Kultur in Stücken: Barthes, Brecht, Artaud
 9783839453605

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung
I Konstellationen und Aporien
I.1 Kultur als Pharmakon
I.2 Nichtverstehen: Epistemologische Koordinaten
I.3 Ästhetische Subversion
I.4 Zur Aporetik von Kritik und Subversion
II Im Theater des Nichtverstehens
II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I
II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht
II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II
II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud
III Zum Schluss
Zerzauster Heroismus: Ausblick auf eine Philosophie der schmutzigen Hände
Bibliographie

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Melanie Reichert Kultur in Stücken

Edition Moderne Postmoderne

Melanie Reichert, geb. 1982, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität Kiel. Sie ist Lehrbeauftragte an der Muthesius Kunsthochschule Kiel und arbeitet in Projekten an der Schnittstelle von Philosophie und Kunst. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturphilosophie, Ästhetik und Epistemologie sowie Formen von Kritik und Subversion.

Melanie Reichert

Kultur in Stücken Barthes, Brecht, Artaud

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Inhalt

Vorbemerkung............................................................................ 7 Einleitung ................................................................................ 9

I Konstellationen und Aporien I.1 I.1.1 I.1.2 I.1.3 I.1.4

Kultur als Pharmakon .............................................................. 27 Postrestitutivität und Prozessualität: Kulturkritische Paradigmen .................... 27 Von der Restitution zur Pharmakologie .............................................. 33 Ambivalenz des Mythischen ......................................................... 36 Verstehen, Mythos, Ideologie ........................................................ 39

I.2 I.2.1 I.2.2 I.2.3

Nichtverstehen: Epistemologische Koordinaten ................................... 43 Wider die Repräsentation. Perspektiven auf das Ästhetische......................... 43 Nichtverstehen und Verstehen ...................................................... 46 Am eigenen Leib: Nichtverstehen und nicht-propositionale Erkenntnis ................ 51

I.3 I.3.1 I.3.2 I.3.3

Ästhetische Subversion............................................................ Politik in der Krise .................................................................. Nichtverstehen als Entselbstverständlichung ........................................ Immanenz und Transzendenz: Zum Paradox wirkender Hermetik .....................

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I.4 Zur Aporetik von Kritik und Subversion ............................................ 67 I.4.1 Verselbstverständlichung: Ideologie der Ideologiekritik .............................. 67 I.4.2 Zwei Gegendiskurse: Transparenz und Selbstprekarisierung ......................... 69

II Im Theater des Nichtverstehens II.1 II.1.1 II.1.2 II.1.3 II.1.4

Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I ................................... 75 Immersion: Verstehen .............................................................. 76 Emersion: Begreifen ................................................................ 85 Der Philosoph und das Theater....................................................... 91 Zusammenfassung ................................................................ 103

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht ................................... 105 II.2.1 »Er hat Vorschläge gemacht«: Methodische Reflexion ...............................107 II.2.2 Auf mythischen Pfaden: Kulturbegriff und Kulturkritik .............................. 109 II.2.3 Begreifen: Techniken der Distanzierung ............................................ 123 II.2.4 Involvieren: Technik des Genießens ................................................ 133 II.2.5 Eine kulturphilosophische Hermetik ................................................ 142 II.2.6 Zusammenfassung ................................................................. 151 II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II................................. 155 II.3.1 Tektonik reaktiven Denkens........................................................ 156 II.3.2 Jouissance: Nichtverstehen und hedonistische Ästhetik ............................ 165 II.3.3 Theater machen: Eine Methodologie der Dissidenz ...................................176 II.3.4 Zusammenfassung ................................................................ 184 II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud ............................................. 187 II.4.1 »Wie von Artaud sprechen?«: Methodische Reflexion ............................... 189 II.4.2 Verstehen als Erstarrung der Dinge und Worte ...................................... 192 II.4.3 Prozess und Wahrheit: Philosophie der Grausamkeit ................................ 204 II.4.4 … via Haut: Manifestationen des Nichtverstehens ................................... 211 II.4.5 Wanken. Versöhnung mit den Schatten ............................................. 224 II.4.6 Zusammenfassung ................................................................ 233

III Zum Schluss Zerzauster Heroismus: Ausblick auf eine Philosophie der schmutzigen Hände.......... 237 Bibliographie ........................................................................... 245 Verzeichnis der Siglen................................................................... 245 Primärliteratur .......................................................................... 246 Sekundärliteratur ....................................................................... 247

Vorbemerkung

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die ich im November 2019 am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verteidigt habe. Die Arbeit wurde mit dem Preis der Philosophischen Fakultät für die beste Dissertation im Jahr 2019 ausgezeichnet. Es ist mir eine Freude, an dieser Stelle den Personen zu danken, die mich auf vielfältige Weise unterstützt haben. Zu ganz besonderem Dank bin ich meinem Promotionsbetreuer Prof. Dr. Ralf Konersmann verpflichtet, der mich sowohl herausgefordert als auch ermutigt hat, eine eigene Sprache zu suchen. Der Freiraum, den er mir gegeben hat, um schreibend ins Denken zu finden, war für mich von unschätzbarem Wert. Prof. Dr. Gerald Siegmund danke ich für den ungemein bereichernden Austausch über die theaterwissenschaftliche Perspektivierung Roland Barthes’ und für seine Bereitschaft, das Promotionsverfahren als Zweitgutachter zu begleiten. Für das Verfassen des Drittgutachtens danke ich vielmals Prof. Dr. Ludger Schwarte. Mein Dank gilt zudem den weiteren Mitgliedern der Kommission: Prof. Dr. Hartmut Rosenau, PD Dr. David Lauer sowie insbesondere Prof. Dr. Christine Blättler. Der Austausch mit ihr hat mir bei der Schärfung meiner Gedanken immer wieder geholfen. Ich bedanke mich außerdem sehr herzlich bei Dr. Katharina Pewny für ihre geduldige und bestärkende Lektüre meiner frühen Textentwürfe sowie bei Prof. Dr. Melanie Sehgal und Prof. Dr. Dieter Mersch für ihre Bereitschaft, mit mir über verschiedenste Aspekte meiner Fragestellung zu sprechen. Ein großer Dank gebührt zudem Dr. Astrid von der Lühe und Prof. Peter Hendricks, die meiner Arbeit durch ihr Engagement auf institutioneller Ebene den Weg gebahnt haben. Sie gaben mir die Möglichkeit, mich ganz auf die Sache der Philosophie konzentrieren zu können. Ann-Kathrin Wiltsch, Ginger Kokorin, Moritz Riemann, Asita Roustai, Frederik Bornhofen, Julia Räsch und Christof Bock danke ich für ihre unermüdliche Hilfe bei Korrekturarbeiten und, vor allem, für ihre Freundschaft. Das Korrektorat des Verlagsmanuskripts hat Dr. Michael Sellhoff übernommen: Ihm danke ich für seine große Sorgfalt und seine überaus hilfreichen Anmerkungen. Für die Korrektur der Fußnoten danke ich Noah Dico.

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Kultur in Stücken

Nicht zuletzt bin ich meinen Eltern – Hiltrud Meyer und Hans-Jürgen Reichert – wie auch Birgit und Hein Albrecht zutiefst dankbar: Durch ihren Zuspruch, ihr ermutigendes Vertrauen in mich und ihre großzügige Unterstützung konnte dieses Buch entstehen. Meinen persönlichsten Dank richte ich indes an Tim – für die unvergleichliche Verbindung von Lust und Jouissance.

Einleitung

Die Welt nicht mehr verstehen Wenn der Boden sich auftut, ist der erste Reflex, Halt zu suchen. Roland Barthes, Bertolt Brecht und Antonin Artaud widersetzen sich dieser Logik. Die religiösen, wissenschaftlichen und politischen Erschütterungen neuzeitlicher Verstehensund Gewissheitsordnungen haben das menschliche Selbst- und Weltverständnis in eine tiefe Krise gestürzt. Auf diese Krise antworten Brecht und Artaud wie auch Barthes, der beide ausführlich rezipiert hat, mit einem Theater des Nichtverstehens1  – dieser im Text, jene auf der Bühne. Die scheinbare Paradoxie dieses Phänomens ist Gegenstand dieser Arbeit. Die seit der philosophischen Antike immer wieder thematisierte Abständigkeit des Menschen von der Wahrheit hinderte ihn lange Zeit nicht daran, sein Leben als durch sie in eine beruhigende Statik versetzt zu wissen. In der Moderne jedoch radikalisiert sich die lang schwelende Skepsis gegenüber der epistemischen Leistungsfähigkeit des Menschen und lässt die Existenz von Wahrheit2 selbst fraglich werden, sei sie wissenschaftlich, religiös, moralisch oder politisch gefasst. Wo die Welt nicht mehr zweifelsfrei erkannt werden kann, ist der Mensch an das Risiko eigener Interpretationen verwiesen.3 »[W]issen, was nicht mehr möglich ist«4 , so fasst Barthes die Herausforderungen der Moderne. Nicht mehr möglich ist die Hoffnung auf die (Wieder-)Herstellung, die Restitution5 eines paradiesischen Zustandes, die den Menschen der Mühsal seiner Lebensumstände und den Konsequenzen seiner epistemischen Fehlbarkeit enthebt – ob in diesem Leben oder einem anderen. 1

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Mit dem Terminus Theater des Nichtverstehens bezeichne ich die Theaterstrategie Brechts und Artauds, insofern sie auf eine scheinbar paradoxe Erhellung durch Unverständlichkeit abzielt. Ich fasse das Zeitalter der propagierten Verabschiedung einer unverbrüchlichen Wahrheitsvorstellung im Sinne der Adaequatio intellectus et rei im Begriff des »post-alethischen Zeitalters« (in Ableitung von griech. aletheia). Vgl. die ausführliche Darstellung in den Kapiteln I.1 und I.2. BOC II, S. 1640, Übers. M. R. Ich bezeichne diese Perspektive mit Ralf Konersmann als »postrestitutiv«. Vgl. ders.: Kulturkritik. Frankfurt a. M. 2008, S. 86.

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Die Moderne also ist die Bilanz der Neuzeit, die es zu ziehen gilt. Das Theater des Nichtverstehens vermittelt demgemäß ein Bild des Menschen, dem zufolge dieser sich seine Welt selbst zurechtmachen muss und sich dabei mit Konstruktion, Montage und Stückwerk behilft. Problematisch wird das Ganze dann, wenn er seine schöpferische Rolle nicht ergreift, oder, schlimmer noch: verschleiert. Dann entfalten die von ihm hervorgebrachten Formen eine totalitäre Wirkung, so der Tenor der drei Autoren. An der Einsicht in diese Herausforderungen und Gefahren entzündet sich die kulturkritische Emphase, die den subversiven Anspruch ihrer Philosophie- und Theaterkonzepte begründet. Barthes, Brecht und Artaud diagnostizieren ihrer jeweiligen Zeit, die Potenz der instrumentellen Vernunft und die Objektivität der Wissenschaft überzubetonen – was sie als reaktionären, autoritären Versuch anklagen, zur alten Ruhe und Sicherheit der Adaequatio intellectus et rei zurückzufinden. Barthes bündelt in einer seiner Selbstbeschreibungen den Einsatz seines philosophischen Denkens im Problem des Verstehens: Er konnte sich nicht von dieser finsteren Vorstellung freimachen, dass die wahre Gewalt die des Das-versteht-sich-von-selbst ist: was evident ist, ist gewalttätig, auch wenn diese Evidenz sanft, liberal, demokratisch vorgestellt wird; das was paradox ist, was sich nicht von selbst versteht, ist es weniger […].6 Brecht lässt bereits in seinem ersten Stück, dem Baal, die Pointe seiner späteren theoretischen Schriften zum dialektischen Theater anklingen: »Nichts versteht man. Aber manches fühlt man. Geschichten, die man versteht, sind nur schlecht erzählt.«7 Auch Artauds Verachtung der Privilegierung der Intellektualität findet bereits in frühen Schriften Ausdruck, bevor sie zur treibenden Kraft seines Theaters der Grausamkeit wird: Die Leute, die das Unbestimmte verlassen, um zu versuchen, irgend etwas von dem, was in ihrem Geist vorgeht, zu präzisieren, sind Schweine. […] Alle die, […] für die die Worte einen Sinn haben, […] sind Schweine. Die, […] die über irgendeine Stufe ihrer erheiternden Klassifikationen diskutieren, die, die noch an ›Begriffe‹ glauben, […] die mit Namen um sich werfen, die die Buchseiten propagieren, – die sind die schlimmsten Schweine.8 Gegen die Hybris der instrumentellen Vernunft und das blinde Vertrauen in die Vernunftgemäßheit begrifflicher Repräsentationssysteme setzen die Autoren auf Techniken des Unverständlichmachens durch Bedeutungsbruch und Dispersion.

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ÜM, S. 98, Herv. i. O. GBA 1, S. 60. FS, S. 91f.

Einleitung

Unsere epistemischen Begrenzungen gilt es am eigenen Leib zu erfahren: Unser Weltverstehen und damit unsere Repräsentationssysteme haben wesentlich Behelfscharakter. Die Herausforderung, die sich mit dieser Einsicht verbindet, besteht darin, diesen Umstand und die mit ihm verbundene Risikohaftigkeit unseres Hervorbringens erst einmal anzuerkennen, ohne in Resignation oder Allmachtsfantasie zu verfallen. Die Behelfsmäßigkeit von Verstehen und Repräsentation kann indes überhaupt nur erkannt werden, indem sie außer Kraft gesetzt werden. Dies leistet ein Theater des Nichtverstehens, wie es Brecht und Artaud entwerfen, indem es im Moment des Verstehensentzugs alternative Formen der Erkenntnis mobilisiert, die nicht der Logik der Prädikation unterworfen sind. Diese Erkenntnisformen werden schließlich auch für die Philosophie attraktiv: Wo die Verlässlichkeit des herkömmlichen epistemischen Instrumentariums nicht mehr gewährleistet ist, begibt sie sich auf die Suche nach Alternativen.9 Seit dem 20. Jahrhundert entdeckt sie sie in zunehmendem Maße in der Kunst, die nun von sakralen Ansprüchen freigestellt ist.10 Die Philosophie Barthes’ stellt eine Geschichte dieser Entdeckung dar: Sein Denken zehrt nicht zuletzt von den philosophischen Konsequenzen, die sich aus den künstlerischen Entwürfen Brechts und Artauds figurieren lassen – auf inhaltlicher und methodischer Ebene. Mit Barthes zeigt sich, dass die Philosophie nicht nur ein inhaltliches Interesse an der theatralen Verstehensauflösung hat, sondern selbst mimetische und performative Qualität besitzt: Das Moment des Nichtverstehens ist der Philosophie inhärent, leidet sie doch an chronischer Überforderung durch ihre eigenen Gegenstände, prominent beschrieben von Immanuel Kant11 . Auch sie kann ihre prekäre Verfassung leugnen und verschleiern oder sie im Sinne von Mimesis und Performativität in ihre Darstellungsmodi einbeziehen.12 Die Moderne, als das Erwachen in der Neuzeit, soll zuletzt also auch die Philosophie erfassen, für die Barthes ein eigenes Theater des Nichtverstehens entwirft.

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Vgl. hierzu ausführlicher das Kapitel I.2 sowie speziell zu Barthes Kapitel II.3. Die Orientierung an alternativen Erkenntnisformen stellt in erster Linie Methodologie und Darstellungsformen der Philosophie vor Herausforderungen, gilt es doch, der Unabschließbarkeit dieser Erkenntnisformen gerecht zu werden. Exemplarisch für diese Bemühungen sei hier der Essayismus Michel de Montaignes und Francis Bacons sowie die Aphoristik Friedrich Nietzsches genannt – alle drei werden als Krisenphänomene aufgefasst. Vgl. Annett Welsch: Der Essay als Denkbewegung. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie. 2003/2, S. 5-26. Außerdem Christine Blättler: »Chemie der Begriffe«und»Historischer Sinn«. Überlegungen zur philosophischen Begriffsbildung. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 38/2015, S. 153-169, hier S. 158f. Hier folge ich der Analyse Walter Benjamins in: BGS I, S. 484. AA IV, S. VII. Man denke an den methodischen Zweifel René Descartes‹, den bereits erwähnten Essayismus und Aphorismus sowie die Romantische Ironie.

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Für Barthes, Brecht und Artaud kommt alles darauf an, endlich in der neuen Zeit anzukommen. Das beinhaltet die Herausforderung, Emanzipation ausgerechnet in brüchigen, flüchtigen, diffusen, also unberechenbaren Formen zu finden. Ihre ästhetischen und philosophischen Strategien stellen dabei nicht selbst Revolutionen dar, sondern sie sind Affirmationen einer sich bereits abzeichnenden Dynamisierung des menschlichen Weltverhältnisses: Die Tektonik der Neuzeit hat die menschliche Lebenswelt bereits zerklüftet. Wir stehen am Abgrund. Jetzt gilt es, sich in die neue Zeit fallen zu lassen – mit allen Konsequenzen.

Der Mittag des Krieges Die beschriebenen Erschütterungen alter Gewissheitsordnungen gelangen im 20. Jahrhundert zu gesteigerter Relevanz: Die faschistischen Diktaturen und die sie fundierenden rassistischen Theoriegebäude haben essentialistische Denkstrukturen politisch und moralisch korrumpiert. Als Brecht und Artaud ihre Theaterkonzepte entwickeln, haben sie bereits einen Krieg erlebt. Der nächste wirft seinen Schatten bereits voraus. Als Versuche performativer Kulturkritik entfalten beide Autoren ihr Theater des Nichtverstehens aus der Ahnung des erneut nahenden Zusammenbruchs. Dieser Ahnung verleiht Artaud im Jahr 1933 Ausdruck und dringt auf eine Intervention durch das Theater: Wenn Shakespeare und seine Nachahmer uns […] die Vorstellung von einer Kunst um der Kunst willen eingeredet haben, mit der Kunst auf der einen und dem Leben auf der anderen Seite, so könnte man sich getrost auf dieser wirkungslosen und faulen Vorstellung ausruhen, solange nur das Leben draußen noch standhielte. Zu viele Anzeichen lassen jedoch erkennen, dass all das, was uns leben ließ, nicht länger standhält, dass wir allesamt verrückt, verzweifelt und krank sind. Und ich fordere uns auf, dagegen anzugehen.13 Die Annahme, dass sie eine Verantwortung und ein interventives Potential hat, der es nachzukommen und das es zu entfalten gilt, teilt die Kunst mit der Philosophie. In der Abenddämmerung der politischen Ereignisse um den deutschen Nationalsozialismus und die französische Kollaboration ruft sie sich zur Ordnung und entwirft sich neu. In Deutschland manifestiert sich dies prominent in Gestalt der Kritischen Theorie, deren Schlüsselwerk, die Dialektik der Aufklärung, Mitte der Vierzigerjahre in den USA erscheint. Ein Jahrzehnt später und wahrscheinlich ohne Kenntnis dieses Werks entwickelt Barthes in seinen Mythen des Alltags eine semiologische Mythologie als kritische Wissenschaft.14 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des Mythos nutzen beide Werke zur Bekämpfung 13 14

TD, S 101. MdA, S. 88-96 sowie 147-151. Im Folgenden benutze ich den kürzeren französischen Titel Mythologies. Zur Frage nach Barthes’ Rezeption der Dialektik der Aufklärung vgl. Kapitel I.1.1.

Einleitung

des faschistischen Essentialismus: »Statistisch gesehen, ist der Mythos rechts«15 , konstatiert Barthes. Eine naheliegende Alternative, nämlich philosophische Zuflucht im Kommunismus zu suchen, trägt das postrestitutive Projekt nicht besonders weit: Auch die kommunistischen Diktaturen kennen die Sehnsucht nach der Restitution, sie verrät sich im Messianismus des teleologischen Geschichtsverständnisses. Bei aller geschichtsphilosophischen Dynamisierung rechtfertigt der Restitutionsgedanke auch hier die Unterwerfung der Individuen unter die Statik der Klassifizierung. Indem also die autoritären Regime von Faschismus und Kommunismus das Individuum durch essentialistischen oder teleologischen Restitutionsglauben vernichten, verschärft sich die Krise der Repräsentation zur menschheitsgeschichtlichen Tragödie. Um der Ausbildung solcher Denkstrukturen im philosophischen Geschäft vorzubeugen, verpflichtet Barthes wie vor ihm Adorno16 die Philosophie nunmehr auf Entsagung: Konstativen, essentialisierenden Aussagen17 kann nur begegnen, wer sich der eigenen Aussage enthält und stattdessen die Aussagen anderer analysiert. Der Gestus des ideologiekritischen Entlarvens tritt so, in beißenden Analysen massenkultureller Phänomene, an die Stelle des abschließenden Gestus von Welterklärungsmodellen.18 Philosophie wird zur Abrechnung. Es verwundert nicht, dass Barthes mit seinem essentialismuskritischen Projekt der Mythologies ins Herz der französischen 68er-Bewegung trifft. Von hier aus wird die philosophische Dynamisierung zur akademischen Routine verstetigt19 und schließlich in den postmodernen Dissoziationsbewegungen und konstruktivistischen Hoffnungen der 80er- und 90er-Jahre radikalisiert – deren Morgenröte Barthes noch erlebt.

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MdA, S. 138. Es geht der vorliegenden Arbeit nicht darum, sämtliche Phänomene der Nachkriegsphilosophie auf die Ereignisse der Dreißiger- und Vierzigerjahre zurückzuführen – wie bereits geschildert, beginnt die Zersetzung essentialistischer Vorstellungen Jahrhunderte vorher. Dennoch lässt der Blick auf die nationalsozialistischen Verheerungen die Dringlichkeit und Emphase klarer einordnen, mit der die Ansprüche der hier behandelten Denker auftreten – zumal der Nationalsozialismus bei allen drei Autoren, mehr oder weniger stark, als Bezugspunkt explizit gemacht wird. »[…] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.« (AGS 10.1, S. 30.) Vgl. hierzu ausführlich Kapitel II.1. An die Stelle des Dialogischen tritt für Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die Resignation desjenigen, der bar aller Gesprächspartner lediglich eine Flaschenpost in eine ungewisse Zukunft schicken kann, auf einen künftigen Adressaten hoffend: »Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.« (AGS 3, S. 294.) Ausführlich erläutere ich diese Entwicklung und ihre philosophischen Konsequenzen in Kapitel II.3.

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So wird die Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg die Geister, die sie rief, nicht mehr los: Gegen die diagnostizierte essentialistische Unterdrückung macht sie die moralische Pflicht zur Enthaltung und relativierenden Analyse geltend. Damit aber tilgt sie ihr Ureigenes: den Dialog. Es ist diese prekäre Lage der Philosophie, die Barthes’ philosophisches Interesse am Theater steigert, wie die folgenden Kapitel zeigen werden. Die ästhetische Form erscheint als philosophisches Refugium zwischen Essenz und Konstrukt – als letzter Ort des Sagens.

Fragen, Konzepte, Ziele Entgegen einer geläufigen Darstellung Brechts und Artauds als Antipoden20 zeigt die vorliegende Arbeit eine Verwandtschaft der beiden Autoren in kulturphilosophischer, ästhetischer und epistemologischer Hinsicht auf: Brechts Theater der Distanz ist nicht ohne die Materialität der Gebärde und Artauds Theater der Gebärde nicht ohne eine Epistemologie des Körpers zu haben. Dabei geht es keineswegs um eine Reaktivierung der beiden Theaterkonzepte im Sinne eines »Zurück zu …«. Vielmehr lassen sich an ihnen die systematische Verfasstheit von Kultur, die Spezifik

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Vgl. Nägele, Rainer: Brechts Theater der Grausamkeit: Lehrstücke und Stückwerke. In: Brechts Dramen. Neue Interpretationen, hg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1984, S. 300. Jean-François Lyotard stellt die beiden explizit gegenüber, wenn er von ihren »komplementären Analysen und Misserfolgen« spricht (vgl. ders.: Der Zahn, die Hand. In: Ders.: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, aus dem Französischen übersetzt von Eberhard Kienle und Jutta Kranz. Berlin 1982, S. 11-23, hier 13ff.). Auch Jacques Rancière arrangiert die beiden als Antipoden und verkürzt ihre Positionen zu der Formel »Distanz lernen«, »Distanz verlieren«. Vgl. ders.: Der emanzipierte Zuschauer. Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard. Wien 2 2015, S. 15. Artaud jedoch hat sich mit Brecht beschäftigt und war von der Dreigroschenoper begeistert, die er in Berlin auf der Bühne und in der Pariser Uraufführung als Filmversion gesehen hat. Zudem stellen Erwin Piscator und Wsewolod Meyerhold zwei wichtige Referenzen dar, die Brecht und Artaud teilen. Hierzu vgl. Karl Alfred Blüher: Antonin Artaud und das ›nouveau théâtre‹ in Frankreich. Tübingen 1991, S. 50-64. Der eben zitierte Aufsatz von Nägele ist einer der wenigen, die sich dezidiert der Frage nach Gemeinsamkeiten beider Autoren widmen. Für die Brechtforschung stellt, so Hans-Thies Lehmann, die Untersuchung einer Verbindung der beiden Theaterkünstler ein Desiderat dar. Hierzu siehe ders.: Schlaglichter auf den anderen Brecht. In: Ders.: Brecht lesen. Berlin 2016, S. 31-42, hier S. 35. Susan Sontag hat bereits früher die Möglichkeit einer Verbindung zwischen Brecht und Artaud angedeutet: »Wie ist es möglich, Brechts Konzeption eines lehrhaften Theaters, eines Theaters der Intelligenz, mit Artauds Theater der Magie, der Gebärde, […] des Fühlens in Einklang zu bringen?« (Susan Sontag: Marat/Sade/Artaud. In: Dies.: Kunst und Antikunst: 24 literarische Analysen. Übersetzt von Mark W. Rien, Frankfurt a. M. 9 2009, S. 212). Für Sontag bleibt diese Verbindung uneingelöst. Barthes selbst nennt Brecht und Artaud öfters in einem Atemzug, ohne sie jedoch konsequent voneinander abzugrenzen (vgl. Kap. II.1.3 sowie Melanie Reichert: Der heterologische Gott. Roland Barthes über die Grenzen und Potentiale des Schreibens mit Artaud. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2/2017, S. 235–246, hier S. 241.

Einleitung

ihrer Formungsprozesse sowie die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Subvertierung studieren – dies ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Leitend ist die Prämisse, dass die philosophischen Implikationen der Konzepte gerade für das Heute relevant sind, in dem die vormals emanzipatorische Leistung konstruktivistischer Ansätze mit der ökonomistischen Austauschbarkeitslogik gemeinsame Sache macht21 und die Sehnsucht nach Sicherheit und Verbindlichkeit zur Invokation überwunden geglaubter Essentialismen führt – viele Gespenster gehen derzeit um in Europa. Als Versuch, Ambivalenztoleranz zu kultivieren, ist das Theater des Nichtverstehens für eine Zeit der Grabenkämpfe relevant, insofern es einen dritten Weg der Selbstverständigung figurieren lässt, der nicht jenseits der Frontlinie verläuft, sondern auf ihr. Das Phänomen des Nichtverstehens dient der folgenden Auseinandersetzung als konzeptueller Nexus, über den die drei in Darstellungsform, Anspruch und Temperament sehr heterogenen Autoren verbunden werden. Ein grundlegendes Ziel der vorliegenden Arbeit besteht deshalb zunächst darin, die impliziten und expliziten philosophischen Fundamente der Konzepte freizulegen. Das Paradox des Theaters des Nichtverstehens lässt sich, so soll zudem gezeigt werden, unter der Bedingung eines bestimmten Kulturverständnisses auflösen, das Kultur an einen Horizont des Verstehens bindet: Kultur ist als Vorgang des Hervorbringens und Festigens von Selbstverständlichem zu fassen. Die Auseinandersetzung mit den Autoren erlaubt eine schärfere Konturierung des Verhältnisses der beiden Topoi. Die vorliegende Untersuchung deutet das Theater des Nichtverstehens als Aufforderung, in post-alethischen Zeiten anzukommen. Als Nachahmung der Krise der Wahrheit gibt es den Blick frei auf die menschliche Leistungsfähigkeit, die offenbar auch da noch Stabilität hervorbringt, wo keine Hoffnung auf Endgültigkeit mehr besteht. Es wird sich zeigen, dass alle drei Autoren ein durchaus ambivalentes Verhältnis zum Verstehen unterhalten, das im Licht ihrer Konzepte sowohl als menschliches Übel als auch als menschliche Leistung erscheint, mit der der Mensch zunächst seine eigene epistemische Unzulänglichkeit auffängt. Geronnen zum Selbstverständlichen organisiert es soziale Interaktion im Modus kultureller Übereinkünfte und Üblichkeiten, indem es nicht Wahrheit erkennen lässt, sondern Bedeutung erschafft.22

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Zu dieser Diagnose vgl. ausführlich das Kapitel I.3. Wahrheit und Bedeutung grenze ich dadurch voneinander ab, dass erstere als überzeitlich und subjektunabhängig und als etwas dargestellt wird, das »irgendwo fertig bereitliege« (Konersmann: Kulturelle Tatsachen. Frankfurt a. M. 2006, S. 380). Dass Bedeutung historisch subjektiv gebunden ist, heißt indes nicht, dass sie nicht »gilt«, also keine Konsequenzen für das Leben der Individuen zeitigt, denn sie konstituiert sich durch das menschliche Gerichtetsein, das »Woraufhin menschlichen Agierens« (Christian Krijnen: Bedeutung. In: Handbuch Kulturphilosophie, hg. von Ralf Konersmann. Stuttgart 2012, S. 279-287, hier S. 280).

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Implizit ist dem Theater des Nichtverstehens ein Kulturverständnis, das die Verschiebung vom possessiven zum prozessualen Kulturbegriff mitvollzogen hat, die sich seit Beginn der Neuzeit ereignet: Die neuzeitliche Kultur ist nicht etwas, das man ›hat‹, und was einem je schon gegeben und verfügbar ist; sie umfasst die ganze, unabsehbare Fülle menschlicher Leistung, als deren Manifestation die kulturellen Tatsachen von nun an verstanden sein sollen.23 Für Barthes, Brecht und Artaud wird das im kulturellen Prozess zum Selbstverständlichen geronnene Verstehen zum Gegenstand der Kulturkritik, insofern es seine Behelfsmäßigkeit verschleiert, Bedeutung mit Wahrheit vertauscht und so die Dynamik und den prekären Charakter von Kultur leugnet. Gegen eine solche Verschleierung soll Kultur im Theater als riskanter Prozess erfahrbar werden. Auf die Beständigkeit der Werke und die Treffsicherheit ihrer Repräsentationsleistung kann nicht mehr gebaut werden, auf diese Einsicht gründet der sich im 20. Jahrhundert vollziehende Paradigmenwechsel vom Werk zum Prozess, der im Begriff der Performativität Ausdruck findet. Der Begriff bringt sowohl das aktivische als auch das passivische Moment des Prozesshaften zum Ausdruck, insofern er einerseits Geschehen, andererseits Vollzug im Sinne eines Wirklichkeit verändernden Tuns bedeutet.24 Im Falle unserer drei Autoren wird der Begriff sowohl mit Bezug auf ihr Kulturverständnis als auch mit Bezug auf die Modi ihrer Kulturkritik relevant, wie zu zeigen sein wird. Aus der den Konzepten zugrunde liegenden Vorstellung von Kultur heraus und mit Blick auf ihre Privilegierung des Nichtverstehens stellen sich der vorliegenden Arbeit Fragen nach der Beschaffenheit der mobilisierten Nichtverstehensphänomene. So wird untersucht, in welchen Strategien sie manifest werden können, in welchen Formen sie auftreten und welche Verstehensarten sie subvertieren. Entscheidend für die Fragerichtung der vorliegenden Untersuchung ist dabei die Spezifik der theatralen Form: Diese wird nicht im Sinne der Kulturinstitution aufgefasst, sondern als Weise des Weltzugriffs und epistemische Strukturierung. Als solche wird sie in Auseinandersetzung mit den Ansprüchen der Autoren auf ihre subversive Potenz hin befragt. Das Phänomen der Theatralität, so soll hierbei gezeigt werden, stellt für alle drei Autoren den Dreh- und Angelpunkt ihrer Subversionsansprüche dar. Es ist 23

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Konersmann: Metaphern für Kultur. In: Handbuch Kulturphilosophie, hg. von Ralf Konersmann. Stuttgart 2012, S. 429-436, hier S. 432. Konersmann spricht von der kulturphilosophischen »Prozessualmetaphorik« als Alternative zur »Possessivmetaphorik« (ebd.). Dieser Terminologie entlehne ich den Begriff des »prozessualen« Kulturverständnisses. Ich gebrauche Performativität im Folgenden in beiden Bedeutungen – welche Bedeutung jeweils gemeint ist, werde ich kennzeichnen. Zum Begriff siehe Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 29.

