Der unversöhnte Marx : die Welt in Aufruhr 9783957431202, 3957431204

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Der unversöhnte Marx : die Welt in Aufruhr
 9783957431202, 3957431204

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Quante · Der unversöhnte Marx

Michael Quante

Der unversöhnte Marx Die Welt in Aufruhr

mentis MÜNSTER

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Münster (www.satzundsonders.de) ISBN 978-3-95743-120-2 (Print) ISBN 978-3-95743-765-5 (E-Book)

Für Kurt Bayertz

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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TEIL I EINFÜHRUNG Die Philosophie von Karl Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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TEIL II KRITISCHE INTERVENTIONEN Ein Reiseführer durch Das Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karl Marx: ein Theoretiker der Gerechtigkeit? . . . . . . . .

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Zur Kenntlichkeit verzerrt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die gesellschaftliche Aktualität von Marx: ein Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Zeit der Nachgeborenen 25 Jahre nach Brechts Tod

»Dabei wissen wir doch« hast Du gesagt »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit Verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser. Ach, wir Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selber nicht freundlich sein« Das hast du gesagt zu den Nachgeborenen. Nun schweigst du. Und der Zorn über das Unrecht macht die Stimmen einiger immer noch heiser. Die meisten aber sind heute nicht einmal zornig sondern haben sich gewöhnt an das alte und neue Unrecht hier, da und dort, und auch an das strenge Recht das die Ungerechten einander sprechen Und die, denen der Haß gegen die Niedrigkeit die Züge verzerrt hat, sitzen dort und da hinter Mauern daß keiner sie sehen kann, denn die Niedrigkeit hat in vielerlei Ländern als Obrigkeit Hoheitsrechte und die Unteren ducken sich oder sind so enttäuscht von fehlgeschlagenen Versuchen, sich zu befreien daß sie vielleicht keine Kraft mehr haben zu hassen Und manche halten das für Freundlichkeit

»Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten« hast du gesagt. Die Zeiten sind anders geworden, aber im ganzen sind sie nicht heller geworden seit deinen Versen und die Gefahr ist größer als damals denn nur die Waffen und nicht die von ihnen geführten Menschen sind stärker geworden und es stimmt auch noch, was du von ihnen gesagt hast: »Nachzudenken, woher sie kommen und Wohin sie gehen, sind sie An den schönen Abenden Zu erschöpft.« Und weil das alles noch stimmt, können dich heute die Nachgeborenen leicht verstehen, ja, besser als dir lieb wäre, obwohl doch gerade du gerne verständlich warst, aber ich glaube du hast vielleicht bis zuletzt gehofft, daß sich vieles verändern wird, so daß der Mensch einer neuen Zeit dich nicht verstehen kann, ohne die alte Zeit zu studieren Aber weil man dich noch versteht können einige von dir lernen wie man die Hoffnung am Leben erhält und gleich dir mit List und Geduld und Empörung weiter den Boden bereitet für Freundlichkeit daß der Mensch dem Menschen ein Helfer sei

Erich Fried

[Erich Fried, Das Nahe suchen © Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1982]

Vorwort

Die Welt ist in Aufruhr. Religionskonflikte, Kämpfe um Ressourcen, Kriege oder durch klimatische Veränderungen verursachte Naturkatastrophen und mit ihnen einhergehende Hungersnöte vertreiben die Menschen aus ihren Heimatländern. Die Flüchtlingsströme haben längst Europa erreicht und die bisher in die Dritte Welt ausgelagerten Probleme ins Herz der alten Welt sowie in das Bewusstsein auch der bürgerlichen Parteien getragen. Der internationale Finanzsektor ist nach wie vor Schauplatz eines politisch unkontrollierten Neoliberalismus. Die dadurch verursachte Krise des Weltfinanzmarktes hat mittlerweile einige Länder Südeuropas zu Entwicklungsländern innerhalb der Europäischen Union werden lassen. Nicht nur der Weltmarkt ist endgültig globalisiert; auch die mit dem Kapitalismus einhergehenden Krisen lassen sich nicht mehr länger in Entwicklungsländer abschieben. Der Angriff auf das im Sozialstaat erreichte Maß an institutionell abgesicherter Humanität und Solidarität ist in nahezu allen westlichen Ländern in vollem Gange. Begleitet wird dieser von einer individuellen Gesinnung des »Geiz-ist-geil!« und privaten Erwartungen an Zinsgewinne, die dem Drehen der neoliberalen Abwärtsspirale weitere Energie zuführen. Die Ideologie der Sachzwänge, von Marx in ihrer internen Logik entschlüsselt, beherrscht dabei das herrschende Denken – das der Herrschenden wie der Beherrschten gleichermaßen. Sie ist das Mantra der Wohlhabenden, die teilweise den krisengeschüttelten Menschen die reaktionären Rezepte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts noch einmal als Lösungen verkaufen wollen. Fremdenfeindliche und revanchistische Denkfiguren oder Handlungsmuster anstelle von kritischem Bewusstsein, Bildung und Solidarität haben längst die Deutungshoheit weit über den sprichwörtlichen Dunstkreis der Stammtische gewonnen. Auf die Krisen und die mit der Globalisierung auf allen Ebenen einhergehenden Herausforderungen reagieren die Bevölkerungen der westlichen

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Vorwort

Welt gegenwärtig in erschreckendem Ausmaß mit Nationalismus, Ausgrenzung und politisch reaktionären Strategien, die nur Verdrängungen, aber keine Lösungen darstellen. Der Kapitalismus zeigt derzeit an vielen Orten der Welt in vielfältigen Formen ungeschminkt sein hässliches Gesicht. Ohne philosophische und politische Aufklärung werden die Menschen sich immer stärker nach alten Zeiten und überschaubaren Verhältnissen sehnen; sie werden dabei vermutlich wieder einmal jenen hinterherlaufen, deren Denken kurz und deren Rezepte vergangenheitszugewandt sind. Längst vertrieben geglaubte Dämonen drängen mit Macht auf die Bühnen der westlichen Welt zurück. Angesichts dieser Herausforderungen, die den historisch nicht ganz Uninformierten in fataler Weise an die 20er und beginnenden 30er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnern, erscheint das Denken von Karl Marx aktueller denn je. Selbst liberale oder konservative Gazetten sahen vor einem Jahrzehnt angesichts der Bankenkrise die Zeit dafür gekommen, sich wieder mit der Marxschen Kritik des Kapitalismus auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund wird dem vorliegenden Band, der den mit dem Kapitalismus und damit auch mit unserer Gegenwart unversöhnten Marx präsentiert, vielleicht eine gewisse Berechtigung zuerkannt werden. Unbestreitbar enthält die von Karl Marx vorgelegte Kritik der politischen Ökonomie, die in seinem Hauptwerk Das Kapital vor 150 Jahren erstmals in Teilen veröffentlicht wurde, eine Analyse der Phänomene, welche uns heute in Atem halten und zutiefst beunruhigen. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass er selbst in seiner politischen und wissenschaftlichen Arbeit immer, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, an die finale Krise des Kapitalismus geglaubt und auf die nächste Krise gewartet hat. Dennoch wäre ein so aktualisierender Zugriff auf das Werk von Karl Marx, dessen Geburtstag sich am 5. Mai 2018 zum 200. Mal jährt, verkürzend. Es brächte die Leser sogar um die eigentliche Aktualität seines Denkens. Karl Marx ist ein Klassiker, nicht, weil er tagesaktuell ist, sondern weil seine theoretische Durchdringung der damaligen sozialen Welt Strukturen expliziert, die in ihrer Tiefendimension bis heute die gesellschaftliche Entwicklung maßgeblich prägen. Er

Vorwort

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ist ein Klassiker, weil seine Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaftsordnung von philosophischen Konzeptionen getragen wird, die in unserer heutigen Situation weiterhin problemerschließendes Potential und kritische Kraft haben. Der sozialen Grammatik der kapitalistischen Lebensform stand Karl Marx unversöhnlich gegenüber; sein Denken steht daher auch unserer Wirklichkeit unversöhnt und kritisch gegenüber. Die Einführung in sein philosophisches Denken, welche die erste Hälfte des vorliegenden Buches bildet, soll einen Einstieg in die komplexe und vielschichtige Marxsche Theorie ermöglichen. Sein Denken lässt sich weder als bloßer Bestandteil eines archivierten Kanons in der Ideengeschichte stillstellen. Noch sollte es zugunsten oberflächlicher Aktualisierungen mit einer kurzen Halbwertzeit versehen und so um seine kritischen Dauerpotentiale gebracht werden. Die vier kritischen Interventionen, die den zweiten Teil des Bandes bilden, sind als essayistische Punktbohrungen und Spurensuchen gedacht. Sie zielen nicht auf eine umfassende Interpretation des Marxschen Denkens oder auf einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion desselben. Vielmehr sollen – gleichsam schlaglichtartig – Denkmotive, Grundannahmen und Einsichten identifiziert werden, die dem heutigen Leser eine reflektierte und damit kritische Distanz zur eigenen Lebenswirklichkeit ermöglichen können. Die Kritik der politischen Ökonomie braucht, das hat Marx in seiner eigenen Biografie erfahren, einen langen Atem. Gleiches gilt für das politische Engagement in unserer komplexen und zunehmend unübersichtlicher gewordenen Wirklichkeit. An der Forderung von Karl Marx, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, sollten wir dabei unbeirrt festhalten. Für Korrektur- und Verbesserungsvorschläge danke ich Barbara Gotzes, Lea Kipper, Amir Mohseni und Lisa Schmidt. Münster, im September 2017

Michael Quante

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Vorwort

Zur Zitierweise Die Texte von Karl Marx werden in Klammern direkt im Text zitiert. Soweit dies möglich ist, verwende ich die Ausgabe Marx, Karl & Engels, Friedrich: Werke. Dietz: Berlin 1956–1990 als MEW Band, Seitenzahl, also z. B. (MEW 3, 5). In allen anderen Fällen zitiere ich nach der Kritischen Ausgabe Marx, Karl & Engels, Friedrich: Gesamtausgabe (MEGA). Dietz und Akademie: Berlin 1992 ff. als MEGA 〈Abteilung〉.〈Band〉, 〈Seitenzahl〉, also z. B. (MEGA II.4.2, 305).

TEIL I EINFÜHRUNG

Wir können also die Tendenz unseres Blattes in Ein Wort fassen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Karl Marx

Die Philosophie von Karl Marx

Gestohlen wird vom Marxismus genug, weil er die Wirklichkeit ist und weil nicht einmal der Betrug, soweit er in der Wirklichkeit geschieht, ohne ihn auskommt. Ernst Bloch

In dieser Einleitung möchte ich die philosophischen Grundlagen des Marxschen Denkens in knapper Form vorstellen. Nach einer kurzen biografischen Auskunft (I.) werden die Grundbegriffe und zentralen Thesen seiner Philosophie dargestellt (II.). Dabei ordne ich seine Überlegungen, die Marx in den frühen Schriften entfaltet hat, in ihren zeitgenössischen Diskussionskontext ein. Dieser vornehmlich dem Hegelschen Denken und der Hegelschule entspringende Hintergrund hat die Philosophie von Karl Marx nachhaltig, bis in seine späten Arbeiten hinein, geprägt. In meiner Darstellung lege ich einen besonderen Schwerpunkt auf die ethischen Aspekte seiner Philosophie: sie wird im Folgenden als eine Theorie der menschlichen Anerkennung, die in den sogenannten Mill-Exzerpten von Marx zu finden ist, expliziert. Anschließend wird die von Karl Marx gemeinsam mit Friedrich Engels skizzierte materialistische Geschichtsphilosophie als Entfaltung dieser philosophischen Anthropologie dargestellt. Diese Konzeption, in der Rezeptionsgeschichte des Marxismus zumeist »historischer Materialismus« genannt, wird von den beiden Autoren in einem damals unveröffentlicht gebliebenen Text entworfen, der 1932 erstmals unter dem von den Editoren stammenden Titel Die Deutsche Ideologie erschienen ist. Auf dieser Grundlage werden dann die zentralen Bestandteile des Marxschen Programms einer Kritik der politischen Ökonomie, die Marx im Kapital vorgelegt hat, präsentiert. Zum Schluss folgen noch einige knappe Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte des Denkens von Karl Marx (III.).

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Die Philosophie von Karl Marx

Meiner Darstellung liegen zwei Annahmen zugrunde: Erstens gehe ich davon aus, dass sich der Kern des Marxschen Denkens als Philosophie rekonstruieren lässt (die Philosophiethese). Dies ist aus zwei Gründen nicht selbstverständlich: Zum einen hat Marx selbst sein eigenes Theorieprogramm als Abkehr von der Philosophie verstanden. Zum anderen ist seine Theorie im Laufe der Rezeption von vielen Einzelwissenschaften für sich reklamiert worden: Marx wurde und wird so beispielsweise als Ökonom oder auch als Soziologe gelesen. Zweitens unterstelle ich, dass es im Denken von Marx, obwohl es über die Jahrzehnte zahlreiche Wendungen und Veränderungen durchläuft, auf der fundamentalen begrifflichen Ebene eine Kontinuität zentraler philosophischer Thesen und Denkmotive gibt (die Kontinuitätsthese). Auch dies ist keineswegs selbstverständlich: Zum einen haben Karl Marx (und auch Friedrich Engels) in ihren eigenen rückblickenden Selbstdarstellungen die Diskontinuitäten in ihrem Denken wesentlich stärker betont als die Kontinuitäten. Darauf gestützt haben zum anderen einflussreiche Interpreten wie beispielsweise Louis Althusser wirkmächtig die These von einem Bruch im Marxschen Denken vertreten. Dieser liege zwischen den philosophischen Schriften des jungen und den ökonomietheoretischen Schriften des reifen Marx. Beide Annahmen, die Philosophie- und die Kontinuitätsthese, verwende ich als Prämissen meiner Darstellung. Sie werden zugleich durch die folgenden Ausführungen wiederum gerechtfertigt, weil und indem sie es erlauben, das Marxsche Denken verständlich zu machen. Im Zentrum meiner Einleitung steht dabei der Versuch, die Marxsche Philosophie als eine kritische philosophische Anthropologie zu rekonstruieren, die in der Tradition der Hegelschen Philosophie steht und mit dem Prinzip der menschlichen Anerkennung ein leistungsstarkes evaluatives Prinzip von gegenwärtig systematischer Relevanz enthält. Die Aktualität seiner Philosophie wird anschließend in den Kritischen Interventionen, die im zweiten Teil dieses Buches zu finden sind, schlaglichtartig aufgezeigt.

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I.

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Biografie

Karl Marx wird am 5. Mai 1818 in Trier als Sohn jüdischer Eltern, die zum protestantischen Christentum konvertieren, geboren. Nach dem Besuch des Trierer Gymnasiums geht Marx an die Universität Bonn, um Rechtswissenschaft zu studieren. Nach zwei Semestern wechselt er, inzwischen heimlich mit Jenny von Westphalen verlobt, nach Berlin. Dort kommt er, ab dem Wintersemester 1836 seine Studien intensivierend, bald in Kontakt mit den Junghegelianern, wodurch sich die ohnehin bei Marx vorhandenen Interessen an der Philosophie verstärken und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk Hegels beginnt. Die Freundschaft mit dem Theologen und Philosophen Bruno Bauer prägt Marx in philosophischer und politischer Hinsicht. Er gehört schnell zum engeren Kreis der Junghegelianer, die in Hegels Philosophie die Aufhebung der Theologie philosophisch vorgeprägt sehen. Sie setzen sich entschieden dafür ein, die politischen Verhältnisse im Sinne einer Demokratisierung und Säkularisierung politischer Legitimation zu verändern. Als Bruno Bauer im Mai 1842 mit Berufsverbot belegt wird, ist auch für Marx eine akademische Karriere unter den gegebenen repressiven und restaurativen Bedingungen unmöglich geworden. Da nach dem Tode des liberalen Hegelschülers Eduard Gans im Jahre 1839 der konservative Staatsrechtler Friedrich Julius Stahl als dessen Nachfolger berufen wird, ist auch der Weg zur Promotion in Berlin verbaut. Marx reicht seine Dissertation über die »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie« bei der Universität Jena ein, wo er 1841 in Abwesenheit promoviert wird. Von April 1842 bis März 1843 arbeitet Karl Marx als Chefredakteur der Rheinischen Zeitung, einem liberalen Oppositionsblatt. Zeitgleich schreibt er auf Anregung von Arnold Ruge Beiträge für dessen Deutsche Jahrbücher. Damit beginnt nicht nur eine Tätigkeit als Journalist, die Marx sein weiteres Leben lang beibehält, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Diese Zeit ist auch geprägt von Auseinandersetzungen mit der reaktionären preußischen Politik, vom Kampf gegen Zensur und für Meinungsfreiheit sowie von einer zunehmenden politischen Radikalisierung. Nach dem Verbot der

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Rheinischen Zeitung am 1. April 1843 verlässt Marx, nachdem er in Bad Kreuznach Jenny von Westphalen geheiratet hat, Deutschland und geht nach Frankreich, wo er bis Februar 1845 bleibt. Dieser Ortswechsel nach Paris ist angeregt von Arnold Ruge, der ihm anbietet, die Deutsch-Französischen Jahrbücher mit ihm gemeinsam herauszugeben. Dieses Projekt, in dem einige der berühmtesten Texte von Marx erschienen sind, bringt es aufgrund vielfältiger Schwierigkeiten jedoch lediglich auf ein Doppelheft. In diesen Pariser Jahren vollzieht sich die Hinwendung von Marx zu sozialistischen Ideen, die begleitet sind von einem Studium historischer, ökonomischer und sozialistischer Literatur, welches Marx von jetzt an bis zu seinem Tode mit großer Intensität weiterführt und später um den Bereich naturwissenschaftlicher Forschungen erweitert. Außerdem beginnt nun die tiefe Freundschaft und intensive Arbeitsbeziehung mit Friedrich Engels, die für das weitere Leben von Marx entscheidend war. Insbesondere die Lektüre der von Engels bereits 1844 verfassten Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, ebenfalls in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern erschienen, ist für Marx intellektuell prägend gewesen. Auf Betreiben der preußischen Regierung wird Marx aus Frankreich ausgewiesen und lebt deshalb bis März 1848 in Brüssel. Als er auch dort vertrieben wird, ermöglicht ihm die Einladung von Ferdinand Floron, einem Mitglied der derzeitigen provisorischen französischen Regierung, die Wiedereinreise nach Frankreich. Von dort kehrt Marx, getragen von Hoffnungen auf revolutionäre Umwälzungen, die er in den damaligen Demokratisierungsprozessen erblickte, nach Deutschland zurück. Ab April bemüht sich Marx, mit der Neuen Rheinischen Zeitung ein oppositionelles Organ aufzubauen, mit dem er die revolutionären Prozesse unterstützen will. In die Jahre seines ersten Exils fällt die endgültige Hinwendung von Marx zu sozialistischen und kommunistischen Bünden oder Parteien, die er von jetzt an mit großer Aufmerksamkeit und unterschiedlich intensivem politischem Engagement begleitet. So ist Marx von 1847 bis 1852 im Bund der Kommunisten aktiv, für den er gemeinsam mit Engels das Manifest der Kommunistischen Partei verfasst, welches 1848 erscheint, auf die damaligen revolutionären Prozesse in Europa aber kaum Einfluss genommen hat. Es folgt

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sein Engagement in der Internationalen Arbeiter-Assoziation und, ab den 70er Jahren, eine theoretische Auseinandersetzung mit den in Deutschland entstehenden Arbeiterparteien. Marx versucht bis zum Ende seines Lebens, der Arbeiterbewegung mit seinem Werk eine theoretische Grundlage bereit zu stellen; und er nimmt in verschiedenen Formen auf die Parteispitze Einfluss, um die Vereinigung von Anhängern Lassalles und Marxisten in der SPD inhaltlich zu gestalten. Bis zu seinem Lebensende wird Marx, auch nach der Erlassung des Ausnahmegesetzes gegen die SPD im Jahre 1878, über Kontakte mit der Parteispitze versuchen, seine philosophischen Thesen in der Sozialdemokratie wirksam werden zu lassen. Die Schriften und Studien von Marx, die im direkten Kontext seiner parteipolitischen Arbeit stehen, zeichnen sich durch die internationale Perspektive aus, in der Marx die sozialen Bewegungen in Europa und Deutschland stets sieht. Außerdem bleibt in ihnen immer die Erwartung auf revolutionäre Umwälzungen spürbar: zu Beginn hofft Marx durch die Revolutionen von 1848/49 auf baldige Veränderungen, später sind seine Überlegungen realistischer, aber niemals resignativ, von der Einsicht getragen, dass die radikale Veränderung der Gesellschaft durch Aufhebung des Kapitalismus sich in absehbarer Zeit nicht ereignen wird. Die großen Hoffnungen auf die Revolution der Jahre 1848/49, die Marx gehegt hat, erfüllen sich nicht. Wieder politischen Verfolgungen ausgesetzt, emigriert er mit seiner Familie im darauffolgenden Jahr erst nach Paris, um dann nach London überzusiedeln, wo er bis zu seinem Tode am 14.3. 1883 lebt. Vor allem die Londoner Jahre sind, neben vielem familiärem Leid, verursacht durch den frühzeitigen Tod einiger Kinder, durch materielle Not, die häufig nur durch die finanzielle Unterstützung von Friedrich Engels gemildert werden kann, geprägt. Sie sind aber auch Jahrzehnte intensivsten Studiums und umfassender Textproduktion, die Marx mit dem Ziel durchführt, eine umfassende materialistische Gesellschafts- und Geschichtskonzeption zu entwickeln, die seine Kritik der politischen Ökonomie und seine politische Kritik an der kapitalistischen Lebensform theoretisch untermauert.

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II. Philosophie Im zweiten Teil dieser Einleitung werden fünf zentrale Aspekte der Philosophie von Karl Marx dargestellt: die hegelianischen Hintergründe seines Denkens, seine Konzeption einer philosophischen Anthropologie, seine Konzeption menschlicher Anerkennung, die materialistische Geschichtsphilosophie und seine Kritik der politischen Ökonomie. Hegelianische Hintergründe In den ersten Jahren nach Hegels Tod gab es eine geschlossene Front seiner Schüler. Sie alle waren, wie Eduard Gans es in einem Nachruf auf Hegel formuliert hatte, der Meinung, der Kreislauf der Philosophie habe sich vollendet. Konsequenterweise sahen sie die einzige Aufgabe nach Hegel nur noch darin, diejenigen Teile des Systems auszuarbeiten, die er selbst nicht erschöpfend behandelt hatte. Doch schon bald brachen innerhalb der Hegelschule Flügelkämpfe aus, die sich in erster Linie an der Interpretation des Verhältnisses von Religion und Philosophie in Hegels System entzündeten. Einerseits sah es so aus, als ließe sich die Religion vollständig in die Philosophie aufheben und als bestünde das Wissen Gottes von sich selbst in nichts anderem als einer bestimmten Art des menschlichen Selbstbewusstseins. Andererseits schien Hegel, obwohl er den Staat nicht der Kirche untergeordnet wissen wollte, von der Verträglichkeit von Religion und Philosophie auszugehen. An manchen Stellen schien er sogar zu behaupten, man könnte ohne Religion und konfessionelles Bekenntnis kein guter Staatsbürger sein. Schon 1830 publizierte Ludwig Feuerbach anonym eine Schrift mit dem Titel Gedanken über Tod und Unsterblichkeit. Darin verneinte er die von Hegels Philosophie aufgeworfene Frage, ob man die Vorstellung einer individuellen unsterblichen Seele philosophisch als sinnvoll erweisen könne. Hegels Philosophie wurde damit als unvereinbar mit zentralen Lehren des Christentums ausgelegt. Verschärft wurden die Auseinandersetzungen um Hegels Religionsphilosophie durch das 1835 erschienene Buch Das Le-

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ben Jesu. Darin begründete David Friedrich Strauß die Position, dass die Evangelien literarische Produkte und Ausschmückungen der Heilserwartungen der frühchristlichen Urgemeinde, also bloße Produkte eines Kollektivbewusstseins waren. Das göttliche Bewusstsein konnte sich demzufolge nicht in einem einzelnen empirischen Subjekt manifestieren, sondern nur in der gesamten Gemeinschaft und letztlich in der Menschheit als solcher. Damit war eine Position formuliert, die mit der orthodoxen Auffassung von Jesus als Gottes Sohn unvereinbar ist. Zugleich stellte Strauß hiermit eine Denkfigur zur Verfügung, die über Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach in die Marxsche Vorstellung des Proletariats als dem Subjekt des zu sich selbst kommenden Freiheitsbewusstseins der menschlichen Gattung einfloss. Das Buch von Strauß wirkte auf die bis dahin schwelenden Streitigkeiten um Hegels Verhältnis zur Religion innerhalb der Hegelschule wie ein Brandbeschleuniger. Der an der Oberfläche rein religionsphilosophische Diskurs wies zugleich eine politische Dimension auf. So zielte die Destruktion der christlichen Lehren direkt auf die politische Legitimation eines Kaisertums ›von Gottes Gnaden‹. Die Frage nach der Persönlichkeit Gottes und der christlichen Konzeption der Person war indirekt aber auch auf die Struktur der sich immer mehr entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft gerichtet. Vor allem Feuerbachs und Bauers Analysen versuchten zu zeigen, dass die christliche Vorstellung einer individuellen Persönlichkeit nichts anderes als der ideologische Ausdruck einer egoistischen und die sozialen Bande des Menschen ignorierenden Lebensform ist. Auch diese Denkfigur sollte in der Folge für die Marxsche Anthropologie entscheidend werden. August von Cieszkowskis 1838 erschienene Schrift Prolegomena zur Historiosophie ist Ausdruck des unter den Hegelianern immer deutlicher werdenden Bewusstseins, dass historischer Fortschritt und politischer Wandel nicht durch philosophische Analyse und Aufklärung allein, sondern nur durch eine Art von gesellschaftlicher Praxis zu erwarten ist. Hegel hatte die prognostische Kraft seiner Philosophie stets als gering bewertet. Cieszkowski sah dagegen die Aufgabe der Philosophie gerade in dieser Zukunftsorientierung und dem Anspruch der praktischen Einmischung. Er

