr. 165–167 (Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Düsseldorf) überliefert, NW 763 168–171 geben Aufschluss über Vorgänge nach dem Abschluss der »Düsseldorfer Vereinbarung« am 3.5.1988.

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Betriebsrat Theo Steegmann, der SPD -Mitglied war, gehörten Kampfbereitschaft am Arbeitsplatz und alternative Ansätze des regionalen Strukturwandels auch am Ende der Rheinhausener Proteste zusammen, wenngleich er seine eigene Gewerkschaft und Partei heftig kritisierte: Ich sehe, daß die IG -Metall mehrmals in den letzten Monaten die Chance gehabt hätte, diesen Konflikt um die Rheinhausener Hütte zu einem branchenweiten Konflikt um die Neuordnung der Stahlindustrie im Sinne der Arbeitnehmer […] zu machen. […] Ja, es geht darum, die Lasten sozial und regional ausgewogen zu verteilen. Das hätte man aber nur über einen branchenweiten politischen Kampf erreichen können. Die Chancen sind nicht genutzt worden, und wir beklagen auch die mangelnde Unterstützung der SPD in NRW für unseren Kampf.118

Die Einbindung in Muster des regionalen Strukturwandels wurde in Rheinhausen so zwar ausgereizt, aber nicht aufgegeben. Anders als im englischen Nordosten verlief die potentiell schärfste Bruchlinie des Konflikts zwischen der Belegschaft des Werks und der Gewerkschaft. Aber die Vermittlung des Betriebsrats zwischen diesen beiden Polen funktionierte trotz einzelner, verdichteter Unruhemomente insofern, als dass die Arbeitsbeziehungen im Werk von diesem Gegensatz nicht gefährdet wurden. Die IG Metall trug ihrerseits dazu bei, den Konflikt zu entschärfen, indem sie Karin Benz-­Overhage als Vorstandsmitglied vom linken Flügel der Gewerkschaft für die gesamte Dauer des Konflikts nach Rheinhausen entsandte. Zudem wirkte die Kritik am Vorgehen des Krupp-Konzerns, die von den Politikern der SPD, CDU und den Grünen geäußert wurde, deeskalierend, weil sie die Proteststimmung auf ein identifizierbares Ziel lenkte. Gerhard Cromme eignete sich sehr gut zum Buhmann, da er als revierfremder Manager weder kumpelhaft noch patriarchalisch auftrat und so habituelle Muster der Deeskalation durchbrach. Der Protest in Rheinhausen eskalierte plötzlich, weil die Schließungsankündigung zu einem Zeitpunkt der Antiklimax erfolgte, als die akute Krise des Stahlsektors eigentlich ausgestanden war. Aus diesem zeitlichen Missverhältnis resultierte ein guter Teil der überregionalen, symbolischen Bedeutung Rheinhausens, weil selbst Verfechter einer strikt marktwirtschaftlichen Politik die drohende Stilllegung als massiven Affront empfanden. Zudem konnte die Rheinhausener Belegschaft wegen der vorangegangenen Aktionen auf eine gut etablierte lokale Infrastruktur des betrieblichen und außerbetrieblichen Protests zurückgreifen.

118 Theo Steegmann, zit. n.: Walter Jakobs, »Wir sind über das Ergebnis deprimiert«. Interview, taz 4.5.1988.

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2.4 Zwischenfazit Der Miners’ Strike und die Rheinhausener Proteste waren Konflikte um Arbeit in einem wirtschaftlichen Bereich, der in Großbritannien und Westdeutschland jeweils von einem ganz bestimmten Verhältnis von Arbeit und Mitbestimmung geprägt war. In dieser zentralen Dimension des Konfliktgeschehens ging es um weit mehr als die Regelung von Sachfragen im Rahmen der industriellen Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen. Der Konflikt um die Urabstimmung, der den Streikbeginn in Durham prägte, berührte eine fundamentale Frage der gewerkschaftlichen Interessenvertretung: Inwiefern ist eine Gewerkschaft als Zusammenschluss aller Arbeitnehmer in einem Betrieb, einer Branche oder einem Berufszweig in der Lage, für diese Arbeiter als Gruppe zu sprechen und rechtlich bindende Beschlüsse zu fällen? Im Nordosten garantierten lang eingeübte rules and practices, wie die Möglichkeit zur spontanen Arbeitsniederlegung oder das dauernde Verhandeln zwischen dem area executive committee der NUM und den einzelnen Belegschaften, eine gewisse Flexibilität der Gewerkschaft für den Streikfall. Doch durch den Konfliktgegenstand Zechenschließungen und die neuartige Aufladung der regionalen Konfliktpraktiken mit Fragen allgemeiner gesellschaftlicher Ordnung – Demokratie in der Arbeiterbewegung, Feindschaft der Regierung gegen die Arbeiterbewegung – konnten diese etablierten Muster nicht mehr uneingeschränkt wirken. Der Streit um gebrochene Zusagen, der sich im Miners’ Strike auf den Plan for Coal und in Rheinhausen auf die Frankfurter Vereinbarung bezog, brachte in beiden Fällen eine wichtige moralische Dimension in die Konflikte um Betriebsschließungen hinein. Diese Moralisierung der Konflikte wirkte bis zu einem gewissen Grad mobilisierend und stellte deshalb eine Ressource von Arbeitnehmern beim Austausch von Argumenten in der Öffentlichkeit und in weiteren Verhandlungen dar. Im englischen Nordosten dienten die Angriffe der NUM auf die Führung des NCB zu Beginn des Streiks dazu, Einigkeit und Solidarität angesichts realer Uneinigkeit und Unsicherheit herzustellen. Vor allem durch die return-to-work Kampagne des NCB nahm die rhetorische Gegenüberstellung dann jedoch einen anderen Charakter an. Die Unternehmensführung schöpfte ihr gesamtes Machtpotential aus und beendete damit die gegenseitige Anerkennung von NUM und NCB als gleichberechtigte Partner. Die auf Seiten der Gewerkschaft vorhandene, fundamentale Bedrohungs- und Konfliktrhetorik wurde dadurch als plausible Deutung der Realität aufgewertet und bestimmte nunmehr die gewerkschaftlichen Handlungsweisen. Ältere Funktionäre wie Ernie Taylor und Tom Callan und traditionsverbundene Manager wie der area industrial relations officer George Atkinson agierten noch weitgehend nach einem Paradigma industrieller Beziehungen aus den 1950er und 60er Jahren. Jüngere Gewerkschafter wie Alan Cummings, der lodge secretary von Easington, nutzten hingegen neue rhetorische Muster, um den Miners’ Strike als fundamentalen Konflikt um die Erhaltung von

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gemeinschaftlichen Lebenswelten darzustellen. Doch im Großen und Ganzen waren sich auch die Vertreter des militanten Flügels der NUM über die problematische Situation ihrer Gewerkschaft im Klaren und bezogen sich weiterhin auf den hergebrachten Arbeitsstolz ihrer Kollegen, um Solidarität zu erzeugen.119 Die Bergarbeiter des Nordostens hielten ihrer Gewerkschaft NUM also nicht aufgrund von militanten politischen Überzeugungen die Treue, wie es die in der Erinnerungskultur gepflegten Mythen vom »radical miner« nahelegen würden,120 sondern weil sie in ihr selbst dann noch die beste Wahrerin ihrer Interessen sahen, wenn sie persönlich nicht mit den Beschlüssen der Führungsgremien einverstanden waren. Die hier vorgenommene Untersuchung von Arbeit und Mitbestimmung widerlegt also Interpretationen des Miners’ Strike als unvermeidliche Folge einer antigewerkschaftlichen Politik Thatchers oder einer ideologischen Radikalisierung der NUM. Der fundamentale Charakter des Konflikts entstand vielmehr erst im Verlauf des Bergarbeiterstreiks. Dabei wussten die Akteure – von der konservativen Premierministerin Thatcher bis hin zu einzelnen, militanten Gewerkschaftern – durchaus um die ambivalenten Bedingungen, von denen ihre jeweilige Position in dem Konflikt abhing. Sie verstanden es, sich in diesem Feld von Bedeutungen zu positionieren und so Einfluss auf das Geschehen zu nehmen, Solidarität zu erzeugen und selbst Macht zu gewinnen oder die Macht anderer Akteure zu verringern. Dabei griffen sie mit ihrer Rhetorik auf historisch weitreichende Konzepte und Vorstellungen über die industriellen Beziehungen zurück, die für den politischen Diskurs in der britischen Gesellschaft und ihren regionalen Teilgesellschaften zur Verfügung standen. In Rheinhausen orientierte sich der Protest der Belegschaft gegen das Unternehmen Krupp-Stahl und gegen die IG Metall noch stärker an den Denkmustern des regionalen Strukturwandels und des branchentypischen Produktivitätsdenkens als im Miners’ Strike. Die Schließungsankündigung fiel in eine Zeit relativer Sicherheit nach einer Phase massiver Umstrukturierungen. Daher wurde sie mit schärftster Rhetorik als »Verrat« bezeichnet, doch bei aller rhetorischen Schärfe blieb diese grundlegende Empörung der moral economy des modernisierenden Strukturwandels verpflichtet. Schließlich konnten sowohl gewerkschaftliche als auch unternehmerische und staatliche Akteure mehr Ansehen gewinnen, wenn sie den Konflikt sachlich lösten, als dadurch, dass sie ihn eskalieren ließen. Doch verschärften sich die Gegensätze zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite auch auf der regionalen Ebene des Miners’ Strike nicht einfach so oder weil die industriellen Beziehungen in Großbritannien besonders konfrontativ angelegt waren, sondern entlang bestimmter Parameter der sozialräumlichen Ordnung Montanregion. Weder beim Miners’ Strike noch bei den Rheinhausener Protesten handelte es sich um Klassenkämpfe zwischen Arbeit und Kapital, obwohl beide Ereignisse von den gewerkschaftlichen Akteuren so dargestellt wurden. Denn auf 119 Vgl. zum Verhältnis von Arbeitskonflikten und Arbeitsstolz: Kocka, Work, S. 9. 120 Vgl. Geary, The Myth, S. 43.

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der Handlungsebene blieben alle Akteure sogar dann noch den Praktiken der sozialräumlichen Ordnung Montanregion verpflichtet, wenn sie sich gegenseitig nicht mehr als gleichberechtige Konfliktpartner anerkannten. Die zeitgenössischen Debatten über die Konflikte wurden daher entlang der Linien nationaler und regionaler Strukturwandels-Diskurse geführt. Bürgerliche Think Tanks wie das Centre for Policy Studies legten in den 1980er Jahren umfangreiche Studien zu Problemen des regionalen Strukturwandels und sozialer Konflikte am Arbeitsplatz mit Titeln wie Put Pits into Profit: Alternative Plan for Coal121 oder The Right to Strike in a Free Society122 vor. Auch in Deutschland konzentrierten sich Diskurse über den Strukturwandel im bürgerlichen Lager auf Debatten um den »Standort Deutschland« oder »die Stahlkrise«.123 Soziale Unruhe spielte in diesen betriebs- und volkswirtschaftlichen Debatten keine Rolle, aber im Gegensatz zum britischen Niedergangsdiskurs wurden unter dem Stichwort »sozialer Friede« die harmonischen und funktionierenden industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik als positiver Standortfaktor hervorgehoben.124 Der Miners’ Strike und die Rheinhausener Proteste blieben aber trotzdem nicht auf den regelbaren Bereich von Arbeit und Mitbestimmung beschränkt. Als Fundamentalkonflikte griffen sie über diesen Aspekt der sozialen Ordnung hinaus. Deshalb sollen nun – sowohl auf der Diskurs- als auch auf der Handlungsebene – die verdichteten Momente gewaltsamer, sozialer Unruhe untersucht werden, die den Aufruhr in der Montanregion kennzeichneten.

121 Keith Boyfield, Put Pits into Profit: Alternative Plan for Coal, London 1985. 122 Sir Leonard Neal / Lionel Bloch, The Right to Strike in a Free Society, London 1983. 123 Vgl. die Publikationen in der Schriftenreihe des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung: Helmut Wienert (Hrsg.), Stahlkrise  – Ist der Staat gefordert?, Essen 1984; Ders., Technischer und wirtschaftlicher Wandel in der Stahlindustrie seit den sechziger Jahren unter besonderer Berücksichtigung Nordrhein-Westfalens, Essen 1996. 124 Vgl.: Kurt Biedenkopf / Meinhard Miegel, Investieren in Deutschland. Die Bundesrepublik als Wirtschaftsstandort, Landsberg am Lech 1989, besonders S. 78 f., 90 f.

3. Protest, Macht und Gewalt 3.1 »Black has been made white…« Am 4. Juni 1984 wurde der Bergarbeiter David Hind aus Easington vom Magistratsgericht in Bishop Auckland zu einer Strafe von 80 Pfund verurteilt, weil er vor dem Kohlelager der privaten Tagebaufirma H. J. Banks den Verkehr auf der Straße behindert hatte (obstructing the highway). Hind hatte dort mit anderen NUM-Mitgliedern einen Streikposten gebildet. Die Arbeiter wollten den Abtransport der Kohle aus den nahegelegenen Tagebauen verhindern und die LKW-Fahrer überreden, sich am Streik zu beteiligen. Hind war – drei Monate nach Beginn des Streiks – der erste Bergmann aus Durham, der wegen einer Ordnungswidrigkeit verurteilt wurde, die er innerhalb der Grafschaft begangen hatte.1 Für den Generalsekretär der Durham Mechanics’ Association, Bill Etherington,2 der zur Unterstützung seines Mitglieds bei der Urteilsverkündung anwesend war, stellte dieses Urteil aber nicht bloß als einen Fehler des Gerichts dar, für ihn kam es einer politisch motivierten Verdrehung des Rechts gleich: »Black has been made white to justify punishing our people.«3 Woraus speiste sich diese grundsätzliche Empörung des Gewerkschaftsfunktionärs und warum bot das Urteil gegen David Hind aus der Sicht von Etherington eine gute Gelegenheit, sie in der regionalen Presse zu äußern? Der Blick in den Bericht von der Gerichtsverhandlung zeigt, dass Anklage, festnehmender Beamter und Beklagter – wie zu erwarten – jeweils ganz unterschiedliche Darstellungen des Geschehens lieferten: »Prosecuting solicitor Peter Snow told the court that Hind, of Sea View, Easington, obstructed the highway by standing in the middle of the road preventing a Bank’s [die betroffene Tage­baufirma, A. H.] wagon from going into the depot.«4 Der Polizist, der Hind verhaftet hatte, schilderte den Vorfall dagegen so: »He was on the road pushing against the police. There was a struggle. I told him he was being arrested for obstruction.«5 David Hind selbst erlebte das Ereignis wieder ganz anders: »We went into the pickets and then  a wagon appeared on the scene and everyone surged forward. I got carried forward, got pushed in front of the crowd and as I tried to make my way to the back of the crowd I was arrested.«6 Die Schil1 O. A., I’ll appeal, says picket in ›black is white‹ case, Northern Echo 5.6.1984. 2 David Hind war (Maschinen-)Schlosser und wurde deshalb von der Durham Colliery Mechanics’ Association in der NUM vertreten, die anders als NACODS oder BACM keine eigene Gewerkschaft war. In der DMA waren die Angehörigen der qualifizierten Handwerksberufe im Bergbau, wie Elektriker, Maurer oder Schlosser relativ eigenständig organisiert. 3 O. A., I’ll appeal. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd.

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derungen der beiden Beteiligten, Bergmann und Polizist, klingen in dem Bericht äußerst lapidar; robuste, körperliche Gewalt scheint für sich genommen kein Problem gewesen zu sein, denn obwohl über intensive Gewalt verhandelt wurde, blieben zahlreiche einzelne Gewalthandlungen gänzlich unbemerkt. So bestand die Ordnungswidrigkeit des Bergmanns Hind nicht darin, dass er gemeinsam mit anderen Arbeitern gegen die Polizisten »drückte« und auch nicht in dem mehrdeutigen »struggle«, also dem Handgemenge zwischen der Gruppe der Polizisten und der Gruppe der Streikposten, sondern ausschließlich in seinem Herumstehen als Einzelner auf der Straße. Auch Hind selbst betonte in seiner Aussage den spontanen, gruppenartigen und unübersichtlichen Verlauf des Geschehens. Um den Eindruck einer Blockade­ absicht abzuschwächen, begann er damit, wie er selbst und andere »in die Streikposten gegangen« seien und vermittelt damit einen anschaulichen Eindruck von einem sogenannten push and shove, dem bei Streiks in Großbritannien bis 1984 üblichen Gerangel zwischen Reihen von Polizisten und Streikenden. Die Bedeutung dieser etablierten Gewaltpraxis und ihres Endes im Bergarbeiterstreik von 1984–85 für die Bedrohung der impliziten, aber gerade deshalb als sozial legitim angesehenen Streikordnung, ist nicht zu unterschätzen. Sie wird durch zwei Fotos illustriert, die beide vor dem Urteil von Bishop Auckland entstanden sind (Abb. 8 u. Abb. 9). Die Bilder zeigen den Streikposten an den Philadelphia Workshops, einer zentralen Werkstatt des NCB westlich von Sunderland. Hier versuchten Bergleute und Polizisten, sich gegenseitig im ›traditionellen‹ Verfahren des push and shove abzudrängen.7 Dies war eine über Jahrzehnte eingeübte Gewaltpraxis für den Streikfall und stellte als solche bereits einen diffizilen Kompromiss dar, der einerseits ein Übermaß an polizeilicher Gewalt durch den Gebrauch von Schusswaffen oder Knüppeln verhindern sollte und andererseits einen Rahmen für den körperlichen Einsatz von Arbeitermassen schuf.8 Zudem spielt sich die Szene anscheinend nicht auf einer öffentlichen Straße, sondern bereits in der Werkseinfahrt oder zumindest in einem deutlich als Zufahrt abgetrennten Straßenteil ab. In jedem Fall stellte das push and shove ein Verfahren dar, das von gegenseitiger Anerkennung gekennzeichnet war. Der geregelte Charakter des Verhaltens wird unter anderem daran deutlich, dass die Polizisten, wie auch in Tow Law,9 nur mit normaler Dienstkleidung ausgerüstet sind; die Offiziere 7 Keith Pattison arbeitet hauptsächlich als Theaterfotograf, seine Bilder vom Miners’ Strike sollten deshalb nicht mir Pressefotos verwechselt werden. Sie gehören eher zum Genre der künstlerischen Dokumentarfotografie. Seine Kollaboration mit David Peace zeigt zudem, dass Pattison dem Milieu linksalternativer Kulturschaffender angehört. 8 Clive Emsley, Hard Men. The English and Violence since 1750, London / New York 2005, hier S. 110; Roger Geary, Policing Industrial Disputes. 1893 to 1985, Cambridge u. a. 1985, hier S. 67 f. 9 Als im August 1984 nun zum ersten mal riot police in Durham eingesetzt wurde, war dies dem Northern Echo eine eigene Meldung wert: O. A., A village street in Co. Durham. RIOT police came to the North-East yesterday. Riot police fight pit fury, The Northern Echo 25.8.1984 [Hervorhebung im Original].

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tragen als Zeichen ihrer formalen Autorität sogar weiche Mützen auf dem Kopf. Beim push and shove herrschte direkter Körperkontakt zwischen Polizisten und Streikenden, es gab keine trennenden Gerätschaften wie Helme, Schilde oder Knüppel. Dieser waffenlose, direkte Kontakt trug zusätzlich zu einem subjektiven Gefühl der Gleichheit und damit zur Deeskalation von Spannungssituationen bei.10 Nicht einmal die gegnerische Reihe der Arbeiter oder Polizisten sollte durchbrochen werden, das Ziel bestand darin, die gegenüberliegende Phalanx abzudrängen, nicht sie zu sprengen. Durch diese impliziten Regeln wurde das Aufeinandertreffen von Polizei und Streikposten zu einer Form des »fair fight«11, bei der eine Übertretung der Regeln als moralisches Vergehen galt. In Tow Law empfand offensichtlich noch keiner der direkt Beteiligten dieses gegenseitige Abdrängen als illegitim oder justiziabel. David Hind betonte überdies, wie er in dem Moment, als er angeblich auf der Straße gestanden haben soll, versucht habe, zurück in die Menge der Streikposten zu gelangen. »We«, »crowd« und »everyone« sind dabei die zentralen Schlüsselwörter für sein eigenes Legitimitätsempfinden. Wenn es Hind gelungen wäre, zurück in die Masse zu gelangen, hätte ihm die Polizei wohl nichts mehr anhaben können. Hind führt dies aber vor allem an, um zu verdeutlichen, dass das Herumstehen auf der Straße nicht absichtlich passierte. Der Staatsanwalt konzentriert sich hingegen auf den rechtserheblichen Tatbestand des individuellen Auf-der-Straße-Stehens. ­Etheringtons Empfindung einer ungerechten Rechtspraxis resultierte also zu einem Teil bereits aus der Unabwendbarkeit des vereinzelten Auf-der-StraßeStehens beim Bestreiken fremder Betriebe.12 Das Gerichtsurteil vom 4. Juni 1984 wies aber über diese einzelne Protestpraxis hinaus, denn es bezog sich zugleich auf andere wichtige Elemente der kollektiven, lokalen Ordnung für den Streikfall. Die Entscheidung des Magistratsgerichts verschob die Machtverteilung von der Gewerkschaft zu den staatlichen Organen, weil die Definitionshoheit für obstructing the highway allein bei den Polizisten lag. Die neue Rechtslage rief bei den Bergarbeitern den subjektiven Eindruck von Ungerechtigkeit hervor,13 da sie den Schutz des Kollektivs, den die massenhaften Streikposten bisher geboten hatten, in sein Gegenteil verkehrte. Denn das chaotische Vorpreschen bei einem mass picket resultierte fast zwangsläufig in einer Aufspaltung der Gruppe, bei der Einzelne auf der Straße zurückbleiben mussten. Vor Gericht wurden dann aber nur noch diejenigen Teilnehmer

10 Vgl. David Waddington / Karen Jones / Chas Critcher, Flashpoints. Studies in Public Disorder, London 1989, hier S. 164–169. 11 Randall Collins, Violence. A Micro-Sociological Theory, Princeton 2008, hier S.193–211, insbesondere S. 206–211. 12 Auch die Tatsache, dass überhaupt Kohle von Fremdbetrieben abtransportiert wurde, galt als ›ungerecht‹, denn die Vorräte an den Tagebauen des NCB wurden nicht angerührt, vgl.: National Union of Mineworkers (Durham Area), Minutes of Committee Meeting Held on Tuesday, 19th June, 1984, NEEMARC NUMDA 1/3/54. p. 6. 13 Vgl. Terpe, Ungerechtigkeit, S. 47 ff.

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Abb. 8: National Coal Board Workshops Philadelphia, County Durham, in: Ders. / David Peace, No Redemption. The 1984–85 Miners’ Strike in the Durham Coalfield, S. 30, mit freundlicher Genehmigung von © Keith Pattison.

Abb. 9: National Coal Board Workshops Philadelphia, County Durham, in: Ders. / David Peace, No Redemption. The 1984–85 Miners’ Strike in the Durham Coalfield, S. 31, mit freundlicher Genehmigung von © Keith Pattison

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des Streikpostens angeklagt, die auf der Straße gestanden hatten. So verlagerte sich auch das strafrechtliche Risiko, das bei der Blockade von fremden Betrieben entstand, von der Gewerkschaft auf den einzelnen Teilnehmer am Streikposten – ohne dass gerichtliche Verfügungen gegen massenhafte Streikposten erlassen werden mussten. Damit war der kollektive Charakter der etablierten, lokalen Streikpraktiken akut bedroht. Das Urteil traf also den Kern einer von den beteiligten Bergarbeitern als legitim empfundenen, kollektiven Streikpraxis. Für die Rekonstruktion einer ›ursprünglichen‹ regionalen Ordnung für den Streikfall liefern die Aussagen des Polizisten und des Bergarbeiters entscheidende Hinweise, denn in beiden kommt legitime physische Gewalt vor, die bei der Beurteilung des Tatbestands obsructioning the highway vor Gericht keine Rolle spielte. Die zeitgenössische Unterscheidung zwischen gewalttätigem und friedlichem Protest, die in Unterhausdebatten und in den landesweiten Medien getroffen wurde, spielte also für die Beteiligten vor Ort eine relativ geringe Rolle und eignet sich daher nicht für eine kategoriale Einordnung des Bergarbeiterstreiks. Mit ihr können entscheidende Faktoren, wie lokale Gewaltpraktiken und deren Veränderung durch den Konflikt, nämlich nicht als dynamische Elemente des Geschehens erfasst werden und sowohl der fundamentale Charakter des Protests, als auch dessen Wandel durch die Störungen des Legitimitätsempfindens, blieben unverständlich. Das Urteil vom 4. Juni 1984 zeigt schließlich, dass die staatliche Rechtsprechung im Nordosten insgesamt verhältnismäßig spät in den Streik eingriff, weil sich dort zu dessen Beginn nur wenige Ansatzpunkte für justiziable Delikte ergaben. Die in der NUM organisierten Bergarbeiter streikten geschlossen und auch die Steiger (deputies) blieben ihren Arbeitsplätzen fern, wenn nicht lokale Vereinbarungen für bestimmte Instandhaltungsarbeiten den Zugang zu den Zechen regelten. Es gab im Nordosten also in den ersten Monaten des Streiks gar keine oder nur sehr wenige Gelegenheiten für Gewalt von Arbeitern oder Polizisten an den Zechentoren. Denn zu Blockaden, Schlägereien oder Straßenschlachten kam es nur dort, wo Bergarbeiter oder andere Berufsgruppen ohne Zustimmung der Streikenden auf die Zechengelände vordringen wollten, wo also die industriellen Beziehungen für den Streikfall bereits in Auflösung begriffen waren. Eine Ausnahme bildete in dieser Hinsicht die Zeche Wearmouth in Sunderland, von der später noch die Rede sein wird. Dort gab es schon zu Beginn des Streiks häufiger körperliche Auseinandersetzungen am Zecheneingang, doch anscheinend herrschte eine laisser-faire-Praxis der Polizei vor. Einzelne Brennpunkte des Geschehens entstanden im Nordosten nach den heftigen Auseinandersetzungen in den ersten zwei Streikwochen lediglich an NCB -eigenen Werkstattbetrieben, wie den Philadelphia-Workshops, an einigen Verwaltungsgebäuden, etwa dem Sitz der Regionalverwaltung in Gateshead, und an Fremdbetrieben des Tagebaus, wie dem bereits erwähnten Kohlelager in Tow Law. In Durham und Northumberland gab es aber keine Konfrontation zwischen einem Teil der Belegschaft, der gar nicht erst streiken wollte, und einem anderen Teil, der sich dem Ausstand anschloss. Diese Situation führte in den Bezirken

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Yorkshire und Nottinghamshire zu unkontrollierten oder zumindest weniger geregelten Gewaltausbrüchen. Sie bildete den Ansatzpunkt für Polizeieinsätze zum Schutz der arbeitswilligen Bergleute, wodurch die Polizei als dritte Partei ins Spiel gebracht wurde, was die Streikenden wiederum als Provokation empfanden. Ein weiterer Faktor für Eskalationen war die Anwesenheit revierfremder, streikender Bergarbeiter. In Nottinghamshire verstärkte der Zustrom von Bergarbeitern aus Yorkshire die Anti-Streik-Stimmung der Belegschaften.14 Während es in Durham keine großen Bedenken gegen die Teilnahme von Bergleuten aus Yorkshire an Streikposten gab, wehrte sich die Gewerkschaftsführung in N ­ orthumberland vehement gegen ungebetene Einmischungsversuche: »[…] Scottish pickets had arrived at Trade Union Hall – worse for drink – and had been persuaded to return to Scotland. […] The CHAIRMAN stated that he would contact the Sottish Area and inform them that we didn’t want any interference.«15 Ein genauer Blick auf die lokalen und regionalen Interaktionsdynamiken des Streiks zeigt für den englischen Nordosten also eine relativ gut funktionierende Ordnung des Protests, in der Zuständigkeiten und die Grenzen des Erlaubten zwar ausgetestet wurden, aber keineswegs anarchische Zustände herrschten. Der Protest gegen erneute Schließungen begann zwar auf den Zechen selbst, aber gewalttätige Unruhen blieben in Nordostengland lange auf die Randgebiete der Kohleproduktion beschränkt. Tagebaue wie Tow Law lagen weitab von den modernisierten Großzechen im Osten der Grafschaft Durham und damit auch weit entfernt vom Wohnumfeld der streikenden Bergleute. Erst im Sommer 1984 kam es zu Zusammenballungen von Polizei bei Zechen in den pit villages von East Durham, wo die überwiegende Mehrheit der Bergleute lebte und arbeitete. Der großflächige Schutz von Streikbrechern wurde in Durham dadurch erst relativ spät, nämlich im Herbst 1984, nötig. Seitdem kann man für einen kurzen Zeitraum von einer alltäglichen, massenhaften Polizeipräsenz in den Bergbaugebieten von Durham sprechen. Wie kam es zu dieser Zuspitzung der Lage und inwiefern lässt sich diese Verdichtung gewalttätigen Handelns mit den Protesten in Rheinhausen vergleichen? Der fundamentale Charakter des Miners’ Strike und der Rheinhausener Proteste zeigte sich für die unmittelbar Betroffenen und die allgemeine Öffentlichkeit in Form physischer Gewalt – sowohl als unmittelbare Gewalterfahrung, wie auch als sozial und medial vermittelter Topos im öffentlichen Diskurs. Gewalt 14 Howell, Defiant Dominoes, S. 155–157. 15 National Union of Mineworkers Northumberland Area, Minutes of Area Strike Meeting, Held 19th March 1984, Northumberland Record Office NRO 3793/15, S. 2, Hervorhebung im Original; Vgl. National Union of Mineworkers (Durham Area), Minutes of Committee Meeting, Held [sic] on Thursday 22nd March, 1984, NEEMARC NUMDA 1/3/54, p. 7.: »Dear Mr Callan, Having received a strong complaint about the conduct of pickets from your Area, especially during the conducting of our Ballot Vote, I would inform you that all collieries in Northumberland are at  a standstill and I would appeal to you to keep your pickets out, as we, ourselves, now have full control of the picketing. Yours sincerely. S. Scott, Secretary. 19 March 1984.«

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wurde in den zeitgenössischen Debatten über die Konflikte immer wieder als Argument herangezogen, um bestimmte Forderungen und Handlungsweisen zu delegitimieren. Im praxisgeschichtlichen Zugriff »Aufruhr in der Montanregion« stellt physische Gewalt jedoch lediglich e i n e mögliche Handlungsweise dar, mit denen Akteure ihre sozialen Beziehungen gestalten oder auch nicht.16 Bisher wurde die Frage nach der Bedeutung von Gewalt in solchen relativ friedlichen Arbeitskonflikten der Zeitgeschichte nur von Clive Emsley und Christian Koller empirisch untersucht.17 Emsley hat in seiner Studie »Hard Men« herausgearbeit, dass klassen- und genderspezifische physische Gewalt und deren Einhegung in der englischen Geschichte eine ganz besondere Rolle für das nationale Selbstbild spielte, dabei aber auch in sehr konkreten, schichtenspezifischen sozialen Normen und Praktiken verankert blieb.18 Diese sozialgeschichtliche Interpretation deckt sich mit kulturell tradierten Bildern der britisch-englischen Zivilgesellschaft als Prototyp ziviler Gesellschaft oder »peacable kingdom«, die von José Harris19 und Bernd Weisbrod20 in ideengeschichtlichen Studien untersucht worden sind.21 Im Streikfall kollidierte dieser Anspruch auf eine exemplarische »Zivilität«22 der britischen Gesellschaft mit der polizeilichen Durchsetzung des demokratisch legitimierten, staatlichen Machtmonopols.23 Neomarxistische Analysten des Thatcherismus wie Stuart Hall oder Andrew Gamble sahen im ­public order-Diskurs der 1980er Jahre deshalb den ideologischen Reflex eines neokonservativen Projekts. In den meisten linken Analysen des Miners’ Strike wird deshalb das Schlagwort paramilitary policing auf die Polizeieinsätze während des Streiks angewandt und ohne viel Aufhebens mit den antigewerkschaftlichen Absichten Thatchers verknüpft: The policing of the miners’ strike has represented a crystallisation of long-term changes in the character of the police and the legal regulation of industrial disputes. […] the militaristic and political direction taken by the police, the erosion of the independence 16 17 18 19 20

21 22 23

Vgl. Hordt u. a., Aufruhr. Koller, Streikkultur, S. 26–29. Emsley, Hard Men, S. 12 f., 158 f. und 178–184. José Harris, From Richard Hooker to Harold Laski. Changing Perceptions of Civil Society in British Political Thought, Late Sixteenth to Early Twentieth Century, in: Dies. (Hrsg.), Civil Society in British History. Ideas, Identities, Institutions, Oxford u. a. 2003, S. 13–37. Bernd Weisbrod, Gewalt und Zivilität. Das »Pecable Kingdom« und die Grenzen des zivilgesellschaftlichen Ansatzes, Bochum 2006 (Schriften der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets 21); Ders., Der englische »Sonderweg« in der neueren Geschichte, Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 233–252. Vgl. Michael Freeden, Civil Society and the Good Citizen. Competing Conceptions of Citizenship in Twentieth-Century Britain, in: José Harris. (Hrsg.), Civil Society in British History. Ideas, Identities, Institutions, Oxford u. a. 2003, S. 275–312. Weisbrod, Gewalt und Zivilität, hier S. 18–20. Brian Harrison, Civil Society by Accident? Paradoxies of Voluntarism and Pluralism in the 19th and 20th Centuries, in: José Harris (Hrsg.), Civil Society in British History. Ideas, Identities, Institutions, Oxford u. a. 2003, S. 79–96.

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of the judiciary, the subordination of democratic accountability at local and national levels to the state executive and the systematic violation of hard-won civil liberties and trade union rights.24

Diese Argumentation dient dazu, die Niederlage der NUM als Resultat einer Verschwörung von konservativen Kräften in Regierung, Polizei, Geheimdiensten und rightwing press zu erklären und trägt wenig dazu bei, Gewaltpraktiken oder Diskurse historisch zu analysieren.25 Vielmehr zeigt sie, wie tief die Verbitterung über den Ausgang des Streiks auf dem linken Flügel der Labour Party und in Teilen der NUM reichte. Sowohl in Großbritannien, als auch in Westdeutschland änderte sich spätestens seit den 1960er Jahren das Denken über die Rolle der Staatsgewalt gegenüber den Untertanen bzw. Bürgern – häufig in expliziter Auseinandersetzung mit Polizeigewalt, die zur Durchsetzung des staatlichen Rechts erfolgte. Dies hatte grundlegende Veränderungen in polizeilichen Kontrollstrategien zur Folge, die in beiden Ländern zwar in unterschiedliche Richtungen verliefen, letztlich aber immer an einem Idealbild friedlicher Gesellschaften orientiert blieben. Der Wandel der Institution Polizei schlug in beiden Ländern allerdings bis in die 1980er Jahre geradezu entgegengesetzte Richtungen ein. Während sich die Polizei in der Bundesrepublik Deutschland seit den späten 1960er Jahren zunehmend als Teil der Gesellschaft und nicht mehr ausschließlich als Schutzmacht des Staates verstand, entwickelte sich in Großbritannien zunehmend ein Bewusstsein dafür, dass die Polizei im Notfall (contingency) die Funktionsfähigkeit sogenannter unverzichtbarer Leistungen (essential services) im Interesse der Öffentlichkeit sicherzustellen hatte. Überdies hatte die britische Polizei vor allem nach den innerstädtischen Unruhen in Großstädten im Jahr 1981 stärker konfrontative Taktiken entwickelt, die der direkten und aktiven Kontrolle von Menschenmengen dienten, wogegen die deutsche Polizei seit dem Ende der 1960er Jahre verstärkt deeskalierende Einsatzmethoden erarbeitet hatte.26 Obwohl deutsche Polizisten in vielen Bereichen, etwa gegen Hausbesetzer sowie bei Protesten gegen die Wiederaufrüstung, Atomkraftwerke oder den Flughafenausbau in Frankfurt, weiterhin Gewalt einsetzten, wurde insbesondere der Protest der Stahlarbeiter in Rheinhausen von den zuständigen Stellen anders bewertet. Sogar die Straßenblockaden im Zuge der Demonstrationen galten 24 Glyn Cousin / Bob Fine / Robert Millar, Conclusion. The Politics of Policing, in: Bob Fine / Robert Millar (Hrsg.), Policing the Miners’ Strike, London 1984, S. 227–237, hier S. 227; vgl. auch Gerry Northam, Shooting in the Dark. Riot Police in Britain, London 1988; Richard Vogler, Reading the Riot Act. The Magistracy, the Police and the Army in Civil Disorder, Milton Keynes 1991. 25 Vgl. Milne, The Enemy Within, S. ix-xx; Penny Green, The Enemy Without. Policing and Class Consciousness in the Miners’ Strike, Milton Keynes, Philadelphia 1990. 26 Weinhauer, Polizeikultur und Polizeipraxis in den 1960er und 1970er Jahren. Ein (bundes)deutsch-englischer Vergleich, in: Christina Benninghaus u. a. (Hrsg.), Unterwegs in Europa. Beiträge zu einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte, Frankfurt, New York 2008, S. 201–216, hier S. 206–209.

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dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Schnoor, als legitim und berechtigt.27 An den Polizeieinsätzen in und um Rheinhausen in den Jahren 1987–88 wurde deutlich, dass die Polizei im Ruhrgebiet von einer SPD -geführten Landesregierung keinesfalls (mehr) zur gewaltsamen Regelung von betrieblichen Konflikten eingesetzt werden würde. Ob sich daraus eine ganz andere Typik polizeilicher Entwicklung ableiten lässt, muss allerdings offenbleiben, denn durch die Einführung von Spezialtruppen wie der GSG 9 oder den sogenannten SEKs weist die deutsche Polizei seit den 1970er-Jahren durchaus mehr paramilitärische Elemente auf als zuvor. Ebenso führte der Miners’ Strike nach einigen Diskussionen um dessen Folgen für die alltägliche Polizeiarbeit auch zu einer Rückbesinnung auf das hergebrachte Ideal des community policing.28 Für den engeren Bereich der Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung im Streikfall trifft die Diagnose einer zunehmend aggressiver auftretenden britischen Polizei und einer zunehmend deeskalierenden deutschen Polizei für die hier untersuchten kurzen Zeiträume und die Regionen Nordostengland und Ruhrgebiet dennoch zu.

3.2 Macht und Protest zwischen nationalen Diskursen und lokalen Praktiken Der Miners’ Strike wurde in der politischen Öffentlichkeit Großbritanniens als Konflikt um grundlegende Normen des Zusammenlebens behandelt. Besonders die Frage der Streikposten wurde am Beispiel des gespaltenen NUM-Bezirks Nottinghamshire immer wieder heftig diskutiert: I need hardly underline the seriousness of this situation. The law permits picketing for the purpose of peacefully communicating and persuading. What it does not permit is what some of the Nottinghamshire miners themselves, who have been victims of disgraceful conduct, have called mob rule, and what is so horrifying is that it is mob rule that is being inflicted by miner upon fellow miner. […] The right of miners who want to work and vote is something that is fundamental to a free society.29

27 Vgl. für die allgemeine Haltung: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Düsseldorf, NW 782 Nr. 108, Innenminister NRW (Dr. Schnoor) an Regierungspräsidenten und Leiter der Kreispolizeibehörden, 13.3.1984 (Orig. IV C 2/A 3 – 6117 -); Vgl. speziell zu Rheinhausen: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Düsseldorf, NW 782 Nr. 108, Leiter der Abteilung IV an Staatssekretär im Innenministerium, »Neujahrsempfang am 1.2.1988 in Siegen«, 20.1.1988. 28 Clive Emsley, The Police, in: Vernon Bogdanor (Hrsg.), The British Constitution in the Twentieth Century, Oxford u. a. 2003, S. 557–583, hier S. 576 f; Vgl. für die vorangegangene Diskussion die, von der Police Federation in Auftrag gegebene Studie von P. A. J. Waddington: The Effects of Police Manpower Depletion during the NUM Strike, 1984–85, London 1985. 29 The Secretary of State for the Home Department (Mr. Leon Brittan), HC Deb 15 March 1984, vol 56 cc. 512–521, pp. 512 f.

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Dieser grundsätzlichen Argumentation des Innenministers stand eine Berichterstattung in der Boulevardpresse gegenüber, die sich auf sensationelle Gewalttaten konzentrierte: »Yesterday, mob-violence returned to the coalfields when six colliery officials at the Yorkshire Main near Doncaster were stoned as they ran the gauntlet of pickets.«30 Teils wurde über die gleichen Vorfälle berichtet, die im Northern Echo vorkamen; allerdings betonten die Journalisten des Echo, die sich gewissermaßen als Stimme der Region verstanden, auch in Berichten über Gewalt stets, wie die Beteiligten im Nordosten doch noch zu einvernehmlichen Lösungen gelangt seien. So wurde z. B. über den Angriff des Bergarbeiters John Kull auf den NCB -Vorsitzenden Ian MacGregor bei einem Besuch der Zeche Ellington in Northumberland kurz vor Beginn des Streiks berichtet, und dabei vor allem die anschließende Versöhnung zwischen MacGregor und dem reuigen Übeltäter gewürdigt: COAL Board chairman Ian MacGregor has written to the miner who confronted him

12 days ago to say he bears no grudge. Mr MacGregor, 72, was forced to the ground after 15-stone Northumberland pitman John Kull grabbed at him during a demonstration at Ellington Colliery on February 22. The 34-year-old ex-Army gunner later sent a three-page letter to the coal chief apologizing for his actions […] Mr MacGregor is said to be a little sore in the neck and shoulders as a result of the fall.31

Die konservative Daily Mail stellte anhand derselben Meldung den chaotischen Verlauf des Protests in den Vordergrund der Berichterstattung – und aufgrund der weniger detaillierten Informationen im Artikel der Mail steht zu vermuten, dass die Journalisten dort gewisse Details überzeichneten, indem sie aus einem einzelnen Bergarbeiter einen »mob« machten, das Unwohlsein MacGregors als Bewusstlosigkeit bezeichneten und den Sturz in Folge des Gerangels als gezielten »knockout« beschrieben: »In London, NCB chairman Ian MacGregor spoke of the unprecedented wave of violence which is sweeping the industry. He himself was victim last week, when he was knocked unconscious by a mob on a pit visit.«32 Durch diese Art der Kolportage wurde der Streik in der Boulevardpresse mit Gewalt und Unordnung gleichgesetzt, etwa wenn von Arthur Scargill ein »Friedensappell« verlangt wurde, der zugleich die weitere Ausbreitung des Streiks verhindern sollte, die wiederum mit der Vorstellung von »militanten« Bergleuten verknüpft wurde: Mr MacGregor will make a last-ditch effort to persuade the Miners’ leader to call for peace in the coal fields. If it does not succeed, strike action is likely to spread first to 30 David Norris / Bryan Carter, National strike danger in pits / Threat of national coal strike, Daily Mail 6.3.1984. 31 O. A. Forget it, chief tells the pitman, The Northern Echo 2.3.1984. 32 Norris / Carter, National strike, Daily Mail 6.3.1984; Die Times folgte eher der Darstellung des Echo, betonte die Versöhnung und sprach nur davon, dass MacGregor »hingefallen sei«: O. A., MacGregor: No grudge, The Times 5.3.1984.

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the traditionally militant Scottish and South Wales coalfields and then to the more moderate areas such as North Nottinghamshire.33

Bereits zu Beginn des Miners’ Strike lagen im medialen und politischen Diskurs der nationalen Öffentlichkeit also bestimmte sprachliche Verknüpfungen vor, die eine aufgeheizte Darstellung des Streiks als personalisierten Konflikt wahrscheinlicher machten als eine Thematisierung von diffizilen Fragen der regionalen Strukturpolitik oder der industriellen Beziehungen.34 Auch die regional orientierten Berichterstatter des Northern Echo verfolgten freilich bestimmte Absichten, wenn sie bei einem solchen Gewaltvorfall vor allem über die Aussöhnung zwischen dem Angreifer aus der Belegschaft der größten Zeche in Northumberland und dem Vorstandsvorsitzenden des National Coal Board berichteten. Ihnen ging es darum, Normalität zu betonen und Konflikte als lösbar darzustellen, um damit den friedlichen Charakter der industriellen Beziehungen im Nordosten hervorzuheben. Auch hier wurde also ein ganz bestimmtes Bild vom Konflikthandeln auf regionaler Ebene konstruiert, das sich in den etablierten Diskurs über die regionale Identität einfügte. Bei der Analyse der Diskussionen über Gewalt im Miners’ Strike müssen neben der Streikpropaganda der NUM immer auch die vehementen Anti-StreikPositionen in der Öffentlichkeit und der Konservativen Partei beachtet werden.35 Allerdings sollte daraus nicht der voreilige Schluss gezogen werden, der Miners’ Strike sei immer und überall tatsächlich der fundamentale Konflikt gewesen, als den ihn verschiedene Beteiligte, Presse und Politiker darzustellen versuchten. Vielmehr erfüllten Gegenüberstellungen wie Gewalt und Ordnung für alle Konfliktparteien Funktionen im Rahmen ihrer politischen Strategien, die nicht zuletzt Machtfragen innerhalb der eigenen Gruppierung klären sollten. So wollte Leon Brittan mit dem argumentativen Fluchtpunkt der free society vor allem innerhalb des konservativen Spektrums deutlich machen, dass nur der Kurs Thatchers und der Neoliberalen in der Lage sei, effektiv mit dem Problem überbordender Gewerkschaftsmacht umzugehen; in seiner Selbstdarstellung konnte er nur erkennen, was wirklich auf dem Spiel stand, und deshalb als Innenminister entschlossen handeln, weil er als echter Neoliberaler wusste, was eine »offene Gesellschaft« ist. Ein noch nicht zu einer solch rigorosen Haltung bekehrter moderater Konservativer wäre aus seiner Sicht nicht handlungsfähig und würde fälschlicherweise nach einem Kompromiss suchen, den es aber nicht geben konnte. Zugleich dürfen gegenläufige, regionale Selbstbeschreibungen keinesfalls als objektive Darstellungen gewertet werden. Beide Positionen erwuchsen aus bestimmten, historisch zu lokalisierenden Überzeugungen, die sich in Folge der Ereignisse genauso gut wandeln wie stabilisieren konnten.

33 Ebd. 34 Vgl. O. A. [editorial], The Prism of Violence, The Times 21.6.1984. 35 Samuel, Introduction, in: Ders. / Bloomfield / Boanas (Hrsg.), The Enemy Within, S. 1–5.

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Auf der nationalen Ebene nutzten auch Labour-Politiker die Debatten im Unterhaus, um die Interessen ihres Parteiflügels innerhalb ihrer Partei durchzusetzen. Schatteninnenminister Gerald Kaufman etwa implizierte in einer der Unterhausdebatten zur Gewalt im Miners’ Strike einen Primat der Partei über die Gewerkschaften innerhalb der britischen Arbeiterbewegung: We in the Labour Party condemn all violence in all circumstances, and that includes condemnation of violence in pursuit of industrial disputes, even when it occurs among people who feel impotent in the face of the destruction of their jobs, their industries and their communities. […] The fact is that this Government have a vested interest in provoking industrial anarchy. […] The fact is that the chairman of the National Coal Board is seeking to implement a unilateral closure plan without any proper consultation with the National Union of Mineworkers.36

Kaufman bezog das zentrale Argument derjenigen ein, die Gewalt zwar nicht begrüßten, ihr aber Verständnis entgegenbrachten; Machtlosigkeit durfte auch für ihn keine Entschuldigung für Gewalt sein. Implizit gab er damit politischen und parlamentarischen Prozessen den Vorrang vor Streiks. Sicherlich gab es innerhalb der Labour Party ein breites Spektrum von Positionen zur Rolle der Gewerkschaften, aber auch solche Politiker, die 1984–85 eine Klassenrhetorik pflegten, wie etwa Tony Benn, hatten den Gewerkschaften keineswegs zentrale politische Entscheidungen überlassen, als sie in den 1970er Jahren selbst Regierungsverantwortung trugen. Kaufman wollte also nicht darauf hinaus, dass die Gewerkschaften mehr Macht haben sollten. Er wollte nur die Unfähigkeit der amtierenden Regierung bei der Gestaltung der industriellen Beziehungen herausstellen. Diese Unterscheidung zwischen Gewalt und den Ursachen von Gewalt konnte sich aber weder in der öffentlichen Debatte durchsetzten, noch wurde sie von der konservativen Regierung überhaupt als sinnvolles Argument akzeptiert. Vielmehr diente sie den Konservativen als zusätzlicher, fast triumphal ausgekosteter Beleg dafür, dass Labour im Kern die Gewalt der Bergleute unterstützte: The right hon. Member […] began […] with a condemnation of violence whatever its cause or source may be. Every single word that he uttered after that showed that that condemnation was no more than a ritual wringing of hands. [HON. MEMBERS: »Hear, hear.«]37

Im Hintergrund dieser Diskussion über Gewalt im Miners’ Strike stand die von vielen Konservativen schon seit langem gehegte Überzeugung, dass Gewerkschaften nicht nur die ökonomische Entwicklung behinderten, sondern auch die öffentliche Ordnung gefährdeten. Auch in dem bereits erwähnten Pamphlet von Keit Joseph war dies der eigentliche Fluchtpunkt der Argumentation: 36 Gerald Kaufman, Hansard’s HC Deb 15.3.1984, Bd. 56, S. 512–521, hier S. 513 f. 37 Leon Brittan, Hansard’s HC Deb 15.3.1984, Bd. 56, S. 512–521, hier S. 515, Hervorhebung im Original.

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In a trade dispute most things seem permitted for the union side; breaking contracts; inducing others to break contracts; picketing of non-involved companies; secondary boycotts. […] As we would expect, this militant’s charter, as Jim Prior has called it, has bred militants and driven moderates underground. Indeed, we are now seeing militants increasingly taking over control from union officials. […] National economic failure and the militant’s charter have given a supreme opportunity to the left-wing minority whose instincts are destructive, who are bitterly opposed to the free-enterprise economy which most people want.38

Laut Joseph sind die Vertreter der »linksradikalen Minderheit« nicht bloß militante Streikbefürworter, sie besitzen sogar »zerstörerische Triebe« und sind grundsätzlich gegen eine »free enterprise economy«, also eine Wirtschaft des freien Unternehmertums (nicht des Marktes!) eingestellt. Die Verknüpfung von öffentlicher Ordnung und nationaler Stärke, die Joseph schließlich vornahm, wirkt wie eine Vorwegnahme der Darstellung des Streiks von ­1984–85 als widerrechtlicher Aufruhr: It is understandable that people feel indignation at what is going on, anger at our sense of national impotence. But […] moral indignation can cloud our judgement. If we are to succeed, we have to think clearly and argue fairly. Only then will firm action be possible. […] We say that union power should be reduced, not because we are »antiunion«, nor because we think it is the sole cause of our problems, but because the present imbalance of power bars our way to national recovery.39

Gewerkschaften waren für bestimmte Vertreter der britischen Konservativen also keineswegs nur ein wirtschaftspolitisches, sondern ein moralisches Problem für den demokratischen Staat und eine friedliche öffentliche Ordnung, welches das Wesen der britischen Nation zu zersetzen drohte.40 Für Joseph blieb »national recovery« zwar wichtig, aber letztlich bildete die »free-enterprise economy« den Schwerpunkt seiner Argumentation und stand mindestens gleichberechtigt neben der britischen Nation. Die angeblich von militanten Aktivisten kontrollierten Gewerkschaften waren ein Problem der Gültigkeit einer öffentlichen Ordnung, deren Zweck im Funktionieren der Marktwirtschaft lag. In diesem Denken über Ordnung und kollektive Interessenvertretung trat ein wesentlich liberaleres Verständnis von Gesellschaft zugrunde als in älteren konservativen Denkmodellen oder den auf gelenkte Modernisierung bedachten Ideen der Labour Party. Allerdings gab es in dieser Perspektive wenig Platz für autonome, pluralistische Verbände, die zwischen dem Zentralstaat und den einzelnen Bürgern standen, deren individuelle Rechte nun das Recht auf die Durchsetzung kollektiver Solidarität verdrängte.41 Josephs Sprachbilder »natio38 Sir Keith Joseph Bt MP, Solving the Union Problem, S. 3 f. 39 Ebd. S. 9. 40 Matthew Grimley, Thatcherism, morality and religion, in: Jackson / Saunders, Thatcher’s Britain, S. 78–94, hier S. 82 f. 41 Vgl. dazu: Jackson, An Ideology, hier S. 277–281; Ewen H. Green, Ideologies of Conser-

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nal impotence« und »firm action« evozierten starke Gefühle und widersprachen seinem Anspruch, mit rationalen, ökonomischen Gründen eine Veränderung des gesetzlichen Rahmens für die Gewerkschaften zu erwirken. Sie entstammten dem älteren konservativen Denken über Gewerkschaften und gewährleisteten zusammen mit dem neuen Anspruch auf Rationalität eine gewisse rhetorische Enthemmung gegenüber den Gegnern. Dieser Wechsel der Ebenen belegt, wie emotionale Selbstbilder problemlos in die wirtschaftspolitische Debatte eingeflochten werden konnten und dass aus konservativer Sicht die Funktionsfähigkeit der Gesamtgesellschaft immer das zentrale Kriterium für pluralistische Freiräume bilden musste.42 Die bisherige Analyse zeigt also: Die Verknüpfung einer negativen gesellschaftlichen Entwicklung mit einer angeblich überbordenden Macht der Gewerkschaften bildete im Großbritannien der späten 1970er Jahren einen festen rhetorischen Topos über politische Lagergrenzen hinweg. Diese Sichtweise auf das Verhältnis von Staat und Gewerkschaften hat sowohl die zeitgenössische Wahrnehmung des Miners’ Strike als auch die Historiographie des Streiks geprägt. Wie sah es nun im Vergleich dazu in Westdeutschland mit Diskursen über Gewerkschaftsmacht, gesellschaftliche Protestpotentiale und öffentliche Ordnung aus? In den Debatten über Rheinhausen bildeten Gewalt, Ordnung und Freiheit für die westdeutsche Öffentlichkeit nur einen Aspekt unter anderen; es überwog eine positive Identifikation mit der Empörung der betroffenen Stahlarbeiter: Mit dem Vorwurf der Nötigung sollte indes in der öffentlichen Diskussion behutsam umgegangen werden. Denn eine differenzierte Betrachtung verbietet den vorschnellen Ruf nach dem Staatsanwalt. […] Denn nach dem Mutlangen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist bei Straßenblockaden die Verwerflichkeit des Tuns Voraussetzung für strafrechtliche Konsequenzen. Wer aber könnte den Kampf der Stahlkocher für ihre Arbeitsplätze als verwerflich abqualifizieren?43

Hier konnte sich eine Sicht auf Gewerkschaften und Streiks als Gefahr für die öffentliche Ordnung also nicht durchsetzen. In derjenigen Volkspartei, die den britischen Konservativen am nächsten kam, der CDU, herrschte in den 1970 und 80er Jahren ein älterer deutscher Ordnungsdiskurs vor, in dem »Recht und Ordnung« primär vom Staat her und als für den Staat existierend gedacht wurden.44 Das Recht auf Eigentum und die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in der Öffentlichkeit besaßen zwar einen hohen Stellenwert, aber eben nur als dievatism. Conservative Political Ideas in the Twentieth Century, Oxford / New York 2002, hier S. 240–279. 42 Ewen Green, Ideologies of Conservatism. Conservative Political Ideas in the Twentieth Century, hier S. 268–279. 43 Hans-Ulrich Jörges, Wenn »Nötigung« aus Not geschieht, Süddeutsche Zeitung 11.12.1987. 44 Achim Saupe, Von »Ruhe und Ordnung« zur »inneren Sicherheit«. Eine Historisierung gesellschaftlicher Dispositive, Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 7 (2010), http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Saupe-2-2010, 26.10.2012, Abschnitte 6–8.

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nende Elemente der höheren Ziele gesellschaftlicher Harmonie und staatlicher Machtvollkommenheit. In den 1970er Jahren gab es zwar unter dem Stichwort »Neue Soziale Frage« Versuche innerhalb des konservativen politischen Spektrums, Gewerkschaftsmacht wie bei den britischen Konservativen als grundsätzliches Problem zu definieren.45 Allerdings konnten Gewerkschaften mit den überkommenen, aber damals in der CDU noch einflussreichen Elementen der katholischen Soziallehre und evangelischen Sozialethik als notwendiges, intermediäres Bindemittel der Gesellschaft betrachtet werden, auch wenn solche Bilder ursprünglich restaurativen, antimodernen Reflexen entstammten.46 Gerade in Nordrhein-Westfalen blieb dieser Blick auf die Gewerkschaften in der CDU dominant. Schließlich stellte die Region Ruhrgebiet trotz sozialdemokratischer Dominanz eine wichtige Machtbasis der CDU dar. So konnte z. B. die CDU-Arbeitnehmerorganisation CDA aus Nordrhein-Westfalen heraus immer wieder Vertreter wie den Vorsitzenden des Personalrats der Duisburger Verkehrsgesellschaft, ­A lexander Graf von Schwerin,47 in hohe und höchste Gremien der CDU entsenden.48 Deshalb bildete die Lösung der regionalen Strukturkrise ein zentrales Tätigkeitsfeld der Partei, in dem sie nicht ohne Kooperation mit den SPD -dominierten Gewerkschaften IG Bergbau und IG Metall auskommen konnte.49 Weder kam es im Bereich der Gewerkschaftspolitik auf Bundesebene zu der befürchteten »Tendenzwende«,50 noch entwickelte sich die CDU auf der regionalen Ebene zu einer genuin konservativen, ›anti­gewerkschaftlichen‹ Partei. 45 Martin H. Geyer, Rahmenbedingungen. Unsicherheit als Normalität, in: Ders. (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 Bd. 6: 1974–1982. Bundesrepublik Deutschland. Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten, Baden-Baden 2008, S. 4–109, hier S. 31–34; Schneider, Kleine Geschichte, S. 372–375. 46 Vgl. Walter Kerber, Katholische Soziallehre, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 5, Freiburg im Breisgau 31996, Sp. 1362–1365. Sp. 1362–1365, hier 1363 f.; Wolfgang Huber, Evangelische Sozialethik, in: Hans Dieter Betz u. a. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 2, Tübingen 41999, Sp. 1723–1727, hier Sp. 1726 f. 47 1968–1978 Straßenbahnfahrer in Duisburg, Gewerkschafter der DAG , 1981–2007 Betriebsratsratsvorsitzender der Duisburger Verkehrsgesellschaft (DVG), 1987–1989 Mitglied im Bundesvorstand der CDU, nach seinem Ausscheiden als Betriebsratsvorsitzender erhielt von Schwerin eine leitende Stellung im kommunalen Versorgungs- und Entsorgungsbetrieb DVV, eine unabhängig von Parteizugehörigkeit typische Karriere für einen Kommunalpolitiker im Ruhrgebiet, die so ähnlich auch in den 1920er oder 1950er Jahren hätte verlaufen können. Klaus Johann, Ein gewichtiger Kämpfer geht von Bord, WAZ 30.7.2007, http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/ein-gewichtiger-kaempfer-gehtvon-bord-id2018434.html, 14.7.2014; Konrad-Adenauer-Stiftung, Geschichte der CDU. Bundesvorstandsmitglieder 1973–1989, http://www.kas.de/wf/de/71.9402/, 14.7.2014. 48 Guido Hitze, Verlorene Jahre? Die Nordrhein-Westfälische CDU in der Opposition ­1975–1995. Teil  II: 1985–1990, Düsseldorf 2010, S. 779–821. 49 Ders., Verlorene Jahre? Teil I: 1975–1985, ebd., S. 672–698. 50 Vgl. dazu: Peter Hoeres, Von der »Tendenzwende« zur »geistig-moralischen Wende«. Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in VfZ 61 (2013), S. 93–119, insbesondere S. 117–119.

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Anders sah es freilich bei der FDP aus, die mit ähnlichen wirtschaftspolitischen Argumenten wie die britischen Tories eine Schließung von Rheinhausen aus wirtschaftlichen Gründen begrüßte: Nur die FDP-Fraktion in Düsseldorf stimmte den Stillegungsplänen in Rheinhausen zu. In ihrem Entschließungsantrag hieß es, mit der Konzentration der gesamten Rohstahlerzeugung auf Duisburg-Huckingen könne in einem unternehmensübergreifenden Verbund von Krupp, Mannesmann und Thyssen der Stahlstandort Duisburg längerfristig gesichert werden. Weshalb dieses Vorhaben einen hohen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Stellenwert habe.51

Dabei traten die Vertreter der FDP stets mit dem Anspruch auf, im Gegensatz zu allen anderen Parteien die »unbequeme« Wahrheit der wirtschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen und auszusprechen. Dieser rhetorische Kniff weist zwar Ähnlichkeiten zum Habitus der Neoliberalen in der Konservativen Partei auf, bedeutete aber nicht unbedingt eine inhaltliche Abkehr von den Grundsätzen einer zwischen Staat und Unternehmen koordinierten »sozialen Marktwirtschaft«. Unterschiede zwischen den beiden ›bürgerlichen‹ Parteien in der Anerkennung von Gewerkschaften drückten sich höchstens in sehr feinen Nuancen aus und folgten stets regionalen Sagbarkeitsregeln, wie an dem folgenden Wortwechsel zwischen der CDU-Landtagsabgeordneten Christa Thoben und dem FDP-Vertreter Hagen Tschoeltsch deutlich wird:52 Tschoeltsch (FDP): Es ist nicht gut, unangenehme Wahrheiten in kleinen Dosen über

einen längeren Zeitraum zu verteilen. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der CDU-Fraktion, Sie haben in Ihrem Entschließungsantrag, den Sie heute vorgelegt haben, nicht deutlich gesagt, wie Sie zu dem Konzept der Unternehmen stehen. […] Frau Thoben (CDU): Herr Tschoeltsch, würden Sie mir zustimmen, daß es vielleicht nicht ganz zweckmäßig ist, daß der Landtag ein Unternehmenskonzept abschließend wertet, während die Unternehmensleitung noch in abschließenden Gesprächen mit den Betriebsräten verhandelt?53

Sowohl Thoben, als auch Tschoeltsch hatten lange in parteinahen Mittelstandsund Industrievereinigungen gearbeitet und galten als Vertreter des Wirtschaftsflügels ihrer Parteien. Christa Thoben konnte als gebürtige Dortmunderin, die in Bochum lebte, eine gewisse Verbundenheit mit der Region für sich beanspruchen. Thoben gelang es im Laufe der Debatte, den FDP-Vertreter mit dem Verweis auf die Autonomie der industriellen Akteure in die Schranken zu weisen, der sowohl 51 Lothar Bewerunge, Düsseldorf erhofft das Heil von einem nationalen Stahlverbund, FAZ 3.12.1987. 52 Zur Hagen Tschoeltsch: Detailansicht des Abgeordneten Hagen Tschoeltsch, http://www. landtag.nrw.de/portal/ WWW/Webmaster/GB_I/I.1/Abgeordnete/Ehemalige_Abgeordnete/details.jsp?k=01148, 20.8.2014; Zu Christa Toben: Detailansicht der Abgeordneten Christa Toben, http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/Webmaster/GB_I/I.1/Abgeordnete/Ehemalige_Abgeordnete/details.jsp?k=01054, 20.8.2014. 53 Landtag Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 10/62, 2.12.1987, S. 5433.