Einleitung

jedoch nötig, für das Theater des Nichtverstehens zwei Formen25 zu unterscheiden, in denen es auftritt: Erstens als Fähigkeit der Distanzierung, zweitens als Ereignis der Affizierung. Beide Ausprägungen haben epistemologische Konsequenzen. In der ersten Gestalt des Phänomens überwiegt – hier folge ich Josette Féral und Ronald P. Bermingham26 – das aktivische Moment. Die hier vollbrachte epistemische Leistung lässt sich durch Analogisierung mit dem Aufbau der Guckkastenbühne verdeutlichen, wo ein Graben, eine Kluft, Zuschauer und Schauspiel trennt. Die Fähigkeit zur Theatralität besteht darin, Zuschauer seines eigenen Alltags zu werden und dessen immersive Kraft zu brechen. Auf unseren Zusammenhang gemünzt, besteht Theatralität in der Fähigkeit zur Zerklüftung des Bedeutungskontinuums des selbstverständlichen Alltäglichen. Als Kunst der Emersion, des Erwachens konstituiert sie die Mythologies und den V-Effekt des dialektischen Theaters, ich bezeichne sie im Folgenden als »Theatralität der Distanz«. Die zweite Gestalt der Theatralität, die im Theater des Nichtverstehens auftritt, wird von Barthes selbst beschrieben. Sie bezeichnet den Moment, in dem der Betrachter eines Gegenstandes oder eines Körpers sinnlich so sehr affiziert wird, dass Signifikant und Signifikat auseinandertreten. Auch hier zeigt sich27 etwas wie im Theater: Der Signifikant tritt gleichsam als »er selbst« auf, das heißt im Sosein28 seiner spezifischen materiellen Beschaffenheit. Im Unterschied zur Theatralität im

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Für einen Überblick über die mannigfachen Nuancen und Konzepte des Begriffs – wie auch eine explizite Auseinandersetzung mit dem Barthes’schen Konzept der Theatralität, das ich in Abschnitt II.1.3 aufnehme – siehe Gerald Siegmund: Jérôme Bel. Dance, Theatre, and the Subject. London 2017, S. 82-98. Josette Féral und Ronald P. Bermingham: Theatricality: The Specificity of Theatrical Language. In: SubStance 31/2/3 (2002), S. 94-108, hier S. 98f. Dieses Phänomen beschreibt ausführlich Dieter Mersch, der in diesem Zusammenhang zwar mit dem Begriff der Performativität, als erlebtes Geschehen des Bedeutungsentzugs, nicht aber mit dem der Theatralität arbeitet (vgl. Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002, S. 104ff.). Dieses Sosein ist nicht zu verwechseln mit einem überzeitlichen und subjektunabhängigen »Ding an sich«, auf das derzeit insbesondere – in verkürzender Kritik an Kant – die Theorien des spekulativen Materialismus zugreifen wollen (vgl. etwa den Band Realismus jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, hg. von Armen Avanessian. Berlin 2013). Diese Entwicklung kann als Backlash mit Bezug auf Theorien der Postmoderne und des Konstruktivismus interpretiert werden, hier schließe ich mich Blättler an: In Abkehr von diesen Theorien »ist ein neues beziehungsweise erneutes Interesse an subjektunabhängigen Entitäten, unmittelbarer Körperlichkeit und fragloser Realität […] zu verzeichnen.« (Blättler: Fetisch, Phantasmagorie und Simulakrum. In: In Gegenwart des Fetischs: Dingkonjunktur und Fetischbegriff in der Diskussion, hg. von Christine Blättler und Falko Schmieder. Wien 2014, S. 279-294, hier S. 284.) Im Gegensatz zum Ding an sich ist der Signifikant im Ereignis der Theatralität gerade nicht subjektunabhängig, sondern an unser Affiziertsein gekoppelt: Seine Materialität erscheint niemals unabhängig von unseren Vorlieben, unseren Körpern, unseren Assoziationen und Erinnerungen.

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Kultur in Stücken

Sinne Férals und Berminghams jedoch stellt die Theatralität im Sinne Barthes’ – die ich im Folgenden als »Theatralität der Signifikanz« bezeichne – keine Distanzierung, sondern eine affektive Involvierung dar. Gemeinsam haben beide Formen, dass sie sich im Ästhetischen vollziehen und als epistemologische Fähigkeiten des Menschen nicht an die Institution und Kunstform des Theaters gebunden sind, sie können auch in anderen Lebenszusammenhängen auftreten. Aber aufgrund der spezifischen Struktur der Kulturform Theater – Ort des Zeigens, der körperlichen Präsenz und der Unwiederholbarkeit des Aufführungsereignisses – können die beschriebenen Phänomene hier in besonderem Maße zur Form gestaltet und studiert werden. Freilich kann das Theater diese Potenz auch unausgeschöpft lassen, genau hierauf richtet sich der Vorwurf Brechts, Artauds und Barthes’. Die Möglichkeit einer solchen konzeptuellen Klassifizierung von Subversionsstrategien darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass über ihre tatsächliche Wirksamkeit damit noch gar nichts gesagt ist. Auch hier ist die Unterscheidung zwischen den Annahmen der Theorie und der Eigengesetzlichkeit des Aufführungsereignisses erforderlich. Immer wieder wird daher, sowohl in den Einzelstudien zu den Autoren als auch übergreifend, kritisch zu fragen sein, unter welchen Bedingungen sich Subversion durch Nichtverstehen überhaupt ereignen kann. Daneben wird zu fragen sein, wie das Paradox wirkender Hermetik – als solche charakterisiert die vorliegende Arbeit das Theater des Nichtverstehens – mit Bezug auf philosophische und künstlerische Subversivitätserwartungen zu bewerten ist. Aus dem bisher Gesagten ergeben sich die drei Kernthesen der vorliegenden Untersuchung: Erstens zeigt das Theater des Nichtverstehens, dass Verstehen die Leistung eines Behelfs ist – es ist also immer auch ein Theater des Verstehens. Bei aller Bedeutungsauflösung geht dieses Theater nicht in der reinen Zerstörung auf. Zweitens enthüllt das Theater des Nichtverstehens durch die Wahl seiner Form, dass Kultur ein Pharmakon ist: Gift und Medizin zugleich29 . Der Ausgang kultureller Bedeutungsgabe und ihrer Subvertierung ist ungewiss. Wenn Kultur in Stücke geht, kann Freiheit oder Tyrannei das Ergebnis sein. Drittens lässt das Theater des Nichtverstehens aus der Einsicht heraus, dass wir nicht hinter unser behelfsmäßiges Verstehen zurücktreten können, also immer

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Zu dieser Doppelbedeutung des Pharmakonbegriffs vgl. Henry George Liddell und Robert Scott: A greek english Lexicon compiled by Henry George Liddell and Robert Scott. A new Edition revised and augmented throughout by Henry Stuart Jones with the assistence of Roderick McKenzie and with the cooperation of many scholars. Vol. II: λ–ᾠώδης, with addenda and corrigenda. Oxford 1951, S. 1917.

Einleitung

schon selbst das Pharmakon verabreichen, die Idee einer neuen Positivität figurieren. Diese ist weder konstruktivistisch noch essentialistisch, sondern vom Bewusstsein der Behelfsmäßigkeit und Geschichtlichkeit des eigenen Verstehens getragen. Als Form performativer Kulturkritik zieht das Theater des Nichtverstehens selbst methodologische Konsequenzen, die zwischen der Negativität des Enthüllens und der Positivität des Entwerfens dazu auffordern, sich der Enthaltung zu enthalten.

Methodische Herausforderungen Die Inkommensurabilität der Formen gehört zu den methodologisch entscheidenden Prämissen dieser Untersuchung: Mit der Form ändert sich der Inhalt, was das Theater als ästhetische Form leistet, kann niemals vollständig in die begrifflichprädikative Form der Theorie übersetzt werden. Im Wissen um diese Uneinholbarkeit des künstlerischen Ereignisses selbst nimmt die vorliegende Auseinandersetzung den Umweg über die konzeptionellen Texte Brechts und Artauds, wie etwa das Kleine Organon für das Theater und Das Theater und sein Double. Das Phänomen der Künstlerästhetik selbst kann als Ausdruck einer Krise verstanden werden: Hier artikuliert sich ein Vermittlungsbedürfnis aus dem Bewusstsein heraus, dass die Kunst auf ihre allgemeinmenschliche Verständlichkeit und Wirksamkeit nicht mehr bauen kann.30 Freilich widersetzen sich auch diese Texte der Überführung in geschlossene Theoriegebilde und stellen oftmals eigene künstlerische Objekte dar.31 Die philosophische Auseinandersetzung mit dem Theater des Nichtverstehens wird also durch ihren genuin heuristischen Charakter gekennzeichnet sein. Dazu gehört, dass die methodischen Herausforderungen bei Brecht und Artaud nicht einheitlich sind und auf Universallösungen nicht zu hoffen ist. Obwohl im Folgenden die allgemeineren methodischen Zugriffe erläutert werden, wird es daher nötig sein, in den Einzelstudien der beiden Autoren an Ort und Stelle zusätzliche methodologische Reflexionen vorzunehmen, die Auswahl der Schriften zu begründen und Schwierigkeiten sowie Unauflösbarkeiten klar zu benennen. Obwohl die philosophische Entwicklung Barthes’ die Folie darstellt, mit deren Hilfe die theatertheoretischen Schriften Brechts und Artauds kulturphiloso30

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Einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung des Phänomens der Künstlerästhetik, insbesondere mit Blick auf das marxistisch inspirierte Genre des Künstlermanifests, bietet Martin Puchner: Poetry of the Revolution. Marx, Manifestos and the Avant-Gardes. Princeton and Oxford 2006, S. 11-22 sowie S. 33ff. Insofern es sich in einer Zeit der Umbrüche am nicht mehr möglichen Vergangenen abarbeitet, handelt es sich beim Phänomen der Künstlerästhetik um ein modernes Phänomen (ebd., S. 7). Im Gegensatz zur philosophischen Abhandlung handelt es sich bei Künstlerästhetiken um Texte, die den Bezug zur Lebensrealität ihrer Verfasser klar erkennen lassen und zudem Sprache und Aktion verbinden (vgl. ebd., S. 23). Puchner fasst das Genre des Manifests aus diesem Grund als theatrales Textgenre auf (ebd., S. 32).

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Kultur in Stücken

phisch perspektiviert werden, ist es der vorliegenden Arbeit ein Anliegen, nicht nur aus der Philosophie heraus das Theater zu befragen. Daher sollen auch mit den Implikationen des Theaters Annahmen der Philosophie herausgefordert werden, zumal sich aus der historischen Nachrangigkeit der Philosophie Barthes’, wie aus dessen Selbstbezeichnung als »Signaletik[er]«32 die Notwendigkeit ergibt, die theatrale Form auch als Folie für eine Untersuchung seiner Methodologie heranzuziehen. Diese Verklammerung leistet die vorliegende Arbeit, indem sie die Autoren – die sich, wie erwähnt, teilweise gegenseitig rezipiert haben – in Dialog treten lässt. Schwerpunkte dieser verschränkten Lektüren33 bilden die Synergieeffekte zwischen Barthes und Brecht sowie zwischen Barthes und Artaud. Resonanzen zwischen Brecht und Artaud werden, um Redundanzen zu vermeiden, jeweils an passender Stelle innerhalb der Studien thematisiert. Die theatertheoretischen Konzepte Brechts und Artauds werden unter philosophischen Gesichtspunkten gelesen und ihre ästhetischen Phänomene auf ihre epistemologische34 und subversive Potenz hin befragt. Gleichzeitig aber wird, exemplarisch mit Blick auf Barthes, die Philosophie auf ihre eigene Ästhetizität und Theatralität hin untersucht. Dies geschieht, auch hier im Sinne der Heuristik, mithilfe des Verfahrens der Figuration. Dieses verstehe ich im Anschluss an Erich Auerbach und Ottmar Ette als »Form-Modellierung« nicht im Sinne einer abschließbaren monolithischen Hervorbringung, sondern als ein der Dynamik verpflichtetes modellierendes Verfahren.35 So werde ich in der Lektüre seiner Schriften einen »Brecht’schen«, wie auch einen »Artaud’schen« Barthes figurieren, der sich freilich nicht in rezeptionsgeschichtlichen Rekonstruktionen erschöpft. Inspiriert ist dieses Verfahren von Barthes selbst, der auf Brecht die Methode des Herauslesens

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»Das Theater hat mit allen anscheinend eigenartigen Themen zu tun, die vorbeigehen und wiederkehren in dem, was er schreibt: Konnotation, Hysterie, Fiktion, Imaginarium, Szene, Schönheit, Bild, Orient, Gewalt, Ideologie […]. Was ihn angezogen hat, ist weniger das Zeichen, als das Zeichen geben, das Plakat: die Wissenschaft, die er begehrte, war nicht eine Semiologie, es war eine Signaletik.« (ÜM, S 209.) Die Signaletik ist also das Studium des Zeichengebens und daher eines theatralischen Aktes. Damit wird nun das Theater für Barthes’ Philosophie zum formgebenden Prinzip par excellence: Es verfügt – das machen auch Brecht und Artaud geltend – über die besondere Möglichkeit, das Zeichengeben selbst noch zu zeigen. Vgl. Melanie Sehgal: Eine situierte Metaphysik. Empirismus und Spekulation bei William James und Alfred North Whitehead. Konstanz 2016, S. 25ff. Nicht zu verwechseln ist diese Befragung alternativer Erkenntnisformen mit einer schlichten Gleichsetzung von Kunst und Wissenschaft, welche Gefahr läuft, die Inkommensurabilität und Eigengesetzlichkeit ästhetischer Phänomene zu tilgen und die Legitimität künstlerischer Formen zugunsten rationalistischer Verwertbarkeitslogiken preiszugeben. Ottmar Ette: Kommentar. In: Roland Barthes: Die Lust am Text, aus dem Französischen von Ottmar Ette. Berlin 2010, S. 87-494, hier S. 119. Ausführlicher hierzu Erich Auerbach: Figura. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern 1967, S. 55-92, hier insbes. S. 55.

Einleitung

bestimmter Diskurse36 anwendet, was in der Brechtstudie nochmals ausführlicher dargestellt wird. Philosophiehistorische Verweise auf die Konzepte anderer Autoren37 – dies betrifft etwa den Begriff des Mythos – erfolgen nicht mit dem Anspruch einer umfassenden Genealogie oder vergleichenden Lektüre. Vielmehr geht es im Sinne der historischen Semantik38 darum, die philosophischen Implikationen der Autoren zu verdeutlichen und die Einsätze ihrer Kritik stärker zu konturieren. Darüber hinaus zeigen Bezugnahmen auf andere Autoren den Reichtum der spezifisch philosophischen Desiderate, welche die Auseinandersetzung mit den Theaterautoren offenbart. Aus der disziplinären Verschränkung von Philosophie und Theater, die die Arbeit der hier untersuchten Autoren kennzeichnet, ergibt sich nicht nur ein großer Reichtum an philosophiehistorischen Referenzen, sondern auch an Begriffen und Metaphern – mit changierenden Einzelbestandteilen. Dieser Komplexität nähert sich die vorliegende Untersuchung auf zwei Ebenen: In den Kapiteln des ersten Teils erfolgt eine grundlegende, das Bedeutungsfeld für unseren Zusammenhang absteckende Behandlung der Schlüsselbegriffe Nichtverstehen, Postrestitutivität, Pharmakon, Sprache, Ideologie, Mythos, Anamorphose, welche die Untersuchung umspannen. Ihr changierender Charakter erfordert darüber hinaus ihre zusätzliche Behandlung in den Einzelstudien der Autoren im zweiten Teil der Untersuchung. Dies betrifft insbesondere die Konturierung der Verstehens- und Nichtverstehenskonzepte und den Begriff des Mythos.

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Vgl. RdS, S. 241f. Zu diesen Schlüsselautoren gehören, je nachdem, ob von Brecht, Artaud oder Barthes die Rede ist, Ferdinand de Saussure, Karl Marx, Claude Lévi-Strauss, Walter Benjamin, Sigmund Freud, Jacques Lacan. Eine Ausnahme stellt Friedrich Nietzsche dar, der für alle drei Autoren eine wichtige Referenz bildet. Die Einflüsse dieser Philosophen sind – speziell bei Brecht und Artaud – nicht immer klar nachvollziehbar. Ihre Theorien tauchen teilweise eher als Figuren in den Texten auf, als Phänomene einer Problemanzeige, als Paten bestimmter Methoden oder als Begriffsreservoir. Im philosophischen Projekt einer Historischen Semantik artikuliert sich ein Philosophieverständnis, das »auch solche Gegenstände als potentiell philosophisch erfassen [kann], die zu ihrer Zeit entweder noch nicht als philosophische Gegenstände behandelt wurden […] oder aber nicht mehr als philosophisch gelten (weil sie zu speziellen Gegenständen von Einzelwissenschaften geworden und dementsprechend abgewandert sind). Es ist eine Konsequenz der von ihr gesuchten Gegenstandsnähe, daß die Historische Semantik derlei Kontextveränderungen durchkreuzt, um so den fachübergreifenden Phänomenen des Philosophierens auf die Spur zu kommen. Zusammen mit den Traditionen ihres eigenen Faches erschließt sie jene philosophischen Potentiale, welche Kunst, Literatur und Einzelwissenschaften […] einst für ihre eigene Praxis aufgegriffen und […] reorganisiert haben.« (Konersmann: Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1999, S. 53. Herv. i. O.)

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Kultur in Stücken

Ein Wort zum Schluss dieser einleitenden Bemerkungen: Es kann bei der Frage nach der Wirksamkeit hermetischer Formen – hierunter fällt das Theater des Nichtverstehens – nicht darum gehen, die Weise ihres Funktionierens gleichsam mechanistisch erhellen zu wollen. Ein solches Vorgehen würde den Zugang zu den Besonderheiten hermetischer Formen eher verschließen, da es diese eben nicht in ihrer Andersartigkeit gelten lässt, sondern hier wiederum nur das sichtbar macht, was an ihnen noch der mechanistischen Logik folgt. Stattdessen soll es darum gehen zu erhellen, worin der Protest einer interventiven Aufladung des Hermetischen vor dem Hintergrund eines Verfalls herkömmlicher Interventions- und Gestaltungsformen besteht. Zum anderen wird nach den Herausforderungen zu fragen sein, vor die ein solches hermetisches Theater sein Publikum wie auch sich selbst stellt. Und schließlich können die Besonderheiten ästhetischer Subversivität konturiert werden, allerdings stets unter Vorbehalt: Ob sie sich tatsächlich manifestiert, wird auch die elaborierteste Theorie niemals sagen können.

Überblick über die Untersuchung Um der Spezifik, den Eigenwilligkeiten und der begrifflichen Widerständigkeit der hier untersuchten künstlerischen Konzepte gerecht zu werden, agiert die vorliegende Auseinandersetzung auf zwei Ebenen: Zunächst wird im ersten Teil ein systematisches Panorama entworfen, vor dessen Hintergrund dann die Exploration der Texte Barthes’, Brechts und Artauds in Einzelstudien erfolgt. Entsprechend werden in den Kapiteln des ersten Teils die alle drei Autoren betreffenden Konzepte, Konstellationen und Probleme vorgestellt. Schwerpunkte bilden das Konzept der Kultur und ihrer Kritik in postrestitutiven Zeiten, der Begriff des Nichtverstehens, sein Verhältnis zum Verstehen und die damit verbundene Frage nach seiner epistemologischen Potenz, die mit der Krise des Wahrheitsbegriffs akut wird. Darüber hinaus werden die Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Subversion, ihre Wirkweise und Reichweite untersucht. Ein letzter Schwerpunkt liegt auf den eigentümlichen Aporien philosophischer wie künstlerischer subversiver Praxis, die diese zum einen beständig unterlaufen, deren Konsequenzen zum anderen aber für die Idee einer am Dialogischen orientierten neuen Positivität fruchtbar gemacht werden können. Der zweite Teil des Buches liefert die Studien zu Barthes, Brecht und Artaud. Die Auseinandersetzung mit Barthes erfolgt in zwei getrennten Kapiteln. Damit wird die Untersuchung entlang zweier epistemologischer Linien organisiert, die seine Philosophie unter dem Gesichtspunkt des Theaters erkennen lässt: Die eben bereits erwähnten Kategorien von Theatralität der Distanz und Theatralität der Signifikanz. Beide Formen stehen für zwei nicht sauber abtrennbare, aber unterscheidbare Tendenzen in Barthes’ Werk, die methodologischen Niederschlag finden, zunächst in der Mythologie, dann in einer Erotik des Nichtverstehens.

Einleitung

Entsprechend der Figuration eines »Brecht’schen Barthes« wird im ersten Kapitel des zweiten Teils zunächst der Barthes der Mythologies thematisiert. Die Untersuchung fokussiert dabei auf Barthes’ Kulturverständnis, das sich im Sinne der Paradigmen des Postrestitutiven und Prozesshaften als Hervorbringung von Verstehen charakterisieren lässt. Sodann wird seine mythologische Methode als ideologiekritisches Verfahren der Entselbstverständlichung durch Theatralität ausgewiesen. Dabei werden insbesondere Parallelen zum Nichtverstehensmoment des Brecht’schen Verfremdungseffekts beleuchtet. Dem folgt eine kritische Auseinandersetzung mit den Konsequenzen dieses Verfahrens. Daran anschließend und in Überleitung zur Brechtstudie wird das Verhältnis Barthes’ zum Theater im Allgemeinen und zu Brecht und Artaud im Besonderen skizziert. Hierbei liegt ein besonderes Gewicht darauf, für Barthes’ Werk die beiden bereits erwähnten Epistemologien der Theatralität nachzuweisen: die Theatralität der Distanz und die Theatralität der Signifikanz. Von ersterer zehrt besonders die Mythologie, von letzterer zehren besonders die späten Schriften. Das zweite Kapitel umfasst die Einzelstudie zum Theater des Nichtverstehens, wie es sich in Brechts dialektischem Theater manifestiert. Nach einer kurzen, brechtspezifischen Methodenreflexion wird zunächst Brechts Kulturkritik konturiert. Dies geschieht unter Rückgriff auf das systematische Instrumentarium der Kulturphilosophie Barthes’, die Kultur und Verstehen verklammert. Mit dem Verfremdungseffekt zielt Brecht zum einen auf die Erfahrung der Theatralität der Distanz, mit dem Konzept des Gestus darüber hinaus auf die Erfahrung der Theatralität der Signifikanz. Entlang dieser Phänomene wird das Theater Brechts als dialektische Erfahrung zwischen Verstehen und Nichtverstehen beschrieben. Im nächsten Schritt wird sein Theater als Versuch interpretiert, eine durch die Lust am Ungewissen fundierte Lust an der Gestaltung zu kultivieren, die dem essentialistischen Fatalismus wie der konstruktivistischen Gleichgültigkeit entgegenstehen soll. Im letzten Schritt wird das Konzept auf seine epistemologische Potenz für eine Einsicht in die prozessuale und prekäre Beschaffenheit von Kultur hin befragt und als Form subversiver Hermetik ausgewiesen. Das dritte Kapitel widmet sich erneut Barthes. Ausgehend von einer im ersten Schritt vorgenommenen zeithistorischen Kontextualisierung der Krise der Mythologie und den von Barthes gezogenen inhaltlichen und methodologischen Konsequenzen wird hier ein »Artaud’scher Barthes« figuriert. In Abgrenzung zur Theatralität der Distanz des mythologischen Verfahrens widmet sich Barthes nun, so wird gezeigt, stärker der eigentümlichen Subversivität der ästhetischen Erfahrung im Sinne der Theatralität der Signifikanz. Auf inhaltlicher wie methodologischer Ebene begegnet uns hier eine Variante des Nichtverstehens, die im Sinne des Pharmakons zum riskanten Spiel mit der Destruktion der Kultur verführt, so zeigt der letzte Schritt.

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Kultur in Stücken

Die Studie zu Artaud bildet das vierte Kapitel des zweiten Teils meiner Untersuchung. Auch hier eröffnet, wie im Falle Brechts, eine eigene kurze Methodenreflexion die Auseinandersetzung. Im ersten Schritt werden das dem Theater Artauds zugrunde liegende Kulturkonzept und seine Kulturkritik freigelegt. Auch diese sind untrennbar mit Phänomenen des Verstehens verklammert. Im Anschluss daran wird eines der wohl wichtigsten Konzepte Artauds, die Grausamkeit, kultur- und bedeutungsphilosophisch kontextualisiert. Die Ergebnisse bilden den Ausgangspunkt für eine Exploration konkreter Strategien des Unverständlichmachens, derer sich das Theater der Grausamkeit bedient, besonders der Pantomime, der Stimme und des mythischen Denkens. Im letzten Schritt der Artaudstudie wird das Konzept als Teil einer – auch bei Barthes erkennbaren – Erotik des Nichtverstehens ausgewiesen, die ebenso wie die Konzepte der beiden anderen Autoren auf eine Konfrontation mit den Herausforderungen des Ambigen und Ambivalenten und damit auf ein Erwachen in der Moderne zielen. Im Schlussteil meiner Untersuchung werden die Ergebnisse zusammengefasst, für die weitere Auseinandersetzung perspektiviert und ihre Konsequenzen für ein Nachdenken über Essentialismus und Konstruktivismus, die Relevanz des Ästhetischen unter den Paradigmen von Rationalität und Wissenschaftlichkeit und die Bedingungen der Möglichkeit von Kulturkritik und ästhetischer Subversion beleuchtet.

I Konstellationen und Aporien

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I.1.1

Kultur als Pharmakon

Postrestitutivität und Prozessualität: Kulturkritische Paradigmen

Es wäre leicht, die kulturkritischen Anliegen der hier behandelten Autoren mit dem Vorwurf der Paradoxie, wenn nicht gar der Bigotterie, sogleich zu disqualifizieren: Wenn sowohl die Theorie (für Barthes) als auch die Kunst (für Brecht und Artaud) korrumpiert sind, warum sollte man dann noch Theorie (wie Barthes) oder Kunst (wie Brecht und Artaud) hervorbringen wollen? Diese Schwierigkeit lässt sich auflösen, wenn man den kulturkritischen Impetus, der die Basis der philosophischkünstlerischen Projekte der drei Autoren bildet, vor dem Hintergrund der Systematik spezifisch moderner Kulturkritik konturiert. Ausgangspunkt bilden die Verschiebungen innerhalb der Systematik des neuzeitlichen Kulturbegriffs, welche die Theaterkonzepte Artauds und Brechts sowie das philosophische Denken Barthes’ im Sinne einer »Kritik der Kultur im Namen der Kultur«1 überhaupt erst ermöglichen. Eine der wichtigsten Verschiebungen stellt die Relativierung des klassischen Wahrheitsbegriffs zugunsten des Begriffs der Bedeutung dar. Mit dieser Entwicklung zum post-alethischen Zeitalter wird der Weg für die künstlerische Privilegierung des Nichtverstehens geebnet, die an ideologiekritischen Impulsen ihren Ausgang nimmt. Bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen und Temperamente sind die Autoren in der postrestitutiven Perspektive vereint.2 Diese tritt seit Rousseau3 nicht mehr im Namen eines natürlichen oder metaphysischen Jenseits auf, auf dessen Wiederherstellung, Restitution, man hoffen könnte, sondern sie operiert unter der Prämisse der Immanenz der Kultur. Eine solche Form der Kritik kann sich dann auch nicht mehr darauf zurückziehen, Entsagung von den kulturellen Hervorbringungen zu beschwören. In ihr drückt sich vielmehr die Annahme der Herausforderung aus, vollends im

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Ralf Konersmann: Das kulturkritische Paradox. In: Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, hg. von Ralf Konersmann. Leipzig 2001, S. 9-37, hier S. 33. Konersmann, Kulturkritik, S. 86. Außerdem hierzu Hjördis Becker-Lindenthal: Kulturkritik. In: Handbuch Kulturphilosophie, hg. von Ralf Konersmann. Stuttgart 2012, S. 46-49. Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 24.

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Kultur in Stücken

Diesseits angekommen zu sein. Daraus ergibt sich dann andererseits die spezifische Schwierigkeit der postrestitutiven Kulturkritik, nämlich ihre Kriterien selbst hervorbringen zu müssen.4 Zunächst ist festzuhalten, dass es durchaus, in Ansätzen bei Brecht und deutlich bei Artaud, Tendenzen zur »normativen Kulturkritik« gibt.5 Diese gibt »eine Perspektive [vor], deren Horizont auf die immer schon ausgemachte Tragik des Niedergangs und auf die Verklärung vormoderner Lebensformen beschränkt bleibt«6 . Wenn vormals der Mensch als Wesen zwischen Freiheit und Notwendigkeit im Sinne der Naturnotwendigkeit gedacht wurde, so spiegelt sich in den Ansätzen Barthes’, Brechts und Artauds trotz des Zugeständnisses normativer Tendenz die anthropozentrische Neupositionierung des modernen Menschen zwischen Freiheit und Notwendigkeit im Sinne einschränkender Kulturnotwendigkeit. Aus dieser Perspektive steht die Kultur, nunmehr nicht als Haben, sondern als Machen7 verstanden, sich selbst im Weg, so die Diagnose der Autoren. Das Kriterium der Kritik ist hier, so werden die folgenden Kapitel zeigen, der Grad der Verwirklichung einer als Prozess gedachten Kultur. Das prozessuale Kulturverständnis8 geht dem restitutiven wie dem postrestitutiven Kulturbegriff voraus. Kultur kann als Prozess in verschiedene Richtungen gedacht werden, etwa als Wiederherstellung einer alten Ordnung, als messianische Erfüllung oder politisch-utopisches Zukunftsprojekt. Im Zeitalter der Postrestitutivität kann von einer wie auch immer gearteten Gerichtetheit dieses Prozesses nicht mehr ausgegangen werden, vor allem nicht mehr angesichts der politischen und moralischen Zusammenbrüche des 20. Jahrhunderts. Es gilt nun, in Bewegung zu bleiben, auch – und dies ist eine der Herausforderungen, mit denen das

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Konersmann, Kulturkritik, S. 131. Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 18. Bei Artaud etwa drückt sich die Normativität in einer Sehnsucht nach der Wiederverbindung mit einem vergessenen mythischen und körperlichen Weltbezug aus: »Es geht darum, die artikulierte Sprache durch eine von ihr abweichende Natursprache zu ersetzen, deren Ausdrucksmöglichkeiten der Wörtersprache ebenbürtig sein werden, deren Ursprung aber an einem noch verborgeneren und weiter zurückliegenden Punkt des Denkens erfasst werden wird.« (TD, S. 143.) Auch Brechts Organon kennt das Motiv der kulturimmanenten Tragik: »Wie den unberechenbaren Naturkatastrophen der alten Zeit stehen die Menschen von heute ihren eigenen Unternehmungen gegenüber.« (GBA 23, S. 72.) Anders als Artaud deutet er zwar nicht die Wiederherstellung eines verloren geglaubten Weltverhältnisses an, aber das Konzept ist dennoch von einer impliziten Hoffnung auf künftige Besserung der gesellschaftlichen Zustände geprägt. In den Einzelstudien zu Brecht und Artaud werde ich diese Aspekte erneut aufnehmen und im Verhältnis zum Gedanken des Postrestitutiven diskutieren. Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 18. Zur Ablösung des possessiven durch das prozessuale Kulturkonzept siehe Konersmann, Metaphern für Kultur, S. 429ff. Hierzu vgl. die Einleitung.