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forderte eine »Philosophie der Tat«. Die Unzulänglichkeiten der Hegelschen Philosophie waren für ihn Ausdruck der Defizite der bestehenden historischen Entwicklung; ein Gedanke, der für die Marxsche Auffassung von Philosophie und sein Verständnis der Hegelschen Dialektik durchschlagend wurde. Diese Philosophie der Tat sollte aber, so Cieszkowski, nur die Grundzüge der zukünftigen Entwicklung bestimmen können, nicht die Details. Bruno Bauer entwickelte die These der Geschichtlichkeit der Evangelien (1838 in Die Religion des Alten Testaments publiziert), ging im Anschluss daran zu immer fundamentaleren Formen der Religionskritik über und behauptete ab 1839 die Absurdität aller religiösen Überzeugungen, Denk- und Argumentationsformen. Drei Jahre später rang er sich zu einer konsequent atheistischen Weltanschauung durch. Die Religion musste sich dem vernünftigen Staat unterordnen und konnte nicht mehr als politische Legitimationsinstanz dienen. Das Christentum galt ihm als historisch überholte und irrationale Bewusstseinsform. Bauer wollte sie durch eine von ihm entwickelte, demokratisch ausgerichtete Methode der Kritik ersetzen. Philosophisch zeichnet sich Bauers Denken dadurch aus, dass er die aufklärerische und auf Demokratie abzielende Kritik als Religionskritik durchführte. Charakteristisch ist dabei zum einen die These, letzte Instanz der philosophischen Aufklärung sei das Selbstbewusstsein mit seiner absoluten Freiheit. Zum anderen ist für Bauers Denken die Transformation der Hegelschen Dialektik in eine Theorie der Verschärfung von Gegensätzen und der Vernichtung vorhergehender Gesellschafts- und Gedankensysteme prägend. Während Dialektik im System des reifen Hegel primär Vermittlung und Integration bedeutete, in der die negierten Stufen zugleich immer als aufgehobene erhalten bleiben sollten, wird die Aufhebung bei Bauer – vergleichbar mit dem Denken des jungen Bakunin – zur absoluten Negation und krisenbzw. nahezu katastrophenhaft verlaufenden Spiralbewegung. Diese Bauersche Denkfigur prägt auch das Marxsche Verständnis von gesellschaftlich-geschichtlichen Prozessen und von Hegels Dialektik. Das fundamentale Prinzip der Philosophie Bauers ist dabei nicht etwa ein individuelles oder privates Selbstbewusstsein, sondern eine Art Gattungswesen, eine allgemeine Vernunft. Dies ist ein weiterer

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Gedanke, der in transformierter Form sowohl bei Feuerbach als – in nochmals gewandelter Form – auch bei Marx erhalten bleibt. Auch bei Ludwig Feuerbach steht die Religionskritik und in deren Folge die Idealismus- und Hegelkritik im Zentrum. Die zentrale Denkfigur seiner Religionskritik, die für Marx von großer Wichtigkeit wird, besteht darin, den Gehalt religiöser Vorstellungen als Projektionen der Menschheit zu begreifen. Mit ihnen projezieren die Menschen ihre im aktualen Gesellschaftssystem nicht realisierten Eigenschaften und Fähigkeiten sowie die dort nicht befriedigten Bedürfnisse auf ein ideales Gegenüber, einen transzendenten Gott. Diese Entfremdungstheorie wird komplettiert durch Feuerbachs Annahme, die philosophische Aufklärung dieses Mechanismus reiche dazu aus, die Wurzel der Entfremdung zu beseitigen. Wie Marx und andere Linkshegelianer setzt Feuerbach Philosophie überhaupt mit Idealismus gleich, weil sie in Hegels absolutem Idealismus den konsequenten Kulminationspunkt aller Philosophie sahen. An die Stelle der Philosophie tritt bei Feuerbach eine Anthropologie, die zwar immer noch philosophisch zu nennen ist, zugleich aber starke empirische Züge aufweist. Diese Anthropologie hat die Philosophie von Marx nachhaltig beeinflusst; sie kann zugleich als einer der zentralen Punkte angesehen werden, durch den sich die Marxsche Abkehr vom Denken Bauers vollzog und mit der er seine eigenen Überzeugungen vor 1843 einer Selbstkritik unterwarf. Die letzte Instanz der philosophischen Kritik und Veränderung ist für Marx von nun an, in der Gefolgschaft von Ludwig Feuerbach, nicht mehr das Selbstbewusstsein, sondern der als leiblich-seelische Einheit begriffene Mensch. Weiterhin mit Bauer und Feuerbach verbunden bleibt die Vorstellung, dieses Wesen des Menschen offenbare sich nicht in seiner Individualität, sondern in seiner Gattungsdimension, in seiner menschlichen Natur. Ein weiteres für das Marxsche Denken entscheidendes Denkmotiv findet sich in Feuerbachs Hegelkritik, die dieser in Form einer allgemeinen Idealismuskritik vorgetragen hat. Vorgelegt in den beiden im Jahre 1843 in Journalen der Linkshegelianer erscheinenden Schriften Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie und Grundsätze der Philosophie der Zukunft enthalten sie drei entscheidende Elemente. Erstens wird Hegels Philosophie, anders als

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in Bauers Schriften der Jahre 1840–42, nun nicht mehr in einer atheistischen Weise ausgelegt, sondern selbst als letzte Form der Theologie angesehen. Damit gerät die Hegelsche Philosophie selbst in den Einzugsbereich von Feuerbachs Religionskritik. Zweitens lautet der generelle Vorwurf Feuerbachs gegen Hegel, dieser habe stets das Subjekt und das Prädikat vertauscht. Gemeint ist damit, Hegel setze stets das Unabhängige (das eigentliche Subjekt) zum Reflex (zum bloßen Prädikat) herab, während das eigentlich abhängige Prädikat als die selbständige und treibende Kraft aufgefasst wird. So finden sich in der 1843 geschriebenen und in den DeutschFranzösischen Jahrbüchern ein Jahr später auch publizierten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung bei Marx erstmals zahlreiche Feuerbachsche Denkfiguren. In seiner unvollendeten und damals nicht publizierten Kritik des Hegelschen Staatsrechts aus der gleichen Zeit formuliert Marx den Vorwurf, für Hegel sei die Idee, nicht die empirischen Subjekte, der eigentliche Träger sozialer und historischer Prozesse. Die Abkehrbewegung des Marxschen Denkens von den Linkshegelianern vollzieht sich in Etappen und dauert von 1843 (Hinwendung zu Feuerbachs Anthropologie sowie Abkehr von Bauers idealistischem Rationalismus) bis ins Jahr 1845, dem Jahr, in dem Marx Feuerbach explizit kritisiert. Obwohl Marx mit Bauer in seiner Schrift Zur Judenfrage, mit der linkshegelianischen Konzeption von Gesellschaftskritik in der gemeinsam mit Engels verfassten Heiligen Familie und mit Feuerbach in der ebenfalls gemeinsam mit Engels verfassten Deutschen Ideologie bricht, haben viele der Linkshegelianer bedeutende und bleibende Spuren im Marxschen Denken hinterlassen. Philosophische Anthropologie Die Kernthesen und -prämissen der philosophisch-anthropologischen Konzeption, die Marx vornehmlich in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten entwickelt hat, lassen sich in drei Themenfelder gruppieren: das Vergegenständlichungsmodell des Handelns (1.), die Entfremdungskonzeption (2.) und die Konzeption des gegenständlichen Gattungswesens (3.).

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(1.) Die Analyse des Vergegenständlichungsmodells, das handlungstheoretische Modell von Marx, muss im Zentrum jeder Marxdeutung stehen. Entfaltet wird es am explizitesten in einem Abschnitt der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, der von den Herausgebern mit »Die entfremdete Arbeit« überschrieben wurde. Die entscheidende Textpassage lautet: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. (MEW Erg. Bd. I, 511 f.)

Die spezifische Differenz menschlicher Lebenstätigkeit gegenüber der Lebenstätigkeit von Tieren liegt in der Intentionalität. Deshalb ist das Vergegenständlichungsmodell bei Marx von vornherein eine Theorie des absichtlichen Handelns. »Arbeit« hat darin die dreifache Bedeutung: (i) Zweck der Tätigkeit, (ii) Prozess des Tätigseins und (iii) Resultat der Tätigkeit; man kann auch vom Inhaltssinn, Prozesssinn und Resultatsinn von »Arbeit« sprechen. Die Marxsche Konzeption lässt sich schematisch so darstellen: (a) Ich beabsichtige (durch mein Tun h) den Sachverhalt p herbeizuführen (Inhaltssinn). (b) Ich bringe durch mein Tun h den Sachverhalt p hervor (Prozesssinn). (c) Die Verwirklichung dieses Hervorbringungsprozesses ist die unabhängige, fremde Tatsache p, in der sich meine Tätigkeit fixiert hat (Resultatsinn). Unter der nachvollziehbaren Prämisse, dass der Sachverhalt und die Tatsache p identisch sind, stellt dies eine plausible Rekonstruktion unserer vorphilosophischen Auffassungen von Handlungen dar: (c) besagt, dass ein bestehender Sachverhalt, also eine Tatsache p, von mir unabhängig ist. H ist – so lässt sich der Sinn von (b) rekonstruieren – eine kausal notwendige Bedingung dafür, dass p zu einer Tatsache wurde, die unabhängig von mir gilt. Das Fenster in meinem Büro steht offen, ich fasse die Absicht, es zu schließen, gehe zum Fenster und schließe es. Das Resultat ist die Tatsache,

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dass das Fenster in meinem Büro nun geschlossen ist. Das Marxsche Vergegenständlichungsmodell lässt sich also, wenn wir die Rede von Zwecken als Gegenstand in die von Sachverhalt und Tatsache übersetzen, plausibel machen. (2.) Marx hat seine Konzeption der Entfremdung nur in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ausführlich erläutert, allerdings ohne den Entfremdungsbegriff dabei explizit zu definieren. (vgl. MEW Erg. Bd. I, 510–522) Diese Auslassung hat drei Gründe: Erstens ist sie Ausdruck seiner Selbsteinschätzung, die Aufgabenstellungen der Philosophie hinter sich gelassen zu haben. Zweitens übernimmt er seinen Zentralbegriff aus Hegels Phänomenologie des Geistes, für ihn letzter und unüberbietbarer Stand der Philosophie überhaupt. Und drittens gibt es zu Zeiten von Marx eine breit etablierte, nicht spezifisch philosophische Verwendung des Entfremdungsbegriffs. Marx konnte also darauf bauen, dass der Entfremdungsdiskurs für seine Diskussionspartner verständlich war. Marx geht bei seiner Analyse von dem sozialen Faktum aus, dass unter den nationalökonomischen Bedingungen seiner Zeit die arbeitenden Menschen mit Systemnotwendigkeit verelenden. Je mehr sie an gesellschaftlichem Reichtum produzieren, desto ärmer werden sie. Je gewaltiger die durch Industrie, Technik und Wissenschaft geschaffenen Macht- und Wissenspotenziale der Gattung Mensch werden, desto reduzierter werden die Proletarier. Die Ursache dieser Entfremdung liegt Marx zufolge in den sozialen Institutionen des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Lohnarbeit. Begründet wird diese These von ihm mit dem Vergegenständlichungsmodell, weshalb Marx hierin auch den Ursprung der Entfremdung verortet. Unter kapitalistischen Bedingungen gehören dem Arbeiter die von ihm hergestellten Produkte nicht, sondern sind Eigentum des Kapitalisten. Der Arbeiter muss sie erst durch den erhaltenen Arbeitslohn erwerben. Ohne Geld rücken die Produkte seiner Arbeit in unerreichbare Ferne. Da sich die Produktionsmittel im Privatbesitz befinden, kann der Arbeiter nicht einfach seine Arbeitskraft einsetzen, um die für seine Existenz notwendigen Dinge zu produzieren. Erst muss es ihm gelingen, seine

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Arbeitskraft zu verkaufen, damit sie in einem Produktionsprozess aktiviert wird. In einem kapitalistischen System kann der Arbeiter seine Arbeitskraft nicht selbstbestimmt einsetzen, da die Produktionsmittel anderen gehören. Gleiches gilt für die Produkte seiner Arbeit. Der von Marx konstatierte »Verlust des Gegenstandes, seines Produkts« besteht darin, dass diese Produkte Eigentum anderer sind. Die Entfremdung des Menschen ist nach Marx im Kapitalismus total geworden, weil die Proletarier sich hier ihre menschliche Existenzform vollkommen entfremdet und ihr Wesen als Gattungssubjekt vollständig an das Kapital als »automatisches Subjekt« (MEW 23, 169) entäußert haben (vgl. hierzu S. 91ff.). Die Marxsche Konzeption der Entfremdung umfasst als erste Dimension das Verhältnis zwischen Arbeiter und Produkt der Arbeit. Das Vergegenständlichungsmodell geht durchgängig davon aus, dass das Produkt des menschlichen Handelns ein von diesem Handeln unabhängiger, fremder Gegenstand ist, sodass zwischen Tätigkeit und Produkt eine soziale Institution treten kann. Im Kapitalismus ist dies die Rechtsinstitution des Privateigentums. Die zweite Dimension verortet Marx im Verhältnis des Arbeiters zu seiner Tätigkeit. Da im Vergegenständlichungsmodell von einem Transfer von Eigenschaften des Produzierens auf Eigenschaften des Produkts ausgegangen wird, ist diese Dimension der Entfremdung die ursprünglichere. Mit dieser Annahme steht Marx in der Tradition der idealistischen Philosophie Fichtes und Hegels, denen zufolge Produkte nur die Eigenschaften haben können, die auch die sie produzierende Tätigkeit aufweist. Die Entfremdung gegenüber der eigenen Tätigkeit besteht Marx zufolge in zwei Aspekten: Erstens erlebt sich der Arbeiter in seiner Tätigkeit als fremdbestimmt, und zweitens fühlt er sich »unglücklich«. Die Zielsetzung seiner Tätigkeit ist durch den Produktionsprozess vorgegeben, die Produkte seiner Arbeit gehören ihm nicht, der Anlass seines Tätigseins ist der Zwang zum Überleben. Die Arbeit ist keine Verwirklichung seines Wesens, sondern lediglich ein Mittel zum Überleben. Sie ist nicht Ziel seiner Existenz, sondern ausschließlich ein Mittel zur Verlängerung seines physischen Dahinvegetierens. Als dritte Dimension identifiziert Marx die Entfremdung des Menschen von

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seinem Gattungswesen, womit Marx ein weiteres Element seiner philosophischen Konzeption einführt: Der Mensch ist ein Gattungswesen, nicht nur indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegenstand macht, sondern – und dies ist nur ein andrer Ausdruck für dieselbe Sache –, sondern auch indem er sich zu sich selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält. (MEW Erg. Bd. I, 515)

Die Marxsche Rede vom Gattungscharakter werde ich gleich erörtern; momentan sind nur die weiteren beiden Dimensionen der Entfremdung, die Marx darauf aufbauend thematisiert, relevant. Den Zusammenhang zwischen Gattungswesen und Arbeit bringt folgende zentrale Prämisse von Marx zum Ausdruck: »Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben« und »die freie bewußte Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen«. (MEW Erg. Bd. I, 516)

Die kapitalistische Gesellschaft entfremdet dem Menschen sein Gattungswesen auf zwei Weisen. Dadurch, dass die Realisierung seines Gattungswesens dem Individuum als ein undurchschaubarer und es beherrschender Markt gegenübersteht, kann der einzelne Mensch sich mit dieser Vergegenständlichung der Gattung nicht identifizieren. Aufgrund der inhumanen Spielregeln lässt der Arbeiter sich vielmehr auf die soziale Dimension seiner Existenz nur ein, um sein eigenes Überleben zu sichern. In seiner Arbeit sieht er nicht die Betätigung seines Gattungswesens, sondern ausschließlich ein Mittel zur individuellen Existenzsicherung. Diese dritte Dimension der Entfremdung ist die erste Zweck-Mittel-Verkehrung im Verhältnis des Individuums zu seinem Gattungswesen. Marx erinnert daran, dass das Gattungswesen des Menschen sich nicht nur in der Relation eines Individuums zum sozialen Gesamtzusammenhang bzw. zum Produktionssektor manifestiert, sondern auch in der Beziehung der Individuen zueinander: Wenn der Mensch sich selbst gegenübersteht, so steht ihm der andre Mensch gegenüber. (MEW Erg. Bd. I, 517 f.)

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Die vierte Dimension der Entfremdung besteht in der ZweckMittel-Verkehrung innerhalb der interpersonalen Beziehung der menschlichen Individuen, die sich in einer kapitalistischen Gesellschaft konstatieren lässt. Als zur bewussten Tätigkeit fähiges Gattungswesen weiß der einzelne Mensch nicht nur um seine eigenen Bedürfnisse, sondern auch um die der anderen menschlichen Individuen. Im kapitalistischen Marktzusammenhang wird dieser Anerkennungszusammenhang aufgebrochen und in eine ZweckMittel-Relation verkehrt. A produziert Ware x, um sie an B zu verkaufen. As Ziel des Verkaufs ist es, von B Geld zu erhalten, um seine eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können. A weiß dabei um die Bedürfnisse von B, denn sonst könnte er nicht versuchen, über die Produktion und den Verkauf von Ware x seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Bedürfnisse von B sind für A aber nicht der Anlass, die Ware x zu produzieren und B zur Verfügung zu stellen, sondern lediglich Mittel, die A einsetzt, um seine eigenen Bedürfnisse stillen zu können. Die Bedürftigkeit von B ist in As Kalkül nur eine unverzichtbare Brücke zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Weil der einzelne Mensch nicht unmittelbar mit dem Zweck produziert, die Bedürfnisse der anderen Menschen zu befriedigen, erkennt er Marx zufolge in deren Bedürftigkeit das Gattungswesen des Menschen nicht an. Deshalb kann er durch sein Handeln auch sein eigenes Gattungswesen nicht realisieren: Der durch Privateigentum an Produktionsmitteln, Markt und Lohnarbeit aufgespannte institutionelle Rahmen erlaubt es nicht, eine zwischenmenschliche Beziehung im Produktionssektor zu etablieren, die als Realisierung des menschlichen Gattungswesens angesehen werden könnte. Die Bestimmung des Verhältnisses von dritter und vierter Entfremdungsdimension verweist auf ein folgenreiches Problem. Wie stellt Marx sich den Zusammenhang von dem einen Verhältnis zwischen individuellem Menschen und Gattungswesen und dem anderen Verhältnis zwischen menschlichen Individuen vor? Marx erläutert ihn so: Die Entfremdung des Menschen, überhaupt jedes Verhältnis, in dem der Mensch zu sich selbst steht, ist erst verwirklicht, drückt sich aus

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Die Philosophie von Karl Marx in dem Verhältnis, in welchem der Mensch zu dem andren Menschen steht. (MEW Erg. Bd. I, 518)

Die dritte Dimension wird, so ist Marx zu verstehen, im und durch das Verhältnis von individuellen Menschen zueinander verwirklicht: Überhaupt, der Satz, dass der Mensch seinem Gattungswesen entfremdet ist, heißt, dass ein Mensch dem andern, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen entfremdet ist. (MEW Erg. Bd. I, 518)

An dieser Stelle wird die genaue Fassung des Vergegenständlichungsmodells relevant: Müssen alle Aspekte, die sich in dem Verhältnis von Mensch zu seinem Gattungswesen finden (z. B. als Attribute des Gattungswesens) als Merkmale der individuellen Handlungen dieses Menschen begreifbar sein? Oder dürfen sich durch die Handlungen eines Individuums hindurch Merkmale seines Gattungscharakters vergegenständlichen, die nicht zugleich in seiner individuellen Absicht liegen? Macht es einen Unterschied für die Eigenschaften des Produkts einer Handlung, ob das handelnde Individuum qua Individuum oder qua Gattungswesen beschrieben wird? Im ersten Fall müssen alle Aspekte der gesamtgesellschaftlichen Interaktion zugleich Aspekte der Interaktion zwischen einzelnen Individuen sein. Fordert man hier weniger strikte Abhängigkeitsbeziehungen, kann man entstehende Freiräume durch soziale Institutionen füllen, die eine Vermittlung beider Sphären herstellen. Marx selbst hat jede mittelbare Versöhnung mittels repräsentativer Institutionen (sei es der Markt, das Recht, die Moral oder der Staat) als Ausdruck von Entfremdung verstanden. Dies lässt darauf schließen, dass seine Rede von Unmittelbarkeit in den obigen Ausführungen im Sinne der ersteren Option gemeint ist, die das dem Menschen ontologisch angemessene Verhältnis von Individuum und Gattung benennt. Eine weitere, auch für die Marxsche Geschichtsphilosophie zentrale Frage lautet: Wie, fragen wir nun, kömmt der Mensch dazu, seine Arbeit zu entäußern, zu entfremden? Wie ist diese Entfremdung im Wesen der menschlichen Entwicklung begründet? (MEW Erg. Bd. I, 521)

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Seine erste Frage lässt sich noch im Sinne einer historisch-genetischen Erklärungsabsicht verstehen, also als Frage nach den kausalen Ursachen und Umständen, durch welche es zur Entfremdung gekommen ist. Doch seine zweite Frage verdeutlicht, dass Marx eine fundamentalere und philosophische Antwort sucht, die aus dem Wesen des Menschen die Entfremdung als notwendigen Entwicklungsschritt innerhalb seiner Wesensverwirklichung ableitet. Der Mensch ist als gegenständliches Gattungswesen bestimmt, als ein Wesen, das sein Wesen in produktiver Tätigkeit vergegenständlicht. Dies schließt die bewusste Tätigkeit im Sinne der bewussten Aneignung der vergegenständlichten Gattungseigenschaften ein. Die Wurzeln dieser Marxschen Denkfigur liegen in der idealistischen Philosophie begründet. Ziel der Systeme von Fichte und Hegel war es verständlich zu machen, wie das Selbstbewusstsein sich selbst bzw. sein eigenes Wesen zugleich erkennen und hervorbringen kann. Marx setzt an die Stelle des Selbstbewusstseins den sinnlich-leibhaftigen Menschen und an die Stelle idealistischer Bewusstseinsakte das Vergegenständlichungsmodell des Handelns. Der Mensch kann sein Gattungswesen nur realisieren, indem er ein Bewusstsein desselben entwickelt. Letzteres geht nur, indem er seine Gattungseigenschaften an einem Objekt erkennt. Dieses Objekt muss dabei, damit es sich um wahre Erkenntnis des eigenen Gattungswesens handelt, eine Vergegenständlichung seiner Gattungseigenschaften sein. Für Marx ist dies der gesellschaftliche Produktionszusammenhang. In diesem liegt also im ersten Schritt die Vergegenständlichung und Entäußerung bzw. Entfremdung der Gattungskräfte vor: der Kapitalismus ist Endpunkt dieser entfremdeten Vergegenständlichung. Sind alle Gattungseigenschaften auf diese Weise herausgearbeitet, kann der Mensch durch soziale Revolutionen beginnen, sich diese Gattungskräfte praktisch anzueignen. Der anfängliche Zustand des Menschen ist keineswegs nicht-entfremdet, sondern vorentfremdet und undifferenziert. Der Mensch hat darin sein Gattungswesen noch nicht realisiert, da er von ihm kein Bewusstsein hat. Die sich in der Vergegenständlichung abspielende Entfremdung ist der notwendige Zwischenschritt, um in einem zweiten Schritt eine bewusste Aneignung des Gattungswesens zu ermöglichen. Mit anderen, fast Hegelschen Worten: nicht

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der unmittelbare Ausgangszustand, sondern erst die aufgehobene Entfremdung, also die durch die Entzweiung hindurchgegangene Aufhebung der Entfremdung ist die Verwirklichung des Gattungswesens Mensch. Zentral nicht nur für Hegel, sondern auch für Marx ist dabei, dass dieser Endzustand kein Rückfall in den Ausgangszustand der undifferenzierten Unmittelbarkeit ist. Anders als in der formalen Logik gilt Hegel und Marx die Negation der Negation als ein produktiver Entwicklungs-, als Lern- und Bildungsprozess: In der Aufhebung der Entfremdung darf die Erfahrung der Entfremdung nicht vergessen werden. Die Qualität der aufgehobenen Entfremdung besteht gerade darin, ein Wissen um die Entfremdung und ihre Ursachen zu erhalten. (3.) Der Entfremdungsbegriff hängt sachlich nicht nur vom Vergegenständlichungsmodell des Handelns und der idealistischen Selbstbewusstseinstheorie ab, sondern kann auch auf den Begriff des Gattungswesens nicht verzichten. Ohne die Prämisse, dass der Mensch ein gegenständliches Gattungswesen ist, könnte Marx den Zusammenhang zwischen den ersten und den letzten beiden Dimensionen der Entfremdung nicht ausweisen. Was ist mit dieser These von Marx, der Mensch sei ein gegenständliches Gattungswesen, genau gemeint? Marx verbindet die anthropologische Konzeption Feuerbachs, die soziale Einheitsvision von Moses Hess und Hegels Vergegenständlichungsmodell des Handelns. Er hält mit Hegel am erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Modell fest, um die Notwendigkeit der Entfremdung zu konzipieren. Er akzeptiert mit Feuerbach die individuell anthropologische und die theoretische Dimension des Gattungswesens als untergeordnete Aspekte des primär sozialen Gattungswesens. Mit Hess kritisiert er Privateigentum an Produktionsmitteln, Lohnarbeit und die Existenz eines Rechtsstaates als Ausdruck der Entfremdung, die durch unmittelbare oder bewusst geplante und rational durchschaute Kooperation zu ersetzen seien. Außerdem denkt Marx radikal geschichtlich im Sinne eines notwendigen Prozesses der Wesensentfaltung, die sich in Krisen und der Herausbildung von Gegensätzen vollzieht. Zu dieser historischen und sozialen Deutung des Gattungswesens tritt die

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von Hess stammende Vorstellung der Einheit von Materie und Geist hinzu. Marx deutet den Menschen als Teil der Natur, der in und von ihr lebt. Zugleich konvergiert die Natur im Zuge der Selbstverwirklichung der Menschengattung zum durch menschliche Tätigkeit transformierten und angeeigneten unorganischen Leib des Gattungswesens: Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur. (MEW Erg. Bd. I, 538)

Die metaphysischen Implikationen der Marxschen Theorie des Gattungswesens lassen sich drei Themenbereichen zuordnen: dem Essentialismus der Marxschen Konzeption, den darin angelegten sozial-ontologischen Verhältnissen sowie deren geschichtsphilosophischer Dimension. Essentialismus: Die Marxschen Konzeptionen des Gattungswesens und der Entfremdung lassen sich nicht ohne einen Essentialismus formulieren, mittels dessen man bei Entitäten zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften unterscheiden kann. Erstere konstituieren das Wesen (oder, alltagssprachlich, die Natur) einer Sache, letztere sind nur akzidentiell. Akzidentielle Eigenschaften können auch fehlen, ohne dass die entsprechende Sache aufhörte zu existieren (oder ein Ding einer bestimmten Art zu sein). Wenn die Farbe eines Autos verändert wird, hört das Auto weder auf zu existieren, noch ein Auto zu sein. Hat man es, wie beim menschlichen Gattungswesen der Fall, mit einer sich in der Zeit verändernden Entität zu tun, dann kann man noch zwischen potentiellen und aktualen Eigenschaften (oder Fähigkeiten) unterscheiden. Wenn A zu einem Zeitpunkt eine wesentliche Eigenschaft (oder Fähigkeit) nicht aktual aufweist, ausübt oder ausgebildet hat, dann kommt ihr diese potentiell zu, weil (und wenn) sie zum Wesen von A gehört. Marx hat das Gattungswesen Mensch so bestimmt, einen Begriff von seinem eigenen Wesen zu haben. Die Entfremdung auf der Ebene der sozialen und materiellen Realisation geht mit falschen oder verzerrten Selbstinterpretationen, die ebenfalls eine Form der Entfremdung darstellen, einher.