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in einer konservativen als auch in einer gewerkschaftlichen Perspektive eine hohe Berechtigung beanspruchen konnte. Die Argumente, die vom liberalen Bundeswirtschaftsminister Bangemann gegen staatliche Initiativen für Rheinhausen vorgebracht wurden, bezogen sich dagegen stärker auf eine vom Staat zu garantierende Wettbewerbsordnung, also den Rahmen der westdeutschen »sozialen Marktwirtschaft«.54 Dieses Ordnungsmuster muss zwar in einem historischen Sinne als »neoliberal« bezeichnet werden, im Kontext der bundesdeutschen Debatten über industriellen Strukturwandel fielen aber in einer marktwirtschaftlichen Ordnung sowohl dem Staat als auch subsidiären Interessenverbänden zentrale, autonome Funktionen zu. Neben den Gewerkschaften als eingespielten Akteuren in sozialen Konflikten hatten nationale Debatten über Macht, Gewalt und Protest in den industriellen Beziehungen sowohl in Großbritannien als auch in Westdeutschland die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen zum Thema.55 Zugleich stellten Gruppen, Personen und Protestformen aus diesem Bereich einen Teil der Infrastruktur, ideologischen Vorbilder und personellen Ressourcen für die Proteste gegen Betriebsschließungen bereit.56 Bei manchen zeitgenössischen Beobachtern führte dies zu einer rhetorisch triftigen Verknüpfung von neulinken Bewegungsidealen mit den Protesformen des Miners’ Strike, wie in der von Kim Howells geprägten Formulierung »A New Kind of Politics«: With no prompting from Marxism Today, the New Left Review or Labour Weekly, the people of the coalfields created the basis for a new politics which grew out of experience and necessity. […] It has opened up the possibility of mutual action to defend and strengthen communities.57

Howells imaginierte und assoziierte mit Bezug auf die mining villages in Südwales eine ›aktivistische‹ Politik, die aus dem ›Volk‹ selbst kommen und auf eine numinose Art ›frei‹ von bestehenden Ideologien die Menschen direkt beteiligen sollte. Auch wenn diese zeitgenössische Phantasie kein akkurates Bild der tatsächlichen sozialen Bewegungen im Miners’ Strike bietet, spiegelt sie dennoch eine wirkmächtige und deshalb ernstzunehmende Generationenerfahrung einer bestimmten Gruppe von akademisch geprägten Aktivisten wider, die im Zusammenhang des Streiks entstanden ist.58 Für konservative Beobachter in Großbritannien wirkten solche Vorstellungen in den 1980er Jahren selbstredend äußerst bedrohlich, sie mussten aus der Ideo54 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 11/46. Bonn, Donnerstag den 3. Dezember 1987, S. 3134 f. 55 Stefan Berger, Social Movement in Europe since the End of the Second World War, in: JanOtmar Hesse u. a. (Hrsg.), Perspectives on European Economic and Social History, BadenBaden 2014, S.15–46, hier S. 23–31; Schregel, Die »Macht der Mächtigen«, S. 405–409. 56 Als Literatur und Quelle dazu: Robert Colls, Born-again Geordies, passim. 57 Howells, Stopping Out, hier S. 146. 58 Vgl. Peter Ackers, Gramsci at the Miners’ Strike. Remembering the 1984–1985 Eurocommunist Alternative Industrial Relations Strategy, in: Labor History 55 (2014), S. 151–172.

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logie der Parlamentssouveränität heraus abgelehnt werden, da die so entstandenen Gruppen, im Gegensatz zu anderen ›voluntaristischen‹ Verbänden, in ihrer Sicht nicht erkennbar zu einem effektiven Funktionieren der Gesellschaft beitrugen und sich außerdem stets gegen die Politik der Konservativen Partei engagierten.59 Auch bei einigen der Labour Party nahestehenden Sozialwissenschaftlern und Historikern bestehen bis heute massive Vorbehalte gegen Gruppen, die nicht direkt an die eigene Partei gebunden sind.60 Dies hat teils erhebliche negative Folgen für die wissenschaftliche Erforschung des Bergarbeiterstreiks gezeitigt, etwa indem Initiativen innerhalb der NUM, die dem Umfeld der New Left entstammten, als syndikalistische Bewegung interpretiert worden sind.61 Allerdings war der Wandel, den der Miners’ Strike im Gefüge der regionalen Zivilgesellschaft auslöste, tatsächlich fundamental. Vor 1984 besaß die NUM im Verständnis der obersten Gewerkschaftsfunktionäre eine Art Alleinvertretungsanspruch für Arbeitnehmer in der Montanregion. Das zeigte sich unter anderem in der Bewertung der Miners’ Gala als rein innergewerkschaftliche Angelegenheit. So lehnte Generalsekretär Tom Callan z. B. im Jahr 1979 die Bitte der Vorsizenden des regionalen Gewerkschaftsverbandes, Durham County Association of Trades Councils, um eine Beteiligung von weiteren Gewerkschaften am Big Meeting relativ brüsk ab: Dear Miss Nicholson, […] I need to remind you that the Big Meeting is uniquely a Miners’ Gala. To make it a general Labour or Trade Union affair might increase the attendance (even this is open to question) but it would weaken the essence of which the day is made. […] As you will gather, we are jealous of our traditions and our Big Meeting. […] you will not really be surprised to learn that the miners of the County of Durham still reject the idea of a different kind of meeting to that which they have built – the Durham Miners’ Gala Day; still a very impressive demonstration for all to enjoy.62

Diese Sonderrolle der Bergleute in der Region änderte sich durch den Streik, weil die jüngeren Funktionäre mit Unterstützergruppen kooperieren mussten, um sich mit ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Im Jahr 1987 bat der neue Generalsekretär der Durham Miners, David Hopper, dann sogar um Aufnahme in die County Association of Trades Councils. Dieser Schritt wäre, wie man

59 Green, Ideologies of Conservatism, S. 268–279; Harrison, Civil Society, S. 85–91. 60 Steve Ludlam, Too much pluralism, not enough socialism. Interpreting the Unions-Party Link, in: John Callaghan / Steven Fielding / Ders. (Hrsg.), Interpreting the Labour Party. Approaches to Labour Politics and History, Manchester 2003, S. 150–165, passim. 61 Vgl. Andrew Taylor, The NUM and British Politics. Volume 2: 1969–1995, Aldershot, Burlington 2005, S. 1–47. 62 Tom Callan, NUM, Durham Area, Miss N. Nicholson, Durham Association of Trades Councils, 7.9.1979, DCRO DX 953/2/120 (2); vgl. Die Anfrage von N. Nicholson, Miss N. Nicholson, Durham Association of Trades Councils, Tom Callan, General Secretary, NUM, Durham Area, 16.8.1979, ebd. (1).

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an Callans Schreiben von 1979 sehen kann, vor 1984 und der Niederlage der NUM im Streik undenkbar gewesen.63 Während des Streiks achteten die Durham und Northumberland Miners aber strikt darauf, dass bei Hilfs- oder Protestaktionen im Namen der NUM stets Beauftragte der Gewerkschaft anwesend waren: 7. Collections – Newcastle Centre for the Unemployed. Having noted the representatives of the above organization were collecting in Newcastle City Centre, allegedly on behalf of the N. U. M. Hardship Fund, IT WAS AGREED that they be informed that under no circumstances must collections be taken unless an N. U. M. Official Representative is in attendance.64

Die hier beanstandete Spendensammlung wurde wohlgemerkt von der gewerkschaftsnahen North Tyneside Miners’ Support Group durchgeführt. Das Verhältnis zwischen solchen Gruppen und der NUM blieb also nicht ganz unproblematisch, aber die Solidarität zwischen Unterstützergruppen und der NUM ruhte zunehmend auf einem geteilten Verständnis linker Politik in der Region. Der Initiator der North Tyneside Miners’ Support Group, Alec McFadden, war ein erfahrener Multifunktionär, dem der Aktivist Brian Topping zur Seite stand. Beide hatten zuvor in verschiedenen Bürgerinitiativen und gewerkschaftlichen Gruppen wie dem North Tyneside Centre for the Unemployed in leitenden Funktionen mitgewirkt. Gerade auf der lokalen Ebene blieb das Verhältnis zwischen der NUM als Organisation und dem Miners’ Strike als umfassender Protestbewegung also von diffizilen Aushandlungsprozessen begleitet. Wenn eine erfolgreiche Kooperation etabliert war, entfalteten Unterstützerinitiativen allerdings eine erhebliche Wirkung für die materielle Versorgung der Bergarbeiter und die Vertretung von deren Anliegen in der Öffentlichkeit. Im Ruhrgebiet gab es wesentlich mehr Überschneidungen zwischen Neuen Sozialen Bewegungen und Gewerkschaften. Die Arbeiter des Stahlwerks in Rheinhausen und die Funktionäre der IG Metall hatten bereits vor ihrem Protest gegen die Stilllegungspläne 1987 weit weniger Berührungsängste mit Protagnisten jenseits der eigenen Organisation als die regionalen Vertreter der NUM im Nordosten. Allerdings erklärt sich dieser Umstand schon sozialstrukturell aus der viel höheren Urbanisierung und wirtschaftlichen sowie sozialen Differenzierung der Großstadt Duisburg und des Ruhrgebiets. Rheinhausen war kein pit village und der organisatorische Pluralismus des Ruhrgebiets zwischen den überparteilichen Kirchen und Vereinen sowie verschiedenen christdemokratisch, liberal oder sozialdemokratisch geprägten Verbänden brachte keine dominante Kultur des labourism hervor, wie sie in Nordostengland in der NUM Mitte der 1980er Jahre noch herrschte. Außerdem beanspruchte die IG Metall gegenüber 63 David Hopper, General Secretary NUM, Durham Area, to N. Nicholson, Durham County Association of Trades Councils, 7.5.1987, DCRO D / X 952/2/119. 64 NUM, Northumberland Area, Minutes of Area Strike Meeting, held 18th May, 1984, NRO 3793/15 – NRO 07556/54/1, p. 52, Hervorhebung im Original.

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den anderen DGB -Gewerkschaften in den 1980er Jahren eine Art Führungsrolle in gesellschaftlichen Debatten. Die sogenannte »Zukunftsdiskussion« bildete eines der Lieblingsprojekte des Vorsitzenden Franz Steinkühler: Seit Mitte der siebziger Jahre vollzieht sich in den Industriestaaten ein ökonomischer und gesellschaftlicher Umbruch. […] Der Verlauf […] hat gezeigt, daß […] gewerkschaftliche Reformpolitik Perspektiven für den gesamten Lebenszusammenhang der Menschen aufzeigen muß, will sie erfolgreich sein. […] Im Meinungsaustausch mit Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern und gesellschaftlichen Organisationen wurden dazu Ideen gesammelt, Vorstellungen entwickelt und Instrumente gesucht […].65

In der praktischen Arbeit wirkte sich dieser Anspruch darin aus, dass regional verankerte Funktionäre wie Otto König, Rudolf Judith oder Karin Benz-Overhage regelrecht darauf trainiert waren, Bündnisse mit Gruppen jenseits der eigenen Organisation zu suchen und zu pflegen. Im Nordosten ergaben sich die Veränderungen im Verhältnis von Bergarbeitergewerkschaft, anderen TUCGewerkschaften und weiteren sozialen Gruppen erst durch den Miners’ Strike, wobei die Northumberland Miners einstweilen bereitwilliger auf Außenstehende reagierten als die Durham Miners. Die Lage der jeweiligen Gewerkschaftsbüros illustriert diesen Unterschied: Das Büro der Northumberland Area war in den 1980er Jahren in Burt Hall angesiedelt, mitten in der Innenstadt von Newcastle, an der Schnittstelle zwischen dem Campus der Northumbria University, den Gebäuden der Stadtverwaltung und der Haupteinkaufsstraße. Das Hauptquartier der Durham Area, Redhills, liegt dagegen (bis heute) am äußersten Rande des viel kleineren Durham, dort wo die durchgehende Bebauung der Stadt bereits aufhört, verhältnismäßig weit entfernt von Innenstadt und Universität. In einer klassischen Konflikttypologie müsste das sozialmoralisch motivierte Ungerechtigkeitsempfinden des Miners’ Strike in den Bereich der Neuen Sozialen Bewegungen gehören.66 Der Vergleich zwischen dem Bergarbeiterstreik und den Rheinhausener Protesten zeigt aber, dass dieses Protestmotiv in zwei gewerkschaftlich dominierten Protestbewegungen auftrat. Dies ist als Zeichen für einen grundlegenden Wandel von Protestkulturen und der allgemeinen politischen 65 Industriegewerkschaft Metall für die Bunderepublik Deutschland Vorstand, Geschäftsbericht 1986 bis 1988 des Vorstandes der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1989, S. 36 f. Die Auslassungen sind größtenteils durch den hochgradig redundanten Sprachstil bedingt. 66 Sven Reichardt, Große und Sozialliberale Koalition (1966–1974), in: Roland Roth / Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt, New York 2008, S. 71–91, hier S. 90 f.; Roland Roth / Dieter Rucht, Einleitung, ebd., S. 10–36, hier S. 31–34; Eberhard Schmidt, Arbeiterbewegung, ebd., S. 157–186, hier S. 185 f; Ingolfur Blühdorn, The Participatory Revolution. New Social Movements and Civil Society, in: Klaus Larres (Hrsg.), A Companion to Europe since 1945, Chichester u. a. 2009, S. 407–431, hier S. 419–421; Sabine Mecking, Vom Protest zur Protestkultur. Träger, Formen und Ziele gesellschaftlichen Aufbegehrens, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), S. 517–529, passim.

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Kultur in den Montanregionen zu sehen. Obwohl die zeitgenössische Vorstellung von der »New Kind of Politics« nicht ganz zutrifft, handelt es sich doch um ein bemerkenswertes Phänomen: Sowohl im englischen Nordosten als auch im Ruhrgebiet lieferten politisch links zu verortende Sozialwissenschaftler häufig entscheidende Stichworte für den Protest. Der promovierte Historiker Kim Howells diente der NUM in Südwales als offizieller Sprecher und der an der Universität Durham tätige Soziologe Huw Beynon fertigte Analysen und Beschreibungen des Streiks im englischen Nordosten an, die auch von Gewerkschaftsfunktionären adaptiert wurden. Im Ruhrgebiet organisierte der promovierte evangelische Sozialwissenschaftler Harry Jablonowski Konferenzen zum Strukturwandel und in Rheinhausen selbst halfen katholische und evangelische Pfarrer wie Fritz Bösken, Nikolaus Schneider und Dieter Kelp, den Protest zu organisieren. Da diese Personen sich trotz ihres akademischen Hintergrunds zumindest zeitweise als Aktivisten begriffen, dürfen die von ihnen überlieferten Deutungsangebote nicht einfach übernommen werden.67 Sie geben aber dennoch Aufschluss über wichtige Aspekte des Aufruhrs in der Montanregion und die organisatorischen Bedingungen des Protests, der auch im Bereich sozialwissenschaftlicher Deutungen auf vorhandene, institutionelle Strukturen angewiesen blieb. Wie aber ging nun die Übersetzung neulinker Bewegungsideale oder die Wiederentdeckung hergebrachter, gewerkschaftlicher Bewegungspotentiale konkret vonstatten? Ein relativ gut dokumentiertes Beispiel für eine lokal verankerte Unterstützergruppe im Nordosten, das – ungewöhnlicherweise – den Weg in ein staatliches Archiv gefunden hat, ist die North Tyneside Miners’ Support Group. Dieser Zusammenschluss ging aus einem sogenannten centre for the unemployed hervor, einem Beratungsbüro des lokalen Gewerkschaftsverbandes. Solche Angebote stellten einen neuen Ansatz in der Gewerkschaftsarbeit dar, weil Arbeitslose hier direkt, ohne den Weg über eine Spartengewerkschaft, angesprochen wurden.68 Indem ein solches centre for the unemployed nun in Verbindung mit den streikenden Bergarbeitern trat, entfaltete sich eine relativ ungewöhnliche Kombination von Gruppen, Zielen und Organisationsprinzipien. Die North ­Tyneside Miners Support Group verband Arbeitslose, die in Newcastle und anderen nördlich des Tyne gelegenen Städten wie Gosford und North Shields wohnten, mit der regionalen Abteilung des nationalen Dachverbands der Gewerkschaften, TUC , und den vom Streik betroffenen Mitgliedern der National Union of Mineworkers in Tyne and Wear und im Süden der Grafschaft Northumberland. Ihr Ziel bestand ebenso im Sammeln von Spendengeldern und der Bereitstellung von Sachspenden für die streikenden Bergleute, wie in allgemeiner politischer Arbeit für »die Arbeiterbewegung«.

67 Dazu allgemein: Stefan Berger, Social Movement, hier S. 35. 68 Agitate, Organise, Educate. Newcastle on Tyne Trades Council – Centre for the Umemployed ›The Second Year‹, 1979, Tyne and Wear Archives, Gordon Adam Papers, ACC 1884, Box 4667.

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Damit erfüllte sie organisatorische Aufgaben, die weder von der NUM selbst, noch von der Labour Party wahrgenommen werden konnten, die aber für die Öffentlichkeitsarbeit im Sinne der streikenden Bergleute und für die materielle Streikbereitschaft der Bergleute zentral waren. Einmal konnte die support group eine Art Gegenöffentlichkeit herstellen, indem sie zivilgesellschaftliche Organisationen als Unterstützer für die eigene Arbeit gewann, die insgesamt als Unterstützer der Bergarbeiter gelten konnten. Eine erhaltene Liste führt neben den zu erwartenden Organisationen wie Labour Party und Gewerkschaften einen Kleingartenverein, einen Veteranenverein, einen Verein für Marinekadetten, zwei Co-operative Societies, einen Co-op Store und sogar eine katholische Nonnengemeinschaft auf.69 Allerdings legten die dort aufgeführten Vereine häufig viel Wert auf eine distanzierte Haltung zum Streik; ihre Unterstützung beschränkte sich in vielen Fällen auf die Tolerierung von zeitgleichen Sammelaktionen; so betonte der Leiter der Seekadetten von Wallsend in seinem Schreiben, dass beide Gruppen klar voneinander getrennt sammeln müssten: Wallsend Sea Cadets have no objection to your group being present in Wallsend on Saturday, 18 August 1984 to raise funds on behalf of the Miners’ support group, provided that, […] there can be no confusion or doubts that we are collecting for different purposes, and that we, a non-political youth organisation are in no way associated with your cause, no matter how worthy. May I take this opportunity to wish you and your group »good luck« on the day. Yours sincerely P. Nixon LT (SCC)70

Viele Gruppen und Institutionen konnten also erfolgreich zur Unterstützung der unpolitischen Linderung materieller Not bei den Streikenden mobilisiert werden, obwohl sie sich nicht zum Streik selbst positionierten. Für die NUM und die Labour Party wäre aber selbst diese Art der Mobilisierung unmöglich gewesen, denn die angesprochenen Organisationen waren strikt zu politischer Neutralität verpflichtet. Neben der Organisation materieller Hilfe und dem Kontakt mit anderen lokal verankerten Gruppen und Verbänden entfaltete die North Tyneside Miners’ Support Group aber auch politische Aktivitäten. So verfassten die Mitglieder unter anderem eine Petition an das Europäische Parlament, die tatsächlich vom Petitionsausschuss beraten wurde. Dazu traten die Aktivisten in intensiven Kontakt mit dem Europaabgeordneten für Northumbria, Gordon Adam.71 Adam war selbst Bergwerksingenieur und hatte, wie viele Mitglieder der lokalen Funktionseliten, lange für das National Coal Board gearbeitet. Als Mitglied des Europaparlaments setzte er sich vor allem im Energieausschuss für die Steinkohle als Energieträger 69 The 1984 Miners’ Strike and the Response of the North Tyneside Trades Council Centre for the Unemployed. (Interim Report October 1984), Appendix 1, Tyne and Wear ­Archives, North Tyneside Miners’ Support Group (TU / TC/2/4). 70 P. Nixon Lieut., SCC Wallsend to Brian Topping, 14.8.1984, Tyne and Wear Archives, North Tyneside Miners’ Support Group (TU / TC/2/4). 71 Petition to the European Parliament, NTMSG to Dr. Gordon Adam MEP, 15.10.1984, Tyne and Wear Archives TU / TC/2/4.

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ein. Er war als aktiver Politiker also keineswegs einem aktivistischen Politikverständnis verpflichtet, sondern eher einem ›technokratischen‹, für ihn standen nie die Arbeitsbeziehungen im Kohlesektor im Vordergrund seiner eigenen Arbeit, sondern die volkswirtschaftlichen und technologischen Aspekte des Steinkohlebergbaus. Adam ließ sich anscheinend nicht ungerne auf die Zusammenarbeit mit der support group ein, obwohl deren Funktionäre im Unterschied zu ihm einen revolutionär-sozialistischen Habitus und Sprachstil pflegten. Wiewohl den gemeinsamen Bemühungen um eine Resolution des Europäischen Parlamentes kein Erfolg beschieden war, lässt sich an der vorangehenden Kooperation klar erkennen, dass eine strikte Trennung zwischen verschiedenen Flügeln der Arbeiterbewegung oder zwischen älteren Funktionären und jüngeren Aktivisten für eine regionalgesellschaftliche Erklärung des Miners’ Strike kaum taugt. In Rheinhausen bildete das sogenannte »Bürgerkomittee« ein wichtiges Scharnier zwischen Bevölkerung, protestierenden Krupp-Arbeitern und Lokalpolitik.72 Obwohl die Mitglieder unabhängig von Gewerkschafts- und Parteizugehörigkeit die Rheinhausener Wohnbevölkerung und Geschäftsleute organisieren wollten, wurde es im Kern von Personen aus dem Umfeld der Kirchengemeinden und der SPD dominiert. Sprecher war der evangelische Pfarrer Dieter Kelp. Andere wichtige Aktivisten, die zwischen Bevölkerung und Krupp-Arbeitern vermittelten, waren die Ehefrauen der evangelischen Pfarrer in Rheinhausen oder die SPD -Frauenaktivistin Aletta Eßer, die als kaufmännische Angestellte bei Krupp arbeitete. Freilich blieb dieser regionale Protest im Miners’ Strike und in Rheinhausen stets vom Umfeld nationaler und regionaler Diskurse über die Legitimität sozialer und politischer Bewegungen und auch hergebrachten Protestpraktiken der sozialräumlichen Ordnung Montanregion geprägt. Auch wenn diese Ordnung selbst bedroht war und die streikenden bzw. protestierenden Arbeiter und ihre Unterstützer genau diese Bedrohung thematisierten, änderten sie bereits dadurch entscheidende Parameter der Ordnung. Das Protesthandeln lokaler und regionaler Akteure orientierte sich sowohl im Miners’ Strike als auch bei den Rheinhausener Protesten an nationalen und regionalen Diskursen über den Wandel von Machtverhältnissen im Spannungsfeld von neuen Protestpotentialen und hergebrachten Konfliktpraktiken. Freilich bleibt zu fragen, unter welchen Bedingungen es vor Ort tatsächlich zu Gewalt kam, wie sie in regionalen und nationalen Öffentlichkeiten wahrgenommen und gedeutet wurde und was sie für die historische Interpretation der Ereignisse als »Aufruhr in der Montanregion« bedeutet? Um die Ähnlichkeiten und Gegensätze zwischen dem ›Aufruhr‹ im Nordosten und dem Ruhrgebiet zu erhellen, soll für das englische Beispiel im Folgenden sowohl die Vorgeschichte des kurzfristigen Gewaltausbruchs im Sommer 1984, als auch dieser handfeste Aufruhr 72 In Rheinhausen spielten vermutlich auch türkischsprachige Vereine eine große Rolle. Leider befinden sich in den Beständen des Stadtarchivs Duisburg außer den offiziellen türkischsprachigen Flyern des Betriebsrats aber (noch) keine Belege für das Wirken solcher Gruppen.

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selbst untersucht werden. Für das Ruhrgebiet hingegen werden der Ausbruch des Protests in Rheinhausen und die sogenannten Stahlaktionstage der IG Metall mit den Straßenblockaden der Rheinhausener Arbeiter für einen kürzeren Zeitraum im Winter 1987–88 betrachtet.

3.3 Zuspitzungen: Konfliktlagen zwischen Erleben, Erfahrung und Debatten Trotz des Wandels bestimmter Gewaltpraktiken, der sich im veränderten Vorgehen der Polizei bei den pickets in Tow Law und Philadelphia zeigte, blieb der Streik im Nordosten, nachdem er einmal etabliert war, lange verhältnismäßig friedlich. Diese Lage änderte sich erst im Hochsommer 1984, als es am 24. und 25. August in einigen pit villages in East Durham plötzlich zu heftigen Krawallen kam und auch hier für kurze Zeit jene ›bürgerkriegsähnlichen‹ Zustände herrschten, die das medial überlieferte Bild des Streiks bis heute dominieren. Diesem Kippen der Situation waren einerseits schleichende Verände­rungen der Konfliktlage im Miners’ Strike auf der nationalen und regionalen Ebene vorausgegangen, die sich am deutlichsten im Wechsel des National Coal Board zu einer konfrontativen Taktik des aktiven Streikbrechens zeigte, die in der NCB -Zentrale in London als Politik der second front bezeichnet wurde.73 Zugleich stand der abrupte Wandel des Konflikts im Sommer im Zusammenhang mit zunehmenden Gewalterfahrungen der Bergleute aus dem Nordosten bei Streikeinsätzen in weiter südlich gelegenen Revieren. Wie sich schon an der Blockade des Kohlenlagers in Tow Law gezeigt hatte, war die Streiktaktik der NUM und des Coal Board auf der regionalen Ebene eng mit dem Strukturwandel im Nordosten verbunden: Die Ergebnisse der modernisierenden Strukturplanung der 1960er und 70er Jahre gaben das Muster vor, in dem sich der Streik selbst, Strategien des Streikbrechens und der gewalttätigen Empörung dagegen entfalteten. Nachdem der Streik in den Zechen des Nordostens durchgesetzt war, verlagerten sich die Proteste für lange Zeit in den Westen der Grafschaft Durham, an die dort gelegenen Tagebaue und deren Kohlehalden. Große Streikposten fanden in den ersten Monaten des Streiks nicht bei den modernisierten Großzechen in East Durham oder im Südosten Northumberlands statt, sie betrafen also nicht die Wohnorte und Arbeitsstätten der Bergleute. In der Grafschaft Durham ereigneten sich die Proteste hauptsächlich in den bereits aufgegebenen, teils regelrecht ›entvölkerten‹ Gebieten im Westen der Grafschaft, im Fall von Northumberland am Kraftwerk von Lynemouth, das am nördlichen Rand des Kohleabbaugebiets liegt. Streikposten an den Zechen in den pit villages waren bis Juli 1984 eher eine symbolische Angelegenheit, um den Streikzustand anzuzeigen. Es gab allerdings zwei gewichtige Ausnahmen, die beide mit Angestellten zu tun hatten, die in der COSA, der Unterabteilung der 73 Smith, The 1984 Miners’ Strike, S. 209 f.

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NUM für Verwaltungspersonal, organisiert waren. An der in Stadtnähe gelegenen

Zeche Wear­mouth und an den Philadelphia Workshops, die unmittelbar neben der von Schließung bedrohten Zeche in Herrington lagen, kam es zu heftigeren Auseinandersetzungen, weil dort Verwaltungsangestellte weiterarbeiten wollten. Aus diesem Grund waren die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Bergarbeitern dort heftiger und die Streikposten spielten eine andere Rolle als bei den großen Zechen an der Küste. Dennoch gab es zumindest in Philadelphia und in Tow Law in den ersten Monaten des Streiks stets Vermittlungsbemühungen und direkte Gespräche zwischen der NUM, der betroffenen Tagebaufirma und lokalen Politikern, so dass es an den Streikposten zwar mitunter ›heftig zuging‹, aber immer noch Kanäle für deeskalierende Kommunikation offenblieben. Erst bei Einsätzen als flying pickets und auf Demonstrationen in Yorkshire und Nottinghamshire erlebten die Bergarbeiter aus Durham willkürliche Gewalt von Polizisten am eigenen Leib. Diese Erfahrungen spielten dann eine wichtige Rolle für den Wandel von Wahrnehmungsmustern und Gewaltpraktiken in Durham selbst. Das überregionale Engagement der Durham Miners bildete innerhalb der Nachkriegszeit einen einmaligen Vorgang, da es vor 1984 schlicht keinen landesweiten Streik gab, in dem ein solcher Austausch zwischen den Revieren überhaupt nötig gewesen wäre. Die Streiks von 1972 und 1974 waren zwar mit Blockaden verbunden, aber dabei handelte es sich vor allem um lokale Ereignisse, die außerdem, wie im Fall der sogenannten Battle of Saltley Gates, neben der einheitlich streikenden NUM von vielen anderen Einzelgewerkschaften im TUC unterstützt worden waren. 1984 lag der Fall ganz anders: Die Bergleute aus Durham kamen in andere Bezirke, um dort streikunwillige Kollegen an deren eigenen Zechen in Lancashire, Nottinghamshire oder Yorkshire davon zu überzeugen, dem Streik beizutreten. Andere Gelegenheiten zu Demonstrationen außerhalb des eigenen Gewerkschaftsbezirks standen ebenfalls im Kontext der inneren Uneinigkeit der NUM, so vor allem eine Demonstration in Sheffield am 19. April 1984. An diesem Tag sollte eine Basiskonferenz von Delegierten aus allen NUM-Bezirken endgültig entscheiden, ob eine Urabstimmung nötig war, um den Streik zu einer landesweiten, offiziellen Arbeitsniederlegung zu erklären.74 Zu dieser Demonstration reisten einige Mitglieder der lodges aus Murton und Hawthorn an, »On Thursday 19th April 1984 Mr T Parry myself, and other members of Murton Mechanics lodge along with members of Hawthorn Miners lodge travelled to Sheffield to attend the N. U. M. rally.«75 Zwischen dem Ende der offiziellen Veranstaltung und ihrer Abfahrt aus Sheffield kam es zu zwei Zwischenfällen, die von den Bergarbeitern aus Durham als Einbruch von polizei74 Eine mikrosoziologische Darstellung und Analyse des Ereignisses mit dem Ziel einer Typologie von »public disorder« findet sich – leider ohne Nachweisapparat – als Fallstudie bei Waddington / Jones / Critcher, Flashpoints, S. 43–56. 75 George Maitland »On Thursday 19th April 1984…«, o. D., schriftlicher Zeugenbericht, DCRO Dormand Papers D / Dor 6/8 [10], 4 pages, p. 1.

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licher Willkür in ihren legitimen und gemäßigten Protest empfunden wurden: Kurz vor der geplanten Abfahrt nach Durham wurde ein Mitglied der Gruppe, Stephen Vardy, verhaftet. Während die Vorsitzenden der zwei lodges sich auf der Bridge Street Police Station in Sheffield nach Vardy erkundigen wollten, wurde außerdem der Elektriker Thomas Parry, ein Mitglied des lodge committee von Murton, vor der Polizeiwache verhaftet. Die erste Verhaftung hatte sich aus einem Vorfall am Sheffield Trades & Labour Club ergeben, wohin die Arbeiter aus Durham nach einem Streifzug durch verschiedene Pubs zu einem entertainment, einer Art buntem Nachmittag mit Musik, Getränken und Snacks, gegangen waren. Am Ende der Veranstaltung kam es auf der Straße vor dem Club zu einer Schlägerei zwischen Arbeitern und Polizisten. Der Besitzer eines gegenüberliegenden Pubs, der geschlossen war, hatte sich über Kumpel beschwert, die unablässig an seine Tür klopften. Daraufhin waren zwei Polizisten gekommen und hatten versucht, die Bergleute von dem Pub wegzubewegen. Anscheinend fühlten sich die Polizisten jedoch bedroht und riefen nach Verstärkung, die dann in so großer Zahl und in so kurzer Zeit eintraf, dass sich nun wiederum die restlichen Bergleute, die inzwischen in ihre Reisebusse zurückkehren wollten, provoziert fühlten. In dem Tumult wurde unter anderem Billy Stobbs, der NEC-Vertreter der Durham Area niedergestoßen, als er versuchte, die Gruppen auseinanderzuhalten. Sowohl das Northern Echo als auch das Echo Sunderland berichteten ausgiebig über das Schicksal des stark kurzsichtigen NUM-Funktionärs, der mit angebrochenen Rippen für zwei Tage ins Krankenhaus musste.76 Insbesondere die Attacke auf Billy Stobbs wurde im Northern Echo auf der Titelseite als Hauptmeldung behandelt, wobei die friedliche Absicht von Stobbs Handeln hervorgehoben wurde: Mr Stobbs said he asked the police to call up the Durham coaches so that the men could leave and he then asked for a loud-hailer to organise the miners. »I had just got it into my hand when the inspector snatched it off me,« he said. »They were herding us like bloody cattle. All we were trying to do was defuse an explosive situation. I found myself in the middle of a melee of about 50 to 100 lads surrounded by police four deep.« »There was a surge and the next thing I knew I was shoved forward I fell to [undeutliche Kopie, A. H.] the bottom and when I came round I was on my way to the hospital.«

Stobbs wurde also genau in dem Moment verletzt, als er versuchte seiner Aufgabe als Gewerkschaftsfunktionär nachzugehen, die für ihn legitimerweise darin bestand, ›seinen‹ Männern die richtigen Anweisungen zu geben und mit der Polizei zu verhandeln. Anscheinend war der Polizeieinsatz zu diesem Zeitpunkt relativ schlecht koordiniert, obwohl die Demonstration bis dahin – im Gegensatz zu einer vorherigen Demo in Sheffield – friedlich verlaufen war.77

76 O. A., NUM official felled in clash, The Northern Echo 21.4.1984. 77 Waddington / Jones / Critcher, Flashpoints, S. 43–50.

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Die Männer aus Durham empfanden das Eingreifen der Polizei als unfair, weil sie ihren eigenen Angaben nach in jenem Moment in die wartenden Reisebusse einsteigen wollten, um Sheffield zu verlassen, »On leaving the premises we were confronted with a barrage of policemen, where fighting had broke out, between the police & miners who were only trying to board the buses waiting.«78 Für einige der Arbeiter, wie den später verhafteten Tom Parry, der sich zu diesem Zeitpunkt innerhalb des Clubs befand, ergab sich zwar der Eindruck, dass der Hauptausgang des Labour Clubs regelrecht blockiert gewesen sei, aber Parry reagierte dennoch mit Humor auf die Situation, »As the door leaving club was blocked with people I told a few people that the exit at the rear of club had been opened and it would be safer to leave this way.«79 Die Zeugenberichte der Bergarbeiter wurden vermutlich unter der Anleitung eines Rechtsanwalts oder eines juristisch informierten Gewerkschaftsfunktionärs geschrieben, denn sie ähneln sich in ihrer Struktur und enthalten ohne Ausnahme die entlastende Information, dass sich der später verhaftete Thomas Parry zu dem Zeitpunkt, als er angeblich einen Polizisten angegriffen haben soll, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Gruppe im Sheffield Labour Club befand. Es gibt keinen Anlass an der Wahrhaftigkeit dieser Darstellung zu zweifeln, da die Berichte sich in diesem Punkt nicht widersprechen, Parry später freigesprochen wurde80 und außerdem keiner der Berichte ein Alibi für den anderen verhafteten Arbeiter, Stephen Vardy, enthält. Sogar Vardy selbst lieferte eine Aussage zugunsten Parrys ab, in der er sich aber verständlicherweise nicht zum Krawall vor dem Club äußerte, der zu seiner eigenen Verhaftung führte.81 Wegen dieses sachlichen Charakters kommen wertende oder emotionale Urteile nur an den Stellen vor, an denen über das Verhalten der Polizei oder über die Verhaftung Parrys berichtet wird: In the group of 14 people until 3–15, when we came out of the club, fighting had broke out between Police & People outside the club the police acted in disgraceful way […] After standing at the Staton Gates where again we where pushed away in a disgraceful way by the police we headed for the bus we then relised Tom Parry was missing, […].82

Neben dem klaren Werturteil fällt vor allem auf, dass dieser Bergmann, der als Einziger Schwierigkeiten mit der Schriftsprache hatte, seine demonstrierenden Kumpel ganz selbstverständlich als »Menschen« oder »Leute« der »Polizei« gegen78 Alan (›Sandy‹) Napier, »On Thursday 19 – 4 – 84 I travelled to Sheffield…«, o. D., schriftlicher Zeugenbericht, DCRO Dormand Papers D / Dor 6/8 [10]. 79 Thomas Parry, »On the above date I travelled to Sheffield…«, o. D., schriftlicher Zeugenbericht, DCRO Dormand Papers D / Dor 6/8 [10], 4 pages, S. 1. 80 Anlage zum Brief von William Etherington, Durham Mechanics an Jack Dormand, M. P., 9.1.1984, S. 18, DCRO Dormand Papers D / Dor 6/8 [24]. 81 S. Vardy, »I and three other members of Murt Mech. travelled …«, o. D., schriftlicher Zeugenbericht, DCRO Dormand Papers D / Dor 6/8 [10], 2 Seiten. 82 T. Wilson, »On Thursday 19–4-84 I travelled to Sheffield…«, o. D., schriftlicher Zeugenbericht, DCRO Dormand Papers D / Dor 6/8 [10], im Original nur Großbuchstaben.

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überstellt. Insbesondere die erfahreneren Funktionäre Maitland und M ­ usgrove zeigten sich überrascht, »I was very surprised […] at no Time had I seen him cause any Trouble.«83, oder bestürzt über die Verhaftung Parrys, »I was shocked to learn that T Parry had been arrested for an assault on a Policeman«84. Die Reaktion des chairman von Hawthorn ist doppeldeutig; der Satz kann bedeuten, dass er geschockt war, weil Parry verhaftet wurde, oder deshalb, weil er wegen des Angriffs auf einen Polizisten verhaftet worden war. Nicht zuletzt reagierte Parry selbst auf seine eigene Verhaftung mit völligem Unglauben: I asked the policeman who I was supposed to have assaulted, the one sitting on my left said no [oder »he«, A. H.], I said you are mistaken. One of the other policeman said yes I saw him big chap wearing a green coat, red check shirt and a red beard. […] I said I can’t believe this is actually happening, this can’t be for real. One of the policemen said you arn’t half a good runner for a big man. I said this is a case of mistaken identity. One policeman said there are not many men who look like you.85

Thomas Parry war nicht nur irgendein Arbeiter, sondern hatte sowohl innerhalb der Gewerkschaft als auch in der Gemeinde von Murton zahlreiche Ehrenämter inne, die den erst 36 Jahre alten Facharbeiter als einen – im Verhältnis zu seinem Alter – wichtigen Mann in Betrieb und Dorf auszeichneten. Er war seit zehn Jahren Mitglied des lodge committee, Vertreter der mechanics im Death and Accident Fund und Vorsitzender der Murton Community Football Leagues, dem örtlichen Fußballklub für Kinder bis 15.86 Parry selbst gibt an, zum Zeitpunkt seiner Verhaftung seit zwölf Jahren gewerkschaftlich tätig gewesen zu sein, er gehörte also zu den Bergarbeitern, die als sehr junge Männer durch den Streik von 1972 von passiven zu aktiven Gewerkschaftsmitgliedern geworden waren. Da er seit zehn Jahren im lodge committee saß, muss Parry in zeitlicher Nähe zum Streik von 1974 Gewerkschaftsfunktionär geworden sein. Die Fahrt nach Sheffield deutet auf ein Interesse an der Gewerkschaftsarbeit hin, welches über sein administratives und wohltätiges Engagement hinausgeht. Aufgrund der Quellenlage kann man freilich nicht sicher behaupten, dass Parry in besonderer Weise politisiert gewesen sei, aber seine Biographie als Gewerkschaftsmitglied verläuft an den entscheidenden Stellen »aktiv werden« und »gewählt werden« analog zu den großen Streiks seines Arbeiterlebens. Zugleich zeigt sich an Parrys Biographie aber auch, dass eine idealtypische Unterscheidung zwischen politisierten Aktivisten und normalen, ›moderaten‹ Gewerkschaftern an eine harte Grenze stößt. Parry war beides und sein ›Aktivismus‹ speiste sich aus dem wohltätigen und sportlichen Engagement in Gewerkschaft und Gemeinde. 83 Maitland, Zeugenbericht, S. 3. 84 S. Musgrove, »On the 19·4·84 outside of Bridge St. Police Station…«, 24.4.1984, schriftlicher Zeugenbericht, DCRO Dormand Papers D / DRO 6/8 [10]. 85 Thomas Parry, »On the above date I travelled to Sheffield…«, o. D., schriftlicher Zeugenbericht, DCRO Dormand Papers D / Dor 6/8 [10], 4 Seiten, hier Seite 3. 86 Mit fünfzehn Jahren fangen die Jungen im Obertagebetrieb des Bergwerks ihre Lehre an, weshalb sie danach im Team der Zeche Fußball spielen.

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Es handelt sich bei Parry um eine typische Funktionärsbiographie, denn höhere Gewerkschaftsfunktionäre und Kommunalpolitiker im Nordosten hatten ihre Wurzeln stets in kleinen, dem Anschein nach unpolitischen Ämtern. Für die gewerkschaftliche und sozialdemokratische Durchdringung des Ruhrgebiets in der Nachkriegszeit ist dieser Zusammenhang als »Stellvertreterprinzip« der lokalen, lebensweltlich geprägten Politik von Zimmermann systematisiert worden.87 Für Großbritannien ist die Beziehung zwischen politischer Stellvertretung und der Durchdringung von lebensweltlichen und politischen Aktionsfeldern durch Funktionäre der Gewerkschaften bisher nicht systematisch erfasst worden. Die Biographie des verhafteten Parry kann dennoch als Beispiel für die Gültigkeit des »Stellvertreterprinzips« als Strukturmerkmal der Montanregion Nordost gesehen werden. Im Unglauben Parrys und seiner Mitreisenden über die grundlose Verhaftung lässt sich also zugleich eine Bruchstelle und ein stabiles Charakteristikum der sozialräumlichen Ordnung Montanregion festmachen: Die Funktionäre der NUM trugen erheblich zum sozialen Leben der Gemeinden bei, aber in dem Maße, in dem die Gewerkschaft für viele der Arbeiter während des Streiks alleinigen Rückhalt bot, wurde diese Verknüpfung zu einer Achillesferse der lokalen Gesellschaft. Da die Gewerkschaft im weiteren Verlauf des Streiks zusehends delegitimiert wurde, war die spezifische sozialräumliche Ordnung als solche bedroht. Beides, Stabilität und Bedrohung, wird durch das Aufeinanderprallen von Polizei und Bergarbeitern in Sheffield am 19. April 1984 sichtbar und veränderte für die unmittelbar Betroffenen, aber auch die Durham Miners insgesamt, die Art, in der sie ihren Protest in größere Sinnzusammenhänge einordneten, da ein junger, friedlich demonstrierender und besonders angesehener Mann wegen einer schweren Anschuldigung verhaftet und außerdem einer der angesehensten Funktionäre des Bezirks beim Verhandeln mit der Polizei verletzt worden war.88 Ein Journalist des Northern Echo, der Lokalkorrespondent für Peterlee und Umgebung, Gerry Marron, hatte die Gruppe der Bergarbeiter nach Sheffield begleitet und konnte die Redaktion überzeugen, eine Reportage in Ich-Form zu veröffentlichen. In diesem Artikel und einem kürzeren Stück über die Reaktionen von Parrys Kollegen Napier, Maitland und Rooney, machte Marron den Vertrauensverlust deutlich, der aus den Ereignissen resultierte und erweiterte ihn auf die Polizei als nationale Institution: THE image of the British bobby as the kind, helpful character emerged severely dented

from the chaotic scenes outside Sheffield Labour Club. In a para-military style operation ranks of trench-coated figures confronted miners less than half their number. The

87 Zimmermann, »Geh zu Hermann…«, hier S. 297. 88 Die gesamte Geschichte der Durham Miners, die an der Demo in Sheffield beteiligt waren, trägt erkennbare Merkmale einer spezifisch männlichen Arbeiter- und Funktionärs­ kultur: Gemeinsames Trinken, »um-die-Häuser-Ziehen«, Prügelei, »Kumpel raushauen«. Allerdings ist die Erforschung von Männlichkeit im Bergbau bisher ein Desiderat geblieben, vgl. Dagmar Kift, Die Männerwelt des Bergbaus, Bochum 2011, hier S. 14 f.

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pitmen from all over the North-East had earlier been enjoying a peaceful drink and were leaving the club to board coaches back home.89

Marron steuerte selbst eine schriftliche Zeugenaussage für Thomas Parry bei, in der er betonte, dass die Bergarbeiter, anders als in der Darstellung der Polizei,90 nicht schwer betrunken waren: »I should stress that no one was drinking excessively. We had each had a pint in each of the pubs we had been in.«91 Im Gegensatz zu den bereits zitierten Zeugenaussagen machten die Bergarbeiter aus Murton im Interview mit dem Northern Echo keinen Hehl aus ihrer subjektiven Sicht auf das Erlebte: Dalton Davidson, of Beech Avenue, Murton, said he had travelled with his friends to rally peacefully. »The police waited until the men had had a drink and then deliberately provoked them,« he claimed. »I’ve always respected the police before, but now I never will.« George Maitland, of Mathews Road, Murton, said he had tried to get some friends released from the police station. »When we went along all we got was a mouthful of abuse and we were threatened with arrest ourselves if we didn’t move away.«92

In diesen Statements der Bergleute sind bereits Elemente einer rekonstruierenden Deutung enthalten, die in der NUM weit verbreitet war. Aussagen wie die von Davidson, dass man die Polizei vorher respektiert habe, dies aber nun nie mehr tun könne, finden sich ebenso häufig in der Literatur über den Miners’ Strike wie in Aussagen von Streikenden.93 Die Meinung der Bergleute über die britische Polizei verstieß damit aber gegen essentielle Sagbarkeitsregeln des politischen Diskurses in Großbritannien. Sicherlich empfanden die betroffenen Arbeiter die Ereignisse tatsächlich als tiefen Einschnitt, aber die rekonstruierende Deutung der Ereignisse war ebenso selbstverständlich in das spezielle politische Klima, das während des Streiks in den lodges der NUM herrschte, eingebunden. Bestimmte Elemente des sprichwörtlich gewordenen »us.-v.-them«-Gefühls, das sich in den Aussagen der Bergleute findet, waren schon vorher da und wurden durch die Zusammenstöße mit der Polizei im Kontext des Streiks logischerweise nicht entkräftet, sondern verstärkt. Der lodge secretary von Easington, Alan Cummings, der sich durch den Streik zu einer wichtigen öffentlichen Stimme der NUM in Durham entwickeln sollte, sah zum Beispiel schon sehr früh und in sehr kleinen 89 Gerry Marron, Why the fury flowed after a quiet pint, The Northern Echo 21.4.1984. 90 Waddington / Jones / Critcher, Flashpoints, S. 46. 91 Marron, »I travelled to Sheffield on a coach …«, o. D., schriftlicher Zeugenbericht, DCRO Dormand Papers D / Dor 6/8 [10], 3 Seiten, hier S. 2. Bei dem Autor handelt sich um den Reporter des Northern Echo, vgl. Fußnote 90. 92 O. A., Law lose respect, The Northern Echo 21.4.1984. 93 »And this was the fucking great British police force. […] And I tell you now, I’ll never ever in my life help a policeman.«, Interview mit David Hopper im September 2011; »I’d always told the children: ›A policeman is a friend. You can trust him.‹ […] I wouldn’t say that now. I’d say, ›Never trust one.‹ (Derbyco NUM miner)«, zit. n. Waddington / Wykes / Critcher, Split, S. 123,

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Begebenheiten Fälle von ungerechtfertigter Verfolgung: »Mr Cummings said he had been told the police had made a note of the pickets’ car registrations and he intended to make a complaint. ›It smacks of a police state,‹ he said.«94 Wie solche Gewalterfahrungen die Gewerkschaft als Institution veränderten, und welche Vorprägungen es innerhalb der Führung der Durham Miners zum Thema Polizeigewalt gab, lässt sich an den Vorstandsprotokollen der ersten Streikmonate ablesen. Während dort selbst bei sehr außergewöhnlichen Vorkommnissen nur ganz kurze Abstimmungsergebnisse oder Beschlüsse zum weiteren Vorgehen notiert wurden, bot das Thema Streikposten schon sehr früh Gelegenheiten für allgemeine Diskussionen, weitreichende Beratungen und konkrete Hilfestellungen der Gewerkschaftsführung für einzelne Mitglieder: The Committe decided: (i) where pickets under Area Union Head Office authority and jurisdiction had been arrested and charged, and pleas of not guilty entered, in any case where legal aid was not forthcoming the Area Union would accept financial responsibility for legal services; (ii) where fines by Courts were imposed, the Area Union would be responsible for payment.95

Ereignisse wie die Demonstration in Sheffield bildeten aber auch für die einzelnen Bergarbeiter Höhepunkte im Streikalltag, die mit der Notwendigkeit längerer Vorausplanung der ganztägigen Abwesenheit der Familien, einer weiten Reise und zahlreichen Vorbesprechungen innerhalb der lodge verbunden waren. Nicht zuletzt bedeutete das Kennenlernen neuer Orte und neuer Kollegen aus anderen Revieren eine Erweiterung des persönlichen Horizonts für die Beteiligten.96 Die vier Bergarbeiter, die nach dem Zwischenfall im Northern Echo zitiert wurden, erschienen zu dem Zeitungsgespräch in Begleitung von einem Kollegen aus Nottinghamshire, der offenbar in Sheffield mit dabei gewesen war.97 Der soziale Erlebnischarakter von Demonstrationen verstärkte sich durch die kollektive Erfahrung von Gewalt und durch die Verhaftungen.98 Solche Ereignisse wurden spätestens im gemeinsamen Rückblick mit einer ganz bestimmten Bedeutung aufgeladen. Schon das Erleben selbst, aber auch das Verarbeiten der Ereignisse erfolgte kollektiv in der Reisegruppe, der Streikversammlung oder sogar in der Gesamtheit der Durham Miners and Mechanics. Da mit Billy Stobbs 94 O. A., Striking pitmen picket steel plant, The Northern Echo, 4.4.1984. 95 National Union of Mineworkers (Durham Area), Minutes of Committee Meeting Held on Tuesday, 8th May, 1984, NEEMARC NUMDA /1/3/54, S. 8 f. 96 Grundsätzlich zu diesem Aspekt historischer Streikerfahrung: Lothar Machtan, »Es war ein wundervolles Gefühl, daß man nicht allein war…«. Streik als Hoffnung und Erfahrung, in: Wolfgang Ruppert, Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur, München 1986, S. 258–278. 97 O. A., Law lose respect, The Northern Echo, 24.4.1984. 98 Vgl. zur Konstitution von Ereignissen als soziales Datum: Thomas Luckmann, Von der alltäglichen Erfahrung zum sozialwissenschaftlichen Datum, in: Jochen Dreher (Hrsg.), Thomas Luckmann. Lebenswelt, Identität und Gesellschaft. Schriften zur Wissens- und Protosoziologie, Konstanz 2007, S. 151–163, hier S. 159 f.

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der zweithöchste Funktionär der area betroffen war, ergaben sich im Laufe des Streiks immer wieder Gelegenheiten an die Sheffield Rally zu erinnern, die mit der Zeit analog zur Entwicklung des Streiks eine andere Bedeutung erhielt. Die Verletzung von Billy Stobbs und das willkürliche Vorgehen der Polizei wurden nämlich nach und nach zu einem Vorzeichen für die Durchhaltefähigkeit der Bergarbeiter aus Durham umgedeutet: National executive member Billy Stobbs had a relapse this weekend of the illness which has put him out of action for the past two months. Billy, who suffered several broken ribs in April when he was knocked to the ground by police in Sheffield, is suffering from inflamation of the muscles around his heart. […] That was definitely the worst thing that has happened to me during the strike,« said Billy. I never really recovered properly from the broken ribs. […] But he said this year has been one of the most rewarding of his life. »It has been a privilege to represent the Durham members who have stayed so loyal to the union.«99

Aus dem Erleben von Einzelnen wurde so mit der Zeit eine kollektive Streikerfahrung, die zwar nicht auf einen konkreten Erfolg beim Erreichen der ursprünglichen Streikziele verweisen konnte, in der aber dafür – vom Spitzenfunktionär bis zur Masse der Durham Miners  – Solidarität und Durchhaltevermögen als Momente einer positiven Gruppenidentität herausgestellt wurden. Welche individuellen und kollektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen von Gewalt, Macht und Protest gab es während des Streiks im Nordosten jenseits der substantiellen, aber dennoch begrenzten Gruppe der streikenden NUM-Mitglieder? Die allgemeine Zuspitzung der Lage und Aufladung des Konflikts mit Fragen nach der Legitimität sozialen Handelns erfasste nicht nur die Bergarbeiter und ihre Gewerkschaft, sondern auch andere Akteure der Regionalgesellschaft. Polizisten aus Durham waren an den Streikposten bei den Philadelphia Workshops oder in Tow Law eingesetzt; Angehörige des Verwaltungspersonals aus Durham und in der Gegend ansässige LKW-Fahrer weigerten sich, die Streikposten dort zu beachten. Diese Erfahrungen sind für Durham jedoch relativ schwer zu fassen, da weder die Akten der Polizei noch die der North East Area des National Coal Board erhalten sind. Allerdings ergeben sich aus den lokalen Medien und den Protokollen des Durham County Council Anhaltspunkte für die regionalgesellschaftlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen von Gewalt in den ersten Streikmonaten. Ähnlich wie bei den Protestpraktiken der streikenden Bergarbeiter lässt sich hier eine Zweiteilung der Wahrnehmungsmuster feststellen. Den Deutungen der nationalen Medien, die den Miners’ Strike als ideologischen Konflikt sahen, standen lokale Erfahrungen gegenüber, die sich eher an den Vorgaben der Ordnung Montanregion orientierten. In Durham wurden Gegenstandpunkte zur NUM, zur Labour-Mehrheit im county council und zu der von Labour dominierten Verwaltung der Grafschaft 99 O. A., Billy Slips Back Again, The Durham Striker, December 1984, Labour History Archive Manchester, MS 84/LAB/1/1.

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vor allem von konservativen und liberalen Mitgliedern des Lokalparlaments geäußert. Mit einiger Regelmäßigkeit kam es dort zum Aufeinanderprallen von Meinungen, die  – oberflächlich betrachtet  – stark von den ideologischen Zuschreibungen des Konflikts geprägt blieben: Coun. Jackson said: »The Miners’ dispute is an example of the lefts’ attempts to undermine public confidence in the police.« »Trendy socialist criticised the police at the slightest opportunity and Labour probably gives a distorted view to the Chief Constable,« he said. »The police committee is an example of Labour’s arrogant abuse of power. The police committee is only the tip of the iceberg«.100

Um Jacksons Einlassungen zu verstehen, muss man wissen, dass der Polizeiausschuss des county council, wie alle anderen Ausschüsse, nur von LabourPolitikern besetzt war und bis 1984 für die Abgeordneten der anderen Parteien auch keine Möglichkeit bestand, Einsicht in die Unterlagen des Ausschusses zu nehmen. Diese waren ›geschlossen‹ und nur den Ausschussmitgliedern zugänglich. Die Einlassungen des county councillor der Liberal Party lagen zwar auf der Linie der SDP-Liberal Alliance, die auch in Westminster alle Debatten über Polizeigewalt als unpatriotischen Angriff auf die britische Polizei als nationale Institution darstellte,101 doch zielte Jackson mit seiner Rede und dem damit verbundenen Antrag vor allem auf das lokale Machtgefüge des umgangssprachlich als one-party-state bezeichneten Nordostens: Recognising unequivocally that the exclusion of all political representation other than Socialist from the Police Committee is both incompatible and detrimental to the democratic interest of English local government, this council resolves to ensure a fair representation of different political views on this Committee.102

In Jacksons Antrag ging es darum, das police committee für Vertreter anderer Parteien als der Labour Party zu öffnen oder zumindest die Arbeitsunterlagen des Ausschusses für die Angehörigen der anderen Fraktionen zugänglich zu machen. Die Debatte über die Rolle der Polizei im Durham County Council stellte also jenseits der politischen Rhetorik in den Augen der Minderheitsfraktionen Liberale, Konservative und Social Democratic Party vor allem eine Gelegenheit dar, die bestehende Machtverteilung im Lokalparlament zu ihren Gunsten zu verändern: »SDP Coun. Tony Moore said: ›Labour councillors are frightened of themselves. The public and the press have a right to know. […] there is no reason why education, building and resources committee shouldn’t be open.‹«103 Moore brachte deshalb folgende Resolution ein: This Council resolves that, in furtherance of its declared support for the objectives of the 1984 Freedom of Information Campaign, the Policy and Resources Committee be 100 O. A., The ›lefties‹ knock police, The Northern Echo 3.5.1984. 101 Hansard’s HC Deb 10 April 1984, Bd. 58, S. 203–47, hier S. 221–224. 102 Durham County Council, Sitzungsprotokoll 2.5.1984, DCRO DC / A1/1/12, S. 2. 103 Wie Fn. 101.

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asked to examine ways in which it considers the methods of the conduct of the County Council’s business could be improved in order to promote more open government.104

Diese Absichtserklärung konnte die Labour-Mehrheit nicht einfach so ablehnen, da die gleiche Forderung im Wahlprogramm ihrer Partei enthalten war und sie bereits ihre Unterstützung für die erwähnte Freedom of Information Campaign bekundet hatten. Allerdings veränderten die Führer der labour group, der Ratsvorsitzende Terrans und sein Kollege Graham, den Antrag der SDP-Fraktion, um klarzustellen, dass allein die Labour Party im county council von Durham berechtigt war, politische Initiativen zu ergreifen und es außerdem keinen Grund gebe, die Geschäftsführung des council zu verbessern. Der Antrag wurde daher mit einer anderen Formulierung von der Labour-Mehrheit verabschiedet: This Council resolves that, in furtherance of its declared support for the objectives of the 1984 Freedom of Information Campaign, the Policy and Resources Committee be instructed to examine ways of promoting more open government in accordance with the commitment made in the Labour Party Election Manifesto of 1983.105

Die Lokalpolitiker der Labour Party waren also durchaus zu Neuerungen bereit, solange diese unter dem Primat ihrer Partei erfolgten. Dieses Zusammenspiel von neuen Entwicklungen und hergebrachten Strukturen prägte auch das Verhältnis zwischen county council und Polizei. So blieb etwa der Leiter der Durham Constabulary, chief constable Eldred Boothby, stets darum bemüht, gute Beziehungen zum county council und damit auch zu den einflussreichen, teils selbst in der NUM aktiven Politikern der Labour Party zu pflegen: Coun. Len James said »It is unfortunate that it is up to the chief constable and not us [the police committee] to decide where to deploy his forces.« But Mr Boothby replied that the departure or otherwise of coal from any site was a matter of supreme indifference to himself and other members of the force.106

Obwohl Boothby von den Mitgliedern des Polizeiausschusses teils heftig dafür kritisiert wurde, dass die Polizei wegen der Bewachung der Streikposten angeblich nicht mehr ihren normalen Pflichten nachkomme, blieb er konziliant, indem er diese Schwierigkeiten einräumte und versuchte keinen Gegensatz zwischen den Aktivitäten der Polizei im Streik und der Aufrechterhaltung von law and order in der Region zuzulassen. Die offizielle Darstellung der Polizeieinsätze in den ersten Streikmonaten liest sich insgesamt eher ambivalent. Einerseits wurden die Einsätze eindeutig in den Zusammenhang großer, landesweiter Einsätze gestellt; Boothby erklärte den koordinierten Einsatz mit dem Verweis auf die inner city riots von 1981, »This is not a procedure carried out purely in connection with in104 Wie Fn. 103, hier S. 11. 105 Ebd. 106 O. A., Pit strike pressing us, say police, The Northern Echo 15.5.1984.

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dustrial disputes, the same procedure was adopted in connection with the rioting which took place in different parts of the country during 1981.«107 Andererseits streckte der chief constable dem county council einen Friedenszweig aus, indem er betonte, dass er nach Möglichkeit weitere Einsätze von Polizisten aus Durham in anderen Gebieten verhindern wolle: »Anticipating an escalation of the problems in the North East representations were made to the National Reporting Centre and during the following period the Chief Constable was not asked to provide aid outside County Durham.«108 Allerdings begründete Boothby diesen Wunsch mit der zu erwartenden Verschärfung der Probleme im Nordosten. Die Polizei der Grafschaft übernahm aber auch heikle Aufgaben, z. B. wurde der Stellvertreter Boothbys persönlich mit der Untersuchung der Ereignisse in Sheffield am 19. April betraut. In diesem Zusammenhang kam es wiederum zu vermehrten offiziellen Kontakten zwischen den Führungsebenen der Durham Constabulary und der NUM.109 Für eine historische Bewertung der Debatten über Gewalt in der regionalen Öffentlichkeit lohnt auch der Blick in die Leserbriefspalten des Northern Echo. Wie zu erwarten, finden sich in der Zeitung sehr viele Leserbriefe zum Bergarbeiterstreik; diese stammten aber nur zum geringsten Teil von Bergleuten oder Absendern, die sich als Bergarbeiter ausgeben wollten. Das Echo richtete sich in den 1980er Jahren (und auch heute noch) als regionale Qualitätszeitung an Leser aus der lower bis upper middle class, zu denen bestimmte Teile der gewerkschaftlichen Funktionärselite, aber auch der qualifizierten Facharbeiter gezählt werden können. Es handelte sich aber nie um eine Zeitung, die hauptsächlich Angehörige der working class ansprechen sollte. Das Echo deckte mit eigenen Lokalseiten bestimmte Subregionen des Nordostens von Middlesbrough bis an die Stadtgrenze von Gateshead ab. Die Leserbriefe erschienen aber im einheitlich gestalteten Hauptteil der Zeitung. Die Auswahl der Zuschriften spiegelt eine Sicht auf den Streik ab, die im Wesentlichen derjenigen des moderaten Flügels der Labour Party entsprach: Prinzipielle Unterstützung für eine Gewerkschaft aus dem eigenen politischen Spektrum, keine Verurteilung der Bergarbeiter als soziale Gruppe, harte Kritik am konkreten Vorgehen der NUM-Führung. Die Redaktion wählte deshalb hauptsächlich solche Zuschriften aus, in denen die Verfasser besonders prononcierte Meinungen zum Streik ausdrückten. Beim Thema Gewalt wählten die Redakteure daher besonders gern Briefe aus, die Arthur Scargill persönlich für den Ausbruch von Gewalt verantwortlich machten, und so die bereits etablierte Unterscheidung zwischen einer stillen, aber moderaten Mehrheit der Bergarbeiter und einer radikalen, politischen Führung verbreiteten:

107 Durham County Council 2nd May, 1984 Report of the Police Committee, Durham County Council, Sitzungsprotokoll 2.5.1984, File of Minutes, DCRO DC / A1/1/12, S. 61. 108 Ebd. S. 62. 109 National Union of Mineworkers Durham Area Minutes of Special Committee Meeting Held on Monday, 11th June, NEEMARC NUMDA /1/3/54, S. 3.

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His [Arthur Scargill’s, A. H.] main achievements are thus: 1. Denying the majority of the NUM the chance of a secret ballot. 2. By adopting »rule by the mob« tactics he has set miner against miner. 3. Forcefully preventing news media reporting the ugly scenes.110

Andere Verfasser verknüpften nationalen Stolz auf die britische Polizei mit der Verteidigung von prototypischen Werten wie »liberty« und der Vorstellung von einem right to work der nichtstreikenden Arbeiter: It is the role of H. M. Opposition to oppose Government. Not to oppose law and order. […] How can they attack the police on the handling of the pickets? The British police force is the envy of the world; they are protecting the civil liberties of miners who have democratically voted to go to work.111

Beide Beiträge zeigen, dass die medial vermittelten Bilder der miners’ violence von den Leserbriefschreibern in umfassende Narrative von einer moralisch bedrohten Gesellschaft eingeordnet wurden.112 Ein gewissermaßen ›thatcheristischer‹ Blick auf Arbeitskonflikte, in dem streikende Arbeiter als aufsässige, moralisch defizitäre Individuen erschienen, wurden also auch von einem Teil der Öffentlichkeit im englischen Nordosten akzeptiert. Aus dieser Perspektive ergibt auch das Erstaunen der Bergarbeiter über das polizeiliche Vorgehen gegen sie mehr Sinn als zuvor: Für die meisten Bergleute aus den pit villages im Osten der Grafschaft Durham waren Polizisten mindestens positiv bewertete Amtsträger, wenn auch keine völlig unangreifbare, nationale Institution, wie für viele andere Menschen. Der intensive Kontakt mit der Polizei und deren ›ungerechten‹ Maßnahmen – wie am 19. April in Sheffield  – lösten bei den Bergarbeitern Bestürzung aus, weil sie sich selbst als gesetzestreue britische Untertanen sahen, nicht aber, weil sie im Vorgehen der Polizei einen umfassenden Unterdrückungsapparat erkannten. Ein anonymer Leserbriefschreiber, der sich als »Easington Mechanic« ausgab, machte sogar klar, dass derjenige Aspekt des Streiks, der den meisten konservativen Kommentatoren als besonders »gewalttätig« galt, nämlich die Besetzung von Zecheneingängen durch Streikposten, eine legitime Form der Streikkommunikation sei und Gewalt in der Region bisher verhindert worden sei: Although I agree in the current fight against pit closures and loss of jobs, […] Although I agree about not crossing colleauge’s picket lines, […] I hope the NUM hierarchy will call a ballot, and that in the North-East we never see the violence and intimidation of miners that has occurred in Nottinghamshire and Derbyshire.113

110 R. Ord, Hear All Sides. To the Editor, 26.3.1984. 111 E. M. Eldrett, Hear All Sides. To The Editor, 5.4.1984. 112 Vgl. dazu: Matthew Grimley, Thatcherism, Morality and Religion, in: Jackson / Saunders: Thatcher’s Britain, S. 78–94. Zufällig befindet sich der zitierte Leserbrief von E. M. Eldrett genau unter einer Zuschrift der Sittlichkeitsfanatikerin Mary Whitehouse. 113 Easington Mechanic, Hear All Sides. To The Editor, The Northern Echo, 26.3.1984.