I.1 Kultur als Pharmakon

Theater des Nichtverstehens konfrontiert – wenn man nicht weiß, wo man am Ende angelangt. Unter diesen Vorzeichen werden insbesondere Topoi der Erstarrung, Verfestigung und Verewigung für die Kulturkritik relevant, die im Falle Brechts und Barthes’ von Marx, im Falle aller drei Autoren von Nietzsche inspiriert sind.9 So strebt Brechts Theater den Bruch mit unserer Gewohnheit [an], die verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen vergangener Zeitalter ihrer Verschiedenheiten zu entkleiden, so daß sie alle mehr oder weniger wie das unsere aussehen, welches durch diese Operation etwas immer schon Vorhandenes, also schlechthin Ewiges bekommt.10 Artaud schreibt in einer seiner berüchtigten Polemiken: Wir werden schon sehen, dass gerade unsere Verehrung dessen, was bereits getan ist, so schön und gültig es auch sein mag, uns versteinert, uns festlegt und uns daran hindert, mit der darunter befindlichen Kraft Kontakt aufzunehmen, die man denkende Energie, Lebenskraft, Determinismus des Austauschs, Menstruationen des Mondes oder sonstwie nennt.11 Und auch Barthes’ Ideologiekritik, die er später entlang der Idee der Performativität transformieren wird, nimmt ihren Ausgangspunkt bei den Verewigungsverfahren des bürgerlichen Mythos, der bedeutungsgenetische Prozesse als »erstarrt, gereinigt, verewigt« maskiert.12 »Der Unterdrücker konserviert«13 , so lautet Barthes’ prägnante Zuspitzung der Fünfzigerjahre. 9

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Barthes selbst erwähnt in Über mich selbst Nietzsche als entscheidenden Einfluss (ÜM, S. 71). Brechts Nähe zu Nietzsche wird von Hans-Thies Lehmann beschrieben (vgl. ders.: Brecht lesen. Gesichter und Aspekte. In: Ders.: Brecht lesen. Berlin 2016, S. 7-30, hier S. 10). Artauds Schriften weisen implizit wie explizit eine große Nähe zu Nietzsche auf (vgl. hierzu Camille Dumoulié: Nietzsche et Artaud. Pour une éthique de la cruauté. Paris 1992). Parallelen zum Denken Nietzsches thematisiere ich in den Einzelstudien zu Barthes, Brecht und Artaud an geeigneter Stelle ausführlicher. Im Falle Marx’ lässt sich für die Mythen des Alltags eine Verbindung zur Deutschen Ideologie herstellen, die dort von Barthes als Referenz genannt wird, wobei besonders die Verklammerung von Sprache und Bewusstsein als marxistisches Erbe in die Mythen des Alltags einfließt (hierzu vgl. Carlo Brune: Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben. Würzburg 2003, S. 84ff.). Brechts Verhältnis zum Marxismus ist natürlich umfassend untersucht worden, eine Auflistung kann hier nicht geleistet werden. Es sei jedoch kurz erwähnt, dass Brecht expressis verbis die Methode der »materialistischen Dialektik« (GBA 23, S. 682) im Kleinen Organon als Grundlage seiner Theaterkonzeption benennt. Auf Brechts Marxbezug, der wesentlich über Karl Korsch erfolgt ist, gehe ich in Kapitel II.2 nochmals ein. GBA 23, S. 678. TD, S. 102. MdA, S. 105. Ebd., 138.

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Kultur in Stücken

So ist es denn vor allem das Phänomen der Klassiker, das bei allen drei Autoren zum besonderen Problem wird. Allerdings eint sie ebenfalls ein systematischer Strang der Anerkennung jener Bemühungen des Inventarisierens und Ordnens, die wesentlicher Bestandteil kultureller Orientierungs- und Bewältigungsleistungen sind, und die nicht preisgegeben werden können – erst recht nicht, wenn man in hermetischen Formen, wie der künstlerischen Avantgarde, operiert. Damit lassen sich die drei Autoren dann auch von einer selbstgerecht-naiven, bloß eindimensionalen Ideologiekritik abgrenzen, die glaubt, jener Standortgebundenheit enthoben zu sein, die sie der Gegenseite vorwirft.14 So enthüllen, dies werde ich in den Einzelstudien der Autoren zeigen, die Konzeptionen auf performative Weise, eben weil sie Theater entwerfen, den postrestitutiven Standpunkt ihrer Kulturkritik. Da die Hoffnung auf neutrale Bewertung aufgegeben werden muss, wird nun die hervorgebrachte Form selbst zur »Reflexionsinstanz«15 ausgebildet. In dieser geraten die Konfigurationen des prozesshaft gedachten Kulturellen in den Blick. Das unterliegende Prozessualitätsparadigma strukturiert dabei die Möglichkeiten des Umgangs mit dem »kulturkritischen Paradox«16 , was sich in den Theaterkonzepten insofern andeutet, als sie die Möglichkeit einer Kultivierung zur Veränderungsresilienz – und eben nicht -resistenz – fokussieren. Die Kultivierung einer solchen Resilienz oder auch Toleranz gegenüber der Veränderlichkeit der Zustände ist hier, bei aller Empörung der drei Autoren über die unterdrückerische Erstarrung, keine Frage moralischer Auszeichnung, sondern schlichte Notwendigkeit. Nicht dass man fehl geht also, sondern dass man nicht geht, ist für jenes Denken, welches das Postrestitutive und das Prozesshafte verbindet, die eigentliche Verfehlung.17 Die dazu passende Metaphorik ist zu reichhaltig, um sie hier in Gänze auszumessen, es seien hier nur exemplarisch das »Erstarren«, »Versteinern«, »Verdorren« und »Einbalsamieren« als Metaphern Barthes’ und Artauds erwähnt.18 Die Projekte der drei Autoren müssen dann entsprechend als Auflösung im Sinne 14

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Die vorliegende Arbeit fasst Barthes’ Denken exemplarisch für das Ende der ideologiekritischen Illusion. Einer solchen ist sein mythologisches Projekt durchaus noch verhaftet, im Verlauf seiner philosophischen Entwicklung jedoch wird die Unmöglichkeit eines archimedischen Punktes von Kritik zum Schlüsselmotiv. Dem widmen sich die Kapitel II.1 und II.3 ausführlich. Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 19. Ebd., S. 33. Das kulturkritische Paradox bezeichnet nach Konersmann den Umstand, dass die Kulturkritik ihre Bewertungskriterien nicht mehr von einem Standpunkt außerhalb ihrer eigenen Kultur aus gewinnen kann, sondern selbst in diese verstrickt ist. Vgl. hierzu Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken. München 1978, S. 180ff. Vgl. bspw. Artaud TD, S. 102 und 155, bei Barthes MdA, S. 105 sowie 146. Brechts Umgang mit dem Problem erfolgt in den theoretischen Schriften eher im Geiste einer positiven Zielsetzung auf Produktivität und Lebendigkeit hin, hierzu vgl. etwa GBA 23, S. 290.

I.1 Kultur als Pharmakon

von Wiederverflüssigung und Reanimation gefasst werden. Eine andere, ebenso wichtige Metaphorik, die bei den Autoren zutage tritt, ist die des Zerbrechens und Zerstückelns, und zwar mit dem Ziel der Verfügbarmachung für montierend-konstruierendes Eingreifen.19 Barthes schließlich verschränkt in Die Lust am Text die beiden metaphorischen Felder, wenn er das subversive Moment der Jouissance als Ineinandergreifen von Zerstückelung der Kultur und Auflösung des Subjekts charakterisiert.20 Die vorliegende Untersuchung fasst beide metaphorischen Felder zusammen, insofern ihnen gemeinsam ist, dass sich in ihnen die Idee eines schöpferischen Zerstörens ausdrückt, als lebenskunsttheoretische Entsprechung zum postrestitutiv-prozessualen Denken. Die Verbindung von Kritik und Schöpfung erlangt im 20. Jahrhundert, sicher auch unter dem Eindruck des Versagens herkömmlicher politischer Interventionsformen, besondere Prominenz. Für Walter Benjamin ist sie Erbe der Romantik, die die große Verschiebung des Kritikbegriffs durch Kant für ihre Kunstphilosophie nutzbar macht: Hier heißt Kritik nicht Beurteilung, sondern »für die Romantiker und für die spekulative Philosophie bedeutete der Terminus kritisch: objektiv produktiv, schöpferisch aus Besonnenheit«.21 Dieses Erbe wird er in seinen eigenen Schriften performativ antreten. Dies ist nur einer der Punkte, den das Denken Adornos mit den wenige Jahre später entstehenden ideologiekritischen Überlegungen Barthes’ teilt: Der Begriff des Mythos, ein Schlüsselbegriff für das kritische Vorhaben sowohl der Dialektik der Aufklärung als auch der Mythen des Alltags, wird in einem gesonderten Abschnitt behandelt und weist zwischen Deutschland und Frankreich erstaunliche Parallelen22 auf. 19

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Vgl. hierzu Barthes LT, S. 66, Brecht GBA 23, S. 680. Artaud spricht vom Schauspiel der Formbildung und Formzerstörung auf der Bühne, die den Menschen seine eigene formbildende Kraft zeigt, hierzu TD, S. 51 und 66. LT, S. 79. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Ders.: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3, hg. von Uwe Steiner. Frankfurt a. M. 2008, S. 55. Dies erstaunt umso mehr, als nicht davon ausgegangen werden kann, dass Barthes die Dialektik der Aufklärung gelesen hat – war diese doch seit ihrer Erstveröffentlichung 1947 bis in die Sechzigerjahre hinein nur als Raubdruck und erst ab 1974 auf Französisch erhältlich (Barthes war des Deutschen in geringem Umfang mächtig, allerdings waren seine Kenntnisse wohl nicht ausreichend, um philosophische Werke im Original zu rezipieren, hierzu siehe Tiphaine Samoyault: Les langues étrangères de Roland Barthes. In : Littera. Revue de langue et littérature françaises de la Société japonaise de Langue et littérature française 1/2017, S. 5-13). Auf die Parallelen zwischen Barthes, Adorno und Horkheimer weise ich im Folgenden zur schärferen Konturierung insbesondere der Position Barthes’ hin, nicht mit dem Anspruch eines erschöpfenden Vergleichs der Positionen. Adorno beschreibt die Unmöglichkeit des ideologiekritischen Heraustretens aus der Kultur in seinem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft. Die Notwendigkeit schöpferischer Kritik ergibt sich für ihn aus der Dialektik der instrumentellen Vernunft, in der eben jene »absolute Verdinglichung« wurzelt, der »der kritische Geist nicht

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Kultur in Stücken

Für seine Verklammerung von Kritik und Schöpfung wählt Barthes zunächst, ähnlich wie Benjamin im Zusammenhang seiner Theorie der Literaturkritik, den Begriff der Anamorphose23 . Anamorphosen sind Gemälde, die »häufig nur mit bestimmten Hilfsinstrumenten, deren Form und Positionierung durch die Verzerrung der perspective curieuse vorgegeben ist, und aus einem festgelegten Blickwinkel zu entschlüsseln«24 sind. Das Motiv der Anamorphose wird von Barthes nur selten verwendet. Im Rahmen meiner Untersuchung stellt es jedoch eine Schlüsselmetapher dar, die die Unmöglichkeit der freien Sicht auf die Welt einfängt. Auch bei Brecht und Artaud finden sich Spuren einer Metaphorik der speziell anamorphotischen Spiegelung: Für Brecht spiegelt die Kunst das Leben »mit besonderen Spiegeln«, für Artaud stellt das Theater ein »Double« des Prinzips des Lebens dar, und die körperliche Wahrnehmung wird als anamorphotische Leistung ausgestellt.25 Nachdem die Unmöglichkeit des objektiven Blicks eingestanden wurde, braucht es neue Verfahren des kritischen Bezugs auf die Wirklichkeit. Mit dem Motiv der Anamorphose figuriert Barthes einen solchen Bezug, der immer nur ein verzerrender, perspektivisch gebundener Bezug auf wiederum unhintergehbar verzerrte Weltdarstellungen sein kann. Die Möglichkeit von Kritik als verzerrender Gestaltung deutet er schon in den Mythen des Alltags an: »die Mythologie«, als Form der Ideologiekritik, »hat gewiß Anteil an dem ›Machen‹ der Welt«26 . Barthes wird seinen ideologiekritischen mythologischen Ansatz performativ in anamorphotische Kritik überführen, was insbesondere seine späten, stark montagehaften Arbeiten zeigen.27 In diesem Sinne wird dann Kritik zum performativen28 Verfahren, das nicht zwangsläufig auf Strategien angewiesen ist, die sich restlos in prädikatenlogische Sätze überführen lassen, sondern das auch über ästhetische Verfahren erfolgen kann. Davon zeugen die inhaltlichen und methodischen Ausrichtungen der Philosophie Barthes’ sowie die Theaterkonzepte Brechts und Artauds. Zugleich verweisen diese Verfahren darauf, dass Kultur – als schöpferischer Weltbezug nun mit ihrer Kritik verschränkt – selbst nicht in sprachlicher Verfasstheit aufgeht, niemals

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gewachsen [ist], solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation« (AGS 10.1, S. 30). Über das kritische Verfahren der Anamorphose schreibt Barthes: »[…] das, was es widerspiegelt, muss es umwandeln […].« (NdL, S. 221.) Ralf Konersmann: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Frankfurt a. M. 1991, S. 104. GBA 23, S. 96 sowie AOC V, S. 272f. In den Einzelstudien werde ich an geeigneter Stelle auf die Anamorphosemotivik zurückkommen. MdA, S. 148. Hierauf werde ich in Abschnitt II.3.3 ausführlich zu sprechen kommen. »Performativ« hier in seiner Bedeutung als wirklichkeitskonstituierender Vollzug einer Handlung aufgefasst. Hierzu siehe Fischer-Lichte, Performativität, S. 29.

I.1 Kultur als Pharmakon

völlig auf den Begriff zu bringen ist und ihr eine gewisse Brüchigkeit immanent ist, die Abgrund und Chance zugleich ist. Diese Verschiebungen lassen schließlich die Begriffe Kritik und Subversion in ein neues Verhältnis treten. Während es vormals denkbar war, dass Kritik von einem herausgehobenen Standpunkt aus erfolgt und so allenfalls in einem zweiten Schritt zur Intervention verleitet, kommt nun der Kritik selbst – als einem in das Geschehen Involvierten, auf das Vorgefundene schöpferisch Einwirkenden – eine eigentümliche Subversionskraft zu. Angesichts des mittlerweile inflationären Gebrauchs des Begriffs Kritik29 und der großen Hoffnungen, die in ihn gesetzt werden, wird es nötig sein, genauer zu bestimmen, auf welcher Ebene sich ihre Subversion tatsächlich ereignet – und wann der Begriff nur zur Selbstlegitimation genutzt wird.

I.1.2

Von der Restitution zur Pharmakologie

Bei aller polemischen Schärfe begegnet in den Konzepten Brechts und Artauds, wie auch im Schreiben Barthes’, eine performative Distanzierung von pessimistischen Formen der Kulturkritik. Angesichts der von allen dreien mehr oder weniger stark miterlebten historischen Gräuel mag dies erstaunlich anmuten, bei genauerem Hinsehen jedoch ist es nur konsequent, da sich nunmehr jegliche Hoffnung auf eine Theodizee verbietet und der Mensch gar nicht anders kann, als die Rolle des Weltgestalters zu ergreifen: Es kann nur vorwärts gehen – wohlgemerkt vorwärts, nicht unbedingt aufwärts. So zeigt sich allerdings auch, dass die Alternative zur kulturpessimistischen nicht zwangsläufig die optimistische Perspektive sein muss, sondern im Falle der hier untersuchten Autoren der Versuch einer realistischen Perspektive vorliegt. Die drei Autoren vollziehen nämlich eine entscheidende kulturphilosophische Wendung, analog derjenigen, die Ernst Cassirer30 unter Bezug auf Georg Simmel vollzogen hat, und die ich als Wendung zur poietischen Verantwortlichkeit charakterisieren möchte: Vor der Werkförmigkeit, dem Prozesshaften

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Vgl. Abschnitt I.3.1. Cassirer reagiert mit seinem Aufsatz Die Tragödie der Kultur auf den Text Der Begriff und die Tragödie der Kultur Georg Simmels. Für Simmel ist der Mensch als tragischer Held Opfer seiner eigenen Hervorbringungen. Diese unterjochen, als Produkte vergangener menschheitsgeschichtlicher Prozesse, die Lebendigkeit des Individuums in seinem Jetzt- und Sosein. Sie erscheinen als objektive, scheinbar menschenunabhängige Gebilde (vgl. GSG 14, S. 385-416). Cassirer nimmt zwar das Philosophem der Werkförmigkeit des Kulturellen auf, korrigiert Simmel aber insofern, als er die Transitivität des Werkförmigen betont – und damit die Möglichkeit des nachträglichen gestalterischen Eingriffs (ECW 24, S. 462-489). Hierzu außerdem Konersmann, Kulturelle Tatsachen, S. 27f. und 67.

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Kultur in Stücken

der Faits culturels gilt es nicht zu resignieren, sondern sie wollen als Chance ergriffen werden. Die künstlerischen und philosophischen Kulturkritiken der letzten Jahrzehnte haben das Prozesshafte und die Fragmentierung affirmiert, ja bisweilen gefeiert.31 Ironischerweise befinden sie sich damit oftmals ganz im Einklang mit den kapitalistischen Mechanismen, die ja gerade Gegenstand ihrer Kritik sind32 , und übersehen zuweilen, dass eine Affirmation von Unsicherheit und Flüchtigkeit der äußerste Punkt eines Wohlstandes ist, an dem dieser in seiner Selbstverständlichkeit unbemerkbar geworden ist. Die postrestitutive Betrachtung von Kultur als »Ineinander des Abbruchs und Aufbaus riskanter Verbindungen«33 überbetont also schnell das schöpferische Moment und blendet dessen riskante Ambiguität aus. Nietzsche, einer der großen Impulsgeber für Barthes, Brecht und Artaud, hat bereits auf die Gefahr hingewiesen, dass die Kultur »an ihren eigenen Mitteln zugrunde« zu gehen droht.34 Auch Simmel, der besonders mit Artaud die vitalistische Tendenz teilt, verweist auf das eigentümliche Entzogensein kultureller Hervorbringungen: »Was er webt, das weiß kein Weber.«35 Für die vorliegende Untersuchung ist dieser Aspekt zentral. Indem sie nämlich mit Theater gegen Theater, mit Philosophie gegen Philosophie angehen, enthüllt sich bei Barthes, Brecht und Artaud ein entscheidendes Charakteristikum von Kultur, das ich, wie in der Einleitung angekündigt, mit dem Begriff des Pharmakons36 31

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Gilles Deleuze und Felix Guattari haben mit ihrer Schizoanalyse dieses Paradigma wohl am weitesten vorangetrieben. Für sie ist dem bis in die Gegenwart mächtigen metaphysischen Modell Platons, das die Struktur einer Baumwurzel aufweist und die Welt in hierarchisch strukturierte Binaritäten aufteilt, das neue Modell des Rhizoms gegenüberzustellen. Dieses zeichnet sich durch spontanes, dezentrales und daher unhierarchisches Wachstum aus. Die Metapher des Rhizoms dient Deleuze und Guattari zur Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes, dem Entwurf einer Utopie politischer Aktion, die es mit ihm aufnehmen kann, und zuletzt als Verfahrensmodell philosophischen Schreibens. Hierzu siehe Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992. Lyotard richtet konkret an Brecht und Artaud den Vorwurf, Fragmentierung und Verflüssigung nicht weit genug vorangetrieben zu haben, hierzu vgl. ders., Essays zu einer affirmativen Ästhetik, S. 11-23. Zur Strukturgleichheit von Kapitalismus und Kapitalismuskritik siehe Luc Boltanski und Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Konstanz 2006. Außerdem Bojana Kunst: Artist at work. Proximity of art and capitalism. Winchester 2015. Konersmann: Kultur als Metapher. In: Kulturphilosophie, hg. von Ralf Konersmann. Leipzig 1996, S. 327-354, hier S. 328. Vgl. Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 26. GSG 14, S. 407. Bei Artaud ist die pharmakologische Motivik sehr deutlich, spricht er doch oft vom Theater als Pest und als Alchimie (vgl. TD, S. 26-34 sowie 62-68). Auch bei Barthes finden sich vereinzelt eine ähnliche Metaphorik, er spricht etwa von der Avantgarde als »Impfstoff« (vgl. SzT, S 122-

I.1 Kultur als Pharmakon

fasse. Obwohl diese Charakterisierung den Theaterkonzepten immanent ist, hat nur Artaud diesen Umstand klar benannt: Das Theater ist eine notwendige Krise, die nur die Alternativen des Todes oder der Heilung bereitstellt.37 »Kultur ist ein Schicksal, zu dem wir verdammt sind«38 , so eine Barthes’sche Formulierung, die den Pharmakongedanken impliziert. Dass Kultur ein Schicksal ist, heißt, dass wir Schaffende sind, ob wir es wollen oder nicht. Wir werden außerdem dabei niemals vollständige Gewissheit darüber haben, welche Ergebnisse das von uns Geschaffene zeitigen wird, ob nicht das, was als Ausdruck von Humanität gedacht war, gerade jene Kräfte nährt, die sie schlussendlich in den Abgrund stürzen – so wie es für Benjamin eben jene Technik ist, die entweder Flüsse kanalisieren oder den »Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben«39 leiten kann. Besonders die Wahl der ästhetischen Form muss hierbei als Affirmation und Amplifikation des Ambigen aufgefasst werden. Damit aber ist eine Selbstprekarisierung der Autoren verbunden, da Eindeutigkeit der Vermittlung und Gewissheit der Wirkung nicht mehr garantiert werden können. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte sind Artaud und Brecht dann auch bisweilen in die Nähe totalitären Denkens und Handelns gerückt worden – Brecht nach links, Artaud nach rechts. Damit werden beide zu Figuren der modernen Herausforderung: Zum Schaffen gezwungen, bedroht von der Scheiternsgefahr, das Gute zu wollen und das Böse hervorzubringen.40 Strategien der Verflüssigung des selbstverständlich geglaubten Klassischen – das Theater des Nichtverstehens stellt eine solche Strategie dar – verraten

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125). Speziell zur »pharmazeutisch-toxikologisch[en]« Auslegung von Kunst siehe Odo Marquardt: Zur Bedeutung der Theorie des Unbewussten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hg. von Hans Robert Jauß. München 1968, S. 387. Bei Brecht findet sich der Gedanke des Pharmakons nicht auf metaphorischer Ebene, aber doch implizit in bestimmten Gedankenkonstellationen, die die Ambivalenz kultureller Hervorbringungen zeigen, so konstatiert Brecht etwa bezüglich der kulturellen Entwicklung der Menschheit: »Was der Fortschritt aller sein könnte, wird zum Vorsprung weniger […].« (GBA 23, S. 72.) TD, S. 34. KdS, S. 169. BGS I.2, S. 508. Vor dem Hintergrund der Verstehens-/Begreifensdialektik des Brecht’schen Theaters zeigt sich etwa, dass eine Charakterisierung als marxistisches Erziehungsprogramm in jedem Fall zu kurz greift, da die theatrale Repräsentation aufgrund ihrer Unberechenbarkeit jegliche Didaxe prekarisiert. In Artauds vitalistischer, martialischer Motivik sowie seinen Äußerungen zur Bewegung der Masse wurde bisweilen eine Nähe zum italienischen Futurismus und schließlich zum Faschismus vermutet (vgl. für eine Abwägung Naomi Greene: ›All the great myths are dark‹: Artaud and fascism. In: Antonin Artaud and the modern theater, hg. von Gene A. Plunka. Cranbury u a. 1994, S 102-116. Außerdem Hanspeter Plocher: Der lebendige Schatten. Untersuchungen zu Antonin Artauds ›Théâtre de la Cruauté‹. Frankfurt a. M. 1974, S. 98ff.). Noch stärker als Brecht jedoch ist bei Artaud die Motivik des Pharmakons vertreten, sodass

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Kultur in Stücken

nichts darüber, welche kulturellen Vorstellungen einer solchen Operation unterzogen werden sollten. Was als Entselbstverständlichung von Macht beginnt, endet möglicherweise mit einer Entselbstverständlichung der Idee der Menschenwürde. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sind drei Konsequenzen dieser Problematisierung relevant: Erstens kann jede Strategie des Subversiven gemeinsame Sache mit dem zu Subvertierenden machen. Zweitens wohnt jeder kulturellen Hervorbringung bei allem guten Willen ein nicht zu unterschätzendes Moment der Unberechenbarkeit inne. Drittens erteilt die Charakterisierung von Kultur als Pharmakon sämtlichen ideologischen Reinwaschungsfantasien eine entschiedene Absage. Das Theater des Nichtverstehens konfrontiert auf mimetische Weise mit der Ambiguität des Kulturellen, indem es selbst ambige Zustände hervorruft, die Dinge ins Wanken bringt, an den Abgrund führt. Dabei erlaubt es eine doppelte Reflexion: Selbst ein Pharmakon, geht es mit seinen Zersetzungs- und Verunsicherungsstrategien in zweiter Potenz genau jenes Risiko ein, das es aufzeigt.

I.1.3

Ambivalenz des Mythischen

Wohl an keinem der in unserem Zusammenhang relevanten Begriffe zeigt sich der pharmakologische Charakter der Kultur so deutlich wie am Begriff des Mythos. Bei Artaud und Barthes stellt er einen Schlüsselbegriff dar, bei Brecht hingegen fällt er nicht explizit. Liest man aber Brechts und Barthes’ Schriften zusammen, so zeigt sich, dass Brecht bereits jene Phänomene auf theatrale Weise thematisiert, die für Barthes in den Fünfzigerjahren den Wirkungsbereich des bürgerlichen Mythos ausmachen werden.41 Im Epochenübergang von Aufklärung zu Romantik zeigt sich die Elastizität des Begriffs besonders deutlich. Während der Aufklärung abwertend als philosophischer Kampfbegriff zur Legitimation und Selbstvergewisserung eines logozentristischen Selbstverständnisses genutzt, schlägt diese Bewertung des Mythos mit der Romantik um und die mythische Lebensweise wird zum Sehnsuchtsmotiv.42

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die Gefahr des Umschlags einer freiheitlich gemeinten Form in Vernichtung zu einer seiner wesentlichen Pointen gehört. Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel II.4. Vgl. die Abschnitte II.1.1, II.2.2 sowie II.4.4. Ernst Müller: Mythos/mythisch/Mythologie. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a Bd. 4: Medien–Populär. Stuttgart u. a 2002, S. 309-346, hier S. 309. Grundlage hierfür bildet die seit der Antike bestehende wortgeschichtliche Entwicklung von mythos und logos. Beide bedeuten zunächst »Wort« in unterschiedlicher Akzentuierung, die allerdings im Laufe der Begriffsgeschichte zunehmend zum Antagonismus zwischen »vernünftiger« und »unvernünftiger« Rede gestaltet wurde. Siehe hierzu sowie für einen ausführlicheren Überblick über den Begriff: Müller, Mythos/mythisch/Mythologie, S. 309-346 sowie Kurt Hübner: Mythos I. Philosophisch. In: Theologische Realenzyklopädie, hg. von Gerhard Müller u  a. Band XXIII. Berlin u. a. 1994, S. 597-608.

I.1 Kultur als Pharmakon

Im 20. Jahrhundert erfährt der Begriff einige Umdeutungen und Neuakzentuierungen und erhält im Kontext ideologiekritischer Denkansätze neue Relevanz. Weiterhin schillert und changiert er, markiert aber nach wie vor innerhalb der Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Privilegierung des mathematisch-rationalistischen Weltzugriffs die Stelle philosophischer und künstlerischer Vernunftkritik. So erfährt der Mythos durch Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss und später durch Hans Blumenberg eine entscheidende Aufwertung, wird er doch hier als erste bedeutungsgenetische Leistung zur basalen Form menschlicher Welterkenntnis und Situationsbewältigung überhaupt.43 Diese Aufwertung knüpft an die romantische Mythosdeutung an, die diesen als eigenständige, der Rationalität nicht unterzuordnende Interpretation der Wirklichkeit auffasst. Hier zeigt sich eine poietische Mythosdeutung, die seinen schöpferischen, weltgestaltenden Charakter betont: Für die Romantik war der Mythos zuletzt Bruder der Dichtung, die Mythologie ein »autonome[r] und trotz seiner Primitivität legitime[r] Weg zur Wirklichkeit und zur Transzendenz«.44 Die Grundlage dieses Konzepts bildet die neuzeitliche erkenntnistheoretische Wende, nach der nun nicht mehr davon auszugehen ist, dass die Wirklichkeit dem Menschen unmittelbar gegeben ist. Der Mythos als Weise des bedeutungsgenerierenden Weltzugriffs ermöglicht die Bewältigung von Ängsten angesichts des Diffusen und Unkontrollierbaren. Dadurch kann er Distanz und Umgang ermöglichen, so die Ursprungserzählung der philosophischen Mythosdeutung des 20. Jahrhunderts. Seine eigentümliche Leistung besteht hierbei darin, dass er bei der Ermöglichung von Distanzierung und Umgangsoptionen nicht auf intellektuelle Durchdringung und objektive Beobachtung angewiesen ist. Als eine »anfängliche Rationalität«45 bannt er für Blumenberg schließlich den »Absolutismus der 43

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Hierzu siehe ECW 12, S. 35-73 sowie Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 5 2017, S. 76ff. Lévi-Strauss beharrt auf der Parallelisierung von mythisch unterlegtem magischen und wissenschaftlichem Denken: »Das magische Denken ist nicht ein erster Versuch, ein Anfang, eine Skizze, der Teil eines noch nicht verwirklichten Ganzen; es bildet ein genau artikuliertes System und ist in dieser Hinsicht unabhängig von dem anderen System, das die Wissenschaft später begründen wird […]. Anstatt also Magie und Wissenschaft als Gegensätze zu behandeln, wäre es besser sie parallel zu setzen, als zwei Arten der Erkenntnis, die zwar hinsichtlich ihrer theoretischen und praktischen Ergebnisse ungleich sind […], nicht aber bezüglich der Art der geistigen Prozesse, die die Voraussetzungen beider sind und sich weniger der Natur nach unterscheiden als auf Grund der Erscheinungstypen, auf die sie sich beziehen.« (Ders.: Das wilde Denken. Frankfurt a. M. 8 1991, S. 25.) Der Gedanke der Gleichursprünglichkeit von Wissenschaft und Mythos ist zudem eine der wesentlichen Pointen der Dialektik der Aufklärung Adornos und Horkheimers. Christoph Jamme: Mythos. In: Handbuch Kulturphilosophie, hg. von Ralf Konersmann. Stuttgart 2012, S. 356-360, hier S. 358. Ebd., S. 359.