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Beide Dimensionen der Entfremdung bedingen sich gegenseitig: Falsche Selbstinterpretationen können zu falschen sozialen Verhältnissen führen (oder diese zumindest stabilisieren) und falsche gesellschaftliche Zustände rufen fehlerhafte Selbstinterpretationen hervor. Viele Interpreten deuten diese Anthropologie als ethische Theorie, der zufolge die Realisierung des Wesens des Menschen zugleich ein ethisch bedeutsames Gut ist. Marx bekennt sich jedoch nicht explizit zu diesem Aristotelischen Prinzip. Ließe sich der Essentialismus nicht von ethischen Geltungsansprüchen abkoppeln, hätte Marx sich mit seiner Entfremdungskonzeption eindeutig auf eine ethische Theorie festgelegt. Es gibt aber zwei Varianten des Essentialismus, die keine ethische Implikation enthalten. Ein geschichtsphilosophischer Essentialismus begreift historische Prozesse als Realisierungen der Wesenseigenschaften von Entitäten über die Zeit hinweg. Eine solche Theorie muss auf allgemeine metaphysische Prämissen aufbauen, benötigt aber nicht zwingend ethische Prämissen. Der szientistische Essentialismus ist ebenfalls frei von ethischen Annahmen, wenn er auf der rein ontologischen und methodologischen These aufruht, dass uns die Naturwissenschaften Aufschluss über die wirklichen Dinge und ihre wesentlichen Eigenschaften geben. Offensichtlich passen diese beiden Formen des Essentialismus sehr gut zu einigen Tendenzen im Marxschen Denken. Die Deutung der Marxschen Konzeptionen des Gattungswesens und der Entfremdung im Sinne einer aristotelischen Ethik ist daher nicht alternativlos. Aber es gibt, wie wir im nächsten Abschnitt noch sehen werden, andere begriffliche Ressourcen in der Theorie von Marx, die eine ethische Deutung zumindest überaus plausibel machen. Festzuhalten bleibt, dass eine ethikfreie Deutung nur in Form eines Essentialismus möglich ist, der selbst auf metaphysische Annahmen angewiesen bleibt und somit eine Form der Philosophie darstellt. Das sozial-ontologische Modell: Wenn man vom Gattungswesen Mensch spricht, steht auch die Frage nach der Relation zwischen Gattung und Exemplar, die mit der gewählten Konzeption einhergeht, im Raum. In der Marxschen Konzeption der Entfremdung betrifft die Unterscheidung zwischen der dritten und vierten Di-

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mension der Entfremdung dieses Verhältnis; und Marx hatte aufgrund einer zeitgenössischen Debatte Grund, sich diesem Problem zuzuwenden. 1844 entbrennt ein Streit zwischen Stirner, Feuerbach, Bauer und Hess, der sich um das Verhältnis von Gattung und Individuum (oder »Einzigem«) dreht. Ihre Schrift Die Deutsche Ideologie war von Marx und Engels als Beitrag zu dieser Debatte gedacht, unter anderem deswegen, weil die Kritik von Max Stirner auch die Marxsche Konzeption der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte ins Mark trifft. Stirners Kritik, ohne Kenntnis des damals nicht veröffentlichten Textes von Marx formuliert, besteht in einer zweistufigen Strategie: Erstens zeigt er auf, dass die Anthropologie Feuerbachs, die Selbstbewusstseinstheorie Bauers sowie die Geschichts- und Sozialkonzeptionen des Sozialismus – Stirner zielt hier primär auf Moses Hess – allesamt noch Formen des Philosophierens sind. Damit fallen sie hinter ihren eigenen Anspruch zurück, die Philosophie überwunden zu haben. Dies zeigt sich, so Stirners zweite Attacke, darin, dass alle diese Konzeptionen eine das menschliche Individuum transzendierende Größe einführen: den Menschen qua Gattung, das Selbstbewusstsein als universale Vernunft oder die soziale Gemeinschaft. Dies sei, so Stirners Vorwurf, nicht nur eine weitere Form der idealistischen Philosophie, sondern führe auch, ganz entgegen dem Selbstverständnis und den Intentionen von Feuerbach, Bauer oder Hess, zu einer Bevormundung des Individuums, also zu Fremdbestimmung und Unterdrückung. Das einzelne, unverwechselbare und autonome menschliche Individuum (Stirners »Einziger«) wird zum bloßen Fall oder Exemplar, dem die Norm seiner Existenz vorgegeben wird. Geschichtsphilosophie: Stirner weist in Der Einzige und sein Eigenthum jede geschichtsphilosophische Konzeption als Philosophie und als ethisch inakzeptabel zurück. Im Namen eines geschichtsphilosophisch begründeten Fortschritts, der auf die Wesensverwirklichung der Gattung in einer ferneren Zukunft ausgelegt ist, lasse sich das einzelne Individuum nicht nur der Gattung unterordnen. Man könne sogar die sachlich berechtigte Kritik von Individuen an faktisch vorgegebenen sozialen Strukturen mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer geschichtlichen Weiterent-

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wicklung ignorieren. Die Gefahren einer Geschichtsphilosophie, die im Namen einer verheißenen Zukunft das Leiden und Elend der Gegenwart rechtfertigt, in Kauf nimmt oder gar hervorruft, sind evident. Sie stellen auch Marx vor ein großes Problem, denn in seine Konzeption von Entfremdung und Gattungswesen sind geschichtliche Entwicklung und Fortschritt auf eine nicht eliminierbare Weise eingebunden. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem Vergegenständlichungsmodell des Handelns, nach dem Marx auch Erkennen und Selbsterkennen entwirft. Im Hintergrund steht die essentialistische Prämisse, dass das menschliche Gattungswesen auf Selbstverwirklichung ausgelegt ist, dies aber aufgrund des universellen Charakters des Menschen qua Selbstbewusstsein auch die Selbsterkenntnis seines eigenen Wesens einschließt. Sofern der Mensch sein eigenes Wesen jedoch nur erkennen kann, wenn er es handelnd entäußert und damit zu einem Gegenstand für sich selbst macht, gehört die Entäußerung notwendigerweise zur Selbstrealisierung hinzu. Damit ist zugleich notwendigerweise die Möglichkeit eröffnet, dass diese Entäußerung zur Entfremdung wird, wenn die adäquate Selbstverwirklichung und Selbsterkenntnis durch die Entäußerung hindurch nicht gelingt. Menschliche Anerkennung Die Gattungsmetaphysik von Marx enthält eine Konzeption der Anerkennung, die nicht nur eine sozial-ontologische, sondern auch eine ethische Funktion übernimmt. Diese Doppelfunktion hat die Marxsche Konzeption der Anerkennung mit der von Hegel, die hierfür Pate gestanden hat, gemeinsam. Im ersten Schritt wird die Rolle der Anerkennung als kritischer Maßstab entfaltet, bevor sie im zweiten Schritt als Herzstück des ethischen Gegenentwurfs von Marx ausgewiesen wird. Anerkennung als Kritikfolie: In den Mill-Exzerpten (vgl. MEW Erg. Bd. I. I, 445 ff.) geht Marx von der Prämisse aus, dass Geld die entfremdete Vergegenständlichung des Gattungswesens ist: Das Wesen des Geldes ist zunächst nicht, dass in ihm das Eigentum entäußert wird, sondern dass die vermittelnde Tätigkeit oder Bewegung, der menschliche, gesellschaftliche Akt, wodurch sich die Produkte des

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Menschen wechselseitig ergänzen, entfremdet und die Eigenschaft eines materiellen Dings außer dem Menschen, des Geldes wird. (MEW Erg. Bd. I, 446)

Durch diese Verdinglichung (= Übertragung der Eigenschaften der Tätigkeit auf das Produkt) schaut der Mensch seinen Willen, seine Tätigkeit, sein Verhältnis zu andren als eine von ihm und ihnen unabhängige Macht an. (MEW Erg. Bd. I, 446.)

Marx formuliert an dieser Stelle auch bereits die positive Gegenfolie: »statt dass der Mensch selbst der Mittler für den Menschen sein sollte«. Außerdem nimmt er eine explizite Übertragung der Feuerbachschen Religionskritik auf die ökonomischen Verhältnisse unter den Bedingungen von Arbeitsteilung, Privateigentum und Lohnarbeit vor. Gegen Ende der Mill-Exzerpte stellt er die entfremdet-entfremdende Anerkennungsrelation unter den Bedingungen von Privateigentum, Lohnarbeit und Arbeitsteilung ausführlich dar (vgl. MEW Erg. Bd. I, 459–462): A und B stellen selbständig die Produkte P1 und P2 her, tauschen ihre Produkte direkt und jeweils für den eigenen Konsum ein. Da die Ausgangssituation außerdem symmetrisch ist, nimmt Marx in seiner Analyse die Perspektive eines der beiden Akteure (A) ein: A produziert P1 mit der Absicht, P1 nicht selbst zu konsumieren, sondern gegen P2 einzutauschen, will P2 dabei zur Befriedigung seines eigenen Bedürfnisses erwerben und will, dass B P2 gegen P1 eintauscht. A glaubt dabei, dass B ein Bedürfnis nach P1 hat und P2 nur dann an ihn abgibt, wenn B dafür P1 von A erhält. In der Konsequenz gibt A P1 nur mit der Absicht an B ab, P2 für die eigene Bedürfnisbefriedigung zu erhalten. Im zweiten Schritt tauscht A mit B, wobei Bs Bedürfnis nach P1 nicht der Zweck der Handlung von A ist. Dass B ein Bedürfnis nach P1 hat, wird von A geglaubt, ist aber kein Teil der voluntativen Komponente. In diesem Tauschakt wird B von A nur als Eigentümer von P2 anerkannt, nicht als Wesen mit einem berechtigten Bedürfnis nach P1. Dass B ein Bedürfnis nach P1 hat, ist für A kein Motiv, P1 an B abzugeben. As einziges Motiv ist vielmehr, P2 zur Befriedigung seines eigenen Bedürfnisses zu erwerben. A hat – im Vorgriff auf den Tausch –

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P1 nur mit der Absicht produziert, es als Mittel zur Befriedigung seines eigenen Bedürfnisses nach P2 einzusetzen. Dass B ein Bedürfnis nach P1 hat, ist für die Realisierung dieser Absicht zwar eine notwendige Voraussetzung und wird von A auch unterstellt, führt aber nicht dazu, dass A die Bedürftigkeit von B zum Motiv seiner Produktion von P1 macht. Marx analysiert diese Situation nun so: P2 hat keine unmittelbare Beziehung auf A, weil P2 Eigentum von B und von A nur vermittels des Tausches zu erlangen ist. Die Produktion von P1 ist eine Produktion des Eigentümers A für den Eigentümer B, nicht die Produktion des menschlichen Gattungswesens A für das menschliche Gattungswesen B. Das Gattungswesen des Menschen würde nur realisiert, wenn beide die Bedürftigkeit des anderen zum genuinen Zweck ihrer Produktion gemacht hätten. Auf diese Weise wäre die Interaktion von A und B, die wechselseitig ihr Wesen durch Bedürfnisbefriedigung des anderen um dieser Bedürftigkeit Willen realisieren, eine Vergegenständlichung des »menschlichen Wesens« gewesen. Marx übernimmt hier eine Prämisse Feuerbachs: Wenn A ein Bedürfnis nach x hat, dann gehört x zum Wesen von A. Wenn also A ein Bedürfnis nach etwas hat, was B produziert, dann ist Bs Produktion Teil der Realisierung des Wesens von A. Das menschliche Gattungswesen kann nur durch die soziale Interaktion auf der Ebene der materiellen Reproduktion verwirklicht werden. Dies wird jedoch in der Tauschsituation nicht erreicht, weil die wechselseitige Anerkennung der Bedürftigkeit des Anderen als Zweck der Produktion und des Austausches fehlt und die Bedürftigkeit des jeweils Anderen nur als Mittel gilt. Mit dem Hinweis, dass in der Tauschhandlung nichts vergegenständlicht werden kann, was nicht bereits durch die Intentionen der einzelnen Akteure im Produktionsakt selbst vergegenständlicht worden ist, wehrt Marx den Einwand ab, dass im Austausch (oder anderen Formen kollektiven Handelns) etwas vergegenständlicht werden könnte, was sich nicht auf die Intentionen der beteiligten Akteure reduzieren lässt. Dies richtet sich gegen Hegels Interpretation von Adam Smiths »invisible hand« und läuft darauf hinaus, dass kollektives Handeln im Marxschen Vergegenständlichungsmodell auf die Absichten der einzelnen Akteure reduzierbar sein muss.

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Die im Tausch realisierte Form ist dem menschlichen Gattungswesen unangemessen, obwohl die für Menschen konstitutive Bedürftigkeit auch hier besteht. Als Bedürfnis ist sie Äußerung des menschlichen Gattungswesens, doch dieses Wesensband ist in dem entfremdeten Zustand des Tausches durch Instrumentalisierung und Fremdbestimmung pervertiert: Weil A P1 mit dem Ziel produziert, P2 zu erhalten, ist P1 nicht das eigentliche Ziel der Tätigkeit von A (weshalb A sich in dieser Tätigkeit auch selbst entfremdet). Und B, Bs Tätigkeit und Bs Bedürftigkeit sind lediglich weitere Mittel, die A einsetzt, um P2 zu erhalten. Es gibt eine Verschränkung der Absichten und Handlungen von A und B, die faktisch nur funktionieren kann, weil A und B am menschlichen Gattungswesen partizipieren, d. h. ihr eigenes Wesen ohne den anderen nicht realisieren können. Aber A und B zielen damit nur auf ihren individuellen Nutzen, den sie so weit und leicht wie möglich realisieren wollen. Deshalb, so Marx, ist in dieser Form der Kooperation strukturell angelegt, dass A und B sich gegenseitig übervorteilen wollen. Was scheinbar aussieht, wie eine Kooperation zum wechselseitigen Vorteil, ist, so Marx, die wechselseitige Instrumentalisierung des jeweils Anderen zur Erlangung des je eigenen Vorteils. Im Tausch anerkennen sich A und B als Privateigentümer ihrer Produkte, sodass B frei ist, sein Produkt nicht gegen das von A zu tauschen. Marx gesteht dies zu, indem er sagt, dass die Strategie von A nur dann erfolgreich sein kann, wenn B faktisch die Macht von P1 anerkennt, d. h. in den Tausch einwilligt, weil er P1 zur Befriedigung seines Bedürfnisses benötigt. Da beim Tausch diese Anerkennung auf beiden Seiten geschieht, ist die Strategie der wechselseitigen Übervorteilung ein Kampf um Anerkennung: A kämpft darum, dass B die Macht des Produktes von A anerkennt (und umgekehrt). Marx setzt an dieser Stelle die berühmte Hegelsche Figur des Kampfes um Anerkennung ein, um die entfremdet-entfremdende Interaktion von A und B zu analysieren. Marx erfasst dabei nicht nur die Perspektive der Beteiligten, sondern rekonstruiert auch die Gesamtstruktur der Interaktion als systemischen Zusammenhang. Dieser Kampf um Anerkennung ist eine symmetrische Relation, und für sein Funktionieren ist egal, wer von den beiden Protagonisten die Oberhand behält (oder ob

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sie äquivalent tauschen, was auch ein möglicher Ausgang ist). Das strukturell charakteristische Merkmal ist nach Marx die Mittelbarkeit der sozialen Interaktion, die über die zu tauschenden Produkte und damit, als deren Quelle, über die jeweiligen Produktionsakte von A und B zustande kommt. Ohne die Bedürftigkeit von A und B käme kein Tausch zustande, aber die Bedürftigkeit von B ist nicht das Motiv von A, P1 zu produzieren und abzugeben, sondern nur das Ziel, P2 zur Befriedigung des eigenen Bedürfnisses zu erhalten. Käme C, der ebenfalls ein Bedürfnis nach P1, selbst aber kein Produkt anzubieten hat, auf die Idee, A um P1 zu bitten, weil C das entsprechende Bedürfnis hat, dann wäre dies eine Spielregelverletzung. Marx analysiert die psychischen Folgen der Aufforderung von C unter den Bedingungen, dass A und C sich an der Grammatik des Privateigentums orientieren. C muss sich demütigen und kann nicht als gleichberechtigter, selbständiger und freier Anbieter bzw. Nachfrager auftreten. C kann vor sich selbst die von ihm anerkannten Normen nicht erfüllen. A wird die Aufforderung von C als Regelverstoß und als Zumutung erleben, da von ihm verlangt wird, auf sein Eigeninteresse, welches doch das primäre Motiv seiner Produktion ist, zu verzichten. Eigentlich, so Marx unter Vorgriff auf seine eigene ethische Konzeption, besteht die Würde des Menschen gerade darin, dass die Bedürftigkeit um ihrer selbst willen anerkannt wird und die Bedürftigkeit des Anderen für mich unmittelbares Motiv zur Interaktion ist. Im Zustand des Privateigentums und des Tausches dagegen ist diese Würde in ihr Gegenteil verkehrt. Die Würde liegt gerade in der Selbstständigkeit des Eigentümer- und Marktteilnehmerseins, die moralische Leistung darin, sich nicht aufgrund der eigenen Bedürftigkeit vom Tauschpartner ›über den Tisch ziehen zu lassen‹, also sich nicht zum Knecht der eigenen Bedürfnisse zu machen. Diesen Aspekt stellt Marx unter expliziter Anspielung auf Hegels Konzept der Anerkennung heraus. (vgl. MEW Erg. Bd. I, 459–462) Das soziale Verhältnis von Herrschaft und Sklaverei als erste »rohe« Manifestation dieses Selbstverhältnisses zeichnet sich dadurch aus, dass die beiden Funktionen, Instrument/Mittel und Zweck zu sein, als soziale Rollen einseitig auf A und B verteilt sind. Marx möchte zeigen, dass die Abschaffung der Sklaverei in einer rechtlichen Ordnung

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nur die Aufhebung der Oberfläche oder der Erscheinungsform des widersprüchlichen Selbstverhältnisses darstellt, keineswegs die Auflösung dieses Widerspruches selbst. Denn im rechtlichen Rahmen des Tausches sind die konfliktträchtigen Rollen von Herr und Knecht nur in die Selbstverhältnisse von A und B internalisiert, nicht aber aufgehoben worden. Die offenherzige Sklaverei ist im rechtlichen Zustand von Privateigentum, Lohnarbeit und Tausch verfeinert, wesentlich aber erhalten geblieben. Das Ziel der Marxschen Analyse ist klar: Die scheinbare Aufhebung sozialer Ungerechtigkeit durch die Entwicklung des Privateigentums und des Rechts (sowie der Moral und des Staates etc.) sind nur ›ideologische‹ Aufhebungen, die nicht bis zum Kern bzw. Ursprung des eigentlichen Selbstwiderspruchs, den Marx als Entfremdung bestimmt, vordringen. Die Internalisierung kann also keine Aufhebung im Sinne einer ethisch angemessenen Selbstdistanzierung und (partiellen) Selbstinstrumentalisierung sein, die zu ihrer Stabilisierung Ethik, Moral, Recht, politische Institutionen und kulturelle Selbstdeutungsmedien wie Kunst, Religion oder Philosophie benötigt (das war letztlich Hegels Antwort). Marx muss stattdessen eine Aufhebung dieser Selbstentfremdung in der unmittelbaren Tätigkeit von A und B sowie in der direkten Interaktion beider fordern. Wie wir sehen werden, stellt genau dies den Fluchtpunkt der positiven Gegenutopie dar, die Marx im Anschluss an diese Analyse des entfremdeten Zustands entfaltet. Anerkennung als positiver Gegenentwurf: Viele Passagen in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten lassen sich als ethische Argumentation lesen, wenn man die Betonung der Natur und den Essentialismus des Gattungswesens im Sinne einer aristotelischen Ethik der Wesensverwirklichung begreift. Die Marxsche »Metaphysik des Gattungswesens« wird durch eine aristotelisierende Lesart jedoch nicht erschöpfend behandelt. Um die ethischen Grundkategorien der Marxschen Philosophie adäquat zu bestimmen, muss man auf den Begriff der Anerkennung zurückgreifen. Am deutlichsten wird dies in der berühmten Passage am Ende der Mill-Exzerpte (vgl. MEW Erg. Bd. I, 462f.), in der Marx einen utopischen Gegenentwurf skizziert. In einer gelingenden Interaktion hilft A B dabei, Bs Gattungswesen zu realisieren, wird von B als

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dieser Mittler anerkannt und weiß, dass B ihn so anerkennt. Das bedeutet, dass A in der Anerkennung von B seine eigene Gattungsnatur vergegenständlicht und zum Objekt seines Bewusstseins macht. A hilft B dabei, Bs Individualität zu realisieren, sodass A in dieser Tätigkeit sein individuelles und sein Gattungswesen verwirklicht. Dies gilt unter der Bedingung, dass B wirklich As Produkt genießt und dabei die Anerkennungsleistungen erbringt, die A unterstellt. Unter der weiteren Voraussetzung der symmetrischen Wechselseitigkeit dieser Interaktion gelingt es dann auch B, sein wahres, menschliches Wesen zu realisieren. In der philosophischen Analyse dieser Anerkennungsstruktur kontrastiert Marx die gelingende mit der zuvor analysierten entfremdeten Struktur einer Tauschhandlung unter den Bedingungen von Privateigentum und Markt. Dieser Gegenentwurf enthält die ontologische These, dass ein einzelnes Individuum sein Gattungswesen nicht realisieren kann. Dazu ist es vielmehr auf den konstitutiven Beitrag eines oder aller anderen angewiesen. In einer nicht-entfremdeten Koproduktion wird dieses ontologische Einheitsband realisiert: A weiß und empfindet B als notwendigen Teil seines eigenen Wesens. Damit diese Wesensverwirklichung realisiert werden kann, ist aber nicht nur ein kausaler Zusammenhang vonnöten. Vielmehr muss mit der sozialen Kooperation auch auf der Ebene der Selbst- und Fremdinterpretation die richtige Einstellung der Beteiligten einhergehen: Anerkennung des anderen als Bedürfniswesen Mensch, als Trägers auch meiner Bedürfnisse einerseits, sowie Liebe als Ausdruck der Anerkennung, dass der Andere mir durch seine Tätigkeit die Verwirklichung meines eigenen Gattungswesens ermöglicht andererseits. Sowohl der Akt der Produktion als auch der Akt der Konsumtion von A und B sind notwendige Bestandteile der angemessenen Realisierung des Gattungswesens, die Marx 1844 nur negativ als Abwesenheit von Zweck-Mittel-Verkehrungen und Vermittlung durch Privateigentum, Markt und Lohnarbeit umschreibt. Neben die ontologische Dimension der wechselseitigen Abhängigkeit als Momente des gegenständlichen Gattungswesens, welches sich in der Produktion verwirklicht, tritt also die Forderung nach der angemessenen individuellen Perspektive auf diese ontologische Dimension sowie der

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richtigen Haltung gegenüber den Bedürfnissen der anderen, was als eine implizite ethische Norm anzusehen ist. Die Symmetrieforderung kann zugleich als Grundlage der intersubjektiven Geltung dieser Ansprüche, die sich in der ontologischen Verschränkung der Individuen mit Bezug auf ihre Gattungsnatur gründen, und als Maßstab ihrer normativen Bewertung herangezogen werden. Damit ist der Marxschen Gattungsmetaphysik eine Ethik eingeschrieben: Das richtige ethische Bewusstsein der Individuen ist ein notwendiger Bestandteil der angemessenen Realisierung des Gattungswesens. Die materialistische Geschichtsphilosophie In der Marxschen Metaphysik des Gattungswesens, seiner Konzeption der Entfremdung sowie seinen handlungs- und erkenntnistheoretischen Prämissen ist eine Geschichtsphilosophie angelegt. Für Marx selbst muss sie die in der Konzeption der Entfremdung offen gebliebene Frage nach dem notwendigen Ursprung der Entfremdung auf eine Weise beantworten, die dem Metaphysikvorwurf Stirners entkommt. Damit ist der theoretische Rahmen, innerhalb dessen sich die geschichtsphilosophischen Überlegungen von Marx bewegen, umrissen. Die Grundzüge seiner Geschichtsphilosophie entwickelt Marx im ersten Kapitel der Deutschen Ideologie, die er gemeinsam mit Friedrich Engels verfasst hat (aus stilistischen Gründen beziehe ich mich im Folgenden aber nur auf Marx). In dem von den Herausgebern mit »[1.] Geschichte« überschriebenen Abschnitt finden sich deren zentrale Elemente. Marx legt großen Wert darauf, dass jede Geschichtstheorie von kooperierenden Menschen und sozialer Interaktion ausgehen muss. Er identifiziert drei wesentliche Momente der geschichtlichen Entwicklung: die Produktivkraft, den gesellschaftlichen Zustand und das Bewusstsein. Jede Gesellschaft zeichnet sich zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt ihrer Entwicklung durch eine spezifische historische Entwicklungsform dieser drei Grundmomente, durch eine spezifische Konstellation derselben sowie durch eine spezifische Form der gesellschaftlichen Selbstinterpretation und – organisation (in recht-

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lichen, moralischen, politischen oder religiösen, d. h. ideologischen Formen) aus. Mit der Produktion sind die Selbsterhaltung der Individuen durch Arbeit und die Reproduktion der Gattung, beides soziale Verhältnisse, gemeint. Auch wenn sich die Marxsche Geschichtskonzeption von der idealistischen Geschichtsphilosophie unterscheidet, indem das Bewusstsein des Menschen weder als der erste, noch als der primäre, noch als ein von den anderen Faktoren unabhängiger Faktor gilt, bleibt es doch auch im materialistischen Geschichtsmodell eine relevante Größe. Das Bewusstsein des Menschen wird als ein von der physischen Beschaffenheit des Menschen und seiner Umwelt geprägtes sowie als ein sozial vermitteltes Phänomen aufgefasst. Um verständlich zu machen, weshalb dieses Bewusstsein zu einem Motor für die geschichtliche Veränderung werden kann, streicht Marx die Relevanz eines fundamentalen Faktums heraus: »die Teilung der Arbeit«. (MEW 3, 31) Die arbeitsteilige Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft ist für Marx – in Verbindung mit dem Privateigentum – einer der wichtigsten Faktoren zur Erklärung der Entfremdung des Menschen. Marx macht auf eine qualitative Differenz im Prozess der Weiterentwicklung der Arbeitsteilung aufmerksam, die erklärt, weshalb das Bewusstsein des Menschen zum kausal relevanten Faktor der geschichtlichen Veränderung wird. Sobald die Trennung von materieller und geistiger Arbeit vollzogen ist, muss dieses sich so verselbständigende Bewusstsein von der Geschichtskonzeption als eine dritte Größe zur Erklärung der geschichtlichen Veränderungen mit in Betracht gezogen werden, auch wenn es in einer materialistischen Theorie nicht als autark gelten kann. Es hängt von der spezifischen Konstellation von Produktionskraft und gesellschaftlichem Zustand ab, welche kausale Rolle das Bewusstsein im Lauf der Geschichte einnimmt. Diese spezifische Konstellation determiniert zwar nicht, welche kausale Rolle das Bewusstsein konkret einnehmen wird, grenzt aber ihren Inhalt durch strukturelle Rahmenbedingungen und funktionale Vorgaben ein. Die naturwüchsig angelegte und aus der biologischen Verfasstheit des Menschen – Marx verweist auf die Arbeitsteilung der Geschlechter in der sexuellen Reproduktion – kausal-genetisch erklärbare Teilung der Arbeit kann also,