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Der echte oder vermeintliche Easington Mechanic brachte damit Respekt für ein ungeschriebenes Gesetz der regionalen Streikordnung zum Ausdruck. Selbst wenn dieser Leserbriefschreiber nicht wirklich derjenige war, der er zu sein vorgab, so benutze er doch die Maske eines Bergarbeiters, um die Ablehnung von Gewalt mit der regionalen Identität des englischen Nordostens zu verknüpfen. An seiner Position lässt sich somit der gleiche Mechanismus der Selbstbeschreibung beobachten, der schon in den Zeugenaussagen der Bergarbeiter, die in Sheffield in Konflikt mit der Polizei geraten waren, zum Tragen kam: Die Thematisierung von Gewalt, die als ungerecht empfunden wurde, führte zu einem Erstarken regionaler Identitätskonzepte. Das zeigte sich auch, als das National Coal Board ab Juni 1984 eine Taktik des aktiven Streikbrechens verfolgte, mit der es nicht nur die industriellen Beziehungen in der Streiksituation grundlegend veränderte. Im englischen Nordosten wirkte dieser Strategiewechsel unmittelbar gewaltermöglichend. Dadurch, dass Streikbrecher in die Zechen gebracht werden sollten, mussten die Streikposten an die Zechen, d. h. an die ›eigenen‹ Arbeitsstätten und Wohnorte der streikenden Bergarbeiter verlagert werden. Das gleiche galt für die Polizeieinsätze zur Überwachung und Kontrolle der Streikposten. Zugleich änderte sich damit die Rolle der NUM im Streikgeschehen. Die Gewerkschaft wurde nun endgültig zur einzig verbliebenen Beschützerin und damit auch zur einzig legitimen Stellvertreterin der Gemeinschaft in den Zechendörfern Durhams und Northumberlands. So ging auf der lokalen und regionalen Ebene aber auch eine zentrale Funktion der NUM im Gefüge der industriellen Beziehungen verloren: Ihre Funktionäre konnten nun nicht mehr als Vermittler zwischen Management, Polizei und Arbeitern auftreten, weil sie selbst eine bedrohte und bedrohende Partei im Konflikt waren. Das hatte wiederum Rückwirkungen auf den ursprünglichen Konflikt um die vom NCB geplanten Zechenschließungen: Auch hier wurde eine Lösung in dem Maße unwahrscheinlicher, in dem die Gewerkschaft als mögliche Vermittlerin eines Kompromisses vor Ort ausfiel. Der Wandel in der Streiktaktik des NCB machte sich im Nordosten zuerst in einem veränderten Ton der offiziellen Verlautbarungen bemerkbar. Die Vertreter des Unternehmens betonten jetzt nicht mehr nur die drohenden Gefahren für die Produktivität des gesamten Reviers und damit für die relativen Erfolge der Modernisierungspolitik. Vielmehr stellten sie zusehends die Gefährdung der Produktionsanlagen durch den Streik in den Mittelpunkt der Öffentlichkeitsarbeit: Meanwhile the Board has released a list of pits which it says are being endangered by the strike. The list includes Murton Colliery in Durham and Bates and Whittle in Northumberland. A Board spokesman said electrical systems in many pits were also being hit by damp and it would cause some problems when work eventually resumes.114

114 O. A., Talks end miners’ HQ invasion, The Northern Echo 6.6.1984.

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Innerhalb relativ kurzer Zeit wurde aus solchen begrenzten Einzelproblemen aber eine tendenziell absolute Bedrohungslage konstruiert. Schließlich drohten die manager des NCB – parallel zur offensiven Werbung um Streikbrecher – an verschiedenen Standorten mit der Abschaltung von Pumpen, also der physischen Vernichtung der Zechen. Die Begründung dafür lautete stets: Die Führung der NUM erlaube weder ihren eigenen Mitgliedern noch den Mitgliedern anderer Gewerkschaften essentielle Instandhaltungsaufgaben durchzuführen. Die Briefe der Unternehmensleitung enthalten z. B. Beschwerden darüber, dass nichtstreikende Mitarbeiter, die nicht einmal der NUM angehörten, beim Betreten von Zechengeländen Belästigungen und Bedrohungen durch Streikposten ausgesetzt gewesen seien; dass nicht genügend oder nur die falschen Mitarbeiter für die Reparaturen dispensiert würden oder die lokalen lodges die Kooperation verweigerten, die von der Durham area zugesagt worden sei. Diese Drohszenarien bewirkten im Zusammenhang mit der agressiven returnto-work-Taktik zunächst eine Schließung der eigenen Reihen innerhalb der NUM, die etwa an der öffentlichen und internen Rhetorik der Gewerkschaftsführung in Reaktion auf die Ankündigung eines erneuten return to work deutlich wurde. Der Vorsitzende der NUM in Northumberland, Dennis Murphy, schlug z. B. scherzhaft vor, an Stelle von Bussen zum Transport der Streikbrecher Tandemfahrräder zu benutzen: »So few men want to return to work, the NCB don’t need buses, a tandem cycle would do.«115 Im Wissen um den Ausgang des Streiks mag diese Bemerkung Murphys zwar als Selbstüberschätzung erscheinen, doch die führenden Funktionäre der NUM im Nordosten waren sich durchaus bewusst, dass sie gegenüber der Taktik des aktiven Streikbrechens auf einem schmalen Grat zwischen Machtrhetorik, Potenzgehabe und relativer Schwäche angesichts einer neuartigen und daher unkalkulierbaren Bedrohung agierten: A special Durham NUM conference yesterday called NCB plans to lay on buses for returning miners a »desperation tactic« but made no mention in a statement of the activities of [rebel miner] Silver Oak. General Secretary Tom Callan urged all members to stand firm and warned of mass pickets at every colliery on Monday. »We believe victory is imminent,« he said.116

Die Selbstsicherheit der Durham Miners, die in solchen Aussagen zutage tritt, entbehrte keineswegs einer Grundlage. Die Gewerkschaft hatte bis Mitte August sechs Monate lang gestreikt, ohne dass sie zur Aufgabe gezwungen worden war, und sie hatte den ersten return to work erfolgreich verhindert. Der erneute Versuch des regionalen Managements, im August noch einmal Arbeiter zum Streikbruch zu bewegen, konnte im Lichte dieser Vorgeschichte tatsächlich als eine Notmaßnahme der Unternehmensführung erscheinen. Das Schweigen der NUM-Gremien über sogenannte rebel miners entsprach einerseits dem hergebrachten Selbstverständnis der Gewerkschaft als einzig legitimer Repräsen115 O. A., Durham pit rebel fears for his life, The Northern Echo 18.8.1984. 116 Ebd.

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tantin aller Bergarbeiter; Kommentare über einen angeblichen Organisator von Widerstand gegen den Streik, der nur gerüchteweise aus den Medien bekannt war, hätten diese ­Position unter­graben. Andererseits sprach daraus bereits die Erfahrung der ersten Streikmonate, in denen sich in den NUM-Gremien die Auffassung durchgesetzt hatte, dass die Medien für die Anti-Streik Stimmung in der Öffentlichkeit und vor allem bei den Kollegen in den nicht-streikenden Revieren verantwortlich seien.117 Die NUM in Durham hielt aber letztlich auch unter dem Einfluss der basisorientierten coalfield conferences an den gewohnten rules and procedures fest, die bisher ihre Stellung als eigenständiger und gleichberechtigter Partner gegenüber dem Management garantiert hatten. Angesichts dessen kann der Ausbruch von Gewalt im englischen Nordosten nicht ausschließlich mit der Verschlechterung der industriellen Beziehungen erklärt werden. Stattdessen müssen lokale Handlungsverläufe im Kontext der sozialräumlichen Ordnung der Montanregion North East untersucht werden, um die kurzfristige Eskalation des Miners’ Strike zu verstehen.

3.4 »Sinnlose Gewalt«? Die Krawalle vom 23. bis 25. August 1984 in Durham Von Donnerstag, den 23. August 1984, bis Samstag, den 25. August 1984, kam es in den Orten Wearmouth, Easington, Murton, Peterlee und Horden im Osten der Grafschaft Durham zu schweren Ausschreitungen von streikenden Bergarbeitern, die von der Polizei mit massiver (Gegen-)Gewalt beantwortet wurden (Karte 3). Die Krawalle begannen am Morgen des 23. August an der Zeche von Wearmouth und griffen am 24. August auf Easington über. Am Abend des gleichen Tages und im Verlauf der Nacht zum Samstag gab es Unruhen in Murton und in den nahe Easington gelegenen Orten Horden und Peterlee. Das Northern Echo schilderte diese Ereignisse unter dem Titel »A village street in Co. Durham« als plötzlichen und einzigartigen Einbruch von Gewalt in den friedlichen Mikrokosmos der pit villages in East Durham: RIOT Police came to the North-East yesterday. Officers wearing hard helmets with

visors and carrying shields were drafted in to deal with region’s worst outbreak of violence in the 24-week pit dispute. It was the first time they had been used in the North-East since the strike began – and possibly the first time ever. The pit-village of Easington in County Durham became a battlefield with people running for shelter as bricks smashed windows – 71 were broken. Six cars were wrecked or overturned and five policemen and three miners were injured. Both the NCB and the NUM called it a riot.118

117 Vgl. Beckett / Hencke, Marching, S. 67–73; Howell, The Politics, S. 5. 118 O. A., A village street in Co. Durham. RIOT Police came to the North-East yesterday, The Northern Echo 25.08.1984, Durham North Edition, Hervorhebung im Original

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Protest, Macht und Gewalt Unruhen in East Durham 0

5

10 km

Washington Chester-le-Street

Consett

Sunderland

Wearmouth Colliery Donnerstag, 23.08.1984, ca. 8:30 Uhr

Houghton-le-Spring Seaham Murton Freitag, 24.08.1984, ca. 22:45 Uhr

A1

A19

Easington Colliery Freitag, 24.08.1984, ca. 8:30 Uhr

Durham Tow Law We

ar

Spennymoor

County Durham Ferryhill

Peterlee und Horden Samstag, 25.08.1984, nach 0:00 Uhr

Hartlepool Sedgefield

Karte 3: Unruhen und Krawalle in East Durham vom 23. August 1984 bis 25. August 1984, © Klaus Kühner / huettenwerke.de

Dieser Zeitungsbericht wurde von einem großen Bild auf dem Titelblatt des Echo begleitet, das martialisch ausgerüstete Polizisten auf der Hauptstraße von Easington zeigte. Der Aufruhr in dem kleinen Örtchen wurde mit der Zeit zu einem zentralen Erinnerungsort für den Bergarbeiterstreik in Nordostengland. Schon 1984 gab es eine Ausstellung der Kunstfotos, die der Fotograf Keith Pattison von dem Ereignis gemacht hatte; sie tourte zeitweise durch Gemeindezentren im Nordosten und verbreitete so eine relativ gewerkschaftsnahe Sicht auf die Ereignisse als fremdartige Aggression gegenüber der friedlichen Bevölkerung.119 Im Jahr 2010 erschien ein Bildband, der neben diesen Bildern Interviews mit Einwohnern von Easington und Texte des Bestseller-Autors David Peace enthält.120 Dieses Buch findet sich inzwischen in den meisten Buchhandlungen Nordostenglands und bildet eine Art offiziösen Erinnerungsschrein der linken Kulturszene des Nordostens. Bereits 1984 wurden die gleichen Bilder anlässlich einer Ausstellung in der Side Gallery in Newcastle mit einem Text des Soziologen Huw Beynon als Sonderdruck veröffentlicht.121 Jener Text bildete später die Grundlage für einen Aufsatz Beynons in der New Left Review, dem Zentralorgan der undogmatischen Linken im Großbritannien der 1980er Jahre.122 In 119 http://www.amber-online.com/exhibitions/exhibitions-1977-to-1999, 9.9.2014. 120 Keith Pattison / David Peace, No Redemption, Newcastle 2010. 121 Keith Pattison / Huw Beynon, Easington August ›84. August ›84 Easington, Newcastle o. D. [Ausstellungskatalog zur Ausstellung in der Side Gallery, Newcastle]. 122 Huw Beynon, The Miners’ Strike in Easington, New Left Review 148 (1984), S. 104–115.

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der regionalen Presse wird zu den Jahrestagen des Streiks und der Ausschreitungen weiterhin ausführlich über die noch lebenden Protagonisten berichtet, wobei deren Erinnerungen zwanzig Jahre später Elemente eines Narrativs über den Nordosten als vernachlässigte Region bilden.123 Mithin kann der Gewaltausbruch in East Durham nicht getrennt von etablierten Deutungsmustern und rückblickenden Sinnkonstruktionen betrachtet werden. In den Unruhen zeigten sich aber ebenso strukturelle Aspekte von Macht, Gewalt und Protest in der Montanregion North East. Aus zeitgeschichtlicher Perspektive hat man es also nicht bloß mit einem stark überformten Erinnerungsort zu tun, sondern zugleich mit einem verdichteten Ereignis,124 das – im Sinne des heuristischen Beschreibungsbegriffs Aufruhr – geeignet war, aus sich selbst heraus sozialen Wandel hervorzubringen.125 Die zunehmende Verschlechterung der industriellen Beziehungen durch den Wechsel des National Coal Board von einer passiven zu einer aktiven Streiktaktik bildete den Kontext für die eruptiven Gewaltausbrüche an den Zechentoren ab dem 23. August. Die NCB -Bezirksleitung unter area director David Archibald hatte angekündigt, ab dem 20. August allen Bergarbeitern, die zur Arbeit zurückkehren wollten, Busse zur Verfügung zu stellen. Aus symbolischen und praktischen Gründen wählte das NCB den ersten Tag nach den Schulferien, da die finanzielle Belastung durch die ganztägige Anwesenheit der Schulkinder in den Haushalten während dieser Zeit und das Fehlen des Urlaubsgelds als Faktoren galten, die das Streikbrechen begünstigen würden. So sollte nach dem gescheiterten return to work im Juli doch noch eine großflächige Rückkehr der streikenden Bergarbeiter in die Zechen des Nordostens eingeleitet werden. Dieser erneute Anlauf zu einer Taktik des aktiven Streikbrechens wurde mit einer Medien- und Briefkampagne unterfüttert, in welcher die einzelnen Zechendirektoren der jeweiligen lodge erklärten, dass die Zeche durch den schlechten Wartungszustand der Anlagen in ihrer physischen Existenz bedroht war. Von dieser Briefkampagne waren alle Zechen in Durham betroffen. Während sich die Begründungen im Einzelnen unterschieden – es ging um Pumpen, Bewetterung und Feuer in den Übertageanlagen – liefen alle Schreiben, teils mit wortgleichen Formulierungen, auf dasselbe Ergebnis hinaus: In Zukunft würden die Angehörigen des Managements, die in der British Association of Colliery Management organisiert waren, selbst Reparaturarbeiten ausführen, für welche die NUM oder NACODS keinen Dispens vom Streik erteilten. Außerdem würden die manager 123 Marjorie McIntyre, A village under siege, The Northern Echo, 9.3.2009, http://www. thenorthernecho.co.uk/history/mining/minersstrike/4186282.A_village_under_siege/, 2.9.2014. 124 Vgl. Jonas Borsch / Sara Sophie Stern, Und jetzt ist Meer, wo vorher Land war. Wahrnehmungen von Beschleunigung und Verdichtung in unruhigen Zeiten, in: Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften, Ewald Frie / Mischa Meier (Hrsg.), Tübingen 2014, S. 229–248, hier S. 229–234. 125 Hordt u. a., Aufruhr.

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ab sofort Streikbrecher aus jenen Gewerkschaften bei der Arbeit in den Zechen beaufsichtigen.126 In Wearmouth begannen die Ausschreitungen am Morgen des 23. August mit Beginn der Frühschicht, als dort Angestellte des NCB, die der NUM-Abteilung für Verwaltungspersonal, der Colliery Overmen and Staff Association (COSA) angehörten, von der Polizei in die Zeche geleitet wurden: Picket-line violence spread to the streets of Sunderland today as police changed their tactics at Wearmouth Colliery. At least one policeman was injured in fierce clashes with miners on Wearmouth bridge and eight pickets were arrested for arson. A massive police operation kept about 1,000 pickets well away from the pit gates for the first time as 13 COSA rebels were rushed in an unmarked van flanked by police.127

In Wearmouth ignorierte der in der COSA organisierte Teil der Belegschaft schon seit Montag die Streikposten der Bergarbeiter und Mechaniker, außerdem hatte es dort zu Beginn des Streiks massive Schwierigkeiten mit einigen Mitgliedern der BACM, der eigenständigen Gewerkschaft für die lokale Führungsebene des NCB, gegeben. Zugleich war Wearmouth eine moderne Großzeche mit einer relativ jungen Belegschaft. Jüngere Funktionäre der Betriebsgruppe um den lodge secretary David Hopper sahen sich als Interessenvertretung der Basis gegen die in ihren Augen zu moderat auftretende area leadership der NUM. Ein Beleg für die relativ ›militante‹ Einstellung der Streikenden in Wearmouth ist eine Bitte der lodge um Geld für Schutzausrüstung, die einen ganzen Monat vor dem Gewaltausbruch auf den 23. August datiert.128 Allerdings stellt sich die Konfrontation zwischen Streikbrechern und Streikposten in Wearmouth bei näherem Hinsehen nicht als Konflikt zwischen ›mili­ tanten‹ Bergarbeitern und ›moderaten‹ Streikbrechern dar. Sowohl der Verlauf der Ereignisse in der Woche des return-to-work als auch die Auseinandersetzung zwischen lodge und Streikbrechern widerspricht einer solchen Deutung. Der Aufruhr brach nicht aus, weil die Streikposten in Wearmouth gegen die Rückkehr der COSA-Mitglieder in die Zeche protestierten, denn das hatten sie ja bereits am Montag, Dienstag und Mittwoch getan. Die Gewalt eskalierte vielmehr schlagartig, als die Polizei entscheidende Parameter für das Protestverhalten der streikenden Bergleute änderte, indem sie deren Bewegungsfreiheit einschränkte, ihnen den direkten Kontakt mit den Streikbrechern verwehrte und außerdem in das ureigene Territorium der Gewerkschaft, nämlich das Streiklokal, vordrang. Nachdem die streikbrechenden Arbeiter am Mittwoch nur mit zwei Stunden Verzögerung in die Zeche gebracht werden konnten,129 setzte die Polizei am 126 Minutes of Special Committee Meeting held on Thursday, 23rd August, 1984, NEEMARC NUMDA 1/3/54, S. 3–9. 127 Barbara McClennan / Garry Willey, Police Hurt in Bridge Clash, Echo Sunderland 23.8.1984. 128 National Union of Mineworkers (Durham Area), Minutes of Committee Meeting, held on Monday, 23rd July, 1984, NEEMARC NUMDA 1/3/53, S. 11. 129 O. A., Bus hitch delays rebels, The Northern Echo 23.8.1984.

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Hauptteil: Strukturwandel und Protest in den 1980er Jahren

Donnerstag auf ein anderes Einsatzkonzept. Die Straßen um die Zeche wurden weiträumig gesperrt, um die Streikposten vom Zechentor abzuhalten. Außerdem verhaftete die Polizei frühmorgens acht Arbeiter im Duck Inn, dem Streiklokal der NUM, wegen angeblicher Brandstiftung.130 Die weiträumige Sperrung von Zugangsstraßen bewirkte zwar, dass die Streikbrecher um den Vorsitzenden der COSA-Betriebsgruppe, Ken Seed, schneller in die Zeche gebracht werden konnten. Zugleich verteilte die Polizei aber die Arbeiter, die am Streikposten teilnehmen wollten, auf ein weitläufiges Gebiet, das zudem durch die Brücke über den Fluss Wear getrennt war. Eine Gruppe von Arbeitern versuchte nun, sich von Süden her gewaltsam einen Durchlass über die Brücke zu verschaffen, wobei die Polizei nur die Engstelle an der Nordseite kontrollierte, nicht aber den Zugang auf der Stadtseite. Währenddessen kam es nördlich der Brücke in den zwei Straßen, die zur Wearmouth Colliery führten, zu Zusammenstößen an der Wheatsheaf Police Station und in der Dame Dorothy Street.131 Die neue Polizeitaktik hatte sich also als kontraproduktiv erwiesen. Zwar konnte ein massenhafter Streikposten verhindert werden und die Streikbrecher gelangten – das war symbolisch wichtig – pünktlich zu Schichtbeginn in die Zeche, doch entstanden statt eines einzigen Konfliktschwerpunkts – mit Waddington gesprochen – mehrere flashpoints, die nun nicht einmal mehr von der Gewerkschaft selbst kontrolliert werden konnten. Die wichtigsten lokalen und regionalen Funktionäre der NUM – darunter David Hopper und Generalsekretär Tom Callan – bildeten den erlaubten, sechs Mann starken Streikposten am Zechentor. Die Führer der Gewerkschaft konnten daher nicht mit denjenigen Arbeitern kommunizieren, die versuchten, trotz der weiträumigen Absperrung zur Zeche zu gelangen. Die Trennung von Anführern und Masse trug also erheblich zur kurzfristigen und situativen Eskalation der Gewalt bei. Aber auch die Trennung von Streikposten und Streikbrechern verletzte das Legitimitätsempfinden der streikenden Arbeiter. Dies lässt sich an einer Aussage des lodge chairman von Wearmouth, Harry Dinning, zeigen. Er sollte eigentlich Gelegenheit erhalten, mit den Streikbrechern (scabs) zu sprechen, wurde jedoch von der Polizei daran gehindert: Mr Seed has agreed to allow us to talk to the rebels, but the van didn’t stop until it was 150 yards inside the pit. By the time we got to the van the scabs were inside the pit, along with the driver who has been whizzed away. We have asked for the name of the driver but the colliery general manager refused.132

Der erfahrene Funktionär empfand dieses Vorgehen nicht nur als Affront, weil es für ihn nun keine Gelegenheit gegeben hatte, mit den Streikbrechern zu sprechen; es verletzte sein Gerechtigkeitsempfinden auch, weil dadurch eine Vereinbarung zwischen Ken Seed und der lodge gebrochen worden war. Sowohl die Streikenden als auch die Streikbrecher hatten dadurch an Handlungsmöglichkeiten eingebüßt. 130 McClennan / Wiley, Policeman. 131 Ebd. 132 O. A., Ambushed men defy pickets, Echo Sunderland 24.8.1984.

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Man darf annehmen, dass die Abriegelung der Zeche das Legimitätsempfinden der restlichen, verhinderten Streikposten, die in dem Gebiet um die Zeche führerlos umherzogen, mindestens ebenso stark verletzte. Die Eskalation der Gewalt in Wearmouth lässt sich mithin nur durch die polizeiliche Blockade des großen Streikpostens aller Arbeiter in Kombination mit der Führerlosigkeit der umherirrenden Streikaktivisten erklären.133 Die Strategie der Polizei für den Donnerstag war trotz gegenteiliger Beteuerungen gescheitert. Bereits in der folgenden Woche ließ sie wieder einen großen Streikposten in der Nähe der Zeche zu, dieser wurde aber auf die gegenüberliegende Straßenseite beschränkt und nicht mehr ans Zechentor vorgelassen.134 Eine genaue Untersuchung des zeitlichen Ablaufs der Proteste in Wearmouth vor, am und nach dem 23. August 1984 zeigt also, dass die Gewalt hier nicht wegen der militanten politischen Einstellung der Belegschaft eskalierte, sondern weil die Polizei taktische Einsatzfehler beging. Zudem konnten die streikenden NUM-Mitglieder hier erfolgreich die Präsenz eines größeren Streikpostens am Zechentor einfordern, weil sonst eine unkontrollierbare Eskalation der Auseinandersetzungen drohte. Auch der eigentliche Konflikt zwischen der Mehrheit der streikenden Arbeiter, der gewerkschaftlichen Betriebsgruppe und den Streikbrechern in Wearmouth lässt sich nur schwerlich als Auseinandersetzung zwischen militanten und moderaten Bergarbeitern deuten. An den Aussagen des Anführers der pit rebels wird deutlich, dass es sich vielmehr um einen innergewerkschaftlichen Konflikt um die Bedingungen des Streiks handelte: Ken Seed, COSA branch secretary in Wearmouth, stressed they were not trying to break the strike or form a breakaway union. ›Frustration has provoked us into action,‹ he said. ›This dispute must be resolved by consultation, not confrontation.‹ […] ›We are not strike breakers but are trying to engender thought and discussion among the silent majority. […] We at Wearmouth have chosen to try to stir the conscience.135

Seeds nutzte sein Selbstverständnis als ordentlicher Gewerkschafter, um dem Bruch des Streiks einen Sinn zu verleihen. Auch seine Mitstreiter verstanden das Streikbrechen in der Woche vom 20. August wohl als begrenzte, symbolische Protestaktion. Denn schon in der folgenden Woche reduzierte sich die Zahl der streikbrechenden COSA-Mitglieder wieder, doch jetzt schloss sich ihnen ein Transportarbeiter (shunter), also ein einfaches NUM-Mitglied, an. Die Reaktion von lodge secretary David Hopper auf diese Entwicklung ist bemerkenswert: »Mr Dave Hopper […] claimed Mr Dawson was confused and unaware of union procedures. ›He has decided to go his own way and this is something we ­obviously regret,‹ he said.«136 Die NUM lodge änderte ihre Taktik in W ­ earmouth also recht schnell von der direkten Konfrontation am Zechentor, die realistischer 133 134 135 136

Ebd. und McClennan / Willey, Policeman. 15 Deputies go back to work, Echo Sunderland 28.8.1984. Peter Dobson, Rebels are marked for life, says union, The Northern Echo 22.8.1984. O. A., I work on says rebel, The Northern Echo 30.8.1984.

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Weise nicht zu gewinnen war, hin zu einer Rückbesinnung auf die eigenen rules and procedures, um den bindenden Charakter gewerkschaftlicher Solidarität für die einzelnen Mitglieder zu betonen: »What Ken Seed should realise is that he is in the same battle as us and should be helping us instead of causing all this trouble.«137 Der Anführer der sogenannten COSA-rebels, Ken Seed, bot im Zuge dessen sogar noch am 24. August den Rücktritt von seinem gewerkschaftlichen Amt an: »Mr Seed said he was making the move because he felt he could not continue to cross the NUM picket line and still be a union official […]› It has been a hard decision for me after so many years during which I consider I have served the NUM extremely well‹«.138 Das Streikbrechen in Wearmouth ist also als innergewerkschaftlicher Protest zu verstehen, der durch die öffentliche Debatte und Berichterstattung eine Bedeutung erlangte, die den ursprünglichen Absichten der Initiatoren des Protests zuwiderlief. Diese Deutung wird durch die spätere Entwicklung der Streiksolidarität in Wearmouth gestützt. Während etwa in Easington selbst im weiteren Verlauf des Jahres 1984 kaum ein Arbeiter den Streik brach, gab es in Wearmouth relativ viele Bergleute, die an die Arbeit zurückkehrten. Die Selbstcharakterisierung der ersten Streikbrecher um Ken Seed und die Reaktionen des lokalen Streikführers David Hopper bewegten sich aber im Rahmen einer Debatte über gutes gewerkschaftliches Verhalten. Trotz der Eskalation physischer Gewalt erreichte diese Diskussion nie den Punkt, an dem den scabs die persönliche Würde als Arbeiter abgesprochen wurde oder umgekehrt die COSA-Mitglieder der Gewerkschaft die Treue aufgekündigt hätten. Im Gegenteil bemühten sich sowohl der rebel leader Seed als auch der lodge secretary Hopper um rhetorische und praktische Deeskalation. Hopper streckte einen Olivenzweig aus, indem er betonte, dass die Streikbrecher vom NCB manipuliert würden: »I am very surprised that 13 men, even if they are scabs, are being used and manipulated in this way. Mr Seed has indicated he is prepared to talk to official pickets, but it appears there will be the same situation tomorrow.«139 Auch Ken Seed beteuerte nun noch stärker als zuvor, dass er und seine Leute nicht wirklich Streikbrecher seien, und ergriff praktische Maßnahmen zur Deeskalation des Konflikts: Secret talks between pit rebels and their colleagues are to be held this weekend in a bid to end the ›War of Wearmouth Colliery.‹ […] We have called a meeting this weekend, but we are not prepared to say when and where. NUM officials know my plans and one of them will be present at the meeting. I do not blame anyone for the violence, but we do not want the scenes of the past week repeated.140

137 Dave Hopper, zit n.: Chris Stewart, Peace move in pit ›war‹, The Journal (Newcastle) 25.8.1984. 138 O. A., I’ll quit, offers top union rebel, The Northern Echo 25.8.1984. 139 Ebd. 140 Chris Stewart, Peace move in pit ›war‹, The Journal Newcastle 25.8.1984.

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Trotz der retrospektiven Beteuerung vieler ehemaliger NUM-Funktionäre und Streikaktivisten, dass ein scab immer ein scab bleiben würde, gibt es zahlreiche Hinweise auf das Gegenteil. Die Beteuerung, man habe unter Druck nachgegeben, dann aber eingesehen, dass man falsch gehandelt habe und jetzt wieder streiken wolle, bot einen Weg zurück in die Reihen der ordentlichen Gewerkschaftsmitglieder. Genau in jener Zeit, als noch nicht klar war, ob die Streikbrecher von Wearmouth zur Rückkehr in den Streik zu bewegen waren, brachte das Northern Echo die Geschichte von zwei ehemaligen working miners in Yorkshire. Einer von ihnen gestand unter Tränen, dass ihn nur finanzieller Druck und die Sorge um das eigene Ansehen zum Streikbruch bewegt hätten: »A week last Saturday my daughter got married and I couldn’t help her at all financially which caused me a lot of worries.«141 Sogar militante Aktivisten bewarben diese Strategie bis weit in den Streikwinter 1984–85 hinein, da sie auch für radikale Streikbefürworter die einzige Möglichkeit bildete, die verlorene Kampfkraft der NUM wiederherzustellen: TO EACH WORKING MINER . Dear Brother, […] We realise that it has probably been

the hardship that has driven you to become a strikebreaker, […] We want you to come back into the fold and rejoin the strike. […] Let the N. C. B. get up to their dirty tricks without you. […] Don’t let them use you! Regain your pride and dignity and get back out on strike with the majority of your fellow workers.142

In Wearmouth fand keine Versöhnung zwischen den Streikbrechern und der lodge statt, aber an den Argumenten, die zwischen den beiden Gruppen ausgetauscht wurden, lässt sich erkennen, dass der Konflikt nicht von unterschiedlichen politischen Vorstellungen ausgelöst wurde. Vielmehr achteten beide Seiten darauf, ihre Positionen in einer gewerkschaftlich ausgerichteten Sprache zu vermitteln. Aussagen wie »we are not strike breakers« müssen in diesem Kontext gedeutet werden. Ken Seed und seine COSA-Kollegen konnten sich in einem bestimmten Sinn tatsächlich als gute Gewerkschaftsmitglieder begreifen, da ihr primäres Motiv nicht darin lag, den Streik im Interesse der Unternehmensleitung zu beenden. Freilich änderte dies wenig daran, dass sie am Ende des sechsten Streikmonats in den Augen ihrer Kumpel als scabs gelten mussten, wenn sie den Streikzustand missachteten und das Betriebsgelände betraten. Die von ihnen eingeforderte Differenzierung unterliefen sie teils selbst, weil sie im Kontext der return-to-work-Initiative des NCB an die Arbeit zurückkehrten, und angesichts der dominierenden Interpretationen und Handlungszwänge bestand für die COSA-rebels nie wirklich eine Chance, ihre Kollegen von der Lauterkeit ihrer Motive zu überzeugen. Trotz der Versuche, noch einmal die gegenseitige Anerkennung zwischen Streikbrechern und Streikenden wiederherzustellen, 141 O. A., Broken rebel’s torment, The Northern Echo 31.8.1984. 142 National Union of Mineworkers Northumberland Area Strike Committee, 7.12.1984, Tyne and Wear Archives TU / TC72/4 North Tyneside Miners’ Support Group, Hervorhebung im Original.

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trugen die konfrontativen Deutungsmuster nach der massiven Gewalt und den daraus folgenden Verhaftungen den Sieg davon. Nachdem die Gewalt in Wearmouth bereits seit Donnerstagmorgen eskaliert war, richtete sich der Blick am Freitag der Woche, dem letzten regulären Arbeitstag und damit dem letzten Tag, an dem das NCB glaubhaft einen returnto-work nach Ferienende durchsetzen konnte, mehr denn je auf die Zeche von Easington. Dort war seit Anfang der Woche bekannt, dass ein Bergarbeiter, der Hauer Paul Wilkinson, an die Arbeit zurückkehren wollte. In Easington ging es also – im Gegensatz zu Wearmouth – nicht um Verwaltungsangestellte, sondern um einen Arbeiter aus dem Kernklientel der NUM, der zudem der Berufsgruppe mit dem höchsten Ansehen in der sozialen Hierarchie der Bergleute angehörte. Die Einsatzleitung der Polizei hatte in Easington von Montag bis Donnerstag entschieden, dass es nicht ratsam sei, den arbeitswilligen Bergmann an dem großen Streikposten vorbei auf das Zechengelände zu bringen. Dabei wurde der Frage, ob der Streikbrecher in die Zeche gelangen könnte, im Verlauf der Woche immer mehr Bedeutung zugemessen, da schon am Dienstag sowohl die NUM als auch das NCB einen »Sieg« reklamieren wollten.143 Die regionalen Medien berichteten von Tag zu Tag detaillierter über die persönlichen Lebensumstände und Handlungsmotive von Wilkinson; endlich bekam der prototypische Streikbrecher ein Gesicht und konnte den mass pickets gegenübergestellt werden. Das Northern Echo druckte sogar ein Bild Wilkinsons mit seinen Kindern auf der Titelseite ab, um sein Schicksal als alleinerziehender Vater in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu stellen. Die Familienverhältnisse des Streikbrechers bildeten aber auch für die Gewerkschaft einen bemerkenswerten Umstand: Easington lodge secretary Alan Cummings said the union had tried to help the rebel miner overcome personal problems they knew he was having […] Mr Wilkinson […] split up with his wife two years ago and has been caring for the two children for some time. But he said it was a principle over the way union leadership was conducting the strike which had led him to brave the pickets.144

Der lokale Gewerkschaftsführer Cummings denunzierte Wilkinson, indem er sein abweichendes Verhalten mit dessen privaten Lebensumständen erklärte. Nicht umsonst bestand der verhinderte Streikbrecher darauf, aus politischen Gründen zu streiken, denn das Ringen um Streikbereitschaft war im Miners’ Strike stets mit dem Subtext eines Konflikts um Männlichkeit konnotiert.145 Die nationale Debatte, in der Streikbrecher und nicht-streikende Bergarbeiter als besonders mutige Männer und patriotische Arbeiter dargestellt wurden, diente Wilkinson als taugliche Begründung für das eigene Verhalten: »The intimidation only makes me more determined.«146 Die Bestätigung und das Absprechen von 143 O. A., Victory – claim the NUM and NCB!, The Northern Echo 21.8.1984. 144 Gerry Marron, I’ll get past the pickets, The Northern Echo 21.8.1984. 145 Phillips, Collieries, S. 131–137. 146 Ebd.

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Männlichkeit in Streikzeiten waren seit jeher von weiblicher Zustimmung abhängig.147 In dem Bericht über Wilkinson drückte sich dieser Zusammenhang nicht nur darin aus, dass das Scheitern seiner Ehe immer wieder thematisiert wurde, sondern auch in der Schlüsselrolle, die seine Mutter Olive einnimmt. In Abwesenheit der Ehefrau attestierte sie ihm männliche Tugenden wie Mut und Ehrlichkeit: »Everyone around here admires him for what he is doing. He has the courage to stand up for his convictions and I’m proud of him.«148 Diese Aussage von Wilkinsons Mutter ergänzte die Darstellung um den Faktor der lokalen community. In der regionalen Führungsebene des NCB verstand area director David Archibald die Entwicklung in Easington gleichermaßen als Bestätigung der eigenen Lageeinschätzung von einer Mehrheit friedlicher, arbeitswilliger Bergleute, die bloß deshalb nicht arbeiteten, weil sie von einer radikalisierten Minderheit eingeschüchtert würden: David Archibald area director said the strike solidarity was only being maintained by hostile picketing. »The indications we have received over the past few weeks of the considerable number of our men wishing to return to work reflect the true feelings of the coalfield. We are heartened by the determination and resolve of those still trying to get to work.«149

Easington wurde erst durch diese fundamentale Differenz in der Sicht auf den Streik zu demjenigen Ort, an dem der Miners’ Strike im Nordosten scheinbar schlagartig eskalierte. Die Zeche von Easington bezog ihre hohe symbolische Bedeutung zudem aus der regionalen Ordnung der Kohleproduktion, die sich im industriellen Strukturwandel der Nachkriegszeit entwickelt hatte. Denn Easington gehörte wie Wearmouth zu den modernisierten und produktiven Zechen des Nordostens, die im Zuge des Strukturwandels immer weiter ausgebaut worden waren, um die Belegschaften der weiter westlich gelegenen Zechen aufzunehmen, die geschlossen werden sollten.150 In den 1980er Jahren stand der Ort daher wie kein zweiter für die regionale Industriepolitik der Nachkriegszeit. Easington liegt außerdem in unmittelbarer Nähe der New Town Peterlee, deren Ausbau nach dem Zweiten Weltkrieg eine zentrale Maßnahme zur Verbesserung der Wohnbedingungen in den pit villages war und die als Development Area bis in die 1980er Jahre der Ansiedlung von Zukunftsindustrien diente. Zugleich stand die Belegschaft in Easington nicht nur loyal zum Streik, sie stellte auch einen Großteil derjenigen Aktivisten, die in der ganzen Grafschaft Durham und bei landesweiten Aktionen der NUM mitwirkten. Auch auf gewerkschaftspolitischer Ebene gingen von der örtlichen lodge immer wieder Initiativen aus, die 147 Barron, The 1926, S. 151–157; Phillips, Collieries, S. 131–137. 148 Olive Wilkinson, zit. n.: Gerry Marron, Pickets claim victory in back to work battle, The Northern Echo 22.8.1984. 149 O. A., Pickets claim victory in back to work battle, The Northern Echo 22.8.1984. 150 The North East. A Programme for Regional Development and Growth, 1963–64, Cmnd. 2206, S. 6, 10, 35–38.

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der Gewerkschaftsbasis innerhalb der Durham Miners einen stärkeren Einfluss sichern sollten. Lodge secretary Alan Cummings wurde von der lokalen Presse als Vertreter der jungen, militanten Generation von Gewerkschaftsfunktionären wahrgenommen, die sich in ihrer politischen Zielsetzung und in ihrem Selbstbild von der älteren Führungsriege der Durham Miners unterschied. Cummings selbst trug nicht unerheblich zu dieser medialen Präsenz bei, indem er selbst Gelegenheiten suchte, seine Sicht des Streiks in Interviews, eigenen Beiträgen und bei öffentlichen Auftritten darzulegen. Doch Easington ist auch in einer Perspektive, die über den Strukturwandel der Nachkriegszeit und die konkreten Bedingungen von Streikbereitschaft im Jahr 1984 hinausreicht, ein bedeutender Erinnerungsort der Arbeiterbewegung im Nordosten. Die Zeche hatte im 19. Jahrhundert dem Marquis von Londonderry gehört, einem idealtypischen Vertreter des adeligen Bergbauunternehmers, der Gewinne brauchte, um in London und den Kolonien einen imperialen Lebensstil zu pflegen. Im frühen 20. Jahrhundert kam es in Easington und im benachbarten Horden mehrfach zu gewalttätigen Unruhen gegen staatliche Organe und Zechenbesitzer.151 Zugleich bildete der Wahlkreis Seaham, in dem Easington lag, eine Hauptbühne für die schicksalhaften Triumphe und Niederlagen der Labour Party in der Zwischenkriegszeit. Nacheinander vertraten der Mitgründer der Labour Party Sidney Webb (Baron Passfield), der erste Labour Premierminister Ramsay MacDonald und der unter Attlee für die Verstaatlichung der Gruben zuständige Minister Emanuel (Manny) Shinwell den Ort im Unterhaus. Die Spaltung der Labour Party zwischen dem nationalen Flügel um MacDonald und der gewerkschaftsnahen Hauptströmung um Lansbury spitzte sich dort zu, als Manny Shinwell in den Wahlen von 1935 den Sitz in direkter Kampfabstimmung gegen MacDonald eroberte.152 Noch nach der dann von Shinwell als zuständigem Kabinettsminister geleiteten Verstaatlichung kam es in Easington im Jahr 1951 mit 83 Toten zu dem folgenschwersten Grubenunglück der Nachkriegszeit in Großbritannien,153 an das bis heute das Miners’ Memorial am Ortsrand erinnert.154 Daher verweist Easington als Name und als physischer Ort gleichermaßen auf 151 Harry Barnes, The Birth of Easington Colliery, in: North East History 42 (2011), S. ­88–108, hier S. 103–105; Mark Hudson, Coming Back Brockens. A Year in a Mining Village, London 1994, S. 48–51. 152 Kenneth O. Morgan, Shinwell, Emanuel, Baron Shinwell (1884–1986), Oxford Dictionary of National Biography 2004, http://www.oxforddnb.com/view/article/39859, 16.4.2014. 153 Explosion at Easington Colliery, County Durham. Report on the Causes of, and Circum­ stances attending, the Explosion which occurred at Easington Colliery on the 29 th May, 1951. H. M. Chief Inspector of Mines, Presented by the Minister of Fuel and Power to Parliament by Command of Her Majesty, September 1952, Cmnd. 8646, https://www. era.lib.ed.ac.uk/handle/1842/5365, 16.6.2014. 154 http://www.dmm.org.uk/colliery/e002.htm, 16.6.2014. Der Verfasser erntete im Septem­ ber 2011 bei einem Besuch in Easington großes Unverständnis darüber, dass das Denkmal abgeschlossen war. Im Colliery Official’s Club boten mir die ehemaligen Bergmänner sofort an, es aufzuschließen.

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die existentiellen internen Kämpfe des britischen labour movement während der Zwischenkriegszeit und die säkulare industriepolitische Weichenstellung der nationalisation im Jahr 1947, aber auch auf die fortdauernden Gefahren der Arbeit unter Tage und die nationale Opferbereitschaft der treu Labour-wählenden Bergarbeiter. Easington repräsentierte in den 1980er Jahren also historische Tiefenschichten der sozialräumlichen Ordnung Montanregion in Nordostengland, die zwar keineswegs ständig bewusst und präsent waren, aber im Konfliktfall sehr wohl reaktiviert werden konnten. Auf einer pragmatischen Ebene galt Easington den Konfliktparteien im ­Miners’ Strike von 1984–85 als Symbol für die Haltung der Bergarbeiter im gesamten Kohlerevier. Wenn es gelingen würde, dort den Streik zu brechen, wäre die NUM aus Sicht des NCB im ganzen Nordosten schwer beschädigt. Andererseits diente die praktische und geschichtskulturelle Bedeutung Easingtons der NUM wiederum als Ressource, um gewerkschaftliche Kampfbereitschaft zu organisieren. Genau hier musste um jeden Preis verhindert werden, dass der Streik gebrochen wurde. Die NUM versammelte deshalb schon seit Montag, den 20. August, besonders viele Streikposten vor der Zeche. Einige der Fotos von Keith Pattison dokumentieren erstaunliche Aspekte des Geschehens in jener Woche, die sich allerdings weniger mit der abstrakten, symbolischen Bedeutung Easingtons erklären lassen, sondern vielmehr auf die impiziten rules and practices der Montanregion verweisen. So trat in den ersten Tagen des geplanten return to work in Easington keine riot police auf. Die Polizeipräsenz beschränkte sich vielmehr auf wenige bobbies. Bergarbeiter und Polizei sprachen miteinander und die Bergleute errichteten im Haupttor der Zeche vom Zechengelände her eine Barrikade zur öffentlichen Straße hin (Abb. 10). Im Hintergrund steht auf dem Eingangsschild zum Werksgelände der Spruch »NACODS OUT«, der die Gewerkschaft der Steiger vom Gelände verweisen sollte. Die scheinbar einmütige Verteidigung der eigenen Zeche richtete sich also nicht nur gegen das National Coal Board, sondern auch gegen die Vorarbeiter, die im Fall des Streikbruchs entscheiden mussten, ob sie Streikbrecher beaufsichtigen würden. Die Interaktion zwischen Polizei und Bergleuten gestaltete sich zu Beginn der Woche trotz der unterschiedlichen Ziele noch kooperativ. Es fanden Gespräche zwischen dem aus Easington stammenden NEC-Vertreter der Durham Miners, Billy Stobbs, und den Einsatzleitern der Polizei statt und es kam zu einer Verein­ barung zwischen der NUM lodge und dem colliery manager. Er sicherte der Gewerkschaft zu, dass der Streikbrecher, wenn er in die Zeche gebracht werden würde, nur durch das Haupttor, am offiziellen Streikposten vorbei, hereingelangen dürfte. Diese mündliche Absprache bildete einen Bestandteil hergebrachter regionaler Konfliktpraktiken und spiegelt den gleichberechtigen Umgang von Gewerkschaft und Management in der Ordnung der Montanregion wider, die umgangssprachlich als man-to-man bezeichnet wurde. Angesichts der Debatten über die Legitimität des Streiks, die Gewalt der Streikposten und Willkür der Polizei ist darin aber nicht mehr als eine Art letzte Rückversicherung durch den Appell an ältere Konfliktpraktiken zu sehen. Wären die gleichberechtigten Be-

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ziehungen zwischen Managern und Gewerkschaft intakt gewesen, hätte es dieser Bestätigung ja gar nicht bedurft. Vor dem 24. August entschied die Einsatzleitung der Polizei jeden Morgen, dass es zu gefährlich und unverhältnismäßig sei, den Streikbrecher Wilkinson an den Streikposten vorbei auf das Zechengelände zu bringen oder gar den Streikposten am Haupteingang zu räumen. Am 24. August brachten Polizisten Wilkinson jedoch durch einen Nebeneingang an den Waschräumen auf das Zechengelände. Bereits davor war die gefürchtete, aber nie zuvor in Durham eingesetzte riot police mit Einsatzhelmen, Schilden und Knüppeln in Easington aufgetaucht. Als die Streikposten vor dem Zechengelände durch Billy Stobbs vom ›Eindringen‹ des Streikbrechers erfuhren, stürmten sie den Parkplatz der Zeche, beschädigten dort die Autos des Verwaltungspersonals, drehten das Fahrzeug des Zechendirektors um und warfen die Glasscheiben der Verwaltungsgebäude ein. Der Soziologe Huw Beynon, der damals an der Universität in Durham arbeitete und die Bergarbeiter aus seinem Selbstverständnis als linker Akademiker heraus nach Kräften unterstützte, erfasste diesen Kippmoment des Aufruhrs, den er selbst miterlebt hatte, wie folgt: »The Lodge Officials come to the top of the office steps. Strained faces. He’s in. The management won’t send him home. He’s in. He’s in our pit. Some lads climb the Wall. Bricks fly through the air. Cars are overturned; windows broken. Uproar.«155 Dann rückte die Polizei mit einer Bereitschaftstruppe zwischen die Streikenden und die Zeche und drängte sie mit ihren Schutzschilden und unter Stockschlägen von der Zeche ab. Da die Bergleute sich widersetzten, versuchten Stoßtrupps der Polizei einzelne Demonstranten festzunehmen. Die Bergarbeiter flohen jedoch und es entwickelte sich eine wilde Verfolgungsjagd zwischen Polizisten und Bergleuten durch Hinterhofgassen, Privatgrundstücke und Gärten. Beynon fasste den Eindruck, den dieses Vorgehen auf die Anwohner hatte, zusammen, indem er einer Frau aus Easington folgende Aussage zuschrieb: »I never thought I’d see scenes like this in Britain. I never thought I’d see what I’ve seen on the streets of Easington.«156 Obwohl diese Aussage nicht belegt ist, wirkt sie plausibel, denn der Aufruhr, der Easington am 24. August 1984 erschütterte, wurde ja tatsächlich durch den Bruch eines ungeschriebenen Gesetzes der »Konfliktpartnerschaft« von Gewerkschaft und Unternehmensleitung ausgelöst, das die gegenseitige Anerkennung zum Gegenstand hatte. Der Streikbrecher muss durch den Haupteingang gehen, damit er von der Masse seiner Kollegen doch noch überzeugt oder – bei Zuwiderhandeln  – symbolisch ausgeschlossen und verfemt werden konnte. Zugleich musste der Streikbrecher hier zeigen, dass er »Manns genug« war, gegenüber den Anfeindungen zu bestehen. Die Nachricht, Paul Wilkinson habe durch einen Nebeneingang das Zechengelände betreten, löste den Krawall gegen das Verwaltungsgebäude und das Auto des Zechendirektors also nicht nur deshalb aus, weil eine abstrakte Regel gebrochen worden war, sondern weil ein erlebbarer 155 Beynon, The Miners’ Strike in Easington, hier S. 114. 156 Ebd., S. 115.

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Abb. 10: Easington Colliery, 20. August 1984, Streikende Bergarbeiter errichten vom Zechengelände aus eine Barrikade im Haupttor der Zeche, mit freundlicher Genehmigung durch © Keith Pattison.

Abb. 11: Easington 20. August 1984, am ersten Tag des angekündigten »return to work« spricht ein Polizeioffizier, vermutl. der Bereichs- oder Einsatzleiter, ungeschützt mit NEC -Vertreter Billy Stobbs, mit freundlicher Genehmigung durch © Keith Pattison.

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und aktiv mitzugestaltender Moment der kollektiven Erzwingung von Solidarität gar nicht erst stattfinden konnte. Freilich bedeutete dies auch eine Missachtung der Gewerkschaft, im Moment des Aufruhrs äußerte sich dies aber konkret in der Missachtung der Streikposten. Auch das Northern Echo thematisierte den Aufruhr von Easington mit einem martialischen Titel, auf dem riot police beim Einsatz im Dorf unter der Schlagzeile »A village street in Co. Durham« abgebildet war (Abb. 12), als Agression, die von außen in die friedliche ›Grafschaft‹ hineingetragen wurde. Im Aufruhr von Easington trat neben den Konfliktritualen der lokalen Arbeitsbeziehungen eine kollektive Handlungs- und Erfahrungsdimension hervor, die nur aus der Selbstorganisation der streikenden Bergarbeiter und ihrer Familien im Verlauf des Streiks heraus verständlich wird. Denn durch den Streik ergaben sich neue Ansatzpunkte für ein Ineinandergreifen der Arbeitswelt auf der Zeche und der alltäglichen Lebenswelt des Dorfes. Die NUM lodge praktizierte auf dem Zechengelände eine Art Selbstverwaltung, z. B. sammelten die Bergleute herumliegendes, brennbares Material, sowohl Kohle als auch Holz, ein, und verkauften es zu einem sozialen Preis an ihre eigenen Familien und die Betriebspensionäre im Ort.157 Die Männer der Ortschaft, die sonst unter Tage abwesend waren, waren auf einmal im Alltagsleben des Dorfes präsent, während die Ehefrauen der Bergleute, die sonst keinen Zutritt zur Zeche hatten, dort in Eigenregie die Kantine für die Männer und die eigenen Familien als café führten: »›The café‹, not the ›soup kitchen‹: the women are quite insistent about that.«158 Dort arbeiteten die Frauen und Männer gemeinsam, wobei die Männer hauptsächlich Hilfsdienste wie Spülen und Putzen verrichten mussten, weil die Zubereitung des Essens Frauensache blieb. Dieses alltägliche Management des Streiks durch die lodge und die miners’ wives support group gehört untrennbar zur Vorgeschichte der Gewalteskalation am 24. August. Die selbstorganisierte Hilfe ging über den Rahmen historischer Vorbilder hinaus und veränderte nicht nur die Konfliktkonstellation zwischen Bergarbeitern und National Coal Board, sondern auch das innere Gefüge Easingtons als mining community: »For all the hardship, for all the worry and the doing without, people are not broken – in body or in spirit. If anything the opposite is true. Men joke of never wanting to go back – ›not after this summer. I’ve never felt so fit.‹«159 Jenseits der von Beynon aufgetragenen Streikromantik wurde das Zechengelände aufgrund dieser Versorgungsleistung während des Streiks stärker als e i g e n e r R a u m wahrgenommen als in Zeiten des normalen Betriebs. In Easington hatte der Streik somit einen Aspekt der Ordnung Montanregion im englischen Nordosten, der ansonsten nur als theoretische Annahme galt, zu einer materiell greifbaren sozialen Praxis werden lassen: Aus dem formal schon seit 1947 verstaatlichten Betrieb war – paradoxerweise durch die Einstellung der Kohleför157 Ebd., S. 107. 158 Ebd., S. 108. 159 Ebd., S. 110, Zeichensetzung im Original.

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Abb. 12: The Northern Echo (Yorkshire Edition), 25. August 1984, Titelseite, mit freundlicher Genehmigung The Northern Echo.

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derung im Arbeitskampf – ein Ort geworden, der tatsächlich von den Arbeitern und ihren Familien kontrolliert wurde. Mehr noch, durch die selbstorganisierte Versorgung mit Brennstoff und Nahrung auf dem Zechengelände setzten die Bergleute den sozialmoralischen Anspruch ihrer moral economy of provision praktisch in die Tat um.160 Der Polizeieinsatz grenzte die Zeche auch wegen dieser vorübergehnden Inbesitznahme schärfer, als es vor dem Streik überhaupt möglich gewesen wäre, als einen f r e m d e n , u n v e r f ü g b a r e n Raum von der Gemeinschaft ab. Die Selbstverwaltung hörte in dem Moment auf, als die Polizei die Zeche ›besetzte‹, und der Aufruhr vom 24. August bildete für den Zechendirektor oder seine Vorgesetzten einen hinreichenden Anlass, die Gewerkschaft ganz offiziell aus der Zeche auszuschließen. Im September entzog das National Coal Board der NUM die Büroräume auf Easington. Allerdings versuchte das NCB nicht, den Streikposten zu verbieten oder die Einhaltung des gesetzlichen Höchstmaßes von sechs Streikposten gerichtlich durchzusetzen. Erst die privaten Rechtsanwälte des Streikbrechers Wilkinson bewirkten Verfügungen gegen einen massenhaften Streikposten in Easington.161 Die gegenseitige Anerkennung zwischen Unternehmensführung und Gewerkschaft hörte also nicht schlagartig auf zu bestehen, sondern blieb vorerst in einzelnen Bereichen erhalten. In Murton ging die Gewalt los, als die Kneipen zur Sperrstunde schließen sollten. In dem kleinen Dörfchen hatten sich einige der vom Geschehen des Tages aufgeputschten und frustrierten Streikenden aus Easington, Wearmouth und Murton getroffen. Viele der im Laufe der Woche in Wearmouth verhafteten Bergarbeiter stammten aus Murton oder den Nachbarorten Easington und Seaham.162 Teilweise erinnern die Schilderungen des Geschehens an die Vorkommnisse bei Streikposten, so hieß es, die Menschenmenge in Murton habe gemeinsam Lieder gesungen, Slogans gerufen und sich gegenseitig angefeuert: An eyewitness said: »There were a few hundred people just milling around, chanting and egging each other on. […] Another eyewitness said villagers were standing chatting outside the pubs before violence erupted. »The police came over and started getting at the lads. They’ve been trying it on for weeks since the strike started, but it came to a head tonight.«163

Der Augenzeuge fährt damit fort, dass dann Bereitschaftspolizei erschienen sei, welche die Dorfbewohner in eine Sackgasse gedrängt habe. Der einzige Ausweg, den die bedrängten Dorfbewohner schließlich genutzt hätten, habe durch den 160 Vgl. Thompson, The Moral Economy, S. 112–120. 161 O. A., Rebel wins court ban, The Northern Echo 4.9.1984. 162 O. A., Bus hitch delays rebels, The Northern Echo 23.8.1984; O. A., Nine more Wear ­pickets in court, Echo Sunderland 23.8.1984; O. A., More in court after trouble, The Journal Newcastle 25.8.1984; O. A., Accused of picket line arson bid, Echo Sunderland 24.8.1984. 163 John Park / Gerry Marron, Night of rioting rocks pit village, The Northern Echo 25.8.1984, 3 A. M. Edition.

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leerstehenden Pub geführt.164 Ein Bergarbeiter, der sich namentlich erwähnen lässt, droht sogar mit einer Beschwerde gegen die Polizisten, während in der Aussage des ersten Augenzeugens die Bedrohung eher von der Menge ausgeht: »It was frightening, I never ever thought I would see a thing like that in a place like Murton.«165 Als der leere Traveller’s Rest Pub bereits brannte, hinderten die Krawallmacher von Murton die Feuerwehr mit Hilfe eines brennenden Autos und brennender Strohballen von den umgebenden Feldern daran, den Brand zu löschen. Am nächsten Morgen wurde die Gewalt in Murton in der Lokalpresse als besonders fremdartiges Ereignis thematisiert: »Murton was in a state of shock today after a night of terror when wreckers went on the rampage. The main street of the small mining village resembled a scene from Northern Ireland with a burnt-out empty pub, overturned car and smashed windows.«166 Das Anzünden eines leerstehenden Gebäudes widersprach für die Journalisten anscheinend jeder Vorstellung von vernünftigem, zielgerichtetem Protest, doch bei genauerer Betrachtung lässt sich auch diese Gewalthandlung in die Sinnbezüge des regionalen Streikgeschehens einordnen. Die lodge von Murton galt als eine der aktivsten und radikalsten des ganzen Kohlereviers, die Murton Mechanics beteiligten sich z. B. an Demonstrationen im ganzen Land, etwa an der Demonstration in Sheffield am 19. April, bei der es ebenfalls an einem working men’s club zum Zusammenstoß mit der Polizei gekommen war. Der Murton Riot wurde in der Tagespresse als besonders sinnlos und fremdartig bewertet, da sich diese Konfrontation weder an einem Zechentor noch an einer anderen Produktionsanlage abspielte. Gerade wegen dieser scheinbaren Loslösung von unmittelbaren Streikmotiven verrät die Deutung des Ereignisses umso mehr über den Zusammenhang zwischen sozialräumlicher Lebenswelt, Legitimitätsempfinden und Protestverhalten in der Montanregion jenseits der direkten, industriellen Konfrontation. Aufschlussreich ist unter anderem, dass die ›Krawallmacher‹ die Feuerwehr am Löschen des Feuers hinderten. Dies bietet einen ersten Anhaltspunkt dafür, dass es den streikenden Bergarbeitern um eine territoriale Behauptung des eigenen Raums gegangen sein könnte, nach dem Motto: Wir und niemand sonst kann hier tun und lassen, was er will. Dieser Ansatz würde sich mit dem Erscheinungsbild der Streikwoche in Easington decken. Auch dort hatten die Bergleute anfangs Barrikaden vor ihrer Zeche aufgestellt, um sie vor dem Eindringen der fremden Polizisten und des aus der Gemeinschaft ausgeschlossenen Streikbrechers zu schützen. Zudem weist das Geschehen in Murton Parallelen zu den Ereignissen in Sheffield am 19. April auf. Damals hatte sich die Polizei einem zentralen Rückzugs- und Geselligkeitsraum der Bergleute, dem labour club, genähert. Bereits am Donnerstag waren in Wearmouth zudem einige Männer aus Murton und Easington im Streiklokal, dem Duck Inn, verhaftet worden. Angesichts der empörten Reaktionen einiger 164 Ebd. 165 Ebd. 166 O. A., Night of Terror Shocks Village, Echo Sunderland 25.8.1984.

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Murton Mechanics über das Vorgehen der Polizei in Sheffield lassen sich die Vorfälle der Nacht des 24. Augusts in Murton plausibel als eine gesteigerte Version jenes Ereignisses interpretieren. Zudem reagierten die Bergarbeiter in Murton genau gleich, indem sie sich, wie in Sheffield, auf die Straße setzten,167 obwohl Sitzblockaden bei Streikposten sonst völlig unüblich waren. Im Aufruhr von Murton mischten sich zwei Ebenen der kollektiven Gewalt, die beide unmittelbar mit der sozialräumlichen Ordnung der Montanregion North East zusammenhingen. Die Behauptung eines eigenen Raumes in den pit villages, an den Zechentoren und um die clubs und pubs der Bergarbeiter traf jenseits des Arbeitsplatzes auf eine unmittelbare Bedrohung durch die als fremd wahrgenommene Polizei. Zugleich waren an den zwei vorausgegangenen Tagen viele körperliche Mittel der Konfliktaustragung mit den Streikbrechern und der Polizei unterbunden worden. In Wearmouth war die Masse der Streikposten nicht mehr in die Nähe der Zeche gelassen worden. In Easington hatte die Polizei die Barrikade im Zechentor abgeräumt und außerdem den Streikbrecher durch einen Nebeneingang (back-door-tactics) eingeschleust (sneaked in). Die Anerkennungsdimension des Konflikts trat stärker hervor, weil nun auch in Durham lang eingeübte Praktiken für den Konfliktfall, die eine Gleichwertigkeit zwischen Gewerkschafts- und Unternehmensseite gewährleisten sollten, nicht mehr beachtet oder absichtlich verletzt wurden.168 Dabei ging es oft nicht um symbolischen Ausgleich, sondern zumeist um praktische Zugriffsmöglichkeiten der Gewerkschaft auf ihre streikbrechenden Mitglieder, die männlich-direkte Kommunikation mit ihnen und die Verlässlichkeit zwischen Gewerkschaftsführung und management. Jene Praktiken schlossen immer Elemente von gewerkschaftlicher Machtausübung und Kontrolle ein. Die Konzentration von Streikposten am Zechentor sollte nicht nur potentielle Streikbrecher abschrecken, sondern sie gewährleistete auch die Kontrolle der Funktionäre und die gegenseitige Überwachung der Streikenden, die sich in Form kollektiv geteilter moralischer Überzeugungen und Forderungen nach der Unverletzlichkeit der picket line bemerkbar machte. So hatte sich am Freitagabend in Murton auch der letztlich mildernde Einfluss formeller und informeller Führungsfiguren in dem Maße aufgelöst, indem die dazu geeigneten Protestformen an den vorangehenden Tagen blockiert und die Anführer des Streiks von den Ordnungskräften ignoriert worden waren. Deshalb eskalierte die Geselligkeit in Murton zu einem Krawall, der auf Beobachter sinnlos wirkte, weil er nicht erkennbar mit dem Streik verbunden war. Der Frust über die Ereignisse der vergangenen Tage und die Wut über die Ohnmacht gegenüber der Polizei bilden zwar den Kontext des Murton riot, aber sie ergeben noch keine hinreichende Erklärung für die Interaktionsdynamik zwischen Polizei und Ruhestörern. Obwohl ein Rest Unsicherheit bleiben muss, fällt auf, dass die Polizei in Murton genau in dem Moment das Gruppenverhalten der Anwesenden zu kontrollieren 167 Renouf, A Striking, S. 200. 168 Vgl. Imhof, Öffentliche Konflikte, S. 369.

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versuchte, als die bisher geltenden Regeln für Protest außer Kraft gesetzt worden waren. Zugleich ergab sich durch die schiere Masse von Pubgästen im eigenen Dorf und bei Dunkelheit eine Gelegenheit, dennoch Macht zu demonstrieren oder sich einfach der eigenen Identität, den angestauten kollektiven Gefühlen und dem Rausch des Kampfes anheimzugeben und es der Polizei ›heimzuzahlen‹. Die Zusammenstöße zwischen Streikposten, Arbeitern, lokaler Bevölkerung und Polizisten, die sich Ende August in East Durham ereigneten, bildeten einen »Aufruhr« im engeren Sinn einer ganz bestimmte Verlaufsform sozialen Handelns in einer bedrohten Ordnung mit den Merkmalen: 1. Gruppencharakter, 2. Öffentlichkeit, 3. Gewalt, 4. Verdichtung von Raum und Zeit und 5. Komplexität und Kontingenz.169 Die Unruhen vom 23. bis 25. August 1984 gingen von Gruppen aus und vermittelten den Beteiligten deshalb einen Bezug zu übergeordneten Vorstellungen von Gesellschaft, wie der Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit zu den Befürwortern oder Gegnern des Streiks oder zur britischen Nation. Körperliche Erfahrungen von Gewalt führten zur stärkeren Orientierung auf die eigene Gruppe oder zu einer heftigeren Abgrenzung von fremden Gruppen, mithin zu neuartigen Selbst- und Fremdbildern, z. B. als Bewohner des englischen Nordostens. Sowohl mittelbar als auch unmittelbar bildete Öffentlichkeit ein konstitutives Merkmal der einzelnen Handlungen und des gesamten Geschehens. Einerseits bestimmten medial vermittelte Deutungsmuster das Handeln selbst und die Berichterstattung darüber. Andererseits wurden in Momenten des Zusammenkommens, des Zuschauens oder des wohlwollenden oder ablehnenden Sprechens über die Ereignisse vorhandene Deutungsmuster im lebensweltlichen Nahbereich adaptiert und verändert. Einige der Gewaltereignisse entstanden nicht einmal aus zielgerichteten Zusammenkünften, sondern aus rein geselligen Anlässen, wie dem gemeinsamen Trinken am Freitagabend. Diese Geselligkeitsformen waren aber durch die Streiksituation und verschiedenen Vorkommnisse in der Nähe von Pubs oder working men’s clubs bereits mit bestimmten Erwartungen an und Erfahrungen von Gewalt aufgeladen. In den Handlungen selbst wurde sowohl mit der weiteren Öffentlichkeit als auch innerhalb des Unternehmens NCB symbolisch kommuniziert. Wenn, wie in Easington, das Auto des Zechendirektors umgeworfen und die Fenster der Verwaltungsgebäude eingeschlagen wurden oder, wie in Murton, ein leerstehendes Gebäude angezündet wurde, handelte es sich um Aktionen, die einen erschließbaren Sinn besitzen. Der Zechendirektor war wortbrüchig geworden und das Anzünden des Pubs lässt sich zumindest als Demonstration von Verzweiflung, Ohnmacht und Zukunftsangst lesen. Gewalt ereignete sich in allen Beispielen, weil Handlungsformen, die den Streikposten als legitim erschienen, wie etwa das Beschimpfen oder Blockieren von Streikbrechern, von der Polizei mit Zwang, der als illegitim galt, unterbunden wurden. Zu späteren Zeitpunkten, nie aber zu Beginn der Ausschreitungen, reichte auch schon die Anwesenheit von Polizisten aus, um unpolitische Formen 169 Vgl. Hordt u. a., Aufruhr.