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Kultur in Stücken

Wirklichkeit«46 und wird so zu einer Strategie der Selbstsorge ganz im Sinne der Postrestitutivität. Dabei rückt, besonders im Zuge marxistisch unterlegter Ideologiekritik, die dem Mythos als kultureller Hervorbringung eigene Ambiguität des Pharmakons verstärkt in den Fokus, tritt er doch sowohl als Hoffnung als auch als Verdammnis auf. Prominent ist in diesem Zusammenhang die von Adorno und Horkheimer vorgetragene Mythosdeutung. In ihr entwickelt sich der Mythos als erste, listenreiche Manifestation aufklärerischer »instrumenteller Vernunft« zum Inbegriff ökonomistischer, hybrisgeladener Naturunterdrückung, die letztlich ihre eigenen Kinder frisst.47 Aber schon hier wird der Mythos nicht einfach verworfen, sondern im Rahmen einer Aufklärungskritik im Namen der Aufklärung behandelt.48 Auch Barthes Mythosbegriff, der stark von den Arbeiten Lévi-Strauss’ wie auch Ferdinand de Saussures beeinflusst ist,49 behält dessen Ambiguität bei. Für ihn ist der Mythos ebenfalls eine Weise verstehenden Weltzugriffs, aber im Sinne eines wiederum unterdrückerischen Selbstverständlichen, das den Status quo gesellschaftlicher Machtverhältnisse zementiert. Nichtsdestotrotz gesteht auch Barthes, wie überdies Artaud und Brecht, den orientierungsstiftenden und pragmatischen Wert des Selbstverständlichen ein. Das Pharmakon will also auch hier richtig dosiert sein. Darüber hinaus wird Barthes’ Schreiben im Laufe seiner Entwicklung selbst Aspekte jener affirmierten Diffusität und Ästhetik des Mythischen annehmen und so mit seinen Texten zwischen Philosophie und Literatur unausgesprochen Ausdruck jenes Zugriffs sein, der in der poietischen Mythosdeutung Cassirers entworfen ist. Zwischen Philosophie und Literatur bewegen sich auch die Schriften Artauds, in denen der Begriff des Mythos besonderen Raum bekommt. Artauds Theaterkonzept wie seine Schriften erinnern an die widerständige Kraft und Eigenständigkeit des Mythischen. Der Mythos markiert hier eine Stelle im Ideenraum des modernen Menschen, die der Unterordnung unter eine rationalistisch-wissenschaftliche Weltanschauung entzogen ist und also ein letztes, bedrohtes Refugium der Humanität darstellt.

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Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9. Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. In: Gesammelte Schriften, hg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr. Band 6: ›Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‹ und Notizen 1949-1969. Frankfurt a. M. 1991, S. 19-186. Außerdem schreiben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung: »[…] schon der Mythos ist Aufklärung, und Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.« (AGS 3, S. 16.) Ebd., S. 42f. Vgl. ausführlich den Abschnitt II.1.1.

I.1 Kultur als Pharmakon

I.1.4

Verstehen, Mythos, Ideologie

Der Kampfbegriff der Ideologie ist Ausdruck der epistemologischen Verschiebungen in post-alethischen Zeiten. Konnte die seit der Antike bestehende Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer irrtumsfreien Weltwahrnehmung im Mittelalter noch theologisch befriedet werden, setzt mit den neuzeitlichen Säkularisierungsbewegungen eine Verstärkung der »theoretischen Anstrengungen«50 zur Bekämpfung der Irrtumsanfälligkeit ein – von denen auch die neopositivistischen Tendenzen der Gegenwart51 zeugen. Der Begriff der Ideologie entsteht im »Zusammenhang der theoretischen Bemühungen […], die allgemeinen Ursachen des Irrtums, des falschen Bewusstseins aufzudecken«52 . Insbesondere Bacon verweist auf die grundsätzliche Gefahr, die von der Sprache ausgeht, wenn sie sich gegenüber den ausgedrückten Gegenständen und Sachverhalten verselbstständigt. Hier zeigt sich bereits jene Verstrickung der Probleme von Ideologie und Repräsentation, von der Barthes, Brecht und Artaud sich abstoßen werden. Allerdings bedurfte es erst der Aufklärung und des politischen Umbruchs von 1789, um eine Ausweitung des Begriffs auf den Raum der gesellschaftlichen Beziehungen zu ermöglichen, die es bei Bacon so nicht gegeben hatte.53 Im 19. Jahrhundert wird es die Feuerbach’sche Erwiderung auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel sein, deren Diagnose der Selbstentfremdung die Marx’sche Bestimmung des Begriffs ermöglicht, die zunächst wichtige Motive von Feuerbach übernimmt, aber dann dessen Theorie selbst als Ideologie kritisiert.54 Die beiden Kernvorwürfe, die Marx’ gegen die Verschlingung von politischer Ökonomie und bürgerlicher Ideologie ins Feld führt – Geschichtsvergessenheit und Essentialisierung des Menschen –, werden sich später bei Barthes und Brecht mit mehr oder weniger explizitem Marxbezug wiederfinden.55 Artaud bezieht sich zwar in Das 50

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Herbert Schnädelbach: Was ist Ideologie? In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften. Nr. 50/1969, S 71-92, hier S. 74. Schnädelbach zeigt hier, wie für »die gesamte platonisch-aristotelische Tradition bis zur Hochscholastik […] die schon von Parmenides vorgebildete ontologische Vorstellung bestimmend [blieb], dass die Möglichkeit des Irrtums durch die objektive Struktur der Welt und der menschlichen Psyche gegeben sei.« Mit Bezug auf die Wiederbelebung des Fetischbegriffs und der verbundenen epistemologischen Aufwertung konkreter materieller Phänomene beobachtet Blättler, in Abgrenzung von »konstruktivistischen und als postmodern geltenden Theorien« sei das Interesse »an Ontologie« wieder erstarkt. »Man hat wieder einen richtigen Untersuchungsgegenstand, der nicht mehr verstellt ist, weder durch ein konstruierendes Subjekt noch eine entfremdete Gesellschaft. Vielmehr ist er endlich (wieder) ontologisch unabhängig und epistemologisch evident.« (Blättler, Fetisch, Phantasmagorie und Simulakrum, S. 284.) Schnädelbach, Was ist Ideologie?, S. 73. Ebd., S. 75f. Ebd., S. 79. Vgl. das Zitat aus der Deutschen Ideologie in MdA, S. 129. Zum Mythos des ewigen Menschen vgl. ebd., S. 127. Für Brecht wird die materialistische Dialektik gar zur »Methode« seines Thea-

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Kultur in Stücken

Theater und sein Double nicht auf Marx, sondern ist vielmehr von Nietzsche inspiriert, für seine Konzeption der Grausamkeit spielen jedoch beide Motive eine zentrale Rolle.56 Ideologie und Verstehen sind insbesondere im Phänomen des Selbstverständlichen aufeinander bezogen. Über dieses Phänomen und seine Analyse in den Mythologies hinaus aber bleibt dieser wechselseitige Bezug ein richtungsweisendes Thema der Schriften Barthes’: Angesichts der Unmöglichkeit einer durchgehenden Transparentmachung der Welt bleibt nur das Verstehen, als situativer Behelf. Hier liegt dann auch die systematische Verbindung zur Mythosdeutung des 20. Jahrhunderts, speziell der Kritischen Theorie und Blumenbergs. Sich »einen Vers«57 zu machen auf die Welt, in der wir leben, eint Ideologie und Verstehen. Die gemeinsame Inblicknahme der Begriffe legt die Ambiguität des Selbstverständlichen frei: Als behelfsmäßig, notwendig verkürzend ist das Verstehen in Gestalt des Selbstverständlichen ideologisch, es verkennt immer das Ganze und die eigene Geschichtlichkeit, es braucht die verewigende Setzung, durch die es Orientierung, Identifikation, Sicherheit und Handlungsbefähigung ermöglicht. Angesichts dessen stellt die Verwendung des Ideologiebegriffs hohe Ansprüche an die Selbstaufklärung des Ideologiekritikers, denn er wird laut Schnädelbach nur dort legitim verwendet, wo sich die Weigerung, den gesellschaftlichen Status quo als etwas Letztes und Unveränderliches hinzunehmen, mit der Erkenntnis verbindet, daß alles, was wir spontan und ohne vorhergegangene intellektuelle Anstrengung über unsere Gesellschaft äußern, notwendig ideologisch ist.58 Im Vorwurf des inadäquaten Verstehens – dieser Einsicht wird sich schließlich auch Barthes beugen – lauert die alte Sehnsucht nach der unverbrüchlich geglaubten Adaequatio intellectus et rei, fällt Ideologiekritik mit Ideologisierung zusammen. Zudem eint beide der Glaube an die Möglichkeit eines neutralen Beobachterstandpunktes, ein Problem, in das letztlich auch die von Schnädelbach präferierte ›intellektuelle Anstrengung‹ verstrickt ist und auf das ich in Kapitel I.4 weiter eingehen werde. An dieser Stelle wird es, so zeigen Barthes, Brecht und Artaud,

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ters (GBA 23, S. 82). Brecht verlangt im Kleinen Organon: »Das Feld muß in seiner historischen Relativität gekennzeichnet werden können«, was die jeweils gezeigten Figuren einschließt (ebd., S. 79). Zum Marxbezug Barthes’ und Brechts vgl. außerdem die Abschnitte II.1.1, II.2.3 und II.2.5 der vorliegenden Untersuchung. Wie Barthes und Brecht, so kritisiert auch Artaud die Vorstellung einer starren überzeitlichen Kultur, die sich für alle drei Autoren wesentlich im Phänomen der Klassikerverehrung ausdrückt. Bezogen auf dieses Phänomen spricht Artaud von einer Reduzierung der Kultur auf ein unbegreifliche[s] Pantheon« (TD, S. 13). Zudem ist für Artaud auch der Mensch »nichts weiter […] als eine Form wie alle anderen auch« (ebd., S. 51). Schnädelbach, Was ist Ideologie?, S. 92. Ebd.

I.1 Kultur als Pharmakon

notwendig werden, die Fronten zu verlassen. Ein ideologisches Barometer zur Beurteilung von Weltauslegungen kann nicht mehr gefunden werden. Statt also auf die Ebene des Was der Auslegungsversuche begeben sich die drei Autoren auf die Ebene des Wie der Auslegungsgestaltung. Die Unhintergehbarkeit des semantischen Formungsgeschehens tilgt die Hoffnung auf neutrale Beurteilung. Als Reaktion hierauf verlagern Barthes, Brecht und Artaud ihren Anspruch auf Dissidenz schließlich auf die Ebene der Methodologie eben dieses Formungsgeschehens, wie die weiteren Kapitel zeigen.

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I.2

Nichtverstehen: Epistemologische Koordinaten

I.2.1

Wider die Repräsentation. Perspektiven auf das Ästhetische

Die Idee, künstlerische Formen könnten kulturkritische Wirksamkeit im Sinne einer anamorphotischen Intervention entfalten, basiert auf einer Krise insbesondere begrifflicher Repräsentationsformen, die für die Moderne charakteristisch ist. Wo auf eine adäquate Repräsentation eines Gegenstandes ohnehin nicht mehr zu hoffen ist, wird die Not der Verfälschung zur Tugend der Gestaltung. Die erkenntnistheoretische Skepsis gegenüber der Adäquatheit der Form der Repräsentation, ob begrifflich oder ästhetisch, ist jedoch älter als die Moderne. Allerdings wurden in vormodernen Zeiten die menschlichen »Repräsentationssysteme« immerhin »als zureichend empfunden«.1 Repräsentation in den Bedeutungen einer mimetischen »strukturerhaltenden Abbildung durch Bilder, Symbole und Zeichen aller Art«2 sowie von »Stellvertretung«3 wird jedoch insbesondere dann Gegenstand skeptischer Befragung, wenn der Abgleich mit dem repräsentierten Gegenstand unmöglich wird. Aus dieser Verunmöglichung zieht die Philosophie insbesondere des 18. Jahrhunderts erkenntnistheoretische Konsequenzen4 . Von nun an ist fraglich, ob die menschlichen Repräsentationssysteme, allen voran die Sprache, Wirklichkeit überhaupt adäquat abbilden können. Die Folge ist, dass die Repräsentation ihre »Ordnung verbürgende Allgemeingültigkeit als Erkenntnisform« einbüßt.5 Unter Druck gerät so die 1 2

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Kerstin Behnke: Krise der Repräsentation. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 8: R–Sc. Basel 1992, S. 790-854, hier S. 790. B. Haller: Repräsentation III: 19. und 20. Jahrhundert. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 8: Rc–Sc. Darmstadt 1992, S. 790-826, hier S. 790. Ebd. So geht es etwa Alexander Gottlieb Baumgarten ausgehend von Leibniz darum, sich mit der untilgbaren Eintrübung des menschlichen Erkenntnisapparates auseinanderzusetzen. Vgl. Baumgarten: Ästhetik. Teil 1. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach. Hamburg 2007, S. 57. Zur Verbindung Baumgartens und Leibniz’ siehe Mirbach: Einführung. In: Ebd., S. XXXII–XLIV. Behnke, Krise der Repräsentation, S. 790.

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Kultur in Stücken

Tradition der Privilegierung der intellektuellen Anschauung, die Erkenntnisprozesse an »einen wissenschaftlichen, d.h. methodisch geführten Forschungsprozess« bindet, »sodass Diskursivität und Methodologie zu den beiden Hauptkriterien für die Hervorbringung der Epistéme avancieren«.6 Natürlich ist es sinnvoll, auf dem epistemologischen Begriffsfeld Denken, Verstehen, Erkennen und Wissen zu unterscheiden, jedoch umspannt alle diese Begriffe derselbe Schirm aus Gewissheits- und Objektivitätserwartungen, die einer Verabsolutierung der begrifflichen Form vorauseilen. Der Raum der Erkenntnis scheint dabei vom Propositionalen als dem Wohlgeordneten, Regelförmigen beherrscht, und hieraus bezieht der Mensch seine besondere Dignität. Die Krise der Repräsentation erfasst von hier aus daher den gesamten Menschen. Für Barthes, Brecht und Artaud stellt dies keinesfalls ein Übel dar, sondern vielmehr die Verwirklichung der immer schon gegebenen potentiellen Krisenhaftigkeit des Kulturwesens Mensch, sodass hier das Motiv der Adäquation durchaus wiederkehrt. Gleichzeitig ermöglicht die Krise des Absolutheitsanspruchs der begrifflichen Repräsentation das Aufkommen der radikal konstruktivistischen Perspektive, insofern die verschiedenen Repräsentationen als zwangsläufig unzulängliche Konstruktionen in unauflösbare Konkurrenz zueinander treten, bei anerkannter Unmöglichkeit eines objektiven Gegenstandszugriffs. So wird, insbesondere im 20. Jahrhundert, der Einzug des Politischen im weiten wie engen Sinn in Diskurse über Repräsentationsformen möglich, so etwa in Barthes’ Ideologiekritik. Was für ihn schließlich bleibt, ist die Konkurrenz der Zeichen- und damit Bedeutungssysteme.7 Brecht und Artaud nehmen die Krise der Repräsentation auf.8 Ihre Konzepte vertreten den Anspruch, begriffliche Repräsentation im Theater aktiv zu subvertieren, und mehr noch, ihre ohnehin immanente Kritikalität mit Mitteln nicht-begrifflicher Repräsentationsformen auszustellen. Artaud expliziert diesen Anspruch in seinen Schriften innerhalb seiner Kritik am herkömmlichen Theater, welches die Aufführung auf den »Aspekt des dialogisierten Theaters«9 beschränkt, statt dass man die Bühne als einen Ort auffasst, der ein »körperlicher, konkreter Ort ist […],

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Mersch, Dieter: Epistemologien des Ästhetischen. Zürich 2015, S. 9. So spricht Barthes in seinem Essay Der kulturelle Frieden von Kultur als »Krieg der Sprachen« (BOC II, S. 1188, Übers. M. R.) und zwei Jahre später in dem Essay Mythologie heute vom »Krieg der Bedeutungen« (RdS, S. 76). Die Kriegsmetaphorik taucht mit Blick auf die Arbitrarität von Sinn und Bedeutung auch im späteren Denken Barthes’ weiterhin auf (vgl. etwa ebd., S. 86f.). Speziell für Brecht konstatiert Nikolaus Müller-Schöll, sein Theater sei eine »Antwort auf eine Krise« (vgl. Müller-Schöll: Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹: Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt a. M. 2002, S. 187). TD, S. 47.

I.2 Nichtverstehen: Epistemologische Koordinaten

der danach verlangt, dass man ihn seine konkrete Sprache sprechen lässt.«10 Brecht hingegen verbalisiert sein Vorhaben auf theoretischer Ebene nicht so deutlich wie Artaud. Ihm geht es aber ebenfalls um die Eigenständigkeit ästhetischer Repräsentationsformen.11 Allerdings enthüllt sein Konzept des Gestus darüber hinausgehend die prinzipielle Subvertierbarkeit des Begrifflichen durch Formen der Verkörperung, da gestische Äußerungen, die stets auch das Sprechen begleiten, »meist recht kompliziert und widerspruchsvoll«12 sind und es zur Kunst des Schauspielers gehört, dies nicht zu nivellieren. So versuchen beide Autoren, den unzeitgemäßen wie unverhältnismäßigen Alleinvertretungsanspruch der begrifflichen Repräsentation zu brechen, den sie im bürgerlichen Theater manifestiert sehen. Allgemeinheit stiftende Ordnung und Regelförmigkeit werden entidealisiert und durch die subversive Kraft des Konkreten, der singulären sinnlichen Erscheinung herausgefordert. Auch Barthes’ Mythologie beginnt als Kritik begrifflicher Repräsentationsformen, und später wird es eben jenes Unzureichende des Begriffs sein, das Barthes’ Schriften in ein Theater des Ästhetischen auf der Grenze von Philosophie und Literatur verwandelt.13 Neben der Kritik des Anspruchs von Repräsentation, den abwesenden Gegenstand zu vergegenwärtigen, seine Stellvertretung14 zu leisten, eint die drei Autoren ein ambivalentes Verhältnis zu diesem Abwesenden selbst. Als Materialität des Körpers, der Schrift und der Stimme nämlich tritt es nun auf spannungsvolle Weise in den Fokus des Interesses. Die Spannung dieses Interesses ist, kurz gesagt, die zwischen Essentialismus und Konstruktivismus. Zunächst erregt das beschriebene Interesse am Abwesenden sogleich den Verdacht, in der Sehnsucht nach einem Ding an sich zu gründen, also hinter die philosophische Moderne zurückzufallen. Zugleich geht es den Autoren keinesfalls um die Unverbindlichkeit bloßer rotierender Interpretationen – selbst Barthes nicht, insofern er in seinen späten Schriften an die Stillehre seiner ältesten Monographie, des Nullpunkts, anknüpft und so den Tod des Autors relativiert.15 10 11

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Ebd.,S. 48. Aus dem Vorhaben eines ›Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters‹ ergibt sich für Brecht die Notwendigkeit, die Besonderheit des Theaters gegenüber der Wissenschaft zu profilieren: »Es treffen sich aber Kunst und Wissenschaft darin, daß beide das Leben der Menschen zu erleichtern da sind, die eine beschäftigt mit ihrem Unterhalt, die andere mit ihrer Unterhaltung.« (GBA 23, S. 73.) Diesen Punkt werde ich in Abschnitt II.2.2 wieder aufnehmen. GBA 23, S. 89. Vgl. hierzu ausführlich Kapitel II.3, wo ich auch auf die philosophiehistorischen Wegbereiter dieser Verschiebung, insbesondere Francis Bacon, Michel de Montaigne und Baumgarten, eingehe. Niels Werber: Repräsentation/repräsentativ. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a. Band 5: Postmoderne–Synästhesie. Stuttgart 2003, S. 264-290, hier S. 264f. Hierzu vgl. Kapitel II.3.

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Kultur in Stücken

Statt also in einen konstruktivistischen Relativismus oder eine gleichfalls plumpe essentialistische Dingversessenheit zu verfallen, zeigen die Schriften der Autoren ein Gegenstandskonzept, das diesen nicht als absolut, rein gegeben auffasst, sondern im performativen Sinne als ein sich ereignendes Unberechenbares. Die Theaterkonzepte Brechts und Artauds offenbaren Momente des Aufbrechens der Repräsentation, in denen sich der Gegenstand als ästhetisches Ereignis16 der Repräsentation entzieht. Barthes wird solcherlei Phänomene etwa als »Korn der Stimme« oder »punctum« der Fotografie beschreiben.17 Die Einsicht in die Gründe des jeweiligen Aufbrechens der Repräsentation bleibt uns allerdings entzogen. Künstler wie Rezipienten können auf sein Ereignis lediglich hoffen.

I.2.2

Nichtverstehen und Verstehen

Obgleich das Verstehen der epistemologischen Terminologie entstammt, markiert es bereits bei Johann Christoph Gottsched eine Not und eine Tugend zugleich. Denn entgegen einer im Alltagsverständnis des Begriffs nach wie vor dominanten intellektualistischen Konnotation geschieht Verstehen genau dort, wo der Gegenstand der Anschauung gerade nicht vollständig intellektuell durchdrungen werden kann, eine Auffassung des Gegebenen aber hinreichend stattfindet und das heißt immer: gerade nicht absolut, sondern nach Augenmaß auf die jeweilige Situation angewandt.18 Beim Verstehen handelt es sich also nicht ausschließlich um ein Vermögen des Verstandes als reiner Intellektualität19 , sondern ebenso um die Fä16 17 18

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Zur Materialität als Ereignis siehe ausführlich Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002. HK, S. 53ff. sowie DES, S. 269-278. Gottsched ist an einer Hierarchisierung von Verstehen und Nichtverstehen nicht interessiert. Vielmehr geht er in seiner Staffelung der Erkenntnisgrade additiv vor. So ist die epistemologische Erweiterung des ›Verstehens‹ das ›Begreifen‹: »Verstehen heißt anfänglich den Sinn oder die Bedeutung der Wörter und Redensarten, oder einer Sprache überhaupt wahrnehmen […] Hernach heißt auch verstehen, die Kenntniß der Sachen besitzen. […] Begreifen hergegen ist noch etwas mehr, als verstehen. Man versteht nämlich viel Sachen, die man doch nicht begreift. Denn wer nicht völlig einsieht, wie es mit einer Sache zugeht, oder wie sie möglich ist, der begreift sie nicht. Jedermann versteht, was ich will, wenn ich sage: ein Stein sey schwer; aber wie es mit der Schwere zugehe, begreifen auch die Weltweisen noch nicht vollkommen. So ist es in der Natur mit unzählichen Dingen; und in der Religion mit noch mehrern. Man sage also getrost: das verstehe ich zwar; aber ich begreife es nicht.« (Gottsched: Beobachtungen über den Gebrauch und Misbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten. Straßburg und Leipzig, bey Johann Amadeus Königen, Buchbinder in Straßburg 1758, S. 407408, hier S. 407f.) Diese Deutung entstammt der Kant’schen Begriffsauffassung, der zufolge »etwas Verstehen (intelligere) [bedeutet]: durch den Verstand vermöge der Begriffe concipieren«. Der Verstand im Sinne der intellektuellen Anschauung ist es, der Verstehen überhaupt ermöglicht und aus

I.2 Nichtverstehen: Epistemologische Koordinaten

higkeit, Erfahrungswerte, Gefühle und Intuitionen für Situationen fruchtbar zu machen. Verstehen wird seit Schleiermacher als »Lebensvollzug« aufgefasst.20 Momente des Verstehens sind nicht das Ergebnis eines objektiven Gegenstandsstudiums. Sie sind Brückenschläge zwischen der Ebene des Individuellen und des Allgemeinen, das heißt zwischen den Individuen, der jeweiligen Situation und dem allgemeinen Horizont kultureller Übereinkünfte, Üblichkeiten und Routinen. Dass eine Situation verstanden und daher erfolgreich bewältigt werden kann, gründet also nicht in einem reinen Apriori im Sinne Kants, sondern im historischen Apriori des menschlichen Seins zwischen kultureller Bindung und ihrer Überschreitung in der individuellen Lebenserfahrung.21 Verstehen enthält also sowohl rationale als auch nicht rationale Anteile.22 Angesichts der epistemischen Entzogenheit der Welt, die wir nicht begreifen können,

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dem Nebel des Nichtverstehens hebt – nun aber ohne dass der Mensch auf die Evidenz des Natürlichen oder göttliche Gnade hoffen muss (vgl. AA IX, S. 65; außerdem hierzu Karl-Otto Apel: Verstehen. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 11: U–V. Basel 2001, S. 918-938, hier S. 920). Inwieweit die enggeführte Verstehensauffassung des bürgerlichen Mythos, wie Barthes’ sie auszumachen meint, der Kant’schen Konzeption tatsächlich gerecht wird bzw. welche Verkürzung und Klischeewerdung dieselbe erfahren hat, um als Begründerin einer solchen Vormachtbehauptung des Rationalismus herangezogen zu werden, kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht geklärt werden. Heike Kämpf: Verstehen. In: Handbuch Kulturphilosophie, hg. von Ralf Konersmann. Stuttgart 2012, S. 398-402, hier S. 398. Dies pointiert Wilhelm Dilthey folgendermaßen: »Eben dass wir im Bewusstsein von dem Zusammenhang des Ganzen leben, macht uns möglich, einen einzelnen Satz, eine einzelne Gebärde oder eine einzelne Handlung zu verstehen«. Ders.: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. In: Ders.: Gesammelte Schriften, V. Bd: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Stuttgart u. a. 7 1982, S. 172. Diese Ambiguität des Verstehens, das »ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induktion wie Deduktion« ist, liegt auch der Zuspitzung des Begriffs im 19. Jahrhunderts durch Droysen und Dilthey zugrunde, sodass Verstehen zum »Grundbegriff der Erkenntnistheorie der sog. Geisteswissenschaften« werden kann und dem Erklären der Naturwissenschaften nicht untergeordnet, sondern entgegengesetzt wird (vgl. Apel, Verstehen, S. 918). Die Voraussetzung hierfür ist, so Apel, dass die christlich-platonische Vorstellung vom Lesen im Buch der Natur in der Folge Kants grundlegende Veränderung erfahren hat, da man jetzt nur noch das zu lesen im Stande ist, was man selbst geschrieben hat. Im Strukturalismus, mehr noch aber im Poststrukturalismus wird diese Auffassung dahingehend radikalisiert, dass das Lesen unmittelbar mit dem Schreiben zusammenfällt. Diese Auffassung ist wesentlich durch Barthes’ Diktum vom Tod des Autors beeinflusst, welches er jedoch selbst in seiner weiteren philosophischen Entwicklung relativiert.

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Kultur in Stücken

bleibt uns nichts anderes übrig, als zu verstehen.23 Hier liegt die besondere, erst im 20. Jahrhundert gewürdigte Leistung des Mythos. Der sprichwörtliche Reim, den wir uns auf eine Situation machen, mag potentiell nicht aufgehen. Das Selbstverständliche jedoch bietet als Kristallisation der Anstrengungen verstehender Situationsbewältigung den beruhigenden »Anschein von [universeller] Geltung«24 . Da Selbstverständliches durch Iteration immer weiter bestätigt wird, erlangt es darüber hinaus die vermeintliche Gewissheit einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Für Barthes, Brecht und Artaud jedoch gerät das Verstehen im Sinne des Selbstverständlichen unter Ideologieverdacht, insofern es als etwas aufgefasst wird, was es nicht ist: Auf der Anspielung auf eine ausschließlich begrifflich-intellektualistische Verstehensauffassung basiert nämlich ein hegemonialer Anspruch des sogenannten Selbstverständlichen auf das letzte Wort. Die Ambiguität des Selbstverständlichen liegt – hier übertrage ich die Terminologie Gottscheds auf unseren Zusammenhang – darin, dass es zu verstehen, nicht aber zu begreifen gibt. Diesen doppelten Boden des Selbstverständlichen beobachtet auch Brecht, der schreibt, das Selbstverständliche enthebe von der Bemühung, »es zu verstehen«25 . Insbesondere durch Wiederholung26 schafft das Selbstverständliche die Konventionalisierung von Verstehen und somit einerseits Handlungsspielräume, andererseits beschneidet es durch Evidenzbehauptungen Handlungs- wie Vorstellungsspielräume. Das Selbstverständliche gibt sich als objektiv und überzeitlich aus, was es nicht ist. Hervorzuheben ist hierbei, dass keiner der drei Autoren die Notwendigkeit des Selbstverständlichen im Sinne eines konventionalisierten Verstehens bestreiten würde. So durchdringt für Artaud, als derjenige der drei Autoren, der am wortgewaltigsten für die Wiederverflüssigung des Erstarrten kämpft, die Konvention selbst noch die körperliche Ebene dergestalt, dass sie Wahrnehmung überhaupt erst ermöglicht.27 Insofern handelt es sich bei der Kritik Barthes’, Brechts und Artauds am Selbstverständlichen in der Tat um einen Fall von ›Kritik der Kultur im Namen der Kultur«28 , ein Zurechtrücken der Perspektive und eine Ermahnung zum Erwachen, bei dem das Theater schließlich behilflich sein wird. Das Selbstverständliche mag zwar als Alltagsbewältigung funktionieren, aber wir müssen uns 23

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Nach Wolfgang Pross gehört es zum Charakter des Verstehens, dass es seine eigene Abgeschlossenheit simulieren muss. Vgl. ders.: Das Begehren des Narziss. ›Verstehen‹ als Strategie und Illusion. In: Kultur nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, hg. von Juerg Albrecht u. a. Zürich 2005, S. 29-35, hier S. 31. Ebd., S. 34. GBA 23, S. 681. Auf diesen Aspekt des Selbstverständlichen werde ich besonders in Kapitel II.1 sowie in den Abschnitten II.2.5 und II.4.4 näher eingehen. TD, S. 55. Artauds große Nähe zu Nietzsches Philosophie des Körpers als erster kultureller Instanz im Sinne eines ordnenden und gestaltenden Weltzugriffs wird im Abschnitt II.4.4 näher erörtert. Vgl. den Abschnitt I.1.1.