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Marx zufolge, zugleich auch erklären, weshalb das Bewusstsein die Möglichkeit hat, sich selbst für eine autarke Größe zu halten. Dem Marxschen Geschichtsbegriff nach sind geschichtliche Ereignisse Handlungen von Menschen, die Neues im Sinne der Veränderung der Gesamtkonstellation der bürgerlichen Gesellschaft über den Generationenwechsel hinweg hervorbringen. Dabei handelt es sich also um solche Veränderungen, deren Zustandekommen man durch die drei von Marx identifizierten Momente bestimmen und erklären kann. Er entwickelt eine empirisch informierte, an historischen und naturwissenschaftlich feststellbaren Tatsachen ausgerichtete Geschichtsphilosophie, die im Sinne der oben explizierten Grundstruktur materialistisch genannt werden kann und mit der Entfremdungskonzeption sowie der Metaphysik des Gattungswesens vereinbar ist. Marx geht es bei der Entwicklung der Grundstruktur seiner Geschichtskonzeption auch um die Beantwortung der Frage, weshalb Entfremdung im Prozess der menschlichen Selbstverwirklichung ein notwendiges Zwischenstadium darstellt. Er beruft sich auf anthropologische und biologische, jedenfalls kontingente und empirisch überprüfbare Aspekte, um die in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten verbliebene Erklärungslücke in seiner Entfremdungskonzeption zu schließen. Aber gelingt es ihm dabei auch, der Kritik Stirners zu entgehen? Im Kontext seiner Abgrenzung von der idealistischen Geschichtsphilosophie findet sich eine Aussage von Marx, die als Antwort auf die fundamentale Kritik Stirners gelesen werden kann. Mit Bezug auf seine eigene Konzeption der Geschichte schreibt Marx: Übrigens löst sich in dieser Auffassung der Dinge, wie sie wirklich sind und geschehen sind (. . . ) jedes tiefsinnige philosophische Problem ganz einfach in ein empirisches Faktum auf. (MEW 3, 43)

Doch weil es um den Nachweis der Notwendigkeit der Entfremdung geht, kann Marx nicht alle Aspekte der Kritik Stirners in seine Konzeption integrieren. Marx ist deshalb darauf angewiesen, Stirners Kritik offensiv zurückzuweisen, indem er ihre Prämissen angreift. Aus diesem Grund bemüht er sich erstens um den Nachweis,

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dass Stirners Rekonstruktion der Geschichte selbst noch Ausdruck der idealistischen Geschichtsphilosophie bleibt. In ausführlichen Analysen versucht Marx zu zeigen, dass Stirner nicht in der Lage ist, die empirischen Fakten in seine Geschichtsphilosophie angemessen einzubeziehen. Stirners Theorie fällt damit sowohl unter seine eigene als auch unter die Marxsche Kritik. Zweitens greift Marx Einwände auf, die schon Feuerbach und Hess gegen Stirner vorgebracht haben. Sie betreffen dessen Kritik am Paternalismus des Substanzdenkens und des Essentialismus: Stirners Ich sei ein philosophisches Konstrukt, welches dem empirisch beschreibbaren Menschen nicht gerecht werde. (vgl. MEW 3, 222) Damit weist Marx die implizite Norm der Stirnerschen Kritik, die von ihm kritisierten Positionen seien zwangsläufig paternalistisch, zurück und weist zugleich darauf hin, dass Stirner seiner Kritik eine Norm zugrunde legt, die – als philosophische Konstruktion – sowohl empirisch unplausibel ist, als auch paternalistische Effekte erzeugt. Die Marxsche Geschichtskonzeption kann erklären, weshalb das Bewusstsein ein kausal relevanter Faktor werden und von sich glauben kann, autark zu sein. Die Gehalte, die das Bewusstsein dabei ausbildet, leiten das menschliche Handeln. Sie führen, so Marx, in der Folge zur Ausbildung sozialer Institutionen, in denen eine Vermittlung zwischen diesen ideologischen Selbstdeutungen und den wirklichen sozialen Voraussetzungen angestrebt wird. Die Marxsche Kritik an Moral, Recht und Staat als den zentralen Vermittlungsinstitutionen wird aus dieser Geschichtskonzeption heraus auf der Grundlage seiner Metaphysik des Gattungswesens verständlich. In seiner positiven Utopie verwendet Marx eine Konzeption der unmittelbaren Anerkennung von Individuen und seine Explikation der Anerkennungskonzeption als Maßstab der Kritik an Arbeitsteilung und Tausch. Deshalb neigt Marx dazu, jede Selbst- und Fremddeutung von menschlichen Individuen, in denen Menschen als Inhaber sozialer Rollen aufgefasst werden, als unzulässige Partikularisierung und Negation des menschlichen Individuums in seiner Totalität und individuellen Einzigartigkeit zu verstehen und als Symptom von Entfremdung zu deuten. In der Konsequenz muss Marx alle Institutionen und Deutungsmedien, in

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denen diese Partikularisierungen (Funktionen, soziale Rollen etc.) objektiviert werden, als Entfremdungsphänomene begreifen, die es durch Veränderung der sozialen Rahmenbedingungen aufzuheben gilt. Die Utopie der unmittelbaren, dialogischen Anerkennung passt in dieser Hinsicht genau zu seiner Geschichtskonzeption, seiner Entfremdungskonzeption und seiner Kritik an Moral, Recht und Staat. Dabei lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen, wie weit die Moralkritik von Marx geht, da auch die propositionalen Einstellungen der Anerkennung im nicht-entfremdeten Zustand evaluativnormativer Art sind (also die Einstellungen, die A und B in Bezug auf einander und auf sich in dem Marxschen Gegenentwurf einer nicht-entfremdeten Interaktion haben). Es muss deshalb auch für Marx selbst eine Art von angemessenen evaluativ-normativen Einstellungen (des Altruismus und der Liebe) geben. Die Marxsche Kritik der Moral bezöge sich, wenn meine Explikation zutrifft, dann nur auf bestimmte Formen der Moral. Setzten wir dagegen voraus, dass Marx alle evaluativ-normativen Einstellungen als Ideologie verstanden und als aufzuhebende Entfremdungsphänomene angesehen hat, dann bleibt als einzige Alternative nur noch, die Marxsche Konzeption des Gattungswesens als rein deskriptive Metaphysik zu interpretieren. So oder so bleibt die Marxsche Kritik an Moral, Recht und Staat dabei jedenfalls sachlich problematisch: Die Utopie der rational-durchsichtigen Planung aller sozialen Kooperation und die Utopie der Ausschließlichkeit unmittelbarer, altruistisch motivierter Interaktion stellen einen evaluativ-normativen Maßstab dar, den man aus philosophischer Sicht mit guten Gründen kritisieren kann. Er ist aufgrund seiner überfordernden Effekte für die Lebensform des Menschen insgesamt nicht angemessen. Kritik der politischen Ökonomie Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie wird häufig als ökonomietheoretische oder als soziologische Theorie aufgefasst. Im Folgenden geht es darum, sie als eine philosophische Konzeption zu interpretieren. Marx beginnt seine Kritik der kapita-

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listischen Gesellschaftsform mit der Analyse der Ware und der Entfaltung seiner Wertkonzeption. Als äußerer Gegenstand ist die Ware ein nützliches Ding; Marx nennt diese Nützlichkeit den Gebrauchswert der Ware. Der Gebrauchtwert ist als Relation zwischen natürlichen Eigenschaften der Dinge und den menschlichen Bedürfnissen, die von anthropologisch fundamentalen hin zu ganz individuellen Wünschen reichen können, zu verstehen. Im Kapitalismus gehören die Waren Privatpersonen, die isoliert voneinander produzieren und über den Tausch ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen. Bei diesem Tausch bilden die Gebrauchswerte »die stofflichen Träger« des Tauschwerts. Marx unterscheidet an der Ware den Gebrauchswert und den Tauschwert, wobei letzterer eine für Warentauschgesellschaften, also auch den Kapitalismus, spezifische Erscheinungsweise von Wert ist. Wert überhaupt muss in sozial und historisch konkreten Formen erscheinen, die jeweils von der konkreten gesellschaftlichen Organisationsstruktur abhängen. Der Tauschwert ist im Unterschied zum Gebrauchswert keine »natürliche Eigenschaft der Ware«. (MEW 23, 51) Er erscheint, anders als der im Konsum der Ware sich realisierende Gebrauchswert, »als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen«. (MEW 23, 50) Marx deutet die Äquivalenzgleichung (z. B. m Ware x = n Ware y) dabei so: Beide sind also gleich einem Dritten, das an und für sich weder das eine noch das andere ist. Jedes der beiden, soweit es Tauschwert, muß also auf dies Dritte reduzierbar sein. (MEW 23, 51)

Das Gemeinsame, auf das beide Waren reduzierbar sein müssen, ist ihr Wert, der Tauschwert seine auch für den Kapitalismus spezifische Erscheinungsform. Der Tauschwert wird von Marx als eine durch soziale Interaktion konstituierte Größe, also als eine soziale Relation, bestimmt. Da die Tauschenden im Tausch von den Gebrauchswerten absehen, bleibt Marx zufolge als Gemeinsames nur noch die Eigenschaft übrig, Arbeitsprodukte zu sein. Und weil in der Gleichsetzung auch von der jeweils spezifischen Tätigkeit (z. B. des Tischherstellens oder des Brotbackens) abstrahiert wird, muss dies Gemeinsame »abstrakt menschliche Arbeit«

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(MEW 23, 53) sein, die sich in den Waren vergegenständlicht hat. Die Kernthese der Werttheorie von Marx lautet, dass die Arbeit die Substanz des Wertes ist. (vgl. MEGA II.5, 19) Dieser Wert und mit ihm die vergegenständlichte abstrakte gesellschaftlich notwendige Arbeit manifestiert sich im Tausch: Sie kommt einerseits erst in den Tauschakten zur Erscheinung, bildet andererseits aber als das Identische hinter den Erscheinungen auch die Substanz, auf die sich das Gleichheitszeichen des Tauschaktes implizit bezieht. Die im Tauschakt faktisch vollzogene Reduktion von Gütern auf ihren Tauschwert und damit einhergehend, von konkreter Arbeit auf abstrakte, gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit wird von den Tauschenden allerdings nicht bewusst vollzogen, sondern ist ein philosophisches Theorem. Sie geschieht, wie Marx mehrfach zum Ausdruck bringt, hinter dem Rücken der Tauschenden. Aus philosophischer Sicht bringt die Marxsche Konzeption zwei Schwierigkeiten mit sich. Zum einen begreift er auch den Zusammenhang von abstrakter Arbeit und Tauschwert als einen Fall von Vergegenständlichung. Da Marx den Warenwert aber als soziale Größe und den Wert bzw. Tauschwert in Opposition zu den natürlichen Eigenschaften als nicht natürliche, ausschließlich gesellschaftliche Größe bestimmt, kommt ein Aspekt ins Spiel, der sich im Vergegenständlichungsmodell nicht mehr adäquat unterbringen lässt. Denn er kann mit dem Herstellungsakt nicht erschöpfend erfasst werden, sondern ist auf den sozialen Tauschakt angewiesen. Zum anderen enthält die Marxsche Konzeption eine Ontologisierung des Widerspruchs, die sich aufgrund seiner These vom Primat des Produzierens nicht eliminieren lässt, ohne zugleich einen für das Marxsche Selbstverständnis konstitutiven Aspekt der gesamten Konzeption aufzugeben. Mit dem Wegfall dieser These brächen die Marxschen Konzepte der Entfremdung, der Ideologie und damit die gesamte geschichtsphilosophische Dimension seines Denkens zusammen. Wir müssen daher die folgende Aussage wörtlich nehmen: Die Waare ist unmittelbare Einheit von Gebrauchswerth und Tauschwerth, also zweier Entgegengesetzten. Sie ist daher ein unmittelbarer Widerspruch. (MEGA II.5, 51)

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Wie zentral sie ist, sieht man daran, dass dieser unmittelbare Widerspruch, dass die Ware die unmittelbare Einheit von Gebrauchsund Tauschwert ist, den theorieimmanenten Grund für die weitere Entwicklung der Marxschen Analyse bereitstellt: Dieser Widerspruch muß sich entwickeln, sobald sie nicht wie bisher analytisch bald unter dem Gesichtspunkt des Gebrauchswerths, bald unter dem Gesichtspunkt des Tauschwerths betrachtet, sondern als ein Ganzes wirklich auf andere Waaren bezogen wird. Die wirkliche Beziehung der Waaren aufeinander ist aber ihr Austauschprozeß. (MEGA II.5, 51)

Anstatt diesen Befund zu ignorieren, bleibt nur die Möglichkeit, diese Aussagen über die Gehalte der Absichten der Tauschenden zu rekonstruieren, die sich auf die Waren als Gebrauchs- und Tauschwerte beziehen. So muss A vom Gebrauchswert seiner Ware x abstrahieren, wenn er sie B zum Tausch anbietet (und B vollzieht die gleiche Abstraktion mit Bezug auf seine Ware y). Einfach gesagt: Man kann den selbst gebackenen Kuchen nicht aufessen und zugleich zum Tausch anbieten. Damit enthält die Perspektive beider Tauschenden den Gebrauchswert als negierten und den Tauschwert als eine abstrakte Größe, die gerade durch diesen Abstraktionsakt konstituiert wird. Das Geld führt Marx in seine Theorie über eine Weiterentwicklung der als Äquivalententausch gedeuteten elementaren Tauschhandlung ein. Weil sich eine Ware im Prinzip gegen jede andere austauschen lässt, kann man eine allgemeine Wertform bilden, bei der ein bestimmtes Quantum einer bestimmten Ware auf der einen Seite der Gleichung allen anderen, mit denen sie austauschbar ist, auf der anderen Seite gegenübergestellt wird. Von hier ist es nicht mehr weit bis zur Einführung des Geldes, denn faktisch funktioniert die durch ihre exponierte Stellung ausgezeichnete Ware bereits als der universale Bezugspunkt, in dem sich der Wert bzw. Tauschwert aller anderen Waren ausdrücken lässt. Marx hat selbst klar gesehen, dass die für seine Theorie entscheidenden Prämissen nicht in seiner Bestimmung des Geldes, sondern in seiner Analyse der Ware und der Wertform liegen. Trotzdem kann man an dem Prozess der gesellschaftlichen ›Verwachsung‹ einer Ware zur Geldform einen

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entscheidenden Gedankengang illustrieren, den Marx als den Fetischcharakter der Ware bezeichnet. Durch »gesellschaftliche Gewohnheit« (MEW 23, 84) bekommt eine spezifische Ware, nehmen wir Gold, die Eigenschaft, allgemeines Äquivalent aller Waren zu sein. Diese Eigenschaft ist, im Gegensatz zum Gebrauchswertcharakter, eine soziale oder »übersinnliche«. Gleichwohl kommt sie den Agenten vor wie eine naturwüchsige Eigenschaft des Goldes. Sie durchschauen nicht, dass die Eigenschaft, als Geld zu fungieren, keine intrinsische Eigenschaft des Goldes, sondern eine soziale Tatsache ist. Da sich das Spezifische des Geldes zurückführen lässt auf die Besonderheiten der Warenform, transferiert Marx diesen Sachverhalt der Fetischisierung auf den Doppelcharakter der Ware und im zweiten Schritt dann weiter auf den sich in der Ware vergegenständlichenden Doppelcharakter der Arbeit als konkrete und abstrakte gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit. Es ist dieser letzte Punkt, den Marx mit »Fetischismus« bezeichnet: soziale Relationen zwischen Produzenten erscheinen als Relationen zwischen Waren, allgemein gesprochen, als Relationen zwischen Sachen oder Dingen. Diese Verdinglichung des Sozialen ist es, die Marx als spezifischen Charakter der Warenproduktion als »Privatarbeiten« (MEW 23, 87) und damit auch der kapitalistischen Gesellschaftsformation herausstreicht. So fügt sich auch dieses Theorem in seine Analyse der entfremdeten Vergegenständlichung des Gattungswesens unter kapitalistischen Bedingungen ein: Im Kapitalismus ist das Gattungswesen des Menschen, von Marx bestimmt als die Fähigkeit der gesellschaftlichen Produktion, erst im Markt des Warentausches realisiert. Die Produktion der Ware selbst ist Privatsache, das Produkt Privateigentum, die Absicht des Produzierens die eigene Bedürfnisbefriedigung: Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehn, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. (MEW 23, 99)

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Dies ist die gleiche Struktur, die er schon in den Mill-Exzerpten und den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten herausgearbeitet hatte. Der Fetischcharakter der Ware bzw. des Warenaustauschs besteht darin, dass Dingen und sachlichen Verhältnissen wie Warenaustauschprozessen Eigenschaften als natürliche zugesprochen werden, obwohl sie eigentlich soziale Relationen sind. Der Fetischcharakter der Ware wird von Marx letztlich dem Feuerbachschen Projektionsmodell nachgebildet und auf der Basis der Vergegenständlichungs- und Entfremdungstheorie als Selbstverlust des Gattungswesens Mensch, den dieser sich im Kapitalismus selbst zufügt, gedeutet. Es kann daher auch nicht verwundern, dass Marx zur Illustration dieses Punktes selbst an die Feuerbachsche Religionskritik und damit an die Thematik seiner eigenen Frühschriften erinnert: Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. (MEW 23, 86 f.)

Damit Geld zu Kapital werden kann, muss in einer Gesellschaft neben Arbeitsteilung und Privateigentum als dritte Vorbedingung Lohnarbeit existieren. Denn während im einfachen Warentausch Geld nur als Zwischenstation zwischen den Waren fungiert, dreht sich das Verhältnis beim Kapital um: Ein Kapitalist verfügt über eine bestimmte Menge an Geld, setzt diese ein, indem er Waren kauft oder gegen Lohn produzieren lässt, um sie dann mit Gewinn zu verkaufen. Schematisch hat diese Zirkulation die Struktur: Geld – Ware – Geld, wobei sich der Geldbetrag nach der Zirkulation erhöht hat. Waren werden nicht um ihrer Gebrauchswerte willen produziert und auch nicht um der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern allein zu dem Zweck, durch ihren Verkauf ein Mehr an Geld zu erzielen, welches dann in der nächsten Runde wieder zur Kapitalvermehrung eingesetzt werden kann. Auch hier

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finden wir die Denkfigur, dass die Entfremdung in einer ZweckMittel-Verkehrung besteht, wieder: Tauschwert wird zum Ziel, Gebrauchswert zum Mittel. Marx stellt diesen Prozess als einen Systemzusammenhang dar, bei dem das Kapital als »automatisches Subjekt« (MEW 23, 169) fungiert: der Kapitalismus als System sorgt für die Weiterexistenz seiner eigenen Randbedingungen und damit für sein eigenes Fortbestehen. Die eigentlich dem Menschen zukommenden Eigenschaften autonomer Selbstbestimmung und Selbstzweckhaftigkeit, dies der Kern der evaluativen philosophischen Anthropologie von Marx, ist an das Kapital entäußert und entfremdet, welches als System diese Eigenschaften in entfremdeter, verdinglicht-verdinglichender und mechanisch-automatischer Weise realisiert. Die sozialen Strukturen von Privateigentum an Produktionsmitteln und Lohnarbeit werden auf diese Weise verfestigt und die für den Kapitalismus notwendige Gesellschaftsformation, wenn sie denn einmal in Gang gekommen ist, wird durch das System selbst zementiert. Damit wird, in Marx Worten, der sich verwertende Wert (. . .) das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. (MEW 23, 169)

Das Kapital ist, so kann man den Marxschen Gedankengang explizit machen, die vollständige Entäußerung des Gattungswesens Mensch als eines sich selbst produzierenden, sich selbst frei bestimmenden und sich selbst zum Zwecke habenden gesellschaftlichen Wesens. Als diese Entäußerung der eigentlichen Gattungskräfte des Menschen hat das Kapital die quasi-subjektiven Strukturen eines »automatischen Subjekts« und zeichnet sich durch die für die Entfremdung typischen Zweck-Mittel-Verkehrungen aus. Es entspricht in dieser Gesamtstruktur dem Gott der religionskritischen Projektionstheorie Ludwig Feuerbachs, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Marx in diesen Projektionen nicht nur subjektive psychische Fehler sieht, sondern komplexe und sich stabilisierende soziale Verhältnisse.

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Der Kapitalist produziert nicht um der Gebrauchswerte und Bedürfnisse willen; der Lohnarbeiter arbeitet nicht zur Selbstverwirklichung von sich, für die Verwirklichung der Gattung oder die Bedürfnisbefriedigung anderer Menschen, sondern nur zur bloßen Sicherung der eigenen Existenz. Der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang ist nicht Ausdruck der freien Selbstbestimmung des Gattungswesens, sondern ein anonymer Verdinglichungs- und Sachzusammenhang, in dem die individuelle und die Freiheit bzw. Selbstbestimmung der Gattung den Dingen und ihren Konstellationen unterworfen werden. Dies ist die Marxsche Charakterisierung des synchronen, in seiner Gegenwart vorfindlichen Entwicklungszustands des Gattungswesens als universal entfremdete Existenz. Zugleich begreift Marx sie als eine historisch notwendige Stufe auf dem Gang der Selbstrealisierung des Gattungswesens durch den historischen Prozess der Entfremdung hindurch. Die Marxsche Analyse verbindet damit die systemische Analyse des Kapitalismus mit einer geschichtsphilosophischen Konstruktion. Letztere dient ihm als die zentrale Ressource für seine Bemühungen, die Notwendigkeit der Selbstdestabilisierung des Kapitalismus und die Irreduzibilität des ihm immanenten Selbstzerstörungspotentials aufzuweisen. Dies zeigt sich beispielsweise in der Marxschen Krisentheorie oder seinem Theorem des tendenziellen Falls der Profitrate. Damit komme ich abschließend noch kurz auf den Mehrwert zu sprechen. Wenn das Ziel der kapitalistischen Zirkulation darin besteht, aus Geld durch Warenproduktion und – zirkulation mehr Geld zu machen, Geld aber nichts anderes ist als die Erscheinungsform von Wert, dann muss dieser Mehrwert an irgend einer Stelle erzeugt werden. Da es im Kapitalismus nicht um die Gebrauchswerte, sondern nur um die Tauschwerte geht, kann dieser, unter Voraussetzung der Marxschen Arbeitswertlehre, nur als Vergegenständlichung der abstrakten Arbeit geschaffen werden. Das Spezifische, was der Kapitalist einsetzen muss, um Mehrwert zu produzieren, muss Marx zufolge daher die menschliche Arbeitskraft sein. Damit diese als Mehrwert dem Kapitalisten zufließt, muss sie in Form der einkaufbaren Ware in den Zirkulationsprozess eingehen.

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Daher ist der Kapitalismus im Marxschen Modell ohne Lohnarbeit nicht möglich. Die Arbeitskraft schafft Wert, indem sie sich in Waren vergegenständlicht. Unter den Bedingungen des Kapitalismus hat sie für den Lohnarbeiter selbst und für den auf die Existenz von Lohnarbeit angewiesenen Kapitalisten einen Wert, dessen Größe von Marx als die zur Selbsterhaltung des Arbeiters notwendige Arbeitszeit definiert wird. (vgl. MEW 23, 185) Der Mehrwert entsteht also dadurch, dass der Kapitalist eine Differenz ausnutzt: Der Arbeiter erhält für seine Arbeit ein bestimmtes Quantum Tauschwert (Geld), welches ausreicht, damit er sein Überleben und den Erhalt der Arbeitskraft sicherstellen kann. Faktisch muss der Arbeiter für diesen Lohn aber mehr Arbeit leisten, als er für den Erhalt seiner Arbeitskraft benötigen würde. Der Kapitalist tauscht also die Arbeitskraft gegen einen bestimmten Tauschwert ein, lässt die so erhaltene Ware Arbeitskraft dann aber länger aktiv sein, sodass die Arbeit ein größeres Quantum an Wert produziert. Dies ist der Mehrwert, der sich im Gewinn des Kapitalisten niederschlägt, wenn es ihm gelingt, die in seinem Auftrag produzierten Waren zu verkaufen.