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von Geselligkeit in Gewalt umschlagen zu lassen. Gewalt spielte auch auf der diskursiven Ebene eine Schlüsselrolle, weil ihre Anwendung das Handeln beider Konfliktparteien in den Augen der jeweils anderen Seite und großer Teile der Öffentlichkeit delegitimierte und zugleich Gegengewalt legitimierte. Die vereinzelten Gewaltausbrüche verdeutlichen den Zwangscharakter der Solidarität, die durch die Streikbrecher akut bedroht war. Schließlich wirkte sowohl das gemeinsame Erleiden als auch das kollektive Ausüben von Gewalt vergemeinschaftend. Gewalt einte die streikenden Arbeiter, ihre Frauen, Kinder und die sonstigen Anwohner über die bisher praktizierte und erlebte ökonomische Solidarität hinaus. Die kurzfristige, eruptive Gewalt des Miners’ Strike schuf einen Zusammenhalt für die Mitglieder einer Gruppe und entfernte diese zugleich von weiten Teilen der nationalen Öffentlichkeit, die Gewalt als ›unenglisch‹ ablehnte.170 So zeitigte gewaltförmiges Handeln folgenreiche Inklusions- und Exklusionsprozesse für die regionale Gesellschaft des englischen Nordostens. Der Aufruhr folgte indirekt aus der gescheiterten Streiktaktik der NUM, denn aus der bisherigen Entwicklung in den Kohlerevieren der Midlands hatten Teile des Managements in London den Schluss gezogen, dass der Streik gebrochen werden konnte, indem man einzelne Arbeiter zur Rückkehr in die Zechen bewegte.171 Doch beruhte diese Interpretation auf zwei grundlegenden Missverständnissen. Erstens hatten sich die Bergarbeiter in Nottinghamshire, Staffordshire oder Derbyshire nicht geweigert am Streik teilzunehmen, weil sie die Politik Ian MacGregors oder Margaret Thatchers unterstützten oder weil sie der NUM-Führung als solcher schaden wollten. Sie hatten sich dem Streik verweigert, weil sie – in der Tradition regionaler Eigenständigkeit der Gewerkschaftsbezirke – auf der Einhaltung der ordentlichen rules and procedures und damit dem Prinzip der gegenseitigen Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer NUM-Bezirke bestanden hatten.172 Sie verweigerten die Teilnahme am Streik also aus einer konservativen Haltung heraus, die der im Nordosten praktizierten Verteidigungshaltung der Bergarbeiter ähnelte. Zweitens ließ sich die Konstellation, die in jenen industriell durchmischten Kohlerevieren zur Nicht-Teilnahme am Streik geführt hatte, in der Montanregion North East nicht wiederholen. Denn dort streikten alle Bergarbeiter aufgrund gültiger Beschlüsse ihrer Gewerkschaftsbezirke. Auch wenn der Streik zunächst mit ›handfesten‹ Streikposten durchgesetzt werden musste, galt er den allermeisten Bergarbeitern als legitim. Die polizeiliche Durchsetzung des Streikbrechens und der darauffolgende Aufruhr der Bergarbeiter vom 23. bis zum 25. August 1984 veränderte einige, aber bei weitem nicht alle Bezugsgrößen der sozialräumlichen Ordnung der Montanregion in Nordostengland. Der return-to-work Initiative des NCB war kein Erfolg beschieden. Auch weit nach dem symbolischen Streikbruch Ende August kehrte nur eine verschwindende Minderheit der Bergleute in in die Zechen 170 Vgl. Emsley, Hard Men, S. 181–184. 171 Smith, The 1984 Miners’ Strike, S. 209 f. 172 Howell, Defiant Dominoes, S. 157–160.

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zurück.173 Erst im Januar 1985 konnte auf einigen Zechen wieder Kohle produziert werden. Das soziale Stigma des Streikbrechens verschlimmerte sich durch den Aufruhr vom August sogar, weil die Wut über den Bruch der Solidarität durch Einzelne den Willen zur Sanktionierung potentieller Streikbrecher erhöhte. Dennoch war es prinzipiell möglich, mit Hilfe der Polizei auch in Regionen, in denen massenhaftes Streikbrechen eher unwahrscheinlich war, den Widerstand der Gewerkschaft zu überwinden. Allerdings verstärkte das konfrontative Vorgehen die Evidenz klassenpolitischer Narrative, welche dann wiederum als eigenständige Streikmotive wirkten. Schließlich endete die Kohleproduktion im Nordosten erst in den 1990er Jahren und bleibt im Hinblick auf den Streik von 1984–85 bis in die 2010er Jahre auch heute noch konstitutiv für die regionale politische Identität des englischen Nordostens. Die Rheinhausener Proteste folgten im Hinblick auf gewalttätigen Protest einer anderen Verlaufsdynamik als der Miners’ Strike im Nordosten Englands. Gewalt war dort am Anfang der Proteste am intensivsten, doch mit der Zeit wurden sie weniger gewaltsam. In Rheinhausen richtete sich Gewalt zudem nicht gegen die Polizei oder andere staatliche Einrichtungen, sondern gegen bestimmte Personen und Gremien im Unternehmen Krupp-Stahl. Die bekannten Brückenbesetzungen bildeten Akte indirekter Gewalt, die zwar die Bewegungsfreiheit der Öffentlichkeit einschränkten, aber dennoch als Ausdruck von Versammlungsfreiheit toleriert wurden. Trotz des ungleichen Verlaufs der Proteste lässt sich im Kern der einzelnen Eskalationsmomente die gleiche sozialmoralische Motivlage wie im Miners’ Strike ausmachen: Die Rheinhausener Arbeiter sahen sich als Bewahrer der herrschenden Ordnung des Strukturwandels und bezogen ihre konservativen Motive damit aus derselben moral economy wie die Bergarbeiter in Nordostengland. Trotz der relativ schnell einsetzenden Deeskalation gab es in Rheinhausen anfangs eine sehr hohe Dichte körperlicher und symbolischer Gewalt. Doch führten diese gewalttätigen Protestformen weder regional noch national zu einer Spaltung der politischen Öffentlichkeit wie in Großbritannien. Wegen dieser großen Ähnlichkeit der Protestmotive bei einer völlig ungleichen Wirkung des gewaltsamen Protesthandelns lohnt es sich, Gewalt und Empörung im Konflikt um Rheinhausen näher zu betrachten.

3.5 »Diese Ringe halten lebenslang« – Gewalt und Empörung in Rheinhausen Am Mittwoch, den 2. Dezember 1987, zogen 30 Rheinhausener Stahlarbeiter um 3:00  Uhr morgens ohne vorherige Ankündigung auf die Rheinbrücke nach Hochfeld und sperrten die zentrale Verbindung zwischen dem rechtsrheinischen Haupt173 Am 12. November waren lediglich 300 von ca. 20.000 Bergarbeitern der North East Area in die Zechen zurückgekehrt: Paul Eastham, 300 men return to N-E pits, The Northern Echo 13.11.1984.

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teil Duisburgs und ihrem eigenen, auf der linken Rheinseite gelegenen Ortsteil.174 Im Laufe des frühen Morgens schlossen sich ca. 170 Arbeiter der Frühschicht den ersten Brückenbesetzern an, so dass schließlich 200 Rheinhausener Stahlkocher auf der Brücke standen. Viele von ihnen trugen ihre Arbeitskleidung, die aus Blaumann, weißen Schutzhelmen und Sicherheitsstiefeln bestand.175 Auch Anwohner, Betriebsrentner und Frauen kamen auf die Brücke und versorgten die demonstrierenden Arbeiter mit Kaffee und Brötchen. Die Demonstranten hielten ein improvisiertes Transparent mit der Aufschrift »Cromme: Diese Ringe halten lebenslang« hoch. Darüber waren die drei Ringe des Krupp-Firmenlogos dargestellt, doch in den zwei unteren Ringen waren Hände hinzugefügt worden und dazwischen hatte man Kettenglieder gemalt. Die nahtlosen Eisenbahnräder der Firma Krupp, einst der Stolz deutscher Schwerindustrie, sollten als Handschellen für den Mann dienen, der Rheinhausen »plattmachen« wollte: Dr. Gerhard Cromme, Vorstandsvorsitzender von Krupp-Stahl und Ziel aller Protestwut der vergangenen fünf Tage. Die Brücke nach Hochfeld wurde aber aus einem ganz speziellen Grund besetzt, der weniger in der allgemeinen moralischen Empörung lag und mehr mit der belegschaftsinternen Diskussion über die richtige Form des Protests für das eigene Hüttenwerk und den eigenen Stadtteil zu tun hatte. Der Tag vor Brückenbesetzung war für die Rheinhausener Aktivisten ein anstrengender und lebhafter Protesttag gewesen. Am 1. Dezember hatten sie Betriebe der Krupp Stahl AG in Bochum, Hagen, Düsseldorf und Siegen besucht, um dort »Informationsveranstaltungen« mit den Kollegen abzuhalten. Am Abend diskutierten Stahlarbeiter und Anwohner in der sogenannten Menage, die sonst als Werkskantine diente, über das Für und Wider einer offen erklärten Betriebsbesetzung. Am 30. November hatte die erste große Betriebsversammlung im Walzwerk stattgefunden, zu der Gerhard Cromme nach Rheinhausen gekommen war, woraufhin er ausgebuht und mit Eiern und Apfelsinen beworfen wurde. Danach, in der Nacht auf den 1. Dezember, wurden die Ortseingangsschilder von Rheinhausen mit »tothausen« übersprüht.176 Am Vorabend der Brückenbesetzung entschieden sich die anwesenden Arbeiter und Bürger dagegen, ihren Betrieb offiziell für besetzt zu erklären und verständigten sich stattdessen auf eine so174 Lothar Bewerunge, In Duisburg glimmt die Lunte – in Rheinhausen steht das Pulverfaß, FAZ 4.12.1987; Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 17; Martin Plüm, Die Chro­ nologie eines Arbeitskampfes. Woher nehmen diese Menschen bloß ihre Kraft, in: Freundeskreis lebendige Grafschaft e. V. (Hrsg.), Jahrbuch 1988/89. Beiträge zur Heimat- und Kulturpflege, Duisburg 1988, S. 8. 175 Die später häufig eingesetzte silberfarbene Feuerschutzkleidung spielte noch keine Rolle, da sie auch im Stahlwerk nicht sehr häufig und nur in wenigen Arbeitsbereichen getragen wurde. Daran wird deutlich, dass die Aktionen der ersten Tage tatsächlich aus dem Schichtbetrieb heraus entstanden. Feuerschutzkleidung kam z. B. beim Parteitag der NRW-CDU am 11.12.1987 zum Einsatz, also einen Tag nach dem Stahlaktionstag: Karl Wagemann, CDU-Parteitag an der Seite der Stahlarbeiter, NRZ 12.12.1987. 176 Lothar Bewerunge, Die Arbeiter haben Tränen der Ohnmacht in den Augen. Das Sterben der Stahlstandorte, FAZ 2.12.1987. Vgl. auch: Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 10.

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genannte »stille Betriebsbesetzung«. In der Begründung für diese Entscheidung, die im Dokumentationsheft des Betriebsrats festgehalten wurde, zeigt sich die per­ sönliche Identifikation mit dem eigenen Werk, die dem Beschluss zugrunde lag: Betriebsbesetzung: Das war die Forderung, die viele von uns in den ersten Tagen nach Bekanntwerden der Stillegungsbeschlüsse im Mund hatten. Aber im Grunde genommen war und ist der Betrieb bereits in der Hand der Belegschaft. Denn wir entscheiden, ob und wann produziert wird, […] Damit wurde auch ausgedrückt, was jeder weiß: Krupp ist ein Teil von Rheinhausen, also kann auch jeder diesen Teil betreten.177

Die Brückenbesetzung war also keineswegs nur eine spontane Verkehrsblockade, sondern vor allem ein sichtbares Zeichen für die bereits erfolgte »stille Besetzung« des Stahlwerks. Mit ihr markierten die Arbeiter Werk und Stadtteil als e i g e n e n Raum und demonstrierten so durch körperliche Machtausübung ihren Anspruch auf gerechte Behandlung innerhalb bestimmter räumlicher, sozialer und politischer Grenzen. Die spontane Sperrung der Rheinbrücke und einiger anderer Verkehrsknotenpunkte in Rheinhausen erlangte zudem eine besondere politische Bedeutung, weil noch während der Sperren Ministerpräsident Johannes Rau ins Rheinhausener Stahlwerk reiste und dort den Arbeitern seine eigene Empörung über die angekündigte Schließung mitteilte.178 Die parteipolitische Orientierung zur SPD und Raus Charisma standen für die Rheinhausener Arbeiter also trotz ihrer Protestaktion keineswegs zur Debatte, vielmehr ergänzte sich beides auf widersprüchliche Weise: Rau wurde, wie auch der Duisburger Oberbürgermeister Jupp Krings, von Anfang an geradezu als Schutzpatron verehrt. Auf dem Pressefoto der Rheinischen Post sieht man die Vertreter der Rheinhausener Arbeiter um Rau herum scheinbar grundlos, aber dennoch selig lächeln. Die persönliche Ausstrahlung Raus ist bereits zeitgenössisch karikiert worden und trieb politische Gegner regelmäßig zur Verzweiflung. Wenn man die Rheinhausener Proteste aber als sozialmoralisch motivierten Protest versteht, kann sie durchaus zu einer sinnvollen Erklärung des Protesthandelns und der politischen Reaktion darauf beitragen. Charismatische Führungspersonen, die scheinbar über dem konkreten Konflikt stehen, dienen im Aufruhr als Garanten der moral economy. Die Protestierenden sahen in Rau einen Garanten für die moralische Legitimität ihrer (in Wahrheit interessengeleiteten) Forderungen. Die Botschaft des Protests war daher durchgehend konservativ und regelorientiert: Wir Arbeiter können und werden den sozialfriedlichen Modus des Strukturwandels stören, wenn die Unternehmensführung weder den paritätischen Charakter der industriellen Beziehungen, noch die individuellen Zusicherungen an Rheinhausen respektiert. Die Rheinhausener Arbeiter sahen im sozialfriedlichen Ethos der Montanmitbestimmung einen Hauptgrund für den 177 O. A. / vermutl. Theo Steegmann, Stille Betriebsbesetzung, in: Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 16. 178 Schroeder / Preuss / Schröder, Stahlwerker sperrten ganzen Stadtteil ab, Rheinische Post 3.12.1987.

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Beschluss, ausgerechnet ihr Werk »plattzumachen«, und kritisierten die Führung der IG Metall scharf: »Und dem Herrn Steinkühler: Dein Verein hat schon einmal versucht, für eine Mark etwas zu verkaufen. Wir in Rheinhausen lassen uns nicht verscherbeln. Uns verkauft keiner: Weder für dumm, noch im Sack.«179 Doch die Rheinhausener Proteste bedrohten die etablierte Ordnung des Strukturwandels vor allem deshalb, weil sie für eine kurze Zeit zwischen dem 27. November und dem 9. Dezember den etablierten Modus der Konfliktbewältigung für den Fall einer Werksschließung in Frage stellten. Allerdings überschritten sie die Grenzen des Routinekonflikts »Stilllegung in der Schwerindustrie« nicht nur argumentativ. Physische Gewalt bildete für sie vielmehr ein notwendiges Mittel, um über ein etabliertes Verlaufsmuster für Protest im demokratischen Wohlfahrtsstaat hinauszugehen. Diese Notwendigkeit von Gewalt ist indes weder als moralische Rechtfertigung noch als juristische Begründung zu verstehen, sondern lediglich als praxisgeschichtliches Faktum. Unter Berücksichtigung aller gegebenen Bedingungen der Proteste (Montanmitbestimmung, Optimierungsvereinbarungen und Zusagen, politische Einbindung des Strukturwandels) bildete Gewalt das effizienteste Mittel des Protests. Würde man Rheinhausen hingegen als einen scheingefährlichen Karneval des Widerstands auffassen, täte man nicht nur der dortigen sozialen Bewegung unrecht, man würde auch die gemeinhin tabuisierte Bedeutung von Gewalt für soziale Konflikte in der westdeutschen Zeitgeschichte falsch verstehen. Physische Gewalt, Nötigung und Zwang begleiteten den Rheinhausener Protest nicht nur, sondern brachten ihn überhaupt erst hervor. Gewaltdrohungen und tatsächliche Gewalt waren essentiell für die Konstituierung des Protests. Das unbedingte Beharren auf der Einhaltung sozialmoralischer Spielregeln musste mit der Aufkündigung bestimmter Verhaltensnormen einhergehen. Dieses Verhältnis der Proteste zu physischer Gewalt rechtfertigt überdies den Vergleich zwischen dem Miners’ Strike und Rheinhausen als Momente bedrohter Ordnung. Denn obwohl der britische Bergarbeiterstreik erst mit der Zeit zu einem Fundamentalkonflikt wurde, war er von Anfang an von ähnlichen Bedrohungswahrnehmungen begleitet. Die Rheinhausener Proteste hingegen begannen als Fundamentalkonflikt und konnten erst unter hohem Einsatz etablierter politischer Institutionen in den Modus des Routinekonflikts zurückgeführt werden.180 Diese ambivalente Wirkung des sozialmoralischen Protestmotivs zeigte sich auch bei den anderen spontanen Aktionen in den ersten zwei Wochen der Rheinhausener Aktionen. Hier stechen vor allem die sogenannte »Erstürmung« der Krupp-Stahl-Zentrale am 7. Dezember und der »Sturm auf die Villa Hügel« am 9. Dezember 1987 hervor. Am 7. Dezember ›stürmten‹ einige Rheinhausener Arbeiter den Sitzungssaal in der Firmenzentrale in Bochum, wo an diesem Tag Sitzungen des Vorstands und des Aufsichtsrats von Krupp-Stahl stattfinden 179 Helmut Laakmann, »Glück auf, Kollegen, …«, in: Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 13. 180 Vgl.: Imhof, Öffentliche Konflikte, S. 367–372.

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Abb. 13: Am 7. Dezember 1987 stürmen Krupp-Arbeiter aus Rheinhausen und anderen Standorten von Krupp-Stahl die Vorstandsetage des Krupp-Stahl Gebäudes in Bochum, © Manfred Vollmer.

sollten (Abb. 13). Die Arbeiter aßen die bereitgelegten Schnittchen und rauchten die Zigarren, die damals anscheinend fester Bestandteil der Sitzungen waren.181 Einige Arbeiter läuteten sogar, wie bei einem mittelalterlichen Zunftprotest, eine große Glocke, die – als Zeichen des Handwerksstolzes auf den eigenen Gussstahl – im Foyer der Krupp-Stahl-Zentrale aufgebaut war.182 Die beiden »Erstürmungen« in Bochum und Essen bildeten die einzigen Momente der Rheinhausener Proteste, in denen es zu einer Art »Vorwärtspanik« kam, dem rauschhaften Vordrängen einer Menschenmasse in einer räumlich beengten Situation.183 Dem Vorwärtsdrängen der aufgebrachten Stahlarbeiter folgten allerdings keine Gewaltexzesse, wie sie sich etwa beim Easington riot im August 1984 ereigneten. In einem Zeitungsbericht in der überregionalen Presse wird zwar erwähnt, dass einige Arbeiter begonnen hätten, Mobiliar zu zerstören, dann aber von Kollegen davon abgehalten worden seien.184 Die regionalen Berichterstatter verschwiegen diesen Umstand oder hielten ihn für unwichtig.185 Die Bochumer Aktion entstand am Rande einer größeren Demonstration gegen 181 Rainer Zimmermann, Betriebsrat: »Arbeiter und Bürger sind bereit zu zivilem Ungehorsam.«, NRZ 8.12.1987; O. A., Aufsichtsrat ohne Schnittchen und Zigarren, RP 8.12.1987; Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 18–20. 182 Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 19. 183 Collins, Violence, S. 83–133. 184 Klaus Scheffer, Das Ruhrgebiet brennt, Die Zeit 11.12.1987. 185 Zimmermann, Betriebsrat, NRZ 8.12.1987; O. A., Aufsichtsrat, RP 8.12.1987.

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Schließungen und Kürzungen bei Krupp-Stahl, an der Mitarbeiter aller KruppStandorte beteiligt waren. Die Rheinhausener waren also nicht unter sich. Aus den Bildern und den Presseberichten geht hervor, dass nur die Betriebsratsmitglieder Beckers und Steegmann sowie einige Jugendfunktionäre an der Aktion teilnahmen. Vielleicht wollten Beckers und Steegmann, dadurch dass sie die Gruppe begleiteten und die Energie rhetorisch kanalisierten, auch ein Minimum an Kontrolle über ihre Kollegen wahren. In jedem Fall stellte die ›Erstürmung‹ des Sitzungssaals keine unkontrollierte Eskalation des Protests dar. Die Teilnehmer regulierten sich gegenseitig und seitens des Unternehmens suchte der Aufsichtsratsvorsitzende von Krupp-Stahl, Wilhelm Schneider, das Gespräch mit den Demonstranten, die in die Firmenzentrale eingedrungen waren. Auch gab es Vorbilder: Bereits 1982 hatten die Rheinhausener Arbeiter einen Sitzungssaal in der Hauptverwaltung ihres Werkes ›gestürmt‹, um ein Gespräch mit dem Arbeitsdirektor zu erzwingen.186 Mit Blick auf die nordrhein-westfälische Polizei und das Unternehmen Krupp-Stahl ist zudem hervorzuheben, dass die Firmenzentrale nicht abgeriegelt worden war und weder Krupp noch die zuständige Staatsanwaltschaft sich an einer Strafverfolgung interessiert zeigten. Obleich dieser Schluss spekulativ bleiben muss, erweckt die Konstellation des »Sturms« auf Krupp-Stahl insgesamt den Eindruck einer weitestgehend tolerierten, symbolischen Protesthandlung, bei der sich die empörten Arbeiter abreagieren konnten, ohne größeren Schaden anzurichten. Der »Sturm auf die Villa Hügel« am 9. Dezember folgte zwar einer ähnlichen Dynamik wie die Aktion in Bochum zwei Tage zuvor, allerdings kam es hier – im Unterschied zu der Bochumer Aktion – zu einer engeren Kontaktaufnahme zwischen Vertretern des Krupp-Aufsichtsrats und den protestierenden Arbeitern. Eigentlich sollte der Protest nur darin bestehen, dass der Betriebsrat dem Aufsichtsratsvorsitzenden des Krupp-Gesamtkonzerns, Berthold Beitz, eine Petition übergibt. Auch für diese Aktion hatte es bereits 1982 ein Vorbild gegeben.187 Beitz füllte hier die Rolle eines Patriarchen aus, der den Arbeitern im Gegensatz zu Cromme als respektabler Verhandlungspartner galt, weil er nicht direkt für die Entscheidungen des Vorstands verantwortlich gemacht wurde.188 Die Rheinhausener Stahlarbeiter waren vor der Villa Hügel fast unter sich und die 500Mann starke Abordnung wurde von mehreren Betriebsräten des Werks begleitet. Während der Übergabe der Petition äußerte Beitz, dass es in der anstehenden Sitzung keine Entscheidung über Rheinhausen geben würde. Die Masse der Arbeiter reagierte wütend auf diese Nachricht und Beitz erklärte dann, dass er eine Delegation zu einem längeren Gespräch in der Villa Hügel empfangen würde. Als diese Gruppe die Villa betrat, drängten einige der Arbeiter, die eigentlich draußen bleiben sollten, mit ihr bis in die große Empfangshalle vor. Dort wurden sie 186 Verstappen, Ein Schienenstück, S. 21. 187 Ebd., S. 20. 188 Lutz Heuken, Stahlwerker saßen am offenen Kamin in der Villa Hügel. Auf Beitz setzen sie ihre Hoffnung, WAZ 10.12.1987.

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von den IG -Metall-Vertretern aus dem Aufsichtsrat beruhigt, doch bei der Rückkehr der zehnköpfigen Delegation kam es erneut zu Unruhe und wieder drangen Arbeiter, die noch draußen standen, in das Gebäude ein.189 Erst dann erschien der DGB -Vorsitzende Ernst Breit, der ebenfalls dem Aufsichtsrat angehörte, um die Protestierenden nochmals mit seiner ganzen Autorität zur Zurückhaltung aufzufordern.190 Viel stärker als in Bochum verdichtete sich beim »Sturm auf die Villa Hügel« also der Konflikt zwischen der Belegschaft des Rheinhausener Werks und der IG Metall als Interessenvertreterin der Beschäftigten des Konzerns. Die IG -Metall-Funktionäre aus dem Aufsichtsrat waren nicht in der Lage, die Menge zu beruhigen. Dies gelang erst dem DGB -Vorsitzenden Ernst Breit,191 dem höchsten deutschen Gewerkschaftsvertreter, der – ähnlich wie Johannes Rau als Ministerpräsident – durch Habitus und Sprache von den Stahlarbeitern als Vertreter ihrer Interessen wahrgenommen werden konnte, doch zugleich genug Autorität besaß, um nicht als Konfliktpartei zu gelten. An der Berichterstattung und den Aussagen einzelner Stahlarbeiter und Vertreter des Betriebsrats, wie »›Wenn wir richtig loslegen, dann sind die Demonstranten von der Hamburger Hafenstraße nur noch liebe Jungs gegen uns,‹ […].«192, wird deutlich, dass sich die Protagonisten mit ihrem Handeln im Feld der zeitgenössischen Debatten über Gewalt als Mittel der Politik und als Machtinstrument des Staates zu bewegen wussten. Diese Selbstvergewisserungsdiskurse standen im Westdeutschland der 1980er Jahre, im Gegensatz zu Großbritannien, nicht im Zeichen einer Niedergangsrhetorik; Streiks und industrielle Beziehungen spielten darin im Allgemeinen nur eine sehr geringe Rolle. Der zeitgenössische Diskurs konstruierte vielmehr eine Erfolgsgeschichte der friedlichen inneren Ordnung in der zweiten deutschen Demokratie. Angesichts des linksradikalen Terrorismus der 1970er Jahre definierten sich insbesondere die Neuen Sozialen Bewegungen als Gruppen, die nicht bloß ausdrücklich auf direkte, physische Gewalt als Mittel zur Erreichung politischer Ziele verzichteten, sondern die darüber hinaus auch auf konventionelle Formen hierarchischer und formaler Machtausübung verzichten wollten.193 Dennoch blieb der Wandel des Politischen in Westdeutschland weiterhin von diffusen Befürchtungen vor einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung begleitet.194 In Folge der Rheinhausener Proteste kam es daher zu publizistischen Versuchen, angstbesetzte Topoi von gewalttätigen Arbeitern zu instrumentalisieren:

189 Joachim Preuss, Feuer vor der Villa Hügel, RP 10.12.1987. 190 O. A., Breit muß wütende Stahlarbeiter beruhigen, SZ 10.12.1987. 191 Vgl. die biographische Skizze bei: Hans-Otto Hemmer, Meister des Ausgleichs. Der DGB Vorsitzende Ernst Breit, in: Ders. (Hrsg.), Ausgleich mit Augenmaß. Gespräche mit Ernst Breit, Düsseldorf 2010, S. 9–27. 192 Steegmann, zit. n.: O. A., Aufsichtsrat, RP 8.12.1987. 193 Mecking, Protest, S. 524 f.; Schregel, Die »Macht der Mächtigen«, S. 409–413. 194 Zum Zusammenhang von Ordnungsdenken und Wandel des Politischen in den 1980er Jahren, vgl.: Wirsching, Der Preis der Freiheit, Bonn 2012, hier S. 308–313.

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Doch bei allem Verständnis für die je eigene Existenz: die Blockaden in Duis­burg dürfen von Staats wegen nicht geduldet werden. Politiker, die über die Vorgänge den Schaum ihrer Redegewandtheit legen, machen sich schuldig: sie verwischen die ohnehin zurückgehende Bereitschaft, die Rechtsordnung anzuerkennen, auch dann – und darauf kommt es an –, wenn diese Rücksicht gegen den Strich der eigenen Interessen geht.195

Solche Äußerungen, die vor Rechtsbrüchen durch die Arbeiter warnten, fielen im lokalen Duisburger Kontext allerdings im Ton gemäßigter aus, selbst wenn sie von eindeutig konservativen politischen Akteuren geäußert wurden. Die grundsätzliche Feindschaft konservativer Protagonisten gegen Gewerkschaften, die beim Miners’ Strike auch für den lokalen Kontext festzustellen ist, fehlte in Rheinhausen. Denn dort konnte der Protest gegen die Werksschließung auch von Vertretern der mittelständischen Wirtschaft mit Fragen des Strukturwandels, also nach der konkreten wirtschaftlichen Zukunft der Stadt, in Zusammenhang gebracht werden. Versuche, wie in dem Zeitungskommentar der FAZ , einen allgemeinen Verfall öffentlicher Ordnung als Kontext für die Proteste aufzurufen, fanden hier kaum Anklang. Einerseits hatte sich die gesellschaftliche Debatte über öffentliche Ordnung und Streiks bereits vor Rheinhausen in den sogenannten Aussperrungsstreiks in der Druck- und Metallbranche Anfang und Mitte der 1980er erschöpfend mit dem Thema befasst.196 In der westdeutschen Öffentlichkeit waren 1987 alle Argumente über die Rechtmäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen, Straßenblockaden und Besetzungen ausgetauscht. Im Vergleich mit Großbritannien fällt aber vor allem auf, dass der Diskurs auf keiner Ebene Deutungsfiguren zur Verfügung stellte, welche die industriellen Konflikte mit einem wirtschaftlichen oder gar moralischen Niedergang der gesamten Nation in Verbindung brachten. Im britischen »Declinismus« war diese Verbindung sowohl von Konservativen als auch von Labour seit den 1960er Jahren mit dem Topos »Übermacht der Gewerkschaften« dagegen wieder und wieder beschworen worden. Die Art, in der die Themen Streik und Strukturwandel im Konflikt um Rheinhausen in Zusammenhang gebracht wurden, tritt in einem Bericht über eine öffentliche Podiumsdiskussion des CDU-Ortsvereins Duisburg-Wanheim deutlich hervor. Hier äußerte sich der Hauptgeschäftsführer der IHK-Niederrhein, Theodor Pieper, ein CDU-naher Wirtschaftsfunktionär, zu den Methoden der Konfliktaustragung: Wenn die weiteren Proteste der Stahlarbeiter »zügellos und ohne Maß und ohne Ziel ausfallen sollten, dann sieht der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer, Dr. Theodor Pieper, die Stadt Duisburg insgesamt als Standort für Wirt-

195 O. A., Streik und Nötigung, FAZ 11.12.1987. 196 Für die Diskussion im IG Metall-Vorstand Mitte der 1980er Jahre, siehe: Metall Pressedienst 13. März 1985, IG Metall: Betriebsbesetzungen sind rechtswidrig, Archiv der sozialen Demokratie IG Metall Vorstand 5/IGMA 45270142, Depositum Hans Mayr, S. 1–3; Redemanuskript Beiratssitzung 12.03.1985, S. 18–21; für eine Gegenposition: Otto Graf Lambsdorff, in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 10/70, 4.Mai 1984, S. 4983–4985.

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schaftsunternehmen gefährdet. […] Selbst eine Gefährdung der politischen Stabilität schließt er nicht aus.197

Pieper sprach sich grundsätzlich für den Erhalt der Traditionsindustrie Stahl in Deutschland und vor allem in seinem IHK-Bezirk unter den Bedingungen eines fairen Wettbewerbs in Europa aus. Er kritisierte Subventionen weniger als Machtmittel der Gewerkschaften, sondern vielmehr als unfaire Wettbewerbsverzerrung in der Europäischen Gemeinschaft: Im Übrigen hält Pieper Rheinhausen für ein »Fanal«. »Zum ersten Male wird in der Bundesrepublik ein voll wettbewerbsfähiger Hüttenkomplex aufgegeben. Und dies an einem Standort, der der beste im Bundesgebiet oder sogar in Europa ist.« Das sei nicht die Folge unternehmerischen Versagens, sondern das Resultat der EG -Subventionen. […] Die Rheinhausener Vorgänge würden allerdings auch die Krise des Landes Nord­ rhein-Westfalen offenbaren. Das Land habe es nicht geschafft, den Strukturwandel zu bewältigen.198

Obwohl Pieper sich stärker als gewerkschaftliche und kommunalpolitische Akteure auf ein unternehmerisches Ideal bezog, orientierte auch er sich am Rahmen eines staatlich gestalteten Strukturwandels. Deshalb stellte Pieper nur das konkrete Management des Wandels und nicht die Anforderung, dass es vom Staat durchgeführt werden sollte, in Frage. Selbst die zunächst befremdlich anmutende Rede von einer »Gefährdung der politischen Stabilität« dürfte zu einer von Unternehmern, Gewerkschaften und Lokalpolitik gleichermaßen gern bemühten Drohkulisse gehört haben,199 die im Wesentlichen dazu diente, weitere öffentliche Finanzhilfen für die Region Ruhrgebiet zu erlangen.200 Trotzdem veranlasste die Form der Proteste auch die Vorsitzenden der Arbeitgeberverbände im Stahlbereich zu fundamentalen Erklärungen zu den Protesten in Rheinhausen. In einem offenen Brief an den Vorsitzenden der IG Metall, Franz Steinkühler, und den Leiter des Stahlbüros in Düsseldorf, Georg Ippers, machten sie ihrem Unmut Luft: Sie wissen, daß Arbeitsniederlegungen mit solchen tariflich nicht regelbaren Zielen ohne jeden Zweifel rechtswidrig sind. […] Wir haben kein Verständnis für rechtswidrige Aktionen, die von den Arbeitnehmern – unterstützt durch die IG Metall oder 197 Peter Hardt, IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Theodor Pieper warnt »Zügellose Aktionen schaden der Stadt«, RP 9.12.1987. 198 Ebd. 199 Vergleiche auch Teletex Message Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg, Dr. Theodor Pieper u. a. an Herrn Dr. Herbert Schnoor, Innenminister des Landes NRW, Duisburg 9. Dezember 1987 – 324, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, NW 782 Nr. 108. 200 Christoph Nonn, Deindustrialisierung und Politik. Das Beispiel der Krise des Ruhrbergbaus 1958–1969, in: Manfred Rasch / Dietmar Bleidisch (Hrsg.), Technikgeschichte im Ruhrgebiet. Technikgeschichte für das Ruhrgebiet, Essen 2004, S. 544–558, hier S. ­549–551; Tenfelde, Arbeitskämpfe, S. 16 f.

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organisiert von der IG Metall – durchgeführt werden. Die krasse Widerrechtlichkeit solcher Aktionen ist in einem Rechtsstaat nicht hinnehmbar.201

Wie nicht anders zu erwarten, wies Steinkühler das Ansinnen der Arbeitgebervertreter scharf zurück: Ihr Schreiben vom 9. Dezember stellt eine Verhöhnung der Stahlbelegschaften und eine Provokation der Industriegewerkschaft Metall dar: […] Darüber hinaus setze ich Sie mit dem gebotenen Ernst und dem erforderlichen Nachdruck davon in Kenntnis, daß die IG Metall mit keinem Atemzug daran denkt, sich von den Aktionen der Arbeitnehmer zu distanzieren und die Menschen im Stich zu lassen, die um ihre persönliche Existenz in der Gegenwart und um eine soziale Perspektive für die Zukunft kämpfen. […] die Mitgliedsfirmen Ihrer Verbände […] haben es heute in der Hand, derartige Protestaktionen dadurch zu verhindern, daß sie die Bindung des Privateigentums an das Allgemeinwohl herstellen […]202

Den Vorwurf mangelnder Rechtsstaatlichkeit beantwortete Steinkühler mit einer allgemeinen Herleitung der grundgesetzlichen Gemeinwohlbindung des Eigentums. Die Ausführungen des IG -Metall-Vorsitzenden waren zwar von einer moralischen Argumentation durchzogen, diese wies aber kaum Bezüge zu den konkreten, sozialmoralischen Motiven im Protest der Rheinhausener Arbeiter auf, sondern blieb vielmehr in Allgemeinplätzen stecken. Die Beschwerde der Arbeitgebervertreter Kriwet und Zimmermann enthielt dagegen sogar einen deutlichen Hinweis auf eine mögliche Ebene für pragmatische Kompromisse: Die etablierten rules and practices des Systems der Tarifverhandlungen. Dennoch wirkten sich die Diskussionen über die Legalität der Protestformen in spezifischer Weise auf das Selbstbild der Protestierenden und die politischen Bemühungen um eine Kompromisslösung für Rheinhausen aus. Die Rheinhausener Arbeiter beanspruchten für ihr Handeln eine sozialmoralische Legitimität, die sich aus geordneten und gesetzmäßigen Verfahren herleitete. Von dieser Ebene aus argumentierten sowohl die direkt Betroffenen als auch die reviernahen Politiker aller Parteien tatsächlich anders als es z. B. Franz Steinkühler tat, dem die spezifische moral economy des Strukturwandels im Ruhrgebiet anscheinend fremd blieb, obwohl er als IG -Metall-Vorsitzender die Stahlarbeiter repräsentieren sollte. Aber wie beeinflusste die scheinbare Bedrohung der öffentlichen Ordnung die Rheinhausener Proteste? Hier ging es vor allem um deren Auswirkungen auf das sozial verankerte, aber kulturell vermittelte Selbstbild der Region Ruhrgebiet. Zum Beispiel verfasste der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Theo Steegmann, der einen Habitus als unkonventioneller, jugendlicher Gewerkschafter pflegte, als Reaktion auf einen Bericht des Spiegels einen

201 Heinz Kriwet u. a., Im Wortlaut: Stahl-Unternehmer. Wir haben kein Verständnis, Frankfurter Rundschau 11.12.1987. 202 Franz Steinkühler, Steinkühler: Ich schreibe im Zorn, ebd.

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empörten Leserbrief, in dem er die Darstellung der Rheinhausener Arbeiter als primitive Chaoten scharf zurückwies: Aber unser Kampf ist nach Wiedemann [Verfasser des Spiegel-Artikels, A. H.] nicht nur historisch überholt, sondern auch ausgesprochen ungesetzlich. Er wird angeführt durch den BR-Boß Bruckschen […]. Ihm steht eine ganze Bande von Fieslingen zur Verfügung: Löllgen, »fett« wie Bonzen nun mal zu sein pflegen, oder der autoritärunwirsche Beckers. Sie gebieten über ein Heer von Störern, die sich in der »Ritzendiele« natürlich mit Bier und Korn (wie im Ruhrgebiet üblich) in Stimmung gebracht haben.203

Während Steegmann hier eine kolportagehafte Darstellung der Proteste im Namen des Betriebsrats gekonnt persiflierte, waren sich die empörten Arbeiter und Anwohner ohne viel Humor sicher, keine ›Chaoten‹ zu sein: Hier ist nicht die Hafenstraße: wir werden keine Gewalt anwenden. Wir lieben diese Gewalt nicht, Herr Dr. Cromme, die ihnen ja so bekannt ist. Wir werden uns auch nicht vermummen. Es wird eine Zeit geben, wo sie sich vermummen müssen, Herr Dr. Cromme, damit sie keiner erkennt.204

Die Rheinhausener Arbeiter sahen also nicht nur sich selbst als ordnungsliebende, gewaltfreie Staatsbürger. Für die moralische Legitimierung ihres Protests war es unerlässlich, das Verhalten der Gegenseite als moralisch verwerflich – nichts anderes bedeutet »Gewalt« hier – zu kennzeichnen. So müssen die Verbrennung der Cromme-Puppe am 27. November 1987, das Banner mit der Aufschrift »Cromme: diese Ringe halten lebenslang« bei der ersten, spontanen Brückenbesetzung am 2. Dezember 1987 oder der Sturz des Denkmals für Friedrich Alfred Krupp am 8. Dezember 1987 als Ausdruck eines sozialmoralisch bestimmten Protestmodus gelesen werden. Die Rheinhausener Arbeiter sahen sich in den ersten zwei Wochen des Protests von allen verlassen, die ihnen moralisch Hilfe schuldig waren. Weder das Unternehmen Krupp, noch die eigene Gewerkschaft IG Metall, noch die SPD waren ihrer Aufgabe, das Werk zu erhalten, nachgekommen. Das Stellvertretersystem hatte versagt. Trotzdem äußerte sich die Empörung der Rheinhausener Arbeiter gerade nicht darin, dass sie dieses System in Frage stellten, sondern in empörten, teils handfest untermauerten Appellen an diejenigen, die sie als ihre Stellvertreter, Sachwalter oder Vorgesetzte betrachteten. Die Stahlarbeiter adaptierten dabei auch Elemente des westdeutschen Verfassungspatriotismus als strategische Argumente in die moralische Ökonomie ihres Protesthandelns.

203 Theo Steegmann / Betriebsrat Werk Rheinhausen der Krupp Stahl AG – Redaktion »Der Spiegel«, 19.1.1988, Stadtarchiv Duisburg 63–45/2 Offene Briefe und Presseerklärungen des Betriebsrates Krupp Stahl AG Rheinhausen, Zeichensetzung im Original. Der Brief bezieht sich auf den Artikel von Erich Wiedemann, Warum wird der Kölner Dom nicht abgerissen?, Der Spiegel 4.1.1988, S. 41–47. 204 Laakmann, Rede 30.11.1987.

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Eine Episode aus dem Januar 1988 illustriert, wie flexibel und instrumentell die Etiketten »friedlicher Protest« und »Gewaltfreiheit« gebraucht werden konnten. Am 16. Januar 1988 baten die Mitglieder der Mahnwache am Tor 1 des Krupp-Werks die anwesende Polizeistreife darum, Vertreter einer sogenannten KPD -Gruppe, die ein Flugblatt verteilen wollten, von den Werkstoren zu entfernen.205 Der zuständige Polizeioberkommisar kam diesem Wunsch nach, brachte die vier Kommunisten auf die nächstgelegene Wache, überprüfte ihre Personalien und erteilte ihnen deutliche Platzverweise. Die Begründung des Polizisten macht deutlich, was die Rheinhausener Arbeiter unter »Gewaltfreiheit« verstanden und wie sie dieses Etikett in ihrem eigenen Sinne einsetzten. Denn die Mitglieder der Mahnwache störten sich vor allem daran, dass sie in dem Flugblatt einen Aufruf zu Gewalt sahen: Durch den Inhalt – vor allem in Zeile 3: ›Stahlarbeiter wollen nicht nur Dampf ablassen, sondern richtig zuschlagen.‹ befürchteten sie eine Aufhetzung der Belegschaft. Man sah darin eine Aufforderung zu gewalttätigen Handlungen bzw. Straftaten. Um dies zu verhindern, kündigten dort Anwesende an, daß sie die Verteiler dieser Flugblätter vor dem Tor vertreiben wollten, falls die Polizei nicht einschreite.206

Eine Kurzform des Berichts wurde als Telex-Meldung an alle Polizeidienststellen im Regierungsbezirk Düsseldorf, das BKA in Meckenheim und den Bundesverfassungsschutz in Köln verschickt.207 In diesem Telex wurden die Aktivisten der KPD zudem fälschlicher Weise als DKPler identifiziert; die schnell abgebrochene Aktion sorgte also nicht einmal für eine korrekte Erfassung der vier ›Staatsfeinde‹. Fast bekommt man ein wenig Mitleid, wenn man sich vor Augen führt, dass die größtenteils aus Frankfurt angereisten Kommunisten ihre Flugblattaktion mit einem Ausflug auf die Polizeiwache, Platzverweisen und Personenfeststellungen durch die Polizeipräsidien an ihren Wohnorten bezahlen mussten.208 Aber die Anekdote macht vor allem deutlich, dass »Verzicht auf Gewalt« von den Rheinhausener Arbeitern eher als emphatisches Bekenntnis zum bundesdeutschen Rechtsstaat und zur moralisch einwandfreien, eigenen Identität verstanden wurde und weniger als persönliche Maxime gewaltlosen Verhaltens. Wiewohl dies nicht explizit im Bericht steht, kann man davon aus205 Bericht: Betr. Verteilung von Flugblättern vor den Toren 1 und 2 der KRUPP-Stahl AG in DU-Rheinhausen durch die KPD, Friedhelm Lavreau Polizeioberkommisar Schutzbereich VI West, Duisburg 16.01.1988, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, BR 2229 Nr. 43. 206 Bericht: Verteilung von Flugblättern, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, BR 2229 Nr. 43. 207 *sss nwddufu nr 137 1601 1622=, ebd. 208 Eine ähnliche Geschichte über eine Drohung gegenüber DKP-Anhängern findet sich in: Klaus Scheffer, Das Ruhrgebiet brennt. Massenentlassungen provozieren die Beschäftigten zu radikalen Aktionen, Die Zeit 11.12.1987; Ähnliche Reaktionen auf eine Demonstration der neonazistischen »Freien Arbeiter Partei« finden sich in: Ingrid Müller-Münch, Noch rasselt der Bär nur an den Ketten, Frankfurter Rundschau 2.5.1988.

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gehen, dass der diensthabende Beamte mit dem »zufuehren zur wache zwecks personalienfeststellung«209 wahrscheinlich weniger die Belegschaft von Krupp vor einem Gewaltaufruf schützte, als vielmehr die ortsfremden Kommunisten vor einer Tracht Prügel der Stahlarbeiter bewahrte. Neben aller Komik zeigt die misslungene Flugblattaktion der Frankfurter »KPD«, wie die sozialmoralische Logik des Rheinhausener Aufruhrs gerade deshalb eine mobilisierende Kraft entfaltete, weil die zugrunde liegende Empörung immer an allgemeinen, politisch-ideologischen Bestimmungsgrößen der westdeutschen Gesellschaft wie Antikommunismus, Respekt vor dem staatlichen Gewaltmonopol der Polizei und der Orientierung an wirtschaftlicher Produktivität ausgerichtet blieb. Damit bildete die moral economy der Rheinhausener Arbeiter nicht nur den Anlass für die Eskalation der Proteste in der Anfangsphase, sondern auch schon einen möglichen Weg für die Rückführung des Fundamentalkonflikts in den Modus eines Routinekonflikts im regionalen Strukturwandel. Der Stahlaktionstag am 10. Dezember 1987 stellte daher keineswegs den Höhepunkt des Protests gegen die Schließung des Werks in Rheinhausen dar, obwohl er in vielen Medien so wahrgenommen wurde. Schlagzeilen auf den ersten Seiten der überregionalen Presse lauteten »Straßensperren und Barrikaden im Ruhrgebiet«210, »Im Revier standen die Räder still«211, »Streiks auf allen Zechen und Straßenblockaden«212 oder in sprachlicher Reminiszenz an die 1920er Jahre »Barrikaden im Ruhrrevier«213, sogar die Zeit titelte im Wirtschaftsteil »Das Ruhrgebiet brennt«214. Mit den Berichten aus Rheinhausen wurde also – zumindest auf den ersten Blick – eine Semantik sozialer Unruhe bedient, die auf einer anachronistischen Wahrnehmung des Ruhrgebiets und einem ebenso veralteten Bild Westdeutschlands als schwerindustriell geprägter Gesellschaft beruhte. Die regionalen Zeitungen, allen voran die konservative Rheinische Post, betonten dagegen unter dem Motto »Stahlarbeiter riegelten Duisburg ab – die Stadt war vorbereitet«215 den relativ störungsfreien Ablauf des Geschehens sowie die gute Kooperation zwischen Blockierern und Polizei und die breite Unterstützung aus der Bevölkerung. Die sozialdemokratische NRZ veröffentlichte eine regelrechte Lobeshymne auf die Polizei: Der Stahlaktionstag am Donnerstag hat es bewiesen: Dank der Zusammenarbeit zwischen IG Metall, Betriebsräten und der Polizei blieb die Furcht vor Gewalt völlig unbegründet. Polizisten aller Schutzbereiche standen zum Teil seit 4:30 an den geplanten 35 Blockadepunkten […] und bewiesen, daß sie im besten Sinne Freunde und Helfer

209 210 211 212 213 214 215

*sss nwddufu nr 137 1601 1622=, ebd. Lothar Bewerunge, Straßensperren und Barrikaden im Ruhrgebiet, FAZ 11.12.1987. O. A., Im Revier standen die Räder still, Frankfurter Rundschau 11.12.1987. Hans-UIrich Jörges, Streiks auf allen Zechen und Straßenblockaden, SZ 11.12.1987. Corinna Krawaters, Barrikaden im Ruhrrevier, taz 11.12.1987. Klaus Scheffer, Das Ruhrgebiet brennt, Die Zeit 11.12.1987. Bernward Lamerz, Zehn Leichtverletzte an den Straßensperren, RP 11.12.1987.

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sind. Die IG Metall meinte abends: Das war mehr als gute Zusammenarbeit, das war Solidarität!216

Die Demonstrationen, Verkehrsblockaden und Brückensperrungen am 10. Dezember markierten einen endgültigen Wendepunkt im Konfliktverlauf. Die Protestaktionen, die nun von der IG -Metall koordiniert wurden, normalisierten die Rheinhausener Proteste in zwei Richtungen. Die Gewerkschaft betonte die »revierweite« Solidarität, also die Wirkung der Schließungen für die gesamte Eisen- und Stahlbranche und die Wohnbevölkerung des Ruhrgebiets. Sie brachte die negativen Folgen der bisherigen Schließungen an anderen Orten, von denen Rheinhausen ja gerade nicht betroffen gewesen war, so mit der nun angekündigten Stilllegung des Rheinhausener Werks in Zusammenhang. Zum anderen thematisierte die Gewerkschaft in einem breiten Zugang soziale Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit, schrumpfende ökonomische Perspektiven und weitergehende Fragen nach dem Charakter der »Arbeitsgesellschaft« in der Region.217 Beide Argumentationsstränge wurden immer zusammen mit der regionalen Identität des Ruhrgebiets als Industrieregion und den vergangenen wie gegenwärtigen Leistungen von Arbeitern in der Schwerindustrie thematisiert, allerdings bezogen sich sowohl die Anerkennung für wirtschaftliche und soziale Leistungen wie auch die Appelle an politische Hilfsbereitschaft niemals ausschließlich auf die montanindustriellen Branchen. Trotz der weiterhin organisationskritischen Zwischentöne bildete nun sogar für die Rheinhausener Arbeiter »das Ruhrgebiet« den Fluchtpunkt aller Argumente und Gefühle: In fast allen Städten des Reviers hatte es Streiks, Blockaden und Aktionen gegeben. Das hatten nicht wir in Rheinhausen, das hatten auch die IG Metall und der DGB nicht geplant. Das war spontan und phantasievoll und wurde von den vielen Kolleginnen in Betrieben und Verwaltungsstellen organisiert, die mit uns erkannt haben, daß unser Kampf nur als gemeinsamer Kampf eine Chance hat.218

Nach dem Jahreswechsel organisierte nun mehr und mehr der IG Metall Bezirk großangelegte Protestaktionen wie die Demos der IG Metall Jugend in allen großen Ruhrgebietsstädten vom 19. bis zum 22. Januar 1988.219 Diese Veranstaltungsreihe unter dem Motto »Jugend für das Revier – Statt Marsch in den Süden Arbeitsplätze in den Revieren« [sic] rahmte die Großkundgebung am 20. Januar 1988 zur »Brückentaufe« der Rheinbrücke von Rheinhausen nach Hochfeld ein, die in Anwesenheit von mehr als 6.000 Stahlarbeitern den Namen »Brücke der Solidarität« erhielt. Das Namensschild wurde den Rheinhausenern von den 216 Axel Schappei, Zur Sache. Duisburgs Polizei ist spitze!, NRZ 12.12.1987. 217 Vgl. IG Metall Jugend für das Revier, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Düsseldorf, BR 2229 Polizeipräsidium Duisburg Nr. 43, Polizeieinsatz anlässlich der KruppAktionswochen 1987–88, o. D. (vor 19.1.1988). 218 Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 24. 219 IG Metall, Jugend für das Revier, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, BR 2229 Nr. 43.

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­ oesch-Arbeitern aus Dortmund geschenkt, um der Bedeutung der »revierH weiten« Solidarität zwischen den Belegschaften der verschiedenen Unternehmen und Produktionsstandorte symbolisch Ausdruck zu verleihen. Der IG MetallBevollmächtigte für Duisburg, Willi Schmotz, verknüpfte bei dieser Gelegenheit sogar die Auseinandersetzung um die 35-Stunden Woche mit dem Kampf der Rheinhausener: »Deshalb gehören der Kampf um die Arbeitszeitverkürzung und um den Erhalt des Standortes Rheinhausen untrennbar zusammen.«220 Mit der »Brückentaufe« wurde schon während des Konflikts ein Erinnerungsort für die laufende Auseinandersetzung geschaffen. Am 28. Januar 1988 rundete schließlich eine sogenannte Schülerdemonstration von Duisburger Schülern in Rheinhausen den ersten Zyklus von öffentlichkeitswirksamen Solidaritätskundgebungen ab. Etwa 15.000 Menschen demonstrierten an diesem Tag in Rheinhausen, während die Stahlarbeiter und Anwohner eine Menschenkette um das Werk bildeten. Im Februar folgten mit dem »AufRuhr-Festival« im Walzwerk am 20. oder der Menschenkette durchs Ruhrgebiet am 23. Februar 1988 unter dem Motto »1000 Feuer an der Ruhr« weitere Aktionen, die den regionalen und branchenübergreifenden Charakter des Protests verdeutlichen sollten. Die Großkundgebungen dieser Zeit unterschieden sich stark von den Aktionen, die vor dem 10. Dezember stattgefunden hatten: Mangelnde Zukunftsperspektiven für Jugendliche und allgemeine Probleme des regionalen Strukturwandels verdrängten in der gewerkschaftlichen Kommunikation den Kampf der Rheinhausener Belegschaft um ihr eigenes Hüttenwerk.221 Zugleich fanden weiterhin vereinzelte Aktionen statt, die stärker den Impuls der ersten Protestwochen gegen ›Mitbestimmungsklüngel‹ aufnahmen oder auch neuen Frust über verfälschende Medienberichterstattung und vermutete Kumpanei zwischen dem eigenen Betriebsrat und Krupp widerspiegelten. Für die Zusammenarbeit der IG Metall als Gewerkschaft aller Beschäftigten in der Metallbranche mit dem Betriebsrat als Interessenvertreter der Rheinhausener Belegschaft ergab sich ein klares Dilemma: Einerseits sprachen öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen mit politischem und kulturellem Rahmenprogramm ein größeres Publikum an als spontane Aktionen der Belegschaft; andererseits mussten bestimmte Zielsetzungen aus den ersten Protestwochen vernachlässigt werden, wenn nun regionaler Strukturwandel, Jobperspektiven für Jugendliche und ›machbare‹ Kompromisslösungen im Vordergrund stehen sollten.222 Es gab weniger Raum für die persönliche Empörung der direkt Betroffenen, die aber zugleich ein wichtiges Motiv für den Protest blieb und die in besonderer Weise dazu geeignet war, die Empathie weiter Kreise der Bevölkerung zu wecken. Protestformen, die auf 220 Willi Schmotz, zit. n.: Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 49. 221 Vgl: Waltraud Bierwirth / Michael Linkersdörfer, »Unser Kampf hat erst angefangen«, metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 1/8. Januar 1988; O. A., Wo bleiben wir?, metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 4/19. Februar 1988. 222 Vgl. Zeitzeugen-Interview mit Karin Benz-Overhage: http://www.zeitzeugen.fes.de/ karin-benz-overhage, Video 1, 5.12.2014.

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eine persönliche Auseinandersetzung mit Arbeitern anderer Standorte, anderer Stahlfirmen oder den Verantwortlichen des Stilllegungsbeschlusses hinausliefen, vermochten aber weder die »Kollegen« noch die Öffentlichkeit anzusprechen. Viele der spontanen Protestaktionen wirkten, wie eine Mahnwache vor dem Privathaus Crommes223 oder eine Störaktion bei den Tarifverhandlungen in Krefeld,224 sogar eher abschreckend, wenn sie öffentlich bekannt wurden. Wut und Empörung der betroffenen Arbeiter kulminierten am 11. April 1988 noch einmal in einer spontanen Straßenblockade in Düsseldorf, die allerdings, anders als die vorangegangenen Aktionen in Duisburg, kaum auf ein positives Echo stieß.225 Am 9. April waren Mitschnitte von Telefongesprächen zwischen Krupp-Chef Cromme, Thyssen-Boss Kriwet und dem Krupp-Arbeitsdirektor Meyerwisch bekannt geworden, die bereits am 8. Januar stattgefunden hatten und als Beleg für geheime Absprachen zwischen SPD -Führung, Landesregierung und Stahlunternehmen über eine Schließung Rheinhausens interpretiert wurden.226 Die Stahlarbeiter in Rheinhausen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits die Arbeit niedergelegt, um das sogenannte Alternativkonzept des Betriebsrats, ein Gutachten über die Wirtschaftlichkeit der Rheinhausener Hütte, in den laufenden Verhandlungen zu unterstützen. Im Rahmen dieser erneuten Verschärfung des Konflikts wandten sie sich auch wieder in verstärktem Maße direkt an ihre Kollegen in anderen Stahlwerken.227 Die Veröffentlichung der abgehörten Telefonate von Cromme erschütterte das Vertrauen der Rheinhausener Arbeiter in einer bereits angespannten Lage. Aus den Protokollen enstand der Eindruck von Kungelei zwischen Ministerpräsident Rau und Cromme: »Wir waren gestern Abend im Kabinett […] und die Meinung war dort – aber so können wir es natürlich nicht bringen – ja macht es möglichst schnell, denn dann ist das Thema gelöst usw., und der Krach ist weg.«228 Was letztlich den Ausschlag für die Entscheidung gab, nach Düsseldorf zu fahren, bleibt in den vorhandenen Quellen eher unklar. Die Publikationen des Betriebsrats decken diese Zeit nur spärlich ab. Aufgrund des umfangreichen Berichts in der Neuen Ruhr Zeitung und einer relativ kurzen parlamentarischen 223 Telex Polizeipräsident Essen an Regierungspräsident Düsseldorf u. a. +sss nwduespp nr 896 1601 0146=, 15.01.1988, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, NW 782 Nr. 108; Telex dpa bas319 4 pl 243 vvvb dpa 262, 18.01.1988, ebd. 224 Telex Polizeipräsident Krefeld +eee nwdfkrpp nr 901 0302 1331= an Regierungspräsident Düsseldorf, PP Düsseldorf, PP Duisburg, 3.2.1987, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, BR 2229 Nr. 45. 225 O. A., Autofahrer im Stau stiegen aus und hörten den Stahlarbeitern zu, NRZ 12.4.1988. 226 Walter Jakobs, »Rheinhausen zu, dann ist der Krach weg!«, taz 9.4.1988. 227 Die Belegschaft der Krupp Stahl AG – Werk Rheinhausen, Offener Brief an die Belegschaften!, 9.4.1988, Stadtarchiv Duisburg B 63–45 Arbeitskampf Krupp Rheinhausen (Arbeitstitel), 2N Offene Briefe und Presseerklärungen des Betriebsrates Krupp Stahl AG Rheinhausen. 228 O. A., Dokumentation. »Die Gespräche mit den Politikern fangen an, Früchte zu zeigen«, taz 9.4.1987.

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Debatte über den Vorfall, lässt sich erschließen, dass die Arbeiter ein direktes Gespräch mit der Landesregierung und Rau erzwingen wollten. Nach der missglückten Aktion mussten die Vertreter der SPD -Landesregierung einige Scherben aufkehren.229 Die Arbeiter hatten die Bannmeile des Landtags verletzt und eine Strafverfolgung konnte nur mit einer Finte abgewendet werden: Landtagspräsident Josef Denzer erklärte, die Stahlarbeiter seien von ihm persönlich eingeladen worden,230 und Johannes Rau übernahm persönlich die Leitung der Verhandlungen über die Zukunft von Rheinhausen.231 So war sowohl die drohende Strafverfolgung der Stahlarbeiter abgewendet, als auch deren grundsätzliches Misstrauen noch einmal aufgefangen worden. Zwar kamen die Verhandlungen über Rheinhausen dadurch schneller zum Abschluss, doch nicht im Sinne des Betriebsrats, dessen Alternativkonzept bei den neuen Gesprächen keine Rolle mehr spielte. Abseits der rechtlichen und industriepolitischen Fragen wurde unmissverständlich klar, dass sich die konkreten Handlungsmöglichkeiten der Rheinhausener Belegschaft nun erschöpft hatten und sie außerdem in Düsseldorf, außerhalb der Montanregion Ruhrgebiet, weder bei der Bevölkerung noch bei den politischen Akteuren auf dasselbe Wohlwollen treffen würde, wie bei den Aktionen im eigenen »Revier« in Duisburg. Im asymmetrischen Vergleich mit dem Miners’ Strike im Nordosten Englands sind im Hinblick auf Gewalt für Rheinhausen zuerst Unterschiede auf der Verlaufs- und Diskursebene zu betonen. Die Entwicklung in Rheinhausen verlief, anders als im englischen Nordosten, von mehr zu weniger Gewalt und der öffentliche Diskurs, der ein Image des Ruhrgebiets als sozial befriedete Region reproduzierte, wirkte deeskalierend. Dieser Befund liegt quer zu klassischen deutsch-englischen Vergleichen im Bereich der industriellen Beziehungen, die zumeist stereotyp die größere Anfälligkeit der industriellen Beziehungen in Großbritannien für Streiks und den schärferen Klassengegensatz in der britischen Gesellschaft betonen. Zugleich beleuchtet der Blick auf Gewaltdiskurse im Umfeld von Rheinhausen – analog zu den britischen Gewaltdiskursen im Umfeld des Miners’ Strike – zentrale Selbstverständigungsdebatten der späten Bundesrepublik. In Rheinhausen kam es zwar nicht in dem Ausmaß wie in Nordostengland zu Gewalt und wenn doch, so nahm die Gewalt größtenteils ganz andere Formen an. Selbst auf einer funktionalen Ebene gleichen sich nur bestimmte Aspekte körperlicher Gewalt gegen Sachen. Sogar die »Erstürmungen« der Krupp-Stahl-Zentrale oder der Villa Hügel und die spontanen Kundgebungen der ersten Protesttage mit den aufgehängten und verbrannten Cromme-Puppen oder die Eierwürfe auf Cromme und Blüm stehen in anderen Zusammenhängen. 229 Landtag Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 10/75, 20.4.1988, S. 6713 f.; Landtag Nordrhein-Westfalen, 10. Wahlperiode, Drucksache 10/4107, Kleine Anfrage 1534, 23.2.1989; Landtag Nordrhein-Westfalen, 10. Wahlperiode, Drucksache 10/4229, 28.3.1989. 230 Anzeigensache gegen Innenminister Dr. Schnoor in Düsseldorf wegen Beihilfe zur Nötigung u. a., Staatsanwaltschaft Düsseldorf an Michael Fassbender [Anzeigensteller], 13.3.1989, Gesch.Nr. 810 Js 227/89, S. 4. 231 Joachim Preuss, In der Hütte wird wieder gearbeitet, RP 15.4.1988.