I.2 Nichtverstehen: Epistemologische Koordinaten

klarmachen, dass wir die Welt niemals im Sinne eines vollkommen luziden Durchdringens werden auffassen können. Damit treten die Autoren ein in eine durchaus lange Tradition der Privilegierung des Nichtverstehens. Dessen Unhintergehbarkeit hat bereits Wilhelm von Humboldt auf pointierte Weise hervorgehoben, wie Apel zeigt: »[A]lles Verstehen wird daher durch eine vorhergehende Übereinstimmung, durch ein Vorverständnis (›Vorempfundenes‹) ermöglicht und findet seine Grenze in einem individuellen Rest, es ›ist daher immer zugleich ein NichtVerstehen‹.«29 Dieses Eingeständnis erlangt im 20. Jahrhundert auch politische Relevanz. Die Vorläufigkeit und Behelfsmäßigkeit des Verstehens zu leugnen, macht uns, das ist der durchaus aufklärerische Einsatz Artauds, Brechts und später auch Barthes’, anfällig für Totalitarismen und Abhängigkeiten. Sich angesichts untilgbarer epistemischer Unsicherheit selbst einen Reim auf die Welt zu machen, statt die Reime anderer nachzuplappern, erst in dieser Leistung findet der Mensch der Moderne seine Würde, die ihm von keiner metaphysischen Instanz aus mehr zugesprochen werden kann. Angesichts des Wegfalls dieser Instanzen sind nicht Konventionalisierung und Normalisierung, sondern Schöpfertum und Potentialität die Tugenden, auf die es ankommt. Von einer Gottwerdung des Menschen sind die Ansätze Brechts und Artauds jedoch denkbar weit entfernt, offenbaren sie doch die besondere Spannung zwischen schöpferischer Potenz und Begrenztheit desjenigen, der eben nicht ins Unendliche entwerfen kann, sondern nur durch asymptotische Annäherung. Dabei hat er mit den Einschränkungen des Vorgefundenen umzugehen und sieht sich selbst durch diese zugerichtet. Diese Spannung zeigt sich allerdings erst im Bruch des Verstehens, dann erst, wenn der Reim nicht mehr aufgeht. Neben dem in der Einleitung bereits zitierten Urteil Brechts, verständliche Geschichten seien schlecht erzählte Geschichten, ist es für Artaud angesichts des theatralen Formenreichtums »absurd«, ausschließlich »an deren [der Zuschauenden, M. R.] Verständnis sich zu wenden«,30 wie es insbesondere das psychologisierende Theater tut. Das komplizierte und wechselvolle Verhältnis von Nichtverstehen und Verstehen durchzieht die philosophische Geschichte beider Begriffe, in der diese keinesfalls ausschließlich als Antagonisten gedacht werden. Auch mit Artaud und Brecht stellt sich bis heute die Frage nach dem Ursprungsverhältnis der beiden Phänomene wie nach ihrer Sprachgebundenheit. Das Theater des Nichtverstehens, das beide anstreben, speist sich wesentlich aus ihrer Sprachkritik, die der Theatertradition – wie überdies der Philosophie – vor allem Überschätzung begrifflicher Repräsentationsformen vorwirft. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann zuletzt die dialogzentrierte Verstehenskonzeption Hans-Georg Gadamers als Rückschritt hinter die 29 30

Apel, Verstehen, S. 923. TD, S. 111.

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Leistungen der künstlerischen Avantgarden dar, insofern das Nichtverstehen nicht als tatsächliche Eröffnung anderer Weltzugänge aufgefasst wird, sondern lediglich als zu tilgende Leerstelle.31 Für Brecht, besonders aber für Artaud bergen Momente des Nichtverstehens die Möglichkeit der Verwirklichung alternativer Erkenntnisformen jenseits begrifflich-intellektualistischer Paradigmen. Daher können die Ansätze der beiden Theatertheoretiker auch nicht einfach unter das Paradigma der Einfühlung subsumiert werden, gegen das sich beide energisch verwehrt haben. So schreibt Artaud: »Wir haben genug von dekorativen vergeblichen Gefühlen, von sinnlosen Aktivitäten, die einzig und allein auf Angenehmes und Pittoreskes abzielen […]«, und im Kleinen Organon Brechts heißt es: »Wir brauchen Theater, das nicht nur Empfindungen, Einblicke und Impulse ermöglicht […]«.32 Einfühlung33 gerät für Artaud, Brecht und Barthes ebenso unter Ideologieverdacht wie das Selbstverständliche, insofern sie zur Ruhigstellung des Publikums missbraucht wird. Der Glaube, bloße Empfindung sei schon handelnde Anstrengung und würde zur Veränderung der Verhältnisse ausreichen, kennzeichnet auch den heute zu beobachtenden Trend zur moralischen Aufladung alltäglicher Lebensbereiche. Der Blick auf Artaud und Brecht straft diese Einschätzung Lügen weit über den Raum der Kunst hinaus. Einfühlung allein reicht bei weitem nicht aus, um die besonderen Leistungen, die das Theater als Raum des Nichtverstehens bereithält, zu beschreiben. Vielmehr beharren Brecht und Artaud mehr oder weniger explizit auf der Existenz anderer Erkenntnisformen, die sich weder Verstand noch Gefühl zuschlagen lassen. Aus den Implikationen der Schriften Barthes’, Brechts und Artauds lässt sich zudem eine im sokratischen Geist34 stehende Idee des Dialogischen figurieren. Dieser Idee wird in den folgenden Kapiteln weiter nachgegangen. Das dialogische

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Zu dieser Kritik an der Gadamer’schen Hermeneutik siehe ausführlich Dieter Mersch: Gibt es Verstehen? In: Kultur nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, hg. von Juerg Albrecht u. a. Zürich 2005, S. 109-125, hier S. 113f. TD, S. 150, GBA 23, S. 678. Bemühungen, den Verstehensbegriff einerseits aus subjektivistischen, psychologischen Zuspitzungen im Sinne eines Einfühlungsideals zu befreien und andererseits vom »rationalen Begreifen« abzugrenzen, finden sich bereits bei Gottsched und später dann erneut bei Dilthey, hierzu siehe Apel, Verstehen, S. 926. Aufgrund der Unsicherheit der Quellenlage unterscheide ich hier mit Gernot Böhme den historischen Sokrates vom »Typ Sokrates« (vgl. Böhme: Der Typ Sokrates. Frankfurt a. M. 3 2002). Dieser Typ ist durch die Eigenschaften des Merkwürdigen, Störenden, Fremden charakterisiert (vgl. ebd., S. 17). Diese Eigenschaften sind besonders für die Konzeption des Mythologen bei Barthes prägend, aber auch für die Stücke Brechts (denken wir prominent an Baal, den Asozialen) und die unheimlichen, antisozialen Gestalten der Stücke Artauds wie etwa den alten Tyrannen Graf Cenci.

I.2 Nichtverstehen: Epistemologische Koordinaten

Verfahren als performative »Untersuchung im Reden«35 bietet einen alternativen Weg des Umgangs mit den modernetypischen, epistemischen und moralischen Unsicherheiten und Konkurrenzkämpfen. Dieser Weg stellt gleichwohl hohe Ansprüche an Improvisationsfähigkeit und Ambiguitätstoleranz. Obwohl die meisten der hier untersuchten Texte Barthes’, Brechts und Artauds keine Dialoge sind, wohnt ihnen doch, so werde ich zeigen, ein dialogisches Moment inne. Die Freilegung dieses Moments lässt das Theater des Nichtverstehens dann, sowohl im Theater als auch in der Philosophie, als eben jenen Ort erscheinen, an dem Improvisationsfähigkeit und Ambiguitätstoleranz, die nun beide als moderne Tugenden anzusehen sind, geübt werden können.

I.2.3

Am eigenen Leib: Nichtverstehen und nicht-propositionale Erkenntnis

Die Konzepte des Theaters des Nichtverstehens, die hier behandelt werden, antworten auf privative Weise auf die Frage danach, was Kunstwerke ausmacht: Sie sind keine Träger irgendwelcher Inhalte, die abgelesen werden können und sich ebenso gut in Textform vermitteln ließen. Allerdings beanspruchen Brecht und Artaud mit ihren Konzepten durchaus epistemologische Potenz. So gibt es für Artaud eine »Poesie für die Sinne«, die Gedanken »zum Ausdruck bringt«36 . Besonders im balinesischen Theater findet Artaud Inspiration für seine epistemologische Aufwertung des Ästhetischen. In diesem Theater nämlich gibt es »keine Sprache des Wortes, sondern eine Sprache von Gebärden, Haltungen und Zeichen, die unter dem Gesichtspunkt des im Gange befindlichen Denkens einen ebenso großen Ausdehnungs- und Erkenntniswert hat wie jene.«37 Brecht spricht von der Lust des Begreifens38 und von der Notwendigkeit einer Ausrichtung des Theaters auf die Erkennbarkeit der Strukturen menschlichen In-der-Welt-Seins: »Bei allem Selbstverständlichen wird auf das Verstehen einfach verzichtet. Das Natürliche muss das Moment des Auffälligen bekommen. Nur so konnten die Gesetze von Ursache und Wirkung zutage treten.«39 Mit diesem Anspruch richten Artaud und Brecht sich insbesondere gegen das ästhetische Paradigma der Einfühlung im Sinne einer ideologisch motivierten Betäubung des Zuschauers durch das Spektakel. Die eigentümliche künstlerische Leistung der Freilegung der Vorläufigkeit und des Prozesshaften menschlichen Verstehens kann, 35 36 37 38 39

Ebd., S. 105. TD, S. 39. Ebd.,S. 156. »Es ist eine Lust unseres Zeitalters […] alles so zu begreifen, daß wir eingreifen können.« (GBA 23, S. 682.) GBA 22.1, S. 63.

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jenseits von Einfühlung und Inhaltstransport, als »nicht-propositionale Erkenntnis«40 bestimmt werden. Zu fragen ist nun zunächst, auf welche Art diese Erkenntnisformen im Theater vorliegen. Darüber hinaus ist zu fragen, welche Bedürfnisse sich in ihrer forcierten Etablierung ausdrücken. Der epistemologische Anspruch Brechts und Artauds gründet in der Annahme, dass Erkenntnis unabhängig von Aussagesätzen41 geschehen kann. Daher lassen sich ihre Positionen auch nicht einfach der »dekonstruktiven Auflösung des Erkenntnisbegriffs«42 zuschlagen, da diese selbst noch mit der Engführung auf das Propositionale operiert. Gesteht man die Existenz alternativer Erkenntnisformen zu, erübrigt sich die Notwendigkeit einer solchen Auflösung. Erkenntnis ist dann nicht als Aussage im Werk enthalten, sondern sie wird prozessual gedacht, als Ereignis in der Auseinandersetzung mit dem Werk. Daher haben wir mit Brecht und Artaud zwei Konzepte in der romantischenTradition des »offenen Kunstwerks«43 vor uns. Die Erkenntnis, zu der der Zuschauer im Theater des Nichtverstehens gelangen kann, ist entsprechend den Anforderungen der Moderne nicht länger die Erkenntnis von Wahrheit, sondern von Bedeutung. Dann wird aber zweierlei erkannt: Erstens Bedeutung als Formung von Welt und, damit untrennbar verbunden, zweitens die Vergeblichkeit der Frage nach der Wahrheit im Sinne menschenunabhängiger Evidenz. Nicht-propositionale Erkenntnis ereignet sich im Modus des Zeigens,44 der immer ein Modus der Entselbstverständlichung ist – dies ist der Kern der Konzepte des V-Effekts Brechts und der Körperpoesie Artauds. Artaud verweist zudem auf eine besondere Verbindung des Zeigens mit der Figuration, die sich auch in Brechts Idee der »Durchkältung«45 als Verhinderungspraxis von Rollenidentifikation findet. Die alternative Erkenntnisform kann damit noch genauer und in Abgrenzung zur deduktiven Erkenntnis bestimmt werden: »[D]ie Dinge der Bühne, summend und brummend alle vor Bedeutung, […] zeigen sich in Figuren«46 – im Unterschied zur emotionalen Identifikation. 40 41 42 43 44

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Diesen Begriff entlehne ich folgender Studie Gottfried Gabriels: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991. Das Phänomen betrifft die »gesamte Logiktradition bis ins 20. Jahrhundert« (ebd., S. IX). Ebd., S. IX. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 6 1993, S. 30f. Dieter Mersch: Posthermeneutik. Berlin 2010, S. 10f. Außerdem Gabriel, Zwischen Logik und Literatur, S. 10 sowie 216. Auch Gabriel beschreibt nicht-propositionale Erkenntnis als Zeigen. Allerdings unterscheidet er aufweisendes (zeigendes) Mitteilen vom verweisenden (bezugnehmenden) Mitteilen. An dieser Stelle treten die Konzepte Merschs und Gabriels dann auseinander, insofern es sich bei Phänomenen der Anspielung und der Andeutung durchaus um ein Verweisen handelt. GBA 22.1, S. 153. TD, S. 157.

I.2 Nichtverstehen: Epistemologische Koordinaten

Aus dem Modus des Zeigens heraus treten dann die Begriffe der nicht-propositionalen Erkenntnis und der Theatralität47 in ein synonymes Verhältnis. Theatralität, als epistemologische Kategorie, ist nicht an die Institution des Theaters gebunden, sondern kann auch in anderen ästhetischen Formen vorkommen, so in der Literatur oder in Barthes’ Mythologie. Für das Theater selbst bedeutet dies, dass ihm besondere epistemische Kompetenz zukommt, insofern es als genuin deiktisches Medium in der Lage ist, auch noch das Zeigen zu zeigen.48 Das Zeigen der nicht-propositionalen Erkenntnis ereignet sich in Phänomenen von »Anspielung, Andeutung, Sprung oder Appell«49 und damit nicht nur theatral, sondern auch performativ im Sinne eines Geschehens. Was die Theatermodelle Brechts und Artauds damit ermöglichen, ist ein geschehnishafter Nachvollzug der modernen philosophischen Verschiebung von der Wahrheit zur Bedeutung, und zwar indem sie unser bedeutungsgenetisches Arbeiten an und mit den Dingen zeigen. Insofern ist Artauds scheinbar paradoxes Diktum von der »Metaphysik via Haut«50 tatsächlich wörtlich zu nehmen und kann überdies beiden Theaterkonzepten bescheinigt werden. Nicht-propositionale Erkenntnis spielt sich zudem als performatives und theatrales Geschehen immer im Raum des Ästhetischen ab. Damit ist schließlich die Frage nach den Bedürfnissen zu stellen, die sich in dieser epistemologischen Verlagerung auf das Ästhetische artikulieren. Besonders in Umbruchszeiten – dies gilt auch für Brecht und Artaud – sucht man angesichts der neuen Fraglichkeit des Hergebrachten nach alternativen Erkenntnisformen. Dem voraus gehen Erfahrungen des Scheiterns des Definitorischen, der Unzulänglichkeit begrifflicher Formen, die den Erweiterungen des Erfahrungshorizontes nicht mehr genügen. Jenseits der politischen Dringlichkeit und der Gewaltigkeit des Zusammenbruchs der Gewissheiten, die Brecht und Artaud gespürt und erlebt haben, hat die Idee, dass auch der Sinnlichkeit eine epistemische Leistungsfähigkeit zukommt, der die Philosophie Rechnung zu tragen habe, durchaus lange Tradition. Schon Aristoteles erweitert den Begriff des Denkens um die Sphäre des Ästhetischen. So handelt es sich bei der sinnlichen Wahrnehmung als erster, grundlegenden Form der Unterscheidung um eine denkerische Aktivität.51 Später wird dann insbesonde47 48

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Zum Begriff der Theatralität vgl. meine Einleitung. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung werden, wie in der Einleitung angekündigt, zwei Formen der Theatralität unterschieden, hierzu vgl. insbesondere den Abschnitt II.1.3. Das zeigende Moment ist beiden Formen gemein. Mersch, Posthermeneutik, S. 104ff. TD, S. 130. Wenngleich die Erkenntniskraft dieser Aktivität noch begrenzt, aber durchaus vorhanden ist. Hierzu siehe Arbogast Schmitt: Einleitung. In: Aristoteles: Poetik.Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, hg. von Hellmuth Flashar. Bd. 5. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Darmstadt u. a. 2008, S. 45-191, hier S. 73f. Mit seinem »unterscheidungsphilosophischen« Erkenntnisbegriff lässt sich Aristoteles von einem »vorstellungsphi-

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Kultur in Stücken

re Baumgarten eine epochemachende Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung als Erkenntnisleistung vornehmen. Auf Gottfried Wilhelm Leibniz’ Annahme einer fundamentalen Eintrübung menschlichen Welterkennens aufbauend lässt Baumgarten in seiner Ästhetik Erkennen und Darstellen zusammenfallen, sodass hier bereits der Prototyp des späteren Cassirer’schen Animal symbolicum am Horizont erscheint. Mit zunehmender Etablierung des post-alethischen und postrestitutiven Weltbildes im 19. und 20. Jahrhundert erhält die Frage nach dem epistemologischen Wert des Ästhetischen neue, vor allem ethisch grundierte Dringlichkeit. Das Beharren auf der Existenz alternativer Erkenntnisformen steht ein für die Erhaltung der Weite der Welt, mag der »Absolutismus der Wirklichkeit«52 auch noch so furchteinflößend erscheinen. Hier spricht sich ein Bewusstsein für die Verantwortung der Darstellung aus, die sich nicht länger ihre Abbildungsfunktion einbildet, sondern formend Welt schafft. Spricht man über Formen nicht-propositionaler Erkenntnis, kann es im Sinne dieser Weiteerhaltungsbemühungen nicht darum gehen, in Alternativen zu denken, sondern eine additive Haltung sowie Lust am Schauen und Bestaunen der Formen zu kultivieren, durchaus im Sinne einer Selbstsorge der Philosophie. Mit ihrer Widerspenstigkeit und Unberechenbarkeit – nicht immer ist klar, worauf gezeigt wird – bieten sich nicht-propositionale ästhetische Formen besonders im 20. Jahrhundert zur utopischen Aufladung an, widersetzen sie sich auf den ersten Blick doch nicht nur rationalistischen, sondern auch ökonomistischen Paradigmen. Diese Hoffnungen müssen angesichts der künstlerischen Entwicklungen insbesondere der Zeit nach Brecht und Artaud kritisch befragt werden. So verschwistern sich in der aktuell zu beobachtenden Verwissenschaftlichung von Kunst rationalistisch-positivistische Wissenschaftsansprüche und ökonomistische Nützlichkeitsforderungen. Bei dieser Verschwisterung handelt es sich um die Kehrseite des einstmals aufklärerischen Anspruchs, die Dichotomie von Kunst und Wissenschaft zu unterlaufen. Einen epistemologischen Wert des nicht-Propositionalen begehrt man nämlich nicht zuletzt unter den Vorzeichen eines rigiden Wissenschaftsparadigmas, sodass hier auf die Gefahr hingewiesen werden muss, prekarisierte Formen des Weltzugriffs unter den Vorzeichen dieses Paradigmas legitimieren zu wollen, ohne jedoch damit tatsächlich für ihre Andersartigkeit einzustehen. Keine Erkenntnis zu generieren, wäre innerhalb dieses Rahmens der Skandal, vor dem es derlei Formen zu schützen gälte, wenn sie nicht von der Übermacht eines

52

losophischen« Erkenntnisbegriff unterscheiden, wie ihn verschiedene Philosophen der Stoa vertreten. Bei diesem setzt das Denken erst mit der »Vergegenwärtigung« der Wahrnehmung ein. Diese ist hier lediglich ein »Eindruck in der Seele« (ebd., S. 73). Hierzu Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9-39.

I.2 Nichtverstehen: Epistemologische Koordinaten

neuzeitlich rationalistischen Weltbildes ins kulturelle Vergessen gedrängt werden sollen. Diesen letzten, radikalen Schritt gehen auch Brecht und Artaud nicht. Hier steht eine, wenngleich paradox anmutende »feste Verflüssigung« im Hintergrund, die eingesehen werden soll, als Versuch, die Paradigmen von Dynamik und Statik zu vereinbaren.53 Insofern entsprechen die Autoren zum Teil der alten Logik, zum Teil überschreiten sie sie. Hieraus ergeben sich die aporetischen Verwirbelungen, nach denen im Folgenden weiter gefragt wird.

53

Bei Brecht in Gestalt der dialektischen Methode, bei Artaud in Gestalt des vitalistischen Prinzips der Grausamkeit, vgl. die Abschnitte II.2.5 sowie II.4.3.

55

I.3

Ästhetische Subversion

I.3.1

Politik in der Krise

Der Kunst kritisches, emanzipatorisches oder gar politisches Veränderungspotential zuzusprechen, hat derzeit Konjunktur, trotz der wirkmächtigen Gegenrede von Luc Boltanski und Eve Chiapello, die auf die kapitalistische Assimilierung künstlerischer Lebensentwürfe hingewiesen haben.1 Daran anschließend hat Bojana Kunst auf eine pikante Strukturgleichheit von Künstlerideal und postfordistischer Arbeitsweise hingewiesen, die, bei aller positivismuskritischen Hoffnung auf alternative Interventions- und Erkenntnisformen, nicht ignoriert werden darf.2 Die mittlerweile inflationär gewordene Attribution des Kritischen verbindet sich, nicht nur auf dem Feld der Kunst, außerdem implizit mit einer transformativen Vorstellung von Performativität, wie sie die Dekonstruktion geprägt hat.3 Kritik wird selbst als performativer Modus des Interventiven gedacht.4 Dank dieser Verschiebungen kann die Kunst zur Hoffnungsträgerin in politikskeptischen Zeiten werden: Aus ihrem kritischen Potential, so scheint es, schöpft Kunst ihr Wirken, aus ästhetisch vermittelter, kritischer Betrachtung folgt scheinbar mühelos kritische Praxis. Das Modell der anamorphotischen Kritik Barthes’, das in Kapitel II.3 ausführlicher dargestellt wird, umfasst eine Wirkung der Kritik mit Bezug auf das Kritisierte. Ob sich daraus aber eine Wirkung im Sinne politischer oder kultureller 1 2

3

4

Luc Boltanski und Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Konstanz 2006. Bojana Kunst, Artist at work. Zur Spannung zwischen dem Kritik-Trend und der Enttäuschung angesichts seiner Wirkungslosigkeit siehe Ines Kleesattel: Kunst und Kritik. Das Problem in Rancières politischer Kunsttheorie und eine Erinnerung an Adorno. In: Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken, hg. von Leonhard Emmerling und Ines Kleesattel. Bielefeld 2016, S. 175-190, hier S. 184. Zur Charakterisierung von Performativität als wirklichkeitskonstituierend siehe Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 29. Zur Verschmelzung von Theorie, Kritik und Praxis siehe Helmut Draxler: Der Habitus des Kritischen. Über die Grenzen reflexiver Praxis. In: Transversal 03/2008. Abrufbar unter: http://eipcp.net/transversal/ 0308/draxler/de, abgerufen am 19.07.2019. Fischer-Lichte, Performativität, S. 113-129.

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Kultur in Stücken

Veränderung vorhersagen lässt, bleibt ungewiss. Diese Ungewissheit ist mit Bezug auf die transformative Kraft der Kunst im 20. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert bisweilen unterschlagen worden. Auch derzeit wird mit Verve wieder die revolutionäre Kraft der Kunst beschworen.5 Der Zusammenbruch der politischen Systeme Anfang des 20. Jahrhunderts6 wie auch die derzeit zu beobachtende Krise der Demokratien werden diese Entwicklung jeweils entscheidend begünstigt haben. Besonders angesichts der Gräuel der nationalsozialistischen Diktatur mussten sämtliche herkömmlichen Formen des Kritischen, Politischen, Interventiven nunmehr als endgültig korrumpiert oder wirkungslos verstanden werden. Zugleich wurde, nicht nur für Adorno, der künstlerische Rückzug auf das Schöne, die Einfühlung, den ästhetischen Genuss verunmöglicht, zumal sich die Kunst selbst oftmals zur Dienerin der Faschisten gemacht hatte.7 Auch die sich seit dem 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Philosophie vollziehende Destabilisierung von Gewissheitsordnungen verstärkt die bereits von Schiller8 gehegte Hoffnung auf die kritisch-emanzipatorische Relevanz der Kunst. Dass diese nicht im interesselosen Wohlgefallen aufgeht, sondern ihr darüber hinaus praktische Bewandtnis zukommt, ist ein bereits in der Antike präsenter Gedanke, der seit dem 18. Jahrhundert emphatisch aufgeladen wird: Die Kunst springt ein, wo andere Ordnungen versagen.9

5 6 7

8

9

Für einen aktuellen Überblick siehe Kleesattel, Kunst und Kritik. Hierzu siehe prominent Benjamins Kunstwerkaufsatz (BGS I. 2, S. 469). Hierzu siehe etwa Theodor W. Adornos Essay Engagement. (AGS 2, S. 409-430). Außerdem beschreibt Benjamin die unheilvolle Verschlingung ästhetischer Formen mit dem Nationalsozialismus im Kunstwerkaufsatz (vgl. BGS I. 2, S. 431-469, hier S. 464-469). »Freyheit zu geben durch Freyheit«, darin besteht für Schiller die Verheißung eines Staates künstlerisch gebildeter Bürger. »Der ästhetische Staat allein« vermag die Gesellschaft zu verwirklichen, in der sich »der Wille des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht«, das nicht länger durch Zwang, sondern Kraft seines geselligen Charakters in freiheitlich-bürgerlicher Gemeinschaft leben will. Siehe Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Sämtliche Werke Band V. Erzählungen, theoretische Schriften hg. von Wolfgang Riedel. München 2004, S. 667. Platon etwa, um das Wohl der Polis besorgt, fürchtet die Wirkungen des Theaters (hierzu Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater. Berlin 2013, S. 40ff.). Durch Aristoteles‹ findet eine Umwertung des Theaters statt, insofern seine Konzeption der Katharsis nicht allein die poetische, sondern vor allem die ethische, tugendbildende Kraft der Tragödie garantiert. Hierzu Schmitt, Einleitung, S. 476-510. Noch bei Rousseau findet sich ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der zerstörerisch-transformativen Kraft des Theaters. Hierzu wie auch allgemein zur Aufladung der Künste mit gesellschaftlichen Erwartungen in religiöser und moralischer Hinsicht siehe Wolfgang Ullrich: Kunst/Künste/System der Künste. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. hg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 3 Harmonie–Material. Stuttgart 2001, S. 556-616, hier S. 581. Zur Entwicklung insbesondere in Deutschland und Frankreich – wo sich bereits im 16. Jahrhundert Montaigne für eine staatliche Förderung des Theaters ausgesprochen hat – vgl. Hilde Haider-Pregler: Des

I.3 Ästhetische Subversion

Aus einer solchen Beschreibung der historisch-systematischen Konstellationen heraus drängt sich die Frage nach der Autonomie und Spezifik künstlerischer Ausdrucksgestalten auf. So wäre, mit Adorno, nach ihrem Surplus zu fragen, aufgrund dessen ihnen auch angesichts des Versagens bestimmter kultureller Ordnungssysteme wie Politik oder Wissenschaft stets mehr als eine bloße Sublimierungsfunktion zukommt. An diesem Punkt lässt sich auch der interventive Anspruch Brechts und Artauds vom Vorhaben einer speziell »politischen« Kunst abgrenzen. Beide Autoren äußern auf unterschiedliche Weise ihre Skepsis gegenüber der instrumentalistischen Einhegung der Kunst in den Raum des Politischen. Artaud verweigert eine solche Einhegung expressis verbis.10 Im Falle Brechts liegt zwar ein kaum zu leugnendes und oft verbalisiertes politisches Anschlussbedürfnis vor, jedoch verrät die gewählte Methode der Intervention auch hier einen ausgeprägten Hang zur Dissidenz, lassen sich doch ästhetische Formen aufgrund ihrer eigentümlichen Diffusität, Hermetik und Scheiternsprävalenz kaum für stringenzbedürftige politische Agenden fruchtbar machen. In eben dieser Wahl der Form liegt dann die politische Geste des Künstlerischen, so Georg Lukács und Barthes.11 Trotz dieser politischen Aufladung der Formentscheidung gibt die Perspektive des Nichtverstehens den Blick jedoch frei auf eine Unterscheidungsnotwendigkeit, zu der sich ein Nachdenken über die wirklichkeitsverändernde Kraft von Kunst zu verhalten hat: Die Unterscheidung von »Politizität« und »Subversivität« künstlerischen Anspruchs.

I.3.2

Nichtverstehen als Entselbstverständlichung

Als Strategien des Außerkraftsetzens von Selbstverständlichem operieren die Konzepte Brechts und Artauds subversiv, sie punktieren das Gewebe des Selbstverständlichen, welches als Nicht- oder Halbbewusstes Kultur texturiert. Auf diese Weise scheint in den Theaterkonzepten eine sehr ursprüngliche Bedeutung von Subversion wider, als Arbeit am und im Untergrund.12

10

11 12

sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jh. Wienu. a. 1980, S. 28-68. Konkret stellt sich Artaud, der den Surrealismus als speziell geistige Revolution voranbringen will, der Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei entgegen und kritisiert entsprechende Bemühungen der Gruppe: Es ist, so Artaud, »der Surrealismus […] seit jenem Tage tot, da Breton und seine Adepten glaubten, sich dem Kommunismus anschließen zu müssen, und auf dem Gebiet der Tatsachen und der unmittelbaren Materie das Ergebnis eines Tuns zu suchen, das sich normalerweise nur im inneren Bereich des Hirns anspielen konnte.« (ST, S. 75.) Hierzu Lehmann, Brecht lesen, S. 10 sowie NP, S. 19f. Damit ist zunächst auf die Herkunft des Begriffs aus dem Ackerbau angespielt, aber auch im 20. Jahrhundert ist die Vorstellung einer subversiven Tätigkeit im (politischen) Untergrund

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Kultur in Stücken

Neben der Notwendigkeit einer Unterscheidung von Politizität und Subversivität offenbart das Theater des Nichtverstehens die Notwendigkeit, ästhetische von künstlerischer Subversion zu unterscheiden, wobei in den untersuchten Theaterkonzepten beide Formen vorliegen. Die Notwendigkeit einer generellen Unterscheidung von Kunst und Ästhetik führt bereits Baumgarten aus, bei dem die Ästhetik gar zur Transzendentalphilosophie avant la lettre aufgewertet wird, insofern es sich bei der genuin schöpferischen Erkenntnisform des Ästhetikers um die Bedingung der Möglichkeit künstlerischer Gestaltung handelt.13 Während sich künstlerische Subversion auf etablierte künstlerische Formen richten kann, ist ästhetische Subversion weiter zu fassen und auch außerhalb des Raums der Kunst vorzufinden. Sie ereignet sich etwa in Momenten des Auffälligwerdens der materiellen Beschaffenheit von Alltagsgegenständen im sinnlichen Detail. Hier entziehen sich die Dinge plötzlich ihrem Verwendungszusammenhang, der immer ein Bedeutungszusammenhang ist, und werden, wenn auch stets nur punktuell, als eigenständige ästhetische Gebilde wahrnehmbar.14 Daraus lässt sich, in Analogie zu Baumgarten, schließen: Ästhetische Subversivität ist die Bedingung der Möglichkeit künstlerischer Subversion. Künstler können sich die Subversivität des Ästhetischen zunutze machen, Momente des Aufbrechens von Bedeutungsstrukturen forcieren oder eben nicht. Auch hiervon legen die Theaterkonzepte Brechts und Artauds implizit Zeugnis ab, da es für beide Autoren sowohl eine subversive als eben auch eine konservative Weise des Theatermachens gibt. Das bedeutet darüber hinaus, dass es auch im konservativen Theater, weil es ein ästhetisches Medium ist, Momente des Bedeutungsentzugs geben kann. Diese jedoch zeigend explizit zu machen und die Konsequenzen ihres Dass erfahrbar zu machen, ist Sache der Ermöglichung nicht-propositionaler Erkenntnis im Theater des Nichtverstehens. Die Subversion des Nichtverstehens besteht also in der ästhetischen Entselbstverständlichung. Für die Frage nach der Politizität von Kunst, wie sie derzeit Konjunktur hat, heißt das in der Konsequenz: Das Theater wirkt auf der Ebene der Kultur, nicht der Politik.15 Entselbstverständlichung geschieht im Theater des Nichtverstehens vor allem durch das Zeigen einer Loslösbarkeit ästhetischer Phänome-

13 14 15

noch präsent. Hierzu Kurt Röttgers: Subversion I: Wortgeschichte. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 10: St–T. Darmstadt 1998, S. 567-569, hier S. 567. Außerdem W. Goerdt: Subversion II: Der Begriff im 20. Jh. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 10: St–T. Darmstadt 1998. S. 569-570, hier S. 569. Vgl. Mirbach, Einleitung, S. LIX. Dies geschieht etwa im Phänomen des Punctums einer Fotografie bei Barthes. Hierzu vgl. HK S. 53ff. Zum »Korn der Stimme« siehe bes. DES, S. 269-278. Ich nehme hier die Unterscheidung Konersmanns zwischen politischer Kritik und Kulturkritik auf (vgl. ders., Kulturkritik, S. 36).