III. Wirkung Versteht man unter der Wirkung eines philosophischen Werkes seine Auswirkungen auf gesellschaftliche und historische Prozesse, so gibt es wohl nur wenige Philosophen, deren Werk mit dem von Karl Marx vergleichbar wäre. Nicht nur die allesamt als gescheitert einzustufenden Versuche, auf der Grundlage seiner Theorie eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen, in der die Entfremdung des Menschen endgültig überwunden ist, zählen in dieser Hinsicht als Wirkung seines Werkes. Auch die sozialstaatlichen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts, mittels derer die schlimmsten Exzesse eines uneingeschränkten (liberalen oder neo-liberalen) Kapitalismus eingedämmt werden sollen, lassen sich als Reaktion auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie verstehen. Denn diese Kritik und das praktisch-politische Engagement von Marx gehören unbestreitbar zu den wichtigsten Quellen der Arbeiter- und Ge-

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werkschaftsbewegung sowie der Sozialdemokratie (zumindest bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein). Versteht man unter der Wirkung eines philosophischen Werkes dagegen die von ihm ausgehenden fachwissenschaftlichen Denkanstöße sowie seine traditions- oder schulbildende Kraft, dann ist es schwieriger, die Wirkung des Marxschen Denkens zu bestimmen. Neben der biografischen Tatsache, dass Marx der Weg einer akademischen Karriere als Philosoph aufgrund politischer Verfolgungen versperrt war, lassen sich für diese Schwierigkeit drei Gründe anführen: Erstens sind einige der Marxschen Grundannahmen überaus erfolgreich in unser alltägliches Weltbild eingezogen. Dass die realen sozialen Lebensbedingungen unser Handeln und Weltverständnis auf grundlegende und vielfältige Weise prägen, ist eine Grundeinsicht von Marx, die heute unbestritten zum Überzeugungshaushalt der Philosophie, der anderen Wissenschaften und des Common Sense gehört. Vergleichbar wohl nur mit dem Fall der Freudschen Psychoanalyse ist der Marxismus auf diese Weise in vielen Hinsichten derart tief in unser alltägliches Weltbild eingedrungen, dass dies nicht mehr als Wirkung einer philosophischen Theorie wahrgenommen wird. Zweitens haben das antiphilosophische Selbstverständnis von Marx sowie die seinem Denken inhärente Tendenz zu empirischen Gesellschaftswissenschaften und zur Ökonomie dazu geführt, dass sein Werk in anderen Disziplinen als der Philosophie Wirkung entfalten konnte. Viele dieser Weiterentwicklungen z. B. in der Soziologie, der Ethnologie oder auch der Ökonomie knüpfen an den antiphilosophischen Gestus des Marxschen Selbstverständnisses an und übersehen oder ignorieren dabei die philosophischen Gehalte seines Denkens. Erschwerend kommt bei dieser Transformation der Marxsche Anspruch, normatives Denken prinzipiell überwunden zu haben, als verstärkender Faktor für eine szientistische oder positivistische Weiterentwicklung hinzu. Der Versuch, eine marxistische Theorie der Ökonomie zu entwickeln, der schon mit Lenin, Luxemburg oder Hilferding zu Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen hat, ist für diese Rezeptionsform paradigmatisch. Der dritte und wichtigste Grund für die Schwierigkeiten, eine rein philosophische Wirkung des Marxschen Denkens zu identifizieren, liegt darin, dass seine Theorie im zwan-

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zigsten Jahrhundert zu einer Legitimationstheorie für politische Systeme degeneriert worden ist, die sich selbst als real existierender Sozialismus verstanden haben. Dabei wird der Marxismus-Leninismus als eine wissenschaftliche Weltanschauung begriffen. Man beansprucht einerseits, die einzig legitime Nachfolgerin bzw. Weiterentwicklung der Marxschen Theorie zu sein. Dabei werden allerdings die genuin philosophischen Züge seiner Theorie, durchaus im Anschluss an manche der Denkmotive von Marx selbst, durch einen sich selbst als neuen Wissenschaftstyp verstehenden Dialektischen Materialismus ersetzt (andere Varianten dieser Entwicklung findet man z. B. im Maoismus). Andererseits verbindet sich mit dieser Auslegung von Marx der Anspruch auf die Legitimation bestehender diktatorischer Systeme, sodass die Frage der Marxinterpretation zugleich immer auch eine Frage der Parteiraison oder der Systemkritik gewesen ist. Eine primär an den philosophischen Fragen orientierte Beschäftigung mit Marx lässt sich angesichts der mit diesem Autor unterschwellig stets verbundenen Stellungnahme zu den sozialistischen Gesellschaftssystemen bis heute nur schwer realisieren. Bedeutende philosophische Strömungen, die eine ihrer Wurzeln im Marxismus haben, wie z. B. die Kritische Theorie der Frankfurter Schule oder die Praxisphilosophie der Budapester Schule, haben ihre Deutung des Marxschen Werkes immer auch mit politischen Zielsetzungen und im Lichte eigener politischer Verortungen entwickelt. Darüber hinaus teilen sie zumeist die Marxsche Grundüberzeugung, der Marxismus selbst sei keine Form der Philosophie mehr. So setzt sich der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Austro-Marxismus, der sich durch die Abgrenzung zum orthodoxen Marxismus definiert, nicht in erster Linie mit den philosophischen Grundlagen von Marx auseinander, sondern versucht, die positivistischen und immoralistischen Züge seines Denkens durch Hinzufügung einer von Kant inspirierten Moralphilosophie zu kompensieren. Auch das Interesse an Marx, welches sich in den letzten drei Jahrzehnten im Kontext der gegenwärtigen analytischen Philosophie entwickelt und z. B. in den Untersuchungen von Gerald A. Cohen, Jon Elster oder John Roemer manifestiert hat, ist gekennzeichnet durch eine starke Orientierung an den Gesellschaftswissenschaften oder

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der Ökonomie. Gepaart wird dies mit der Ignoranz gegenüber den idealistisch-dialektischen Wurzeln des Marxschen Denkens, welches durch das wissenschaftstheoretische Arsenal, den methodologischen Individualismus und die atomistische Ontologie der szientistisch orientierten analytischen Philosophie ersetzt wird. Ein ähnlicher Effekt lässt sich in der strukturalistischen Marxinterpretation von Louis Althusser beobachten, der ebenfalls die philosophische Dimension des Marxschen Denkens, die sich seinem Linkshegelianismus verdankt, eliminiert. Der Unterschied gegenüber dem analytischen Marxismus besteht einzig darin, dass nicht die analytische Philosophie, sondern der Strukturalismus als (dem Marxschen Denken externe) Bezugsgröße gewählt wird. Verallgemeinernd lässt sich festhalten, dass die Weiterentwicklungen des Marxismus, ob sie auf neue politische Umstände reagieren, wie der Eurokommunismus der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, oder auf ein politisches Unbehagen einzelner Intellektueller wie Antonio Gramsci in Italien oder Jean Paul Sartre in Frankreich zurückgehen, nur zu geringen Teilen einer philosophischen Auseinandersetzung entsprungen sind. So gesehen ergibt sich die Möglichkeit für eine von parteipolitischen Zwängen unverstellte Sichtung und Bestandsaufnahme der Marxschen Philosophie erst heute. Versteht man darüber hinaus die Globalisierung als einen Prozess, durch den allererst die Bedingungen der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie hergestellt werden, für die sie Gültigkeit beansprucht hat, dann scheint die Zeit seiner Philosophie gerade erst anzubrechen. Zumindest spricht einiges für die Annahme, dass das Marxsche Denken angesichts der gesellschaftlichen und technischen Umbrüche zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneut in der Lage sein wird, sein kritisches Potential zu entfalten. Dieser Vermutung gehen jedenfalls die kritischen Interventionen nach, die den zweiten Teil dieses Buches bilden.

TEIL II KRITISCHE INTERVENTIONEN

Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt, ist die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen. Karl Marx

Ein Reiseführer durch Das Kapital

Lieber Freund, Vorigen Mittwoch reiste ich von London ab, per steamer, und erreichte unter Sturm und Ungewitter Hamburg Freitag nachmittags, um dort das Manuskript des ersten Bandes Herrn Meißner zu überliefern. Der Druck hat bereits Anfang dieser Woche begonnen, sodaß der erste Band Ende Mai erscheinen wird. Das ganze Werk erscheint in 3 Bänden. Der Titel ist: »Das Kapital. Kritik der Politischen Oekonomie«. Der erste Band umfaßt das Erste Buch: »Der Produktionsprozeß des Kapitals«. Es ist sicher das furchtbarste Missile, das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist. Es ist nun wichtig, daß Ihr in der Presse, d. h. den Blättern, die Euch zu Gebot stehn, aufmerksam macht auf das baldige Erscheinen. Karl Marx an Johann Philipp Becker (am 17. April 1867 aus Hamburg)

Das Hauptwerk von Karl Marx erschien erstmals vor 150 Jahren; es stellt den ersten Band seines Programms einer »Kritik der politischen Ökonomie« dar und ist dem »Produktionsprozess des Kapitals« gewidmet. Marx selbst konnte zu seinen Lebzeiten noch die zweite Auflage dieses ersten Bandes realisieren und verschiedene Übersetzungen selbst anfertigen oder begleiten. Der zweite und der dritte Band seines Forschungsprogramms wurden posthum von Friedrich Engels herausgegeben; gleiches gilt für die dritte und vierte Auflage des ersten Bandes, von denen letztere in der deutschsprachigen Marxrezeption kanonisch geworden ist und auch in diesem Beitrag verwendet wird. Dieser Beitrag soll Kurzreisenden einige der zentralen Gedanken präsentieren und in Form kurzer Erläuterungen zugänglich machen. Angesichts der Komplexität und des Reichtums der Marxschen Theorie kann ich hier nur eine Auswahl bieten. Deshalb

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seien die beiden Auswahlkriterien genannt, die diesem Reiseführer zugrunde liegen: (1.) Präsentiert werden zentrale Theoriebausteine, nicht die in Das Kapital zahlreich zu findenden, glänzend geschriebenen Darstellungen historischer Umstände. Erstere, nicht letztere, machen die Aktualität der Marxschen Analyse aus und sind ohne Erläuterungen nur schwer verständlich. (2.) Karl Marx hat sein Forschungsprogramm als Kritik der politischen Ökonomie verstanden; sie ist eine kritische Sozialphilosophie und keine ökonomische Theorie (im Sinne einer empirischen Einzelwissenschaft). Entgegen einem bis heute weit verbreiteten Missverständnis gilt es, den genuin philosophischen Charakter der Marxschen Konzeption zu erkennen und anzuerkennen. Das Denken von Karl Marx ist als kritische Gesellschaftstheorie nach wie vor aktuell und sollte nicht als ökonomische Theorie des 19. Jahrhunderts ins Museum der heute überholten Ideen gestellt werden.

I. Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag. (MEW 23, 16)

Schon im Vorwort zur ersten Auflage bemüht sich Marx vorbeugend darum, seine Konzeption vor Missverständnissen zu schützen. Hier weist er darauf hin, dass es ihm weder um eine moralische Kritik des Kapitalismus geht, noch die Zuschreibung moralischer Schuld an einzelne Individuen beabsichtigt ist. Gegenstand ist vielmehr die strukturelle Analyse der Funktionsweise, der Leistungsstärke, aber auch der Leistungsgrenze eines ganz bestimmten ökonomischen Systems: des Kapitalismus. Es geht nicht um indi-

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viduelle Personen und deren individuelle Absichten, sondern um sozial-funktional definierte Rollen, die den Individuen in diesem System zukommen. Diese Bemerkung des Vorworts wirft Fragen auf, welche die Auslegung der Konzeption von Marx bis heute beschäftigen: Hat seine Kritik des Kapitalismus überhaupt keine moralische Dimension? Was ist damit gemeint, dass historische Prozesse als naturgeschichtlich begriffen werden? Vertritt Marx einen geschichtsphilosophischen Determinismus, in dem ökonomische Strukturen einen alternativlosen Entwicklungspfad festlegen, welchen man nur theoretisch erläutern und prognostizieren kann? Tragen Menschen in den Augen von Marx für ihr Handeln, für ihr Engagement oder für ihre Passivität moralisch keinerlei Verantwortung? Und schließlich: Erübrigt sich, wenn es diese naturgeschichtliche Determination gibt, nicht jede Theorie politischer Aktion? Mit anderen Worten: Wie soll unter diesen Voraussetzungen gesellschaftskritisches oder gar revolutionäres Engagement begründet und gedacht werden können?

II. Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun. Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle. (MEW 23, 27)

Auch im Nachwort, im Januar 1873 der zweiten Auflage seines Werkes beigefügt, beklagt Marx sich über die Missverständnisse, die sein Buch hervorgerufen hat: »Die im ›Kapital‹ angewandte

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Methode ist wenig verstanden worden«. (MEW 23, 25) Er versucht Abhilfe zu schaffen und weist auf zwei Punkte hin, die sachlich eng zusammenhängen. Auf der einen Seite gibt es die Darstellungsweise, die er in seiner Konzeption gewählt hat, um die Struktur des Kapitalismus als ein sich selbst ausdifferenzierendes und selbst stabilisierendes System (allerdings mit internen Destabilisierungstendenzen) als »innres Band« entfalten zu können. Davon zu unterscheiden ist auf der anderen Seite die Darstellung der historischen Prozesse, durch die sich diese Struktur als dominante »Gesellschaftsformation« etabliert hat. Damit steht für den Leser eine bei der Lektüre des Buches nicht immer leicht zu beantwortende Interpretationsfrage im Raum: Bewegt sich die Marxsche Argumentation an einer bestimmten Stelle auf der Ebene der strukturellen (und begrifflichen) Entfaltung oder wird ein historischer Prozess mit den Mitteln empirischer Daten dargestellt? Marx möchte hier offensichtlich das Missverständnis ausräumen, er betreibe in seinem Buch eine ahistorische Kategorienlehre und habe nicht die realen sozialen Prozesse zum Ausgangspunkt seiner Konzeption genommen. Mit dieser von Marx vorgenommenen Unterscheidung ist ein Problem verbunden, welches die Forschung bis heute nicht endgültig hat lösen können: Wie verhält sich die von Marx gewählte Methode zu der von Hegel, einem Hauptvertreter des Deutschen Idealismus? Marx hat Hegel Zeit seines Lebens nicht nur als das letzte Wort der Philosophie anerkannt, sondern sich auch mehrfach »offen als Schüler jenes großen Denkers« (MEW 23, 27) bekannt. Die Ausführungen von Marx sind jedoch nicht frei von Unklarheiten: Auf der einen Seite findet sich die Aussage, er habe Hegels Methode in transformierter Form übernommen. Gleichzeitig spricht er aber auch davon, er »kokettierte« (MEW 23, 27) nur gelegentlich mit Hegels Ausdrucksweise. Während ersteres für einen theoriekonstitutiven Einfluss der Hegelschen Philosophie spricht, legt letzteres einen nur äußerlichen Bezug nahe. Die Bemerkung im Nachwort, seine Methode sei das direkte Gegenteil der Hegelschen, stützt die erstere Lesart, denn ein direktes Gegenteil lässt sich nicht unabhängig von der Position definieren, deren Gegenteil sie ist. Hegel hat den Anspruch erhoben,

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alle empirischen Sachverhalte in sein philosophisches System als Aspekte einer Selbstentfaltung der Idee zu integrieren. Vor diesem Hintergrund wird der Hinweis von Marx, seine eigene Theorie könne den Anschein erwecken, eine »Konstruktion a priori« zu sein, verständlich: Auf der Ebene der Darstellung gibt es eine Entsprechung zu Hegel. In der Frage aber, wo die eigentlichen Triebfedern der historischen Prozesse zu suchen sind, vertritt Marx die gegenteilige These: Nicht die Idee produziert das Materielle, sondern das Ideelle ist abhängiger Ausdruck der realen materiellen Prozesse. Anders gesagt: Auf der Ebene der Organisation der Theorie (= Darstellung) gibt es zwischen der Hegelschen und der Marxschen Dialektik einen konstitutiven Zusammenhang. Auf der Ebene der materialen Thesen dagegen vertritt Marx das genaue Gegenteil der Hegelschen Position. Es liegt auf der Hand, dass Marx mit dieser komplexen Konstellation bei seinen Lesern bis heute ein erhebliches Maß an Irritation und Verwirrung gestiftet hat.

III. Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹ [Anm. ausgelassen, MQ], die einzelne Ware als seine Elementarform. (MEW 23, 49)

Mit diesem Satz eröffnet Marx Das Kapital. Unscheinbar, fast lapidar formuliert verführt er die Leser dazu, seine drei zentralen Botschaften zu übersehen: Es geht erstens von Anfang an um die kapitalistische Gesellschaftsformation, auch wenn die Analyse bei der einzelnen Ware ihren Anfang nimmt. Einzelne Waren gibt es auch außerhalb dieser spezifischen Gesellschaftsformation, aber in der Marxschen Analyse wird der Kontext des Kapitalismus an keiner Stelle verlassen. Mit der Rede von Elementarform spielt Marx zweitens auf sein Verfahren an, aus den einfachsten Formen die Komplexität des Gesamtsystems zu entwickeln. Zugleich deutet er durch die Verwendung von »Form« aber an, dass es um Entwick-

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lung und nicht um die Reduktion eines Ganzen auf die Summe von unabhängig existierenden Atomen und deren Zusammenspiel geht. Marx ist durchgehend der Analysand eines Gesamtsystems, auch wenn er sich die kleinsten Formen anschaut, in denen dieses System angelegt ist. Drittens wählt Marx ganz gezielt die Relation »erscheint«, die im direkten Bezug zum »innern Band« und der Hegelschen Dialektik zu lesen ist. Die Marxsche Konzeption ist über das gesamte Buch hinweg mittels der Denkfigur des Innenund-Außen, des Gegensatzes von Wesen und Erscheinung, organisiert. Die philosophische Modellierung dieser Denkfigur ist einer der zentralen Orte, an denen seine Transformation der Hegelschen Dialektik vonstattengeht. Sie ist zugleich ein Beleg dafür, dass das Marxsche Theorieprogramm einer Kritik der politischen Ökonomie philosophischer und nicht einzelwissenschaftlicher Natur ist. Es geht darum, adäquate »Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse« (MEW 23, 559) zu entwickeln und im Kopf zu behalten, »daß in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrt darstellen«. (MEW 23, 559)

IV. Es kommt damit zum Vorschein, daß die Wertgegenständlichkeit der Waren, weil sie das bloß ›gesellschaftliche Dasein‹ dieser Dinge ist, auch nur durch ihre allseitige gesellschaftliche Beziehung ausgedrückt werden kann, ihre Wertform ihre gesellschaftlich gültige Form sein muß. (MEW 23, 81)

Marx unterscheidet zwischen dem Gebrauchswert, den eine Ware hat, weil sie ein (für mich) nützliches Ding ist, und ihrem Wert, der eine intersubjektive Geltungsdimension darstellt und damit eine gesellschaftliche Beziehung. In kapitalistischen Gesellschaften liegt dieser Wert in einer seiner möglichen Ausprägungen als Tauschwert vor. Die Marxsche Analyse des Kapitalismus ist eine Explikation dieses Gefüges sozialer Relationen; der Motor sowohl der begrifflichen Entwicklung seiner Theorie als auch der sozialen Veränderungen entspringt Marx zufolge aus den widersprüchlichen Verhältnissen, welche dieses Relationsgefüge im Kapitalismus ange-

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nommen hat. Der doppelte Sinn seines Programms ist gewollt: die politische Ökonomie steht für die ökonomischen Verhältnisse und für ideologische Theorien über diese Verhältnisse. Beide werden von Marx einer Kritik unterzogen.

V. Die Gleichheit der menschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte, endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Arbeiten betätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte. Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. [. . . ] Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. [. . . ] Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. (MEW 23, 86 f.)

Wenn Wert in der sozialen Form des Tauschwerts realisiert wird, werden Äquivalente ausgetauscht: Drei Stunden Backarbeit, die sich in 50 Broten vergegenständlicht, werden mit zwei Stunden Tischlerarbeit, die sich in einem Stuhl vergegenständlicht, gleichgesetzt, indem 50 Brote gegen einen Stuhl getauscht werden. Der Tausch ist, so die Marxsche Grundannahme, möglich, weil auf beiden Seiten ein Identisches steht – menschliche Arbeit (in unterschiedlicher Form als Bäcker- und Tischlerarbeit). Hierin manifestiert sich die fundamentale Sozialität des Menschen, der als Arbeiter an einem universalen Gattungsvermögen partizipiert. In einer kapitalistisch organisierten Gesellschaftsformation erscheint diese

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Gattungsnatur des Menschen jedoch in einer mehrfach verkehrten Form. Für die tauschenden Warenbesitzer erscheint ihre eigene soziale Natur nur indirekt als Eigenschaft der Waren. Der Tauschwert wird nicht als soziale Gestaltung der gemeinsamen menschlichen Arbeitskraft verstanden, sondern als dingliche Eigenschaft der Waren als materielle Einzeldinge wahrgenommen. In Tauschbeziehungen können die sozialen Strukturen von den Tauschenden nicht direkt als soziale Interaktionen verstanden werden. Sie begreifen die sozialen Verhältnisse, die sich in der Tauschwertrelation manifestieren, vielmehr als Relationen, die durch die Eigenschaften der Waren als materielle Dinge in den Tauschaktionen erst entstehen. In der Marxschen Theorie ist der Tauschwert eine genuin soziale Relation, in der Wahrnehmung der Beteiligten eine abhängige Größe, die sich aus der Konstellation von Eigenschaften, die den Waren als materielle Einzeldinge zukommen, auf dem Markt ergibt. Das grundlegende soziale Verhältnis wird, wie Marx an späterer Stelle schreibt, »in sein Gegenteil verkehrt«. (MEW 23, 559) Im Verlauf seiner Analyse führt er anhand der Beispiele Arbeitsteilung und kapitalistische Planung komplexer Produktionsabläufe aus, wie dieses »Gattungsvermögen« (MEW 23, 349) des Menschen als Konstellation von Dingen erscheint und nur unter der Fremdbestimmung des Kapitalisten entwickelt wird, anstatt als soziale Natur des Menschen direkt unter seiner autonomen Kontrolle zu stehen. Die Verkehrungen, in denen Soziales als geheimnisvolle Macht von materiellen Einzeldingen wahrgenommen wird, nennt Marx Fetischismus. Er ist ein unaufhebbares Merkmal jeder warentauschenden, und damit auch der kapitalistischen Gesellschaftsformation.

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VI. Was nur für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig ist, daß nämlich der spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte annimmt, erscheint, vor wie nach jener Entdeckung, den in den Verhältnissen der Warenproduktion Befangenen ebenso endgültig, als daß die wissenschaftliche Zersetzung der Luft in ihre Elemente die Luftform als eine physikalische Körperform fortbestehen läßt. (MEW 23, 88)

Die Kritik der politischen Ökonomie kann diese Verkehrungen theoretisch explizieren. Doch weil sich die verzerrte Wahrnehmung durch die Tauschhandlungen für die Akteure stets auf Neue erzeugt, reicht eine theoretische Enthüllung nicht aus, um den Fetischismus und die mit ihm einhergehenden negativen Effekte zu beseitigen. Hierzu bedarf es der Umgestaltung der sozialen Strukturen, aus denen sich die Interpretationen der in ihnen agierenden Handelnden ergeben. In Anlehnung an die berühmte elfte These gesagt: Es reicht nicht aus, die Welt neu zu interpretieren oder, wie es heute gerne heißt, zu dekonstruieren.

VII. In der Tat befestigt sich der Wertcharakter der Arbeitsprodukte erst durch ihre Betätigung als Wertgrößen. Die letzteren wechseln beständig, unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden. Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren. (MEW 23, 89)

Ein bis heute besonders prägnanter Effekt dieses Fetischismus, durch den soziale Relationen als Eigenschaften der Sachkonstellationen erscheinen, besteht darin, dass die Rolle von Ursache und Wirkung sowie die Rolle von kontrollierenden und kontrollierten Effekten auf den Kopf gestellt ist. Dort wo die Menschen durch soziale Ordnungen, die man verändern kann, kontrolliert und ge-

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zwungen werden, nehmen sie dies als Sachzwänge wahr, zu denen es keine Alternativen gibt. An die Stelle von gestaltbaren sozialen Ordnungen treten die nicht beherrschbaren Effekte der uns kontrollierenden Dinge. Die Gesellschaft erscheint als eine abhängige Variable ökonomischer Konstellationen und Tatsachen, nicht als eine gestaltbare und rational organisierbare Größe, die ökonomische Konstellationen modifizieren und kontrollieren kann.

VIII. Die Zirkulation sprengt die zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken des Produktenaustausches ebendadurch, daß sie die hier vorhandne unmittelbare Identität zwischen dem Austausch des eignen und dem Eintausch des fremden Arbeitsprodukts in den Gegensatz von Verkauf und Kauf spaltet. Daß die selbständig einander gegenübertretenden Prozesse eine innere Einheit bilden, heißt ebensosehr, daß ihre innere Einheit sich in äußeren Gegensätzen bewegt. Geht die äußerliche Verselbständigung der innerlich Unselbständigen, weil einander ergänzenden, bis zu einem gewissen Punkt fort, so macht sich die Einheit gewaltsam geltend durch eine – Krise. Der der Ware immanente Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, von Privatarbeit, die sich zugleich als unmittelbar gesellschaftlichie Arbeit darstellen muß, von besondrer konkreter Arbeit, die zugleich nur als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, von Personifizierung der Sache und Versachlichung der Personen – dieser immanente Widerspruch erhält in den Gegensätzen der Warenmetamorphose seine entwickelten Bewegungsformen. Diese Formen schließen daher die Möglichkeit, aber auch nur die Möglichkeit der Krisen ein. Die Entwicklung dieser Möglichkeit zur Wirklichkeit erfordert einen ganzen Umkreis von Verhältnissen, die vom Standpunkt der einfachen Warenzirkulation noch gar nicht existieren. (MEW 23, 127f.)

Das soziale Wesen des Menschen wird in der kapitalistischen Gesellschaftsformation über die Konstellation der Waren und in Form rational nicht geplanter Sachzwänge des Marktgeschehens realisiert. Die dem Tausch zugrunde liegende innere Einheit eines allgemeinen Gattungsvermögens ist in der Erscheinung in den Gegensatz isolierter individueller Interessen und Handlungen zerrissen. Dies

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ist nach Marx der mit den Mitteln der Denkfigur von Wesen und Erscheinung philosophisch erläuterbare Grund für die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Für ihn greift eine rein ökonomische Krisentheorie, die sich nicht auf die Ebene von Wesen, Erscheinung und fetischisierender Verkehrung einlässt, zu kurz. Sein Projekt einer Kritik der politischen Ökonomie ist daher genuin philosophisch: Kritik einer bestimmten Gesellschaftsformation (des Kapitalismus) und Kritik einer zu kurz greifenden einzelwissenschaftlichen Analyse (politische Ökonomie).

IX. Die einfache Warenzirkulation – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos. (MEW 23, 167)

Die Tauschhandlung ist die Grundlage des Kapitalismus. An ihr lässt sich der Fetischismus mit seinen sich stets aufs Neue reproduzierenden Verkehrungen philosophisch aufweisen. In seiner kapitalistischen Form gewinnt der Warentausch neue Qualitäten, die Marx mit den Kategorien des Selbstzwecks und der Maßlosigkeit charakterisiert. Sein Grundgedanke lautet: Während zwei Warenbesitzer Waren tauschen, um sie in letzter Instanz als Gebrauchswerte zu verwenden, dreht sich im Kapitalismus die Lage um. Der Kapitalist produziert Waren, um durch deren Verkauf mehr Tauschwert zu erzielen. Er investiert, um am Ende mehr Geld zu haben. Ihm geht es nicht um die Waren und deren Gebrauchswert, sondern allein um den Tauschwert. Stellt man diesen Prozess aus der Perspektive des Kapitals (als vergegenständlichter Tauschwert) dar, so lässt sich das Kapital (in einer bestimmten Menge) auf die Produktion und den Tausch von Waren als Gebrauchswerten ein, um am Ende wieder als Kapital (in einer größeren Menge) zu existieren. Das Kapital reproduziert sich in diesem Prozess selbst und sein Ziel

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ist die rein quantitative Zunahme. Da es nicht auf Gebrauchswerte und damit auch nicht auf die Bedürfnisse der Menschen als Zweck ausgerichtet ist, hat es kein externes Maß. Für sich gelassen wächst es um des Wachstums willen an.

X. Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z. B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den andren kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses. (MEW 23, 189 f.)