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Sie waren von spontaner Wut und körperlichem Kontakt gekennzeichnet, also gerade von solchen Elementen, die im Nordosten ab einem gewissen Zeitpunkt justiziell verfolgt wurden. Die Arbeiter in Rheinhausen hatten mehr Freiraum, ihrer Empörung körperlich Luft zu machen und symbolisch Macht zu markieren. Ihre faktische Eigenverwaltung des Stahlwerks erfolgte unter aktiver Beteiligung der Werksleitung und der Vorarbeiter, sie wurde nicht mit Gewalt beendet, sondern mit Verhandlungen, bei denen alle Beteiligten zumindest rhetorisch stets die »Augenhöhe« betonten. Trotzdem gab es gerade im sozialen Lebensraum des Stadtviertels immer wieder Momente von Protest, wie das Übermalen von Ortseingangsschildern oder den rituellen Sturz des Krupp-Denkmals in der Bertha-Siedlung, die große Ähnlichkeit mit den Ereignissen im Nordosten hatten. Dabei ging es anscheinend ausschließlich um die Markierung des eigenen Raums gegen den Vorstand der Krupp-Stahl AG, nicht aber gegen die politische Autorität der sozialdemokratischen Landesregierung. Schließlich gab es in Rheinhausen ein Element von Gewalt, das so in Nordostengland vollständig fehlte und zwar die physische und verbale Gewalt gegen eigene Gewerkschaftsfunktionäre, wie den Betriebsratsvorsitzenden Manfred Bruckschen oder den »revierfremden« IG -Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler. Der sozialmoralische Protestmodus führte einerseits dazu, dass die Protestenergie der Rheinhausener über die ersten Tage hinaus anhielt, andererseits bewirkte er auch die frühe Verengung des Protests auf die Person Cromme als Symbol für das moralische Versagen der Unternehmensleitung. Andere Akteure, vor allem IG Metall und SPD, nutzten das, um im gleichen sozialmoralischen Modus Gemeinsamkeiten zu betonen, so wie z. B. Johannes Rau in seiner ersten Einlassung zu Rheinhausen vor dem Düsseldorfer Landtag: Aber wenn die Unternehmensleitung dem Betriebsrat noch vor zwei Monaten eine Unterschrift mit dem Ziel der Erhaltung dieses Standortes abgefordert hat, dann kann das heute keine Situation sein, in der über Alternativen nicht mehr nachgedacht und in der nach Alternativen nicht mehr gefragt werden darf. Darum frage ich nach solchen Alternativen.232

Bei dieser Rückführung des Fundamentalprotests in einen Routinekonflikt spielte der regionale Diskurs über Strukturwandel eine entscheidende Rolle. Der Topos einer bedrohten Region verlieh den Protesten eine hohe Ausstrahlungskraft. Allerdings widersprachen die allgemeineren Ziele, die damit einhergingen, der ursprünglich sozialmoralischen Motivation der unmittelbar Betroffenen und bewirkten durch diese Umformung des Protests auch eine Abschwächung der Konfliktintensität.

232 Johannes Rau, Landtag Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 10/62, 2.12.1987, S. 5461.

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3.6 Zwischenfazit Die Rheinhausener Arbeiter waren sich der potenziell ordnungsbedrohenden Dimension ihres Protests bewusst und verstärkten diese Wahrnehmung gezielt, etwa indem sie überkommene Symbole für gesellschaftliche Standesunterschiede ins Lächerliche zogen, z. B. die Zigarren im Sitzungssaal des Aufsichtsrats. Dadurch, dass sie solche Motive aufnahmen, stellten die protestierenden Stahlarbeiter zwar die sozialräumliche Ordnung der Montanregion als historischen Kompromiss in Frage. Dieser ironische Umgang mit den Symbolen der sozialen Ordnung verweist aber zugleich darauf, dass die Arbeiter die Grundregeln der sozialen Marktwirtschaft und des industriellen Strukturwandels nicht wirklich fundamental bedrohten. Die Rheinhausener Proteste waren, wie jeder sozialmoralisch bestimmte Protest, im Grunde konservativ bestimmt: Es ging um die Erhaltung der gewohnten Ordnung, nicht um deren Überwindung. Gerade die spielerische Seite der Rheinhausener Proteste deutet daher auf eine tiefe Verankerung des partnerschaftlichen Kompromissdenkens in den Protestpraktiken der Duisburger Stahlarbeiter hin. Der deutsche Bundestag und der Landtag von Nordrhein-Westfalen führten zwar erbitterte Debatten über Rheinhausen, aber alle Parteien äußerten, auch wenn sie die Form der Proteste kritisierten, Verständnis für die Motive der Stahlarbeiter. Bundeskanzler Helmut Kohl lud Vertreter aus Politik und Wirtschaft sogar zu einer »Ruhrgebietskonferenz« ins Kanzleramt ein. Wegen dieser ambivalenten Motivierung der Proteste stand bald nicht mehr der lokale Konflikt am Werkstor im Vordergrund des medialen Interesses, sondern die Rettungsversuche der Düsseldorfer und Bonner Politiker. Auch die Form der Demonstrationen veränderte sich. Die Stahlkocher besetzten nicht mehr die Rheinbrücken, stattdessen organisierte die IG Metall eine Menschenkette »für alle« durchs Ruhrgebiet. Ähnlich wie die Generation der jüngeren NUM Funktionäre in Nordostengland vergemeinschaftete die IG Metall so den lokalen Protest im sozialen Raum der Montanregion. Die symbolträchtigen Aktionen der Rheinhausener Arbeiter spielten bei dieser Identitätsstiftung zwar weiterhin eine Rolle, aber die unmittelbare, sozialmoralische Empörung trat dabei in den Hintergrund. Der Aufruhr in der Montanregion äußerte sich in Nordostengland und im Ruhrgebiet vor allem als eruptiver, gewaltsamer Protest. Diese Gewalt hing direkt mit der sozialen Ordnung – oder moral economy – des modernisierenden Strukturwandels zusammen. Im englischen Nordosten gab es drei Faktoren, die im Laufe des Konflikts Gewalt ermöglichten: Konkrete Gewalterfahrungen von Bergarbeitern und Polizisten, die Diskussion über die Legitimität des gewerkschaftlichen Protests in der britischen Öffentlichkeit und den Strategiewechsel des National Coal Board zu einer Taktik des aktiven Streikbrechens. In Rheinhausen hingegen fingen die Proteste mit spontaner, eruptiver Gewalt an, weil die Arbeiter nur so die Wahrnehmungsschwellen der regionalen Mitbestimmungskultur und der auf soziale und politische Sicherheit abzielenden westdeutschen Gesellschaftsordnung überwinden konnten.

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An der Eskalation der Gewalt im englischen Nordosten kann man sehen, wie sich der Streik in dieser Region erst mit zunehmender Länge von einem Regelungs- zu einem Anerkennungskonflikt entwickelte. Die Manager waren nicht mehr willens, den Boykott der Produktionsanlagen hinzunehmen und die Bergarbeiter hatten aufgrund der Maßnahmen der Betriebsleitung zusehends den Eindruck, nicht länger als gleichberechtigte Konfliktpartei akzeptiert zu sein. Zugleich änderten die Anwendung und das Erleben von physischer Gewalt innerhalb kürzester Zeit soziale, politische und kulturelle Orientierungen im Raum Montanregion. Orte, die von den Akteuren als e i g e n e Räume erfahren wurden, entwickelten sich durch die Gewalterlebnisse zu f r e m d e n Orten. Dieser Wandel fand nicht losgelöst von größeren Deutungsmustern statt, sondern blieb stets an nationale, regionale oder gruppenspezifische Diskurse rückge­bunden. Auf einer diachronen Vergleichsebene spielten auch die in den Ordnungen der Montanregionen ›gespeicherten‹ Gewalterfahrungen des frühen 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Die Einhegung körperlicher Gewalt als politisches Machtmittel bildete sowohl im Nordosten Englands als auch im Ruhrgebiet ein konstitutives Merkmal einer innergesellschaftlichen Friedensordnung. In Großbritannien einte alle Seiten im Konflikt ein starkes Tabu, innergesellschaftliche Gewalt überhaupt als mögliches Mittel der Politik im »peacable kingdom« England zu betrachten, wiewohl staatlich sanktionierte Gewalt dort in viel größerem Maße ein solches Mittel war. Im Ruhrgebiet hingegen wurde Gewalt in Form von Straßenblockaden physisch auf die gesamte Region verteilt, und so symbolisch im Sozialraum der Montanregion verankert. Bis auf wenige Demonstrationen in Newcastle, Durham und Sunderland beschränkten sich räumliche Protestpraktiken im Nordosten stets auf Orte der Produktion, Verwaltung und Logistik der Steinkohleförderung. Dort griffen nur die polizeilichen Kontrollmaßnahmen in den gesamten Raum der Montanregion ein, indem z. B. Straßen gesperrt oder pit villages von Polizeihundertschaften in Beschlag genommen wurden. Für die Rolle der Polizei im Miners’ Strike stellte sich im Vergleich mit Rheinhausen ein Faktor als entscheidend heraus, der von den zeitgenössischen Akteuren in Großbritannien nie thematisiert wurde: Das National Coal Board unterstand der britischen Regierung, die zumindest in letzter Instanz die entscheidenden finanziellen Hebel für Polizeieinsätze in der Hand hielt. Die KruppStahl AG war hingegen, trotz zahlreicher Verflechtungen mit der Politik, ein Privatunternehmen, in dem dazu noch diejenige Gewerkschaft, welche die Proteste kontrollierte, paritätisch mitbestimmte. Die Regierungen in Bund und Land konnten hingegen als Vermittler auftreten, weil sie nicht direkt an Unternehmensentscheidungen beteiligt waren. Allerdings geriet die IG Metall aus demselben Grund in eine Doppelrolle, in der sie nur begrenzt vermitteln konnte. Insbesondere die SPD -geführte Landresregierung hatte so aber die Möglichkeit, der Polizei Zurückhaltung gegenüber den von ihr politisch vertretenen Arbeitern aufzuerlegen. Hergebrachte lokale Konfliktpraktiken für den Streikfall konnten in Nordostengland unter der Bedingung einer mit polizeilichen Mitteln bewehrten

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Anti-Streik-Strategie kaum noch als effektives Korrektiv für unsolidarisches Verhalten oder als Machtdemonstration der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer wirken. Die etablierten Mittel der regionalen Konfliktkultur trafen aber nicht nur auf neuartige polizeiliche und unternehmerische Konfliktstrategien, sondern blieben auch auf der Diskursebene stets dem Vorwurf der Illegitimität und Illegalität ausgesetzt. Deshalb mussten neue Muster sozialen Protests, wie Bürgerinitiativen, Unterstützer- und Frauengruppen diesen Ausfall gewerkschaftlicher Machtmittel kompensieren. Dabei konnten diese Gruppen teilweise beachtliche Erfolge verzeichnen, doch bedeutete gerade der Erfolg der neuen Konfliktstrategien, dass die gewerkschaftliche Kampfkraft an Bedeutung verlor. Für den Vergleich zwischen den nationalen und regionalen politischen Kulturen bleibt im Hinblick auf eine Spezifik der Montanregionen festzuhalten, dass bestimmte Elemente eines neuen politischen Denkens – ob sie sich nun in der Breite durchsetzten oder nicht – für die Solidaritätskampagnen und Protestkundgebungen auf gewerkschaftlichen Wegen rezipiert und popularisiert werden mussten. Dann aber sorgten sie für eine höhere Flexibilität und Resilienz des Protests, dem nun neue Sinndimensionen als Ressource zur Verfügung standen. Das heißt: In den Montanregionen waren die Gewerkschaften, mit all ihren bürokratischen und aktivistischen Verästelungen, in den 1980er Jahren entscheidende Institutionen der »Zivilgesellschaft«, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht länger in einer objektiv-proletarischen Lebenslage befand und die Arbeiterbewegung als solche in den 1980er Jahren keine geschlossene, proletarische Lebenswelt mehr hervorbrachte. Im Nordosten führten Polizeieinsätze wie die in Easington und Wearmouth zu einer nachhaltigen Entfremdung zwischen den Einwohnern der pit villages und dem Rest des Landes, allen voran den konservativen und ordnungsliebenden Bewohnern der home counties, den ruhigen, gesetzten Grafschaften des Südens. Während sich streikende Bergarbeiter und ihre Familien auch weiterhin als gesetzestreue Bürger bzw. »Untertanen ihrer Majestät« sahen, galten sie Beobachtern von außen entweder als gefährliche und rebellische Proletarier oder – bei linken Akademikern – als vorbildliche Widerstandskämpfer gegen die Thatcher-Regierung. Die taktischen Entscheidungen der Polizei vor Ort waren insofern für dieses Auseinanderfallen von Selbst- und Fremdbild mitverantwortlich, als der neue aggressive Stil der Polizei ursprünglich für Gruppen und Räume gedacht war, die als fremd und »unenglisch« galten: Riot Police diente vor 1984 hauptsächlich dazu, Einwanderer in den Innenstadtbezirken von London, Liverpool und Bristol in Schach zu halten oder in nordirischen Städten wie Derry und Belfast für Ruhe zu sorgen.233 Deren Bewohner gehörten (als Schwarze oder Katholiken, aber auch als dissenter) für die Mehrheit der Briten nicht zur eigenen Gesellschaft. Folglich bekräftigte der Einsatz von riot police gegen die

233 David Waddington, Contemporary Issues in Public Disorder. A Comparative and Historical Approach, London / New York 1992, hier S. 74–94 und 140–159.

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Bergarbeiter im Nordosten noch einmal Margaret Thatchers Botschaft vom Juli 1984: Streikende Bergarbeiter seien eine Art fünfte Kolonne, eben der »enemy within«.234 Im Ruhrgebiet passierte genau das Gegenteil: Dadurch, dass die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen k e i n e Bereitschaftspolizei gegen die Rheinhausener Arbeiter einsetzte,235 erkannte sie die wild streikenden Arbeiter in Rheinhausen weiterhin als ›ordentliche‹ Bürger an. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen beeinflussten auch die Art und Weise, in der die Proteste – und später die Schließungen selbst – in den Montanregionen b e w ä l t i g t werden konnten. In Nordostengland war eine Rückkehr zum status quo ante nach den Eskalationen des Sommers kaum noch denkbar. Denn erstens bewirkte die Gewalt an den Zechentoren, dass sich die Gräben vertieften. Gerade solche Gruppen, die sonst deeskalierend auf die Führungsebenen von NUM und NCB hätten einwirken können, waren gezwungen eine Seite zu wählen: Die in der NACODS organisierten Steiger und die Berufsgruppen, die Mitglieder der British Association of Colliery Management (BACM) waren, hatten aber nach Vorfällen wie denen in Easington eigentlich keine Wahl mehr. Sie mussten sich sogar gegen ihre eigene politische Tradition als Teile des Labour movement auf die Seite der NCB -Führung stellen. Zweitens sahen alle Konfliktparteien, Gewerkschaften, Unternehmen und Zentralregierung, spätestens ab dem Sommer 1984, die bisher genutzten Instrumente des Strukturwandels als Hauptursache des Streiks an. Die Regierung in London wollte erreichen, dass Zechen in Zukunft ohne Mitsprache der Gewerkschaft geschlossen werden konnten, während die NUM Zechenschließungen um beinahe jeden Preis verhindern wollte. Ganz anders im Ruhrgebiet: Hier galten Kompromisse weiterhin für alle Konfliktparteien, mit Ausnahme der Belegschaft von Rheinhausen, als legitim. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven heraus entwickelten die Akteure in den Regionen verschiedene Strategien, um die Konflikte zu bewältigen. Dieser Prozess der Bewältigung vollzog sich auf drei Ebenen: Erstens, sozialpolitisch, durch die Zuwendung bzw. Verweigerung von staatlichen Hilfszahlungen an streikende und protestierende Arbeiter und deren Familien während des Streiks. Zweitens, strukturpolitisch, durch Debatten über die wirtschaftliche Zukunft der Regionen und die Art und Weise, in der Betriebsschließungen, vor allem nach den Protesten, durchgeführt wurden. Drittens, durch einen tiefgreifenden Wandel des Regionalbewusstseins bei den lokalen Eliten und in der Bevölkerung. Dieser Wandel hatte seine Wurzeln in den Konflikten der 1980er Jahre, führte aber erst in den 1990er Jahren zu einem neuen, hegemonialen Regionalbewusstsein.

234 Speech to 1922 Committee (»the enemy within«), 19.7.1984, The Margaret Thatcher Foundation, http://margaretthatcher.org/document/105563, 7. März 2013. 235 Vgl.: Herbert Schnoor, Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, an die Regierungspräsidenten und Leiter der Kreispolizeibehörden, Düsseldorf 13. März 1984 (Az IV C 2/A 3), Verhalten der Polizei bei Arbeitskämpfen, LAV NRW NW 782 Nr. 108.

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Auf allen drei Ebenen fallen im Vergleich zunächst die Unterschiede ins Auge: In Großbritannien entwickelte sich der Miners’ Strike in kürzester Zeit zu einer Krise des Sozialstaats. In Rheinhausen hingegen kam es nicht zu einer sozialpolitischen Zuspitzung der Proteste, aber die Angst vor sozialem Abstieg bestimmte auch dort die Dynamik des Geschehens. Ähnliches gilt für den Bereich der Strukturpolitik: In Großbritannien war der Abschied von den bisherigen Mustern des Strukturwandels ein wichtiges Ziel aller Konfliktparteien. Im Ruhrgebiet hingegen wurden die gewohnten Instrumente des Strukturwandels durch den »Kampf um Rheinhausen« aktualisiert und ausgeweitet. Die Zuspitzungen und Bewältigungsversuche auf diesen beiden Ebenen des Konflikts bewirkten mittelbar auch einen Wandel des Regionalbewusstseins. Die Wurzeln dieses Wandels werden im folgenden Kapitel exemplarisch am Beispiel der Kirchen untersucht. Als herausgehobene Orte der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung bildeten sie einen Raum für Diskurse, der einerseits eng mit dem traditionellen Regionalbewusstsein verknüpft war, andererseits aber auch eigene Traditionen anzubieten hatte, die den handlungsleitenden Vorstellungen der industriellen Akteure von einem modernisierenden Strukturwandel zuwiderliefen. Zudem standen die tonangebenden kirchlichen Akteure der 1980er Jahre in Nordostengland und im westlichen Ruhrgebiet allesamt den zeitgenössischen Ideen der Neuen Linken nahe. Die Kirchen bildeten – oft nur für eine kurze Zeit – eine Schnittstelle, an der mit der überzeitlichen Orientierung des christlichen Glaubens, dem auf Fortschritt und Modernisierung ausgerichteten Strukturwandel und den fortschrittskritischen Überzeugungen neuer gesellschaftlicher Gruppen drei widersprüchliche Traditionslinien zusammenliefen. Dieses Zusammenlaufen und die Konflikte, die daraus hervorgingen, illustrieren beispielhaft den Wandel des Bewusstseins in den Montanregionen von der linearen Modernisierung der Nachkriegszeit zu den Bildern von einem abgehängten Nordosten bzw. einer »Metropole Ruhr«, die auch noch in der Gegenwart wirksam sind. Diese Perspektiven weisen zudem bereits auf die Zeit nach dem Ende der bedrohten Ordnung Montanregion hin: Im Nordosten Englands entstand als Folge des Miners’ Strike ein hegemonialer, von Labour dominierter Opfermythos, der bis heute das Regionalbewusstsein bestimmt. Die heute noch lebenden Bergarbeiter marschieren unter einer roten Fahne, der sie vor dem Miners’ Strike vielleicht gar nicht erst gefolgt wären. Akademische und politische Karrieren beruhen darauf, den Opferstatus der Region möglichst dramatisch dazustellen. Im Ruhrgebiet bewirkte die erfolgreiche Einhegung des Konflikts um Rheinhausen hingegen, dass in den verbleibenden Institutionen der Stahl- und Metallindustrie das Produktivitätsdenken der langen Nachkriegszeit unbeschadet überstehen konnte. Es kam gerade nicht zu der von manchen erhofften Repolitisierung der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland, vielmehr intensivierte sich gerade in der IG Metall eine pragmatische und lösungsorientierte Herangehensweise an industriepolitische Konflikte. Bei den Eliten des Ruhrgebiets löste in den 1990er Jahren ein bürgerlich-akademischer Habitus, der die proletarische Vergangenheit der Region als Kulisse für kulturelle Selbstdarstellung

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nutzt, das ältere, fortschrittsorientierte Regionalbewusstsein ab, das zuvor von den regionalen Eliten wie der Bevölkerung gleichermaßen geteilt worden war. Wie die sozial- und strukturpolitischen Kämpfe und Erfahrungen der regionalen Akteure im Miners’ Strike und in Rheinhausen diesen Bewusstseinswandel beschleunigten oder überhaupt erst ermöglichten, ist deshalb das Thema des folgenden und letzten Kapitels der Arbeit.

4. Gerechtigkeit und Bewusstsein 4.1 »they have one pair of shoes each at the present time.«1 – Die Krise des Sozialstaats Im Sommer 1984 hatten Jack Dawdons2 Kinder keine Schuhe mehr: »Dave’s are split between the upper and sole, Betsy’s have holes in the soles, Vicky’s are now too small for her and hurt her feet.«3 Die Familie Dawdon aus Easington kämpfte daraufhin mehrere Monate lang mit den Sozialbehörden um Geld für Kinderschuhe für den zweijährigen Sohn und die dreijährigen Zwillingstöchter. Ihr Wahlkreisabgeordneter Jack Dormand und verschiedene andere Lokalpolitiker unterstützten sie dabei. Diesem Umstand haben wir es zu verdanken, dass dieser Fall und vergleichbare Fälle in den Dormand Papers erhalten sind. Sie bieten einen exemplarischen Einblick in Konflikte um sozialstaatliche Leistungen, die streikende Bergarbeiter und ihre Familien während des Miners’ Strike mit den Behörden austrugen. In diesen Auseinandersetzungen blieben die Behörden meist die Gewinner und die Bergleute die Verlierer. So teilte das Department of Health and Social Security (DHSS) Jack Dawdon, schon als er seinen Antrag stellte, mit, dass er bzw. seine Kinder kein Geld für Schuhe bekommen würden: »Advised clmt. [claimant, A. H.] of criteria in Reg 27 and that conditions were not satisfied. He wished to proceed with his application.«4 Drei Tage später wurde die Entscheidung bestätigt: Das DHSS konnte kein Geld zahlen, weil die drei Kinder weder behindert noch gesundheitlich gefährdet waren und die Schuhe auch nicht, wie in der Verordnung Nr. 27 vorgeschrieben, durch ein Unglück oder einen Unfall unbrauchbar geworden waren, sondern aufgrund des normalen Wachstums der Kinder.5 Doch Dawdon ließ nicht locker und bestand auf einem Verfahren vor einem sogenannten appeal tribunal des DHSS , einem Gremium aus ehrenamtlichen Laienrichtern, die sich durch Sachkenntnis und Erfahrung in sozialen Fragen für dieses Amt qualifiziert hatten. Das Protokoll dieses Verfahrens zeigt zunächst nur, wie Jack Dawdon versucht hat, das fehlende Einkommen seiner Familie während des Streiks mit einer Einmalzahlung des Sozialamts abzumildern. Als Antragssteller musste er be1 Department of Health and Social Services, Form A6, Ref. No. 3601/96606, 3.9.1984, 2 Seiten o. P., o. O. [DHSS Office Seaham, A. H.] S. 1, in: DCRO D / Dor 6/8 (29., Corr. Social Security, Var. matters: Children’s Shoes e. a., 08–10.1984) [tatsächlich 9.1984–5.1985, A. H.]. 2 Namen teilweise geändert. 3 Ebd. 4 Ebd, S. 1 f. 5 Department of Health and Social Security, Form SP, Ref. No. 3601/96606, 6.9.1984, 2 Seiten o. P., o. O. [DHSS Office Seaham, A. H.], S. 2, in: DCRO D / Dor 6/8 (29., Corr. Social Security, Var. matters: Children’s Shoes e. a., 08–10.1984) [tatsächlich 9.1984–5.1985, A. H.].

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sondere Härte oder unvorhersehbare Umstände geltend machen; das war eine Voraussetzung um überhaupt für eine Einmalzahlung in Betracht zu kommen. Die kurze Protokollnotiz enthält aber auch eine Fülle an Informationen über die Einkommenssituation der Familie Dawdon, die im Abgleich mit anderen Daten weitergehende Rückschlüsse auf die Bewältigungsstrategien von Bergleuten und ihren Familien im Streik und damit auch auf die sozialräumliche Ordnung Montanregion zulassen. Für Familie Dawdon sah es nicht gut aus: Jacks Frau verfügte über kein eigenes Einkommen und zum Zeitpunkt des Antrags, Anfang September 1984, hatte die Familie auch keinerlei Ersparnisse. Damit war sie für ihren Lebensunterhalt vollständig auf die wöchentliche Sozialhilfezahlung in Höhe von 75,05 £ angewiesen, die allerdings nur für die Ehefrau und die Kinder (27,45 £ für drei Kinder) gezahlt wurde, und von der das Amt wiederum 19,50 £ als hypothetisches Streikgeld des Mannes abzog. Es gab keinerlei Zulagen für Miete, Wasser oder Heizkosten. Den fünf Personen standen also wöchentlich 55,55 £ zur Verfügung, von denen alle Lebenshaltungskosten bestritten werden mussten.6 Das war auch im Herbst 1984 nicht viel Geld: Der Sozialwissenschaftler Fred Robinson von der University of Northumbria gibt als Grenze für einen armen Haushalt im Nordosten im Jahr 1988 ein wöchentliches Einkommen von 80 £ oder weniger an.7 Familie Dawdon lag klar unter dieser Grenze und hatte auch im Vergleich zu der Zeit vor dem Streik ein viel geringeres Einkommen. Im letzten vollständigen Bilanzjahr vor dem Miners’ Strike (1982/83) betrug der durchschnittliche wöchentliche Lohn eines NCB -Beschäftigten nämlich 166,07 £ in bar, hinzu kamen Sachleistungen, hauptsächlich Deputatkohle für den Hausbrand, mit einem durchschnittlichen Wert von 11,75 £.8 Einmal angenommen, Jack Dawdon hätte der höchstbezahlten Gruppe von Arbeitern im Bergabau, den Hauern (hewer / face-worker), angehört, so dürfte sein Einkommen vor dem Streik und dem Überstundenboykott sogar bei 186,90 £ gelegen haben.9 Die Familie Dawdon hatte also durch den Streik ungefähr zwei Drittel ihres wöchentlichen Einkommens verloren, noch ohne die Inflationsraten von 4,6 Prozent für 1984 und 5,0 Prozent für 1985 zu berücksichtigen.10 Angesichts dieses dramatischen Einkommensverlusts stellten besondere Anschaffungen wie Schuhe für drei Kinder die Familie wohl vor unüberwindbare 6 Department of Health and Social Services, Social Security Appeal Tribunal  – Mr J. Dawdon, 14.10.1984, Anhang Form AT 2(A), o. P. 2 Seiten, S. 1, in: DCRO D / Dor 6/8 (29., Corr. Social Security, Var. matters: Children’s Shoes e. a., 08–10.1984) [tatsächlich 9.1984–5.1985, A. H.]. Diese Zahlen zeigen auch, dass die Strafbefehle über 80, 120 oder gar 200 £ für Bergarbeiter, die im vorangegangenen Kapitel behandelt wurden, während des Streiks kaum zu bezahlen waren. 7 Peter Hetherington / Fred Robinson, Tyneside Life, in: Fred Robinson (Hrsg.), Post-Industrial Tyneside. An Economic and Social Survey of Tyneside in the 1980s, Newcastle upon Tyne 1988, S. 189–210, hier S. 196. 8 Ashworth, The Nationalized Industry, S. 680. 9 Middlemas, Power, S. 490. 10 Daten nach: Mergel, Geschichte Großbritanniens, S. 193.

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Schwierigkeiten. Hinzu kam, dass Kinderschuhe für Bergarbeiterfamilien im Nordosten kein gewöhnliches Konsumgut waren, sondern ein Symbol für das Wohlergehen der Bergarbeiter und ihrer Gemeinden. Bereits während des miners’ lockout von 1926 gab es im Nordosten sogenannte boot funds, deren einziger Zweck es war, die Kinder von streikenden Bergarbeitern mit festem Schuhwerk zu versorgen. Neben der klimatischen Notwendigkeit waren ›ordentliche‹ Schuhe ein sichtbares Zeichen für die Ehrbarkeit der Familien. Sie zeigten, dass die Väter ihren Lohn für die Familie einsetzten und nicht nur für sich selbst. Kinderschuhe waren daher auch ein wichtiges soziales Distinktionsmerkmal. Die boot funds der 1920er Jahre fanden sogar Eingang ins Kriegsgedenken: Die in der Royal British Legion organisierten Weltkriegsveteranen, im Nordosten in ihrer überwiegenden Mehrzahl Bergleute, sammelten am Armistice Day, dem Tag des Waffenstillstands am 8. November, bei den öffentlichen Gedenkfeiern Geld für die boot funds.11 Allerdings zeigt der Vergleich mit 1926 auch einen wichtigen Unterschied: Die selbstorganisierten boot funds der Zwischenkriegszeit entstammten noch der alten Tradition gegenseitiger Hilfeleistung in der Arbeiterschaft (mutualism) in einem schwachen Sozialstaat. Die Empörung über fehlende staatliche Zuschüsse für neue Kinderschuhe erwuchs hingegen aus der festen Erwartung, dass der nach dem Krieg ausgebaute Sozialstaat helfen würde. Für Familie Dawdon erfüllte sich die Hoffnung, durch ein appeal tribunal doch noch zu ihrem ›guten Recht‹ zu gelangen, wie für die allermeisten Familien von Bergleuten im Nordosten, nicht. Doch erlangte ihr Fall eine Art Präzedenzcharakter, weil der Vorsitzende des appeal tribunal sich bereits vor der Anhörung herabwürdigend geäußert haben soll: »If we allow this one to get through then it will open the floodgates for every trade unionist to apply.«12 Daraufhin schickte der Vorsitzende der Dawdon miners’ support group, Harry Walker, einen empörten Brief an Jack Dormand und weitere Unterhausabgeordnete der Labour Party aus dem Nordosten sowie an die Labour-Fraktion im Stadtrat von Seaham: I have been informed that this Statement will be verified by the person who made available the information. If this statement is true then the conduct of the Chairman was most improper, and could well be considered to be a matter of Gross Misconduct and Political Bias.13

Walker hatte Dawdon zu der Anhörung begleitet und einer der Laienrichter hatte ihm nach dem Ende der Verhandlung von der Bemerkung des chairman berichtet. Walker war selbst streikender Bergarbeiter und zudem ein erfahrener Multifunktionär in NUM und Labour Party. Während des Streiks leitete er das

11 Barron, The 1926, S. 57 f. und 64. 12 Harry Walker, Dawdon Miners’ Advice Centre / Dawdon Miners’ Welfare Centre – Regional Chairman of Tribunals. [DHSS], Ref GHW/3601/CT, 21.12.1984, in: DCRO D / Dor 6/8 (29., Corr. Social Security, Var. matters: Children’s Shoes e. a., 08–10.1984). 13 Ebd..

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Dawdon Miner’s Advice Centre,14 daher wusste Walker, dass sich die Aussage des Tribunalvorsitzenden für eine Kampagne in Partei und Gewerkschaft eignen würde. Kaum etwas erregte die streikenden Bergarbeiter im Nordosten nämlich stärker als das Gefühl, »ihr« Sozialstaat sei nicht fähig oder willens, ihnen und ihren Familien in der  – aus ihrer Sicht unverschuldeten  – Not des Streiks zu helfen. Walkers Empörung und ihr Echo im Labour Movement zeigen auch, dass die Eskalation der Konflikte um Betriebsschließungen in den Montanregionen nicht ausschließlich von den Spielregeln des Protests an den Werkstoren abhing. Im Aufruhr in der Montanregion ging es den protestierenden Arbeitern immer auch um die Wahrung ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit. Sie definierten Gerechtigkeit allerdings  – im Gegensatz zu markt- oder betriebswirtschaftlichen Regeln – als moralische Ökonomie der ›gerechten‹ Versorgung mit Arbeits­plätzen und Einkommen. Dieses lebensweltlich motivierte Gerechtigkeitsempfinden war tief in der mining culture des Nordostens bzw. in der »Kultur des kleinen Mannes« im Ruhrgebiet verankert und hatte seine Wurzeln in den Erfahrungen von »Proletarität« (Josef Mooser), die Arbeiterbiographien seit dem 19. Jahrhundert prägten. Diese Erfahrungen bestanden vor allem in der stets präsenten Gefahr des plötzlichen Einkommensverlusts durch Arbeitslosigkeit und Invalidität sowie der schleichenden Verarmung im Alter. Aus diesem Grund sicherten sozialstaatliche Systeme genau jene Risiken ab. Während solche Systeme bis zum Ersten Weltkrieg in den späteren »Sozialstaaten« Europas lediglich eine Grundsicherung darstellten, kam ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg eine gänzlich andere Rolle zu: Sie wurden in den westlichen Demokratien zu einem zentralen Bestandteil der politischen und sozialen Ordnung schlechthin.15 Das Gründungsdokument des britischen Wohlfahrtsstaates, der Beveridge-Report, bezeugt, dass der europäische Sozialstaat ursprünglich ein gemeinsames Projekt sozialdemokratischer, konservativer und liberaler Kräfte war.16 Die sozialstaatlichen Innovationen der Kriegs- und Nachkriegszeit trugen in Westeuropa deshalb erheblich dazu bei, dass sich die neue politische Ordnung, die auf den drei Säulen gemäßigte Marktwirtschaft, liberale Demokratie und bürgerlicher Rechtsstaat ruhte, als stabiler erwies als die Demokratien der Zwischenkriegszeit. In Montanregionen wie Nordostengland oder dem Ruhrgebiet war die Verbindung zwischen sozialstaatlichen Transfers und politischer Ordnung besonders eng, schließlich beruhte die geplante Modernisierung der Regionen zu einem 14 Harry Walker und sein Stellvertreter Alan Fenwick waren auch Bergarbeiter und NUMMitglieder, auf den Protokollbögen des DHSS wurden sie daher nicht als Vertreter des Stadtrates oder des miners’ advice centre, sondern einfach als »miners’ lodge« geführt. 15 Mooser, Arbeiterleben, S. 96–100. 16 Vgl. etwa den berühmt gewordenen Beveridge-Report: 1942–43 Cmd. 6404/The National Archives Kew PREM 4/89/2: Social Insurance and Allied Services. Report by Sir William Beveridge; dazu: John Callaghan, The Welfare State: a New Society?, in: Jim Fyrth (Hrsg.), Labour’s Promised Land? Culture and Society in Labour Britain 1945–51, London 1995, S. 115–131.

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großen Teil auf Subventionen und staatlicher Unterstützung. Für Arbeiter und ihre Familien blieb der Wohlfahrtsstaat auch hier vor allem ein Instrument zur individuellen und familiären Absicherung gegen Krankheit und Armut. An den DHSS -Verfahren im Miners’ Strike lässt sich jedoch auch erkennen, dass viele Bergleute im Nordosten die Hilfen des Sozialstaats in den 1980er Jahren als einen Teil ihrer »moral economy of provision« nutzen wollten. Sie begründeten ihren Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch den Staat mit ihrem Selbstverständnis als gesetzestreue Bürger und fleißige Steuerzahler. Streik galt für die Bergleute mithin als »ehrliche Arbeit« unter anderen Bedingungen. Vor diesem Hintergrund war der Miners’ Strike auch – und in mancher Hinsicht sogar v o r a l l e m  – eine Krise des britischen Sozialstaats. Die Arbeiter gerieten in Not, weil die Gewerkschaft NUM kein Streikgeld auszahlte. Stattdessen setzte die NUM-Führung – wider besseren Wissens – darauf, dass die Bergarbeiter und ihre Familien Sozialhilfe bekommen würden. Doch seit 1980 konnten streikende Arbeitnehmer keine Sozialhilfe mehr für sich selbst, sondern nur noch für nichtarbeitende Ehefrauen und Kinder beantragen. Von allen Zahlungen wurde zudem ein hypothetisches Streikgeld abgezogen, das zuerst 12 £ betrug und jährlich angepasst wurde.17 Bereits die Streikinitiative der NUMFührung stand also in einem widersprüchlichen Verhältnis zu sozialstaatlichen Leistungen: Einerseits sollten Zechen aus sozialen Gründen geöffnet bleiben, damit Bergleute n i c h t in Abhängigkeit von Sozialhilfe gerieten, daher das Streikmotto: »Coal not Dole«18. Andererseits sollte die Sozialhilfe dazu dienen, den Streik zu finanzieren. Dieser Widerspruch wurde von den meisten streikenden Bergarbeitern ausgeblendet, Versuche ihn zu thematisieren als Angriff der konservativen Regierung auf die Gewerkschaften gedeutet. Die Regierung vertrat hingegen die Ansicht, dass die Kosten für Streiks auf gar keinen Fall von der Allgemeinheit getragen werden dürften. Die Bitten von Arbeitern um Sozialhilfe müssen also differenziert betrachtet werden: Sie waren einerseits Zeichen echter Bedürftigkeit, standen andererseits aber auch für ein stolzes Beharren auf gewohnten und für selbstverständlich erachteten Rechten auf Kosten der Allgemeinheit. Schließlich bildete Sozialhilfe auch eine Möglichkeit, eigene ökonomische Ressourcen für den Streik zu schonen. Von diesen Widersprüchen zeugt etwa der Fall des Bergmanns Joe Shotton, der bereits Ende Mai Sozialhilfe beantragte, weil er die Hypothek für sein Eigenheim nicht mehr bedienen konnte.19 Die Familie Shotton musste zum Zeitpunkt des Antrags von 13 £ in der Woche leben, die sich alleine aus dem Kindergeld für die Töchter Jane und Lorraine zusammensetzten. Manche Bergleute beantragten 17 Social Security (No. 2) Bill, Clause 6, Subsection (1), 1979/80 Bill 180, S. 6 f. 18 NUM Coal Not Dole, o. D. [Januar – März 1984], p. 8, Durham County Record Office, D / Dor 6/8 Coal Industry Dispute 84–85, Item 05. 19 DHSS Social Security Appeal Tribunal, Form AT2, Seaham T / D 1273, 31.5.1984, 2 Seiten, hier S. 2, in: DCRO D / Dor 6/8 (29., Corr. Social Security, Var. matters: Children’s Shoes e. a., 08–10.1984), alle Namen geändert.

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also staatliche Hilfe, weil ihr sozialer Status, in diesem Fall als Hausbesitzer, durch den Streik bedroht war. Aus den Unterlagen geht nicht hervor, warum die Ehefrau keine Sozialhilfe bezog  – dies mag dem frühen Zeitpunkt im Streikverlauf, Ende Mai, geschuldet sein, zu dem Joe Shotton den Antrag auf Unterstützung stellte. Vielleicht hatte die Familie sich auch einfach nicht ausreichend beraten lassen. Dieser Fall macht auch deutlich, dass eine Interpretation der sozialen Krise im Miners’ Strike als r e l a t i v e Benachteiligung keineswegs die Not der Familien verkennt: Der mögliche Verlust des Eigenheims war ein äußerst bedrohlicher Vorgang für die junge Familie, gerade w e i l Joe Shotton und seine Frau sich zuvor sicher genug gefühlt hatten, ein Haus zu kaufen. Die Frage danach, warum sich der Miners’ Strike in den betroffenen Regionen zu einer fundamentalen Krise des britischen Sozialstaats ausweitete, die Rheinhausener Proteste jedoch nicht, lässt sich relativ leicht beantworten. Wie bereits gezeigt, fehlte in Westdeutschland weitestgehend der politische Wille, den streikenden Arbeitern eine sozialpolitische Lektion zu erteilen. Aber auch ohne einen solchen politischen Willen hätte der Aufbau des westdeutschen Sozialstaats einer politischen Instrumentalisierung im Weg gestanden. Weil der britische Sozialstaat ohnehin aus der Regierung heraus gesteuert wird, waren die Eingriffs­möglichkeiten der britischen Regierung in sozialstaatliche Prozesse von Anfang an größer als die einer deutschen Bundesregierung. Auch die ideologische Frontstellung unterschied sich: Für Margaret Thatcher und ihre Vordenker, wie z. B. Enoch Powell und Keith Joseph, bildete die Reform des britischen Sozialstaats den Dreh- und Angelpunkt für eine Reform der gesamten britischen Gesellschaft. Sie machten den Sozialstaat für eine »Kultur der Abhängigkeit« (»culture of dependency«) verantwortlich, die ein Erblühen des freien Unternehmertums und damit der britischen Nation verhinderten. Inzwischen ist umstritten, inwieweit die Politik Thatchers den britischen Sozialstaat tatsächlich verändert hat, denn die Ausgaben für Sozialtransfers stiegen auch in ihrer Regierungszeit weiter an. In jedem Fall verloren jedoch zivilgesellschaftliche Organisationen und die Lokalverwaltung an Einfluss. Zugleich wurde das Ziel der Vollbeschäftigung aufgegeben. Der britische Sozialstaat war nunmehr lediglich für die individuelle Grundsicherung zuständig, alle Tendenzen in Richtung umfassender Vorsorge wurden abgebaut.20 Und auch das Konzept von sozialstaatlichen Leistungen als soziale Rechte wurde im offiziellen Diskurs endgültig diskreditiert. Von nun an galt zumindest für Arme, Ungebildete und Hilfsbedürftige ein Stück weit das, was Thatcher selbst für eine Beschreibung der Wirklichkeit hielt: »There is no such thing as society.«21 20 Rodney Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, London 1993, S. 328 f; Torben Iversen: Democracy and Citizenship, in: Francis G. Castles u. a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of the State, Oxford 2010, S. 183–195. 21 Margaret Thatcher Foundation, 23. September 1987, Interview for Woman’s Own, S. ­30–31: »But it went too far. If children have a problem, it is society that is at fault. There is no such thing as society. [end p30] There is a living tapestry of men and women and people and the beauty of that tapestry and the quality of our lives will depend upon how

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In der Bundesrepublik Deutschland bildete die Sozialpolitik nach 1949 hingegen ein Feld staatlicher Gestaltung, das erst allmählich, dann aber mit umso größerer Tiefenwirkung einen politischen Konsens zwischen dem bürgerlichen Lager und den Sozialdemokraten stiftete.22 Mit dem Einsetzen der Ölkrise veränderten sich jedoch auch hier die Rahmenbedingungen für sozialpolitisches Handeln, so dass man mit Martin H. Geyer ab Mitte der 1970er Jahre für die westdeutsche Gesellschaft als Ganzes von einer Phase der »Unsicherheit als Normalität« sprechen kann.23 Diese neue Unsicherheit traf jedoch gerade nicht die Stahl- und Metallarbeiter des Ruhrgebiets. Sie bildeten weiterhin eine Gruppe, die von einem relativ hohen Niveau sozialer Absicherung profitierte, besonders im Fall von Betriebsschließungen. Kurz vor Beginn der Proteste in Rheinhausen hatte der Bundestag sogar die Möglichkeit geschaffen, Arbeitnehmer bereits mit 55 Jahren in den Ruhestand zu schicken. Bereits bei Zeitgenossen, die prinzipiell mit den streikenden Bergleuten sympathisierten, bestand keine Einigkeit darüber, wie die Erfahrungen der Bergarbeiter mit dem Sozialstaat im Streik zu interpretieren seien. Auf Seiten des labour movement verlief hier, wie in anderen Fragen, eine scharfe Trennlinie zwischen dem Denken der New Left und demjenigen der traditionellen Linken. Aus der Sicht des gewerkschaftsnahen Teils von Labour mussten der Wandel der Sozialhilfegesetze und die Praktiken des Department for Health and Social Security im Streik als Angriff auf die Bergarbeiter als Repräsentanten der gesamten Arbeiterbewegung erscheinen: »The strike is also notable for being a vivid and concrete illustration of the way in which a supposedly neutral and independent government department has been manipulated for direct political ends.«24 Diese Unterstützer der NUM sahen den Ausschluss der Berg­arbeiter von der Sozialhilfe als einen Versuch der Regierung, die Streikenden, nach dem Motto »Let them eat coal!«25, an die Arbeit zurück zu hungern. Einige Autoren, die der New Left nahestanden, betonten hingegen eher, wie im Streik ein relativ normaler Vorgang, nämlich die Unterscheidung zwischen bedürftigen und nicht bedürftigen Hilfsempfängern, als besonders diskriminierend empfunden wurde, weil er mit den Bergar­ beitern eine Gruppe traf, die es nicht gewohnt war, auf Hilfe angewiesen zu sein:

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much each of us is prepared to take responsibility for ourselves and each of us prepared to turn around and help by our own efforts those who are unfortunate.« http://www. margaretthatcher.org/document/106689, 7. September 2017. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, hier S. 88–95 und 241–253. Martin H. Geyer, Rahmenbedingungen. Unsicherheit als Normalität, in: Ders. (Hrsg.), Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten, Bundesrepublik Deutschland 1974–1982 (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland Bd. 6), Baden-Baden 2008, S. 1–109, insbesondere S. 47–87. Lesley Suttcliffe / Brian Hill: Let Them Eat Coal. The Political Use of Social Security during the Miners’ Strike, London 1985, S. 41. Vgl. Bill Schwarz, Let Them Eat Coal. The Conservative Party and the Strike, in: Beynon (Hrsg.), Digging Deeper, S. 47–67.

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In retrospect it is hard to say whether the miners as  a special group of claimants received worse treatment than other claimants. […] While on the one hand the DHSS has a legal duty to help all persons in need (with suitable restrictions for strikers), on the other it is under constant pressure to distinguish between the ›deserving‹ and ›undeserving‹ recipient.26

Diese Analyse steht allerdings in scharfem Widerspruch zum Empfinden der Bergarbeiter, die sich keineswegs als »persons in need« sehen wollten, sondern als berechtigte Empfänger von geschuldeten Leistungen einer Solidargemeinschaft. Die Einsprüche vor den appeal tribunals des DHSS waren Teil eines zähen Kleinkriegs zwischen der Außenstelle des Department for Health and Social Security in Seaham, dem sogenannten Caroline House, den miners’ advice centres im Osten Durhams und der von Labour dominierten Lokalverwaltung. Bereits zu Beginn des Streiks herrschte gegenseitiges Misstrauen. Gerüchte genügten und kleine Streitigkeiten eskalierten in der Öffentlichkeit. So erhob der council leader (vergleichbar mit einem Bezirks- oder Ortsbürgermeister) von Easington, der Labour-Politiker John Cummings (keine Verwandtschaft zu Alan Cummings), bereits Mitte Mai schwere Vorwürfe gegen die DHSS -Verwaltung in Seaham: »The DHSS are employing Gestapo tactics and I’m urging all the people in the canteens to refuse to have anything to do with any snooper who turns up or asks for information.«27 Cummings war, ähnlich wie der bereits erwähnte Harry Walker, als Multifunktionär im Streik aktiv. Selbst Bergarbeiter und NUM-Funktionär, leitete er nicht nur die Bezirksverwaltung von Easington, sondern auch die SEAM-Initiative (SEAM stand für Save Easington Area Mines, ein Wortspiel mit »seam« – »Flöz«), eigentlich eine Art Basisgruppe für den Erhalt der Bergwerke im Bezirk Seaham, die aber während des Streiks auch als örtliche miners’ support group fungierte. Er gehörte zum Kreis der Lokalpolitiker, denen Harry Walker regelmäßig Infobriefe aus dem Dawdon Miners’ Support Centre schickte und wurde 1987 als Nachfolger von Jack Dormand ins Unterhaus gewählt. Für Cummings bestand kein Unterschied zwischen sozialen Rechten und Freiheitsrechten, er sah die »Schnüffelei« des DHSS als Menschenrechtsverletzung an, gegen die nur noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einschreiten könne, weil der britische Staat rechtsbrüchig geworden war: »But Coun. Cummings said he would be asking Durham Euro MP Roland Boyes to take up the matter in the European Court of Human Rights over the question of civil liberties being infringed.«28 Im Fall der DHSS -Außenstelle stellte sich das Northern Echo mit einer umfangreichen und hochemotionalen Berichterstattung eindeutig auf die Seite der 26 Alan Booth / Roger Smith, The Irony of the Iron Fist. Social Security and the Coal Dispute 1984–85, in: Journal of Law and Society 12 (1985), S. 365–374, hier S. 370 f. 27 O. A., ›Gestapo‹ tactics are denied, The Northern Echo 18.5.1984; Dieser Vorwurf war bereits im April vom secretary der Murton Mechanics, John Cummins, erhoben worden: O. A., Come clean on snoopers, NUM leader demands, Northern Echo 12. April 1984. 28 Ebd.

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Streikenden. Am 21. Mai untermauerte die Redaktion Cummings Anschuldigungen mit Berichten über zwei Härtefälle: Ein Ehepaar, dem die Fahrtkosten ins Krankenhaus zu ihrem früh geborenen Sohn nicht erstattet wurden, und einem Bergmann, der Fahrtkosten ans Krankenbett seiner inzwischen verstorbenen Mutter erst gültig machen konnte, nachdem er den Totenschein vorgelegt hatte.29 Bei aller Tragik der Einzelfälle interessiert aus Sicht der sozialräumlichen Ordnung vor allem, was genau die Betroffenen als »ungerecht« empfanden. Der Vater des Frühchens machte z. B. geltend, dass seine Frau und er bis dahin noch nie Sozialhilfe empfangen hatten: »My wife and I have worked all our lives and we have never asked for a single penny from social security before.«30 Der 35-jährige Bergmann war also vor allen Dingen darüber empört, dass er, wenn man das Einstiegsalter mit 15 Jahren ansetzt, nach (mutmaßlich) 20 Jahren auf einer Zeche, nun wie jeder andere als Bittsteller behandelt wurde. Der Mann, der seine Mutter im Krankenhaus besucht hatte, empfand vor allem mangelnde Information und Beratung als ungerecht: »›The forms show that you can claim if you have a close relative in hospital, but they said that my mother had to be ›­ seriously ill‹ before they would pay,‹ he said. ›It says nothing about that on the forms,‹ added Mr. Slater, 44.«31 Richard Slater hatte also versucht sich an die Regeln zu halten und war trotzdem gescheitert. Diese Aussagen der Betroffenen verraten ein hohes Bewusstsein für geltende Normen und eine Art selbstverständliches Vertrauen darin, als »anständige« Bürger ein Recht darauf zu haben, vom Sozialstaat und seinen Vertretern ebenso »anständig« behandelt zu werden. Dieses Vetrauen wurde jedoch durch ihre Erfahrungen mit den Behörden schwer erschüttert. Ebenfalls am 21. Mai kamen Bezirksvertreter von Easington zu einer Sitzung des eng mit dem Bergbau verbundenen environmental health committee zusammen, bei der die Vorgänge im Caroline House Hauptthema waren. Dies war insofern brisant als der council Hausherr der DHSS -Außenstelle war. Das Gebäude, in dem die Behörde untergebracht war, gehörte dem Bezirk. In der Ratssitzung ging es nun nicht mehr so sehr um die genauen Gründe dafür, warum die vom DHSS getroffenen Entscheidungen ungerecht waren. Stattdessen konzentrierte sich der Angriff des Labour-Vertreters Frank Shaw darauf, dass die Vertreter der Behörde nicht genug Einfühlungsvermögen besäßen, da sie »Fremde« seien: »It’s staffed by aliens who seem devoid of any sympathy, compassion or humanity. At the present time they are inflicting misery, and anguish by the gross denial of right to benefit. […] Caroline should [be] renamed inhumanity House.«32 Das Northern Echo tat das seine, indem die Redaktion ihren Lesern mit der Überschrift des Artikels eine Anspielung auf Charles Dickens Waisenhausroman Bleak House lieferte: »›Bleak House‹ under fire.« Hier wirkten die Lokalpolitiker der Labour Party und die Regionalzeitung also Hand-in-Hand darauf hin, ein 29 O. A., Sick baby anguish of pit couple, The Northern Echo 21.5.1984. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 O. A., ›Bleak House‹ under fire, The Northern Echo 22.5.1984.

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Opfernarrativ für die Bergarbeiter und den Nordosten als Region zu entwickeln: Plötzlich waren die Bergleute keine stolzen Arbeiter mehr, sondern arme Waisenkinder in einem Roman des 19. Jahrhunderts. Allerdings besaß dieses Narrativ im Mai 1984 noch keine unangefochtene Gültigkeit. Der group manager des DHSS für den Nordosten, Ken Bellamy, wandte sich z. B. gegen die Verurteilungen in der Bezirksversammlung, indem er auf die regionale Einbindung seines Personals und der lokalen Gewerkschaften in die Entscheidungen des Caroline House verwies: ›The apparently emotive condemnation at the committee meeting is unjust to the staff, some of whom are volunteers from other parts of the region. They are rightly aggrieved by such unjustified attacks upon them,‹ the DHSS statement added. Throughout the dispute liaison meetings had taken place with local miners [sic!] leaders and no major problems had been raised.33

Die Auseinandersetzungen um das Caroline House zeigen einerseits, wie Bergarbeiter und ihre Unterstützer in der Region effektiv eine Gegenmacht zur zentralstaatlichen Verwaltung organisieren konnten. Andererseits machen sie auch deutlich, wo die Grenzen dieser regionalen Empörung lagen, nämlich in der Budget­verantwortung des Zentralstaats. Für die Beamten des Department of Health and Social Security in Leeds und London war »der Nordosten« eben nur eine weitere Subregion, in der ihre Tätigkeit sich auf die Ausführung von Gesetzen und Verordnungen beschränkte. Eine politische Willensbildung, der sie sich hätten unterwerfen müssen, fand auf regionaler Ebene gar nicht statt, konnte also auch keinen Einfluss auf ihr Handeln haben. Die mangelnden Einflussmöglichkeiten auf die Sozialverwaltung stellten den regionalen Machtanspruch von Labour auf eine harte Probe. Denn die Stellvertreterpolitik Labours beruhte in weiten Teilen auf der Überzeugung, dass Labour-Mehrheiten vor Ort in der Lage seien, allzu große soziale Zumutungen aus London abzufedern. Die county councils in Durham, Tyne and Wear und Northumberland planten deshalb, streikende Bergarbeiter durch Spenden an Hilfsorganisationen oder sogar Kredite an einzelne Haushalte zu unterstützen. Aus ihrer Sicht galt es, Hilfe so zu organisieren, dass die Zentralregierung nicht eingreifen konnte und Beschlüsse für Hilfszahlungen auch vor Gerichten Bestand haben würden. Damit musste die Debatte über die Legalität und Legitimität des Streiks allerdings auch in den politischen Gremien der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften geführt werden. Denn nun ging es darum, dass die Steuerzahler der Kommunen (engl. ratepayers) die Solidarität Labours mit der NUM unterstützen sollten. Dementsprechend heftig fielen die Reaktionen der Konservativen aus: In ­Durham meldete sich z. B. umgehend die Fraktionsführerin der Konservativen im county council, Sheila Brown, zu Wort, um die Pläne zu verurteilen.34 In der nächsten Sitzung, am 2. Mai, stellte sie dann einen Antrag, mit dem der council 33 O. A., Bosses hit back, The Northern Echo 25.5.1984. 34 Fraser Davie, Tory raps aid bid for strike families, The Journal Newcastle 25.4.1984.

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»Bedenken« gegen jegliche Verwendung von eigenen Mitteln für notleidende Bergarbeiter ausdrücken sollte:35 »That this Council views with grave concern the possible use of County ratepayers’ money for cases of hardship arising from strike action by the mining industry in furtherance of political ends.«36 Der Antrag wurde mit 49 zu sechs Stimmen, bei zwei abwesenden councillors, abgelehnt. Ein beeindruckender Beleg dafür, dass auch die Vertreter der SDP und der Liberalen die soziale Not im Streik als einen Sonderfall ansahen, in dem der council zumindest im Prinzip das Geld aller Steuerzahler verwenden durfte, um den Bergleuten zu helfen. Die Mitglieder der Labour-Fraktion, die zu zwei Dritteln aus Bergleuten oder ehemaligen Bergleuten bestand, hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits verpflichtet, pro Woche zwei Pfund in einen hardship fund einzuzahlen, allerdings unterschieden sie auch hierbei strikt zwischen dem industriellen Konflikt und der Not der Familien, die daraus folgte: »Labour Group secretary Jim Graham said it had been made clear that the money raised should go to alleviate hardship and not be used for activities directly associated with the dispute.«37 Nach drei Wochen heftiger öffentlicher Debatten kam es zur Abstimmung über einen ersten kommunalen hardship fund in Newcastle: Der county council von Tyne and Wear beschloss, 100.000 Pfund zu Verfügung zu stellen. Auch in dieser Debatte spielten Argumente, die auf eine moralische Ökonomie rekurrierten, eine zentrale Rolle. So begründete der council leader der Labour Party die Zahlung damit, dass den Bergleuten durch die neuen Regeln für die Auszahlung von Sozialhilfe Geld vorenthalten worden sei, welches ihnen eigentlich zugestanden hätte: »One and a third million pounds has been clawed back from these families in the past ten weeks and thousands are suffering severe hardship.«38 Ein anderes Ratsmitglied gebrauchte in seiner Rede das Schreckbild von hungrigen Kindern, die keine Schuhe haben: »I don’t want to be responsible for children starving and running about in bare feet.«39 Die Abstimmung des policy and resources committee, das im Rathaus des eher proletarisch geprägten und südlich des Tyne gelegenen Gateshead tagte, fand in einer beispiellosen Atmosphäre statt, weil sowohl die NUM als auch wütende Bürger, die den Konservativen nahestanden, die Sitzung nutzten, um ihre Seite zu unterstützen.40 Die 35 Es handelt sich um dieselbe Sitzung des county council, in der auch beschlossen wurde, dass weiterhin nur Angehörige der Labour-Fraktion dem police committee angehören sollten und die Arbeit des council insgesamt im Sinne des Labour Party Manifesto von 1983 geführt werden solle. 36 DCRO DC / A1/1/12 County Council Minute Book (No. 12), Durham County Council 2 May 1984–1 May 1985, Durham County Council At the Annual Meeting of the County Council held at County Hall, Durham on Wednesday, 2nd May, 1984 at 11.00 a. m., hier S. 10–11, 15. Notices of Motions. 37 O. A., Councillors club together, Northern Echo 2.5.1984. 38 O. A. Cheers as miners win the cash vote, The Northern Echo 22.5.1984. 39 Ebd. 40 Pat Hagan, Drama at ›cash for pitmen‹ vote, The Journal Newcastle, 22.5.1984.

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county councillors mussten den Saal durch ein Spalier von Bergleuten verlassen, die den Abgeordneten von Labour auf die Schulter klopften, während andere gegen das Auto des Fraktionsführers der Konservativen traten.41 Der county council von Durham verhielt sich zurückhaltender als der in Tyne and Wear: Hier wurden drei Tage später, am 24. Mai, nur 25.000 Pfund bewilligt. Aber auch in Durham rekurrierte der council leader, Mick Terrans, auf das gleiche moralische Argument: Die Hilfe der Grafschaft sei nur nötig, weil das DHSS 15 Pfund hypothetisches Streikgeld von den Familienleistungen abziehe.42 In Darlington, wo in den 1980er Jahren keine Kohle mehr abgebaut wurde, und das in Westminster sogar vom konservativen Abgeordneten Michael Fallon vertreten wurde, kam es bei den Beratungen im city council zu einer – für die konsensualen Verhältnisse der englischen Lokalpolitik – pikanten Situation: Die Labour-Mehrheit im Stadtrat zwang den konservativen Bürgermeister, der die Sitzung leitete, in der über Hilfszahlungen entschieden werden sollte, die Sitzungsleitung an einen Labour-Stadtrat abzugeben. Der konservative Bürgermeister mit dem aristokratisch-klingenden Namen Philip Stamford-Bewlay hatte den Antrag auf Hilfszahlungen vorher aus formalen Gründen (»out of order«) von der Tagesordnung streichen wollen.43 Allerdings war das Mobilisierungspotenzial der Konservativen in Darlington – am südlichen Rand des Great Northern Coalfield – viel größer als in Durham oder Newcastle. Dort unterschrieben 1.000 Bürger eine Petition gegen eine mögliche Spende der Stadt, in Durham nur 136. Tatsächlich erregte kaum etwas so sehr den Argwohn der Konservativen, wie die Finanzhilfen der councils für streikende Kumpel. Michael Fallon, der Unterhausabgeordnete für Darlington, kritisierte die Spenden scharf, indem er dem county council von Durham einen sogenannten »booby prize« anhängte, eine Negativauszeichnung für Verschwendungssucht. Diese Idee hatte er, nach eigenen Angaben, bei einem US -Senator abgeschaut. Fallon kombinierte moderne Methoden der Öffentlichkeitsarbeit, neoliberale Anti-Subventions-Rhetorik und das archaische Vokabular des elisabethanischen Armenrechts, um nicht bloß das Verhalten der »verschwenderischen« councils, sondern auch den Charakter der streikenden Arbeiter zu diffamieren: »Tyneside and Durham ratepayers are already subsidising miners in high cost pits through taxes. Now, through the rates, they must support them when idle.«44 Für Fallon und andere Konservative waren streikende Arbeiter keine Arbeitnehmer im Ausstand, sondern »faule«, ja »müßiggängige« Subjekte, die ehrlichen Steuerzahlern auf der Tasche lagen. Damit traf Fallon sicherlich einen Nerv in der Bevölkerung. Doch Leserbriefe aus dem Northern Echo zeigen, dass Kritik am Verhalten der councils eher mit den Begriffen allgemeiner Politikerschelte erfolgte, als im Sinne der Konservativen – als Angriff auf streikende Bergleute, NUM und Labour: 41 Ebd. 42 O. A., County to aid pit families, The Northern Echo, 25.5.1984. 43 O. A., Mayor in pit cash wrangle, The Northern Echo, 1.6.1984. 44 O. A., MP hangs booby prize label, The Northern Echo, 1.6.1984.

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All the decisions are taking place in oil centrally heated offices in county halls, and all or nearly all our schools in Durham also use oil and I dare say they do so in Tyne and Wear. Just think of the boost in coal if only our big councillors would demand a change to coal. […] Fair’s Fair Durham.45 Arthur Scargill […] refuses to pay »starving miners« strike pay despite having almost £ 33m in union funds. […] I sympathise with miners and their families whose loyalty to their union and their class is being exploited. W. Calvert 20 Gilling Crescent. ­Darlington.46 I ASK those Labour-controlled councils making direct payments to the striking miners: can we assume that in future workers who reside in their areas and happen to be on strike will receive the same treatment? If not, they must surely lay themselves open to the charge that this decision was not made on entirely humanitarian grounds but because the NUM is a large financial contributor to the Labour Party. J. G. Huntington. (Secretary, Shildon SDP), 5 Central Parade, Shildon.47 We have the solution in our own hands. Vote for the Conservative [sic!] in the next municipal elections and put out these high-spenders. Name and address supplied. Darlington.48

Offenbar wählte die Redaktion des Northern Echo nur solche Zuschriften für den Abdruck aus, in denen sich Leser in irgendeiner Art gegen die kommunalen Zahlungen wandten. Bis auf den Beitrag des SDP-Politikers fällt allerdings auf, dass in allen Briefen sozialmoralische Zuschreibungen vorkommen, die sich nicht besonders stark von denen der streikenden Bergarbeiter unterscheiden: Die einfachen, hart arbeitenden Menschen hätten es verdient, dass sich endlich jemand um ihre Interessen kümmert, sei es nun der Erhalt von Arbeitsplätzen oder der sparsame Umgang mit Steuergeldern. Nur die Stoßrichtung war eine andere: Den Verfassern der Leserbriefe gelten die Vertreter von Labour in den county councils und die Führung der NUM als elitär, verschwenderisch oder unbarmherzig. Dagegen werden in keinem der abgedruckten Leserbriefe streikende Bergleute als »faul« bezeichnet. Diese Art der Diffamierung unterlief scheinbar nur konservativen Politikern wie Sheila Brown oder Michael Fallon, die nur wenige Berührungspunkte zur mining culture in Durham hatten. Die Diskussion über Hilfen der county councils für die streikenden Arbeiter prägte die öffentliche Diskussion während des gesamten Streiks und darüber hinaus. Abstimmungen über Hilfsgelder fanden vor allem in Versammlungshallen statt, die für Bergarbeiter gut erreichbar waren, und es kam auch immer wieder zu Massenauftritten von Bergleuten und ihren Familien sowie Einschüchterungen gegenüber councillors der Konservativen Partei.49 Wie schnell 45 Striking on the rates? (Letter’s special), The Northern Echo, 5.6.1984. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 O. A., Rate cash to help striking miners, The Northern Echo, 14.6.1984; O. A., Pit pickets greet ›rabble‹ jibe councilor, The Northern Echo 2.8.1984.