I.3 Ästhetische Subversion

ne von der ihnen zugedachten, aus Traditionen und Üblichkeiten heraus erwarteten Bedeutung.16 Diese Strategie trägt einer zweifachen Schwierigkeit Rechnung. Zum einen dem Umstand, dass es bei Kunstwerken als hermetischen Gebilden keine Vermittlungsgarantie gibt. Zum anderen dem Umstand, dass es angesichts der historischen, wissenschaftlichen und philosophischen Verwerfungen des 19. und 20. Jahrhunderts immer schwerer wird, Absolutheitsansprüche von Bedeutungen jeglicher Art zu verteidigen. Wenn überhaupt noch etwas gezeigt werden kann, dann das »Dass« der Bearbeitung des innerweltlich Vorgefundenen durch Künstler wie Nichtkünstler, womit sich zugleich die der Kultur immer schon eingeschriebene Konkurrenz offenbart. Die Form körperlicher Repräsentation vermag Signifikant und Signifikat auf eine Weise zu entkoppeln, die diesen Herausforderungen Rechnung trägt. Avantgardistische Techniken des Unverständlichmachens wie etwa Sprachentleerung, Montage von Sprache, Musik und Bild sowie Pantomime und Tanz befreien Requisiten wie Körper aus ihrer Rolle als selbstverständlich handhabbare Bedeutungsträger und geben sie als materielle Manifestationen der Begutachtung preis. Hier tritt die Besonderheit des Einzelnen17 für einen kurzen, nicht kontrollierbaren Moment hervor. Damit zeigen Techniken des Unverständlichmachens ein fundamentales Entzogensein: Die Dinge gehen, bei aller kulturellen Determiniertheit, niemals völlig in dem auf, was sie bedeuten. Die Theaterkonzepte konfrontieren mit der epistemisch-hermeneutischen Inkommensurabilität des Kulturellen. Es bleibt immer ein Rest, mit dem sich nicht umgehen lässt, der sich nicht zur Identifikation, Orientierung oder kurz: Situationsbewältigung nutzbar machen lässt. Solche Momente des sich Widersetzens des Materiellen gründen allerdings für Barthes, Brecht und Artaud weder in einer Einsicht in die »wahre« Verfasstheit des Repräsentierten noch führen sie einfach ins Nichts.18 16

17 18

Die theatrale Entselbstverständlichung betrifft zum einen die institutionelle Ebene, auf der bestimmte Erwartungen an den Ablauf eines Theaterabends existieren. Zum anderen verwandeln die hier untersuchten Konzepte, so wird in den Einzelstudien zu Brecht und Artaud gezeigt, das Theater über die institutionelle Ebene hinaus in ein kulturphilosophisches Laboratorium, in dem das menschliche Ringen mit dem eigenen Bedeutungsschaffen durch szenische Mittel erkannt werden soll. Der Poststrukturalismus wird diesen Aspekt des Auseinandertretens von Signifikant und Signifikat im Sinne der Repräsentationskritik politisch aufladen. Diese Auffassung des Nichtverstehens wird auch in den aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Begriff hervorgehoben, so etwa bei Mersch, aber auch bei Werner Kogge: »Es gehört zum Phänomen des Nichtverstehens, dass die entscheidenden Momente seines SichEreignens kaum vorhersehbar […] sind. Dennoch ist dieses Phänomen nicht bloß privativ, Entzug von Orientierung, Ordnung, Struktur. Es ist nicht die Negation des Verstehens, sondern, wie dieses, ein Prozess, der in seinen Momenten und Effekten zu beschreiben ist« (ders.: Die Kunst des Nichtverstehens. In: Kultur nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, hg. von Juerg Albrecht u. a. Zürich 2005, S. 83-108, hier S. 85). Zum Verfah-

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Kultur in Stücken

Wo Verstehen die Handhabbarkeit von Situationen ermöglicht, soll diese im Theater verunmöglicht werden. Ein Theater des Nichtverstehens ist es dabei zum einen aufgrund seiner Strategien des Unverständlichmachens, zum anderen, weil hierdurch das Nichtverstehen selbst auftritt, dem Zuschauerblick preisgegeben wird als Grund einer untilgbaren Prekarität jedes Verstehens, dessen Entwurf sich erstens auf unsicherem Boden und zweitens ins Unreine vollzieht. Das Theater wird damit zum kulturphilosophischen Laboratorium, dessen Versuchsanordnung die kulturelle Urszene zu simulieren versucht. Damit spielt es auf die Erfüllung des alten Traums aller Naturzustandserzählungen an, nämlich endlich zeigen zu können, warum es nicht anders hatte kommen können. Da es menschliches Weltschaffen allerdings nicht als Naturzustand, sondern offensichtlich zugerichtet nach den Gesetzen des Theaters darstellt, erteilt es den Begehrlichkeiten des Naturzustandsnarrativs eine Absage und modifiziert das Gezeigte entlang der Koordinaten eines modernen Relativismus: Warum es auch anders hätte kommen können. Die Basis dessen bildet ein den Konzepten eigenes Wissen um die ästhetische Beschaffenheit des Kulturellen. Dieses kann dann nicht länger als intelligibles, sondern es muss als ästhetisches System aufgefasst werden.19 Die ästhetische Beschaffenheit kultureller Hervorbringungen fundiert ihren ambigen, pharmakonhaften Charakter, weil das Ästhetische immer einen Rest enthält, der niemals in begriffliches Verstehen aufgelöst werden kann. So ist es zugleich offen für Rezeptionen und Zugriffe aller Art sowie ihr Scheitern und Gelingen. Kultur ist, so zeigt sich außerdem, im wahrsten Sinne des Wortes kein Hirngespinst, sie ist immer auch Prägung im Ästhetischen und erzeugt als solche Verbindlichkeiten, die sich bei aller Arbitrarität dem konstruierenden Zugriff zu entziehen vermögen.20

I.3.3

Immanenz und Transzendenz: Zum Paradox wirkender Hermetik

Das Paradox eines Theaters des Nichtverstehens besteht im Anspruch einer wirksamen Hermetik, einer Vereinbarung von Immanenz und Transzendenz.21 Dies wird sowohl in Brechts Aufwertung unverständlicher Geschichten in Kombination mit dem Lehrstückgedanken als auch in Artauds Entwurf eines metaphysischen Totaltheaters, in dem zusammen mit der Entschiedenheit der Forderung zugleich Eingeständnisse an deren Umsetzbarkeit verbalisiert sind: »[W]ir wollen ein Theater, das wirkt, aber auf einer Ebene, die es noch zu bestimmen gilt.«22

19 20 21 22

ren einer solchen sammelnd-beschreibenden Annäherung an Nichtverstehensphänomene siehe Mersch: Epistemologien des Ästhetischen. Zürich 2015. Hierzu vgl. auch Mersch, Posthermeneutik, S. 312f. Vgl. ebd., S. 321. Schon Barthes beschreibt den avantgardistischen Ansatz als hermetisch (vgl. SzT, S. 125). TD, S. 150.

I.3 Ästhetische Subversion

Die Idee, das Theater, die Kunst könne als Unterweisung dienen, ist indes so alt wie die bereits thematisierte Behauptung ihrer gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen – sie findet sich bei Aischylos, Aristoteles, Lessing, Diderot, Voltaire, Schiller, um nur einige prominente historische Stationen zu nennen.23 Um den Anspruch Brechts und Artauds allerdings zu verstehen, ist es nötig, eine Dialektik von Fremd- und Selbstzweck in den Blick zu nehmen, die den Kunstbegriff seit dem 18. Jahrhundert einer wechselvollen Entwicklung unterwirft und das Verhältnis von Hermetik und Öffnung der Form auf unterschiedliche Weise organisiert.24 Im 18. Jahrhundert löst sich die Kunst aus ihren sakralen Bindungen, wodurch sie allererst »Kunst« werden kann.25 Das Eingeständnis in die eingeschränkte Vermittlungsfähigkeit der Kunst als ästhetisches Medium – noch Gottsched hatte die künstlerische Vermittlung »bestimmte[r] moralische[r] Lehrsätze«26 erwartet – prägt Lessings wie Diderots Theorie des Theaters als Raum »sittlich[r] Läuterung«27 . Der Gedanke der Unberechenbarkeit künstlerischer Vermittlungsversuche, wie er sich hier und später auch bei Schiller28 findet, wird bis in die Gegenwart rezipiert und dazu genutzt, der Kunst jenseits politisch-interventiver Erwartungen gesellschaftliche Relevanz und Veränderungspotenz zuzuschreiben,29 was ich mit der im Abschnitt I.3.1 vorgenommenen Unterscheidung von Subversivität und Politizität pointiere. Den Weg von der Hermetik zur Öffnung der Kunst beschreibt Benjamin als Verschiebung zwischen den beiden Polen des Traditionswertes und des Ausstellungswertes der Kunst. Die Hermetik der Kunst begründet sich ihm zufolge in ihren vormals sakralen Kontexten, die nur einer Elite Zugang zu Kunstwerken gestattete, wobei es »wichtiger« war, »daß sie vorhanden sind als daß sie gesehen werden«.30 Für die Kunst bedeutet dieser Wandel weg vom sakralen Sichtbarkeits23 24 25

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30

Vgl. Hans-Thies Lehmann: Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens. In: Merkur 48/1994, S. 426-431, hier S. 431. Hierzu vgl. Ullrich, Kunst/Künste/System der Künste. Der Vermittlungsanspruch an sich ist in diesem Zusammenhang kein Unterscheidungsmerkmal der Kunst, da auch die Kirche über eigene Didaktiken verfügt. Mir geht es hier vielmehr mit Blick auf die Kunst um die Skizzierung der Entwicklung der Spannung zwischen Autonomie und Funktionalismus sowie der damit verbundenen Erwartungen. Ullrich, Kunst/Künste/System der Künste, S. 582. Ebd., S. 582f. Das freie Spiel der ästhetischen Erkenntnis ist eben kein strikter Nachvollzug von Regeln. Prominent ist hier Jacques Rancières Kritik einer gut gemeinten Entmündigung der Theaterzuschauer zu nennen: »Die ästhetische Wirksamkeit bedeutet eigentlich die Wirksamkeit der Aufhebung jedes direkten Verhältnisses zwischen der Erschaffung von Kunstformen und der Erzeugung einer bestimmten Wirkung auf ein bestimmtes Publikum.« (Vgl. ders., Der emanzipierte Zuschauer, S. 71f.) BGS I. 2, S. 482ff. Dieser Vorgang ist für Benjamin ambivalent, handelt es sich doch auf den ersten Blick um eine Demokratisierung – die schließlich aber in die unheilvolle Verbindung des kapitalistischen Warenspektakels mit der faschistischen Massenpsychose kippt.

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Kultur in Stücken

entzug jedoch lediglich einen Wechsel innerhalb des funktionalistischen Paradigmas hin zur ökonomistischen Sichtbarmachung als Ware und Politikum zugleich. Durch Zerschlagung ihrer sakralen Bindungen hatte die Kunst sich eigentlich vom Paradigma der Nützlichkeit gelöst. Anfang des 20. Jahrhunderts scheint sie sich eben diesem Paradigma wieder zu unterstellen. In Zeiten, in denen inkommensurable kulturelle Ausdrucksgestalten zunehmend ökonomistisch prekarisiert werden, erscheint eine allzu vage Zuschreibung von politischer Potenz als Ausdruck eines dringenden Legitimationsbedürfnisses. Dessen Tragik besteht dann darin, theatrale Repräsentationsformen, gewollt oder ungewollt, in den Koordinaten einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu organisieren und sie damit endgültig in die Logik des ökonomistischen Paradigmas zu überführen. Dieser Entwicklung geht eine Distanzierung vom L’art pour l’art voraus, das als Position wider das funktionalistische Prodesse et delectare im 19. Jahrhundert in Frankreich ausgerufen wird. Als Extrem der Autonomisierungstendenz der Kunst wird es von Brecht und Artaud als Inbegriff eines saturierten bürgerlichen Hedonismus genauso verachtet, wie die funktionalistische Verwertungslogik moralischpolitischer Erziehungsprogramme. Allerdings wird, besonders für Artaud, Charles Baudelaire mit seiner dem Autonomiegedanken verpflichteten amoralischen Ästhetisierung des Hässlichen und Chaotischen zur Schlüsselfigur – wobei jedoch gerade das Moment des Amoralischen das Theater wie die Kultur aus ihrer Sterilität befreien, also nützen soll. Die Theaterkonzepte Brechts und Artauds, wie überdies die an hermetischen Formen des Bedeutungsentzugs orientierte Avantgarde, sind vor dem Hintergrund dieser Dichotomie von Funktionalität und Autonomie als Versuch eines Brückenschlags zu deuten. Als Konzepte eines »Zugleich« machen sie gegenüber funktionalistischer Vereinnahmung die Eigengesetzlichkeit der theatralen Form stark, gegenüber dem weltabgewandten L’art pour l’art ein Theater, das den Menschen etwas angeht. Ihre Konzepte bergen daher den Anspruch, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Momente des Nichtverstehens, der Verdunkelung und Eintrübung, kurz: der hermetischen Verschließung, sollen wider das eigentlich selbst auch Hermetische des bürgerlichen Theaters subversive Wirkungen entfalten, ohne politische oder moralische Lehrsätze zu vermitteln. So weist die Konzeption einige Doppelbödigkeiten auf, da die Hermetik des Nichtverstehens nämlich nicht als totale Verfinsterung gedacht werden kann. Dennoch wäre es zu einfach, den Theaterkonzepten eine versteckte Logik der Sichtbarmachung zu unterstellen. Stattdessen wird mit der Affirmation der Uneinsehbarkeit des Hermetischen ein anderer Raum der menschlichen Erfahrung ins Spiel gebracht. In ihrer immanenten Widersprüchlichkeit weist die Systematik der Konzepte einige Parallelen zu Schlegels Poetologie der »künstlich geordnete[n] Verwirrung« und »reizende[n] Symmetrie von Widersprüchen« auf, die ebenfalls mit vernunftkritischem Impetus »in die schöne Verwirrung der Fantasie« stürzen will und dabei gleichzeitig kokett die Möglich-

I.3 Ästhetische Subversion

keit andeutet, es gäbe neben der »vernünftig denkenden Vernunft« vielleicht noch eine andere.31 Ironischerweise ist es im Theater des Nichtverstehens gerade die erzwungene Ruhigstellung als Unterbrechung des Verstehensablaufs, mit der das Paradigma des Schöpferischen vermittelt werden soll. Indem das Publikum auf seine passiven perzeptiven Fähigkeiten zurückgeworfen wird, werden Fähigkeiten des Innehaltens, Abwartens, des Aushaltens von Dissonanz und Ambiguität kultiviert.32 Im Imperativ des Nichtverstehens teilt sich die Aufforderung an das »Publikum der Werkmeister« mit, sein Material kennenzulernen und die Form zu prüfen. Lauschen statt Sprechen, dies ist der Aufruf des Theaters des Nichtverstehens, so tosend seine Mittel auch sein mögen. Das Erkenntnisgeschehen vollzieht sich hier nicht deduktiv, sondern additiv: Schauen, was es gibt. Aus dieser Perspektive erscheinen die Theaterkonzepte Brechts und Artauds, wie disparat auch immer, vor dem Hintergrund der Entwicklungsgeschichte des Kunstbegriffs im Spannungsfeld sakraler Hermetik und säkularer Praxisrelevanz als Exerzitien säkularer Mystik. Das Hermetische erscheint von hier aus als notwendige Gegenseite der starken Betonung des Schöpferischen. Wo der Situationsbewältigung des Selbstverständlichen eine emsige Geschäftigkeit innewohnt, die beständig droht, den Reichtum der Welt wegzuverwalten, eröffnet das Theater des Nichtverstehens gerade im Entzug die Möglichkeit eines tiefen Kontakts zu den Koordinaten menschlichen In-der-Welt-Seins. Dazu gehört die Erfahrung des Hermetischen auch in der Weise, als dass sie mit der Vorstellung aufräumt, man könne gottgleich von jedem beliebigen Punkt jedes Beliebige erschaffen. Ausgerechnet die Eintrübung gibt den Blick auf die Herausforderung frei, dass wir immer nur ins Unreine schaffen und unsere eigene Wirkung auf die Welt uns entzogen ist.

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Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band, Erste Abteilung: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hg. und eingeleitet von Hans Eichner. München u. a. 1967, S. 284-362, hier S. 319. Hierzu auch Lehmann, Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens, S. 430.

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I.4

Zur Aporetik von Kritik und Subversion

I.4.1

Verselbstverständlichung: Ideologie der Ideologiekritik

Bereits Mitte der Fünfzigerjahre äußert Roland Barthes in seinen Schriften zum Theater einen Verdacht, der auch gegenwärtige Diskussionen um das kritisch-interventive Potential von Kunst prägt.1 Indem nämlich die formzersetzende Entselbstverständlichung der Avantgarde selbst mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit wird, wirkt sie zuletzt pikanterweise als kulturelle Immunisierungsstrategie: Man inokuliert der Tradition ein wenig Fortschritt, einen rein formalen übrigens, und schon ist die Tradition gegen den Fortschritt immun; einige Zeichen der Avantgarde reichen aus, um die wirkliche Avantgarde, die umfassende Revolution der Sprachen und Mythen, zu kastrieren.2 Ich möchte Barthes’ Punkt insofern zuspitzen, als durch Attributionen des Interventiven – wie etwa Kritik, Subversivität, Widerständigkeit – die Kunst in die Rolle einer modernen Ablassform gedrängt wird mit dem Effekt, dass nach wie vor bestehende epistemische Ordnungen, wie die des distinguierten Kunstgenusses, in moralischer Hinsicht nobilitiert werden. Damit sehen sich Behauptungen interventiver Potenz des Künstlerischen am Ende der Frage ausgesetzt, ob sie nicht eben jene gesellschaftlichen Ordnungen stützen, die sie vermeintlich in Frage stellen. So wird die subversive Kraft des Theaters in Handhabbarkeit überführt. Kritik wird, mit Benjamin, zur Routine.3 Auch Barthes hat dieses Problem beschrieben, für ihn verkommen künstlerische Subversivitätsbehauptungen zum Katechismus.4 Die Mythologie als kritische Wissenschaft teilt mit dem Theater des Nichtverstehens das Verfahren des Entselbstverständlichens und zuletzt auch sein aporetisches Schicksal. In der Figur des Mythologen wird die entscheidende Aporie des Kri-

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Zur Frontstellung dieser Debatte siehe Kleesattel, Kunst und Kritik. SzT, S. 125. BGS II. 2, S. 692. RdS, S. 74.

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Kultur in Stücken

tischen akut, die es zur »Preisgabe seiner eigenen Voraussetzungen«5 zwingen. Diese Aporie ergibt sich aus der Verbindung der Vorstellung eines der Emersion erwachsenden kritischen Blicks mit der Vorstellung eines, so Draxler, »archimedischen«6 Punktes von Kritik. Dabei handelt es sich um ein strukturelles Problem behaupteter transformativer Potenz. Der »Mythos des ›versus‹« verschleiert, so Barthes, das fundamentale Verstricktsein auch kritischer Formen in den Status quo.7 Diese Verstrickung resultiert aber nicht etwa aus Bigotterie, sondern aus der epistemischen Konfiguration kultureller Formen und ihrer daraus resultierenden je eigentümlichen Hermetik, welche die kritisch-interventiven Ansprüche beständig unterläuft.8 Wo nämlich »versus« behauptet wird, handelt es sich stets nur um »cum«: Kritik bedarf nämlich, um als solche überhaupt erkannt zu werden, epistemischer Voraussetzungen. Das Etikett »Kunst« etwa gibt schon jene epistemische Rahmung vor, die das Unerwartete, Verstörende geradezu verhindert. Um das im Theater Gezeigte wie auch die Zeigebewegung als solche überhaupt erkennen zu können, muss es ein Vorverständnis geben. Daher handelt es sich bei Formen nicht-propositionaler Erkenntnis weder um ein Zeigen an sich noch um ein gezeigtes Ding an sich. Von den Konzepten Brechts und Artauds selbst her können die genannten Aporien nicht vollständig aufgelöst werden. Allerdings erlauben sie gerade an dieser ihrer Schwachstelle einige entscheidende Einsichten in die Beschaffenheit von Kultur, die nun selbst als Raum der Eingeweihten gefasst werden muss und sich insofern durch mannigfache Hermetiken auszeichnet, sei es die Hermetik des Avantgardepublikums oder der proletarischen Wohnküche. Kultur selbst wird so als Spannung von Immanenz und Transzendenz greifbar, die gerade aus ihrer Hermetik heraus die Individuen formt und von ihnen geformt wird. Angesichts dieser Hermetik erweist sich auch die Forderung nach Apologie, das heißt nach Sichtbarmachung der eigenen Position,9 als verkürzt: Die Ausweitung der Barthes’schen Forderung einer anamorphotischen Kritik auf die Aporie der 5 6 7

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Blumenberg: Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1988, S. 540. Draxler, Der Habitus des Kritischen, S. 1. LT, S. 81. Was Barthes in frühen Schriften insbesondere als Problem der Avantgarde ausweist, wird im Laufe der Sechzigerjahre auch seine eigene Philosophie betreffen und insbesondere auf methodischer Ebene Konsequenzen zeitigen, wie ich in Kapitel II.3 zeigen werde. Diese Paradoxie erläutert Barthes am Beispiel des französischen Avantgardetheaters: »Zum einen verwirft er [der Künstler, M. R.] heftig die akademische Ästhetik der Klasse, aus der er selbst kommt, zum anderen aber benötigt er diese Klasse, um sein Publikum zu machen; in einer bürgerlichen Gesellschaft zum Beispiel lehnt der Avantgardeschriftsteller die bürgerlichen Werte ab, aber diese Ablehnung, die er zum Schauspiel erhebt, kann letzten Endes nur von der Bourgeoisie konsumiert werden – die Avantgarde ist, mag der Schein auch trügen, eine Familienangelegenheit.« (SzT, S. 254.) Diese Möglichkeit erwähnt Barthes selbst des Öfteren, unter anderem auch mit Bezug auf seine eigene Mythologie und Brecht, vgl. MdA, S. 8 sowie RdS, S. 241f.

I.4 Zur Aporetik von Kritik und Subversion

Ideologiekritik wird zeigen, dass auch diese Sichtbarmachung wiederum nur eine verzerrte sein kann. Barthes selbst wird insbesondere auf methodologischer Ebene Konsequenzen aus dieser Problematik ziehen.10 Wo die große Geste der Transparentmachung der Barthes’schen Mythologie wie auch der Apologie es mit der Hermetik des Selbstverständlichen aufnehmen will, da verweist das Theater des Nichtverstehens auf eine weitere Möglichkeit der Subversion, von der sowohl das Theater als auch die Philosophie Gebrauch machen können: Auf Hermetik statt auf Belehrung und Apologie zu setzen, kann Elitarismus bedeuten. Es kann aber auch bedeuten, das Publikum – die Leserschaft – tatsächlich im Sinne des dialogischen Prinzips ernst zu nehmen.11 Diese Haltung vollendet sich freilich erst in der Selbstentwertung des Theaters wie der Philosophie, insofern beide nun von ihrem Anspruch zurücktreten müssen, für alle zu jeder Zeit über alles sprechen zu können. Im Falle Brechts und Artauds kann der Problemkreis des Aporetischen zusätzlich konkretisiert werden: Bei aller Kritik an der Erstarrung kultureller Formung sind auch die beiden Theaterkonzepte auf Identifikationen angewiesen. Die Frage, ab wann eine Erstarrung zur Form problematisch wird, kann also auch von den Autoren selbst her nicht abschließend beantwortet werden, es sei denn, man verlässt die post-alethische Perspektive wieder. Ich werde im Folgenden allerdings zeigen, dass auch für Brecht und Artaud das Theater des Nichtverstehens immer zugleich auch ein Theater des Verstehens beinhaltet und Nichtverstehen niemals absolut zu haben ist. Zudem lässt sich, auch dies wird im Folgenden gezeigt, gerade aus dem ambivalenten Verhältnis zur Identifikation ermöglichenden Form die wesentliche Pointe des Pharmakongedankens figurieren, den die Konzepte implizieren. Diese Pointe besteht, so denke ich, in der Einsicht, die richtige Dosis niemals sicher bestimmen und den Wirkungsverlauf nicht verlässlich vorhersagen zu können. Für ein Theater der Verflüssigung bedeutet das, dass auch es selbst gezwungen ist, performativ eine Dosis vorzugeben, und es sich bestenfalls der Prognose enthält.

I.4.2

Zwei Gegendiskurse: Transparenz und Selbstprekarisierung

Aus den Theaterkonzepten Brechts und Artauds kann keine Auflösung der Aporien subversiver Ansprüche und Praktiken herausgelesen werden. Allerdings gibt 10 11

Vgl. die Abschnitte II.3.1 und II.3.2. Zu dieser Kritik, bezogen auf künstlerischen Paternalismus, siehe Rancière,Der emanzipierte Zuschauer, S. 63-100. Ich teile Rancières kritische Analyse, nicht aber seine Ansichten zu Brecht, da Rancière hier die Dimension des Nichtverstehens wie auch die unbestreitbaren avantgardistischen Tendenzen Brechts völlig außer Acht lässt und ihn stattdessen im Sinne schlichter marxistischer Didaxe liest.

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Kultur in Stücken

ihre Perspektive den Blick frei auf einige blinde Flecken der Forderung nach einer Apologie der Ideologiekritik – ob im Raum der Wissenschaft oder der Kunst. Von hier aus lassen sich dann die Präsentationsformen von anamorphotischer Kulturkritik sowie das Spezifische einer am Nichtverstehen orientierten Subversion näher bestimmen. Ich möchte diese Blickverschiebungen nun im Rahmen zweier Gegendiskurse beschreiben. Damit möchte ich die aufgezeigten Aporien nicht auflösen – das ist nicht möglich –, aber ich möchte zeigen, dass eine Fokussierung auf aporetische Verstrickungen Gefahr läuft, einige besondere Pointen des Theaters des Nichtverstehens zu verpassen. Wenn ein ideologiekritisches Vorhaben – wie die Mythologie – dem Phantasma des archimedischen Punktes entgehen will, hat es der Unausfüllbarkeit seiner blinden Flecken apologetisch Rechnung zu tragen. Allerdings ist fraglich, inwieweit dies überhaupt in der Form wissenschaftlicher Darstellungsweisen geschehen kann, oder ob nicht erst recht alternative Formen der Reflexion bemüht werden müssten: Barthes wendet sich gerade aus der Erfahrung der Verselbstverständlichung der Mythologie in seinem Spätwerk verstärkt fragmentarischen und essayistischen Schreibverfahren zu und entgeht damit jener »fraglosen Vorentscheidung fürs Diskursive«12 , die Mersch als Problem selbst der kritischen Kulturtheorie im Zeichen von Strukturalismus und Poststrukturalismus benannt hat. Ich stelle die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Offenlegung von Positionalität nicht in Frage, möchte aber den Anspruch, die eigene Position transparent machen zu können, problematisieren, insofern dies vor allem eine in ihrem Grad kaum einschätzbare Selbsttransparenz zur Voraussetzung hat, die wiederum dem Phantasma der universellen Transparenz und Verfügbarkeit der begrifflichen Repräsentation erliegt.13 Mit der Forderung der Transparentmachung im Sinne der Barthes’schen Mythologie steht zudem nicht weniger auf dem Spiel als die Soziabilität diskursiver Verfahren: Der Mythologe, der große Lichtbringer, ist nicht zuletzt als Asozialer, als Outlaw charakterisiert. In einer Gemeinschaft von Mythologen ist kein Disput und kein Gespräch mehr möglich, sie konstituiert einen sterilen Raum. Vor dem Hintergrund der skizzierten Problematik beschreibe ich die nichtverstehenszentrierten Theaterkonzepte Brechts und Artauds als Aktionen wider jegli12 13

Mersch, Posthermeneutik, S 319. Im Rahmen dieser Arbeit können die Möglichkeiten einer solchen Distanznahme vom eigenen Selbst nicht philosophisch bestimmt werden. Ich möchte dennoch auf das Problem hinweisen, da es letztlich Auswirkungen auf die Wirksamkeitsbehauptungen kritisch-subversiver wissenschaftlicher, politischer und künstlerischer Strategien sowie die Haltungen, mit denen diese vorgebracht werden, zeitigt. Auch Mersch untersucht diese Problemkonstellation und spricht in diesem Zusammenhang vom »Phantasma der Souveränität«, deren »Figur« – mit Barthes möchte ich sagen: deren Mythos – die »Luzidität« ist. Dieses Phantasma gilt es, so Mersch, im Zuge einer »posthermeneutischen Philosophie des Kulturellen« aufzulösen. Siehe ebd., S. 312f.

I.4 Zur Aporetik von Kritik und Subversion

che Reinwaschungsfantasien, und zwar weil sie selbst auf diffuse, in ihrer Wirkung kaum zu berechnenden Formen setzen. Obgleich der Forderung nach Apologie unabweisbare Einsichten in die Dialektik der Ideologiekritik zugrunde liegen, werden die Besonderheiten theatraler Repräsentation von ihr nicht adäquat erfasst. Am Nichtverstehen orientierte künstlerische Subversionsansprüche sehen sich einer unleugbaren zweifachen Scheiternsprävalenz ausgesetzt: Ob sich Nichtverstehen ereignet, ist selbst noch abhängig von Vorverständnissen. Zudem ist, da an spezifisch ästhetische Ausdrucksformen gebunden, die theatrale Bezugnahme immer prekär, was nicht heißt, dass sie unmöglich ist. Ihre subversive Potenz ist dann allerdings einzuschränken gegenüber politischen Begehrlichkeiten, die der Zeitgeist fordern mag: Sie entfaltet sich nicht auf politischem Feld, sondern ist Meditation über die Ungewissheit des vermeintlich Gewissen und Gewussten.14 Diese Ungewissheit betrifft dann die Idee kritischer Kunst wie auch kritischer Wissenschaft, wo immer sie unhinterfragt verfolgt wird und zum identitätsstiftenden Genre gerinnt, und letztlich ebenso die diese Idee fundierenden weltanschaulichen Grundlagen.