Bei der Analyse des Fetischismus hatte Marx darauf hingewiesen, dass sich im Bewusstsein der Akteure, die sich in diesen sozialen Strukturen bewegen, ein bestimmtes Verständnis der Situation einstellt. Dies gilt auch für das normative Selbstverständnis von Warenbesitzern, deren Grundspielregel der freiwillige Tausch von Äquivalenten auf Grundlage individueller Entscheidungen ist. Für diese soziale Konstellation sind die Normen von Freiheit und Gleichheit sowie die sozialen Institutionen des Privateigentums und des Rechts konstitutiv. Mit der Anspielung auf den Philosophen Jeremy Bentham greift Marx die Maßlosigkeit wieder auf: Im Utilitarismus Benthams ist die Quantität der alleinige Maßstab des Guten.

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Marx hat die von ihm hier genannten Normen nicht für das letzte Wort gehalten, das eine philosophische Ethik auf die Frage nach einem guten Leben zu geben hat. Eine moralische Kritik des Kapitalismus, die sich auf die Forderungen von Freiheit, Gleichheit und Eigentum beschränkt, kann die Wurzel des Übels jedoch nicht erfassen. Denn diese Forderungen sind selbst die verkehrten Ausdrucksformen der im Kapitalismus stets aufs Neue erzeugten sozialen Relationen. Auf die beiden Anschlussfragen, ob Marx denn überhaupt eine normative Kritik im Sinn hatte, und wenn ja, wie diese auszusehen hätte, gibt uns sein Werk jedoch keine klare Antwort.

XI. Der Wert der Arbeitskraft und ihre Verwertung im Arbeitsprozeß sind also zwei verschiedne Größen. Diese Wertdifferenz hatte der Kapitalist im Auge, als er die Arbeitskraft kaufte. Garn oder Stiefel zu machen, war nur eine conditio sine qua non, weil Arbeit in nützlicher Form verausgabt werden muß, um Wert zu bilden. Was aber entschied, war der spezifische Gebrauchswert dieser Ware, Quelle von Wert zu sein und von mehr Wert, als sie selbst hat. [. . . ] Der Umstand, daß die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, daß daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist als ihr eigner Tageswert, ist ein besondres Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer. (MEW 23, 208)

Eine Antwort auf unsere Fragen lässt sich allerdings klar geben: Die Kritik der politischen Ökonomie von Marx ist keine Gerechtigkeitstheorie. Der Grund für die Inadäquatheit des Kapitalismus liegt nicht in einer Ausbeutung, die durch den Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip zustande kommt. In Rahmen der Binnenlogik des normativen Geflechts von Freiheit, Gleichheit und Eigentum geht alles mit rechten Dingen zu. Wenn man diese Gesellschaftsformation aus ethischer Sicht kritisieren will, muss man andere ethische Normen und Werte als Maßstab heranziehen. Diese aber legt Marx in seiner Kritik nicht offen.

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Stattdessen ist er den anderen Weg gegangen, den er schon im Vorwort zur ersten Auflage angedeutet hat: Er setzt darauf, dass seine Theorie die immanenten Destabilisierungstendenzen des Kapitalismus richtig identifiziert hat. Vermutlich wollte er damit der Arbeiterbewegung eine Anleitung geben, um die Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen. Marx war davon überzeugt, dass es zur Monopolbildung kommen muss und diese »zur Fessel der Produktionsweise [wird], die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.« (MEW 23, 790f.) Der Kapitalismus hat sich bis heute als äußerst überlebensfähig erwiesen. Das sollte uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er – global gesehen – nichts von seinen entfremdenden und inhumanen Auswirkungen eingebüßt hat. Es ist an der Zeit, das Vertrauen auf einen geschichtsphilosophischen Automatismus aufzugeben. Wir sollten vielmehr auf die Bereitschaft der Menschen setzen, sich auf der Grundlage ethischer Werte und Normen politisch für eine bessere Welt zu engagieren. Das ist mit dem Marxschen Projekt einer Kritik der politischen Ökonomie gut vereinbar. Dies auszugestalten, hat er allerdings uns Nachgeborenen überlassen.

Karl Marx: ein Theoretiker der Gerechtigkeit?

Das Kapital feierte seine Orgien. Karl Marx

Hätte Karl Marx, könnten wir ihn heute fragen, den globalisierten Kapitalismus als eine zutiefst ungerechte Weltordnung bezeichnet? Ganz sicher. Hätte Karl Marx, auf die gegenwärtige Lage in Deutschland angesprochen, der Einschätzung zugestimmt, sie sei dem Wesen und der Würde des Menschen unangemessen? Auch das können wir ohne Zweifel bejahen. Aber hätte Karl Marx seine eigene Theorie, die er in seinem Hauptwerk Das Kapital »Kritik der politischen Ökonomie«, so der Untertitel seines vor 150 Jahren erstmals veröffentlichten Buches, nennt, als eine Theorie der Gerechtigkeit bezeichnet? Diese Frage können wir ebenso sicher verneinen. Marx selbst hat sich stets dagegen gewehrt, den Kapitalismus mittels moralischer Kategorien zu kritisieren. Er hielt eine solche moralische Kritik nicht nur politisch für macht- und wirkungslos. Er war auch der Meinung, dass die Grundlagen der modernen Moral nur Ausdruck der entfremdeten kapitalistischen Gesellschaftsform sind. So heißt es im Kapital an einer prominenten Stelle: Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z. B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. (MEW 23, 189f.)

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Autorinnen und Autoren, dies gilt auch für Philosophen, können sich hinsichtlich ihres eigenen Werkes täuschen. Möglicherweise befand sich Marx im Irrtum über den Status seiner eigenen Theorie. Unbestreitbar finden sich in seiner Kapitalismuskritik zahlreiche moralische Urteile über die Inhumanität des Kapitalismus seiner Zeit. Der beißende Sarkasmus, mit dem er diese unmenschlichen Zustände schildert, ist nicht nur ein propagandistisches Stilmittel. Marx und seine Familie waren selbst unmittelbar von den sozialen Auswirkungen der neuen Gesellschaftsordnung betroffen. Hinter seinem Sarkasmus steckt selbstverständlich auch eine tiefe Empörung. Könnte es sein, dass Das Kapital eine Gerechtigkeitstheorie ist, obwohl sein Verfasser dies selbst nicht so gesehen hat? Ich bin davon überzeugt, dass die Marxsche Kritik eine unverzichtbare ethische Dimension hat, die sich nicht nur auf der Ebene der politischen Rhetorik bewegt, sondern ein wesentlicher Teil der Theorie ist. Dennoch hat Marx Recht: seine Analyse des Kapitalismus ist keine Gerechtigkeitstheorie. Jeder Versuch, seine Kritik des Kapitalismus politisch als Gerechtigkeitstheorie zu aktualisieren oder ökonomietheoretisch auf eine Krisentheorie zu reduzieren, greift sogar entscheidend zu kurz. Meines Erachtens werden dem Marxschen Denken damit die kritischen Potentiale geraubt, die es bis heute ungebrochen auszeichnen. Im Folgenden werde ich meine Gründe für diese Einschätzung darstellen. Dazu muss ich zuerst kurz auf den Begriff der Gerechtigkeit eingehen, da dessen Vieldeutigkeit eine Quelle der Verwirrungen ist (I.). Danach werde ich die Kernidee der Marxschen Analyse des Kapitalismus ›in a nutshell‹ darstellen (II.). Abschließend kann ich der Frage nachgehen, ob man diese Kritik der politischen Ökonomie als Gerechtigkeitstheorie auffassen sollte (III.).

I. Der Begriff der Gerechtigkeit ist ein zentrales Element unserer ethischen Praxis und nahezu aller Ethiken. Wir loben in unserem Alltag eine Entscheidung oder eine Person als gerecht, kritisieren bestehende Zustände oder Regeln als ungerecht. Schon Aristoteles

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hat drei Formen von Gerechtigkeit unterschieden. Dies kann man anhand des jeweils verwendeten Maßstabs tun: Die kommutative Gerechtigkeit legen wir beim Tausch oder beim Vertragsabschluss zugrunde. Hier gilt der Maßstab der Gleichheit bzw. der Äquivalenz des Getauschten. Distributive Gerechtigkeit fordert dagegen, Ungleiches in der Hinsicht und dem Umfang seiner Ungleichheit gleich zu behandeln. Einfacher formuliert: Wenn A von einem Gut X doppelt so viel benötigt wie B, dann ist es gerecht, wenn A zweimal so viel von X erhält als B (also z. B. doppelt so viele Kalorien als Tagesration). Dies gilt auch für Leistungen: Wenn A doppelt so leistungsstark ist wie B, dann ist es gerecht, A doppelt so stark zu belohnen wie B. Der politischen Forderung »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!«, welche die ungleiche Bezahlung der Arbeitsleistung von Frauen und Männern kritisiert, liegt diese Vorstellung von Gerechtigkeit zugrunde. Marx ruft in seiner Charakterisierung der »Sphäre der Zirkulation« diese beiden Formen der Gerechtigkeit ab. Fordert man dagegen eine Umverteilung des Reichtums, geht man über die distributive Gerechtigkeit hinaus: Wenn eine Gesellschaft Leistungsstärkere z. B. durch Steuern mehr belastet als Leistungsschwächere, dann kombiniert sie Gesichtspunkte der Verteilung und der Umverteilung. Wir setzen dabei über die Gerechtigkeit hinausgehende Normen von Solidarität und Chancengleichheit voraus. Solche Gesichtspunkte spielen in der Marxschen Charakterisierung keine Rolle, weil in diesem Garten »Eden« jeder nur an sich selbst denkt. Eine dritte Art der Gerechtigkeit ist die retributive; sie ist immer dann einschlägig, wenn es um die Behebung eines begangenen Unrechts geht. Hier gilt ein Prinzip der Äquivalenz von verursachtem Unrecht und ausgesprochener Strafe (z. B. von Schaden und Schadensersatz). Da Marx in der Sphäre der Zirkulation keinen Gerechtigkeitsverstoß entdeckt, sondern ihr im Gegenteil zuspricht, die Umsetzung der »angebornen Menschenrechte« zu sein, ist diese Gerechtigkeitsart ebenfalls nicht relevant. Neben diesen drei von der Philosophie unterschiedenen Arten der Gerechtigkeit finden wir im Alltag eine weitere Verwendung des Wortes »gerecht«. Wenn wir sagen, jemand werde einer Person oder einer Leistung nicht gerecht, dann meinen wir damit häufig,

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eine Person oder eine Leistung werde nicht angemessen gewürdigt. Die Vorstellung der Angemessenheit beruht auf der stillschweigenden Annahme, eine Sache habe eine innere, intrinsische Natur, der es gerecht zu werden gilt. Wenn wir beispielsweise von einem ›wahren‹ Freund oder einem ›wirklichen‹ Akt der Solidarität sprechen, dann leitet uns die Vorstellung, in diesem Fall sei das Wesen der Freundschaft oder die Natur der Solidarität angemessen realisiert worden. Die Vorstellung, man müsse dem Wesen einer Sache gerecht werden, finden wir ebenfalls schon bei Aristoteles. Aber sie wird von ihm nicht als Unterart der Gerechtigkeit aufgefasst. Er versteht sie vielmehr als umfassenden Rahmen, in den die unterschiedlichen ethischen Prinzipien, zu denen auch die Gerechtigkeit zählt, einzuordnen sind. Das philosophische Denken von Marx steht in dieser aristotelischen Tradition. Seine Kritik des Kapitalismus lässt sich, so meine These, als Kritik an einer dem Menschen unangemessenen Lebensform rekonstruieren. Als Analyse des systematisch scheiternden Lebens ist diese Kritik zutiefst ethisch geprägt. Aber sie ist keine Gerechtigkeitstheorie, sondern eine philosophische Anthropologie, die Karl Marx mittels der Kategorien der Anerkennung, der Entfremdung und des menschlichen Gattungswesens entfaltet hat.

II. Um zu sehen, dass die Kritik der politischen Ökonomie im Kern keine Gerechtigkeitstheorie ist, müssen wir uns die Kernidee der Marxschen Kritik am Kapitalismus vergegenwärtigen. Das Ziel der kapitalistischen Zirkulation besteht darin, aus Geld durch Warenproduktion und -zirkulation mehr Geld zu machen. Es geht nicht um den Nutzen der Produkte (der qualitative Gesichtspunkt), sondern darum, diese Produkte als Waren auf dem Markt zu verkaufen. Das Ziel besteht darin, am Ende mehr Geld aus dem Prozess herauszuziehen, als man vorher in ihn investiert hat (der quantitative Gesichtspunkt). Häufig ist dies nur möglich, indem man Produkte anbietet, die für den Käufer einen Nutzen haben. Aber letzterer ist

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nicht das eigentliche Ziel des Verkaufs, was man an zwei Tatsachen erkennen kann: Zum einen hätte kein Kapitalist ein Problem damit nutzlose Dinge zu produzieren, solange garantiert ist, dass sich diese verkaufen lassen. Zum anderen wird er alles dafür tun, dass die potentiellen Käufer ein Bedürfnis nach den von ihm angebotenen Produkten entwickeln. Geld bestimmt Marx in seiner Theorie als Erscheinungsform von Wert; deshalb muss der quantitative Zuwachs von Wert, Marx spricht von Mehrwert, irgendwo herkommen. Der Kapitalismus ist kein Nullsummenspiel, sondern intrinsisch auf Wachstum ausgelegt. Stillstand ist daher für diese Gesellschaftsordnung bereits eine Krise. Im Kapitalismus geht es nicht um die Gebrauchswerte (die Nützlichkeit der Produkte), sondern ausschließlich um die Tauschwerte. Tauschwert kann, dies ist eine zentrale Annahme der Marxschen Theorie, nur durch menschliche Arbeit geschaffen werden. Das Spezifische, was der Kapitalist einsetzen muss, um Mehrwert zu produzieren, kann daher nur die menschliche Arbeitskraft sein. Damit diese als Mehrwert dem Kapitalisten zufließt, muss sie in Form der einkaufbaren Ware in den Zirkulationsprozess eingehen. Der Kapitalismus ist im Marxschen Modell ohne Lohnarbeit nicht möglich. Die Arbeitskraft schafft Wert, indem sie sich in Waren vergegenständlicht (das ist der spezifische Gebrauchswert der menschlichen Arbeitskraft). Unter den Bedingungen des Kapitalismus hat sie für den Lohnarbeiter einen Tauschwert. Dessen Größe bestimmt Marx als die zur Selbsterhaltung des Arbeiters notwendige Arbeitszeit. Der Mehrwert entsteht, indem der Kapitalist folgende Differenz ausnutzt: Der Arbeiter erhält für seine Arbeit ein bestimmtes Quantum Tauschwert (Lohn), welches ausreicht, damit er sein Überleben und den Erhalt der Arbeitskraft sicherstellen kann (das Niveau, welches als »Überleben« gilt, ist dabei von sozialen und historischen Faktoren abhängig). Faktisch muss der Arbeiter für diesen Lohn jedoch mehr Arbeit leisten, als er für den Erhalt seiner Arbeitskraft benötigen würde. Um die Größe dieser Mehrarbeit drehen sich dann, wie Marx in seiner Analyse im achten Kapitel des Kapital herausarbeitet, die sozialen Kämpfe um die Länge des Arbeitstags. Der Kapitalist tauscht die Arbeitskraft gegen einen

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bestimmten Tauschwert ein, lässt die so erhaltene Ware Arbeitskraft dann aber länger aktiv sein, sodass die Arbeit ein größeres Quantum an Wert produziert. Dies ist der Mehrwert, der sich im Gewinn des Kapitalisten niederschlägt, wenn es ihm gelingt, die in seinem Auftrag produzierten Waren zu verkaufen. Wenn Marx, wie in unserem Eingangszitat belegt, den Warentausch als Paradies der Menschenrechte bezeichnet, dann unterlegt er das Modell der kommutativen und der distributiven Gerechtigkeit. So betrachtet ist an dem Tausch Arbeitskraft gegen Lohn nichts Ungerechtes: Jeder Vertragspartner (Lohnarbeiter sind als Rechtssubjekte frei und gleichberechtigt) erhält das Äquivalent und kann das erhaltene Gut dann zu seinen Zwecken einsetzen. Dass der Kapitalist den Gebrauchswert der Arbeitskraft des Arbeiters dazu verwendet, Mehrwert zu erzeugen, ist gerechtigkeitstheoretisch nicht zu beanstanden.

III. Die Tatschen der Ungerechtigkeit der bestehenden globalen Weltwirtschaftsordnung und der zunehmenden sozialen Ungleichheit innerhalb der reichen Gesellschaften sind mit nachvollziehbaren Gründen nicht zu bestreiten. Deshalb liegt es nahe, die Marxsche Kritik des Kapitalismus gerechtigkeitstheoretisch zu deuten. Wir haben jedoch soeben gesehen, dass Lohnarbeit sowie die Erzeugung und Verteilung von Mehrwert aus Sicht der kommutativen und distributiven Gerechtigkeit im Rahmen der Marxschen Analyse nicht zu beanstanden sind. Fragen wir uns also, ob Marx mit seiner Arbeitswertlehre eine erweiterte Konzeption der Gerechtigkeit vertritt. In der Rezeption des Marxschen Denkens ist ein zentraler Punkt seiner Kritik der politischen Ökonomie darin gesehen worden, dass der Kapitalismus systematisch gegen die Bedingungen distributiver Gerechtigkeit verstoßen müsse, und zwar zwingend zu Lasten der Arbeiter. Marx hat in der Tat keinen Hehl daraus gemacht, dass die gesellschaftliche Formation des Kapitalismus für die Proletarier den maximalen Verlust an Möglichkeiten, ein gutes oder

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gelingendes Leben zu führen, bedeutet. Der in der Geschichte der Menschheit bisher unerreichten Menge an Reichtum steht die systematische Verelendung der Proletarier gegenüber. Sie werden, dies gilt für seine Zeit, aber auch heute noch in den unterentwickelten Ländern, auf ihr bloßes Überleben und damit auf ihre rein animalischen Funktionen reduziert und so um ihre Humanität betrogen. Da der Tauschwert der Arbeitskraft für den Arbeiter Marx zufolge gerade darin besteht, das Überleben zu sichern, wird das dem Arbeitsverhältnis zugrundeliegende Bedürfnis des Arbeiters jedoch respektiert. Es gibt also keinen Grund, die Abschöpfung des Mehrwerts durch den Kapitalisten als einen Verstoß gegen das in der Marxschen Analyse der Tauschhandlung wirksame Gleichheitsprinzip zu deuten. Es gibt eine massive, auch in der Gegenwart weiter zunehmende Ungleichverteilung des Mehrwerts. Dies ist im Rahmen der Marxschen Analyse jedoch gerechtigkeitstheoretisch nicht zu kritisieren. Überlegungen wie die von mir soeben vorgetragene sind nicht unwidersprochen geblieben. So wird häufig eingewandt, die obige Argumentation sei zu eng am singulären Tauschakt ausgerichtet. Die Vorbedingungen für einen gerechten Tausch seien aufgrund der systematisch verzerrten sozialen Positionen von Kapitalist und Arbeiter nicht gegeben. Dieser Einschätzung hat Marx zugestimmt, daraus aber nicht den Schluss gezogen, der freie Tausch müsse als Einstiegsbedingung garantiert werden. Vielmehr fordert er, dass die Produktionsverhältnisse grundlegend zu ändern sind, nicht die Verteilungsverhältnisse. Die dem Vertragsmodell eingeschriebene Vorstellung formaler Rechtsgleichheit galt Marx als Ausdruck einer dem Menschen unangemessenen Lebensform, die mit der Aufhebung der Entfremdung verschwinden werde. Er hat im Recht nicht den unverzichtbaren Rahmen für individuelle Freiheit gesehen. Der Kapitalismus ist für ihn auch deshalb »ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte«, weil letztere in den Augen von Marx nur der ideologische Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind. Mit ihnen lässt sich der Kapitalismus nicht grundlegend kritisieren. Der Philosoph Allen E. Buchanan wirft solchen Entgegnungen wie der von mir gerade vorgebrachten vor, von einem verengten

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Konzept der Gerechtigkeit auszugehen und lediglich den Aspekt der Verteilung im Blick zu haben. Seiner Auffassung nach haben Rechtsansprüche in Form fundamentaler Menschenrechte gegenüber bloßen Gesichtspunkten der Wohlfahrt immer Vorrang. Dabei sei es unerheblich, ob es sich um soziale Wohlfahrt oder das individuelle Wohl des Rechteinhabers handelt. Bedenkt man die fundamentale Kritik von Marx an solchen Moralkonzeptionen, dann erweist sich Buchanans Analyse als unangemessene Interpretation der Marxschen Theorie. Dies bestätigt sich exemplarisch in der Marxschen Kritik des Gothaer Programms der Sozialdemokratie: Das »gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn.« (MEW 19, 21)

Diese Aussage gilt nicht nur für juridische Rechte, sondern für jedes formal-prozedurale und in diesem abstrakten Sinne rechtsförmige Normensystem, also auch für jede Gerechtigkeitstheorie. Die ethische Alternative von Marx sieht dagegen so aus: In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter der Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! (MEW 19, 21)

Buchanan steht dieser Überlegung von Marx und der damit zum Ausdruck gebrachten Position kritisch gegenüber. Er formuliert folgenden Einwand: Marx gehe von der begründeten Aussage, dass das Recht für die Individuen im Kapitalismus wert- und sinnvoll sei, zu der systematisch wesentlich stärkeren Aussage über, dass

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es nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Formation wert- und sinnvoll sei. Für diesen Übergang bringe Marx jedoch keine Gründe vor; und diese stärkere Aussage ist, so muss man die eigene Theorie Buchanans wohl verstehen, ethisch problematisch. Damit ist ein systematisch höchst relevanter Punkt angesprochen. Wir haben im letzten Jahrhundert lernen müssen, dass der Verzicht auf einen Rechtsstaat oder die unkontrollierte Beschränkung individueller Freiheiten einen extremen Verlust an individueller Freiheit und der Möglichkeit der individuellen Lebensführung bedeutet. Auch die gegenwärtigen Entwicklungen in Polen, EU-Mitglied, oder in der Türkei, unserem außenpolitischen Bündnispartner, belegen schmerzhaft die Relevanz des von Buchanan formulierten Einwands. Mit Blick auf die faktisch nicht zu leugnenden ökologischen Probleme der Welt, die weit über die Feinstaubbelastung in deutschen Städten hinausgeht, breitet sich in der kritischen Öffentlichkeit die Neigung aus, auch massive Einschränkungen der individuellen Lebensführung von Menschen für ethisch vertretbar zu halten. Historische Erfahrungen und solche gegenwärtigen politischen Entwicklungen sollten uns davor warnen, die Institution des Rechts, die Geltung individueller Freiheitsrechte oder die Möglichkeiten individueller Lebensführung über Gebühr einzuschränken. Doch die Texte von Marx belegen ebenso zweifelsfrei, dass er selbst auf einen Standpunkt jenseits des Rechts und der rein individuell und ahistorisch konzipierten Menschenrechte abzielt. Die Argumentationslücke, die Buchanan in der Kritik des Gothaer Programms aufzeigt, wird im Marxschen Denken an anderer Stelle durch eine ethisch gehaltvolle Konzeption der menschlichen Natur geschlossen. Die Basis der von Karl Marx vorgelegten und bis heute aktuellen Kapitalismuskritik liegt in einer philosophischen Anthropologie, die implizit die Grundzüge einer Ethik des für Menschen angemessenen Lebens enthält. Sie verleiht der Marxschen Kritik ihre bis heute ungebrochene Kraft und reicht weit über Gesichtspunkte der Gerechtigkeit hinaus. Sie bleibt auch dann noch gültig, wenn es dem Kapitalismus gelänge, eine faire Verteilung des produzierten Mehrwerts zu organisieren. Die egoistische Ausrichtung der Lebensführung des Menschen, die sich im Tausch und der Wa-

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renproduktion realisiert, macht Karl Marx zufolge das prinzipielle Defizit unserer gegenwärtigen Gesellschaftsordnung aus. Es zu beheben braucht eine wesentlich grundsätzlichere Umgestaltung unserer Lebensführung als sie im Rahmen und mit den Mitteln einer Gerechtigkeitstheorie überhaupt formulierbar wäre. Wir haben heute, soweit wir aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt haben, sehr gute Gründe, diese grundlegende Umgestaltung nicht auf dem Fundament einer generellen Ablehnung von Menschenrechten oder der Rechtstaatlichkeit zu begründen. Die dann erforderliche Integration einer Gerechtigkeitstheorie in den Rahmen des Marxschen Denkens wird allerdings ohne größere Revisionen seiner Gesamtkonzeption nicht zu leisten sein. Die Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx steht nicht auf einer gerechtigkeitstheoretischen Basis. Den ethischen Gehalt seines Denkens können wir mittels der Anerkennungstheorie, die der Marxschen Konzeption des gegenständlichen Gattungswesens eingeschrieben ist, entfalten. Wie und in welchem Maße sich dabei gerechtigkeitstheoretische Aspekte einbauen lassen, werden wir ohne die Hilfe von Karl Marx herausfinden müssen. Es ist deshalb unsere Aufgabe, Marx nicht nur zu interpretieren.

Zur Kenntlichkeit verzerrt! Reflexionen zur Alptraumstruktur der Kapitalismuskritik von Karl Marx

Es ist als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und allen andern wirklichen Thieren, die gruppirt die verschiednen Geschlechter, Arten, Unterarten, Familien u. s. w. des Thierreichs bilden, auch noch das Thier existirte, die individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs. Karl Marx

I.

Einleitung

»Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹.« (MEW 23, 49) Mit dieser Aussage beginnt das Buch, welches Karl Marx 1867 unter dem Titel Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie veröffentlicht hat. Für uns Nachgeborene, denen Türme von Waren in Shoppingmalls, Verkaufssendungen im Fernsehen oder Rund um die Uhr zugängliche Internetlieferdienste allgegenwärtig sind, klingt dieser Satz trivial. Der geschilderte Sachverhalt scheint vertraut und alltäglich. Erst später, wenn der Leser Karl Marx durch die ersten beiden Abschnitte seiner Kritik der politischen Ökonomie gefolgt ist, offenbart sich, dass die Vertrautheit trügt und all dies eine Erscheinung von etwas Anderem ist, das sich hinter der bunten Oberfläche vollzieht. Die Analyse, die Marx in seinem Buch entfaltet, nimmt unbestreitbar auf viele empirische Befunde und vielfach auf einzelwissenschaftliche Erkenntnisse oder Theorien Bezug. Reduziert man sie jedoch auf ein konventionelles Bild von Wissenschaft, entgehen wesentliche Aspekte.

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In dieser Intervention werde ich auf ein häufig unterschätztes Moment der Marxschen Theorie eingehen und eine Spur verfolgen, die uns Aufschluss über Funktionsweise und Stoßrichtung der Marxschen Kapitalismuskritik geben kann. Ich meine das Metaphernfeld, welches die Entwicklung des Kategorienapparats durchzieht, mittels dessen Marx seine Kritik der politischen Ökonomie organisiert. Die, oder besser gesagt: unsere Wirklichkeit des Kapitalismus wird darin als verrückte Erscheinung demaskiert. Die Wurzeln dieses gesellschaftlichen Arrangements werden an die Oberfläche gebracht, die Inhumanität dieser gesellschaftlichen Lebensform, deren gemeinsamen Kern Marx als kapitalistische Produktionsweise identifiziert, wird – einem Alptraum nicht unähnlich – zur Kenntlichkeit verzerrt. Geht man dieser Alptraumstruktur der Argumentation im Kapital nach, stößt man zuletzt auf philosophische Grundlagen, die der junge Marx 1844 in seiner Entfremdungskonzeption entfaltet hat. Sie tragen einen Großteil der normativen Kraft auch seiner späteren Analyse.