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die Unterstützer der NUM mehr Geld brauchten, zeigte sich im Sommer 1984: Der county council von Durham beriet ab Mitte Juli über eine neue Spende in Höhe von 25.000 Pfund, da die Ende Mai bewilligte Summe in gleicher Höhe bereits aufgebraucht war.50 Es ist nicht leicht nachzuweisen, wie genau die Zahlungen der county councils sich auf den Verlauf des Streiks im Nordosten auswirkten. Im Sommer haben sie womöglich zur Geschlossenheit bei den Streikenden beigetragen, allerdings muss offenbleiben, ob dies eine direkte Folge der finanziellen Hilfen war oder ob nicht vielmehr der psychologische Faktor überwog. Denn die Debatten und Abstimmungen über Hilfszahlungen bildeten in jedem Fall eine Bühne für die Bergleute und ihre Unterstützer, auf der sie ihre Positionen öffentlichkeitswirksam kundtun und so – zusätzlich zum eigentlichen Streikgeschehen – ihre Dominanz im öffentlichen Raum der Region unter Beweis stellen konnten. Jedenfalls zeichnete sich spätestens ab dem Herbst 1984 deutlich ab, dass die Zahlungen der county councils alleine nicht mehr als ausreichend angesehen wurden, um die Solidarität der NUM-Mitglieder zu garantieren. Die NUM areas in Northumberland und in Durham beschlossen, ihren streikenden Mitgliedern Sonderzahlungen zu gewähren, um den immer verlockenderen Prämien des NCB für Streikbrecher etwas entgegenzusetzen.51 Im November spitzte sich die Debatte um das soziale Elend der Bergleute noch einmal zu: Abgeordnete vom linken Flügel der Labour Party inszenierten im Unterhaus unter anderem einen »uproar on the floor«, indem sie sich weigerten, den Boden des Parlaments zwischen den Reihen der Regierung und der Opposition zu verlassen. Dieser, nur innerhalb der Verhaltensregeln des House of Commons verständliche Akt der parlamentarischen Rebellion, rief bei den regierenden Konservativen ein Höchstmaß an Verachtung hervor, denn aus ihrer Sicht bestätigte Labour damit nur, was sie ohnehin vermuteten: Ziel des Miners’ Strike war es nicht, Zechenschließungen zu verhindern, sondern die Souveränität des Parlaments zu untergraben. Der Labour-Linken um Tony Benn gelang es auch, zusätzliche Debatten anzusetzen, um das soziale Unrecht, das die Konservativen ihrer Meinung nach begingen, anzuprangern.52 Vor fast leeren Bänken auf Seiten von Labour kamen dabei allerdings vor allem die Labour-Abgeordneten zu Wort, die sonst eher von der Fraktionsführung kaltgestellt wurden. Der Hauptredner der Opposition war deshalb Michael Meacher53, der als Abgeordneter für Oldham (West) und als zuständiger Shadow Secretary of State for Health and Social Services den Antrag stellte, die Regierung für die geplante jährliche Erhöhung des hypothetischen Streikgelds, das von der 50 51 52 53

O. A., County plans more aid, The Northern Echo, 11.7.1984. Paul Eastham, Talks on £100 payment, The Northern Echo 27.11.1984. Hansard’s House of Commons Debates, 26.11.1984, vol 68, S. 618–70. Meacher starb 2015, gehörte aber noch zu der Gruppe von Parlamentariern, die Jeremy Corbyn in den parteiinternen Wahlen als Kandidat für den Vorsitz der Labour Party nominierten: Julia Langdon, Michael Meacher Obituary, The Guardian 21. Oktober 2015: https://www.theguardian.com/politics/2015/oct/21/michael-meacher, 26.7.2017.

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Sozialhilfe abgezogen wurde, zu verurteilen. Für die Regierung sprach Norman Fowler (später: Baron Fowler) als Secretary of State for Social Services und danach Jill Knight (später: Baroness Knight), Abgeordnete für Birmingham Edgbaston und Veteranin des rechten Flügels der Konservativen. Gerade weil die Debatte eher von Hinterbänklern geprägt war, macht sie deutlich, wo die ideologischen Fronten zwischen Labour und den Tories verliefen, und weshalb keine der beiden Seiten gewillt war, die Position der Gegenseite als legitim anzuerkennen. Es gab im Herbst 1984 keine gemeinsame Sprache mehr, um über den Miners’ Strike zu reden, stattdessen herrschte auf beiden Seiten moralische Empörung vor. Symptomatisch dafür ist ein Zwischenruf des Abgeordneten für Durham City, Mark Hughes,54 während der Rede von Jill Knight (Baroness Knight): »When the hon. Lady says that it is wrong for citizens to give money to impoverished women and children, she should be ashamed of herself.«55 Knight entgegnete ihm zuerst, dass die ständigen Sammelaktionen der NUM und ihrer Unterstützer es anderen Hilfsorganisationen schwerer machen würden, Spenden zu sammeln. Dann ging sie zum Angriff über und verknüpfte die Frage der Sozialhilfe für streikende Bergarbeiter direkt mit der Gewalt im Streik: The Opposition have found an extraordinary reason for seeking to destroy parliamentary democracy. NUM money is being used to pay people to beat up miners and to threaten working miners and their families. The union is paying people to man the picket lines and to attack people’s homes. They are being paid to hurl missiles at the police.56

Knight setzte sich als junge Parlamentarierin in den 1960er Jahren im Monday Club für das Festhalten an afrikanischen Kolonien, insbesondere Südrhodesien ein, und blieb während ihres gesamten politischen Lebens eine vehemente Gegnerin von Gruppen, die sie als »unbritisch« ansah.57 Darunter verstand Knight sowohl irische Terroristen, als auch einheimische Homosexuelle oder eben Gewerkschafter.58 Als Konservative und »Unionistin« war Streik für sie ganz einfach eine Form gewalttätiger Insubordination gegen die Herrschaft des 54 Tam Dalyell, Obituary Mark Huges, The Independent 25. März 1993, http://www.inde pendent.co.uk/news/people/obituary-mark-hughes-1499770.html, 26.7.2017. 55 Hansard’s, House of Commons Debates, 26.11.1984, vol 68, S. 618–70, hier S. 631. 56 Ebd. 57 Vgl. http://www.historyofparliamentonline.org/volume/oral-history/member/knightjill-1923, 26.7.2017. 58 Damit stand sie übrigens im scharfen Gegensatz zu ihrem Vorredner Norman Fowler, der sich bereits in den 1980er Jahren um AIDS -Aufklärung in Großbritannien verdient machte, vgl. dazu: Nicholas Billingham, Section 28 Anti-Gay-Law was not Devised in the Department of Education, The Guardian 7.6.2015, https://www. theguardian.com/ world/2015/jun/07/section-28-anti-gay-law-was-not-devised-in-department-of-educa tion, und: James Park, Conservative Lord Fowler: If Parliament Values People Equally it must Make Same Sex Marriage Legal, Pink News 10.5.2013, http://www.pinknews. co.uk/2013/05/10/conservative-lord-fowler-if-parliament-values-people-equally-it-mustmake-same-sex-marriage-legal, zuletzt besucht 26.7.2017.

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souveränen Parlaments, des höchsten Ausdrucks britischer Staatlichkeit und Identität. Diese Art von Ungehorsam konnte nur als Angriff auf die Nation verstanden werden, daher galt es, Streik, wo immer möglich, zu bestrafen und zu verhindern. Kürzungen bei einer in ihren Augen lapidaren Einrichtung wie der Sozialhilfe waren da nur recht und billig. Die Diskurse im Nordosten verliefen dagegen in ganz anderen Bahnen, weil der Konsens über eine soziale Richtschnur unternehmerischen und politischen Handelns weiterhin von vielen Gruppen geteilt wurde. Angesichts der immer höheren Zahl an Bergarbeitern, die im November an die Arbeit zurückkehrte, bestritt area director Archibald z. B. vehement, dass das NCB sie an die Arbeit zurück gehungert hätte: »He denied the Board had been ›starving‹ the men back to work and said he did not think the lure of large Christmas bonus payments had been the sole factor in generating the return.«59 Im Regionalbewusstsein der Montanregion, in den handlungsleitenden kollektiven Vorstellungen, die sowohl von Arbeitern als auch von Managern in der Region geteilt wurden, blieb der gegenseitige Umgang im Streik also weiterhin mit einer sozialen Komponente verknüpft. Unternehmen, Ämter und regionale wie kommunale Gebietskörperschaften mussten ungeschriebene Regeln des sozialen Ausgleichs einhalten. Dennoch bewirkten die Erfahrungen der gut qualifizierten Industriearbeiter mit plötzlicher Not einen grundlegenden Wandel im Regionalbewusstsein: Die stolzen Bergarbeiter des Durham Coal Field, die sich bis zum Streik als Stütze der Nation gefühlt hatten, waren nun eine deklassierte und gedemütigte Gruppe von Außenseitern. Dabei erwies sich das Thema soziale Not als Beschleuniger für den Bewusstseinswandel: So berichtete das Northern Echo z. B. am 8. Januar 1985 darüber, dass der Vorsitzende der NUM lodge der Zeche Herrington, Joe Stokoe, nachdem er dies eigens in einer Betriebsversammlung angekündigt hatte, die picket line überquert hatte und zur Arbeit zurückgekehrt war.60 Stokoe schilderte in der Zeitung sein ökonomisches und familiäres Dilemma: I am a loyal NUM member and I still support the strike. But where does your loyalty lie when you are going to lose your wife, your house and the bills are piling up? If I was financially better off, I would rejoin the strike tomorrow.61

Stokoes Aussage enthielt eine doppelte Botschaft: Einmal machte der Streik­brecher auf seine persönliche Not und die seiner Kollegen nach acht Monaten Streik aufmerksam. Zweitens gab er der Gewerkschaftsführung deutlich zu verstehen, dass es selbst für überzeugte und engagierte Gewerkschafter eine Schmerzgrenze der Solidarität gab. Und diese lag nicht im Bereich des Politischen, sondern im

59 Nick Thompson, More pitmen back to work. 321 ›rebels‹ clock in, The Journal Newcastle 13.11.1984. 60 Paul Eastham, ›I was starved back in‹. Union leader crosses picket, The Northern Echo 8.1.1985. 61 Ebd.

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Bereich Ehe und Familie. Spätestens hier wird deutlich, dass es unmöglich ist, über die sozialstaatliche Krise im Miners’ Strike zu sprechen, ohne die Rolle von Frauen und miners’ wives support groups zu erwähnen. Frauen beanspruchten im Streik einen neuen Platz in der bis dahin von Männern dominierten Politik in den Montanregionen. In Nordostengland war es völlig neu, dass Ehefrauen, Mütter und Töchter im kollektiven Einsatz für die Gemeinschaft in den pit villages, in den canteens, beim Sammeln und Verteilen von Spenden oder im öffentlichen Diskurs, z. B. als Kronzeugen für soziale Ungerechtigkeit, ihre eigene Stimme erhoben. Viele von ihnen reisten, mit einem politischen Auftrag im Gepäck, zum ersten Mal in ihrem Leben in andere Städte, manche sogar in andere Länder. Viele pflegten zum ersten Mal über einen längeren Zeitraum Kontakt mit Frauen außerhalb ihres Wohnortes und außerhalb ihrer sozialen Schicht. Damit veränderte sich unweigerlich auch die Konstellation der Geschlechter in den Zechendörfern des Nordostens. Die Gründe dafür, dass der Miners’ Strike hier einen ebenso verspäteten wie fundamentalen Wandel auslösen konnte, weisen ins Zentrum der sozialräumlichen Ordnung Montanregion, die auch immer eine spezifische Ordnung der Geschlechter miteinschloss: Die Industriearbeit in den Montanregionen war männlich geprägt. Frauen waren zwar auch vor dem Miners’ Strike keineswegs ausschließlich Hausfrauen und selbst in ihrer Rolle als Haufrauen unterschieden sie sich von Frauen der middle und upper class, z. B. darin, dass Zartheit und Zurückhaltung als weibliche Eigenschaften eine eher untergeordnete Rolle spielten. Kennzeichnend für die sozialräumliche Ordnung Montanregion war und blieb aber die strikte Trennung von weiblichen und männlichen Sphären ökonomischer Aktivität. Damit ging auch eine spezifische Trennung der sozialen Sphären von Männern und Frauen einher: Männer arbeiteten im Bergwerk und waren in der Gewerkschaft und in der Kneipe gesellschaftlich und politisch aktiv, Frauen arbeiteten im Haus, bei der Beschaffung von Lebensmitteln und in der Familie, wenn sie berufstätig waren, dann zumeist im Dienstleistungsbereich als Sekretärinnen, Krankenschwestern oder Buchhalterinnen. Ihre gesellschaftlichen Aktivitäten fanden häufig im kirchlichen Bereich statt. Zu einer respektablen Arbeiterfamilie gehörte aber auch der gemeinsame Besuch von Frauen und Männern im workingmen’s club, der an Tanzabenden oder beim Bingo längst nicht mehr nur Männern vorbehalten war. In den Kleingartenvereinen standen Frauen und Männer bei den leek shows, den in ganz Nordengland verbreiteten Wettbewerben der Lauchzüchter, im direkten Wettbewerb miteinander. Aber die Frauen von Bergarbeitern eroberten sich durch ihren Einsatz und auch ihre eigenen ökonomischen Leistungen im Streik völlig neue Handlungsspielräume. Dabei spielten Frauen aus dem Nordosten auch auf nationaler Ebene eine prominente Rolle: Die Vorsitzende der Women Against Pit Closures war die Bergarbeiterfrau Anne Lillburn aus dem Weiler Hadston bei Morpeth in Northumberland.62 Selbst einfache Aktivistinnen, wie 62 Ken Smith, A leader among wives. Ann fights for jobs – and future, The Journal Newcastle, 4.12.1984.

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Anne Lamb aus Hetton-le-Hole in Durham, hielten Vorträge auf Solidaritätskundgebungen im Ausland und konnten sich zumindest vorstellen, nach dem Streik auch für kommunale Mandate zu kandidieren.63 In den Worten von Anne Suddick, einer Aktivistin aus Durham, die schon vor dem Streik als Sekretärin in der NUM-Zentrale gearbeitet hatte und die während des Streiks die Arbeit der ca. 60 Frauengruppen in Durham und Northumberland koordinierte: »Women won’t go back to being pathetic. We’re an army.«64 Frauen kamen während des Streiks vor allem bei der ökonomischen Absicherung der Familien eine besondere Verantwortung zu. Jim Phillips hat diesen Zusammenhang für Schottland systematisch untersucht und das Arbeitseinkommen von Frauen in den schottischen Kohlerevieren sogar in einem mathematischen Modell als einen von zwei entscheidenden Faktoren für das Durchhaltevermögen von Zechenbelegschaften im Streik herausgearbeitet (der andere Faktor in Phillips Modell ist die Quote der Sozialwohnungen).65 Ein Blick in die Quellen aus dem Nordosten bestätigt Phillips Interpretation: Frauen trugen häufig die ökonomische Hauptlast des Streiks. Das zeigte sich unter anderem darin, dass Frauen bei den Protesten gegen die drohende Abschaltung von Gas-, Wasserund Stromanschlüssen die Führung übernahmen. Zum Beispiel marschierten am 13. Juni 1984 rund hundert Frauen unter Führung der Wearmouth Women’s Support Group von Gateshead über den Tyne nach Newcastle, um dem Direktor des North Eastern Electricity Board einen offenen Brief zu überreichen. Dabei bezogen sich die Frauen ausdrücklich auf ihre Expertise und Verantwortung im Haushalt: »Things are very difficult, especially if you have small children in the house, […] We can’t buy coal because we are on strike and the merchants won’t sell it to us. So if you have no coal, you have no fire, and without electricity, it is even worse.«66 Die Frauen drohten daher mit eigenen »Streikposten« vor den Häusern von Familien, bei denen das NEEB den Strom abstellen wollte. Sie verlangten eine Garantie des Unternehmens für die Stromversorgung von Familien streikender Bergarbeiter. Die ökonomische Verantwortung von Frauen für Haushalt und Familie zeigte sich aber auch darin, dass die strengen Regeln für das Streikbrechen, die für Männer galten, für sie keine Gültigkeit hatten. Das Northern Echo berichtete z. B. von einer Familie, in der die Tochter ihre Stelle in der Kantine einer Zeche kündigte, um sich arbeitslos zu melden und dann mit ihrer Sozialhilfe Bruder und Vater zu unterstützen, die als streikende Bergleute keine Sozialhilfe beziehen konnten.67 Auch die Protokolle der appeal tribunals 63 Jane Lomas, Action women rise from coal strike ashes, The Northern Echo 5.3.1985. 64 Ebd.; vgl.: Loretta Loach, We’ll be Here Right to the End … And after: Women in the Miners’ Strike, in: Huw Beynon (Hg.), Digging Deeper. Issues in the Miners’ Strike, London 1985, S. 169–179. 65 Phillips, Collieries, S. 119–129. 66 O. A. Wives may picket homes, The Northern Echo 14.6.1984. 67 Gerry Marron, All-out family on the breadline. ›Waiting to be cut off‹, The Northern Echo 18.5.1984.

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beim DHSS enthalten Informationen über Frauen, die während des Streiks einen Arbeitsplatz beim NCB aufgaben, um woanders Arbeit zu finden: In einer Familie, die supplementary benefit beantragte, weil die zwei Söhne an Mukoviszidose erkrankt waren und deshalb eine spezielle Diät benötigten, kündigte die Ehefrau ihr Arbeitsverhältnis auf der Zeche Murton und nahm ab September 1984 eine andere Tätigkeit auf.68 Die neue, ungewohnte Rolle von Frauen in einem Kernbereich der regionalen Politik konnte aber auch zur Fixierung von Geschlechterklischees und Rollenbildern führen. Besonders die Regionalkolumne des Northern Echo, »John North«69, tat sich dabei hervor: Am 24. Juni berichtete der fiktive »John North« in einer Doppelreportage über die ökonomische Lage der Bergarbeiter. Dazu nutzten die Autoren das Beispiel einer Bergarbeiterfrau und das eines (männlichen) Gewerkschaftsfunktionärs. Bei der Frau wurde vor allem hervorgehoben, dass sie sich im Streik selbst das Backen beigebracht hatte, um ihre Familie besser versorgen zu können: The first loaf of bread Elaine Abbot baked was so hard she couldn’t get a knife into it. But now, after weeks of practice she’s able to turn out a decent loaf every time. ›Well, you’ve got to,‹ she says. ›It’s so much cheaper than buying it from the shop’.70

Der Schatzmeister der Murton Miners, Albert Swann, musste hingegen Härte beweisen, wenn es darum ging, Essenspakete zu verteilen: »He turned away miners who admitted their families had money coming in – from wives or children who were still going out to work. ›The few that I turned away accepted it,‹ he said.«71 In Wahrheit agierten Frauen viel häufiger auch im politischen Bereich des Streikgeschehens. In Northumberland tat sich vor allem die Vorsitzende der Brenkley Miners’ Wives Support Group, Sheila Graham, als Aktivistin hervor, der es gelang, durch Spenden und Petitionen erhebliche ökonomische Ressourcen zu mobilisieren. Dafür wählte sie eine Sprache, die gleichermaßen die Rolle von Frauen als Aktivistinnen im Streik wie als Steuerzahlerinnen und Bürgerinnen hervorhob: »We, active members of Brenkley Miners’ Wives Support Group, who are also ratepayers […] We are demanding our rights as citizens of Newcastle.«72 Damit erreichte Graham, dass der Stadtrat im Dezember beschloss, 84 £ an 68 Department of Health and Social Security – Jack Dormand MP, 3.9.1984, 2 Seiten o. P., S. 1, in: DCRO D / Dor 6/8 (29., Corr. Social Security, Var. matters: Children’s Shoes e. a., 08–10.1984); Department of Health and Social Security – Jack Dormand MP, 10.12.1984, in: DCRO D / Dor 6/8 (29., Corr. Social Security, Var. matters: Children’s Shoes e. a., ­08–10.1984); in diesem Fall wurde die Sonderzahlung gewährt. 69 Es gibt keine Person mit Namen »John North«. Der generische Name soll hervorheben, dass es in der Kolumne um die Sorgen des sprichwörtlichen »Kleinen Mannes« aus dem Norden geht. 70 John North with the miners, Life on the (home-baked) bread line, The Northern Echo 24.6.1984. 71 John North with the miners, Reckoning up all those rations, ebd. 72 Pat Hagan, Miners’ wives rap council over aid, The Journal Newcastle 8.11.1984.

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Familien von Bergarbeitern zu zahlen, die keine weiteren Einnahmen außer der Sozialhilfe hatten.73 Grahams Engagement wurde nach dem Streik von der NUM Northumberland unter anderem dadurch gewürdigt, dass die Gewerkschaft ihr Buch »Their Lesson. Our Inspiration« auf eigene Kosten und im Selbstverlag druckte.74 Das war keine selbstverständliche Ehre und zeigt, welch hohes Ansehen die miners’ wives sich im Nordosten erworben hatten. Der Wandel der Geschlechterbeziehungen im Miners’ Strike in der Montanregion Nordostengland war fundamental. Nicht nur die industrie- und regionalpolitische Ordnung, sondern auch die familiären Machtverhältnisse hatten sich durch die Bedrohung der männlich geprägten Industriearbeit im Streik verschoben. Der Wandel der Geschlechterrollen in Nordostengland zeigt deutlich, dass die sozialen Auswirkungen des Miners’ Strike und der Rheinhausener Proteste kaum vergleichbar sind: Da es in Rheinhausen keine Not und daher auch keine Krise des Sozialstaats gab, griffen die Proteste dort nicht so tief in die soziale Struktur ein wie im Nordosten. In Rheinhausen gab es keine vergleichbare Krise des Sozialstaats, weil die Arbeiter nicht offiziell streikten und staatliche Transferleistungen daher nicht nötig waren. Zudem verzichtete Krupp – gerade zu Beginn der Proteste – auf Lohnsanktionen für Ausfallschichten und Produktionsverluste. So mussten lediglich die offiziellen Streiktage mit 1,4 Millionen DM kompensiert werden, was dank der Spenden in eine frühzeitig eingerichtete »Solidaritätskasse« des Betriebsrats bei der Sparkasse Duisburg auch ohne offizielles Streikgeld gelang.75 In Rheinhausen fehlten ebenfalls politische Akteure, die, wie die regierenden Konservativen in Großbritannien, ökonomische Härte gegenüber den wild streikenden Stahlkochern fordern und durchsetzen konnten. Vor Ort in Rheinhausen hatten weder Krupp, noch IG Metall, SPD oder CDU ein Interesse daran, dass die Proteste – zusätzlich zur strukturpolitischen Krise – auch noch in eine sozialpolitische Krise münden würden. Daher konzentrierte sich sowohl die öffentliche Debatte als auch das Handeln der beteiligten Akteure in Rheinhausen schnell auf die strukturpolitische Bewältigung der bevorstehenden Werksschließung. Allerdings verfolgten die Akteure dabei durchaus sozialpolitische Motive. Diese reichten von der Erhaltung des eigenen Arbeitsplatzes, über die Sicherung von Lebensqualität und Kaufkraft im Stadtteil, bis zur Wahrung des sozialen Friedens im Ruhrgebiet. Dahinter standen unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen und Zukunftsszenarien. Der Journalist Günter Verstappen entwarf in einem Beitrag im Jahrbuch für die linksrheinischen Ortsteile Duisburgs aus dem Jahr 1984 z. B. eine Schreckensvision von einem Rheinhausen »ohne Hütte«, in dem arbeitslose Stahlkocher ihre Zeit totschlagen:

73 Phil Murphy, Council to give £84 to miners, The Journal Newcastle 4.12.1984. 74 Sheila Graham, Their Lesson. Our Inspiration, Newcastle upon Tyne 1986. 75 Ingrid Müller-Münch, Noch rasselt der Bär nur an den Ketten. Rheinhausen am 1. Mai: Warten auf die Vermittler und ein unerwarteter Besuch, Frankfurter Rundschau 2.5.1985.

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Albert K. geht durch Rheinhausen. Es ist Vormittag, kurz nach zehn Uhr. Er will in eine Kneipe und dann in den Volkspark. Sein Besuch beim Arbeitsamt war wieder einmal umsonst gewesen. Sie haben keine Stelle für ihn, natürlich nicht. […] Albert kommt an seinem früheren Haus in der Margarethensiedlung vorbei. Er hat es verkaufen müssen, kurz nachdem er von Krupp entlassen worden war. Es tat weh, weil er jahrelang Geld und viel Arbeit ins Haus gesteckt hatte. […] So ungefähr hat sich Albert seine Zukunft einmal ausgemalt. In Wirklichkeit hat er heute noch seinen Job, ist keineswegs arbeitslos. Wahrscheinlich verdankt er das aber nur jenem »Dezember-Aufstand« Ende 1982, der ganz Rheinhausen mobilisierte.76

Verstappen bezog sich auf die bereits erwähnte Aktion der Rheinhausener Arbeiter, die Bertold Beitz in der Villa Hügel im Dezember 1982 symbolisch ein Schienenstück aus ihrem Werk überreicht hatten (Siehe Kapitel III). Verlust­ ängste, wie Verstappen sie ausmalte, hatten eine reale Grundlage. Die IG Metall Verwaltungsstelle Duisburg reklamierte über 63.000 verlorene Arbeitsplätze im Duisburger Stadtgebiet (von 1987) seit 1961.77 Das eigentliche Problem bestand aber nicht darin, dass massenweise Stahlarbeiter entlassen wurden, sondern im Fehlen von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Schulabgänger. Wer einmal in einem Stahlwerk arbeitete, war dagegen relativ gut abgesichert, in Betrieben, die schließen mussten, lag das Rentenalter häufig bei 55 Jahren. Aber auch Jüngere Kollegen erhielten in den meisten Fällen einen passenden Arbeitsplatz in einem anderen Werk. IG Metall und IG Bergbau sahen sich zudem nicht immer als Interessenvertreter der nachrückenden Generationen. In den 1980er Jahren bezogen beide Gewerkschaften sogar Stellung gegen den angeblich fehlenden Leistungswillen und fehlgeleitetes »Anspruchs­denken« von arbeitslosen Jugendlichen.78 Ähnlich wie in Nordengland müssen die Ängste und Befürchtungen der Stahlarbeiter in Rheinhausen vor dem Hintergrund ihrer relativ privilegierten Situation gesehen werden. Als gut abgesicherte, hochqualifizierte und gut bezahlte Industriearbeiter hatten sie einfach besonders viel zu verlieren. Was die sozialpolitische Großwetterlage der 1980er Jahre angeht, ergibt der Vergleich ein ambivalentes Bild: Gerade bei den DGB -Gewerkschaften galt die seit 1982 amtierende schwarz-gelbe Regierung als extrem gewerkschaftsfeindlich. So machte der DGB z. B. mobil gegen die Reform des Paragrafen 116 Arbeitsförderungsgesetz, mit der die Bundesregierung, allen voran Arbeitsminister Norbert Blüm, verhindern wollte, dass Arbeitnehmer, die »kalt« ausgesperrt wurden, Sozialhilfe beziehen konnten. Bei einem Aktionstag am 6. März 1984 demonstrierten über eine Million Arbeitnehmer dagegen und bei einer sogenannten »Arbeitnehmer76 Günter Verstappen, Ein Schienenstück, S. 18. 77 Betriebsrat u. a., Rheinhausen muß leben, S. 3 (Kopie aus »die stimme«, Zeitung der IG Metall Verwaltungsstelle Duisburg, vom September 1987). 78 Vgl. Martin H. Geyer, Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder. Der Umgang mit Sicherheit und Unsicherheit, in: Ders. (Hrsg.), Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten, Bundesrepublik Deutschland 1974–1982, Baden-Baden 2008, S. 111–231, hier S. 200–202.

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befragung« zu diesem Thema wurden 7,6 Millionen Stimmzettel abgegeben. Die DGB -Gewerkschaften sahen sich seit dem Regierungswechsel 1982 allenthalben in einem Kampf gegen Privatisierungen und »Sozialabbau«.79 Doch im Vergleich zur Lage in Großbritannien wirken die Konflikte um den westdeutschen Sozialstaat in den 1980er Jahren  – jedenfalls im Rückblick  – vergleichsweise harmlos. Dieser Unterschied in der historischen Wahrnehmung hat auch damit zu tun, wie unterschiedlich die Erinnerung an die beiden Konflikte im kollektiven Bewusstsein strukturiert ist. Zum Zeitpunkt, als diese Arbeit verfasst wurde, verliefen viele Bruchlinien in der britischen Politik immer noch dort, wo sie in den 1980er Jahren verlaufen waren: So gehörte Michael Meacher, der Schattenstaatsekretär in der Nachtdebatte des Unterhauses am 26. November 1984, z. B. kurz vor seinem Tod im Sommer 2015 zu den Abgeordneten, die Jeremy Corbyn als Kandidaten für die Abstimmung über den Parteivorsitz nominierten und auch einige der weiteren Teilnehmer jener Plenarsitzung, z. B. Sir Kevin Barron PC , sind weiter politisch aktiv. Theresa May, die aktuelle Premierministerin, kandidierte erstmals bei den Unterhauswahlen 1992 für einen Sitz in Westminster und zwar ausgerechnet im Wahlbezirk North West Durham, im Herzen des Nordostens. In Deutschland hingegen überlagern die Umbrüche der Jahre 1989/90, die Folgen der Wiedervereinigung und die Meistererzählung vom wirtschaftlichen Wiederaufstieg in Folge der Agenda-Politik der Regierung Schröder das historische Bewusstsein für sozialpolitische Konflikte der 1980er und 90er Jahre. Eine Gegenerzählung dazu scheint bisher nicht möglich zu sein, jedenfalls hat sie sich bislang nicht im kollektiven Bewusstsein der Bundesrepublik etabliert. In den 1980er Jahren gab es, gerade im gewerkschaftlichen Milieu, Ansätze zu einer solchen Gegenerzählung, auch wenn es keine Zuspitzung der Debatte auf eine Persönlichkeit wie Thatcher gegeben hat. In der IG Metall und bei den Rheinhausener Arbeitern dienten z. B. die Namen von prominenten Vertretern der FDP wie Otto Graf Lambsdorff oder Martin Bangemann neben dem stets präsenten »Dr. Cromme« als Chiffren für verachtenswerten Kahlschlag. Die Furcht vor sogenannten »neoliberalen« Reformen war nur eine Seite der Medaille. Konservative und neoliberale Reformer in Deutschland versuchten – ähnlich wie in Großbritannien – eine Niedergangsrhetorik zu etablieren, die zwar in Büchern mit reißerischen Titeln wie »Der Wohlfahrtsstaat am Ende«80 feilgeboten wurde, aber nicht in gleicher Weise verfing, wie das Narrativ vom »British Decline«. Der gesellschaftliche Diskurs über den Sozialstaat in Westdeutschland änderte sich, aber ein gewisses konsensuales Moment blieb gewahrt. Blickt man allerdings auf magistrale Darstellungen der Sozialpolitik in den 1980er Jahren, wie die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebene »Geschichte der

79 Schneider, Kleine Geschichte, S. 377–379. 80 Günther Schmölders, Der Wohlfahrtsstaat am Ende. Adam Riese schlägt zurück, München 1983.

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Sozialpolitik in Deutschland«, so findet sich in vielen Beiträgen das Narrativ des sogenannten »Reformstaus«.81 Die Ambivalenzen dieser – selbst innerhalb der britischen und deutschen Geschichte – gegenläufigen Narrative lassen sich sicher nicht durch einen Vergleich von Miners’ Strike und Rheinhausener Protesten auflösen. Der britisch-deutsche Vergleich zeigt aber, dass sowohl die Deutungen der westdeutschen Sozialpolitik der 1980er Jahre als Phase des Stillstands als auch die Interpretation der britischen Sozialpolitik als Rückbau des Sozialstaats hinterfragt werden können und müssen. So ist die Krise des Sozialstaats im Nordosten während des Miners’ Strike zumindest auch auf einen unlösbaren Konflikt zwischen einer regional begrenzten moralischen Ökonomie der Versorgung und dem Gleichheitsgrundsatz des Zentralstaates zurückzuführen. Doch fanden die Gegner solcher Hilfszahlungen relativ leicht Anschluss an die antigewerkschaftliche Rhetorik der Konservativen, weil die vermeintliche »Verschwendung« von Steuergeldern an streikende Arbeiter so ziemlich alle Vorurteile über die Politik einer gewerkschaftshörigen Labour Party bestätigte. Im Laufe der Zeit entwickelten diese Deutungen dann ein Eigenleben und bewirkten, dass der zugrundeliegende Konflikt um Zechenschließungen sich weiter verschärfte. Diese Konfliktdynamik war abhängig von den spezifischen ideologischen Frontstellungen und den institutionellen Voraussetzungen in Großbritannien. Der Vergleich zwischen Miners’ Strike und Rheinhausen kann im Hinblick auf sozialstaatliche Bewältigungsversuche der zugrundeliegenden Konflikte dazu beitragen, diesen Unterschied herauszuarbeiten. Die Notwendigkeit einer strukturpolitischen Bewältigung der angekündigten (und später auch tatsächlich vollzogenen Schließungen) hingegen ergab sich – jeweils unter völlig anderen politischen – Voraussetzungen in beiden Regionen. Die Art und Weise, in der diese strukturpolitische Bewältigung des industriellen Wandels stattfinden konnte, änderte sich durch den Aufruhr in der Montanregion: In Nordostengland hörte die Periode des staatlich geplanten Strukturwandels abrupt auf. Stattdessen mussten lokale und regionale Akteure den Wandel ohne viel Hilfe der Zentralregierung gestalten. Im Ruhrgebiet hingegen lassen sich, trotz vieler Verzögerungen, bereits in den Auseinandersetzungen um Rheinhausen ökonomische und politische Konturen der »Metropole Ruhr« erkennen.

81 Manfred G. Schmidt, Rahmenbedingungen, in: Ders. (Hrsg.), Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, Bundesrepublik Deutschland 1982–1989, Baden-Baden 2005, S. 1–60, hier S. 55–60; s. a.: Matthias Willing, Sozialhilfe, ebd., S. 483–493 und 516.

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4.2 »Sinnvolle Arbeit« – Die strukturpolitische Bewältigung des Aufruhrs Im Jahr 1977 war die sozialräumliche Ordnung des Strukturwandels im Ruhrgebiet aus Sicht der Konzerne noch intakt: Die Vorstände konnten direkt auf die Politik in Düsseldorf zugehen und auch damit rechnen, Gehör zu finden, z. B. als es bei Krupp darum ging, den Auftrag für eine neue Autobahnbrücke bei Düsseldorf-Flehe zu sichern. Die Vorstandsvorsitzenden, Klaus Dyckerhoff und Heinz Petry, schrieben Ministerpräsident Heinz Kühn, dem Vorgänger von Johannes Rau, einfach einen Brief. Das zentrale Argument der Manager war  – selbstredend – die Erhaltung von Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet. Die Konzernspitze zeigte sich besorgt, weil mehrere Tiefbau­unternehmen plötzlich ein Konkurrenzangebot unterbreitet hatten. Dyckerhoff und Petry argumentierten in ihrem Schreiben mit der beschäftigungspolitischen Gerechtigkeit, die nur gewährleistet sein würde, wenn Krupp und die Tiefbauunternehmen zu gleichen Teilen die Brücke bauen würden: »Wir müssen aber unterstellen, daß von der Betonseite alles getan wird, um letztlich doch noch dem Alternativentwurf in Beton zum Erfolg zu verhelfen und damit für diese Industrie eine 100 %ige Beschäftigung aus diesem Bauwerk zu sichern. Unser An­ gebot gibt jedoch die Möglichkeit, daß sowohl die Stahlbauindustrie als auch die Beton­ industrie bei dieser Brücke […] etwa zu gleichen Teilen beschäftigt werden können.«82

In der moralischen Ökonomie der Montanregion Ruhrgebiet galt direkte Konkurrenz zwischen wirtschaftlichen Wettbewerbern als unanständig, die direkte Beeinflussung von Politikern hingegen als normales Geschäftsgebaren. Dabei wurde die Suche nach einem ökonomischen Vorteil für die eigene Firma gerne und oft mit den höheren Weihen sozialer und strukturpolitischer Gerechtigkeit geadelt, denn Firmen wie Krupp wussten, dass sie damit ihre Chancen auf poli­ tische Patronage erhöhten. Die Intervention des Krupp-Vorstandes zeigt aber auch, dass die Ablehnung von direkter Konkurrenz als ein Aspekt der moral economy des Strukturwandels bis in die Chefetagen hinein akzeptiert wurde, solange das den eigenen Zielen diente. Im Fall des Rheinhausener Werkes war die Verflechtung zwischen Politik und Industrie besonders eng. Denn erstens war die Sparte Stahlbau von großen öffentlichen Bauprojekten abhängig und zweitens stand Rheinhausen sozusagen in Sichtweite von Düsseldorf: Aus den oberen Etagen des Dreischeibenhauses, der Zentrale von Thyssen, und des Mannesmann-Hauses am Rheinufer konnte (und kann) man bei gutem Wetter die Werke im Duisburger Süden sehen. Das Mannesmann-Hochhaus wiederum lag direkt neben dem damaligen Sitz der Staatskanzlei in der Villa Horion. Auch das wirtschaftliche Schicksal Rhein82 LAV NRW, NW 763 Nr. 164, Friedr. Krupp GmbH Der Vorstand (Dyckerhoff, Petry) an Heinz Kühn, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Essen, 18.2.1975.

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hausens war dort schon vor 1987 immer wieder Thema gewesen. So bat der Betriebsrat von Rheinhausen z. B. im Juli 1977 um ein dringendes Gespräch mit Ministerpräsident Heinz Kühn. Der Bitte wurde mit dem Vermerk entsprochen, dass der Ministerpräsident keine weitere Vorbereitung benötige, weil ihm bereits genug Informationen zur Situation in Rheinhausen vorlägen.83 Das Schreiben wurde zuständigkeitshalber auch an Herbert Schnoor weitergeleitet, der damals Wirtschaftsminister war und der während der Rheinhausener Proteste als Innenminister für die Polizei verantwortlich sein sollte. Im Mai 1983 wandten sich die Mitarbeiter der Krupp Industrie- und Stahlbau dann an den neuen SPD -Ministerpräsidenten Johannes Rau, um den Auftrag für eine Eisenbahnbrücke zwischen Neuss und Düsseldorf-Hamm zu sichern.84 Der Kampf um den Erhalt einer vollständigen Stahlproduktion in Rheinhausen im Dezember 1982 lag erst ein halbes Jahr zurück, weshalb der Betriebsrat auch in diesem Fall offene Türen einrannte: Der zuständige Referatsleiter antwortete ihnen, die Landesregierung setze sich bereits seit Monaten bei der Bundesbahn in Köln für die Auftragsvergabe an das Konsortium um Krupp ein.85 Am 30. September bedankten sich die Geschäftsführer Dr. Kurt Spiller und Günther Post per Telex bei Johannes Rau für die erfolgreiche Hilfe, da sie am 23. September tatsächlich den Zuschlag erhalten hatten.86 Die Korrespondenz zwischen Krupp und dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen zeigt deutlich, dass Rheinhausen auch aus Sicht der Düsseldorfer Staatskanzlei nicht irgendein Stahlwerk war, sondern eine herausgehobene Bedeutung hatte. In den Worten von Harald Schartau, der 1987 Bezirkssekretär in der IG Metall Bezirksleitung in Essen war, und die Ereignisse zehn Jahre nach den Protesten, nunmehr als IG Metall Bezirksleiter, kommentierte: »Im Frühjahr und Sommer 1987, als es um die Stahlstandorte Oberhausen, Maxhütte und Hattingen ging, hatten die Rheinhausener die grundsätzliche Einstellung, sie seien auf der richtigen Bank.«87 Die besondere Aufmerksamkeit der Landesregierung für die Vorgänge in Rheinhausen trug mit dazu bei, dass Ministerpräsident Johannes Rau zunächst verärgert reagierte, als Thyssen, Krupp und Mannesmann ihre Pläne zur Zusammenlegung der Stahlproduktion im Duisburger Süden auf der rechten Rheinseite in Huckingen öffentlich machten. Die Vorstände informierten Johannes Rau und Wirtschaftsminister Reimut Jochimsen nämlich erst am 26. November 83 Ebd., Friedr. Krupp Gmbh Krupp Industrie- und Stahlbau Rheinhausen Betriebsrat (Doobe, Kuklinski) an Heinz Kühn, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Duisburg 5.7.1977. 84 Ebd. Krupp Industrie- und Stahlbau Rheinhausen (Spiller, Post) per Telex an Dr. Krumsiek, 31.5.1983, darin Kopie von Telex (dies.) an Johannes Rau, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen vom 30.5.1983. 85 LMR Voß vom 16.6.1983 an Krupp Industrie- und Stahlbau Duisburg-Rheinhausen (abgeschickt laut Vermerk am 21.6.1983), Entwurf mit handschriftlichen Vermerken. 86 Ebd. Krupp Industrie- und Stahlbau (Dr. Spiller / Post) an Johannes Rau, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, 30.9.1983. 87 Harald Schartau, zitiert nach: Bierwirth / Vollmer, AufRuhr, S. 34.

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per Brief über ihren Plan, als das Gerücht über die drohende Schließung des Rheinhausener Werks bereits zu den ersten Protesten geführt hatte und auch in der Zeitung nachzulesen war.88 Für die Landesregierung lag das Problem nicht in der geplanten Zusammenlegung als solcher, sondern in dem Gefühl, nicht rechtzeitig informiert worden zu sein: »Der Brief ist eher allgemein gehalten und nennt keine Zahlen zum Arbeitsplatzabbau.«89 Der zuständige Referatsleiter in der Staatskanzlei befürchtete in einer ersten Einschätzung gar den Verlust von bis zu 6.300 Arbeitsplätzen im Duisburger Süden, weil Mannesmann für 1988 bereits den Abbau von 1.000 Stellen angekündigt hatte. Wohl auch aus diesem Grund entschied man sich dazu, die Details einer Einigung den Unternehmen zu überlassen. Ministerpräsident Rau wollte im Hintergrund wirken, nicht einmal ausdrückliche schriftliche Antworten sollten rausgehen. Referatsleiter Dr. Sohn riet dem Chef der Staatskanzlei infolgedessen: »Nachdem Herr Ministerpräsident am vergangenen Dienstag [1. Dezember 1987, A. H.] mit den Herren Cromme, Kriwet und Liestmann gesprochen hat, ist eine Beantwortung des Briefes nicht erforderlich und auch nicht zweckmäßig.«90 Noch am gleichen Tag distanzierte sich Rau bei einem öffentlichen Termin mit den Vorstandsvorsitzenden von Krupp, Thyssen und Mannesmann in der Düsseldorfer Staatskanzlei von den Vorständen: »da es […] für ihn schier unerträglich sei, wie die Stahlkonzerne mit den Arbeitnehmern in Rheinhausen und mit der Landesregierung umsprängen. […] ›Diese Mißachtung der Mitbestimmung verschärft noch das Problem.‹«91 Im Herbst 1987 war also keinesfalls klar, dass Johannes Rau später der entscheidende Vermittler in dem Konflikt sein würde. Arbeitsminister Hermann Heinemann leitete die Gespräche zwischen dem Betriebsrat und der Werksleitung in Rheinhausen92 und aus den Vermerken, Protokollen und Briefen entsteht der Eindruck, dass Rau keine grundlegenden Bedenken gegen das HKMProjekt (»Hüttenwerke-Krupp-Mannesmann«) hatte. Rau war sogar sichtlich genervt vom Diskussionspapier einer Arbeitsgruppe der Bundes-SPD. Seine Randnotiz zum Vorschlag eines »Sonderprogramm(s) für Problemgruppen am Arbeitsmarkt in Stahlstandorten« lautete schlicht: »Schon wieder ein neues 88 Ebd.: Dr. Cromme, Krupp Stahl AG , Dr. Kriwet, Thyssen Stahl AG , Dr. Liestmann, Mannesmann-Röhrenwerke AG , an Johannes Rau, Ministerpräsident des Landes NordrheinWestfalen, 26.11.1987; Dies., an Prof. Dr. Reimut Jochimsen, Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen, 26.11.1987. 89 Ebd.: Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen, MR Dr. Sohn / ORR Hollmann (II A 5) an Herrn Ministerpräsidenten, »zur unmittelbaren Unterrichtung für das Interview mit dem Spiegel«, Düsseldorf 30.11.1987, 2 Seiten, hier S. 1. 90 Ebd.: Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen, MR Dr. Sohn (II A 5) an Herrn Staatssekretät a. d. D. 91 Reinhard Voss, Unternehmer rechnen und Arbeiter zahlen. Rheinhausen und die Wut des Minsterpräsidenten Rau über die Herren von Krupp, Frankfurter Rundschau 2.12.1987. 92 Ebd.: Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen an Herrn Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen Dr. Johannes Rau (Az. III C 5 – 3140.1.1), Düsseldorf 18.12.1987.

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Programm?«93. Rau war also noch im Januar 1988 davon überzeugt, dass die »Zukunftsinitiative Montanregionen« der Landesregierung von NordrheinWestfalen, die wenige Monate zuvor im Juli 1987 verkündet worden war, ausreichen würde, um die Folgen neuerlicher Schließungen im Ruhrgebiet zu bewältigen. Das Urteil von Dr. Sohn zu den Vorschlägen fiel ebenfalls eindeutig aus: »Das Papier steht inhaltlich den von der IG Metall vertretenen Positionen sehr nahe. […] Wir können uns schwer vorstellen, daß auf dieser Grundlage der notwendige Konsens erreicht werden kann.«94 Die Landesregierung vermied es also, sich nach außen sichtbar auf die Seite einer der Konfliktpartei zu stellen, obwohl sie die Lösung der Unternehmen favorisierte. Rau und die von ihm mit absoluter Mehrheit geführte Regierung konnten wohl nur wenig mit den Forderungen des linken Flügels der SPD und der IG Metall nach einer »Vergesellschaftung« der Stahlindustrie anfangen. Auch innerhalb des DGB waren solche Positionen zwar nur begrenzt mehrheitsfähig, doch hatte der Dachverband der Gewerkschaften in Deutschland nie aufgehört, in Gegenbildern zur »betriebswirtschaftlichen Logik« der Konzerne zu denken. In den 1980er Jahren diskutierten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter allenthalben über den »Sinn von Arbeit« und in Arbeitskonflikten wurde oft eine sogenannte »sinnvolle Produktion« eingefordert, die nicht den Gesetzen des Marktes, sondern »echten Bedürfnissen« gehorchen sollte. Die sogenannten »Wahlprüfsteine« des DGB für die Bundestagswahl von 1987, bei der Johannes Rau als Spitzenkandidat der SPD antrat, bildeten einen Höhepunkt dieser Kampagnen und wirkten sicher auch bei den Wortführern der Proteste in Rheinhausen nach. Besonders bei der DGB -Jugend und in der Solidaritätskampagne für Rheinhausen spielten sie eine große Rolle. So stand ein »Appell aus Rheinhausen« (manchmal auch »Appell von Rheinhausen«) des Künstlerbündnisses »Künstler in Aktion« unter dem Motto »Militärisch abrüsten – sozial aufrüsten«: »Wir brauchen keine weitere Aufrüstung, sondern Programme für die Zukunft. Wir brauchen eine Zukunftsinitiative für das Ruhrgebiet. Wir brauchen Geld für Arbeitsplätze.«95 Zu den Unterzeichnern gehörten linke Künstler und Kunstmanager wie Dieter Dehm oder Hannes Waader, genauso wie die A-Promis Katja Ebstein und Herbert Grönemeyer oder seriöse Aktivisten wie der Mitinitiator des Krefelder Appels für Abrüstung, der Biologe Peter Starlinger. Der Betriebsrat nahm solche Solidaritätsadressen sicher gerne entgegen, allerdings spielte die soziale Bewegung um Rheinhausen für die Argumentation in den Verhandlungen mit Krupp eher eine untergeordnete Rolle. Im April 1988 93 Ebd.: Johannes Rau, handschriftliche Notiz, in: MR Dr. Sohn an Herrn Ministerpräsidenten a. d. D., Düsseldorf 22.1.1988, Anlage 1: SPD -Fraktion [im Bundestag] »Für die Zeit der Krise: eine Beschäftigungsbrücke fürs Revier«, (handschriftlich datiert: 18.1.1988; maschinell datiert: 20.1.1988). 94 MR Dr. Sohn an Herrn Ministerpräsidenten a. d. D., Düsseldorf 22.1.1988. 95 DGB -Jugend NRW, Künstler in Aktion an Ministerpräsident Johannes Rau, O. D. [Eingangsstempel 11.4.1988], 3 Seiten, in: Landesarchiv NRW, Zweigstelle Rheinland (Düsseldorf, jetzt Duisburg), NW 763 Nr. 166.

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legte der Betriebsrat ein alternatives Konzept zur Aufrechterhaltung der Hütte, das sogenannte »Kooperationsmodell«, vor. Dieses Gutachten des Betriebsrats war von einem unbedingten Ethos der Produktivität geprägt, ähnlich wie es auch Helmut Laakmann in der Rede zum Streikauftakt vertreten hatte. Zudem bezog sich das Kooperationsmodell alleine auf Rheinhausen und Huckingen, ohne die anderen Krupp-Standorte im Ruhrgebiet zu berücksichtigen. Die Mitglieder des Betriebsrats zeigten hier einmal mehr, dass sie sich selbst vor allem als fachliche Experten für die Technik im eigenen Werk verstanden. Es war für sie schlicht unvorstellbar, dass ihr modernes und produktives Werk aus ›sachfremden‹, also betriebswirtschaftlichen Gründen schließen sollte: Es ist zu berücksichtigen, daß im Werk Rheinhausen Investitionen getätigt worden sind, über die ein modernes Hüttenwerk verfügen muß, die aber bisher im Werk Huckingen nicht getätigt worden sind (z. B. Kohleeinblasung, Entspannungsturbine, CO -Auskopplung, Pfannenofen usw.). […] Ein strukturpolitisches und sozialverträgliches Modell, welches die technischen Gegebenheiten beider Werke berücksichtigt, ist nach Auffassung des BR Rheinhausen eine Kooperation beider Hüttenwerke Rheinhausen und Huckingen.«96

Dem Betriebsrat ging es also in erster Linie darum, das Werk und möglichst viele Arbeitsplätze in Rheinhausen zu erhalten. Die soziale Bewegung im Kampf um Rheinhausen spielte für die ›Stellvertreter‹ der Belegschaft nur insofern eine Rolle, als sie dabei half, dieses Ziel zu erreichen. Alternative Vorstellungen über den Sinn wirtschaftlicher Tätigkeit fanden insgesamt kaum Eingang in die Vorstellungswelten der Betriebsräte. Die IG Metall forderte als Lösung für Rheinhausen dagegen eine sogenannte »Beschäftigungsgesellschaft«, die als eigenständiges Unternehmen neue Geschäftsfelder erschließen sollte. Damit stieß sie aber nicht nur in der Landespolitik auf Widerstand. Auch die Belegschaft in Rheinhausen konnte mit der Forderung nichts anfangen, weil die Arbeiter in Rheinhausen den Erhalt der Hütte dadurch gefährdet sahen.97 Die Ausführungen des zuständigen Referenten in der IG Metall-Zentrale, des promovierten Sozialwissenschaftlers und späteren Ökonomie-Professors Heinz Bierbaum,98 geben zu erkennen, warum das Konzept schwer zu vermitteln war: »Ziel der Beschäftigungsgesellschaft ist die 96 Betriebsrat Werk Rheinhausen, Krupp-Mannesmann Gemeinschaftshütte. Modellvorschläge, o. O. o. D. (März) 1988 (19 Seiten), in: Landesarchiv NRW, Zweigstelle Rheinland (Düsseldorf, jetzt Duisburg), NW 763 Nr. 166. 97 Georg Ippers, Zweigbüro des Vorstands, in: Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland Vorstand (Hrsg.), Geschäftsbericht 1986 bis 1988 des Vorstandes der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1989, S. 455–490, hier S. 463. 98 Bierbaum wurde später Professor für Betriebswirtschaft im Saarland, nach den AgendaReformen trat er aus der SPD aus und in die sogenannte Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) ein. Von 2009 bis 2017 war er Landtagsabgeordneter und parlamentarischer Geschäftsführer für Die Linke im saarländischen Landtag.

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Aufrechterhaltung der Arbeitsverhältnisse der vom Arbeitsplatzabbau bedrohten Stahlarbeiter, damit die Vermeidung von Entlassungen und die Sicherung von Einkommen.«99 Solche Genitivgewitter sollten wohl verbergen, dass völlig unklar war, wie genau ein solches Modell aussehen sollte, bzw. wie die Stahlkonzerne dazu gezwungen werden konnten, es umzusetzen. Die Unterstützer der Idee wollten die Firmen dazu zwingen, ein gemeinsames Unternehmen zu gründen, das vollständig der Mitbestimmung unterliegen sollte und eigenständig neue Geschäftsfelder erschließen würde, die in irgendeiner Weise mit den »Bedürfnissen der Region«100 in den Stahlrevieren zusammenhängen sollten, z. B. durch die Wiederaufbereitung von Industriebrachen oder das Recycling von industriellen Abfällen. Beschäftigungsgesellschaften sollten nicht der »betriebswirtschaftlichen« Logik von Privatunternehmen folgen. Für Bierbaum blieben sie deshalb »eine Vorstufe zur Enteignung der Stahlkonzerne.101 Die Arbeiter in Rheinhausen protestierten aber für den Erhalt ihres Werks und der Arbeitsplätze dort. Deshalb musste die »Beschäftigungs­gesellschaft« ein Traum der Funktionäre vom linken Flügel der IG Metall bleiben, obwohl es im Ruhrgebiet der 1980er-Jahre sicher genug Möglichkeiten für noch mehr öffentliche Investitionsprogramme gegeben hätte. Die »Hausjournalistin« der Rheinhausener, Waltraud Bierwirth, illustrierte das in einem Beitrag über neue Umwelttechnologien.102 Bierwirth beschreibt darin die Initiative von IG Metall Vertrauensleuten für ein sogenanntes »Altlasten-Technologie-Zentrum« auf dem Gelände der ehemaligen Thyssen-Hütte in Duisburg Meiderich, dem heutigen Landschaftspark-Nord, und die neuartige Produktion von umweltfreundlichen Abwasserrohren beim Gelsenkirchener Verein, der ebenfalls zu Thyssen gehörte. Während die Zukunft des ehemaligen Hüttenwerks in Meiderich im Jahr 1988 noch unsicher war, konnten sich die Arbeiter in Gelsenkirchen darüber freuen, dass sie nun – zumindest der Theorie nach – Produkte für neue Anwendungen herstellen konnten, nämlich sogenannte »duktile«, also dehnbare Rohre für die Kanalisation. Diese technologische Neuerung war aber nur möglich geworden, weil das Land Nordrhein-Westfalen im Rahmen der »Zukunftsinitiative Montanregionen« 50 Prozent der Entwicklungskosten von insgesamt 10 Millionen DM übernommen hatte. Hier wird in Ansätzen erkennbar, dass zukunftsträchtige Initiativen für das Ruhrgebiet von staatlichen Zuwendungen abhängig bleiben mussten: Erst mit der, von Bund, Land und Kommunen gemeinsam getragenen Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher-Park, sollte von 1990 bis 1999 die Umwidmung und Sanierung

99 Heinz Bierbaum, Den Kampf für Arbeit und Zukunft fortsetzen. Wege zur Sicherung der Stahlregionen, in: Bierwirth / König (Hrsg.), Schmelzpunkte, S. 213–222, hier S. 214. 100 Ebd. S. 217. 101 Ebd. S. 218. 102 Waltraud Bierwirth, Die Konzerne umbauen. Arbeit für die Bewohnbarkeit der Städte, in: Bierwirth / König, Schmelzpunkte, S. 206–212.

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von Brachflächen zu Industriedenkmälern und neuen Wirtschaftsflächen in größerem Maßstab gelingen. Im Mai 1988 bildete die Düsseldorfer Vereinbarung aber erstmal nur einen strukturpolitischen Kompromiss, der es allen Beteiligten erlaubte, das Gesicht zu wahren.103 In gewisser Weise galt dies sogar für die Belegschaft und den Betriebsrat, denn der Betriebsrat und die Arbeiter im Werk konnten die Früchte des Kompromisses genießen, ohne offiziell eine Niederlage eingestehen zu müssen: »Wir haben das Ergebnis nicht akzeptiert, sondern zur Kenntnis genommen.«104 Innerhalb der IG Metall führte das in Rheinhausen erzielte Ergebnis dazu, dass schon seit längerem bestehende Überlegungen zu den Grenzen der bisherigen Strukturpolitik systematisiert wurden. Vor allem Karin Benz-Overhage, die Mitglied des IG Metall Vorstands und stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende bei Krupp war und während der Proteste praktisch in Rheinhausen gelebt hatte, wollte das Modell der Sozialpläne überwinden: »Wir stehen vor der weiteren massenhaften Vernichtung von Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie. Die damit verbundenen Probleme lassen sich durch Sozialpläne nicht mehr lösen.«105 Allerdings scheiterten die weitreichenden Vorstellungen der Gewerkschafterin für eine andere Politik des Strukturwandels im Ruhrgebiet an der geübten Praxis in Nordrhein-Westfalen, die, wie in der Zukunftsinitiative Montanregionen, auf einzelne kommunale Projekte setzte.106 Aus den Rheinhausener Protesten folgten aber sehr wohl konkrete weitere Schritte auf Landes- und Bundesebene. Neben der Ruhrgebietskonferenz im Kanzleramt, die schon im Februar 1988 stattgefunden hatte, und bei der beispielsweise eine Kapitalerhöhung der drei Anteilseigner am Duisburger Hafen, Stadt Duisburg, Land Nordrhein-Westfalen und Bund, von 30 auf 90 Millionen DM beschlossen wurde, folgten weitere Maßnahmen wie die Einberufung der sogenannten Mikat-Kommission. Diese Kommission wurde von der Bundesregierung und der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen einberufen und von Paul Mikat, einem ehemaligen nordrhein-westfälischen Kultusminister der CDU, geleitet. Die Mikat-Kommission sollte sich eigentlich mit der Frage beschäftigen, wieviel Steinkohle in der Zukunft im Ruhrgebiet abgebaut werden sollte. Obschon die Kommission es vermied, dazu eine konkrete Empfehlung abzugeben, un103 Landesregierung NRW (Regierungsspreche Helmut Müller-Reinig), Wortlaut der Vereinbarung zwischen den Unternehmensleitungen von Krupp und Mannesmann und den Betriebsräten unter Vermittlung von Ministerpräsident Johannes Rau und unter Mitwirkung der IG Metall und des Fraktionsvorsitzenden Friedhelm Fahrtmann, Information der Landesregierung NRW 285/5/88, Düsseldorf, 3.5.1988, LAV NRW (Abteilung Rheinland, Düsseldorf, jetzt Duisburg), NW 763 Nr. 168, 2 Seiten o. P. 104 Theo Steegmann, zit. nach: Walter Jakobs, »Wir sind über das Ergebnis deprimiert.«, taz – die tageszeitung, 4.5.1988. 105 Karin Benz-Overhage, »Die Fehler liegen vor Rheinhausen«. Interview mit Karin BenzOverhage, Vorstandsmitglied der IG Metall, in: Bierwirth / König (Hg.), Schmelzpunkte, S. 197–205, hier S. 197 f. 106 Ebd. S. 204.

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terzog sie die bisherige Strukturpolitik einer umfangreichen Prüfung. Ihr Abschlussbericht präsentierte daher zahlreiche Vorschläge, wie die wirtschaftlichen Entwicklungschancen der Region durch gezielte Investitionen – zur Vorbereitung auf das absehbare Ende der Steinkohleförderung – verbessert werden könnten.107 Damit folgte die Mikat-Kommission dem etablierten Muster des Strukturwandels und solcher Programme wie der »Zukunftsinitiative Montanregionen«. Dementsprechend lobten die politischen Auftraggeber in Bonn und Düsseldorf den Bericht in den höchsten Tönen,108 während revierferne Beobachter ihn scharf kritisierten. So titelte z. B. die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit »Der Erfolg der Un-Politik« und beurteilte das Fehlen einer eindeutigen Empfehlung zu einer konkreten Fördermenge folgendermaßen: »Und wenn die Un-Politik bisher so erfolgreich war, haben die Politiker keinen Grund, nun alles anders zu machen.«109 Die Kritiker von außen übersahen jedoch die friedensstiftende Wirkung der »Un-Politik«, durch die es den (un)politischen Akteuren gelang, auch fundamentale Konflikte wie die Rheinhausener Proteste zu befrieden. Für das Werk in Rheinhausen gab es nach dem Ende der Proteste eine überraschende Lebensverlängerung durch die Sonderkonjunktur, die von der deutschen Wiedervereinigung ausgelöst wurde. Die letzte Schicht wurde erst am 15. August 1993 gefahren.110 Bereits 1989 hatte Krupp in Rheinhausen gemeinsam mit Mannesmann, der Stadt Duisburg und dem Arbeitsamt Duisburg ein sogenanntes Qualifizierungszentrum gegründet.111 Theo Steegmann, der zwischenzeitlich ein Mandat der IG Metall im Aufsichtsrat von Krupp wahrgenommen hatte, wurde Geschäftsführer der Betreibergesellschaft.112 Helmut Laakmann nahm in den 1990er Jahren eine Stelle als Betriebsleiter im Recyclingzentrum an, das auf dem Gelände des ehemaligen Rheinhausener Werks entstanden war.113 Manfred Bruckschen wurde SPD -Landtagsabgeordneter und kam in seiner neuen Funktion vor allem in die Schlagzeilen, weil er zusätzlich zur Abgeordnetendiät ein Gehalt als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender und, nach dem Ende seiner Beschäftigung bei Krupp, Arbeitslosenhilfe kassiert hatte. 1997 begann dann der Abriss der Hütte, als feststand, dass das Gelände unter dem Namen Logport zu einem Teil des Duisburger Hafens werden sollte. Die politische Bewältigung der Proteste, die für kurze Zeit die Ordnung des Strukturwandels bedroht hatten, gelang in Rheinhausen vor allem deswegen, weil alle Beteiligten miteinander im Gespräch blieben und dabei im Mehrebenen107 Landtag NRW, Bericht der Kommission Montanregionen, Teile A bis D, Vorl. 10/2060, 1250 S., 17.2.1989. 108 O. A., Empfehlungen der Mikat-Kommission von den Fraktionen gewürdigt, Landtag intern (Nordrhein-Westfalen), 23.1.1990. 109 Hein-Günter Kemmer, Der Erfolg der Un-Politik, Die Zeit 30.3.1990. 110 Hans Jürgensen, Der Ofen ist aus – Rheinhausen lebt. Ein stilles Ende der Stahlhütte ohne Demonstrationen, FAZ 14.8.1993. 111 Bierwirth / Vollmer, AufRuhr, S. 16. 112 Ebd. S. 18. 113 Ebd. S. 21.

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system der deutschen Politik auch immer passende Ansprechpartner fanden. Der linke IG Metall-Flügel konnte zwar keine Forderungen durchsetzen, fand aber in der oppositionellen SPD -Bundestagsfraktion zumindest eine bereitwillige Zuhörerschaft. Der SPD -Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen interessierte sich keinesfalls für »alternative ökonomische Konzepte«, genoss aber so viel Vertrauen bei den Rheinhausener Arbeitern, dass sie sogar ihren sichtlich überforderten ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden in den Landtag wählten. Auch für prinzipientreue Heißsporne wie die Streikführer Laakmann und Steegmann gab es im System des Strukturwandels annehmbare Versorgungsmöglichkeiten. Und die Manager der Stahlkonzerne hatten das Gefühl, das eine von der CDU geführte Bundesregierung sie nicht im Stich lassen würde. So blieb die Ordnung intakt, auch wenn die Strukturen sich wandelten. Im Nordosten Englands hingegen zerbrach die Ordnung des Strukturwandels im Streik. Auch die Lösung des strukturpolitischen Konflikts, der dem Miners’ Strike zugrunde lag, konnte deshalb nicht so glimpflich ablaufen wie in Rheinhausen: Zum einen war der Streik, mit den Begriffen von Kurt Imhofs Konflikttypologie, im Sommer 1984 endgültig von einem regulierbaren »Mehr-oder-Weniger« in ein unregulierbares »Entweder-Oder« gekippt. Die ehemaligen Partner im Strukturwandel, die Zentralregierung und das regionale Management des NCB sowie die von Labour dominierten county councils, die NUM und andere Gewerkschaften, sprachen nicht einmal mehr miteinander. Zum anderen verhinderte die neoliberale Ideologie der in London herrschenden Konservativen eine sinnvolle Struktur- und Beschäftigungspolitik: Individuelle Initiative und Befreiung von staatlichen Vorgaben sollten ja von alleine – wie die sprichwörtliche »unsichtbare Hand« des Marktes – eine wirtschaftliche Erholung und neue Arbeitsplätze in der Region hervorbringen. Die development agencies, die im Nordosten tätig wurden, hatten sogar bei wohlwollender Betrachtung, höchstens gemischte Ergebnisse vorzuweisen. Die Arbeitslosigkeit stieg in den britischen Montanregionen und auch in den nicht mehr von der Montanindustrie geprägten Städten in diesen Regionen während der ersten Hälfte der 1980er Jahre weiter an.114 Am Ende des Streiks lag also eine paradoxe Situation vor: Obwohl der Miners’ Strike sich an der Schließung von »unwirtschaftlichen« Zechen entzündet hatte, blieb dieses Problem ungelöst. Tatsächlich bestand ein Hauptmotiv für die Taktik des organised return to work in den Augen vieler NUM-Funktionäre in der  – aus ihrer Lebenserfahrung verständlichen – Hoffnung, dass die strittigen Sachfragen, die am Anfang des Miners’ Strike standen, über Kurz oder Lang wieder im betrieblichen Alltag verhandelt werden konnten. Diese Hoffnung sollte sich innerhalb kürzester Zeit als Trugschluss erweisen: Vom Geschäftsjahr 1982/83 bis zum Geschäftsjahr 1986/87 verringerte sich die Zahl der fördernden Zechen 114 Ray Hudson / David Sadler: Coal and Dole. Employment Policies in the Coalfields, in: Huw Beynon: (Hrsg.), Digging Deeper. Issues in the Miners’ Strike, London 1985, S. 217– 230, hier S. 227–229.