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Barthes teilt diese Intuition, erwähnt sie aber nur kurz: »Vermutlich hat ihn die theatralische Form vor dieser Gefahr [der der Ideologie, M. R.] bewahrt, da beim Theater, wie in jedem Text, der Ursprung der Äußerung unlokalisierbar ist. Unmöglich also die sadistische Kollusion von Subjekt und Signifikat (diese Kollusion bringt den fanatischen Diskurs hervor) oder die mystifizierende von Zeichen und Referent (diese bringt den dogmatischen Diskurs hervor); aber selbst in seinen Essays macht es sich Brecht nie so leicht und signiert den Ursprung seines Diskurses, […]: Seine Sprache ist keine Münze.« (RdS, S. 241f., Herv. i. O.) Damit deutet sich in der Barthes’schen Brechtrezeption das Motiv des Pharmakons an, denn was eben noch kritikwürdig war – das Fehlen der Apologie –, wird hier nun zur Tugend.

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II Im Theater des Nichtverstehens

II.1

Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I Was evident ist, ist gewalttätig.1

Das Denken Roland Barthes’ ist von einem philosophischen Eklektizismus gekennzeichnet, der die im vorangehenden Kapitel dargestellten Linien und Probleme brennglasartig bündelt, einschließlich einer dezidierten Beschäftigung mit Brecht und Artaud. Seine Philosophie ist nicht so sehr von stringenter Entwicklung der Themen und Argumente oder von Phasen gekennzeichnet, sondern von Figuration und Reaktivität. Mit letzterer Zuschreibung, die in Kapitel II.3 weiter behandelt wird, folgt die vorliegende Untersuchung Barthes’ Selbstbeschreibung in Über mich selbst.2 Ebenfalls im Sinne eines figurativen Verfahrens3 unterziehe ich das Denken Barthes’ im Folgenden einer Lektüre, die einen »Brecht’schen Barthes« hervortreten lässt. Inspiriert ist diese Lektüre von Barthes’ eigenem Verfahren der Auseinandersetzung mit Brecht, das im Herauslesen eines Diskurses aus dem Werk des Theaterkünstlers besteht.4 So identifiziere ich einen Brecht’schen Diskurs im Denken Barthes’. Dieser geht über Barthes’ explizite Brechtrezeption hinaus, indem Brecht hier vielmehr der Stellenwert einer Figur zukommt, die bestimmte historische und systematische Phänomene und Probleme bündelt – in Kapitel II.3 werde ich dann einen »Artaud’schen Barthes« figurieren. Barthes’ Philosophie durchzieht die Frage nach dem subversiven Potential von Nichtverstehenserfahrungen. Diese wird im Laufe seines Denkens auf unterschiedliche Weise gestellt und beantwortet. Stets jedoch sind seine Überlegungen informiert durch die Auseinandersetzung mit dem Theater. Gerade seine mythologischen Schriften sind geprägt von einer intensiven Beschäftigung mit dem

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ÜM, S. 98. »[…] jede Phase ist reaktiv: der Autor reagiert entweder auf den ihn umgebenden oder auf seinen eigenen Diskurs, wenn der eine oder der andere zu konsistent wird« (ebd., S. 172). Hierzu auch Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt a. M. 1998, S. 110. Vgl. die Methodenreflexion in der Einleitung. Vgl. RdS, S. 241f.

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Kultur in Stücken

Theaterkonzept Brechts,5 die Aufstellung der Mythen des Alltags kann gar als eigene Szenenfolge im Sinne des epischen Theaters gelesen werden. Insbesondere die Schriften der Fünfziger- und Sechzigerjahre resonieren mit dem Denken und dem Theater Brechts, beziehen sich explizit oder implizit auf ihn. So sollen im Folgenden, vorbereitend auf die Brechtuntersuchung in Kapitel II.2, nicht zuletzt jene Aspekte im Denken Barthes’ herausgestellt werden, die Synergieeffekte mit dem Projekt Brechts zeitigen. Ende der Sechzigerjahre erlebt Barthes dann die Verselbstverständlichung seiner eigenen mythologischen Methode an den Universitäten6 – und damit den Verlust der verstörenden Wirkung des V-Effekts. Das folgende Kapitel nimmt daher die mythologische Kulturkritik Barthes’ bis zu diesem entscheidenden Erlebnis in den Blick, und zwar unter dem Aspekt des Nichtverstehens als einem Verfahren der Mythologie. Darüber hinaus leiten die im ersten Buchteil dargestellten Phänomene und Aporien die nun folgende Lektüre der Texte Barthes’. Konkret liegen im vorliegenden Kapitel die Akzente auf einer Darstellung des Kulturverständnisses Barthes’ und der Verknüpfung dieses Verständnisses mit einer Philosophie der Bedeutung, insbesondere über den Nexus des Selbstverständlichen. Im Zusammenhang mit Barthes’ kulturkritischem Anliegen wird seine Mythologie als theatrales Verfahren eines subversiven Nichtverstehens untersucht. Im letzten Schritt wird die Bedeutung des Theaters als Paradigma des Barthes’schen Denkens in den Blick genommen. Eine Darstellung seiner Auseinandersetzung mit Brecht und Artaud bereitet abschließend die Inblicknahme der beiden Theaterautoren in den Kapiteln II.2 und II.4 der Untersuchung vor.

II.1.1

Immersion: Verstehen

Grenze und Station Barthes steht, so wird im Folgenden gezeigt, in der Tradition eines Denkens der Dynamisierung mit kulturkritischem Selbstverständnis.7 Es lässt sich über den Ne-

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Natürlich spielen auch der ethnologische und der psychoanalytische Blick für Barthes eine wesentliche Rolle. Dies wird in den folgenden Abschnitten genauer dargestellt und in Beziehung zum Brecht’schen Blick untersucht. Obgleich auch zur Zeit der Mythen des Alltags eine Auseinandersetzung mit dem französischen Avantgardetheater und, in diesem Zusammenhang, mit Artaud stattgefunden hat (vgl. bspw. den gleichnamigen Text in MdA), ist die Ähnlichkeit der frühen Barthes’schen Mythologie mit den Ideen des epischen Theaters doch frappierend, wie sowohl in diesem als auch in Kapitel II.2 im Rahmen der Brecht-Analyse gezeigt wird. Vgl. RdS, S. 74. Den Mythos, gegen den seine Ideologiekritik sich wendet, beschreibt er als »erstarrt, gereinigt, verewigt« (MdA, S. 105).

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

xus seines Sprachverständnisses unter den Paradigmen des Postrestitutiven und Prozesshaften verorten. In speziell dieser Hinsicht stellen so unterschiedliche Positionen wie das Denken Marx’, Nietzsches, de Saussures, Freuds und Jules Michelets die wichtigsten theoretischen Referenzen Barthes’ dar.8 Zentral ist die Auseinandersetzung mit der Mythentheorie Lévi-Strauss’, blickt doch der Mythologe nach Manier des Ethnologen auf seine eigene Kultur. Diese Blickverschiebung vom Fremden auf das Eigene findet sich in Das wilde Denken von Lévi-Strauss: Und nichts in unserer Zivilisation erinnert mehr an die Pilgerfahrten, die die australischen Eingeweihten in regelmäßigen Abständen zu den heiligen Stätten unternehmen, als unsere Besichtigungen des Geburtshauses von Goethe oder von Victor Hugo, wo die Möbel uns ebenso lebhafte wie willkürliche Gefühle eingeben.9 Thematisch bestehen zudem auffällige Parallelen zum Denken Adornos und Benjamins – die drei verbindet die Frage nach dem Verhältnis von »›hoher Kultur‹ und ›Massenkultur‹ […] innerhalb der modernen bzw. modernisierten (europäischen) Gesellschaften« sowie, ausgehend davon, die Frage nach der Bedeutung von Kunst »im Zeitalter von Massenkonsum und Massenkommunikation«.10 Mit Beginn seiner philosophischen Auseinandersetzungen trägt Barthes jenen metaphysischen Umwälzungen der Moderne Rechnung, die den Menschen zwingen, den Blick vollends auf seine eigene Welt zu richten, ohne auf eine alternative hoffen zu dürfen. Paradigmatisch für Barthes’ diesbezügliche Radikalität ist die Absage, die er der Kultur-Natur-Dichotomie erteilt: Kultur ist, so schreibt er, ein paradoxes Objekt, nämlich eines »ohne Kontur, ohne Gegenbegriff, ohne Rest«11 . Der Gegenbegriff der Natur scheidet aus, so Barthes, eben weil niemals völlig sicher ist, wo überhaupt die Grenzen der einen wie der anderen verlaufen.12 Barthes’ Verschränkung von Kulturphilosophie und Semiologie mit dem Ziel der Ideologiekritik zeugt von der nietzscheanisch geprägten Einsicht, dass der Mensch der Moderne auf die (Wieder-)Entdeckung von Wahrheit und Natürlichkeit nicht mehr hoffen kann, sich stattdessen seine Welt zurichten muss, seine Tätigkeit, mit Nietzsche, »ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen« ist.13 Kultur 8

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Eine ausführliche Rekonstruktion der Einflüsse kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Hierzu vgl. insbesondere Ette, Roland Barthes, sowie Tiphaine Samoyault: Roland Barthes. Die Biographie. Übers. von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli. Berlin 2015. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 281. Ette, Roland Barthes, S. 111. Eine Rezeption Adornos ist für das Denken Barthes’ nicht nachzuweisen, hingegen existiert ein Verweis auf Walter Benjamin im Zusammenhang eines Brecht-Textes Barthes’. Hierzu ausführlicher ebd. BOC II, S. 1188, Übers. M. R., Herv. i. O. Ebd. KSA 5, S. 131f. Barthes hat sich Zeit seines Lebens mit Nietzsche beschäftigt. Hierzu siehe etwa: Jacques Le Rider: Nietzsche in Frankreich. Übersetzt von Heinz Jatho. Mit einem Nachwort

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Kultur in Stücken

erscheint, besonders im Licht der Mythen des Alltags, als Prozess dieses Zurechtmachens: Sie ist eine Praxis verstehenden Umgangs mit Situationen auf der Basis von begrifflichen und nichtbegrifflichen Zeichensystemen.14 Barthes präzisiert das Verhältnis von Kultur und Zeichen wie folgt: »Die Kultur ist ein Streufeld. Von was? Von Sprachen.«15 Diese Sprachen – Zeichensysteme – stellen die gewachsene und zugleich andauernde Ablagerung von Gewohnheiten und beständig aktualisierten Übereinkünften dar, einen Horizont des überhaupt semisch Repräsentierbaren. Allerdings ist Sprache hierbei nicht bloßes Transportmittel für von ihr unabhängige Bedeutungen, sondern der Akt des Sprechens konstituiert performativ unmittelbar den Horizont des Wirklichen und Möglichen: »The sign is a gesture.«16 Barthes’ Sprachtheorie scheint daher zunächst anschließbar an die Performativitätsdiskurse seit John Langshaw Austin. Obgleich das Vorhaben der Mythologies noch am Lesbarkeitsparadigma orientiert ist, worauf ich in Kapitel II.1.2 weiter eingehe, steht Barthes doch in der Tradition der Sprachskepsis. So muss jeglicher Hoffnung auf vollständige Intelligibilität dieser Zeichensysteme Absage erteilt werden. Sprache muss als »Reflex ohne Wahl«17 charakterisiert werden. Unter diesem Aspekt scheint dann eine Parallelisierung zur Tradition der Rhetorik und Logosmystik – die, so Andreas Hetzel, im Performativitätsdiskurs nach Austin ignoriert wurden – die Pointe seines Konzeptes eher offenlegen zu können als der Anschluss an Austin: »In beiden Traditionen wurde Sprechen dezidiert als welterzeugendes Handeln Interpretiert; beide richten sich gegen die intellektualistische Idee der Sprache als System oder Kompetenz, die dem gewöhnlichen, verkörperten, Wirkungen zeitigenden, schöpferischen Sprechen vorausgeht.«18 Da Barthes den Kultur- mit dem Sprachbegriff verschränkt, wird also auch Kultur, da sie Ablagerungsprozess semischer Konventio-

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von Ernst Behler. München 1997. Außerdem vgl. hierzu Ette, Roland Barthes und Samoyault, Roland Barthes. Obgleich stark von Ferdinand de Saussure wie überdies dem ethnologischen Blick Claude Lévi-Strauss’ beeinflusst, stellt Barthes’ Mythologie – hier stimme ich Körte und Reulecke zu – doch »keine bloße ›Anwendung‹« ihrer Theorien auf Alltagsphänomene dar, sondern »eine Übertragung unterschiedlicher Wissenssysteme auf Felder und Materialien, die diesen Wissenssystemen eigentlich fremd sind.« Mona Körte und Anne-Kathrin Reulecke: Einleitung: Intellektuelle Korrespondenzen. Roland Barthes’ ›Mythen des Alltags – Mythologies‹. In: Mythen des Alltags – Mythologies: Roland Barthes’ Klassiker der Kulturwissenschaften, hg. von Mona Körte und Anne-Kathrin Reulecke. Berlin 2014, S. 7-22, hier S. 12. Zur Ähnlichkeit einiger Analysen Barthes’ mit der Methodik Lévi-Strauss’ siehe Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. Übers. von Elfi Bettinger und Elke Hentschel, Stuttgart u. a. 5 2012, S. 109. BOC II, S. 1188. Siegmund,Jérôme Bel, S. 86. NdL, S. 15. Andreas Hetzel: Das Rätsel des Performativen. Sprache, Kunst und Macht. In: Philosophische Rundschau. Eine Zeitschrift für philosophische Kritik Bd. 51 Heft 2, Juni 2004. S 132-159, hier S. 134. Herv. i. O.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

nen ist, zum Reflex. Es mit dieser Reflexhaftigkeit aufzunehmen, stellt dann, so möchte ich festhalten, auch die wahre Herausforderung (künstlerischer) Subvertierungsversuche dar.19 Kultur stellt zum einen eine Lebenserleichterung durch Konventionalisierung dar, zum anderen aber ist sie totalitär: »alles ist Kultur, […] und die Kultur ist überall«20 . Ist das aber der Fall, dann wird Kultur vollends zum »epistemologischen Paradox«21 , stellt sich doch hiermit die Frage, ob eine Betrachtung der Kultur als Objekt überhaupt möglich ist – an genau diesem Punkt wird der Anspruch der mythologischen Ideologiekritik schließlich scheitern, wie ich in Kapitel II.3 zeigen werde. Dass Kultur überall ist, heißt allerdings nicht, dass ihr Prozess der Konventionalisierung von Bedeutungen im Sinne der Alltagsbewältigung jemals abgeschlossen werden kann. Seine Universalisierung von Sprache und Text schließt Barthes damit an die Zersetzung des Lesbarkeitsparadigmas an, wie sie seit Kant22 zu beobachten ist. Das vormalige »Buch der Welt« wird jetzt zum »Buch der Kultur«, in dem die semischen Ablagerungen menschlicher Situationsbewältigung als »Grenze und Station« zugleich fungieren, Lesen und Schreiben also zusammenfallen.23 Damit ist Barthes zwischen Essentialismus und Konstruktivismus zu positionieren: Der Horizont unserer Kultur gibt uns Weltdeutungen vor, in der situativen Jeweiligkeit ihrer Anwendung jedoch verschieben wir diesen Horizont immer auch stückweise: Das Abarbeiten des Individuums an der Allgemeinheit dieses Horizonts hat die Form einer logarithmischen Spirale.24 Die schöpferische Struktur der abweichenden Wiederholung ist indes durch den Mythos verschleiert, sie gilt es wieder zu entdecken. Diese Diagnose teilt insbesondere der späte Barthes mit Brecht und Artaud, wie noch zu zeigen sein wird. Das Zugleich von Grenze und Station ist überhaupt nur denkbar, wenn sämtlichen menschlichen Repräsentationsbemühungen eine untilgbare Unzulänglichkeit inhärent ist. Nur unter dieser Bedingung kann Barthes behaupten, Kultur sei ein »Streufeld von Sprachen«25 . Für Barthes fundiert die Leistung menschlicher Sinn19

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Brechts und Artauds Theaterkonzepte entwerfen körperliche Strategien, die genau diese Problematik einsichtig werden lassen. Vgl. die Abschnitte II.2.4 und II.4.4. Angesichts der oben beschriebenen Herausforderung möchte ich nochmals betonen, dass ein Wirken auf politischer notwendig von einem Wirken auf kultureller Ebene unterschieden werden muss (vgl. den ersten Teil meiner Untersuchung). BOC II, S. 1188, Übers. M. R. Ebd. Hierzu vgl. Apel, Verstehen, S. 918. NdL, S. 15 sowie Apel, Verstehen, S. 918. Dieses Motiv nehme ich in den Kapiteln II.2.5 und II.3.3 wieder auf. BOC II, S. 1188. Aus der linguistischen Wende ergibt sich dann nicht zwangsläufig eine Klärung der Sicht auf die Welt: Die Barthes’schen Überlegungen zeigen, dass Sprache auf Klarheit und Deutlichkeit nicht unbedingt angewiesen ist, um zu funktionieren. Vgl. hierzu und

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Kultur in Stücken

gebung den Mythos.26 Jedem Sinn aber, als Ergebnis begrifflicher und nichtbegrifflicher sprachlicher Repräsentation, ist Ungewissheit eingeschrieben, da er stets offen für Interpretationen bleibt: »Der Begriff Baum ist unbestimmt. Gewiss verfügt die Sprache über einen ganzen Anpassungsapparat (dieser Baum; der Baum; welcher usw.), aber rings um den endgültigen Sinn bleibt immer eine virtuelle Dichte, in der andere Sinnmöglichkeiten vorhanden sind: der Sinn bleibt interpretierbar.«27 Da sie Korrelationsverhältnisse zwischen innerweltlich Vorgefundenem und einem tradierten Wissens- und Bedeutungsfundus sind, lassen sich Zeichen nie endgültig fixieren.28 In dieser Unabschließbarkeit offenbart sich Barthes’ postrestitutive Perspektive, die bereits in den Mythen des Alltags ersichtlich wird. Sinn erscheint hier als Prozess. Die Unabschließbarkeit der kulturellen Sinnproduktion tritt nun in ein Spannungsverhältnis zu ihrer soeben beschriebenen Totalität. Angesichts dessen kann selbst für den Kulturkritiker Barthes, ähnlich wie für zwei seiner wichtigsten Referenzen, nämlich Nietzsche und Freud,29 ein Überwindungsstreben keine Lösung sein. Es gilt, die Spannung auszumessen, die zwischen Individuum und Allgemeinheit besteht, zwischen kultureller Formierung als Ermächtigungsleistung und Einschränkungsgewalt zugleich. Das ideologiekritische Anliegen seines mythologischen Projekts nährt sich von einem Bewusstsein für die Unsicherheit, in die alle Repräsentationsordnungen in post-alethischen Zeiten eintreten. Trotzdem bleibt die Sehnsucht nach einem neutralen Punkt, nach befriedender Auflösung der oft-

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besonders mit kritischem Blick auf die sprachanalytische Philosophie Peter Bieri: Was bleibt von der analytischen Philosophie, wenn die Dogmen gefallen sind? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 03/2007, Ausgabe 55, S. 333-344 sowie die Weiterführung der Position Bieris durch Christiane Schildknecht: Klarheit in Philosophie und Literatur. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56/2008, S. 781-787. Der Mythos stellt für Barthes ein »sekundäres semiologisches System« (MdA, S. 92) dar, das eines schon vorgängigen Sinnes bedarf, der dann mythisch aufgeladen und das heißt immer: verzerrt bzw. »deformiert« wird (ebd., S. 103). Das Titelbild von Paris Match, das einen salutierenden afrikanischen Soldaten in Kombination mit der französischen Flagge zeigt, transportiert den Mythos der »französische[n] Imperialität« (ebd.). Diese ist aus den je für sich sinnerfüllten Einzelelementen des Bildes eigentlich nicht klar und deutlich respektive zwangsläufig herauszulesen, drängt sich aber im Rahmen eines bestimmten kulturellen Vorwissens geradezu auf. Ebd., S. 116, Herv. i. O. Das Entzogensein der Zeichen zeitigt auf methodischer Ebene eine eher beschreibende Annäherung an das Konkrete, an die Alltäglichkeit kultureller Phänomene, wie auch ein Schreiben in kleineren Formaten, was Barthes besonders in seinem späteren Denken reflektiert und wovon in Abschnitt II.3.3 noch die Rede sein wird. Vgl. hierzu KSA 5, S. 314ff. sowie Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders.: Studienausgabe Bd. IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, hg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt a. M. 2000, S. 191-270, hier S. 269f.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

mals als Bürde empfundenen Bedeutungsstrukturen seit seinen frühesten Arbeiten ein Thema Barthes’.30

Was sich von selbst versteht. Mythos, Macht, Hermetik Barthes fasst Kultur als Kondensat von Repräsentationsbemühungen auf. Da die Hoffnung, Signifikant und Signifikat dabei endgültig zur Deckung zu bringen, von ihm verworfen wird, sind diese Bemühungen als ambivalent zu charakterisieren: Sie sind zwar vergeblich, aber zureichend zur Bewältigung alltäglicher Situationen. Da wir die Essenz eines Gegenstandes nicht erkennen können, bleibt uns, wie im vorherigen Kapitel bereits gezeigt, nichts anderes übrig, als ihn zu verstehen, der Akt der sprachlichen Repräsentation besteht in diesem behelfsmäßigen Verständlichmachen. Für die Mythologies, als sowohl marxistisch wie auch strukturalistisch inspiriertes ideologiekritisches Projekt, leidet die bürgerliche Gesellschaft an einer Verblendung durch essentialistische Denkstrukturen. Das epistemologische Phänomen, das diese Verblendung am unmittelbarsten zeigt, ist das Selbstverständliche: »Ich litt also darunter, sehen zu müssen, wie ›Natur‹ und ›Geschichte‹ ständig miteinander verwechselt werden, und ich wollte in der dekorativen Darlegung dessen, ›was sich von selbst versteht‹, den ideologischen Mißbrauch aufspüren, der sich meiner Meinung nach darin verbirgt.«31 Die Gestalt der Doxa, der »geläufige[n] Meinung«32 , in der das Selbstverständliche innerkulturell begegnet, wird für Barthes nun verdächtig, insofern sie es wiederholend reproduziert: Die Doxa »ist das angeblich apolitische Reden der Politiker, der Vertreter des Staates, der Presse, des Radios, des Fernsehens, der Konversation […]«33 . Die Diagnose einer Verhärtung der Sprache durch die Wiederholung des Selbstverständlichen findet sich bereits bei Nietzsche, dessen wahrheitskritischen Text Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne Barthes zitiert, wenn er in Die Lust am Text vom »›Hart- und Starrwerden‹ alter Metaphern«34 spricht. Das Motiv der Verhärtung der Sprache ist bereits in den Mythen des Alltags zentral, ist es doch genau die vom Gestus des Selbstverständlichen behauptete Abschließbarkeit des Repräsentationsgeschehens, die den Barthes’schen Mythos ausmacht.

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In Über mich selbst heißt es dazu, »im ›Nullpunkt‹« werde »die ›Abwesenheit aller Zeichen‹ geträumt« (ÜM, S. 100). MdA, S. 7. ÜM, S. 81. Die Doxa ist kein Inhalt einer Aussage, sondern nur eine Form und zwar eine »schlechte«, so Barthes: Die Form der einfachen Wiederholung – im Gegensatz zur abweichenden Wiederholung, die es im Sinne schöpferischer Emanzipation zu entdecken gilt und die sich besonders durch Formen körperlicher Repräsentation vermittelt findet, worauf ich den Abschnitten II.3.3. und II.4.4 zurückkomme. LT, S. 44f. Ebd., S. 64. Vgl. auch KSA 1, S. 884.

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Kultur in Stücken

Der Mythos, als Zentralbegriff Barthes’, wird als semiologisches System, als Sprache aufgefasst, und daher also als »Art und Weise« des Aussagens.35 Barthes wird später schreiben, der Begriff des Mythos habe für ihn »einen offen metaphorischen Wert« behalten, und auch in den Mythen des Alltags kokettiert er mit seiner Indifferenz gegenüber traditionelleren Bedeutungen des Begriffs.36 Jedoch zeugt auch Barthes’ Denken des Mythischen von der gleichen Spannung in der Bewertung des Begriffs, die für die philosophische Mythosdeutung der Moderne paradigmatisch ist, nämlich die zwischen Erkenntnisleistung und Erkenntnisverstellung. Die Leistung des Mythos besteht darin, angesichts untilgbarer epistemischer Prekarität Unverständliches in Verstehen zu überführen und dadurch Alltäglichkeit zu ermöglichen, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde. Wo Wahrheit nicht mehr zu finden ist, muss Bedeutung geschaffen werden, ebendies leistet der Mythos: »Man sieht, dass die Bedeutung der Mythos selbst ist […].«37 Auch für Barthes gibt es, sicher geprägt durch seine Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss, eine Rationalität des mythischen Weltzugriffs, von dieser zeugen etwa bäuerliche Sprichwörter, denen er eine eigene Rationalität zuschreibt.38 In den Sechzigerjahren wird Barthes diesem Umstand Rechnung tragen, indem er mit Referenz auf Jérôme Bruner und Jean Piaget auf die Unmöglichkeit einer »Wahrnehmung ohne unmittelbare Kategorisierung« verweisen wird, sein Mythosbegriff hier also implizit erweitert wird.39 Der Barthes der Mythologies begreift den Mythos jedoch zunächst als Aussage, die Selbstverständliches hervorbringt. Bei diesem handelt es sich allerdings um eine Kombination aus Verstehen und Vorschrift, um normatives, verordnetes Verstehen, das Barthes als solches verdächtig wird: »Er konnte sich nicht von dieser finsteren Vorstellung freimachen, dass die wahre Gewalt die des Das-versteht-sich-von-selbst ist.«40

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MdA, S. 85. RdS, S. 73 und MdA, S. 85. Ebd., S. 102. Ebd., S. 145. Lévi-Strauss beschreibt die Rationalität des mythischen Weltzugriffs gar als eigene »Wissenschaft vom Konkreten«: »Anstatt das Werk einer ›fabelbildenden Funktion‹ zu sein, die der Wirklichkeit den Rücken zuwendet – wie so oft behauptet wurde –, liegt der Hauptwert der Mythen und Riten darin, Beobachtungs- und Denkweisen, wenn auch nur als Restbestände, bis heute zu erhalten, die einer bestimmten Art von Entdeckungen angemessen waren (und ohne Zweifel bleiben werden): jenen Entdeckungen, die die Natur zuließ, unter der Voraussetzung der Organisation und der spekulativen Ausbeutung der sinnlich wahrnehmbaren Welt in Begriffen des sinnlich Wahrnehmbaren« (Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 29). ESS, S. 24. Zu untersuchen, ob und inwieweit sich in späteren Jahren noch der Begriff des Mythos findet und wie genau er sich gegenüber den Mythlogies transformiert hat, kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht geleistet werden. ÜM, S. 98.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

Trotz der Betonung seiner Eigenständigkeit von Seiten des Autors weist der Barthes’sche Mythosbegriff, so denke ich, Parallelen zum aristotelischen Mythosbegriff auf, insofern es sich auch beim bürgerlichen Mythos Barthes’ um eine »narrative Struktur« handelt, die »Einheit und Ziel« der Erzählung vorgibt.41 Beim mythischen Selbstverständlichen handelt es sich ebenfalls um eine Erzählung, nämlich von der Ewigkeit der Bedeutung, die das Hier und Jetzt erklärt und den Eindruck ruhiger, historisch einheitlicher Evidenz vermittelt. Mit dieser Evidenzbehauptung wird die perspektivische Gebundenheit des Erzählers verschleiert. Nicht dass er perspektivisch gebunden ist, sondern dass er genau dies verschleiert, ist für Barthes das eigentlich Ideologische am Mythos. Barthes definiert den Mythos als kulturelle Konservierung von Verstehen und zwar auf der Basis bestimmter, historisch gebundener Wissenskonstellationen, wie etwa dem Wissen des Publikums um das semiologische System Theater. So lange es sich in der epistemischen Sphäre des alltäglichen Wissens bewegt, weiß das Publikum nicht, dass es sich beim Theater um ein spezifisches semiologisches System handelt. Das bedeutet, die Zuschauer können sich ohne weiteres in diesem System bewegen, ohne es als das, was es nach Barthes ist, zu begreifen, ohne seine spezifische semische Beschaffenheit explizit machen zu müssen. Aus dieser Perspektive erscheint der Barthes’sche Mythos dann als Form kultureller Hermetik. In diese eingeweiht zu sein, bedeutet, sich ohne Reflexionsanstrengung, gleichsam intuitiv in den Tiefen des Ozeans der Aussagen und Bedeutungen zurechtzufinden – und dabei nicht einmal zu merken, dass man von Wasser umgeben ist. Diese immersive Wirkung des Barthes’schen Mythos beruht darauf, dass dieser bereits vorhandenes kulturelles Wissen arrangiert: »Er ist eine Art Spiralnebel, die mehr oder weniger unbestimmte Kondensierung eines Wissens. Seine Elemente sind durch assoziative Beziehungen miteinander verknüpft. Er wird nicht durch Ausdehnung, sondern durch Dichte getragen […].«42 Begriffliche Unfassbarkeit, Verbleib im Ungefähren sind also die Voraussetzungen für das Funktionieren des Mythos und daher letztendlich von Bedeutungen. Der Mythos vermag damit aber auch, und hier zeigt sich erneut die für die Moderne typische, spannungsreiche Mythosdeutung, eine nicht zu unterschätzende Entlastungsfunktion zu erfüllen. Barthes erkennt diese Funktion in den Mythologies zwar, problematisiert sie aber im gleichen Atemzug, insofern man es sich in dieser nur scheinbaren Ruhe und Sicherheit allzu gemütlich macht: Der Mythos unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evi-

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Müller, Mythos/mythisch/Mythologie, S. 312. MdA, S. 103.