II. Die Ware und ihre Warensprache Die Kritik der politischen Ökonomie ist ein aufklärerisches Projekt. Durch die Entfaltung seiner zentralen philosophisch-ökonomischen Kategorien entwickelt Karl Marx ein analytisches Bild unserer gesellschaftlichen Lebensform, die den beteiligten Akteuren selbst nur in verschleierter und verzerrter Form erscheint. Ähnlich den Protagonisten in Kafkas Roman Das Schloß, die bei genauerer Lektüre keine sind, versuchen die Menschen – so Marx – »den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern«, um so »hinter das Geheimnis ihres eigenen gesellschaftlichen Produkts zu kommen«. (MEW 23, 16) Und analog zum Protagonisten im Prozess versuchen die Menschen den Sinn des ihnen Widerfahrenden als Schuldzusammenhang zu verstehen. Karl Marx bietet seinem Leser an, den Schleier der Erscheinungen zu durchbrechen, indem sie lernen, die Sprache der Waren zu verstehen. Damit will er »die Ahnung, daß die Geldform des Dings ihm selbst äußerlich und bloße Erscheinungsform da-

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hinter versteckter menschlicher Verhältnisse« (MEW 23, 105) ist, auf den Begriff bringen. 1. Die Waren als Akteure und die Warensprache Das bloß atomistische Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produktionsprozeß und daher die von ihrer Kontrolle und ihrem bewußten individuellen Tun unabhängige, sachliche Gestalt ihrer eignen Produktionsverhältnisse erscheinen zunächst darin, daß ihre Arbeitsprodukte allgemein die Warenform annehmen. (MEW 23, 108)

Natürlich weiß Marx, dass die Waren »nicht selbst zu Markte gehen und sich nicht selbst austauschen« (MEW 23, 99) können. Dennoch redet er von der »Warenwelt« (MEW 23, 77) und der »Warensprache« (MEW 23, 66), auch wenn er den Leser auf die invers-allegorische Struktur seiner Analyse hinweist, die insgesamt in der Klammer des »Könnten die Waren sprechen . . .« (MEW 23, 97) steht. In dieser Warenwelt treten die Waren selbst als Akteure auf und gehen, »zunächst unvergoldet, unverzuckert, wie der Kamm ihnen gewachsen ist, in den Austauschprozeß ein«. (MEW 23, 119) Aus ihren wechselseitigen Beziehungen geht dann später auch das Kapital als eine komplexe Verwirklichung dieser sich in den sachlichen Verhältnissen realisierenden Warennatur hervor. Marx unterläuft, anders als von manchen Kritikern behauptet, an dieser Stelle seiner Argumentation keineswegs ein Kategorienfehler oder eine Mystifikation. Vielmehr unterscheidet er klar zwischen der Perspektive seiner systemischen Analyse, die er den »Standpunkt des Austauschs« (MEGA II.4.1, 58) nennt, auf der einen und der Perspektive der in der Realität Handelnden auf der anderen Seite. Letztere kommt in den Blick, wenn man die Tauschhandlungen aus der Perspektive der Warenbesitzer selbst, Marx spricht von der »persönliche[n] Function« (MEGA II.4.1, 58), betrachtet. Mit seiner Darstellungsweise zielt er nicht darauf ab, das für die menschliche Lebensform konstitutive Selbstverständnis des Handelns systemtheoretisch auf bloße Funktionszusammenhänge zu reduzieren. Marx hätte ein solches Theorieideal sicher als eine un-

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zulässige Affirmation angesehen, die es – theoretisch wie praktisch – zu bekämpfen gilt. Sein Vorgehen, zwischen dem »wirklichen Arbeitsproceß« und den Vorgängen »vom Standpunkt des Verwerthungsprocesses« (MEGA II.4.1, 63) selbst betrachtet, zu unterscheiden, hat im Gegenteil eine zutiefst aufklärerische und ethische Dimension. 2. Charaktermasken und funktionale Rollen Diese Aussage mag überraschend oder gar provokativ klingen, betont Marx doch im Vorwort zur ersten Auflage seines Buches zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse (. . .): Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt (. . . ) den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag. (MEW 23, 16)

Man darf seine Analyse also nicht als moralische Anklage der in dem Prozess beteiligten Subjekte verstehen, denn diese kommen, so Marx an gleicher Stelle, in ihr nur vor, »soweit sie Personifikationen ökonomischer Kategorien sind«. (MEW 23, 16) Seine funktionalistische Betrachtungsweise – Marx spricht an späteren Stellen mit Bezug auf das antike Theater auch von »ökonomischen Charaktermasken« (MEW 23, 100; vgl. auch 91) – verzichtet im Dargestellten bewusst auf eine explizite ethische Bewertung; die Art der Darstellung bringt dagegen zum Ausdruck, dass es sich um eine entfremdete Welt handelt, die hier zur Darstellung kommt. Als Kapitalist ist der Mensch nichts Anderes als »personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital« (MEW 23, 168), als Arbeiter ist und zählt der Mensch nicht mehr denn als Instrument zur Produktion von Kapital. Das im Sprechakt Gesagte enthält sich einer Bewertung des Dargestellten; das mit dem Sprechakt Ausgesagte versteht dagegen nur, wer es als radikale Kritik an der Entfremdung und Verdinglichung begreift, die sich in unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung allgegenwärtig vollzieht. Mit dem späten Adorno ließe sich das Marxsche Verfahren auch als »Mimesis ans Verhärtete« (Adorno, 1970, S. 39) charakterisieren.

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Die Weise der Darstellung erfüllt bei Marx somit eine doppelte Funktion: sie ist adäquate Abbildung der »Personifizierung der Sache und Versachlichung der Personen« (MEW 23, 128), durch die sich die Gesellschaft in ein »System allseitiger sachlicher Abhängigkeit« (MEW 23, 122) transformiert. Zugleich aber ist sie Kritik durch Darstellung, Entzauberung eines in der Wurzel falschen Lebens, welche sich in dem instinktiven Widerstand niederschlägt, den Menschen einer solchen funktionalistisch-reduktionistischen Betrachtungsweise ihrer Handlungen und ihres Lebens entgegensetzen. Hierin liegt die Differenz sowohl gegenüber einer affirmativ in der Beschreibung verharrenden Logik der Sachzwänge als auch gegenüber einer Praktischen Philosophie, welche die bestehenden Verhältnisse von einem abstrakten moralischen Standpunkt kritisiert, dabei aber an den bestehenden ökonomischen Verhältnissen im Prinzip nichts ändern mag.

III. Das Kapital als automatisches Subjekt Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. (Benjamin, I.2, S. 693)

Marx charakterisiert in seiner Analyse das Kapital als eine Maschine bzw. als einen Automaten; das von ihm abgerufene Bild ist jedoch dem von Walter Benjamin in Erinnerung gerufenen genau entgegengesetzt. Während bei letzterem im Inneren des Automaten ein deformierter Mensch sitzt, bringt sich bei ersterem durch die Handlungen der deformierten Menschen eine Maschine zur Erscheinung. Mit diesem Verfahren bringt Marx einen zentralen Aspekt seiner kritischen Analyse zum Ausdruck: Gefangen in unserem alltäglichen Bewusstsein neigen wir dazu, nach Verschwö-

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rern und Schuldigen zu suchen, die wir zur Verantwortung ziehen können. Einer solchen kurzschlüssigen Deutung setzt Marx eine sachliche Analyse entgegen, in welcher die Systemstrukturen entschleiert werden. In Wahrheit, so hätte die Antwort von Karl Marx auf die Äußerung Walter Benjamins vermutlich gelautet, bringen sich durch die Handlungen der hässlichen Agenten des Kapitals hindurch die inhumanen Funktionen eines automatischen Systemzusammenhangs zur Geltung. 1. Maschine/Automat Aus dieser Perspektive werden zentrale Aussagen der Kritik der politischen Ökonomie von Marx verständlich: In Form des Kapitals wird Wert ein automatisches Subjekt (. . .), eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz (MEW 23, 169),

die sich in den ökonomischen Prozessen zum »Selbstzweck« (MEW 23, 150) erhebt. Zweck und Mittel sind in diesem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung vollends verkehrt, die lebendigen Subjekte zu bloßen Anhängseln des Verwertungsprozesses, der sich selbst zur Substanz und zum Subjekt entpuppt, degradiert. Dieses Kapitalsubjekt bezeichnet Marx als ein »automatisches«. Damit ruft er einen wohlbekannten Topos aus der zeitgenössischen Literatur und auch der Politischen Philosophie ab. Maschine und Automat stehen in Opposition zur Freiheit, sie haben keine eigenen Zwecke, keine Phantasie, sie verfügen nicht über und sie lassen keine Handlungsspielräume zur Ausgestaltung. Eine Gesellschaft, in denen die kapitalistische Produktionsweise zum alles durchwaltenden Prinzip geworden ist, konfrontiert die Menschen mit »einem System allseitiger sachlicher Abhängigkeit« (MEW 23, 122), welches ihnen als Geflecht von Sachzwängen begegnet, in dem und zu dem es keine Alternativen zu geben scheint. Innerhalb dieses Zusammenhangs bleiben Menschen der erscheinenden Oberfläche verhaftet, welche die wahren Zusammenhänge »sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren«. (MEW 23, 90) Die Relationen von Zweck und Mittel sowie die Rollen von Handeln-

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dem und Objekt werden verkehrt, was Marx so zum Ausdruck bringt: Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren. (MEW 23, 89)

Charlie Chaplins Modern Times lässt sich unschwer als filmische Inszenierung dieses von Marx diagnostizierten Zusammenhangs sehen. Es sind die von den Menschen durch ihr Zusammenwirken »hinter ihrem Rücken« (MEW 23, 59) erzeugten Strukturen, die ihnen als undurchschaute und unabänderliche Sachzwänge erscheinen. Die in den Romanen Franz Kafkas allgegenwärtige Platzangst der bedrohten Subjekte lässt sich problemlos als literarischer Ausdruck dieses von Marx analysierten Syndroms begreifen. 2. Vampyre und Werwölfe Nicht nur das Automatenbild ruft den Gegensatz zum Belebten ab. Gleiches gilt, wenn auch auf etwas andere Weise, von dem zweiten Anspielungshorizont, den Marx zur Darstellung des Kapitalismus aktiviert. »Das Kapital ist«, so lesen wir in seiner ausführlichen Analyse des Arbeitstags, verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt. (MEW 23, 247)

Etwas später im gleichen achten Kapitel ruft Marx das zweite Wesen aus der Mythologie auf, wenn er vom »Werwolfsheißhunger« (MEW 23, 258) des Kapitals nach Mehrarbeit spricht. Diese Fabelwesen aus dem Reich der Untoten benötigen das Blut lebender Menschen und fallen sie raubtierartig an; genauso braucht das Kapital immer wieder den Einsatz lebendiger Arbeit, um sich zu vermehren und seine Selbstrealisierung zu betreiben. Wiederholt verwendet Marx die Metapher des Einsaugens und bezeichnet die kapitalistische Produktion als »Einsaugungsprozeß« (MEGA II.4.1, 81), in dem es der toten Arbeit nur darum geht, sich

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Zur Kenntlichkeit verzerrt! das lebendige Arbeitsvermögen (. . . ) einzuverleiben und durch diese Einverleibung sich ganz zu erhalten und über ihr usprüngliches Maaß hinaus zu wachsen. (MEGA II.4.1, 78)

Werwölfe und Vampire bevölkern auch heute noch unsere Kinos oder Fernseher, die schaurige Kraft dieser mythologischen Zwittergestalten ist ungebrochen. In scharfer Opposition zu dem Geschäft mit dem Fantasy-Kitsch, der dem auf seinem sicheren Platz sitzenden Zuschauer ein wohliges Gruselgefühl vermitteln soll, bietet Marx die Inhumanität der Existenzweise von Vampiren und Werwölfen auf, um die Inhumanität der kapitalistischen Lebensform, der sich heute nahezu niemand mehr entziehen kann, zum Ausdruck zu bringen. Mit dem Gegensatz von »lebendig« und »tot« gelingt es ihm in seiner Darstellung, die beiden Bilder des Automaten und der mythologischen Wesen zusammenzuführen; durch die Redeweise von lebendiger und toter Arbeit kann er zugleich eine auch in der Ökonomie gebräuchliche Metapher, man denke an unsere Sprechweise von lebendem und totem Kapital, aktivieren. Marx bezieht sich dabei in seiner Analyse auf Kategorien zurück, die er in seinen 1844 im Pariser Exil entstandenen Studien verwendet hatte, um die erste Version seiner Kritik der politischen Ökonomie im Rahmen einer Theorie der Entfremdung zu entfalten. Die folgende, aus den Manuskripten der Jahre 1863 bis 1865 stammende Aussage stellt diesen Zusammenhang eindeutig her: Die in den Productionsmitteln bereits enthaltne Arbeit ist dieselbe wie die neu zugesetzte. Sie unterscheiden sich nur dadurch, daß die eine vergegenständlicht ist in Gebrauchswerthen und die andre im Proceß dieser Vergegenständlichung begriffen, die eine vergangen, die andre gegenwärtig, die eine todt, die andre lebendig, die eine Vergegenständlicht im Perfectum, die andre sich vergegenständlichend im Präsens ist. (MEGA II.4.1, 68)

Es lohnt sich, dieser Spur nachzugehen und die Marxsche Bestimmung der kapitalistischen Welt als eine der Verkehrungen und Verrücktheiten auf seine frühen Schriften zu beziehen.

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IV. Verkehrungen und Verrücktheiten Die erste Hälfte der 1840er Jahre war im Kreise deutscher liberaler Intellektueller durch das Vorherrschen der Kritik an Religion und Theologie einerseits sowie an den repressiven politischen Zuständen in Preußen andererseits gekennzeichnet. In dieser Zeit entwickelt Marx eine durch den damaligen Diskussionszusammenhang auf vielfache Weise geprägte philosophische Anthropologie. In ihr sollten die damaligen gesellschaftlichen Zustände als Ausdruck der menschlichen Entfremdung begriffen und kritisiert werden. Der Ursprung dieser Entfremdung, dies ist der entscheidende theoretische Schritt, den Marx damals über die anderen liberalen Hegelschüler hinausgeht, sei nicht in der Religion selbst zu suchen. Letztere lasse sich vielmehr als Symptom der Entfremdung entschlüsseln, die sich im und durch den gesellschaftlichen Pro- und Reproduktionsprozess vollziehe. Diese Neuorientierung der philosophischen Kritik am Bestehenden lässt sich so zusammenfassen: Religion ist für Marx nicht mehr die Ursache der menschlichen Entfremdung, sondern ein Symptom scheiternden Lebens. Die interne Funktionsweise des religiösen Bewusstseins, so geht sein Gedankengang weiter, entspricht der entfremdet-entfremdenden kapitalistischen Produktionsweise. Religion wird damit zum paradigmatischen Fall von Entfremdung, Religionskritik zur Allegorie für die Kritik des Kapitalismus. Aus diesen Gründen bringt Marx seine Analyse auch später im Kapital immer wieder mit Religion in Verbindung. So wird das Geld mit dem Thier der Johannes-Apokalypse assoziiert (vgl. MEW 23, 101), die innere Struktur des Kapitals anhand der Dreifaltigkeit des christlichen Gottes erläutert (vgl. MEW 23, 169) oder die im Tausch verschiedener Waren hergestellte Gleichheit durch die »Schafsnatur der Christen« illustriert, worin sich, wie Marx mit einem Schuss schwarzen Humors spöttelt, seine »Gleichheit mit dem Lamm Gottes« (MEW 23, 66) zeige. Doch die Bezüge zu den religionskritischen Denkfiguren reichen noch wesentlich tiefer in die Theoriebildung hinein: Als Gebrauchsgegenstand ist ein Tisch nach Marx

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Zur Kenntlichkeit verzerrt! ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. (MEW 23, 85)

Und die Kritik weist nach, dass eine Ware nur »auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding [ist]. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertraktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken«. (MEW 23, 85) Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, wie ein kurzer Blick auf das Marxsche Theorem der Verdinglichung zeigt. 1. Verdinglichung »All right,« said the Cat; and this time it vanished quite slowly, beginning with the end of the tail, and ending with the grin, which remained some time after the rest of it had gone. »Well! I’ve often seen a cat without a grin,« thought Alice; »but a grin without a cat! It’s the most curious thing I ever saw in my life!« (Carroll, 1998, S. 59)

In unserer alltäglichen Rede behandeln wir ein Lächeln häufig wie eine Sache mit Eigenschaften; wir sprechen beispielsweise von einem herzlichen, verkrampften oder einem verschmitzten Lächeln. Im Carrollschen Wunderland, welches Alice durchstreift, gerinnt diese grammatische Struktur zu einem buchstäblich eigenständigen Ding. Gleiches passiert uns Marx zufolge in der kapitalistischen Wirklichkeit immer dann, wenn wir soziale Verhältnisse als Naturgesetze oder soziale Relationen als natürliche Eigenschaften von Dingen missverstehen. Weil sich in der kapitalistischen Produktionsweise die soziale Interaktion der Menschen über den Tausch von Waren, also von Dingen, vollzieht, nehmen die gesellschaftlichen Verhältnisse für uns, solange wir in der Perspektive beteiligter Akteure gefangen sind, »die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen« (MEW 23, 86) an. Diese grundlegende Verkehrung findet, so Marx, nur in der »Nebelregion der religiösen Welt« (MEW 23, 86) ein Analogon. Er nennt sie »den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden« (MEW 23, 86), und stellt damit den Bezug zum religiösen Fetisch her, dem als natürlichem Gegenstand göttliche Eigenschaften oder Kräfte zugesprochen werden. Diese verding-

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lichende Verkehrung bringt das Kapital als automatisches Subjekt hervor, das sich selbst an die Stelle der Menschen setzt und diese zu seinen Gehilfen degradiert oder gar zu einem bloßen Rohstoff reduziert (was sich dann ideologisch in Redeweisen wie denen vom »Spielermaterial« oder auch dem »human capital« niederschlägt). 2. Zweck-Mittel-Verkehrungen Durch die Verdinglichung als einer spezifischen Form scheiternder Vergegenständlichung menschlicher Handlungen erscheint die Welt des Kapitalismus in der kritischen Analyse als seltsam verrückt. Die in dieser Welt waltende Entfremdung vollzieht sich in der überall feststellbaren Verkehrung von Zwecken und Mitteln. In der kapitalistischen Produktion geht es nicht um die Gebrauchswerte, die zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse hergestellt werden. Menschliche Bedürfnisse und Neigungen dienen nur dazu, einen sich zum Selbstzweck versteinernden Tauschzusammenhang unentwegt in Gang zu halten, in dem sich das Geld in Form des Kapitals zum einzigen Ziel wird. Marx wird nicht müde, immer wieder diesen einen Punkt zu betonen: In der gesellschaftlichen Organisationsform des Kapitalismus werden die menschlichen Zwecke zu bloßen Mitteln derjenigen Mittel und Instrumente, die eigentlich dazu dienen sollten, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Zugleich schafft sich diese verkehrte Welt ein mit ihrem System verträgliches normatives Selbstbild, innerhalb dessen die sachlichen Verhältnisse fixiert und die ihnen eingeschriebene Inhumanität deshalb nicht mehr an der Wurzel erfasst werden kann. Marx nimmt an dieser Stelle im Kapital zentrale Denkmotive seiner 1844 veröffentlichten Kritik an den »angebornen Menschenrechte[n]« wieder auf: »Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham«. (MEW 23, 189) Dieser Zug im Marxschen Denken gehört zum problematischen Teil seines philosophischen Erbes; zumindest kann er leicht missverstanden werden. Er hat nicht nur in der Marxorthodoxie des 20. Jahrhunderts dazu geführt, die genuin ethische Dimension der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zugunsten der Verheißungen einer rein wissenschaftlichen Weltanschauung zu überse-

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hen oder zu verdrängen. Praktisch hatte die Verbannung des Normativen im real existierenden Sozialismus maßgeblichen Anteil daran, dass wesentliche Grundrechte der Menschen massiv missachtet werden konnten. Bis heute ist die immer noch angespannte Beziehung des linken Denkens zur Institution des Rechts oder zu ethischen Diskursen als Nachwirkung dieses Erbes anzusehen. Verdeutlicht man sich die Struktur der Marxschen Argumentation, lässt sich seine Kritik an den Werten der Freiheit und Gleichheit auch anders lesen: Mit ihnen allein wird man die fundamentalen Defekte der kapitalistischen Lebensform nicht erkennen und kritisieren können. Hierzu muss man an die Wurzel des Elends gehen, was für Marx beinhaltet, die soziale Institution des Eigentums (an Produktionsmitteln) und des bloßen Nützlichkeitsdenkens (eines Benthamschen Utilitarismus) auf den Prüfstand zu stellen. Dieser Ausweg lässt sich finden, wenn man sich die normative Kraft der von Marx gewählten Darstellungsweise vor Augen führt. Sein Befund, dass bestimmte moralische, politische oder rechtliche Annahmen sehr gut zur Binnenlogik des Kapitalismus passen, ist nicht ohne sachlichen Grund. Doch die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie belässt es nicht bei dem Aufweis eines solchen funktionalen Zusammenhangs, für den seit ehedem die nichtssagende Formel von Basis und Überbau herhalten muss. Eingebettet ist die Marxsche Analyse in eine Vorstellung des gelingenden Lebens, dessen Verkehrung für die Beteiligten nur in Verzerrungen wahrnehmbar und theoretisch wie praktisch nur als Verrücktheit erlebbar ist. Die moralischen Forderungen von Freiheit und Gleichheit müssen, gleiches gilt auch für ihre rechtlichen Institutionalisierungen, in diese Konzeption des gelingenden Lebens eingebunden sein. Nur so können sie ihre normative Kraft angemessen entfalten, und nur so kann eine Konzeption des guten menschlichen Lebens vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verteidigt werden. Diese ethische Ressource des Marxschen Denkens freizulegen, kann nur gelingen, wenn wir uns der philosophischen Dimension seines Programms einer Kritik der politischen Ökonomie bewusst bleiben. Weder die naive Identifikation mit einer scheinbar wissenschaftlichen Weltanschauung noch die wohlfeile Kritik an diesem

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Konstrukt erlaubt einen Zugang zu denjenigen Aspekten des Marxschen Denkens, an die sich heute noch anzuknüpfen lohnt.

V.

Zum Schluss

Und so kehre ich zum Schluss noch einmal zu Lewis Carroll, diesmal zu seinem Roman Through the Looking-Glass, and What Alice Found There, zurück. Unklar bleibt, ob diese Erzählung nur über einen Traum berichtet. Alice ist immer noch besorgt, es könne möglicherweise nicht einmal ihr eigener Traum sein. Das siebte Kapitel, dessen Titel »It’s my own invention« lautet, hätte sich sehr gut als Motto von Das Kapital geeignet, wäre dieser Roman nicht erst in dem Jahr erschienen, in dem auch die zweite Auflage des Hauptwerks von Karl Marx herauskam. Dort sagt Alice zu sich selbst: So I wasn’t dreaming, after all (. . . ) unless – unless we’re all part of the same dream. Only I do hope it’s my dream, and not the Red King’s! I don’t like belonging to another person’s dream. (Carroll, 1998, S. 205)

In ihrer Hoffnung schlägt sich jedenfalls – ex negativo – jene Angst nieder, die Karl Marx in seiner Analyse des Kapitalismus ebenfalls aktiviert, um die Inhumanität dieser Lebensform zum Ausdruck zu bringen: Eine Inhumanität, die menschliches Leben zur bloßen Marionette eines automatischen Subjekts deformiert, als kollektiv geteilter Alptraum. Das ist die Erzählung, die Marx 1867 veröffentlicht. Das Ziel, welches er damit verfolgt, hatte er schon fast 25 Jahre vorher, in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern formuliert: Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtsein, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. (MEW 1, 346)

Im Laufe der Jahrzehnte, in denen Marx bis zu seinem Lebensende an dem Projekt einer Kritik der politischen Ökonomie arbeitete,

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wurde ihm zunehmend klarer, wie mühsam und langwierig ein solcher Prozess sein wird. Die Vorstellung aber, es könne den Menschen gelingen, den Alptraum mittels philosophischer Analyse zu durchschauen und so zum Traum einer solidarischen Gesellschaftsordnung durchzudringen, hat er dabei nie aufgegeben. Darin sollten wir ihm auch heute noch unbeirrt folgen, wenn wir daran arbeiten wollen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Literatur Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie. Suhrkamp: Frankfurt am Main. Benjamin, Walter (1974): Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt am Main. Carroll, Lewis (1998): Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glas and What Alice Found There; The Centenary Edition. Penguin Books: London.