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im Nordosten von sechzehn auf acht,115 die Zahl der Beschäftigten unter Tage sank sogar von ca. 26.000 auf nur noch rund 14.000 – lediglich Wearmouth und Ellington behielten116 Belegschaften über der symbolisch wichtigen Marke von 2.000 Bergleuten. Das erst langsam, dann umso mächtiger einsetzende Trauma der Niederlage wird beispielhaft deutlich in der Weigerung Arthur Scargills, den neuen Namen des ehemaligen National Coal Board, »British Coal«, auch nur in den Mund zu nehmen: »we, at all times, use either the words ›National Coal Board‹, ›NCB‹ or ›The Board‹«.117 Die NUM war im Nordosten bis ungefähr 1990 so sehr mit den Folgen des Streiks beschäftigt, dass es ihr nicht gelang, effektiven Widerstand gegen Schließungen zu organisieren. Erst in den 1990er Jahren erwies sich die im Miners’ Strike geschmiedete Koalition zwischen Teilen der Neuen Linken, kirchlichen Gruppen und technischen Experten aus dem Umfeld des ehemaligen NCB und der Gewerkschaften wieder als tragfähig genug, um bei drohenden Schließungen Gegengutachten zu erstellen und zivilgesellschaftliche Bündnisse zu organisieren. Zum Beispiel leitete ein Pfarrer, Malcolm Peach, die Westoe Colliery Campaign Group und es gelang Peach auch, den Bischof von Durham, David Jenkins, und drei Parlamentsabgeordnete als Schirmherren zu gewinnen.118 Diese campaign groups mobilisierten technische Experten, die zwar der Labour Party nahestanden, die Haltung der NUM im Streik aber als kontraproduktiv empfunden hatten, für den Kampf gegen Schließungen. So verfasste der Bergwerksingenieur und Ökonomiedozent Eric Wade die drei Gutachten zur Rentabilität bzw. ökonomischen Bedeutung der Zechen in Westoe, Wearmouth und Ellington. Wade stand der NUM in Northumberland nahe, blieb aber der politischen Taktik der NUM auf der nationalen Ebene gegenüber eher skeptisch.119 Alle drei Gutachten beschäftigten sich ausschließlich mit der Rentabilität der von Schließung bedrohten Zechen, im Gegensatz zur Forderung nach einer Beschäftigungs­gesellschaft ging es um die Aufrechterhaltung der Produktion in den bestehenden Zechen, nicht um alternative Wirtschaftsformen. Da Wade sich als ehemaliger NCB -Mitarbeiter mit den Konflikten um Zechenschließungen auskannte, wusste er, dass der Streit um die Definition von uneconomic oder exhausted pits nicht lösbar war, so lange Gewerkschaft und Unternehmen von völlig unterschiedlichen Definitionen dieser Begriffe ausgingen. Wade erfand daher das Konzept der economic geology, um dieses Problem zu umgehen. Economic geology sollte bedeuten, dass bei Schließungsentscheidungen nie nur die aktuelle 115 Auch durch die Zusammenlegung von Vane Tempest und Seaham. 116 Alle Angaben: British Coal, North East Coal Digest 1986–87, Gateshead o. J. (1987), eigener Bestand. 117 National Union of Mineworkers, President A. Scargill, to Mr. K. Hunt, Head of Industrial Relations, National Coal Board (AS / MF / NO.001), Sheffield 3.11.1986, National Archives COAL 26/1051. 118 Westoe Colliery Campaign Group, The Case against Closure, South Shields 1993, Tyne and Wear Archives, Gordon Adam Papers, ACC 3237, 122 (73 pp.). 119 Persönliche Gespräche mit Dr. Eric Wade im September 2011 und August 2012.

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Rentabilität betrachtet werden sollte, sondern eine Kombination aus abbauwürdiger Kohlemenge und den mittleren Produktionskosten mehrerer Jahre. Dieses Konzept war zwar auch deutungsoffen, aber es ermöglichte den Beteiligten zumindest, politisch und ökonomisch nachvollziehbare Argumente zu präsentieren. Die kirchliche geführte Bürgerinitiative in South Shields schlug dabei eher leise Töne an: »It is the considered view of the Campaign Group that the costs of closure, […] are far too high when set against the benefits of keeping the Colliery in continued production.«120 Auch im Vorwort der Studie zu Wearmouth bezog sich der chairman der verantwortlichen Colleries Campaign Group und Vorsitzende des Stadtrats von Sunderland, Eric Bramfitt, auf dem common sense als entscheidendes Kriterium für Schließungen: »Every ounce of economic, social and financial common sense dictates that Wearmouth should neither be closed nor ›mothballed‹. It is inconceivable that you could reach a different conclusion«121 Auch die Vertreter der beiden Oppositionsfraktionen im Stadtrat, Konservative und SDP, unterzeichneten diesen Appell.122 Dieser Konsens zeigt, dass es Anfang der 1990er Jahre durchaus Möglichkeiten und Wege gab, die Konflikte des Miners’ Strike auch im Nordosten im Interesse einer überparteilichen Zusammenarbeit zu überwinden. Alternative Betriebspläne waren sowohl im Nordosten als auch in Rheinhausen eine Strategie, um ökonomische Ressourcen in Gestalt von Subventionen zu mobilisieren und unvermeidliche Schließungen zeitlich hinauszuzögern. Ihre Kernfunktion bestand aber in einem Appell an die moralische Ökonomie des Strukturwandels: Die alternativen Pläne erinnerten daran, dass Arbeitsplätze in der Montanindustrie für die betroffenen Arbeitnehmer und ihre Familien auch Ressourcen waren, auf die sie ihre Lebensplanung aufgebaut hatten, und dass Schließungen ohne entsprechendes Beteiligungsverfahren den regionalen Gesellschaftsvertrag in Frage stellten. Die Montanregionen und das Bewusstsein von einer begrifflich fassbaren regionalen Besonderheit – »das Ruhrgebiet« und »The North East« – sind durch staatliche Pläne und Strukturpolitik entstanden. Mit dem »Aufruhr in der Montanregion« in den 1980er Jahren versuchten die von Schließungen bedrohten Arbeiter, den gewohnten Modus des Strukturwandels zu verteidigen. Nach dem Aufruhr veränderten sich zwar Umfang und Ausrichtung der Strukturpolitik; bisweilen kam es – wie im englischen Nordosten – zu einem regelrechten Bruch mit dem bisherigen Modell. Aber die lokalen und regionalen Akteure hielten an einer grundsätzlichen Orientierung auf staatlich gesteuerten Strukturwandel fest, die sich auch weiterhin in den politischen Machtstrukturen und in konkreten Forderungen nach ökonomischen Ressourcen äußerte. Die Akteure in den Montanregionen erschlossen auch neue Möglichkeiten, dieses Regional-

120 Westoe, Case against Closure, S. 65. 121 O. A. [Collieries Group, City of Sunderland], Wearmouth. The Future for Coal in Sunderland, o. O. [Sunderland] o. D. [zwischen Januar und August 1993], S. 1. 122 Ebd. S. 2.

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bewusstsein sprachlich auszudrücken und in politisches Handeln zu übersetzen. Dadurch veränderte sich das Regionalbewusstsein: Es wurde bürgerlicher und die Orientierung an einem säkularen Ideal des Fortschritts wurde weniger wichtig. Im Folgenden soll dieser Wandel am Beispiel des Wirkens der christlichen Kirchen in den Konflikten der 1980er Jahre und danach beleuchtet werden. Diese Perspektive mag ungewöhnlich erscheinen, weil organisierter Religion in den sozialgeschichtlich gefärbten Meistererzählungen zur Geschichte der Montanregionen normalerweise keine entscheidende Rolle zukommt. Sowohl im Ruhrgebiet als auch in Nordostengland waren und sind die großen christlichen Kirchen jedoch wichtige Foren und Akteure in der Gesellschaft und daher auch entscheidende Räume für die Aushandlung und Verbreitung von Regionalbewusstsein. In den Konflikten der 1980er Jahren hatten die Kirchen allerdings keinen leichten Stand. Die Gewerkschaften NUM und IG Metall hatten aufgrund ihres sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Erbes von vorneherein ein ambivalentes Verhältnis zu den Kirchen: Einerseits konnten Kirchengemeinden schnell viele Anwohner mobilisieren, vor allem Frauen waren hier überdurchschnittlich vertreten und zudem bereit, in sozialen Notlagen zu helfen. Andererseits holte man sich bei Bündnissen mit den Kirchen akademisch ausgebildete Geistliche ins Boot, die qua Amt eine religiös gefärbte Deutung der Ereignisse vertraten. Zudem konnten Gewerkschaft, Labour Party und SPD die kirchlichen Gremien und Funktionsträger weder kontrollieren noch disziplinieren. Daher führten die Bündnisse zwischen Kirchen, gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern und Gewerkschaften neben einer breiten zivilgesellschaftlichen Mobilisierung auch zu neuen Konflikten um die Deutungshoheit und die richtige Politik für die Montanregionen. Die Rolle der Kirchen bei der Genese eines neuen Regionalbewusstseins, schon während der ›heißen‹ Aufruhrphase, deutet zudem an, wie fundamental die Bedrohung der sozialen Ordnung von den Betroffenen empfunden wurde: Der »Aufruhr in der Montanregion« war für Menschen, die mit dieser Ordnung aufgewachsen waren und sie für das selbstverständliche Fundament ihres Lebens hielten, durchaus eine – im religiösen u n d anthropologischen Sinne – spirituelle Krise. Die spirituellen Antwortversuche der Kirchen weisen bereits auf den Wandel des Regionalbewusstseins hin: Fortschritt und Modernisierung verloren an Prägekraft und wurden von Denkmustern abgelöst, die eine überzeitliche Identität oder eine spezifische Kultur der Regionen konstruieren.

4.3 Ein rebellischer Bischof und ein ratloser Arbeiterpfarrer – auf dem Weg zu einem neuen Regionalbewusstsein Im September 1984 vollzog sich in der Kathedrale von Durham, der ehrwürdi­ gen »Cathedral Church of Christ, Blessed Mary the Virgin and St Cuthbert of Durham«, ein kirchliches Spektaktel, das auch in der traditionsverliebten Church of England seinesgleichen sucht: Die sogenannte »Inthronisierung« des neuen

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Lordbischofs von Durham, David Edward Jenkins.123 Anders als die altertümlichen Bezeichnungen vermuten lassen, handelte es sich bei dem Mann, der die viertwichtigste Diözese der anglikanischen Kirche leiten sollte,124 keineswegs um einen pompösen Kleriker, sondern um einen liberalen Theologieprofessor: David Jenkins stammte ursprünglich aus Südengland, hatte im Zweiten Weltkrieg in der Artillerie gedient und sein Arbeitsleben als Theologe dann bis 1984 zumeist in akademischen Positionen in den midlands, in Manchester und Leeds und zeitweise auch in Genf verbracht. Er sah sich selbst als »katholisch« im Sinne der anglikanischen Kirch an, d. h. er trat für eine kritische Theologie und eine aktive gesellschaftliche Rolle der Church of England ein (und somit gegen den »evangelikalen« Rückzug der Kirche in unkritische Schriftgläubigkeit). Jenkins gab sich bereits vor seiner Amtseinführung, trotz seiner 59 Jahre, als jugendlicher Tabubrecher. Schon in den Wochen und Monaten vor der »Inthronisierung« berichtete das Northern Echo über den neuen Bischof.125 In vielbeachteten Interviews äußerte er sich missverständlich zu den Dogmen der Wiederauferstehung und der jungfräulichen Geburt und löste damit bei konservativen Anglikanern Entrüstungsstürme aus. Daher war die Spannung groß, als Jenkins endlich in sein Amt eingeführt wurde und zu diesem Anlass eine meinungsstarke Predigt hielt, in deren Mittelpunkt der Miners’ Strike stand: There must be no victory, but a speedy settlement which is a compromise pointing to community and the future. […] The withdrawal of an imported elderly American to leave a reconciling opportunity for some local product is surely neither dishonourable nor improper. […] Without withdrawal and without climbing down it looks as if we are faced with several people determined to play God. And this gives us all hell.126

Jenkins war gleichermaßen dafür geachtet wie gefürchtet, dass er Positionen mit äußerster Vehemenz vertrat. Nach Ansicht einiger Kollegen besaß Jenkins sogar mehr rhetorisches Talent als theologischen Verstand.127 In den Medien wurde seine Predigt vor allem als Angriff auf MacGregor, den »imported elderly American«, und Premierministerin Thatcher verstanden. Das Northern Echo titelte auf der ersten Seite: »Bishop tells Mac to get out.«128 Die Predigt von Bischof Jenkins und die Reaktionen darauf sind sicher ein besonders eindrückliches Beispiel für das Eingreifen eines Kirchenvertreters 123 Jenkins wurde 1925 in Bromley, damals Kent, geboren und starb 2016. 124 Nach Canterbury, York und London. 125 Jane Lomas, Bishop’s move brings a ›queen‹ into play, The Northern Echo 21.3.1984. 126 Sermon preached by the Right Reverend David Jenkins on his enthronement as bishop of Durham on 21 September 1984 in Durham Cathedral, University Library Durham, Diocesan Papers, Papers of the Rt. Rev. David Edward Jenkins, Bishop of Durham, AUC/117, p. 5. 127 Dennis Nineham, The Right Rev David Jenkins Obituary, The Guardian, 4.9.2016, https://www.theguardian.com/world/2016/sep/04/david-jenkins-obituary, zuletzt aufgerufen 8.8.2017. 128 Don Currie, Bishop tells Mac to get out, The Northern Echo 22.9.1984.

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in einen industriellen Konflikt in den 1980er Jahren. Allerdings spielten die Volkskirchen bei Protesten gegen Betriebsschließungen überall in Nordostengland und im Ruhrgebiet eine wichtige Rolle. Obschon die Amtskirchen und die Mehrheit der Gläubigen in den Montanregionen zumeist auf der Seite der protestierenden Arbeiter standen, blieben die Kirchen einer der wenigen Kanäle, auf denen alle Seiten in diesen Konflikten in Kontakt bleiben konnten. Zudem verfügten die Kirchen über eine Art alternatives Regionalbewusstsein: Hier traten ältere Überzeugungen von sozialer Harmonie und Gemeinschaft zutage, die nur wenige Berührungspunkte zur Logik von Rationalisierung und Modernisierung aufwiesen, die das Bewusstsein von Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien prägte. Diese Fortschrittsskepsis war wiederum in hohem Maße anschlussfähig an Gedankenwelten der Neuen Linken. Jener Widerspruch zum etablierten Regionalbewusstsein führte im Aufruhr in der Montanregion aber auch zu Reibungen und Streit. So war die Church of England für die NUM ein gern gesehener Bündnispartner, wenn sie die Regierung in London kritisierte, nicht aber, wenn ihre Vertreter das Verhalten von Streikposten negativ bewerteten. Ähnliches geschah in Rheinhausen: Der Betriebsrat, die IG Metall und auch die SPD kooperierten gerne mit den Kirchen, wenn diese sich ihrer Deutungshoheit unterordneten. Sobald Überlegungen aber über den engen Kreis der gewerkschaftlichen Strukturpolitik und der sozialdemokratischen Dominanz in Kommunal- und Landespolitik hinausgingen, kündigten die Gewerkschaften diese Allianz auf. Das Manuskript von Bischof Jenkins Antrittspredigt im Archiv der Universität Durham zeigt, dass beim Engagement für die streikenden Arbeiter auch auf Seite der Church of England eigene Interessen bestanden. Bei den Passagen zum Miners’ Strike handelte es sich nämlich um einen Einschub, den Jenkins auch hätte weglassen können. Die Predigt mit dem Titel »A Sermon on the Cost of Hope« war in der Hauptsache theologisch motiviert, durch einen Bezug auf den Predigttext Römer 15,13: »May the God of hope fill you with all joy and peace by your faith in Him, until by the power of the Holy Spirit, you overflow with hope.«129 Dahinter verbarg sich ein theologischer Kommentar zur Lage der Kirche und zur Position des Bischofs von Durham als Kleriker in einer Region, die arm an Hoffnung ist: »We could do with some help from this ›God of hope‹ in the North East. Unemployment is at 35 to 50 %.« Jenkins setzte sich mit seinen eigenen Zweifeln und den Zweifeln, die er bei seinen Zuhörern vermutete, auseinander. Er hielt sozusagen ein Plädoyer für den Zweifel am Glauben und an der Institution Kirche; dafür, wie schwierig es ist, in einer Region wie Durham überhaupt an Christus zu glauben: »For we know that keeping hope alive in this sort of world cost God the Cross.« Der Bergarbeiterstreik diente im rhetorischen Aufbau der Predigt lediglich als nachrangiges Beispiel. Und entsprechend seiner theologischen Motivation sprach sich Jenkins in dem Einschub zwar gegen eine Niederlage der Bergleute aus, aber auch gegen einen Sieg der NUM: »The miners 129 So das Zitat in Jenkins Manuskript, das hier leicht von der King James Version abweicht.

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then must not be defeated, and this is the first priority. But there must be no victory for them on present terms because these include negotiation on their terms alone, pits left open at all costs and the endorsement of civil violence for group ends.«130 Jenkins stellte sich mit dieser Kritik an Gewerkschaften und Regierung bzw. National Coal Board einerseits in eine lange Traditionslinie seiner Amtsvorgänger. Bereits während des Streiks von 1926 hatte sich Bischof Henson als Vertreter der sogenannten low church gleichermaßen mit Zechenbesitzern und Streikenden angelegt. Andererseits verärgerte Jenkins aber auch beide Seiten, da er insbesondere das moralische Mandat in Frage stellte, welches die NUM und ihre Sympathisanten für sich reklamierten. Jenkins vermeintlich einseitige Kritik erregte auch auf der nationalen Bühne viel Aufmerksamkeit. So fühlte sich Energieminister Peter Walker als überzeugter Anglikaner und oberster Vertreter des ›moderaten‹ Flügels der Tories berufen, Jenkins zu widersprechen: What concerns me most about your letter131 and your sermon is the difference of your emphasis and attitude between Mr Ian MacGregor and Mr Arthur Scargill. Mr ­MacGregor has offered the miners […] a guarantee that all miners will be able to continue working in the industry if they wish to do so. […] In your letter you merely describe Mr Scargill as having a personal intransigence.132

Walker galt als one-nation-Tory in der Tradition des auch im Nordosten weithin verehrten »Supermac« Harold MacMillan, und hatte sich in der Region bereits als – für Planung und redevelopment zuständiger – Umweltminister im Kabinett von Edward Heath in den 1970er Jahren einen guten Ruf erarbeitet.133 Walker wurde zeitweise als heißer Kandidat für den Vorsitz und das Amt des Premierministers im Fall einer Parteirebellion gegen Thatcher gehandelt.134 Daher kam ihm eine Schlüsselfunktion für die Konservativen im industriell geprägten Norden zu. Als Vertreter des moderaten Flügels, als engagierter Christ und jovialer und leutseliger Patron alter Schule konnte er glaubhaft die menschliche und zugewandte Seite der Tories verkörpern. In der Diskussion mit Jenkins schloss er für die Konservativen außerdem eine ideologische Flanke, die durch die zunehmend sozialliberale Orientierung des Klerus gefährdet war: das traditionelle 130 Ebd. 131 Der Briefwechsel bestand aus zwei Briefen von Jenkins an Walker und mindestens diesem Brief von Walker an Jenkins. Die Briefe von Jenkins waren leider nicht auffindbar. 132 The Rt. Hon. Peter Walker, Secretary of State for Energy, an The Rt Rev the Lord Bishop of Durham, 5.10.1984, (7 Seiten), hier S. 3, Freedom of Information Request 317 568, Cabinet Office (of the United Kingdom of Great Britain and Ireland) an Arne Hordt, 12.3.2013, im Besitz des Verfassers. Dies ist der zweite Brief Walkers an Jenkins, sein erster Brief und der Brief von Jenkins waren weder in den Cabinet Papers noch in den Diocesan Papers der University of Durham aufzufinden. Ihre Existenz kann bisher nur aus dem Wortlaut des zweiten Brief Walkers erschlossen werden. 133 O. A., ›A bright future‹ – but no word of WHEN, The Northern Echo 22.1.1972. 134 Peter Walker, Staying Power. Peter Walker an Autobiography, London 1991, hier S. 182.

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Bündnis der Conservative and Unionist Party mit der Church of England als Verkörperung der protestantischen Nation England. Im konservativen Teil des politischen Spektrums galt diese Haltung nicht nur als »hoffähig«, sondern auch als mögliche Strategie, um die Verwundungen von Thatchers Politik zu überwinden. Das zeigte sich unter anderem darin, dass Walker in konservativen Zeitungen nach dem Miners’ Strike geradezu frenetisch gefeiert wurde. So druckte die Daily Mail z. B. am sechsten März 1985 ein Interview mit ihm zum Streikende unter dem Titel »Why Walker the Wet had to win«.135 Darin erhielt Walker ausführlich Gelegenheit, sich in seiner bevorzugten Rolle als unnachgiebiger Gegner Scargills, zugleich aber auch als Freund »einer realistischen Gewerkschaftsbewegung« zu präsentieren: »›I happen to believe very much in a good, strong, realistic trade union movement in Britain,‹ said Walker, ›and you may be surprised to know most other people in the Government think the same way.‹«136 So machte Walker nicht nur deutlich, dass liberale und linke Theologen keinen Alleinvertretungsanspruch für soziale Themen hatten, er malte auch ein – zumindest rhetorisch – glaubwürdiges Bild einer einheitlichen englischen bzw. britischen Nation, in der auch Gewerkschaften einen Platz haben würden. In seiner sechs Jahre nach dem Miners’ Strike erschienen Autobiographie stellte sich Walker, der damals bereits Privatier war, dann als der Hauptprotagonist des Streiks auf Regierungsseite und als rücksichtsvoller Sieger dar: »I had to get Ian MacGregor to say there would be no talks unless the closures were accepted. […] The first thing I said to my colleagues was that there must be no gloating.«137 Hinter dem Weihrauch, den der ehemalige Minister um seine Person verbreitete, verbarg sich in diesem Fall allerdings mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Im Januar 1985 hatte sogar die Labour-Opposition im Unterhaus in Walker einen möglichen Garanten für eine annehmbare, ehrenvolle Lösung des Streiks gesehen.138 Wie aber wirkte sich die Einmischung der Church of England auf das Regio­ nalbewusstsein in der Montanregion Nordostengland aus? Zunächst entwickelte sich eine Zusammenarbeit zwischen streikenden Bergarbeitern und Kirchengemeinden. Die Gemeinden waren zudem Orte, an denen Menschen zusammenkommen konnten, um in einer Art und Weise über Ängste, Sorgen und Nöte im Streik zu sprechen, die durch die von der NUM zur Schau gestellte Siegesgewissheit und Kampfrhetorik in der Gewerkschaft keinen Platz hatten. Eine wichtige Wegmarke in diesem Prozess der Annäherung von Kirche und Gewerkschaft im Nordosten war die Umbenennung der Kirchenzeitung der Diözese Durham im März 1984 in »The D ­ urham Lamp«.139 Der Name bezog sich darauf, dass mit dem 135 David English, Why Walker the Wet had to win, Daily Mail 6.3.1985. 136 Ebd. 137 Ebd. S. 180 f. 138 Hansard’s House of Common Debates 28.1.1985, vol 72, cc.1–12, besonders S. 2 und S. 5. 139 The Durham Lamp, Monthly Newsletter of Durham Diocese, March 1984, Vol. 1 No. 3, Durham University Library Per / Local / DUR .

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Start der Zeitung – im Januar unter dem nichtssagenden Titel »Durham« – auch ein Gebetszyklus begonnen hatte, bei dem eine Grubenlampe von Gemeinde zu Gemeinde weitergegeben wurde. Wenn die Lampe in einer Gemeinde ankam, gab es dort eine Andacht (vigil of prayer), und am gleichen Abend wurde in allen Gemeinden der Diözese für diese Gemeinde gebetet. Die ersten Stationen des Geleuchts, Jarrow, Wearmouth und Easington, standen gleichermaßen für die sozialen Kämpfe der Vergangenheit und Gegenwart wie auch für die lange christliche Geschichte des Nordostens: Wearmouth war um das Jahr 672 der Geburtsort des Heiligen Beda und das Kloster von Jarrow seine Hauptwirkungsstätte. In den 1930er Jahren war Jarrow zudem der Ausgangspunkt des Jarrow Crusade, eines Marsches von arbeitslosen Werftarbeitern auf dem Höhepunkt der Great Depression in den 1930er Jahren, der in Großbritannien bis heute ikonischen Status für die Arbeiterbewegung und die kollektive Erinnerung an das Elend der Zwischenkriegszeit besitzt. Der Gebetszyklus rund um die Durham Lamp gehörte zur kirchlichen Initiative »Way Ahead«140, einem Programm, mit dem die Diözese das soziale Engagement in den Gemeinden stärken wollte. Die Reise der Grubenlampe durch Durham war aber über diesen sozialen Aspekt hinaus auch ein Akt der sozialen und ideologischen Neuschöpfung von Regionalbewusstsein. Dadurch, dass die Lampe ihren Ausgang im Kloster des Heiligen Beda nahm, verwies die Kirche auf die älteren, christlichen und nicht-säkularen Wurzeln eines »northumbrischen« Regionalbewusstseins. Durch die Wanderung von Gemeinde zu Gemeinde und die Fürbitte in allen Kirchen der Diözese wurde die Region im Gottesdienst neu erschaffen. Allerdings hatte diese Art von spirituellem Regionalbewusstsein kaum noch etwas mit dem modernisierenden Strukturwandel der Nachkriegszeit zu tun. Ein Kunstwerk in der Kathedrale von Durham, das Millenium Window von 1992 (Abb. 14), lässt sich als Zeugnis dieses alternativen, christlichen Regionalbewusstseins lesen. Das Fenster stellt im oberen Teil das Leben und Wirken des Heiligen Cuthbert als Prior von Lindisfarne und Patronatsheiliger der Kathedrale dar. Darunter werden – vergleichbar mit grafischen icons in einem Computerspiel – einzelne Industriezweige und Episoden aus der Industriegeschichte der Region gezeigt, von der Glasbläserei über die Fahrt der ersten Eisenbahn von Stockton nach Darlington bis hin zu einer modernen Zeche. Das Fenster schließt mit einem stilisierten Porträt von Bischof Jenkins und einem Bergmann, die sich symbolisch die Hände reichen. Durch die Art der Darstellung wird industrielle Arbeit zum Teil einer sakralen Sphäre, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verschmelzen. Diese sakrale Sphäre wird durch die Darstellung der Ruinen von Lindisfarne außerdem in den Kontext einer besonderen nördlichen Spiritualität eingeordnet.141 Die S­ akralisierung 140 Durham, Monthly Newsletter of Durham Diocese, January 1984, Vol. 1 No. 1, Durham University Library Per / Local / DUR . 141 Der Norden Englands, Schottland und Irland gehörten usprünglich zur iro-schottischen Kirche. Dazu gehören klingende Namen von Missionaren, die auch in Deutschland wirk-

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Abb. 14: Das »Millenium Window« von 1992 zeigt die Berufung des Heiligen Cuthbert, sein Wirken und die wundersame Überführung nach Durham; für die Gegenwart stehen die Industrien Durhams und der versöhnliche Handschlag zwischen Bischof Jenkins und einem stilisierten Bergarbeiter, mit freundlicher Genehmigung von Joseph Nuttgens.

der industriellen Arbeit ist allerdings nur möglich, weil diese nicht mehr länger Teil der weltlichen Realität ist, sondern Eingang in die gedachte Ewigkeit des christlichen Heilsgeschehens findet. Der Handschlag zwischen Bischof Jenkins und »dem Bergmann« ist dementsprechend eine segensreiche Folge sam waren, wie die Heiligen Ewalde, St. Willibrord, der Heilige Bonifatius (eigentlich Wynfreth), der »Apostel der Deutschen«, aber auch St. Beda (Venerabilis), der erste englische Geschichtsschreiber und Abt von Jarrow. Besonderheiten wie gemischte Klöster und Gemeinschaften, ein spirituelles Verhältnis zu Natur und Ackerbau, absichtliche Heimatlosigkeit von Priestern und Missionaren und vor allem das Bewusstsein einer eigenen Geschichte haben sich bis heute erhalten oder werden immer wieder neu belebt.

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des Wirkens von Cuthbert. In der Bildsprache des Millenium Window gibt es keinen innerweltlichen Fortschritt, der über das christliche Heilsgeschehen hinausgeht. Ein stärkeres Statement gegen ein sozialdemokratisches Regionalbewusstsein, das den rational organisierten Strukturwandel der Industrie als moralisches Gebot interpretierte, ist kaum denkbar. Die besondere Bildsprache des Kirchenfensters bedeutet freilich nicht, dass alle Einwohner des Nordostens aufgehört hätten, an die Möglichkeit eines säkularen Fortschritts zu glauben. Dennoch ist sie ein starkes Zeichen dafür, dass mit dem Untergang der Industrie auch die ideengeschichtlichen oder, wenn man will, spirituellen Voraussetzungen der sozialräumlichen Ordnung Montanregion brüchig geworden sind. Auch in Rheinhausen lassen sich die Möglichkeiten und Grenzen einer Bewältigung der bedrohten Ordnung Montanregion an der Rolle der Kirchen im Protest festmachen. Dort entwickelte sich das sogenannte Bürgerkomittee unter der Leitung des evangelischen Pfarrers Dieter Kelp zu einem zentralen Forum des Austauschs und der Diskussion zwischen Betriebsrat, Arbeitern und Anwohnern. Kelp war ein engagierter Sozialtheologe, der ursprünglich aus Linz in Österreich stammte, also eine Sozialisation außerhalb der Ruhrgebietskultur mitbrachte.142 Das Rheinhausener Bürgerkomitee, das den Protest der Bevölkerung koordi­ nierte, war aus dem Protest gegen die geplante Schließung des Bertha-Krankenhauses hervorgegangen. Seine Mitglieder hatten sich 1982 auch gemeinsam mit dem Betriebsrat gegen die geplante Schließung des Walzwerks engagiert. Allerdings setzte es sich anders zusammen, als die miners’ support groups oder miners’ wives support groups im Nordosten, die ja zumeist von Bergarbeitern selbst oder deren unmittelbaren Angehörigen gegründet und betrieben wurden. Das Bürgerkomittee hingegen entstand auf Initiative der evangelischen Kirche und stellte einen Versuch dar, auch Anwohner, die nicht bei Krupp arbeiteten, mit der Belegschaft zu verbinden. Im Winter 1987/88 zeigten sich jedoch bald Interessen- und Zielkonflikte zwischen Kirchenvertretern und Betriebsrat. Einerseits empfanden die Vertreter der Belegschaft die bürgerschaftlichen und kirchlichen Vertreter im Kommittee als zu kompromissbereit, andererseits konnte die Funktionärshierarchie der IG Metall nicht zulassen, dass eine werks- und gewerkschaftsfremde Institution Einfluss auf die Verhandlungen zwischen den Unternehmen und der Gewerkschaft nahm.143 Dieter Kelp blickte daher schon wenige Jahre später mit Verbitterung auf die Konflikte zwischen den betrieblichen Akteuren und der von ihm herbeigesehnten »Bürgerbewegung« zurück: Zu wenig Intensität gab es für Diskussionen bürgerlicher Alternativen, da die bürgerliche Flanke nie offensiv vertreten war […] Bestehende – zunehmende – Divergenzen zum Betriebsrat waren nicht systematisch aufgearbeitet, noch mit dem Betriebsrat selbst inhaltlich zu diskutieren möglich. […] Aber auch der Betriebsrat seinerseits hatte 142 Bierwirth, Der Pastor. Dieter Kelp mischt gerne Feuer und Wasser, in: Dies. / Vollmer, AufRuhr, S. 25 f. 143 Vgl.: Dieter Kelp, Der vergessene Teil, hier S. 29.

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keine inhaltlich-perspektivische Arbeit geleistet. Er war in sich wenig diskussions- und analysefreundlich.144

In gewisser Weise waren solche Konflikte unausweichlich, als der idealistische Querkopf Kelp auf die produktivitätsorientierten Malocher im Betriebsrat traf, die zutiefst von der sozialdemokratischen »Kultur des kleinen Mannes« geprägt waren und eine exklusive Stellvertreterrolle für sich beanspruchten. Kelp hingegen bemühte sich – gemeinsam mit dem evangelischen Kollegen Thiesbonenkamp und dem katholischen Pfarrer Fritz Bösken – auch um alternative Lösungen, wie einen Investitionsplan von Krupp, den die drei Geistlichen persönlich mit Gerhard Cromme aushandelten und im Bürgerkomitee zur Entscheidung vorschlugen und der dann zum Auslöser des Zerwürfnisses wurde. Kelp orientierte sich später politisch in Richtung der offenen Listen der PDS , da er hier eher eine Heimat für seinen christlichen Individualismus zu finden meinte als in der von Zuständigkeitsgerangel und politischen Erbhöfen gelähmten Duisburger SPD.145 Wegen des geringeren katholischen Bevölkerungsanteils standen Vertreter der katholischen Kirche in Rheinhausen nicht unter dem Zwang, sich unbedingt repräsentativ zu äußern. Zudem gestattet die katholische Soziallehre eine praktische Definition von Solidarität als allgemeiner Empathie mit den Schwächsten in der Gesellschaft, ohne den Anspruch der evangelischen Sozialethik auf universelle Gerechtigkeit zu erheben. Nicht zuletzt deshalb gelang es dem katholischen Pfarrer Fritz Bösken in seiner Weihnachtspredigt im Walzwerk besser als den evangelischen Geistlichen, die emotionale Empörung des Rheinhausener Aufruhrs aufzunehmen, und dabei weder unkritisch gegenüber dem KruppKonzern, noch überzogen sozialrevolutionär aufzutreten: Es hat sich gezeigt: Die Beharrlichkeit ist die Macht der kleinen Leute. Durch diese Beharrlichkeit haben wir im ganzen öffentlichen Bewußtsein wieder Werte wie: Treue und Glauben, Vertragstreue, Einhaltung eines gegebenen Wortes. Durch unsere gemeinsame  – jetzt in aller Öffentlichkeit verankerte  – Beharrlichkeit wird es keiner mehr wagen können, seine Unterschrift unter einer Vereinbarung zu vergessen!146

Bösken stellte sich mit seiner Rede von der »Beharrlichkeit« unmissverständlich auf die Seite der protestierenden Stahlarbeiter und teilte so ihre Empörung über das vom Konzern gebrochene Vertrauen. Allerdings erfasste er dabei auch die Ambivalenz des Rheinhausener Protests, der zwischen den existentiellen Nöten der Belegschaft, dem überbetrieblichen Charakter der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und der bitteren Sachlogik wirtschaftlicher Entscheidungen 144 Ebd. S. 51 f. 145 Bierwirth / Vollmer, AufRuhr S. 25 f. 146 Fritz Bösken, Vertrauen und Solidarität sind Längs- und Querbalken des Kreuzes. Predigt beim ökumenischen Gottesdienst im Walzwerk von Krupp Rheinhausen am 18.12.1987, in: Harry W. Jablonowksi (Hrsg.), Betriebsschließungen im Ruhrgebiet. Teil 2. Kirche in Konflikten des Strukturwandels. Der Fall Rheinhausen. Chronik und Analysen, Bochum 1991, S. 97 f., hier S. 97.

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aufgerieben zu werden drohte: »Die größte Gefahr für die Solidarität sind die Schwachen, die durch Starke scheinbar gestützt werden oder sich vermeintlich gestützt fühlen.«147 Auch wenn der katholische Pfarrer Bösken sich eindeutig für die Seite der »Schwachen« entschieden hatte, ließen sich die moralischen Fragen, welche die drohende Schließung aufwarf, mit den Mitteln christlicher Soziallehren nicht eindeutig beantworten. Das zeigt ein Vortrag des Vorstandsvorsitzenden von Thyssen, Heinz Kriwet, der am 5. September 1987 als gläubiger Katholik in der (evangelischen) Berger Kirche in Düsseldorf einen Vortrag über seine ethischen Abwägungen angesichts der Stilllegung des Hattinger Stahlwerks hielt: »Darf ein Christ Hattingen stillegen?« Ich könnte mir die Sache leicht machen: Ein Christ darf nicht! So ist es nachzulesen im »Aufruf an die Christen im Raum Hattingen« der Geistlichen beider Konfessionen, in dem es im März 1987 hieß »In unserer Stadt geschieht Unrecht« und »Die Entscheidung des Thyssen-Konzerns halten wir für sozial nicht vertretbar«. Und Sie werden mir zustimmen, ein Christ, und das zu sein und entsprechend zu handeln bemühe ich mich zumindest, darf kein Unrecht tun und natürlich auch nicht sozial nicht Vertretbares.148

Kriwet gestand den Kirchen im Verlauf seines Vortrags zwar ein sehr weit­ reichendes Recht auf Einmischung in wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen zu, schloss aber die Anwendbarkeit von christlichen Verhaltensgrundsätzen auf den Bereich der Ökonomie aus: »Ein notwendiger Stillegungsbeschluß ist keine Frage des christlichen oder unchristlichen Verhaltens, sondern eine Frage der nüchternen Beurteilung ökonomischer Tatbestände […]«149. Neben diesem, bei einem Spitzenmanager zu erwartenden Beharren auf der Sachlichkeit eigener Entscheidungen, stellte Kriwet aber ebenso deutlich heraus, dass die Stilllegung einzelner Betriebe auch unter moralischen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden sei, weil damit die Arbeitsplätze im gesamten Unternehmen gerettet würden, denn »sonst bleibt, wie im Fall der Maxhütte nur der Konkurs mit dann viel schlimmeren Folgen für alle Beteiligte [sic!].«150 Im Jahr 1987 arbeitete Heinz Kriwet bereits seit 25 Jahren in der Stahlindustrie des Ruhrgebiets. Die Haltung, die er in dem Vortrag an den Tag legte, dürfte also einer weitverbreiteten Einstellung von Führungskräften entsprochen haben. Dort wird auch deutlich, warum Spitzenmanager im Ruhrgebiet der 1980er Jahre vielleicht eher geneigt waren, Kompromisse zu schließen, als die Führung des National Coal Board. Denn Kriwet legte durchaus Wert darauf, wie unternehmerische Entscheidungen in der Bevölkerung aufgenommen wurden: »Für den einzelnen Betroffenen, für 147 Ebd. S. 98. 148 Heinz Kriwet, Darf ein Christ Hattingen stillegen?, in: Harry W. Jablonowski (Hrsg.), Betriebsschließungen im Ruhrgebiet. Kirche in Konflikten des Strukturwandels. Der Fall Rheinhausen. Analysen und Dokumente, Bochum o. J. (vor 1991), S.107–115, hier S. 107. 149 Ebd. S. 114. 150 Ebd.

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den Mann und die Frau in Hattingen mit allen Kräften eine akzeptable und nach Möglichkeit auch akzeptierte Lösung zu suchen, ist die ebenso wichtige andere Aufgabe.«151 Bei aller Reflexion über christliche Grundsätze und betriebswirtschaftliche Logik hielt Kriwet also eigentlich ein Plädoyer für die Praxis des Strukturwandels. Kriwets religiös grundierter Vortrag zeigt daher eindrücklich, dass bestimmte Elemente der moral economy des Strukturwandels durchaus sehr fest im Denken und Fühlen der Unternehmensleiter verankert waren. Diese Identifikation mit der moralischen Ökonomie des Strukturwandels sorgte mit dafür, dass die geteilten Grundüberzeugungen von Managern und Belegschaften im Ruhrgebiet auch heftigen Protesten standhielten. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Ruprecht Vondran, spitzte dies noch weiter zu, indem er die christliche Nächstenliebe auf Konflikte in der Sozialpartnerschaft bezog: »Wer das Gebot der Nächstenliebe ernsthaft auf sich bezieht, muß seinen Sozialpartner auch dann annehmen, wenn es unbequem ist. Er muß ihm beispielsweise auch im Gespräch über Rationalisierungsmaßnahmen auf dem Boden der Gleichheit begegnen.«152 Dieses religiös motivierte Bekenntnis zu Verhandlungen auf Augenhöhe, dem »man-to-man« der NUMFunktionäre, ist sicher ein extremes Beispiel für eine spirituelle Dimension des Aufruhrs in der Montanregion, die in den meisten Betrachtungen eher vernachlässigt wird. Für christdemokratische Politiker und Funktionäre auf der Arbeitgeberseite wie Ruprecht Vondran war Deeskalation auch ein christlich begründetes Prinzip einer guten Ordnung. Zwar gab es solche Stimmen auch im Nordosten und vom area industrial relations officer des NCB, George Atkinson, ist bekannt, dass er ebenfalls kirchlich engagiert war. Aber diese Stimmen konnten sich dort nicht durchsetzen oder dienten, wie im Falle von Peter Walker, höchstens als Instrument, um die Politik der Konservativen im Nachhinein in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Versteht man die spirituelle Dimension des Endes der Montanindustrien darüber hinaus auch als grundlegenden Verlust von Orientierung in der Welt, so wird deutlich, dass es sich um ein seelisches Problem handelte, dessen Bewältigung mehr oder weniger gut gelingen konnte. Bei der Erfassung dieses Zusammenhangs sticht das Werk des Journalisten Mark Hudson hervor, in dem der Autor eine eigene Sprache für den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen ihm selbst, als akademisch gebildeter Enkel eines Bergarbeiters, und seinen noch in der Grafschaft Durham lebenden älteren Verwandten findet: As a child, Horden – the dignity with which the miners bore the cruelty of their labours, the richness of its communal life, the beauty of the countryside through which my father had roamed as a boy, […] was part of my inner landscape, inculcated into me 151 Ebd., S. 115. 152 Ruprecht Vondran, Die ethische Dimension und die Chance des Strukturwandels am Beispiel Rheinhausen, in Jablonowski, Betriebsschließungen im Ruhrgebiet, Teil 2, S. 94–96, hier S. 96.

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by my father with the same visceral narrative intensity with which he had described not only his own experiences of the Second World War, but his father’s during the Great War.153

Hudson verbrachte von 1991 bis 1992 ein Jahr in Horden, dem Nachbarort von Easington und Peterlee, aus dem sein Vater stammte. Er konnte dort, selbst wenn er es gewollt hätte, nicht mehr in einer Zeche arbeiten, da diejenige in Horden unmittelbar nach dem Streik geschlossen wurde und die anderen Zechen des Nordostens von der Schließung bedroht waren. Mit der Zeit lernte er vor allem die feinen Unterschiede zwischen ehrbaren (respectable) und nicht-ehrbaren (not respectable) Familien, Straßenzügen und Beschäftigungen im Bergbau kennen, die das soziale Beziehungsgeflecht der Menschen in Horden auch nach dem Ende des Bergbaus bestimmten. Aus dieser teilnehmenden Beobachtung heraus findet der 1963 geborene Hudson zu einer überzeugenden Darstellung davon, wie die Betroffenen am Ende des Industriezeitalters – durch Nostalgie gelähmt – seelisch zu zerbrechen drohen: Heavy industry, the effects of which we all grew up with, is becoming  a matter of folklore as much as historical memory. Even the stories of the struggles between the left and right in the union, which I had heard rehearsed so passionately – and at far greater length and more frequently than I have recorded here – though they had taken place so recently, were part of a world that was almost quaintly historical.154

Hudson sollte insofern Recht behalten als dass die Welt der industriellen Arbeit im Nordosten Englands tatsächlich innerhalb kürzester Zeit verschwand. Wobei die Erfahrungen hoher Arbeitslosigkeit, völliger Vernachlässigung durch die Zentralregierung und die Erinnerung an den vergeblichen Kampf von 1984–85 das Bewusstsein der Region bis heute bestimmen. Nordostengland zählt heute, wie Teile Nordfrankreichs oder des amerikanischen Rust Belts, zu den abgehängten Regionen, in denen die »Kultur des kleinen Mannes« zu einer Kultur des Ressentiments geworden ist. Diese Entwicklung wird im Nordosten bisher nur dadurch abgemildert, dass die Labour Party bisher immer wieder in der Lage gewesen ist, fast alle Unterhausmandate zu gewinnen und aus den vorherrschenden Ressentiments progressive soziale Forderungen abzuleiten. Allerdings ist fraglich, wie lange das ohne eine glaubwürdige Vorstellung von Fortschritt möglich sein wird.

153 Hudson, Coming Back, S 2. 154 Ebd. S. 303.

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4.4 Zwischenfazit Der Miners’ Strike in Nordostengland bildete, im Gegensatz zu den Rheinhausener Protesten, nicht bloß eine Bedrohung für die Ordnung Montanregion, vielmehr bewirkte er deren völlige Ablösung und Transformation. Das wird besonders deutlich, wenn man die sozialstaatlichen und strukturpolitischen Versuche zur Bewältigung der Konflikte miteinander vergleicht und diese in Bezug zum Wandel des Regionalbewusstseins nach dem Aufruhr in der Montanregion setzt. Die sozialstaatliche Absicherung von proletarischen Lebens- und Berufsrisiken war hier wie dort ein unverzichtbarer Bestandteil der Ordnung Montanregion; ohne sie wäre die Praxis eines friedlichen Strukturwandels nicht möglich gewesen. Insofern stellten die Konflikte um Sozialhilfe bzw. Sonderzahlungen des Sozialamts für die betroffenen Bergleute und ihre Sympathisanten im labour movement nicht bloß ein ökonomisches Problem dar, sondern einen direkten Angriff auf ihr individuelles und kollektives Bewusstsein: Plötzlich sollten Bergleute keine Arbeitnehmer und Bürger mit berechtigten Versorgungsansprüchen mehr sein, sondern hilfsbedürftige und gewissermaßen ›abgehängte‹ Bittsteller. Der Protest gegen die Zurückhaltung von Sozialhilfe war, wie das Verhalten der Streikposten an Tagebauen und Zechentoren, von einer moral economy of provision motiviert, in der die gleiche Verteilung von gemeinschaftlichen Gütern und der Schutz gegen Regelbrecher an oberster Stelle standen. Den Bergleuten im Nordosten ging es in beiden Fällen um die Einhaltung von Regeln, die sie für selbstverständlich erachteten: Streikbrecher mussten den Spießrutenlauf am Zechentor durchlaufen und ehrlich streikende Arbeiter verdienten aus ihrer Sicht jede erdenkliche Unterstützung. Dieses Gerechtigkeitsempfinden entsprang allerdings nicht rebellischer Militanz, sondern einem strukturell konservativen Alltagsverstand: Fleiß, geleistete Arbeit, Produktivität und die Einhaltung von gleichen Regeln für alle stellten das moralische Kapital dar, mit dem die Bergleute im Nordosten ein Recht auf Hilfe reklamierten. Die Zahlungen der von Labour dominierten county und town councils bildeten eine Ausweichstrategie, mit der zwar nur begrenzte ökonomische Ressourcen mobilisiert werden konnten, die es den Akteuren des labour movement jedoch ermöglichte, sich als einzig legitime Vertreter regionaler Interessen zu profilieren. Ähnlich wie das Verständnis für Gewalt von streikenden Arbeitern gegen nicht-streikende Arbeiter und Einrichtungen des Coal Board auf die Montanregionen beschränkt blieb, so blieb auch die weitreichende Interpretation von ökonomischer Solidarität für die streikenden Bergleute, die von der NUM und Teilen Labours propagiert wurde, auf das ehemalige Kohlenrevier des Great Northern Coalfield begrenzt. Argumente, die in Durham und Gateshead, auch Dank tatkräftiger Unterstützung durch Bergleute, funktionierten, fanden schon ein paar Meilen weiter südlich, in Darlington, nur noch begrenzt Widerhall. Die sozialstaatlichen Verwerfungen, die der Miners’ Strike mit sich brachte, verstärkten also auch die

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ohnehin schon vorhandenen Muster regionaler Selbst- und Fremdzuordnung und trug so zur Herausbildung eines regionalspezifischen Opfernarrativs im Nordosten bei. In Rheinhausen gab es keine vergleichbare Krise des Sozialstaats und schon aus diesem Grund war die Ordnung der Montanregion im Ruhrgebiet nicht auf die gleiche Weise bedroht, wie in Nordostengland während des Miners’ Strike. Allerdings spielte auch in Rheinhausen ein bewahrender, konservativer Impuls eine große Rolle: Den Arbeitern dort ging es ausschließlich um den Erhalt der Hütte in ihrem Stadtteil. Versuche der IG Metall, der SPD oder anderer DGB -Gewerkschaften, aus dem Konflikt um Rheinhausen einen Kampf um Arbeitsplätze im Ruhrgebiet zu machen, wurden von den Kumpeln dort nicht wirklich akzeptiert. Das war ein wichtiger Grund dafür, warum der Versuch, mit Hilfe einer sogenannten Beschäftigungsgesellschaft neue Wege bei der strukturpolitischen Bewältigung von Schließungen zu erproben, in Rheinhausen scheiterte. Stattdessen stand am Ende die Düsseldorfer Vereinbarung, ein erweiterter Sozialplan, der das Prinzip des Strukturwandels, gewerkschaftliche Zustimmung zu Schließungen im Austausch für Transferleistungen wie Frührente und Arbeitsplätze an anderen Standorten, weiterführte. Aus der Perspektive einer bedrohten Ordnung kann man also im Fall Rheinhausen von einer erfolgreichen Bewältigung der Bedrohung sprechen, weil der zentrale Mechanismus der Ordnung intakt blieb und der soziale Frieden wiederhergestellt wurde. In Nordostengland zeigt sich dagegen auch beim Vergleich der strukturpolitischen Bewältigungsversuche, dass die alte Ordnung Montanregion dort mit dem Streik aufgehört hatte zu existieren. Es gab einfach keine koordinierte Strukturpolitik des Zentralstaats mehr. Daher mussten lokale Akteure bei der strukturpolitischen Bewältigung der Schließungen dort gezwungenermaßen andere Wege einschlagen. Bürgerschaftliche, kirchliche und gewerkschaftliche Gruppen schlossen sich zusammen, um die Rationalität von Zechenschließungen mit ökonomischen Argumenten in Frage zu stellen. Diese Bemühungen waren zwar nicht erfolgreich, aber zumindest gelang es den Betroffenen so, eine Gegenerzählung zum Narrativ der uneconomic pits und der Steinkohleförderung als veralteter, obsoleter Industrie zu etablieren. Angesichts der ökonomischen und politischen Machtverhältnisse, welche das Ende der Zechen unausweichlich machte, war das ein entscheidender Beitrag zur friedlichen Bewältigung der Schließungen. Denn so konnten die Betroffenen ihre Niederlagen wenigstens rational verarbeiten. Die dritte Ebene, auf der die Bedrohung der regionalen Ordnung in den Montanregionen bewältigt werden konnte und musste, war das Regionalbewusstsein. In dem Maße, in dem Produktivitätssteigerung, wachsender Wohlstand und Modernisierung der Industrie nicht mehr zur Orientierung taugten, musste auch die säkularisierte Heilserwartung an ein immer besseres Morgen, die »vergangene Zukunft« der Nachkriegszeit, brüchig werden. Schon während der Konflikte um die drohenden Schließungen machte sich daher mit den Volkskirchen eine Gruppe von Akteuren bemerkbar, die das solchermaßen geprägte, säkulare Zeit- und Weltverständnis der gewerkschaftlichen, unternehmerischen und poli-

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tischen Akteure nie vollständig geteilt hatte. Die Kontroverse um die Antritts­ predigt von Bischof Jenkins zeigt eindrücklich, wie die scheinbare Parteinahme der Kirche im Nordosten auch auf der nationalen Ebene hohe Wellen schlug: Konservative Anglikaner empfanden es als Angriff auf die Grundfesten der Nation, wenn Vertreter der Nationalkirche gemeinsame Sache mit streikenden Arbeitern zu machen schienen. An den Aussagen von Energieminister Peter Walker wurde allerdings auch deutlich, dass nicht alle Konservativen die Bergarbeiter um jeden Preis demütigen wollten. Damit konnte sich Walker zwar innerhalb der Regierung nicht durchsetzen, wohl aber den Platz der moderaten one-nation Tories am Kabinettstisch erhalten. In Rheinhausen und rund um die Proteste in Rheinhausen entfalteten katholische und evangelische Geistliche und Laiengruppen eine erstaunlich vielfältige Aktivität. Allerdings scheiterte ein mögliches Bündnis zwischen Rheinhausener Belegschaft und Pfarrern dann doch an Mentalitätsunterschieden und an der eifersüchtigen Wacht der Metaller über ihre gewerkschaftlichen Privilegien. Da konnte ein pragmatischer Sozialethiker wie Pfarrer Kelp nicht einfach daherkommen und mit Gerhard Cromme über Lösungen für Rheinhausen reden. Der katholische Pfarrer Fritz Bösken durfte zwar eine preiswürdige Predigt im Walzwerk halten, aber prominente Sozialkatholiken wie Norbert Blüm waren als Vertreter der falschen Partei in Rheinhausen keineswegs wohlgelitten. Am stärksten zeigte sich der Bruch, den der Aufruhr in der Montanregion für das sozialräumliche Ordnungsgefüge bedeutete, jedoch darin, dass die Fähigkeit, aus dieser Ordnung auch individuelle und zeitliche Orientierung in der Welt zu gewinnen, spätestens in den 1990er Jahren verloren ging. Aus der vergangenen Zukunft einer sicheren Fortschrittserwartung wurde wieder eine – je nach sozialer Lage und individuellem Erkenntnisvermögen – »schlechte« bzw. für manche auch ganz akzeptable Unendlichkeit. Ein beeindruckendes Kunstwerk wie das Millenium Window in der Kathedrale von Durham drückt diesen fundamentalen Wandel von einem linearen zu einem zyklischen Zeit- und Weltverständnis mit den Mitteln christlicher Symbolik aus. Er gilt aber auch für die – im weitesten Sinne – spirituelle Grundausstattung aller »nach dem Boom« Lebenden. Die Zeit hat keine Richtung mehr und daraus können existenzielle Unsicherheit, pragmatische Selbst- und Fremdsorge, egoistischer Hedonismus oder fröhlicher Fatalismus entstehen, aber keine gerichteten ideologischen Bewegungen wie noch in den 1980er Jahren. Das mag man aus Gründen politischer Romantik bedauern, dadurch wird sich die Wirklichkeit aber nicht ändern. Die Schlussbetrachtung soll sich daher vor allem der Frage widmen, in welchem Verhältnis dieser Wandel zu dem hier untersuchten Aufruhr in der Montanregion und der Entwicklung des Regionalbewusstseins nach dem Aufruhr steht.

III. Schlussbetrachtung

Jedes Jahr am zweiten Samstag im Juli findet in Durham die Miners’ Gala statt. Bei diesem, auch als Big Meeting bezeichneten Zusammentreffen ziehen die Blasmusikkapellen der Durham Miners mit Pauken und Trompeten an den bürgerlichen Einrichtungen der Provinzhauptstadt, Kathedrale und Universität, vorbei. Die ehemaligen Bergleute und ihre Nachfahren tragen im Nordosten Englands also weiterhin den Stolz auf ihre vergangene Arbeitswelt und Alltagskultur zur Schau, obwohl es dort schon seit Jahren keine fördernde Zeche mehr gibt. Inzwischen hat der große Tag vor allem eine symbolische Bedeutung, die in den letzten Jahren sogar noch zugenommen hat, da mit Ed Miliband und Jeremy Corbyn auch die Vorsitzenden der Labour Party wieder zu der Kundgebung fahren und dort Reden halten.1 Beim Umzug durch die Stadt tragen einige Männer hinter den Kapellen die Fahne der jeweiligen union lodge. Während die meisten banner noch an Arbeiteranwälte des 19. Jahrhunderts, einzelne Grubenunglücke oder die Verstaatlichung der Zechen am 1. Januar 1947, dem vesting day, erinnern, stellen einzelne Fahnen mittlerweile den Streik von 1984–85 dar oder thematisieren den Kampf um Entschädigungen für Berufskrankheiten in den 1990er und 2000er Jahren. Die Durham Miners erheben damit auch nach dem Ende der Schwerindustrie einen Anspruch auf eine politische Rolle in der Region und darüber hinaus.2 Dieses markante, politische Auftreten unterscheidet sich vom Ruhrgebiet, wo die Erinnerung an die industrielle Vergangenheit keine Aufgabe der Gewerkschaften, sondern der Landschaftsverbände für das Rheinland und Westfalen ist, die dort große Industriemuseen betreiben. Angesichts der anhaltenden politischen Bedeutung der Erinnerung an den Bergbau und den Streik von 1984–85 fällt jedoch ins Auge, dass im Nordosten nur sehr wenige Monumente der Industriekultur erhalten geblieben sind.3 Im Ruhrgebiet hingegen prägen denkmalgeschützte Fördertürme, stillgelegte Hochöfen und sogar als »Land1 Mark Tallentire, Thousands invade Durham as Big Meeting lives up to name, Northern Echo 16.7.2012; Chris Lloyd, Miliband follows in footsteps of ›Labour heroes‹, Northern Echo 14.7.2012. 2 O. A., Coming for their Reets, in: Keith Armstrong (Hrsg.), The Big Meeting. A People’s View of the Durham Miners’ Gala, Newcastle upon Tyne 1994, S. 17–20. 3 Der ideengeschichtliche Hintergrund einer Renaturierung der Landschaft lässt sich aus den Planungsunterlagen der County Councils in Durham und Northumberland erschließen: Durham County Record Office, DC EDRU (Economic Development and Research Unit) 45 (1981), Reclamation of Derelict Land ~ 1981. Prepared by the Planning Department, Durham County Council, o. P., S. 1 [eigene Zählung]; Northumberland Record Office, CC County Council, CC / TC/95, Northumberland County Council, The Reconstruction of

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Schlussbetrachtung

schaftsskulpturen« veredelte Halden weiterhin das Bild der Region. Dort hat die schwerindustrielle Vergangenheit nämlich eine ganz eigene Art regionaler Erinnerungskultur hervorgebracht: Die Identifikation mit den Monumenten der Schwerindustrie gehört unter dem Rubrum »Industriekultur« seit den 1990er Jahren zum guten Ton der bürgerlichen Gesellschaft, ohne mit einer bestimmten politischen Identität verknüpft zu sein.4 Angesichts dieser Unterschiede in der Erinnerungspolitik stellt sich die Frage, ob und auf welche Weise der Miners’ Strike und die Rheinhausener Proteste bzw. die Bewältigung oder Nicht-Bewältigung dieser Konflikte auch heute noch die ehemaligen Montanregionen North East und Ruhrgebiet prägen. Miners’ Strike und Rheinhausen bildeten Momente räumlich und zeitlich verdichteter sozialer Unruhe, in denen die soziale Ordnung der Montanregionen Nordostengland und Ruhrgebiet in den Augen der historischen Akteure akut bedroht war. Der Begriff Aufruhr stellt die sozialmoralische Logik dieser Bedrohung heraus: Die Konflikte eskalierten in einzelnen Momenten, weil die Akteure den Bruch von impliziten Verhaltensregeln, die im Konfliktfall Erwartungen stabilisieren sollten, als Verstoß gegen eine gerechte Ordnung empfanden. Die resultierende Empörung bezog ihre Wucht aus der moral economy des Strukturwandels, die sich wiederum aus einer handlungsleitenden Vorstellung von »Fortschritt« und einer dazugehörigen Praxis der verhandelten Rationalisierung und Modernisierung industrieller Produktion zusammensetzte. Daraus entstand in der langen Nachkriegszeit ein »Sozialraum«5 Montanregion, in dem die Legitimität allgemeiner politischer Vorstellungen durch die Institutionen und Praktiken der schwerindustriellen Arbeitswelten vermittelt wurden. Die Verhaltenserwartungen, die dadurch geprägt wurden, strukturierten dann das kommunikative Handeln der Akteure in Konflikten. Der Miners’ Strike von 1984–85 und die Rheinhausener Proteste im Winter 1987–88 waren jedoch auch von Anfang an mit zentralen Elementen nationaler Diskurse aufgeladen, die den Konflikten um Betriebsschließungen eine zusätzliche Bedeutung verliehen. Das gemeinsame Bedrohungsempfinden der Akteure äußerte sich dabei sowohl in zugespitzten Selbstbeschreibungen (nach dem Motto: »Wir gegen die!«) als auch in Gewalt. Die Zuspitzung der Routinekonflikte um Betriebsschließungen zu Fundamentalkonflikten um die gesellschaftliche Ordnung ließ sich anhand von vier Kategorien aufschlüsseln: 1. der »vergangenen Zukunft«, also dem zeitlichen Bezug der sozialräumlichen Ordnung Montanregion, 2. den Konflikten um Arbeit und Mitbestimmung in den betroffenen Betrieben, 3. der Eskalation des South East Northumberland. A Review of recent Progress and Prospects, Report of the County Planning Officer presented to the County Planning Committee March 1967, S. 12. 4 Boldt / Gelhar, Das Ruhrgebiet, S. 71–80; Vgl. auch Konrad A. Schilling (Hrsg.), Kulturmetropole Ruhr. Perspektivplan II, o. O. (Essen) 2007. Mit hochrangigen Beiträgen der Historiker Konrad A. Schilling, Jörn Rüsen und Ralf Stremmel, in denen die Beschäftigung mit der regionalen Vergangenheit bezeichnenderweise nicht unter dem Schlagwort »Geschichte«, sondern unter der Bezeichnung »Kultur« erfolgt. 5 Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 271–273.

Schlussbetrachtung

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Protesthandelns zu Gewalt, 4. der Bewältigung des Aufruhrs durch sozial- und strukturpolitische Maßnahmen bzw. deren Ausbleiben und den Auswirkungen dieser Bewältigung auf das Regionalbewusstsein. Die »vergangene Zukunft« (Koselleck) des industriellen Strukturwandels bildete das zentrale Deutungsmuster, mit dem die Akteure, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, die Ereignisse interpretierten und Handlungsstrategien entwickelten. Vorstellungen von industrial redevelopment und Strukturwandel hatten ihre Wurzeln in der Zwischenkriegszeit und gingen in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowohl im englischen Nordosten als auch im Ruhrgebiet eine enge Verbindung mit emanzipativen und zukunftsgerichteten Politikidealen der nationalen Arbeiterbewegungen ein. In Großbritannien war der modernisierende Zukunftsoptimismus untrennbar mit großen politischen Strömungen wie dem reformistischen Sozialismus (labourism) und dem one-nation-toryism verknüpft. Hier konnte er sich aufgrund der erfolgreichen Behauptung des Landes im Zweiten Weltkrieg und der fehlenden Diktaturerfahrung auf ganzer Linie durchsetzen. In Westdeutschland hingegen bestimmte das Paradigma der »Suche nach Sicherheit« (Conze) trotz Neugestaltungs- und Modernisierungseuphorie die Strategien aller Akteure im Montanbereich. Später, als der schwerindustrielle Komplex begann, sich von einem Stützpfeiler der britischen und deutschen Volkswirtschaften zu einem Problemsektor zu entwickeln, wurden diese Schwierigkeiten weiterhin mit den Mitteln der rationalisierenden Modernisierung gelöst. Raumplanung und industrielle Modernisierung galten in Nordostengland wie im Ruhrgebiet als adäquate Bewältigungsstrategien für die historisch überkommenen und neu entstandenen Probleme der schwerindustriell geprägten Regionen. Diese Form der Problembewältigung verstärkte allerdings die gegebenen Muster der sozialräumlichen Ordnung. Im Zeichen des industrial redevelopment bildeten sich ein spezifischer Politikstil und eine regional begrenzte, eigene politische Kultur der Montanregionen heraus, deren Hauptzweck im sozialfriedlichen Abbau von Produktionskapazitäten bestand. Der Miners’ Strike und die Rheinhausener Proteste konnten unter anderem deshalb zu Fundamentalkonflikten eskalieren, weil die Unternehmen National Coal Board und Krupp Stahl die Regeln dieser politischen Kultur missachteten, nicht aber weil Arbeiter oder Gewerkschaften prinzipiell gegen Betriebsschließungen waren. Der Miners’ Strike war auf der regionalen Ebene  – anders als von zeitgenössischen Beobachtern behauptet  – keinesfalls von Anfang an ein Konflikt zwischen einer politisch militanten Arbeiterschaft und einer radikal antigewerkschaftlichen Regierung.6 Im englischen Nordosten war Streikbereitschaft eine Folge von Aushandlungsprozessen innerhalb der Gewerkschaft, nicht von ideologischer Militanz. Umgekehrt respektierten die zuständigen Mitarbeiter des National Coal Board bis Anfang August 1984 die Mitbestimmungsrechte der NUM. So fragte der area industrial relations officer des NCB die lodges und die Bezirksleitung der Gewerkschaft stets um Erlaubnis, wenn auf den Zechen 6 Vgl. Beynon, Authority and Change, S. 402 f.; Howell, Defiant Dominoes, S. 163 f.

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Schlussbetrachtung

trotz des Streiks Reparaturarbeiten erledigt werden sollten. Die Interpretation des Streiks als Konflikt um »Gewerkschaftsmacht«7 passt zwar zu den zeitgenössischen Diskursen, ist aber falsch.8 Sowohl das National Coal Board als auch die NUM beriefen sich auf regionale Selbstbilder, die den Nordosten als eine besonders englische bzw. britische Region definierten: Eine Region voller fleißiger und politisch gemäßigter Menschen, die nur ihre Arbeit machen sollten bzw. wollten. In Anlehnung an nationale Diskurse über Freiheit, Bescheidenheit und Produktivität reklamierten beide Seiten die Einhaltung von geordneten Verfahrensweisen, ihre nicht-agressiven Absichten und die Einhaltung von vereinbarten Produktionszielen, für sich. Erst im Sommer 1984 und unter dem Druck der politischen Konfrontation auf der nationalen Ebene zerbrach diese Orientierung an geteilten Ordnungsvorstellungen. Für Rheinhausen liegt zwar keine politisch gefärbte Meistererzählung vor, aber auch hier muss im Rückblick zwischen dem Selbstbild der Akteure und einer historischen Interpretation der Ereignisse unterschieden werden. Die Stahlarbeiter in Rheinhausen protestierten vehement gegen die befürchtete Schließung ihres Werks, weil sie sich in einem falschen Gefühl der Sicherheit gewiegt hatten, nicht weil sie den industriellen Strukturwandel als solchen in Frage stellten. Sie rebellierten im Namen der Produktivität, nicht g e g e n den Kapitalismus, sondern f ü r den Erhalt ihres Werks um fast jeden Preis, auch den von Arbeitsplätzen an anderen Standorten. Doch während die etablierten Muster der industriellen Beziehungen und der Mitbestimmung am Arbeitsplatz, die im Nordosten bis 1984 untrennbar zur Ordnung der Montanregion dazugehörten, durch den Miners’ Strike aufhörten zu bestehen, wurden die regionalen Bewältigungsmuster für den Strukturwandel durch die Rheinhausener Proteste gestärkt. Die SPD -geführte Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und die IG Metall nutzten die Empörung der Öffentlichkeit geschickt, um sich stärker denn je als kompetente Sachwalter des regionalen Strukturwandels darzustellen. Im Nordosten schlug der Versuch der Konservativen, andere Bilder von der Region und von produktiver Arbeit durchzusetzen, fehl. Das Scheitern der NUM im Streik führte dazu, dass Produktivitätsdenken und Forderungen nach demokratischer Teilhabe am Wirtschaftsleben regional stärker als zuvor in der klassenpolitischen Rhetorik des labour movement ausgedrückt wurden, auch wenn dies weder dem realen Pragmatismus der lokalen Politik, noch den Anforderungen des beschleunigten Strukturwandels entsprach. Am genauesten ließ sich die sozialmoralische Dynamik von Eskalation und Deeskalation anhand der Gewalt an den Zechentoren aufzeigen. Sowohl hochgradig ritualisierte als auch scheinbar spontane und sinnlose Akte der Gewalt 7 Besonders plakativ: Beckett / Hencke, Marching, S. 253–273, aber auch: Georg Weinmann, Von der Vorhut zum Relikt. Zur Entwicklung der britischen Bergarbeitergewerkschaft NUM, in: Zeitschrift für Politik 45 (1998), S. 69–88; Ders., Wandel oder Kontinuität? Britische Gewerkschaften in der Ära Thatcher, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 6 (1991), S. 54–77. 8 Priemel, Gewerkschaftsmacht, S. 110 f.

Schlussbetrachtung

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konnten als Ausdruck von kollektiven Haltungen zu sozialer Legitimität entschlüsselt werden. Die Proteste im Miners’ Strike eskalierten aufgrund mehrerer Faktoren zu Gewalt: Die Polizei hatte neue Einsatzmethoden zur Kontrolle von Menschenmengen entwickelt, die sie aufgrund der öffentlichen Umdeutung von Streikverweigerung in ein right to work einsetzte, um die individuellen Rechte von Arbeitnehmern zu schützen. Die in der National Union of Mineworkers organisierten Bergarbeiter, d. h. vor allem diejenigen, die sich als Streikposten engagierten und zu Kundgebungen fuhren, gewannen zusehends den Eindruck, sich nicht bloß in einem Konflikt mit einem Unternehmen zu befinden, sondern in einer Art Bürgerkrieg mit der Polizei und dem britischen Staat. Der größte Unterschied in den lokalen Eskalationsdynamiken zwischen dem Miners’ Strike und den Rheinhausener Protesten liegt jedoch in den öffentlichen Debatten über gewaltförmigen Protest. Die Darstellung des Bergarbeiterstreiks als Folge von Gewalt und Manipulation senkte die Hemmschwelle bei einigen Polizeieinheiten, auch aus nichtigen Anlässen oder sogar zum Zweck reiner Schikane Gewalt anzuwenden und Verhaftungen durchzuführen. Die Demonstration in Sheffield, bei der die Polizei einen workingmen’s club genau in dem Moment stürmte, als die dort versammelten Bergleute bereits dabei waren, in Busse zu steigen und abzufahren, ist vielleicht das eindrücklichste Beispiel für eine solche Schikane. Ein endgültiger Bruch zwischen Bergleuten und Polizei tat sich im Nordosten aber erst auf, als das National Coal Board mit wohlwollender Unterstützung durch die Regierung beschloss, streikende Arbeiter zur Rückkehr an die Arbeit aufzufordern. Am 24. August 1984 kulminierte der Aufruhr in der Montanregion Nordostengland im Dorf Easington, als Arbeiter mit dem Ausruf »He’s in our pit!« das Zechengelände stürmten. Sie zeigten damit, dass sie die Zeche als gemeinschaftliches Gut verstanden, das vor allem denjenigen gehörte, die dort arbeiteten. Dieser Blick auf die Bergwerke im Nordosten als Teil einer moral economy of provision war zwar durchaus legitim und im Kontext einer verstaatlichten Kohleindustrie auch nicht von der Hand zu weisen, er wirkte sich im weiteren Verlauf des Streiks aber auch konfliktverschärfend aus, weil Gewerkschaftsfunktionäre nun zunehmend für eine kompromisslose Haltung belohnt wurden. Zudem untergruben die Fernsehbilder und Zeitungsfotos von Gewalt das hohe Ansehen der Bergleute in der britischen Öffentlichkeit und erleichterten es der Regierung in London, besonders unnachgiebig aufzutreten. In Rheinhausen entfaltete sich durch Gewalt eine ganz andere Konflikt­ dynamik. Auch dort gab es – gerade zu Beginn der Proteste – ein Ausmaß von symbolischer und körperlicher Gewalt, das nicht zu den etablierten Selbstbildern des Ruhrgebiets passt. Und auch in Rheinhausen speisten sich Wut und Empörung aus dem Verstoß Krupps gegen die moral economy des Strukturwandels. Doch hatten weder die Medien noch die politischen oder industriellen Akteure ein Interesse daran, den Konflikt zu verschärfen. Das bereitwillige Verständnis für die direkten Aktionen der Rheinhausener Arbeiter, die als Ausdruck berechtigter Empörung verstanden wurden, und die hohe praktische Toleranz der Polizei wirkten deshalb deeskalierend. Die Rheinhausener Stahlarbeiter konnten ihrer

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Schlussbetrachtung

Wut Ausdruck verleihen und dadurch, dass sie sich körperlich ausagieren durften, auch ein Stück ihrer Würde behalten. Die politische Kultur des Strukturwandels wurde deshalb so durch die Rheinhausener Proteste und den politischen Umgang mit ihnen gestärkt und als Erzählung von regionaler Solidarität und Anpassungswillen in schwierigen Zeiten zu einem Bestandteil der Ruhrgebietsfolklore. Der Wandel der Ordnung Montanregion  – d. h. deren abruptes Ende im Nordosten und die Ansätze zu deren Transformation im Ruhrgebiet  – ließ sich schließlich an den Konflikten um sozialstaatliche Transferzahlungen und Strukturpolitik aufzeigen. Spätestens als die britischen Bergarbeiter im Laufe des Sommers 1984 von unverzichtbaren Energielieferanten zu verhinderten Sozialhilfeempfängern wurden, war klar, dass die NUM keinen Hebel in der Hand hatte, um ihre Forderungen per Streik durchzusetzen. Dass die Regierung in London Hilfszahlungen verweigerte, mochte zwar innerhalb des Milieus der Streiksympathisanten für Geschlossenheit und Motivation sorgen, tatsächlich bestätigte es aber die ökonomische Machtlosigkeit der NUM-Führung und aller streikenden Bergleute. Für die Betroffenen war die Armut, die sie nun ereilte, dramatisch. Für die Ordnung Montanregion bedeutete sie in gewisser Weise einen Todesstoß, weil damit auch die Geschäftsgrundlage für den modernisierenden Strukturwandel aufgehoben war. Wenn die Regierung gegen den maximalen Widerstand der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter nicht nur Streikbrecher in die Zechen bringen konnte, sondern die Bergleute auch über Monate auf ein Einkommensniveau unterhalb des normalen Sozialhilfeniveaus drücken konnte, ließ sich auch sonst alles mit den Kohlerevieren machen. In Rheinhausen hingegen kam es niemals zu einer solchen ökonomischen Machtprobe im privatwirtschaftlich organisierten Stahlsektor, die im föderalistischen Westdeutschland so auch kaum denkbar gewesen wäre. Stattdessen gab es für Rheinhausen eine strukturpolitische Lösung, die weitestgehend dem entsprach, was auch vorher schon den Strukturwandel in der Montanregion Ruhrgebiet ausgemacht hatte: Sozialer Frieden gegen Abfindungen, Transfers und Stellen in benachbarten Werken. Doch sowohl im Nordosten als auch im Ruhrgebiet hatte die sozial- und strukturpolitische Seite der Konflikte um die Zechen und das Werk in Rheinhausen auch Auswirkungen auf das Regionalbewusstsein. Dadurch, dass der Sozialvertrag, auf dem die Ordnung Montanregion im Nordosten beruhte, augenscheinlich hinfällig geworden war, ergab sich eine Chance für die Church of England, in dem Konflikt als Akteur aufzutreten. Knapp vier Wochen nach dem Tag von Easington schien geistlicher Beistand nötig, als Bischof Jenkins Ian MacGregor zum Rückzug aufforderte. Und auch in Rheinhausen dienten die beiden großen Volksskirchen als Verbündete, die dem Protest der Belegschaft zunächst eine viel größere Außenwirkung verschafften. Wenn der Pfarrer im Walzwerk predigt, ist klar, dass es um mehr gehen muss, als um ein paar Tonnen Produktionskapazität. Doch machte das Eingreifen der Kirchen mit ihrem nicht auf linearen Fortschritt gerichteten Welt- und Zeitverständnis auch deutlich, dass die Ordnung Montanregion, die aus einer solchen Haltung zur Welt ihre Gültigkeit bezog, bereits brüchig geworden war. In Rheinhausen konnten Belegschaft

Schlussbetrachtung

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und Betriebsrat den »Einmischungsversuch« der Theologen abwehren. Im Nordosten entwickelte sich die anglikanische Kirche – zuerst in den toten Winkeln der gewerkschaftlichen Solidaritätsrhetorik, Angst, Selbstzweifel und verlorener Mut, später auch in Kooperation mit der NUM, bei Solidaritätskampagnen und Erinnerungsfesten – zu einem gleichwertigen Ansprechpartner für die regionale Identität des Nordostens. Entscheidend ist dabei nicht so sehr, ob dieser Anspruch sich in der Breite der Bevölkerung durchsetzte, sondern vielmehr, dass nun ein nichtlineares Zeitverständnis in den Raum der Region eintrat. Der Vergleich von Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion ist als Probebohrung für eine akteurszentrierte Sicht auf Protest und Wandel in der jüngeren Zeitgeschichte zu verstehen. Er betont gegenüber den großen Erzählungen von Strukturwandel und Deindustrialiserung die Kontingenz und Offenheit von Entwicklungen. Dabei hat sich gezeigt: Der Aufruhr entstand primär aus dem kurzfristigen Versagen etablierter Handlungsmuster angesichts einer Bedrohung, welche die gewohnten Mechanismen der Konfliktlösung überforderte und somit die Ordnung Montanregion aushebelte. Er hatte aber langfristige Folgen für diese Ordnung, da das Handeln der Akteure Wandel beschleunigte, verstärkte bzw. überhaupt erst auslöste und so dazu beitrug, dass die Ordnung Montanregion sich in Nordostengland auflöste und sich im Ruhrgebiet zunehmend auf strukturpolitische Lösungen für die niedergehenden Industriezweige Kohle und Stahl verengte. Die Perspektive »Aufruhr in der Montanregion« macht daher nicht bloße einzelne Aspekte regionaler Protestgeschichten im industriellen Strukturwandel vergleichbar, sondern identifiziert im Bezug auf den zeithistorischen Horizont der 1980er Jahre einen bestimmten Verlaufstyp von sozialen Konflikten in einem Moment bedrohter Ordnung. Damit werden Auseinandersetzungen im industriellen Strukturwandel als ambivalentes Phänomen sichtbar: Sie erschöpften sich nicht in der Reaktion auf strukturelle Veränderungen, sondern trugen selbst zu Wandel bei. Für die Epoche »nach dem Boom« wird klar, dass sozialer und wirtschaftlicher Protest sowie konkretes politisches Handeln auch nach 1973 auf Vorstellungen und Deutungsmuster rekurrierten, die in der Nachkriegszeit geprägt wurden. Die Leitbilder von Modernisierung, Zukunftsoptimismus und Planungseuphorie wandelten sich, aber sie stellten weiterhin eine zentrale Ressource für die Legitimtiät sozialen und politischen Handelns dar. In Bezug auf die international verflochtenen Nationalgeschichten Großbritanniens und Westdeutschlands wäre es von vorneherein unwahrscheinlich gewesen, hätten das Wachstum und die korporatistischen Modelle der unmittelbaren Nachkriegszeit ewig angehalten. In diesem Sinne waren die Proteste der 1980er Jahre – ebenso wie die ideologische Verschiebung zu neoliberalen und globaliserten Ordnungsentwürfen – tatsächlich Folgen größerer Veränderungen,9 wiewohl sie sich nicht auf den Charakter von Epiphänomenen eines strukturellen Wandels reduzieren lassen. 9 Middlemas, Power, Competition and the State, S. 478; Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 34–42.

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Schlussbetrachtung

Als Antwort auf die Frage nach sozialem Wandel in den regionalgesellschaftlichen Ordnungen der Montanregionen North East und Ruhrgebiet im Miners’ Strike und in Rheinhausen müssen, wie eingangs vermutet, gegenläufige Entwicklungen konstatiert werden. Im Nordosten Englands gelangte die ökonomische und soziale Ordnung der regionalen Gesellschaft durch den Miners’ Strike an ihr Ende. Rein statistisch blieb der Steinkohlebergbau zwar bis in die frühen 1990er Jahre ein relevanter Wirtschaftssektor in Großbritannien, aber die durch den staatlich abgefederten Strukturwandel mit Zukunftsorientierung konstituierte Ordnung der Nachkriegszeit bestand nicht mehr. Sogar die Expertendiskurse verliefen sechs Jahre nach dem Miners’ Strike in völlig anderen Bahnen als noch an dessen Ende im Frühjahr 1985. Kim Howells, der hier mehrmals als Autor diverser Pamphlete und kommunistischer research officer der NUM Südwales aufgetaucht ist, war inzwischen Parlamentsabgeordneter der Labour Party geworden. Er sprach sich im Tagungsband einer wissenschaftlichen Konferenz nun dezidiert für die Privatisierung der Steinkohleförderung aus, gerade weil die Tory-Regierungen der 1980er Jahre die Effizienz der Industrie aus politischen Motiven eingeschränkt hätten: »Labour’s future reassessment of the industry will be as much philosophical and political as it will be managerial and strategic. It will do well to remember that there is no gospel which equates nationalisation with socialism […]«10 Diese Anverwandlung einer Rhetorik der wirtschaftlichen und politischen Flexibilität durch einen ehemaligen Vertreter der Communist Party of Great Britain zeigt, wie sehr sich nach dem Ende des Miners’ Strike innerhalb kürzester Zeit nicht bloß die politische Wirklichkeit, sondern der gesamte Denkhorizont der zeitgenössischen Akteure gedreht hatte. So argumentierte im selben Band der zuständige Schattenminister für Energie, Kevin Barron, der trotz alledem gegen eine Privatisierung der Steinkohleförderung eintrat, gar nicht so sehr mit dem prinzipiellen Wert einer staatlichen Industrie, sondern vielmehr mit deren Effizienz: »With the immediate problems solved and political prejudice overcome, the British Coal Industry will be able to become the energy industry of the future: efficient, profitable, productive – a public sector success.«11 Das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln des Steinkohlebergbaus hatte also auch für diesen Vertreter des traditionellen, gewerkschaftstreuen Flügels der Labour-Party seine politische Bedeutung verloren und hätte sich höchstens noch durch einen besseren Nutzwert gerechtfertigt. Auf regionalpolitischer Ebene geschah indes etwas völlig anderes: Die Akteure des Miners’ Strike aus der Arbeiterbewegung erlangten eine Hegemonie in der Erinnerungskultur, aus der sich bis heute politisches Kapital schlagen lässt. So berufen sich zahlreiche Lokalpolitiker der Labour Party, aber auch Parlaments­ 10 Kim Howells, A Perspective of the Ownership, Control and Management of the British Coal-Mining Industry, in: Peter Pearson (Hrsg.), Prospects for Britsh Coal, Basingstoke und London 1991, S. 80–85, hier S. 85. 11 Kevin Barron, British Coal and Public Ownership, in: Peter Pearson (Hrsg.), Prospects for British Coal, Basingstoke und London 1991, S. 158–160, hier S. 160.

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abgeordnete wie Ian Lavery nach wie vor auf ihre Rolle im Miners’ Strike, um einen politischen Machtanspruch zu begründen. Erst in allerjüngster Zeit gibt es einigermaßen wirksame Versuche, die regionale Identität des englischen Nordostens jenseits der hergebrachten Konfliktlinien zu definieren. Die einflussreichsten Stimmen dafür sind häufig christlich inspiriert und kommen von Vertretern der Mittelklasse, die sich nicht mehr in das Schema einer montanindustriell geprägten Sozialkultur der Region einordnen lassen. So versuchte der ehemalige Abgeordnete der Liberaldemokraten für den Wahlkreis Berwick-upon-Tweed in Northumberland, Sir Alan Beith, in seiner Autobiographie aus dem Jahr 2008 die Identität des Nordostens als Ausdruck einer überhistorischen Spiritualität zu verstehen: »Religion has been a powerful and visible part of the life and history of the North.«12 Am Beispiel des frühmittelalterlichen Evangeliars von Lindisfarne erläutert Beith dann, wie auch in diesem Bereich Machtunterschiede zwischen London und dem Norden eine Rolle spielen: »»There has been a long battle with the British Library to get the Gospels returned to the North-East […]. Reluctance in London to allow this to happen has been seen as characteristic of southern attitudes to the North.« Der Topos der regionalen Benachteiligung bleibt so zwar auch in Beiths christlich geprägtem, bürgerlichen Konzept regionaler Identität erhalten, aber der Gegenstand des historischen Identitätsnarrativs ist nun nicht mehr die industrielle Vergangenheit des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern eine vage Vorstellung von einer unveränderlichen Identität der Region. Im Ruhrgebiet blieb hingegen nicht nur die regionalpolitische Ordnung erhalten; auch der ökonomische und soziale Modus des Wandels mit seiner typischen Struktur aus landes- und bundespolitisch flankierter Strukturpolitik, gewerkschaftlich dominierter Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen und parteipolitischen Akteuren (aus den zwei ›großen‹ Volksparteien SPD und CDU) wurde durch die Rheinhausener Proteste effektiv gestärkt. Erst in den 1990er Jahren erodierte die kommunalpolitische Ordnung des Ruhrgebiets, die aber angesichts mangelnder Alternativen weiterhin häufig von den g­ leichen Akteuren und Interessen wie in den 1980er Jahren bestimmt bleibt.13 Im Hinblick auf die britische Geschichte und den Beitrag dieser Untersuchung zu einer europäischen Geschichte der jüngsten Zeit sollte der Miners’ Strike auch als entscheidende Wegmarke im Wandel der political economy der britischen Politik und des Spielraums demokratischer Politik gesehen werden. Nur sollten dabei, anders als bisher üblich, strukturell determinierte Pfadabhängigkeiten zugunsten von Kontingenz, Ereignishaftigkeit und Handlungsspielräumen sozialer, politischer und wirtschaftlicher Akteure zurücktreten. Keith Middlemas konstatierte bereits 1991, dass die Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft im Großbritannien der 1980er Jahre besser als »collapse of fundamental assumptions about public economic behaviour and the continuing 12 Alan Beith, A View from the North. Life, Politics and Faith Seen from England’s Nor­ thernmost Constituency, Newcastle upon Tyne 2008, hier S. 229. 13 Vgl. Bogumil u. a.: Viel erreicht – wenig gewonnen, S. 13–20.

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value of once-shared aims such as full employment, […] than by reference to any single change of government or party ideology«14 erklärt werden könne. Der Miners’ Strike bedeutet in dieser Perspektive vor allem eine Niederlage der britischen Zivilgesellschaft gegenüber dem Staat, der, unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Ideologie, seit den mittleren 1970er Jahren immer stärker alle Macht für sich reklamierte und in Thatcher eine Vertreterin fand, die bereit war, enorme Ressourcen aufzuwenden, um den Staat von der Interventionsfähigkeit anderer Institutionen, seien es verstaatlichte Betriebe oder Gewerkschaften, zu befreien. Damit jedoch erlangten »Ideologien« oder »politische Programme« logischerweise den Status von Begründungen für Maßnahmen, die so oder so zu ergreifen waren, und deren Analyse für sich genommen nicht den Horizont der historischen Entwicklung erhellen kann.15 Die Analyse von Middlemas, der selbst der Konservativen Partei nahestand, weist dabei ganz erstaunliche Konvergenzen mit etwas jüngeren Interpretation von ›linken‹ Gewerkschaftshistorikern wie John McIlroy oder Nina Fishman auf.16 Der sogenannte Voluntarismus der britischen Gewerkschaftsbewegung, also die prinzipielle Entscheidung für freie Verhandlungen (free collective bargaining) und gegen eine allgemeine, gesetzlich verankerte Mitbestimmungsregelung (industrial democracy),17 machte die Gewerkschaften zu einem notwendigen Verlierer in diesem Kampf um institutionellen Pluralismus, sobald eine Regierung sich entscheiden würde, die Industrie weitestgehend zu privatisieren oder die verstaatlichten Betriebe wie private Unternehmen zu führen.18 Dieses Ende eines bestimmten, zeitlich begrenzten politökonomischen Systems darf aber, gerade wenn man den Miners’ Strike in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, nicht mit dem Sieg einer neoliberalen Ideologie gleichgesetzt werden. Dafür waren die politischen Handlungen der Zentralregierung in der Regierungszeit Thatchers sowohl in ihrer Konzeption als auch in ihren Folgen zu widersprüchlich.19 Die zentrale Rolle des Staates bei der Neuordnung der industriellen Beziehungen verbietet es aber auch, diesen Wandel ohne weitere Reflexion als Niedergang der Arbeiterbewegung oder gar der »Arbeiterklasse« an sich zu konzeptionalisieren.20 Die hier durchgeführte Untersuchung des lokalen Protests im industriellen Strukturwandel trägt also zu einer Zeitgeschichte bei, die sich als europäische Problemgeschichte versteht. Sie bietet somit nicht zuletzt ein Mittel gegen Überzeugungen von einer Alternativlosigkeit bestehender Verhältnisse in der Gegen-

14 Middlemas, Power, Competition and the State, S. xiii f. 15 Ebd., S. 448–454. 16 John McIlroy, Alan Campbell, Nina Fishman: Approaching Post-War Trade Unionism, in: Dies. (Hrsg.), British Trade Unions and Industrial Politics. Vol. 2 The High Tide of Trade Unionism 1964–79, Aldershot 1999, S. 1–19. 17 Schmidt, »Industrial Relations«, S. 7 und 20. 18 Vgl. Hyman, What went wrong?, hier S. 361 f.; 19 Clarke, Hope, S. 389–400; Mergel, Großbritannien, S. 202–210. 20 Vgl. dafür: Howell, Trade Unions, S. 141–152.

Schlussbetrachtung

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wart und erfüllt damit den Sinn einer kritischen Geschichtsschreibung, die sich nicht bloß aus anitquarischem Interesse mit der Vergangenheit befasst, sondern – im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten – Beiträge zu aktuellen politischen Diskussionen zu leisten vermag. Ob dieses kritische Potential aber, wie von Vertretern der kritischen Theorie gefordert, immer gleich in eine umfassende Gesellschaftskritik münden sollte, muss aus geschichtswissenschaftlicher Sicht dahingestellt bleiben.21 Geschichte vermag mehr zu leisten, als die Vergangenheit um ihrer selbst willen zu erforschen, kann aber sicher keine Rezepte zur Lösung gegenwärtiger Problemlagen bereitstellen. Darüber hinaus zeigt der Vergleich, dass die Geschichte der allerjüngsten Zeit nicht darauf angewiesen ist, unhinterfragt zeitgenössische Selbstbeschreibungen zu reproduzieren. Weder die westdeutsche Erfolgsgeschichte von der geglückten Demokratie, noch die britischen Narrative über einen angeblichen decline oder einen überhistorischen Klassengegensatz taugen zur wissenschaftlichen Beschreibung der Vergangenheit. Auch bei Diagnosen von einer Deindustrialisierung, einem Ende der Arbeitsgesellschaft oder einem grundlegenden Wandel des Politischen seit den 1960er Jahren ist Vorsicht geboten. Zuletzt dürfte eine Konfliktgeschichte, die Akteure in den Mittelpunkt stellt, eher dazu geeignet sein, die fundamentale Bedeutung einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaftsordnung zu vermitteln. Nur in menschlichen und nicht in abstrakten Strukturgeschichten werden Demokratie und Pluralismus sichtbar. Wie stabil ist die Verbindung zwischen industriellem Wandel und regionaler Identität, die sich aus den Fundamentalkonflikten der 1980er Jahre entwickelt hat? Mit aller nötigen Vorsicht können aus zeithistorischer Perspektive erste Aussagen zu Ausmaß und Dauer des sozialen und politischen Wandels getroffen werden, der in den Protesten der 1980er Jahre seinen Anfang nahm. Im englischen Nordosten blieben regionale Identitätsdiskurse strikt auf lokale Funktions- und Kultureliten beschränkt. Im Jahr 2004 scheiterte ein Referendum über eine regional assembly für den Nordosten, das – analog zum schottischen Parlament und der walisischen assembly – eine Devolution des Zentralstaats in England einläuten sollte.22 Regionen bleiben in England eine Verwaltungseinheit, die vor allem durch den Zentralstaat bestimmt wird.23 Für die Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung gab es keine Notwendigkeit für eigene regionale Institutionen, solange in Westminster die Labour Party regierte. Außerdem zeitigte der Strukturwandel im Nordosten seit dem Ende der 1990er Jahre erste Erfolge, da der Bevölkerungsschwund sich verlangsamte und der Anteil der er21 Vgl. Jürgen Habermas, Im Sog der Technokratie. Ein Plädoyer für europäische Solidarität, in: Ders. (Hrsg.), Im Sog der Technokratie. Kleine Politische Schriften XII, Berlin 2013, S. 82–111. 22 Vgl. Charlie Jeffery, Elected Regional Assemblies in England. An Anatomy of Policy Failure, in: Mark Sandford (Hrsg.), The Northern Veto, Manchester, New York 2009, S. 9–25. 23 Mark Sandford, The New Governance of the English Regions, Basingstoke u. a. 2005, S. 230–239.

278

Schlussbetrachtung

werbstätigen Bevölkerung erstmals seit Jahren wieder anstieg.24 Die regionale Identität des Nordostens wird gerade im labour movement weiterhin im Rückgriff auf die industrielle Vergangenheit und den Miners’ Strike konstruiert, obwohl die gegenwärtigen Entwicklungsprobleme der Region nur noch mittelbar auf diese historischen Orientierungspunkte zurückzuführen sind. Sozialer Protest im industriellen Strukturwandel muss jenseits zeitgenössischer Selbstbeschreibungen auf der Ebene regionaler Akteure verstanden werden. Ein solches historisches Verstehen ist nur möglich, wenn man bereit ist, im Aufbegehren der Bergarbeiter von Easington am 24. August 1984 oder in der spontanen Besetzung der Rheinbrücke von Rheinhausen nach Hochfeld am 2. Dezember 1987 sinnhafte Momente des Protests zu sehen und diese im Hinblick auf die sozialräumliche Ordnung der Montanregionen North East und Ruhrgebiet zu rekonstruieren. In beiden Konflikten sorgte die akute Wahrnehmung von Bedrohungen bei verschiedenen Akteuren  – sowohl auf Seiten der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften als auch in den Unternehmen und bei politischen Amtsträgern – für einen erhöhten Druck auf Entscheidungsprozesse. Dadurch änderten die Akteure ihre Handlungsweisen und produzierten innerhalb kürzester Zeit eine dichte Bedrohungskommunikation. Beides veränderte die soziale Ordnung nachhaltig, ohne dass dieser Wandel unbedingt den Intentionen der einen oder anderen Seite folgte. So trug der Aufruhr in der bedrohten Ordnung Montanregion nicht nur zu historischem Wandel bei, sondern machte selbst Geschichte.

24 Vgl. Christoph Singer, Northern England in Facts and Figures, in: Christoph Ehland (Hrsg.), Thinking Northern. Textures of Identity in the North of England, Amsterdam, New York 2007, S. 407–433.

Dank

Diese Dissertation hat ihre Entstehung einem unglaublich produktiven Umfeld in Tübingen zu verdanken, dem Oberseminar von Anselm Doering-Manteuffel. Diesem Lehrer und den Mitschülern in seinem Kreis, insbesondere Silke Mende und Fernando Esposito, gebührt mein herausragender Dank. Daneben sind mir in Tübingen seit meinem ersten Semester zahllose wichtige und zugewandte Menschen begegnet, die auch den Erfolg dieser Arbeit im Rahmen des DFG Sonderforschungsbereichs 923 »Bedrohte Ordnungen« maßgeblich mitbestimmt haben. Namentlich nennen möchte ich: Ewald Frie, Dieter Langewiesche und Jörg Neuheiser. Ihnen danke ich aufs Herzlichste für ihre Unterstützung und kritische und engagierte Begleitung im Studium und bei diesem Projekt. Außerhalb von Tübingen habe ich sehr von Konferenzen profitiert, die Dietmar Süß in Jena sowie Martina Steber und Jörg Arnold in London organisiert haben. Lutz Raphael hat das Manuskript einem äußerst gründlichen Lektorat unterzogen. Allen bin ich dafür in Dankbarkeit verbunden. Das gilt auch für die Kommilitonen am SFB, ganz besonders das »A-Team«, die wunderbare Verwaltung und meine Hilfskräfte Marlene Keßler und Johannes Finger. Die andere wichtige Grundlage für die Erkenntnisse in diesem Buch sind Reisen nach Durham, Newcastle und an andere Orte in Nordengland gewesen. Auch dort habe ich Menschen getroffen, die mir geholfen haben, indem sie ihre Aktenschränke und ihre Herzen geöffnet haben. Ganz besonders danken möchte ich: David Temple, Jim Phillips, Eric Wade und Ben Sellers. Liz Bregazzi vom Durham County Record Office und Wendy Tasker vom North East England Mining Archive and Research Centre in Sunderland haben unschätzbare Hilfe beim Finden und bei der Auswahl der Archivalien geleistet: All my best wishes and thanks a million! Neben viel Entdeckungslust und Freude gab es auch Leid: Der Tod von Jakob Hahn (1991–2013) während der Forschungen für diese Arbeit war ein tiefer Einschnitt für mich und für alle, die ihn kannten. Jakob liebte Musik. Jetzt legt er im Himmel Platten auf und lässt dort die Worte von Max Romeo erklingen: »I’m gonna put on an iron shirt and chase the devil out of earth!«. Lieber Jakob, für mich hast Du jemand ganz besonderen hiergelassen: Deine große Schwester, meine Ehefrau Johanna. Ihr widme ich – mit einem herzlichen »Glückauf« – diese Arbeit. Arne Hordt

Neuss am Rhein im Dezember 2017

Abkürzungen

CC CDU

Cmnd. DC DCRO DGB DKP FDP IG Metall NACODS NCB

NEEMARC NEDC NUM NUMDA RP SDP SEAM SPD

County Council (Northumberland) Christlich Demokratische Partei Deutschlands Command Paper (Weißbuch der britischen Regierung) Durham County Durham County Record Office Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Kommunistische Partei Freiheilich Demokratische Partei Deutschlands Industriegewerkschaft Metall National Association of Colliery Overmen and Deputies National Coal Board North East England Mining Archive and Records Centre (Sunderland) National Economic Development Council National Union of Mineworkers National Union of Mineworkers Durham Area Rheinische Post Social Democratic Party Save Easington Area Mines Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Verzeichnis der Abbildungen und Karten

Abbildungen Abb. 1: Die Fahne der NUM-Betriebsgruppe des Schachtes Sleekburn »A«, Bezirk Northumberland, 1949, Vorderseite: Der Palast von Westminster in einem Kohleblock, mit freundlicher Genehmigung von © Paul Plews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Abb. 2: Rückseite: Die Errungenschaften der »New Era« – welfare hall, Schule und mechanisierter Förderzug, mit freundlicher Genehmigung von © Paul Plews. . . . . . . . . . . . . . . 53 Abb. 3: Fahne der Chopwell Lodge, Nachbildung, Original vor 1926, mit freundlicher Genehmigung von David Temple und der Durham Miners’ Association. . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Abb. 4: NUM Northumberland, Demonstration am Ende des Streiks von 1972 in Ashington, Betriebsgruppe Woodhorn. (NRO 06980/1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Abb. 5: Die Führung (Executive Committee) der NUM Northumberland, Demonstration am Ende des Streiks von 1972, in Ashington. (NRO 06980/18) . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Abb. 6: Millson, 200 Million Tonnes, NUM Coal Not Dole, o. D. [Januar – März 1984], S. 8, Durham County Record Office, D / Dor 6/8 Coal Industry Dispute 84–85, Item 05, mit freundlicher Genehmigung des Durham County Record Office. . . . . 109 Abb. 7: o. A. (Millson), »Notices«, NUM Coal Not Dole, o. D. [Januar-März 1984], S. 2, Durham County Record Office, D / Dor 6/8 Coal Industry Dispute 84–85, Item 05, mit freundlicher Genehmigung des Durham County Record Office. . . . . 112 Abb. 8: National Coal Board Workshops Philadelphia, County Durham, in: Ders. / David Peace, No Redemption. The 1984–85 Miners’ Strike in the Durham Coalfield, S. 30, mit freundlicher Genehmigung von © Keith Pattison. . . . . . . . . . . . . . . . . 137

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Verzeichnis der Abbildungen und Karten

Abb. 9: National Coal Board Workshops Philadelphia, County Durham, in: Ders. / David Peace, No Redemption. The 1984–85 Miners’ Strike in the Durham Coalfield, S. 31, mit freundlicher Genehmigung von © Keith Pattison. . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Abb. 10: Easington Colliery, 20. August 1984, Streikende Bergarbeiter errichten vom Zechengelände aus eine Barrikade im Haupttor der Zeche, mit freundlicher Genehmigung von © Keith Pattison. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Abb. 11: Easington 20.August 1984, am ersten Tag des angekündigten »return to work« spricht ein Polizeioffizier, vermutl. der Bereichs- oder Einsatzleiter, ungeschützt mit NEC-Vertreter Billy Stobbs, mit freundlicher Genehmigung von © Keith Pattison. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Abb. 12: The Northern Echo (Yorkshire Edition), 25. August 1984, Titelseite, mit freundlicher Genehmigung The Northern Echo. 187 Abb. 13: Am 7. Dezember 1987 stürmen Krupp-Arbeiter aus Rheinhausen und anderen Standorten von Krupp-Stahl die Vorstandsetage des Krupp-Stahl Gebäudes in Bochum, © Manfred Vollmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Abb. 14: Das »Millenium Window« von 1992 zeigt die Berufung des Heiligen Cuthbert, sein Wirken und die wundersame Über­f ührung nach Durham; für die Gegenwart stehen die Industrien Durhams und der versöhnliche Handschlag zwischen Bischof Jenkins und einem stilisierten Bergarbeiter, mit freundlicher Genehmigung von Joseph Nuttgens. . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Karten Karte 1: Die Montanregion Ruhrgebiet um 1987, mit einigen Stahlstandorten, © Klaus Kühner / huettenwerke.de . . . . . . . . . . . . . . 89 Karte 2: Die Montanregion Nordostengland um 1984, mit einigen wichtigen Zechenstandorten, © Klaus Kühner / huettenwerke.de 90 Karte 3: Unruhen und Krawalle in East Durham vom 23. bis 25. August 1984, © Klaus Kühner / huettenwerke.de . . . . . . . . . . . . . . 173

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Zeitungen und Zeitschriften Systematisch durchgesehen

The Northern Echo (Darlington)

Stichproben

Daily Mail Daily Mirror die tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau Labour Weekly Neue Ruhr Zeitung The Durham Miner / Striker The Times Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Ausgabe Duisburg) Die Zeit

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Landtag Nordrhein-Westfalen

Plenarprotokolle 10. Wahlperiode Drucksachen 10. Wahlperiode

Landesregierung Nordrhein-Westfalen

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Archivalische Quellen Archiv der sozialen Demokratie (Bonn) 5/IGMA

IG Metall Vorstand

Durham County Record Office D / Dor D / X 953 DC / A1/1 DC / A21 DC / EDRU

Dormand of Easington Family (1922–2002) Durham County Association of Trades Councils Durham County Council Minutes Police Committee Economic Development and Research Unit

Labour History Archive and Study Centre Manchester GB 0394 (MS84/MW) Martin Walker Papers

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Abteilung Rheinland, Standort Düsseldorf) BR 2229 Polizeipräsidium Duisburg NW 782 Waffen- und Vereinsrecht

Modern Records Centre at the University of Warwick (Coventry)

794/9/4 North Eastern Joint Board for the Electrical Contracting Industry, Minutes and Papers (1968–2000)

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North East England Mining Archive and Research Centre, NEEMARC (University of Sunderland)

NUMDA /1/3 National Union of Mineworkers, Durham Area, Executive Committee

Meetings

Northumberland Archives (Woodhorn)

NRO 5021/B9/31 Northumberland Miners’ Strike Record 1984–1985 (auch als NRO 07556/54/1 und NRO 3793/15 geführt) NRO 06980 Series of black and white photographs of NUM members and offici-

als parading down Woodhorn Road, Ashington, Northumberland after the 1972 Miners’ Strike.

Stadtarchiv Duisburg

B/63/45 Arbeitskampf Krupp Rheinhausen Zeitungsausschnittsammlung 8410 Krupp Streik I–III 1987/88 Z 62 »Jahrbuch linksrheinische Ortsteile« (teils jährlich wechselnde Titel)

Tyne and Wear Archives Newcastle

Gordon Adam Papers 1973–1993 TU / TC/2/4 North Tyneside Miners’ Support Group.

The National Archives (Kew)

COAL 26 National Coal Board and British Coal Corporation: Industrial Relations

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Register

Ortsregister Ortsangaben beziehen sich ausschließlich auf topographisch lokalisierbare Orte. Historische Raumkonzepte wie »Rheinisch-Westfälisches Industrierevier« finden sich im Sachregister. Ashington  37, 80 f., 90, 115 Asturien 32 Bates  115, 170 Belfast  62, 213 Berger Kirche  260 Berwick-upon-Tweed 275 Birmingham (auch Saltley Gates)  158, 231 Bishop Auckland  134 f. Bochum  16 f., 89, 149, 194, 196–199 Bonn  37, 124, 211, 247 Brenkley 235 Bristol 213 Brücke der Solidarität  16, 193–195, 206 f., 278 Burnhope 83 Burt Hall  153 Caroline House (Seaham)  224–226 Cortonwood  12, 14 Dame Dorothy Street (Sunderland)  176 Dawdon  92, 95, 99–101, 219 f., 224 Derbyshire  11, 169, 192 Derry 213, Doncaster 143 Dortmund  89, 207 Dreischeibenhaus 240 Duck Inn (Sunderland)  176, 189 Düsseldorf  17, 37, 194, 201, 204, 208 f., 210 f., 240–242, 246 f., 260 Düsseldorf-Flehe 240 Düsseldorf-Hamm 241

Easington  35, 90, 102, 109 f., 114, 121 f., 131, 134, 163, 172 f., 178–191, 197, 213 f., 217, 224 f., 256, 262, 271 f., 278 East Durham  139, 157, 172–174, 191 Ellington  76, 90, 143, 249 Fife 108 Finchley 11 Frankfurt  141, 204 f. Gateshead  62, 90, 102, 138, 168, 227, 234, 263 Genf 252 Glasgow 62 Hadston 233 Hagen (Westfalen)  89, 194 Hattingen  16, 25, 89, 124, 241, 260 f. Hawthorn  120, 158, 161 Herrington  46, 115, 158, 232 Hessen 124 Hetton-le-Hole 234 Hochfeld (Stadtteil von Duisburg)  16, 193 f., 206, 278 Horden  90, 115, 120, 172 f., 182, 261 f. Huckingen (Stadtteil von Duisburg)  16, 85, 89, 125, 149, 241, 244 Japan 69–71 Kettwig 67 Kew 37 Köln  204, 241 Krefeld  89, 208

302 Langbaurgh 70 Leeds  226, 252 Lindisfarne  256, 275 Liverpool 213 London  13, 15, 50, 61, 69, 102, 112, 143, 157, 182, 192, 213 f., 226, 248, 253, 271 f., 275, 279 Lynemouth  90, 157 Manchester  37, 225 Mannesmann-Haus 240 Maxhütte  17, 126, 241, 260 Meckenheim 204 Meiderich (Stadtteil von Duisburg)  89, 245 Midlands  11 f., 192, 252 Moers  16, 67, 89 Morpeth  90, 233 Mülheim an der Ruhr  67, 89 Murton  90, 158–163, 170, 172 f., 188–191, 235 Neuss  241, 279 North Shields  62, 154 Nottinghamshire  11 f., 91, 139, 142, 144, 158, 164, 169, 192 Oberhausen  16, 63, 89, 124, 241 Oberpfalz 124 Oldham 230 Orgreave 14 Oxford 37 Peterlee  62, 90, 162, 172 f., 181, 262 Philadelphia Workshops  135, 137 f., 157 f., 165 Polen 32 Redcar  90, 115 Redhills 153 Saarland 124

Register

Schottland (Scotland, Scottish)  12 f., 30, 93, 109, 118, 139, 144, 234 Seaham  90, 122, 173, 182, 188, 219, 224 Sheffield  158–165, 168–170, 189 f., 271 Side Gallery (Newcastle)  173 Siegen  17, 194 Sleekburn 53 South Shields  62, 90, 117, 250 Staffordshire  11, 192 Stockton  60, 90, 256 Südwales (South Wales)  13, 15, 144, 150, 154, 274 Sunderland  37, 46, 62, 69 f., 90, 135, 138, 159, 173, 175, 212, 250, 279 Tow Law  90, 135 f., 138 f., 157 f., 165, 173 Traveller’s Rest Pub (Murton)  189 Tyne and Wear  33, 37, 90, 154, 226, 228, 229 Tyneside  62, 228 Villa Horion  240 Villa Hügel  17, 89, 196, 198 f., 209, 237 Wanheim (Stadtteil von Duisburg)  200 Washington (Tyne and Wear)  69–71, 90, 173 Wattenscheid 67 Wearmouth  90, 102, 115, 120–122, 138, 158, 172 f., 175–181, 188–190, 213, 234, 249 f., 256 West-Durham  62, 84 Westminster  43, 53, 62, 70, 166, 228, 238, 277 Wheatsheaf Police Station (Sunderland) 176 Whittle 170 Woodhorn  37, 90 Württemberg 124 Yorkshire  11 f., 14, 33, 139, 158, 179 Yorkshire Main (Zeche)  143

Register

303

Personenregister Namen von Autorinnen und Autoren von Quellen und Literatur sind nur aufgeführt, sofern sie auch im Fließtext vorkommen. Bei einigen Personen konnten die Vornamen nicht ermittelt werden. Abbot, Elaine  235 Adam, Gordon  37, 155 f. Agartz, Viktor  56 Archibald, David  102–104, 114 f., 174, 181, 232 Atkinson, George L.  47, 104, 114 f., 120, 131, 261 Attlee, Clement  53, 182 Bangemann, Martin  150, 238 Barron, (Sir) Kevin  238, 274 Barron, Hester  30 Beckers, Wilfried  198, 203 Beda Venerabilis  256 Beith, (Sir) Alan  275 Beitz, Bertold  74, 125, 198, 237 Bellamy, Ken  226 Benn, Tony (zuvor: Viscount Stansgate)  145, 230 Benz-Overhage, Karin  130, 153, 207, 246 Beveridge, (Sir) William  220 Beynon, Huw  63, 154, 173, 184, 186 Bierbaum, Heinz  244 f. Bierwirth, Waltraud  25, 245 Blair, Tony  22 Blüm, Norbert  127 f., 209, 237, 265 Booth, Alan  37 Boothby, Eldred  167 f. Bösken, Fritz  154, 259 f., 265 Boyes, Roland  224 Bramfitt, Eric  250 Breit, Ernst  199 Brittan, Leon (Baron Brittan)  13, 142–145 Brown, Sheila  226, 229 Bruckschen, Manfred  127 f., 203, 210, 247 Callaghan, James (Jim) (Baron Callaghan)  73, 97

Callan, Tom  46 f., 93, 103, 131, 139, 151 f., 171, 176 Castle, Barbara (Baroness Castle)  96–98 Clogg, Jackie  83 f. Clogg, Robyn  83 f. Corbyn, Jeremy  230, 238, 267 Cowans, Harry  70 Critcher, Chas  35 Cromme, Gerhard  16, 124 f., 127, 130, 194, 198, 203, 208–210, 238, 242, 259, 265 Cummings, Alan  95, 114 f., 118, 131, 163 f., 180, 182, 224 Cummings, John  224 f. Cuthbert von Durham  251, 256–258 Daly, Lawrence  75–79 Davidson, Dalton  163 Dawdon, Jack  217–219 Dawson (NUM Mitglied Wearmouth Colliery) 177 Dehm, Dieter  243 Denzer, Karl Josef  209 Dickens, Charles  225 Dinning, Harry  176 Doering-Manteuffel, Anselm  10, 279 Donovan, Terence (Baron Donovan)  96, 98 Dormand, John Donkin (Jack) (Baron Dormand of Easington)  37, 217, 219, 224 Durham Miner Easington Colliery (anonymer Leserbriefschreiber)  110 Dyckerhoff, Klaus  240 Easington Mechanic (anonymer Leserbriefschreiber)  104, 169 f. Ebstein, Katja  243 Emsley, Clive  140

304 Eßer, Aletta  156 Etherington, Bill  47, 134–136 Ezra, Derek (Baron Ezra)  75–79 Fair’s Fair (anonymer Leserbrief­ schreiber) 229 Fallon, (Sir) Michael  68–70, 72, 117 f., 228 f. Fishman, Nina  276 Four Miners, Easington Colliery (anonyme Leserbriefschreiber)  108 Fowler, Norman (Baron Fowler)  231 Gamble, Andrew  140 Giddens, Anthony  29, 31 Graham, Jim  167, 227 Graham, Sheila  235 f. Grönemeyer, Herbert  17, 243 Günter, Roland  63 Günther, Otmar  125 Guy, David  92 Hall, Stuart  140 Hardie, Keir  54 Harris, José  140 Heath, (Sir) Edward (Ted)  73, 97, 254 Heathfield, Peter  101 Heinemann, Hermann  242 Henderson, George  84 f. Hind, David  134–136 Holt, Richard  70 Hopper, David (Dave)  122 f., 151 f., 163, 175–178 Howell, David  19 f. Howells, Kim  150, 154, 274 Hudson, Mark  261 f. Hughes, (William) Mark  231 Huntington, J. G.  229 Ippers, Georg  201, 244 Jablonowski, Harry W.  154 Jackson (councillor der Liberal Party)  166 James, Len  167 Jenkins, David Edward  249, 251–254, 256 f., 265, 272

Register

Jochimsen, Reimut  241 f. Jones, Chris  21 Joseph, (Sir) Keith (Baron Joseph)  97, 145–147, 222 Judith, Rudolf  153 Judt, Tony  9 Kaufman, (Sir) Gerald  145 Keegan, Kevin  68 Kelp, Dieter  16, 154, 156, 258 f., 265 Kinnock, Neil  22, 106 Knight, Jill (Baroness Knight)  231 f. Kohl, Helmut  211 Koller, Christian  140 König, Otto  25, 153 Koselleck, Reinhart  39, 59, 82, 269 Krings, Josef (Jupp)  195 Kriwet, Heinz  202, 208, 242, 260 f. Krupp von Bohlen und Halbach, Alfried 74 Krupp, Friedrich Alfred  16, 203, 210 Kühn, Heinz  65, 240 f. Kull, John  143 Laakmann, Helmut  79, 127, 129, 196, 203, 244, 247 f. Lamb, Anne  234 Lambsdorff, Otto Graf  200, 238 Lansbury, George  182 Lauschke, Karl  26 Lavery, Ian  275 Lavreau, Friedhelm  204 Lee, Peter  54 Leimkühler, Herbert  126 Liestmann, Wulf Dietrich  242 Lillburn, Anne  233 Löllgen, Klaus  203 Londonderry, Marquis von  182 Löw, Martina  31 Maase, Kaspar  25 MacDonald, Ramsay  182 MacGahey, Michael (Mick)  108 f. MacMillan, Harold (Earl of Stockton)  60 f., 254 Maitland, George  161–163 Marron, Gerry  162 f.

305

Register

May, Theresa  238 McFadden, Alec  152 McGregor, Ian  77, 79, 102 f., 114 f., 119, 143, 192, 252, 254 f., 272 McIlroy, John  276 Meacher, Michael Hugh  230, 238 Meyerwisch, Karl  208 Middlemas, Keith  275 Mikat, Paul  246 f. Miliband, Ed  267 Mitchell, Harold  101 Moore, Tony  166 f. Mooser, Josef  57, 220 Murphy, Dennis  171 Musgrove, S.  161 Nicholson, N.  151 f. North, John (fiktiver Name)  235 Novak, Tony  21 Parry, Thomas (Tom)  160 Pattison, Keith  135, 173, 183 Peace, David  135, 173 Peach, Malcolm  249 Petry, Heinz  240 Phillips, Jim  30, 234, 279 Pieper, Theodor  47, 200 f. Post, Günther  241 Powell, Enoch  222 Prior, James (Jim) (Baron Prior)  146 Raphael, Lutz  10, 279 Rau, Johannes  17, 63, 67, 129, 195, 199, 208–210, 240–243, 248 Robinson, Fred  218 Robinson, Kit  78 f. Scargill, Arthur  11 f., 14, 22, 110 f., 119, 143, 168 f., 229, 249, 254 f. Schartau, Harald  241 Schiller, Karl  128 Schmetterlinge, Die  85 Schmotz, Willi  207 Schneider, Nikolaus  154 Schneider, Wilhelm  198 Schnoor, Herbert  142, 201, 209, 214, 241 Schuhmacher, Ingrid  25

Schwerin, Alexander Graf von  148 Scott, Sammy  93, 193 Seed, Ken  176–179 Shaw, Frank  225 Shinwell, Emanuel (Manny)  182 Shotton, Joe (fiktiver Name)  221 f. Sidall, (Sir) Norman  77 Silver Oak (angeblicher Organisator der NUM-Gegner) 171 Slater, Richard  225 Smith, John  22 Smith, Ned  119 Smith, T. Dan (Thomas Daniel)  62 f. Snow, Peter  134 Sohn (Referatsleiter Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen)  242 f. Spiller, Kurt  241 Stamford-Bewlay, Philip  228 Starlinger, Peter  243 Steegmann, Theo  130, 195, 198 f., 202 f., 246–248 Steilmann, Klaus  67 Steinkühler, Franz  127, 153, 196, 201 f., 210 Stokoe, Joe  232 Suddick, Anne  234 Swann, Albert  235 Taylor, Ernie  91 f., 95, 131 Tebbit, Norman  44, 70, 118 Tenfelde, Klaus  37 Terrans, Mick  167, 228 Thatcher, Margaret (Baroness Thatcher)  9, 11, 14 f., 21, 23, 44, 68 f., 97 f., 106 f., 117 f., 132 f., 140, 144, 169, 192, 213 f., 222, 238, 252, 254 f., 276 Thoben, Christa  149 Thompson, E. P. (Edward Palmer)  30 Topping, Brian  152, 155 Toten Hosen, Die  17 Tschoeltsch, Hagen  149 Urban, Thomas  37 Vardy, Stephen  159 f. Verstappen, Günter  236 f. Vinen, Richard  9

306 Vondran, Ruprecht  261 Wader, Hannes  243 Waddington, David P.  35, 176 Waddington, P. A. J.  35, 142 Wade, Eric  249, 279 Walker, Harry  21, 219 f., 224 Walker, Peter (Baron Walker)  61, 118, 254, 261, 265

Register

Watson, Sam  63 f. Webb, Sidney (Baron Passfield)  182 Weisbrod, Bernd  140 Welskopp, Thomas  29, 31 Wiedemann, Erich  203 Wilkinson, Olive  181 Wilkinson, Paul  180 f., 184, 188 Wilson, Harold (Baron Wilson)  96 f. Wrigley, Chris  36 f.

Sachregister »AufRuhr-Festival«  17, 207 35-Stunden-Woche  124, 128, 207 Aktion Bürgerwille  66 Aktionsprogramm Ruhr  67 Altlasten-Technologie-Zentrum 245 Anerkennung, Anerkennungsdimension, -konflikt  23, 28, 30 f., 106, 110, 131, 135, 149, 179, 184, 188, 190, 206, 212 appeal tribunal  217–224, 234 Arbeiterklasse  57 f., 168, 276 Arbeiterschaft (auch: Industriearbeiterschaft)  20, 24, 56 f., 60, 70, 87, 219, 269 Arbeitnehmergeschichte 29 area director  46, 102–104, 114 f., 174, 181, 232 area industrial relations officer  47, 114, 120, 131, 261, 269 BACM  120 f., 134, 174 f., 214

Battle of Saltley Gates  158 bedrohte Ordnung  27, 34, 279 Bedrohungskommunikation  10, 86, 103, 106, 120, 278 Bedrohungswahrnehmung  196, 236 Bergarbeiterstreiks (von 1972 und 1974) 73–81, 86, 158, 161 Beschäftigungsgesellschaft  124, 129, 244 f., 249, 264 Beveridge-Report 220 Bewältigung (Bewältigungsmuster, -strategien, -handeln, -modi,

-versuche)  52, 59, 64, 72, 82, 86 f., 98, 214 f., 218, 236, 239 f., 247, 258, 261–264, 268–270 Big Meeting, s. Durham Miners’ Gala boot funds  219 Brenkley Miners’ Wives Support Group 235 Brückenbesetzung (auch: Brückenbesetzer)  193–195, 203 Bundeswirtschaftsminister 150 Bürgerkomittee  16, 125, 156, 258 Büro des Ministerpräsidenten  37 Centre for Policy Studies  38, 97, 133 Coal Not Dole  108 f., 111–113, 221 community (auch: Gemeinschaft, Gemeinschaftssinn, Dorfgemeinschaft, Solidar-, gemeinschaftlich)  19, 30, 83, 106, 108, 116, 132, 142, 170, 181, 186, 188 f., 192, 211, 224, 233, 252 f., 263, 271 community policing  142 COSA  157, 175–179 Dawdon Miners’ Support Group (-Advice Centre, -Welfare Centre)  219 decline (-Diagnose, -Narrativ, national decline, Niedergangserzählung)  23, 28, 45, 60, 67 f., 79, 96, 238, 277 Department of Health and Social Security (DHSS)  217, 219–221, 224–226, 228, 235 development area  43, 181

Register

development corporation  50, 60, 62, 69 Donovan Commission  96, 98 Dormand Papers  37, 217 Duisburger Hafen  17, 246 f. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung 24 Durham County Association of Trades Councils  43, 151 f. Durham County Council  37, 69, ­165–168, 226–230, 248 Durham County Record Office  37, 279 Durham Miners’ Gala  54, 151 f., 267 Düsseldorfer Vereinbarung  17, 246, 264 enemy within  107, 214 Entwicklungsprogramm Ruhr  64–66 Erinnerungsort  15 f., 25, 173 f., 182, 207 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)  75–78, 201 Europäisches Parlament  37, 155 f. Evangeliar von Lindisfarne  275 flying pickets  12, 91, 93, 158 Fortschritt (Fortschrittserwartung, -denken, -ideal, -versprechen, -optimismus; fortschrittlich, fortschrittsorientiert)  23, 40 f., 53, 58–61, 64, 67, 70–72, 77–79, 86–88, 215 f., 251, 262, 265, 268, 272 Fortschrittsskepsis (fortschrittskritisch)  83, 215 f., 253, 258 Frankfurter Vereinbarung  16, 80, 88, 124, 126 f., 131 Frauen im Miners’ Strike  186, 192, 233–236 free collective bargaining  50, 96, 104, 112, 276 Friedrich-Alfred-Krupp-Denkmal 16, 203 Fundamentalkonflikt  28–30, 36, 46, 73, 86, 123, 133, 196, 205, 268 f., 277 Gerechtigkeit, Gerechtigkeitsempfinden  38 f., 64, 176, 220, 240, 259, 263 Gewaltpraxis, -diskurse, -praktiken, -soziologie, auch: gewaltförmige Interaktion, gewaltförmiges Handeln 

307 34 f., 40, 135, 138, 141, 157 f., 192, 209, 271 Gewerkschaftsfahne (banner, lodge banner)  53 f., 203, 267 Handlungsroutine  10 f., 35 hardship fund  152, 227 Hoesch (Phoenix-Ost, Phoenix-West, Westfalenhütte)  89, 207 industrial relations department  119 Industriekultur  32, 40, 87, 267 f. Innenminister Nordrhein-Westfalen  37, 142, 241 Instandhaltung, s. maintenance Institut für Marxistische Studien und Forschung 24 Internationale Bauausstellung Emscher-Park 245 Jarrow Crusade  256 Joint Consultative Committee as to Regional Planning  61 Joint Industry Board for the Electrical Contracting Industry  71 Klassenbewusstsein, -gesellschaft, -kampf, -konflikt; klassenpoliti‑ sch(e Deutung), – Narrativ, – Rhetorik  20 f., 23, 29, 40, 56, 57 f., 99, 132, 193, 270 Kohlekrise  65, 74 Kommunalverband Ruhrgebiet  66 Konfliktpartnerschaft  18, 133, 184 Konfliktpraxis, -praktiken, -soziologie, -typologie  11, 28–30, 35, 93, 105, 131, 153, 156, 183, 213, 248 Kooperationsmodell 244 Kultur des kleinen Mannes  220, 259, 262 Kulturgeschichte (des Politischen)  10, 27 f. Lebenswelt, lebensweltlich  30 f., 40, 87, 113–115, 123, 132, 162, 186–191, 213, 220 Legitimität, Legitimitätsempfinden, -glaube, -konflikt  10 f., 27, 30 f., 58,

308 64–66, 72, 82, 105, 107, 123, 136–138, 156, 165, 176, 183, 189, 195, 202, 211, 226, 268, 271 lodge banner, s. Gewerkschaftsfahne Logport 247 Lohn (auch: Lohnforderung, -politik, -struktur, -fortzahlung, -zurückhaltung, -sanktionen, Löhne, Stundenlöhne, Entlohnung, lohnabhängig)  44, 56, 71–73, 75, 79, 86, 95–97, 107, 114, 218 f., 236 maintenance (auch: Instandhaltung)  108–110, 138, 171 managed decline, s. Rückbau Mannesmann  16, 85, 125, 129, 149, 240–247 Menage 194 Metropole Ruhr  215, 239 Mikat-Kommission  246 f. Millenium Window  256–258, 265 Miner’s Gala, s. Durham Miner’s Gala Montanmitbestimmung (auch: Mitbestimmungsgesetz, -kultur, -klüngel)  39, 50–52, 56 f., 65, 72, 80, 128, 195 f., 207, 211 moral economy (moral economy of provision, moralische Ökonomie, moralisch, sozial-moralisch)  27, 30 f., 39 f., 65, 79, 92, 102, 105, 107, 125, 128, 131 f., 136, 146, 153, 169, 188, 190–196, 200, 202–205, 210 f., 220 f., 227–231, 239 f., 250, 254, 258, 260–263, 268, 270 f. Murton Mechanics  158, 189, 190 mutualism 219 NACODS  120 f., 174, 183, 214

National Power Loading Agreement  73 nationalisation, s. Verstaatlichung Neue Soziale Bewegungen (auch: New Kind of Politics)  18, 20, 24, 85, 107, 113, 150, 152–154, 199 Neue Soziale Frage  148 New Kind of Politics, s. Neue Soziale Bewegungen New Labour / New Realists  19, 22 f., 97

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New Left (auch: New Left Review)  19, 24, 30, 78, 150 f., 173, 223, New Town (New Town Development Corporation)  50, 62, 69, 181 Nissan 69–72 North Eastern Electricity Board  234 North Tyneside Miners’ Support Group  37, 152, 154–156 Northern Venture Agency  68 f., 72 one-nation-toryism  60, 254, 265, 269 opencast, s. Tagebau overtime ban  12 paramilitary policing  35, 140 Plan for Coal  73, 80, 82, 88, 108, 131, 133 Praxeologie (historische), Praxisgeschichte 29–31 Privatisierung  12, 15, 117 f., 133, 238, 274 Produktivitätsdenken (auch: produktivitätsorientiert, productivity)  44, 71, 76, 86, 105, 108, 113–115, 123, 132, 215, 259, 270 Proletarität  57 f., 80, 116, 220 Protestkultur  86, 153 push and shove  135–137 Qualifizierungszentrum 247 Rationalisierung  41, 49, 56, 59, 73, 78, 86, 105, 110, 125 f., 253, 261, 268 Recyclingzentrum 247 redevelopment  28, 61, 87 f., 254, 269 Reformstau 239 regional assembly  277 Regional Development Agency  43 Regional Industrial Executive  43 f., 72 Regionalbewusstsein  32, 39 f., 46, 61–65, 68, 87, 214–216, 232, 251, 253, 255–258, 263–265, 269, 272 return to work (auch: »return-to-workInitiative«)  171–193, 248 Rheinisch-Westfälisches Industrie­ revier 59 right to work  112, 169, 271

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riot police  135, 172, 183 f., 186, 213 f. Routinekonflikt  29, 36, 46, 73, 80, 86, 123, 196, 205, 210, 268 Rückbau (auch: managed decline)  62, 74, 79, 82, 86, 103, 239 Ruhrkohle AG  74, 86 rules and practices (auch: rules and procedures)  104, 131, 172, 178, 183, 192, 202 Schicht (auch: Schichten, Schichtpläne, -zeiten, – beginn, -betrieb, Frühschicht)  12, 16, 112, 126, 175 f., 194, 236 SEAM (Save Easington Area Mines)  224 Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk  49 f., 59, 66 Sozialethik, Sozialethiker (evangelisch)  148, 259, 265 Sozialhilfe (-empfänger, -gesetz, -niveau, -zahlung)  108, 218–239, 263, 272 Soziallehre (katholisch, christlich)  148, 259 f. sozial-moralisch, s. moral economy Sozialplan  17, 39, 86, 246, 264 Spiritualität (spirituell, engl. spirit)  40, 186, 251, 253, 256–258, 161, 265, 275 Stahlaktionstag  205, 16, 157, 198 f., 205–207 Stahlkrise  9, 74 f., 125–128, 133 Stellvertreterprinzip (-politik, -rolle, -system)  126, 162, 168, 170, 203, 226, 244, 259 stille Besetzung  18, 195 Tagebau (auch: opencast)  83–85, 90, 134–139, 157 f., 263 Tarif (Tarifautonomie, -verhandlungen, -system, -konflikt, -vertragsgesetz,

-wesen, »Tarifismus«)  12, 18, 26, 96, 128, 201 f., 208 Thyssen  124, 149, 208, 240–242, 245, 260 Trades Union Congress (T. U. C.)  43, 72, 94, 97, 153 f., 158 Tyne and Wear County Council  69, 87, 226–229 Ungerechtigkeit (Ungerechtigkeitsempfinden, -erfahrung)  30, 40, 153 Vergesellschaftung der Stahlindustrie  243 Verstaatlichung (auch: nationalisation)  50 f., 53, 58, 72, 75, 105, 115, 124, 182 f., 267, 274 vesting day  267 Voluntarismus 276 Vorwärtspanik 197 Walzwerk  17, 80, 125 f., 194, 207, 258 f., 265, 272 Wartung  12, 51, 110, 120, 174 Wearmouth Women’s Support Group 234 Westoe Colliery Campaign Group  249 winter of discontent  97 Wirtschaftsminister Nordrhein-Westfalen  17, 241 Women Against Pit Closures  233 worker-owned 117 workers’ control  117 working class, s. Arbeiterklasse working men’s club  36, 189, 191 working miners  13, 15, 98, 107, 122, 179, 231 Zukunftsinitiative Montanregionen  243, 245–247