Die gesellschaftliche Aktualität von Marx: ein Interview

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern. Karl Marx

Michael Hesse: Herr Quante, muss man sagen, dass Marx die Welt verändert hat, die Philosophen aber immer noch dabei sind, die Welt unterschiedlich zu interpretieren? Michael Quante: Die Philosophen müssen die Welt unterschiedlich interpretieren, das ist unvermeidlicher Ausdruck der Pluralität unserer modernen Welt. Aber ich denke nicht, dass Philosophen die Welt heute ausschließlich interpretieren, sondern dass viele von ihnen vermittelt oder auch ganz direkt in gesellschaftliche Prozesse eingreifen. Etwa in der alltäglichen Tätigkeit in Ethik-Kommissionen oder durch Mitarbeit in interdisziplinären Forschungsverbünden, die sich mit den derzeitigen gesellschaftlichen Herausforderungen beschäftigen. Interpretationen, hier würde ich Marx widersprechen, die darauf ausgelegt sind, transdisziplinär einzugreifen, sind ein Mittel, die Welt zu verändern. Der Gegensatz »Die Welt interpretieren« und »Die Welt verändern« ist weniger einfach, als es die 11. Feuerbach-These suggerieren mag. Auch wenn sie mit Blick auf manchen kulturwissenschaftlichen Konstruktivismus oder philosophischen Eskapismus sicher immer noch einen Punkt trifft. Michael Hesse: Ist Marx noch aktuell? Michael Quante: Ich glaube, dass Marx heute sehr aktuell ist und es auch immer war. Die kurzfristige Aktualitätskette: Krise des Euro, Krise des Weltmarktes, Krise der sozialen Sicherungssysteme und Marxsche Kapitalismuskritik stellt allerdings eine viel

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zu kurz greifende Aktualisierung dar. Die Aktualität seines Denkens liegt nach meinem Verständnis vor allem darin, konsequent von einem philosophisch-anthropologischen Modell auszugehen und eine ethisch imprägnierte Deutung der Gesellschaft des Menschen in Form einer kritischen Sozialphilosophie zu entfalten. Sie hat viele attraktive Komponenten: Sie zeigt ihr kritisches Potential, wenn man über Technisierung nachdenkt oder auch über das Verhältnis von Autonomie, Leiblichkeit, medizinischem Fortschritt, Verbrauch von Ressourcen etc. Wer die Aktualität von Marx eindimensional in seiner Krisentheorie verortet, erliegt dem gleichen Ökonomismus, der seine Rezeption als Philosoph so lange überdeckt hat. Die Philosophie von Marx wird dann auf Ökonomie reduziert. Um dies zu korrigieren, haben wir in dem »Marx-Handbuch«, welches 2015 erschienen ist, Karl Marx als Philosophen ins Zentrum gestellt. Michael Hesse: Marx lieferte eine perfektionistische Deutung des Menschenbildes und steht damit mitten in der Aufklärung. Michael Quante: Das unterschreibe ich in jeder Hinsicht. Zum einen gehöre ich zu denen, die Marx im Kontext der deutschen Idealisten Kant, Fichte oder Hegel lesen, und ihn in der Tradition der Aufklärung Schillers, Humboldts oder Herders sehen. Das ist ganz sicher eine intellektuelle Wurzel des Marxschen Denkens. Sein Perfektionismus hängt mit dieser Tradition zusammen. Aus diesem Grunde kann man Marx heute allerdings auch nicht einfach einszu-eins übernehmen. Michael Hesse: Wie meinen Sie das? Michael Quante: Das Paradoxe ist, dass die Kritikfolie, die er uns liefert, sehr aufschlussreich ist und vielen unmittelbar brauchbar zu sein scheint, obwohl die dahinterliegenden normativen Annahmen problematisch sind. Man muss den perfektionistischen Ansatz der Vervollkommnung aller individuellen und Gattungseigenschaften zu einer Konzeption weiterentwickeln, in der es nicht um die Perfektionierung der Gattung geht, sondern um die Sicherung von Ermöglichungsbedingungen für jedes menschliche Individuum. Es geht um Mindeststandards, von denen aus die Menschen ein auto-

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nomes und gutes Leben führen können. Das sind etwas schwächere evaluative Annahmen, die in einer neo-liberalen Gesellschaft aber immer noch hinreichend provokativ bleiben. Sie stehen in der philosophischen Tradition einer Konzeption des gelingenden Lebens, in der die Sozialität und Leiblichkeit des Menschen eine zentrale Rolle spielen. Damit ist ein Unterschied zu den formalen Gerechtigkeitstheorien der Ethik und Politischen Philosophie markiert. Michael Hesse: Der Fähigkeitenansatz geht zurück auf die US-Philosophin Martha Nussbaum. Michael Quante: Martha Nussbaum hat in einem Aufsatz einmal geschrieben, ihr Fähigkeitenansatz sei eine Art sozialdemokratischer Aristotelismus. Aber man muss diese Konzeption um das Prinzip des Respekts vor personaler Autonomie erweitern. Wenn man dies tut, nähert man sich den Konzeptionen von Hegel oder Marx an, wenn auch in anderer Terminologie. Aus meiner Sicht haben wir gute Gründe, in die Praktische Philosophie des 19. Jahrhunderts zu schauen. Das schließt auch die in sich vielfältige Gruppe der Linkshegelianer wie Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Arnold Ruge, Moses Heß oder Max Stirner mit ein; allesamt etwas vergessene Ethiker, die versucht haben, eine Synthese aus einem sehr radikalen Freiheitsdenken und einer anthropologisch oder sozialwissenschaftlich realistischen Perspektive auf den Menschen zu schaffen. Ein Problem ist, dass Marx nach wie vor ein Autor ist, den man nicht als Philosophen rezipiert oder rezipieren will. Meines Erachtens ist es systematisch ergiebig, Marx vorurteilsfrei vor dem Hintergrund des hegelschen Denkens und der idealistischen Tradition zu lesen, wenn man identifizieren will, was er uns heute zu sagen hat. Dazu gehört allerdings auch, zu bestimmen, was er uns nicht sagen kann oder worin wir ihm nicht folgen wollen, weil sein Denken eines des 19. Jahrhunderts ist. Michael Hesse: Was wären es für Bedingungen, die man da schafft? Die Philosophie wäre hier universalistisch und geht über die jeweiligen Bedingungen des Lebens hinaus? Michael Quante: Ihre Frage enthält ein schwieriges Problem. Wir haben heute einen dominanten Diskurs von internationaler

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Gerechtigkeit, von allgemeinen Menschenrechten und universaler Menschenwürde, der eine starke normative Kraft hat, eben weil er universalistisch ist. Das ist seine Stärke und zugleich seine große Schwäche, weil man kontextuelle Besonderheiten auch in ihrer ethischen Relevanz dann nicht mehr in den Blick bekommen kann. Man muss sie zugunsten der angestrebten universalen Geltung ausblenden. Das ist nicht in jeder Frage und jedem Kontext ethisch die richtige Strategie. Umgekehrt fällt man ohne diese Universalisierungsdimension in einen kulturellen Relativismus zurück: Normative Kritik, auch über kulturell unterschiedliche Gesellschaften oder soziale Gruppen und deren jeweilige historische Perspektiven hinweg, wäre nicht mehr möglich. Das kann, die politischen Entwicklungen der letzten Jahre belegen dies sehr nachdrücklich, nicht die richtige Antwort sein. Für diese Spannung gibt es aus meiner Sicht keine vollständig befriedigende theoretische Lösung. Aber man kann bei Hegel oder Marx sowie auch bei aktuellen Denkern das Bemühen feststellen, Kontextualität, spezifische Forderungen für bestimmte Kulturräume und -regionen mit universalisierbaren ethischen Geltungsansprüchen zusammenzubringen. Es gibt allerdings auch Probleme, wo sie sich nicht zusammenbringen lassen. Es ist also eine spannungsvolle Einheit. Aristoteles war der Ansicht, dass unsere Ethik, anders als vielleicht die Mathematik, nicht vollkommen konsistent zu machen und in diesem Sinne nicht theoria ist. Es gibt Konstellationen, in denen wir nicht alle ethisch wünschenswerten Aspekte gleichermaßen integrieren können. Ich glaube, dass wir diese Begrenztheit und Fragilität unserer Ethik und unserer ethischen Praxis aushalten müssen. Michael Hesse: Die Philosophie, die nach Hegel das Leben und die Wirklichkeit ja auf den Begriff bringen will, findet hier also eine Grenze? Michael Quante: Ja. Das ist eine der Lektionen, die man von Marx lernen kann. Er hat, wie viele der anderen Junghegelianer auch, dieses ungeheure Selbstvertrauen in und den Anspruch an die Philosophie, den Hegel mit ihr verbunden hat, nicht mehr gehabt. Zugleich hat Marx aber darauf bestanden, den Anspruch Hegels, philosophisch aufs Ganze zu gehen und in Zusammenhängen zu

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denken, nicht aufzugeben. Dies mit dem Ziel, es kritisch im Blick auf eine gesellschaftliche Veränderung anzuwenden. ›Anwenden‹ meint dabei, die Gesellschaft mithilfe philosophischer Reflexion und kritischer Intervention weiterzuentwickeln. Ein solches Philosophieren kann weder eine rein theoretische Aufgabe sein, noch kann die Philosophie sie ohne Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen in Angriff nehmen. Wenn wir heute von Inter- und Transdisziplinarität sprechen, zielen wir auf etwas ab, das auch Marx selbst vor Augen hatte. Ein Problem bei Hegel, aber auch bei Marx, liegt in ihrer geschichtsphilosophischen Hintergrundtheorie, die mit der Kategorie des begrifflichen und normativen Fortschritts arbeitet. Das Fortschrittsdenken wollen wir an vielen Stellen ja auch nicht völlig über Bord werfen, sonst ließen sich reaktionäre gesellschaftliche Prozesse oder Ordnungsvorstellungen nicht mehr kritisieren. Aber der Anspruch, aus der reinen Theorie heraus zu zeigen, dass der Fortschritt begrifflich oder gar politischrevolutionär garantiert ist, diese starke Hoffnung wird keine geschichtsphilosophische Überlegung des 21. Jahrhunderts mittragen können. Das Marxsche Denken steht an der Umbruchstelle von ungeheurem Fortschrittsoptimismus und dem Misstrauen gegenüber dem idealistischen philosophischen Programm, alles in einer Gesamtperspektive totalisierter Vernunft versöhnen zu können. In den Texten von Marx ist mal das optimistische Fortschrittsmotiv, mal das kritische Motiv stärker. Das macht ihn spannend, es verhindert aber zugleich, sein Denken als ein Rezeptbuch zu verstehen, dem man fertige Lösungen einfach entnehmen könnte. Jede systematische Lektüre von Marx muss selbst festlegen, an welche Aspekte seines Denkens sie heute, und zwar in eigener Verantwortung, noch anschließen will. Michael Hesse: Wovon kann man den Fortschrittsgedanken sonst abhängig machen? Stützt man sich auf die Erfahrungswelt, spielt direkt die Kontingenz, das Zufällige, mit hinein. Michael Quante: Es ist eine zentrale Annahme meines Philosophierens, dass wir Kontingenz aushalten müssen. Aus ihr dürfen wir aber nicht die falschen Schlüsse ableiten, alles sei beliebig oder gleichermaßen absurd. Es ist eine Aufgabe von endlichen auto-

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nomen Subjekten, Kontingenz zu erfassen, sie einzudämmen und dabei gleichzeitig zu ertragen. Empirie als Basis muss lebensweltlich-biografische Erfahrungen einschließen: Es geht auch um unsere geschichtlich-sozialen Erfahrungen und nicht nur um die naturwissenschaftlich generierten Daten. Die berechtigte Kritik am Postfaktischen wird dann falsch, wenn sie uns auf einen szientistischen Positivismus zurückwerfen möchte. Auch naturwissenschaftliches Wissen ist, dies gehört zu den zentralen Einsichten von Hegel und Marx, sozial geprägt und auf praktische Interessen ausgelegt. In diesem weiten Sinn von Erfahrungen machen wir individuelle, kulturelle und soziale Erfahrungen, gegenwärtig zum Beispiel mit veränderten und sich verändernden sozialen Institutionen. Man kann nicht in der Politischen Philosophie oder der Sozialphilosophie unabhängig von den empirischen Daten ermitteln, welche Arrangements zu einem gelingenden guten Leben, in dem Autonomie und soziale Absicherung, soziale Teilhabe und Privatheit möglich sind, beitragen. Das sind Fragen, die Philosophen nicht alleine beantworten können. Andere Gesellschaftswissenschaften können sie ohne Philosophie ebenfalls nicht allein beantworten. Daher müssen wir interdisziplinär arbeiten. Das ist neben seiner anthropologisch fundierten Ethik das zweite, in meinen Augen Moderne an Marx. Er hat seine Kritik der politischen Ökonomie im Grunde schon als interdisziplinäres Projekt betrieben, ohne die dafür notwendige Forschungsstruktur zur Verfügung zu haben. Er hat wie kein anderer vor ihm gesellschafts-, sozial- und naturwissenschaftliche Forschungen seiner Zeit verfolgt. Sein Hauptwerk Das Kapital ist zur Hälfte eine Auswertung von Sozialstatistiken – allerdings zu philosophischen Zwecken. Marx hatte eine interdisziplinäre Forschungsstrategie, was für seine Zeit sehr ungewöhnlich war. Während Hegel alles rezipiert hat, um es in die Philosophie einzugliedern, hat Marx versucht, mit philosophischen Mitteln das, was andere Disziplinen ermittelt haben, nach bestimmten Prinzipien zu ordnen, um gesellschaftlich und politisch wirken zu können. Das ist eine sehr spannende Umkehrung der Arbeitsweise eines Philosophen.

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Michael Hesse: Die Zeit, in welcher der Denker einsam in seinem Studierzimmer saß, ist vorüber? Michael Quante: De facto in einer modernen Universität, ja. Die Vorstellung, dass man Philosophie ausschließlich so betreiben kann, war nie zutreffend, und sie war nie ein unumstrittenes Ideal des Philosophierens. Michael Hesse: Was ist das Instrumentarium des Philosophen, das Denken – wie Hegel meint – oder die Beobachtung? Michael Quante: Hegel hat sehr genau beobachtet. Er hat versucht, Beobachtungen von gesellschaftlichen Prozessen zu reflektieren. Auf dieser Ebene ist der Gegensatz nicht vorhanden. Es mag in den Schriften Hegels immer sehr abstrakt wirken, dabei handelt es sich jedoch stets um einen Blick auf sehr konkrete Phänomene. So hat er sich die Rechtswissenschaften seiner Zeit sehr genau angesehen und für seine Rechtsphilosophie genutzt. Hegel hat die Opposition: entweder apriori oder empirisch (bei ihm: erst in den Sinnen und dann im Denken oder genau umgekehrt) für eine schlecht formulierte Alternative gehalten. Die Dinge sind immer schon ineinander verwoben; man kann nur nachträglich auseinanderlegen, welche Elemente eher begrifflich sind oder eher aus der Erfahrung stammen. Nach Hegel muss man diesen Dualismus philosophisch auflösen und beides, Begriffe und Erfahrungen, als Aspekte eines Gesamtnetzes, die zu verschiedenen Zwecken verschiedenes leisten, begreifen. In diesem Punkt ist Karl Marx ihm in seinem Hauptwerk Das Kapital kompromisslos und bis zuletzt gefolgt. Wer heute über soziale Gerechtigkeit schreiben will, ohne empirische Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, kann keine kritische Sozialphilosophie betreiben wie sie Marx vorschwebte. Gleiches gilt für die Medizinethik und andere sogenannte ›angewandte‹ Teildisziplinen der Philosophie. Trotzdem bleibt Philosophie ein normatives Geschäft. Ich bezeichne ihre Perspektive als hermeneutisch-kritisch und ihr Ziel als orientierend. Man fängt in der Praxis an, wo all die gerade genannten Dinge eine Rolle spielen; anschließend entwickelt man, je nachdem, welche Fragen und Probleme man vorfindet, eine angemessene philosophische Strategie. Wenn

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Marx sich in seiner Selbstdeutung von der Philosophie abwendet, denkt er ausschließlich an die rein idealistische oder auch an eine abstrakt moralische Philosophie, welche die empirischen Erfahrungen oder auch die naturwissenschaftlichen Fakten nicht in sich aufnimmt. Michael Hesse: Ein Beispiel? Michael Quante: Wenn Sie in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe sitzen, in der es um angemessene Kriterien für die Verteilung knapper Ressourcen geht, ist es hilfreich, mit abstrakten Gerechtigkeitstheorien sehr allgemeine Theorien der Philosophie ins Spiel zu bringen, damit nicht verschiedene Gerechtigkeitskonzeptionen durcheinander gehen, die seit Aristoteles unterscheidbar sind. Dies lässt sich gegenwärtig sehr gut im Kontext der normativen Diskussion um die Energiewende beobachten. Wenn ein Philosoph in einem Ethik-Konsil oder einer Ethik-Kommission mitberaten soll, ist dagegen situationsgerechte Urteilskraft bis hin zu Einzelfallentscheidungen gefordert. Es hängt von den Problemen, die es zu lösen gilt, ab, was die Philosophie zu ihrer Lösung bereitstellen kann. Für seine eigene kritische Sozialphilosophie hat Marx beispielsweise die überaus abstrakten Begriffsanalysen, die er der Hegelschen Wissenschaft der Logik entnahm, für geeignete Werkzeuge gehalten und im Kapital für seine eigenen Theoriezwecke eingesetzt. Michael Hesse: Im Hinblick auf die Selbstverwirklichung des Menschen im Sinne von Marx. Wie steht es um die Autonomie? Michael Quante: Autonomie ist ein vieldeutiges Wort. Wenn sie als Selbstverwirklichung der Menschheit als Ganze gedacht wird, dann ist die individuelle Autonomie, wie wir sie in unseren liberalen Gesellschaften verstehen und leben, nicht die primäre Bezugsgröße. Nimmt man die individuelle Autonomie im heutigen Verständnis, z. B. als Basis individueller Menschenrechte, dann ist zweifelhaft, ob Marx sie als positives normatives Konstrukt akzeptiert hätte. Der Begriff der Selbstbestimmung der Gattung ist klarerweise das bei Marx leitende Bild: Menschen geben sich als soziale Verbände in historischen Prozessen die sozialen Spielregeln, unter denen sie

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leben. Das ist weder von der Natur noch von einer transzendenten Macht vorgegeben. Das heißt aber nicht, dass jeder sie individuell neu erfindet. Letztlich war Marx davon überzeugt, dass die Selbstbestimmung der Gattung und die eines jeden menschlichen Individuums nur gemeinsam und gleichzeitig realisiert werden können. Deshalb lässt sich Marx als radikaler Individualtheoretiker im Sinne Schillers lesen oder als ein Kommunitarist, für den individuelle Selbstverwirklichung kein intrinsischer Wert ist. Das kann man in Bezug auf Marx letztlich nicht eindeutig entscheiden. Richtig an seiner Überlegung, so missbrauchsgefährdet sie auch ist, scheint mir zu sein, dass man Konzeptionen von Selbstverwirklichung im Sinne einer rein individuellen Autonomie um eine soziale Dimension erweitern muss. Versteht man sie lediglich als durch Privateigentum und abstraktes Recht individuierbare Grundrechte, so wie sie beispielsweise der Neoliberalismus kennt, dann werden wir sie kritisch hinterfragen müssen, wenn wir uns über soziale Phänomene Gedanken machen. Michael Hesse: Nämlich? Michael Quante: Wenn man eine strikt individualistische Konzeption von Autonomie vertritt, wird man z. B. wenig gute Gründe finden, den Verkauf eigener Organe zu verbieten. Wenn man von der Idee des autonomen Subjekts, das mit anderen über Verträge seine sozialen Beziehungen regelt, aus die Wirklichkeit interpretiert, wird man viele Handlungskontexte wie Märkte begreifen, u. a. auch Universitäten und Bildung. So gesehen wird man solche Institutionen und Prozesse als vertraglich aushandelbare Systeme begreifen: Studierende als Kunden und Lehrende als Dienstleister. Ob das die richtige Beschreibung für diese sozialen Handlungskontexte ist, kann man sich durchaus fragen. Man muss sich fragen, ob Bildung nicht etwas anderes ist, als solches Marktgeschehen. Gleiches gilt für Pflegeversicherung, Krankenversicherung, Krankenhäuser oder medizinische Versorgung, wo man das Gefühl haben kann, es gehe hier nicht um vulnerable Menschen, sondern um mehr oder weniger kaufkräftige Individuen, die über Verträge als Nutzenmaximierer wechselseitig aushandeln, welche Leistungen sie erbringen und erhalten wollen. Das scheint mir dem ethischen

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Geist der Beziehung zwischen Ärzten und Patienten nicht gerecht zu werden. Die Rechte des Patienten auf Selbstbestimmung und die Rechte des Mediziners auf individuelle Gewissensfreiheit müssen, dies zeigt unsere gegenwärtige Diskussion um assistierten Suizid ganz deutlich, selbstverständlich gewahrt werden. Aber eine kritische Sozialphilosophie in der Tradition von Karl Marx hat hierzu noch einiges mehr zu sagen. Michael Hesse: Muss der Liberalismus im Sinne Hegels aufgehoben, also negiert und bewahrt, werden? Michael Quante: Ich glaube, er muss eingehegt und an manchen Stellen auch eingedämmt werden. Wenn man zur Beschreibung unserer sozialen Sicherungssysteme nur die Sprache der Ökonomie und des Marktes verwendet, dann wird man den Geist und die Funktion von sozialen Sicherungssystemen mittelfristig zerstören. Einmal weil viele Dinge, die dort geleistet werden sollen, sich dann nicht mehr erfassen und rechtfertigen lassen. Aber auch, weil das Selbstverständnis der Akteure, die dort arbeiten, nicht mehr angemessen wiedergegeben werden kann. Für die kritische Analyse solcher Verwerfungen hat Marx im Kapital die Kategorien der Ideologie, der Entfremdung und der Verdinglichung bereitgestellt. Wenn wir dann Grenzen ziehen wollen, brauchen wir geeignete ethische Prinzipien. Wenn wir nicht das Vertragsmodell und die Tauschgerechtigkeit, sondern so etwas wie eine Solidargemeinschaft als Grundmodell unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens annehmen, dann verschieben sich die Akzente. In den sozialen Sicherungssystemen gab es eine Befreiung dadurch, dass man die liberalen Gedankenmodelle hineingebracht hat, wie das Recht auf Eigengestaltung, mit der die Pflicht zur Eigenverantwortung einhergeht. Zugleich benötigen wir Menschen Entlastung durch Institutionen, um unsere individuellen Lebensentwürfe realisieren zu können. Auch dies begründet ein Recht, das wir haben. Autonomie in gewissen Bereichen kann ich nur ausleben, wenn ich in anderen Bereichen entlastet bin dadurch, diese nicht selbst regeln zu müssen. Dies bedarf eines vorgängig geteilten Verständnisses von und Vertrauens in unsere Institutionen, was Hegel mit Sittlichkeit umschrieben hat. Im Gegensatz zu ihm hat Marx dann

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die Gründe geliefert, bestimmten sozialen Institutionen prinzipiell zu misstrauen. Michael Hesse: Der Liberalismus stellt sich also selbst ein Bein? Michael Quante: Hegel zeigt für den Markt, er nennt ihn das System der Bedürfnisse, dass er instabil ist, wenn man ihn sich selbst überlässt. Die Wirtschaftskrise zeigt das auch. Die Marxsche Idee, dass der Kapitalismus ein aggressives System ist, welches permanent Konflikte erzeugt, zeigt es ebenfalls. Auch liberale Ökonomen sagen: Wenn man in einem bestimmten Bereich Markt will, muss man mehr Regeln einführen als wenn man ihn nicht will. Man muss einen das Gesamtsystem stabilisierenden Rahmen finden, in dem die freiheitlichen individuellen Akteure ihre individuelle Autonomie ausüben können. Wir haben gesehen, dass es nicht gut ist, wenn die weltweiten Finanzmärkte nicht an den entscheidenden Stellen geregelt werden. So gesehen belegen auch unsere aktuellen Probleme in der Europäischen Union die Aktualität und Unverzichtbarkeit der kritischen Sozialphilosophie, die Karl Marx in seinem Werk entwickelt hat.

Literaturhinweise

I.

Verwendete Ausgaben

Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (MEW). Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin 1959–1990. [in diesem Buch zitiert als MEW Band, Seite] Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Herausgegeben von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Amsterdam. Berlin 1992ff.; von 1975–1989 herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und vom Institut für Marxismus-Leninismus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Dietz Verlag, Berlin. [in diesem Buch zitiert als MEGA Abteilung.Band, Seite]

II. Ein- und weiterführende Literatur 1. Allgemein Terrell Carver (Ed.): The Cambridge Companion to Marx. Cambridge 1991. Michael Quante & David Schweikard (Hrsg.): Marx Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2015.

2. Biografien Neffe, Jürgen: Marx. Der Unvollendete. München 2017. Sperber, Jonathan: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert. München 2013. Stedman Jones, Gareth: Karl Marx. Die Biografie. Frankfurt am Main 2017.

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Literaturhinweise

3. Einführende Darstellungen Althusser, Louis et al.: Das Kapital lesen. Herausgegeben von Frieder Otto Wolf unter Mitwirkung von Alexis Petrioli. Münster 2015. Greffrath, Mathias (Hrsg.): RE: Das Kapital. München 2017. Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Stuttgart 32005. Heinrich, Michael: Wie das Marxsche Kapital lesen? Stuttgart 2008. Kolakowski, Leszek: Die Hauptströmungen des Marxismus (3 Bände). München 21981.

Textnachweise Bei den ersten drei kritischen Interventionen handelt es sich um überarbeitete Beiträge, die an anderer Stelle bereits erschienen sind. Ich danke den Herausgebern für ihre Zustimmung, sie hier zu verwenden. Michael Hesse danke ich für seine Bereitschaft, unser an anderer Stelle publiziertes Interview in diesem Band wieder abzudrucken. »Ein Reiseführer durch Das Kapital«; zuerst erschienen unter dem Titel »A Traveller’s Guide« in Aus Politik und Zeitgeschichte 67 (2017), Band 19– 20, S. 04–09. »Karl Marx: ein Theoretiker der Gerechtigkeit?«; in gekürzter Version unter dem Titel »Ein Theoretiker der Gerechtigkeit?« in der Zeitung Neues Deutschland am 5. 9. 2017 erschienen. »Zur Kenntlichkeit verzerrt!«; zuerst erschienen unter dem gleichen Titel in Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 4 (2017), S. 314– 324. »Die gesellschaftliche Aktualität von Marx: ein Interview«; unter dem Titel »Ein Markt braucht Regeln« in der Zeitung Frankfurter Rundschau am 10.9.2017 erschienen.

Personenregister

Adorno, Theodor Wiesengrund 90 Althusser, Louis 18, 60, 114 Aristoteles 78, 80, 104, 108 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 24 Bauer, Bruno 19, 23–26, 37, 103 Becker, Johann Phillip 63 Benjamin, Walter 91, 92 Bentham, Jeremy 74, 77, 97, 98 Bloch, Ernst 17 Brecht, Bertolt 8 Buchanan, Allen E. 83, 84, 85 Carroll, Lewis 96, 99 Chaplin, Charlie 93 Cieszkowskis, August von 23 Cohen, Gerald A. 59 Elster, Jon 59 Engels, Friedrich 17, 18, 20, 21, 26, 37, 45, 63 Feuerbach, Ludwig 22, 23, 25, 26, 34, 37, 39, 40, 48, 54, 55, 101, 103 Fichte, Johann Gottlieb 29, 33, 102 Floron, Ferdinand 20 Fried, Erich 9 Freud, Sigmund 58 Gans, Eduard 19, 22

Gramsci, Antonio 60 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 17, 18, 19, 22–26, 28, 29, 33, 34, 38, 40–43, 60, 65–68, 95, 102–108, 110, 111 Herder, Johann Gottfried 102 Hess, Moses 34, 35, 37, 48 Hesse, Michael 101ff. Hilferding, Rudolf 58 Humboldt, Alexander von 102 Kafka, Franz 88, 93 Lassalle, Ferdinand 21 Lenin, Wladimir Iljtsch 58, 59 Luxemburg, Rosa 58 Mill, John Stuart 17, 38, 39, 43, 54 Nussbaum, Martha 103 Ruge, Arnold 19, 20, 103 Roemer, John 59 Sartre, Jean Paul 60 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 102, 109 Smith, Adam 40 Stahl, Friedrich Julius 19 Stirner, Max 37, 45, 47, 48, 103 Strauß, David Friedrich 23 Westphalen, Jenny von 19, 20