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Kultur in Stücken

denz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit. Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein.43 Dieses scheinbar autonome Bedeuten ist indes das Ergebnis eines unaufhaltsamen Reimens auf die Welt. Dass Sprache Konstruktion ist, ist ein nicht erst moderner Gedanke: Auerbach verfolgt den Gedanken, »[i]m Grunde sei jede Rede eine Formung« bis zu Quintilian zurück.44 Wenn Rede immer schon Konstruktion ist, dann ist das Motiv der Sprache notwendig im Begriff der Ideologie enthalten.45 Für Barthes wird diese unhintergehbar konstruktive Aussagetätigkeit des Menschen insofern problematisch, als sie mit Blick auf ihre eigenen Hervorbringungen die Form eines naturalistischen Fehlschlusses annimmt: Die Evidenzbehauptung des Selbstverständlichen gibt das Sein der Dinge als ihr Sollen aus und verhindert damit abweichende Erzählungen, abweichendes Verstehen. Es sind für Barthes insbesondere die Wertesysteme von Kleinbürgertum und Bourgeoisie, die sich im Mythos fortpflanzen. Ette hat die Unzulänglichkeiten der Barthes’schen Klasseneinteilung aufgezeigt und seine Klassenanalyse als allenfalls »marxisierend« bezeichnet.46 Im Referenzrahmen eines marxistisch-soziologischen Denkens ist dieser Kritik sicherlich zuzustimmen. Bedenkt man allerdings, dass Barthes begeisterter Nietzsche-Leser war, dann erscheint seine Beschreibung kultureller Hege43

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Ebd., S. 131f. Aus dieser der Repräsentation inhärenten Diffusität wird Barthes später seine Gedanken zur Lust am Text entwickeln. Überdies liegt hier einer der Angelpunkte, an dem sich die Theorie Barthes’ und die Theaterkonzepte Brechts und Artauds verschränken lassen, wie die folgenden Kapitel zeigen werden. Auerbach, Figura, S. 63. Schnädelbach, Was ist Ideologie?, S. 92. Ette,Roland Barthes, S. 128 und 133ff. Bei Ette heißt es außerdem: »Wird Marx auch des öfteren angeführt, marxistisch ist die Herangehensweise Barthes’ nur sehr bedingt. Bürgertum und Kleinbürgertum erscheinen in den Mythen des Alltags als sich historisch kaum wandelnde Einheiten, die darüber hinaus voneinander nicht wirklich abgesetzt werden. Die ›kleinbürgerlichen Normen‹ erscheinen nicht in einem spezifischen kulturellen Funktionszusammenhang, sondern rein negativ als ›Rückstände der bürgerlichen Kultur‹, als ›degradierte, verkümmerte, kommerzialisierte, bürgerliche Wahrheiten‹, die ›leicht archaisierend oder, wenn man so will: aus der Mode gekommen (démodées)‹ seien. Es scheint, als ob nur das Bürgertum kulturelle Werte produzieren könne – aber auch den Mythos […]. Mit einem Zitat aus Marxens Deutscher Ideologie wird jene Unfähigkeit des Kleinbürgertums, sich das Andere vorzustellen, fundiert […]. Das Andere werde stets auf das Selbe reduziert […]« (ebd., S. 127f.). Barthes selbst hat seinen Bezug zum Marxismus vor allem als einen methodischen charakterisiert (vgl. hierzu seine öffentliche Replik an Jean Guérins Kritik der mythologischen Methode in BOC I, S. 499). Mit dem Topos der Unfähigkeit, sich das Andere als das Inkommensurable vorzustellen, berühren sich Barthes’ Mythologies nicht nur mit dem französischen Existentialismus, sondern auch mit Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung. Hier heißt es: »Aufklärung zersetzt das Unrecht der alten Ungleichheit, das unvermittelte Herrentum, verewigt es aber zugleich in der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches. […] sie schneidet das Inkommensurable weg.« (AGS 3, S. 28f.)

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

monie als Variante eines Willens zur Macht: Wo Verstehen nicht mehr zum Abschluss gebracht werden kann, treten auf dem ›Streufeld der Sprachen‹ verschiedene Evidenzansprüche in Konkurrenz, ja mehr noch: in ein kriegerisches Verhältnis47 zueinander. Sowohl für Barthes als auch für Nietzsche ist die Geschichte des jeweiligen Selbstverständlichen immer eine Geschichte der Sieger, da »alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herrwerden […] ist, bei dem der bisherige ›Sinn‹ und ›Zweck‹ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss.«48 Die Fronten dieses Kampfes erscheinen bei Barthes jedoch allzu holzschnittartig. Wie im ersten Teil meiner Untersuchung dargestellt, geben nämlich gerade historisierende Verfahren wie die Mythologie den Blick frei auf die Mannigfaltigkeit kultureller Hermetiken. Es ist eben nicht nur die Bourgeoisie, die Selbstverständlichkeit schafft, wenngleich es zu jeder Zeit zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften Unterschiede in der Weite des hegemonialen Durchsetzungsradius geben mag. Kultur muss vielmehr generell als Raum der Selbstverständlichkeiten gefasst werden. Was für die Emphase der Mythologies indes noch keine Rolle spielt, ist, dass die Leistung des Selbstverständlichen ohne Immersion, das heißt ohne Verkennung seiner Vorläufigkeit nicht zu haben ist. Das Projekt der Mythologies besteht zunächst und vor allem in einer Rückbesinnung auf das untilgbar Prekäre unseres Bedeutungsschaffens und damit unseres Verstehens.

II.1.2

Emersion: Begreifen

Theatrum mythologicum Weil Repräsentation immer unvollkommen bleibt, kann der Mythos einerseits funktionieren und andererseits subvertiert werden. So wandelt Barthes den Pessimismus seiner Kritik bürgerlicher Repräsentationsformen in einen Optimismus, der Theorie als Aktionsform begreift. Damit tritt er in die Nähe des Gedankens der poietischen Verantwortlichkeit, die zu ergreifen Cassirer im Anschluss an Simmel aufgefordert hat.49 Damit die mythologische Reminiszenz an den prekären Charakter unserer epistemischen Leistungen gelingt, braucht es die Möglichkeit eines Weltzugriffs alternativ zur Immersion des Mythos. In Abgrenzung zum Verstehen des Selbstverständlichen identifiziert Barthes einen weiteren epistemischen Modus,

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Barthes prägt in seinen Kritischen Essays die Formel vom »Krieg der Bedeutungen« (RdS, S. 76). KSA 5, S. 131f. Vgl. hierzu den Abschnitt I.1.2.

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Kultur in Stücken

nämlich den der mythologischen Betrachtung. In Anlehnung an die in Kapitel I.2.2 referierte Unterscheidung Gottscheds zwischen Verstehen und Begreifen möchte ich den Modus des Selbstverständlichen als Verstehen, den Modus der mythologischen Betrachtung eben dieses Verstehens als Begreifen bezeichnen. In beiden Modi manifestiert sich ein je spezifisches Verhältnis des Individuums zur Kultur. Die immersive Erfahrung des mythischen Selbstverständlichen kommt einem tiefen Schlummer gleich oder auch: einem Einfühlungstheater. Hingegen kann die Mythologie als Verfahren mythologischen Begreifens, als Projekt der Emersion, somit des Erwachens von der Alltäglichkeit aufgefasst werden. Dieses Erwachen ermöglicht es, den Mythos als Fixierungsbemühung zugunsten einer herrschenden Gruppe zu begreifen. Distanznahme vom und Aufspaltung des Selbstverständlichen sind die beiden Modi dieser Einstellung: Ich kann mich über diesen Sachverhalt nur dann wundern, wenn ich absichtlich diesen Kreislauf von Form und Sinn unterbreche, wenn ich mich auf jedes der Elemente wie auf ein vom anderen getrenntes Objekt einstelle und auf den Mythos ein statisches Verfahren der Entzifferung anwende, kurz, wenn ich seiner eigenen Dynamik Widerstand leiste. In einem Wort: wenn ich vom Zustand des Lesers des Mythos zu dem des Mythologen übergehe.50 Es gilt, sich wieder wundern zu können, allerdings nicht über das Wunderbare, sondern über uns selbst, und zwar in den banalen Verrichtungen des Alltäglichen. Es handelt sich bei der Unterbrechung der Mythologie um ein Verfahren des Unverständlichmachens: selbstgesteuertes Nichtverstehen. Der Mythologe muss ironischerweise in der Lage sein, Fremder seiner eigenen Kultur zu werden, um es mit jener Entfremdung von der lebendigen Fluidität unseres Bedeutungsschaffens aufnehmen zu können, in der Barthes die ideologische Verirrung der bürgerlichen Gesellschaft erblickt: [D]a sie [die Mythologie, M.R.] für gewiß hält, daß der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft in jedem Augenblick in falsche Natur getaucht ist, versucht sie unter den Unschuldigkeiten noch des naivsten Zusammenlebens die tiefe Entfremdung aufzuspüren, die zusammen mit diesen Unschuldigkeiten hingenommen werden soll.51 Diese Entfremdung, das Verkennen von Kultur als Natur, vermag der Mythologe aufzuspüren, indem er sich der beschriebenen Naivität enthält. Er wird vom Akteur zum Zuschauer des Alltags. Analog zum Idealzuschauer des epischen Theaters Brechts, welches die Entwicklung des mythologischen Verfahrens entscheidend

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MdA, S. 105. Ebd., S. 148.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

begünstigt hat52 , darf er sich nicht länger in das vor ihm ablaufende Geschehen involviert fühlen, sondern er muss sich seiner Zuschauerposition und damit der Künstlichkeit der Szenerie bewusst werden. Er enthält sich des Verstehens, um es begreifen und uns begreiflich machen zu können.53 Mythologie ist also nicht nur kritische Wissenschaft54 im Sinne eines intellektuellen Vorgehens, sondern sie ist ein ästhetisches Verfahren, die Änderung der inneren Haltung zur eigenen Kultur, die Fähigkeit, ein inneres Theater zu produzieren. Die Strukturgleichheit von Barthes’scher Mythologie und Brecht’schem Verfremdungseffekt basiert auf der epistemischen Fähigkeit zur Theatralität im Sinne Férals und Berminghams. Theatralität als Fähigkeit, eine Kluft in das immersive, von Selbstverständlichkeit durchtränkte Alltagsgeschehen einzuziehen, ist die Bedingung der Möglichkeit mythologischer Kulturbetrachtung – und damit letztlich -kritik: It is an act initiated in one of two possible spaces: either that of the actor or that of the spectator. In both cases, this act creates a cleft in the quotidian […]. Without such a cleft, the quotidian remains intact, precluding the possibility of theatricality, much less of theatre itself.55 Mythologie als Verfahren der Theatralität zerschneidet das Band zwischen Individuum und Kultur. In diesem Betrachtungsmodus laufen dann Theater in seiner Bedeutung des Schauens (theáomai) und Kritik in ihrer Bedeutung des Zerschneidens (krínein) zusammen: Mythologie ist zerschneidendes, zerstückelndes Schauen – indem sie Alltäglichkeit zerschneidet »empfiehlt« sie es, mit Brecht, »der Begutachtung« und verleiht dem »Natürliche[n] das Moment des Auffälligen«.56 Damit liegt mit der Mythologie zugleich das Konzept einer Verklammerung von Kritik und Subversion vor, ein Verfahren schöpferischer Kritik. Barthes dieses Verfahren einige Jahre nach den Mythologies mithilfe der Metapher der Anamorphose beschrieben. Indem der Mythologe aus dem Geschehen heraustritt, um sein Funktionieren zu beschreiben, verändert er es, so die Hoffnung Barthes’, er entzerrt es: Er raubt seiner Evidenzbehauptung die Glaubwürdigkeit, gleich einem Zuschauer, der im Theater auf die Bühne stürmt, um die Masken der Schauspieler herunterzu-

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Gerhard Neumann: Theatralität der Zeichen. Roland Barthes’ Theorie einer szenischen Semiotik. In: Szenographien: Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard Neumann u. a. Freiburg i. Br. 2000, S. 65-112, hier S. 69. MdA, S. 92f. Rückblickend beschreibt Barthes seine Mythologie als Verfahren »kritische[r] Entzifferung« (RdS, S. 75). Féral und Bermingham, Theatricality, S. 98f. GBA 22.1, S. 374 sowie 63.

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Kultur in Stücken

reißen.57 Der anamorphotische Charakter dieses kritischen Verfahrens allerdings bleibt in den Mythologies von Barthes selbst noch unbenannt, insofern er »nicht auf seine [eigene] Maske zeigt«, die Krümmung seines eigenen Spiegels, um im Bild zu bleiben, nicht eingesteht.58 Damit bergen auch die Mythologies – hier liegt ihr großes Paradox – noch die Hoffnung auf einen neutralen Punkt, den einzunehmen der Mythologe allein im Stande ist. Die postrestitutive Perspektive ist hier zwar angelegt, vollendet sich aber erst mit den späteren Arbeiten, wie in Kapitel II.3 gezeigt wird. Trotz oder gerade angesichts dieser für ideologiekritische Ansprüche doch recht klassischen59 Aporie, vermag Barthes’ mythologisches Projekt die hermetische Qualität von Kultur zu offenbaren. Diese entzieht sich zweifellos im alltäglichen Besorgen dem Blick, sie fällt überhaupt nur dann auf, wenn man zumindest kurzzeitig eine Außenseiterposition einzunehmen imstande ist – die freilich selbst wieder von eigenen hermetischen Selbstverständlichkeiten geprägt ist. Das mythologische Verfahren funktioniert also nur punktuell und niemals absolut: Was dem einen als behagliche Selbstverständlichkeit scheint, erscheint dem anderen als umständliche Extravaganz. Dennoch wirkt das mythologische Verfahren subversiv, aber nicht etwa, weil es dem Mythos einen anderen Inhalt oder eine andere Form entgegensetzt, sondern weil es eine perspektivische Modifizierung des Selbst vornimmt, die hermeneutische Konsequenzen zeitigen kann. Seine Subversion entfaltet sich vor allem mit Bezug auf die Persönlichkeit des Mythologen selbst, worauf Barthes lakonisch hinweist: »[M]an [wird] dem Mythologen, sollte sich eines Tages einer finden, Schwierigkeiten voraussagen können, wenn nicht methodische, so doch emotionale.«60 Es gehört nämlich zu seinem Schicksal, nach dem für das Verfahren notwendigen Erwachen nicht mehr in die eigene Kultur zurückfinden zu können. Indem er so nicht weniger preisgibt als seine eigene Sozialität, wird der Barthes’sche Mythologe zur Märtyrerfigur, wie im Folgenden gezeigt wird.

Terra desolata Wer einmal aufwacht, schläft nicht mehr ein. So lässt sich in aller Kürze das Drama des Mythologen zusammenfassen, welches Barthes im Nachwort der Mythologies heraufbeschwört. Die Unterbrechung geschäftiger Alltagsbewältigung bewirkt den Verlust eben dieser Alltäglichkeit und rückt die Dinge auf Distanz. Der Mythologe,

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Im Gestus dieses Demaskierens verbirgt sich, nach Ette, eine direkte Nähe Barthes’ zum Ideal der Aufklärung (ders., Roland Barthes, S. 124). »In den Mythen des Alltags zeigt Barthes nicht auf seine Maske, sondern vor allem auf Kleinbürgertum und Bourgeoisie […]« (ebd., S. 133). Vgl. Schnädelbach, Was ist Ideologie? MdAb, S. 312.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

der in ethnologischer Manier auf seine eigene Kultur blickt,61 nimmt diese Distanz erst einmal stellvertretend ein. Damit lässt er sich in den Kanon jener – oft tragischen – Erkenntnisbringer einreihen, der von Prometheus über Nietzsches Zarathustra und den Freud’schen Analytiker bis hin zu den Flaneuren Baudelaires und Benjamins reicht, um nur einige zu nennen.62 Folge dieser Fähigkeit zur distanzierten Beobachtung ist für Barthes der Verlust der Sozialität, den er im Nachwort der Mythologies eindrücklich und nicht ohne Pathos beschreibt: »Der Mythologe ist dazu verurteilt, eine rein theoretische Gemeinsamkeit zu leben. Er ist sozial im besten Fall darin, daß er wahr ist. Seine größte Gemeinschaftlichkeit liegt in seiner größtmöglichen Moralität. Sein Verhältnis zur Welt ist sarkastisch.«63 Wenn »der Mythos die gesamte Gesellschaft befällt« besteht die mythologische Herausforderung darin, »sich von der gesamten Gesellschaft [zu] entfernen«.64 Was als Projekt der »Überwindung gesellschaftlicher Entfremdung […] auf der Basis strukturalistischer Vorstellungen«65 begonnen hatte, verweist den Mythologen also selbst in eine ungeheure Entfremdung. Indem er den Mythos begreift, versteht der Mythologe die Welt nicht mehr, und zwar insofern sie als menschliche Welt stets bedeutungs- und damit mythendurchdrungen ist. Das unschuldige Konsumieren des Selbstverständlichen hat er abgelegt, was bleibt, ist Sarkasmus, und zwar als Lebenseinstellung. Die Terra desolata, in die die mythologische Tätigkeit führt, ist kein archimedischer Punkt, obgleich Barthes implizit die Möglichkeit einer solchen Neutralität für seinen Mythologen beansprucht: Der Verheißung eines alternativen Gesellschaftsentwurfs zu verfallen, widerspricht nämlich nach Barthes fundamental der mythologischen Einstellung, ist doch die Grundlage eines solchen Entwurfs immer ein enthistorisierendes mythisches Wertesystem, das um das Gute, Wahre und Nützliche kreist. Der Mythologe darf nicht hoffen, »es ist ihm untersagt, sich vorzustellen, was die Welt sein wird, wenn der Gegenstand seiner Kritik verschwunden ist. Die Utopie ist für ihn ein unmöglicher Luxus.«66 In diesem Verzicht stellt Barthes’ Mythologie durchaus eine Variante der »Kritik der Kultur im Namen der Kultur«67 dar. Die Implikationen des mythologischen 61 62

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Neumann, Theatralität der Zeichen, S. 66. Prominent hat Nietzsche darauf verwiesen, das asketische Ideal sei für den Philosophen kein Ideal, sondern schlichte Notwendigkeit – allerdings eine einseitige: »Was bedeutet demnach das asketische Ideal bei einem Philosophen? […] der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu, – er verneint nicht damit ›das Dasein‹, er bejaht vielmehr darin sein Dasein und nur sein Dasein […].« KSA 5, S. 351. MdA, S. 149. Ebd., S. 148f. Ette, Roland Barthes, S. 124. MdA, S. 149. Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 33.

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Projekts offenbaren aber, dass hier immer noch ein Versuch vorliegt, sich aus eben jener Kultur herauszustehlen, in der endlich anzukommen die emphatische Geste der Entnaturalisierung eigentlich gefordert hatte. Womöglich verfügt der Mythologe tatsächlich über keinen konkreten utopischen Entwurf. Allerdings birgt die bloße Auswahl der Phänomene, die es verdient haben, der mythologischen Analyse unterzogen zu werden, durchaus eine Wertung basierend auf eigenen Selbstverständlichkeiten – der gleiche blinde Fleck wurde Brechts Theaterkonzept attestiert. Erst in den Sechzigerjahren wird Barthes dieser in den Mythologies zwar angelegten, aber in ihrer Konsequenz noch nicht theoretisch umgesetzten Idee der Unentrinnbarkeit des Selbstverständlichen philosophisch Raum geben, was in Kapitel II.3 der vorliegenden Untersuchung ausführlich behandelt wird. Als wissenschaftliches Konzept bleibt die Mythologie, trotz ihrer ästhetischen Anteile, der begrifflichen Repräsentation und damit dem Diskurs verpflichtet. Sie stellt zwar keinen neutralen, aber einen sterilen Raum her. Als ›Hermeneutik des Verdachts‹ verunmöglicht sie nämlich den Dialog, kennt sie doch nur die Analyse des Gegenübers, nicht aber die Resonanz mit ihm. Dasselbe gilt für die Materialität der Dinge und Körperphänomene, die den jungen Barthes schon interessieren, denen er aber erst spät, etwa in Die Lust am Text, ausgiebig nachforschen wird. Vor ihrem erotischen Timbre ist der Mythologe gänzlich gefeit. So muss er sich in der Konsequenz, so lautet eine Zuspitzung Claude Costes68 , zwischen Begreifen und Leben entscheiden: Der Wein schmeckt, aber der Mythologe behandelt die Güte des Weins als bourgeoisen Mythos. Er befasst sich nicht mit dem Wein, sondern mit der Güte des Weins als Wertung. Darin liegt seine Tragik: Er verpasst und gefährdet die Wirklichkeit bei dem Versuch, sie zu schützen.69 Auch die Theaterkonzepte Brechts und Artauds zielen, auf sehr verschiedene Weise, auf die Reanimation eines Weltschaffens durch Entschleierung des Prozesshaften. Vor dem mythologischen Sarkasmus schützt hier jedoch eine spezifische Konfrontation mit dem Nichtverstehen, nämlich eine auf der Basis sinnlicher Erfahrung. Barthes’ von Saussure, aber auch von Lévi-Strauss her kommende »sprachliche Definition des Mythos«70 transformiert zwar das Buch der Natur zum Buch der Kultur, hängt damit aber immer noch der alten Hoffnung auf Lesbarkeit und damit Verfügbarkeit der Welt nach. Zwar basiert seine Kritik begrifflicher Repräsentation 68 69 70

Coste, Claude : Roland Barthes moraliste. Villeneuve-d’Ascq (Nord) 1998, S. 126. MdA, S. 150. Ette, Roland Barthes, S. 122. Vgl. auch Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 3 2001, bes. S. 76-93. Hier entwickelt Saussure sein bilaterales Zeichenmodell wie auch den Gedanken des »Beharrungsstreben[s]« der Sprache, das »sprachlichen Neuerungen im Wege« steht (ebd. S. 92). Saussure verschränkt also bereits Statik und Dynamik, allerdings nur auf linguistischem, nicht, wie Barthes, auf kulturphilosophischem Feld. Zur Sprachlichkeit des mythischen Denkens vgl. außerdem Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 153ff.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

auf der Arbitrarität der Zeichen, allerdings spiegeln sich die damit verbundenen Herausforderungen nicht in der Emphase des Nachworts der Mythologies. Indem er mit der mythologischen Methode die Sinnlichkeit der Phänomene zugunsten der Verschränkung von Semiologie und Ideologiekritik ausklammert, scheint Barthes gleichsam die Pointen seiner eigenen Theorie zu verpassen und sich wiederum in den Kanon propositionalitätszentrierter Philosophien einzureihen.71 Ironischerweise, so lässt sich zuspitzen, zeigt so gerade Barthes’ Darstellung der Figur des Mythologen die Unersetzbarkeit des Mythos als Form kultureller Hermetik. Diese erscheint hier nicht zuletzt als eine sehr erfolgreiche Weise des Umgangs mit den Unwägbarkeiten ästhetischer Phänomene: Nicht nur als Bürde, sondern auch als Entlastungsleistung. Dass Barthes seinen Mythologies eine Psychologie des Mythologen an die Seite stellt, zeugt immerhin von einer gewissen Sensibilität für dieses Problem. Als Antwort auf bestimmte historische Konstellationen vermag die mythologische Einstellung punktuell den Blick zu klären und damit die Bedingung der Möglichkeit für Innovation zu schaffen. Auf Dauer gestellt jedoch verhindert sie geradezu das Ergreifen unseres schöpferischen Potentials wie unserer schöpferischen Verantwortung. Sie unterläuft also ihren eigenen Anspruch. Die Irrungen und Wirrungen der Mythologies und des darin enthaltenen Mythos des asketischen Mythologen bieten damit einen Einblick in die philosophischen Aporien wie auch einen Ausblick auf die sozialen Konsequenzen eines verabsolutierten Gestus der Transparenz – der beim Versuch, das Geheimnis zugunsten der Gerechtigkeit abzuschaffen, ein Ödland hinterlässt.

II.1.3

Der Philosoph und das Theater

Verhältnisse Roland Barthes, so lässt sich zuspitzen, ist der Philosoph des Theaters im 20. Jahrhundert. Wie kein anderer hat er versucht, das Theater als Institution, als kulturelle Form und als Weise des Weltzugangs zu erfassen.72 Diese Versuche orientieren sich vor allem an einer Wissenschaft des Zeichengebens, wie Barthes in Über mich selbst im Hinblick auf seine frühen Arbeiten schreibt: »Was ihn angezogen hat, ist weniger das Zeichen, als das Zeichen geben, das Plakat: die Wissenschaft, die er begehrte, war nicht eine Semiologie, es war eine Signaletik.«73 71 72

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Hierin folge ich der Kritik Merschs an Barthes, würde sie aber auf den Barthes des mythologischen Projekts beschränken wollen. Vgl. Mersch, Was sich zeigt, S. 186ff. Schon sein erster publizierter Aufsatz thematisiert das Theater: Im Jahr 1942 erscheint sein Text Kultur und Tragödie (BOC I, S. 19-22). Hierzu ausführlicher Neumann, Theatralität der Zeichen, S. 66. ÜM, S. 209. Schon in den Mythologies verweist Barthes auf die immanente Theatralität der verbalen Sprache: Es gibt sprachliche Formen, welche ihre »Expressivität« (MdA, S. 116) aus-

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Darüber hinaus rückt die Beschäftigung mit dem Theater die sinnliche Interaktion von Mensch und Welt und Momente des Bedeutungsentzugs in den Blick. Im Denken Barthes’ begegnet daher eine Mannigfaltigkeit von Theatern, unter denen sich in zwei Funktionen unterscheiden lassen: Die des Objekts der Kritik und des Modus der Subversion. Besonders in den Fünfzigerjahren stand Barthes in direktem Kontakt zu zeitgenössischen Theaterdiskursen, prominent durch seine Racine-Studie, aber vor allem hatte er als Theaterkritiker engen Kontakt zur praktischen theatralen Umsetzung. Schon hier wird das Theater Objekt seines ideologiekritischen Projekts der Mythologie, und zwar weil es – hier nimmt Barthes einen alten, dem Theater oft gemachten Vorwurf auf74 – verschleiert und Illusionen nährt. Besonders die Phänomene des Psychologismus, der Racine-Verehrung und der Sakralisierung im Sinne des L’art pour l’art konstituieren ein Theater, das sich zum Wirkungsfeld des bürgerlichen Mythos macht und damit die bourgeoise Hegemonie perpetuiert.75

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stellen. Zu diesen gehören etwa der Imperativ und der Konjunktiv, da sich in ihnen der Wille oder der Wunsch des Sprechenden ausdrückt (ebd., S. 116). Sprache ist also stets immer auch Plakat, ein Zeigen und Sich-Zeigen, eine Geste – was aber erst in der mythologischen Analyse erkennbar wird. In ihrem immanenten appellativen Charakter gründet sich dann auch die Anfälligkeit der Sprache für den Mythos. Vgl. hierzu etwa Jana Telscher: Kritisches Theater jenseits der Illusion. In: Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung, hg. von Olivia Ebert u. a. Bielefeld 2018, S. 199-208. MdA, S. 136. Zum psychologisierenden Theater schreibt Barthes, es habe »bis zum heutigen Tag […] keine Revolution, und vor allem nicht die romantische, die falsche Universalität des psychologischen Theaters gestört […]« (SzT, S. 53f.). Wesentliches Phänomen der Sakralisierung im Sinne des L’art pour l’art ist für Barthes der Mythos des besessenen Schauspielers. Wir leben, so Barthes unter Bezug auf Lévi-Strauss, nicht mehr in einer sakralisierten Gesellschaft, in der der Schauspieler tatsächlich die Risiken einer Gesellschaft »repräsentiert und beschwört«, also haben wir uns »bemüht, das Irrationale zu rationalisieren, ohne es zu beseitigen, und dem Sakralen artifiziell die Bürgschaft der Natur zu geben« (ebd., S. 192). Dazu gehört die Forderung, dass der Schauspieler paradoxerweise sowohl mit der Figur verschmilzt als auch durch Dramatisierung unterhält. Dafür erhält er dann zynischerweise das »Trinkgeld der Sublimierung« (ebd., S. 194), das seine prekäre wirtschaftliche Existenz verschleiert. Den antiintellektualistischen, totalitären Umgang seiner Zeitgenossen mit Racine schließlich charakterisiert Barthes folgendermaßen: »Mit einer göttlichen Einfachheit ausgestattet, kann man, wie sie behaupten, den wahren Racine am besten erkennen. […] Im Falle Racines hat die Anrufung der Schlichtheit die Kraft eines doppelten Alibis: einerseits widersetzt man sich den Eitelkeiten einer intellektuellen Exegese, und andererseits fordert man […] für Racine die ästhetische Reinigung […] die alle, die sich ihm nähern, zu einer strengen Disziplin zwingt. […] Unsere essentialistischen Kritiker verbringen ihre Tage damit, die ›Wahrheit‹ der vergangenen Genies wiederzuentdecken« (MdA, S. 28). Vor allem in Diderot erblickt Barthes einen großen Antipoden des Racine’schen Essentialismus: »Das perfekte Stück ist eine Abfolge von Bildern, das heißt eine Galerie, eine Ausstellung […]« (ESS, S. 95). Diese Ausstellung ist das Ergebnis »demiurgische[r] Diskriminierung« (ebd.) im Akt des Auswählens. »Dieses

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

Darstellungsweisen des bürgerlichen Theaters werden zur Zeit der Mythologies der Ideologiekritik unterworfen, insofern sie eine »Kollektivität« generieren, die »mit ihrem erklärenden Wort«76 das als natürlich, allgemeingültig und selbstverständlich erscheinen lässt, was eigentlich kulturell hervorgebracht, historisch situiert und intentional befrachtet ist. Über diese Kritik hinaus jedoch hat das Theater mehr als illustrative Relevanz für Barthes – seine Verfallenheit an den Mythos teilt es mit den anderen Künsten: In seiner Auseinandersetzung mit den Eigenheiten des Theaters als semiologischem System schärft Barthes seinen erweiterten Sprachbegriff, der Musik, Konversation oder Geräusche von Dingen mit einschließt und so auch ein situatives, ja szenisches Gegebensein von Sprache und Bedeutung einbezieht.77 Seit Anfang der Sechzigerjahre nimmt seine explizite Beschäftigung mit dem Theater, insbesondere konkreten Inszenierungen, immer weiter ab.78 Vor allem zwei Gründe werden für diese Distanzierung angeführt: Erstens das Erlebnis des epischen Theaters Brechts – Barthes hatte ein Gastspiel der Inszenierung von Mutter Courage und ihre Kinder des Berliner Ensembles gesehen und war von dessen Wirkung zutiefst beeindruckt.79 In dieser Inszenierung sah Barthes den Gipfel dessen verwirklicht, was das Theater zu leisten imstande ist: nämlich eine reflexive Überschreitung des Illusionismus im Sinne einer Verklammerung von Immersion und Emersion, Verstehensgabe und Verstehensentzug. Ein solches Theater zeigt nicht nur Geschichten und Figuren, sondern zugleich sich selbst, es zeigt auf seine eigene Maske. Als zweiter Grund wird eine Ablösung des Dramatischen durch das Romanhafte im Schreiben Barthes’ als Grund für seine Abkehr vom Theater angeführt und diese Entwicklung psychoanalytisch gerahmt, im Sinne einer Interessensverlagerung auf Dimensionen der Subjektivität hin.80

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Wählen impliziert« darüber hinaus, »dass das Bild etwas Intellektuelles ist und dass es eine Aussage trifft und dass es weiß, wie dies zu tun ist« (ebd.). Diderot weist zudem, so Barthes, in diesem Punkt einige Parallelen zu Brecht auf. SzT, S. 53. LT, S. 74. Zu dieser Entwicklung siehe ausführlicher Jean-Loup Rivière: Roland Barthes’ Schriften zum Theater. In: SzT, S. 7-18. Ebd., S. 14ff. Neumann, Theatralität der Zeichen, S. 69. Diese Theorie vertritt, so Rivière, Jean-Pierre Sarrazac: »Sarrazac vermutet dann, daß das zunehmende Hervortreten des autobiographischen Subjekts im Werk Barthes’, der von einer Reflexion über die Geschichte, die Politik und die Symbolik zu einer Beschäftigung mit der Erinnerung, der Subjektivität und dem Imaginären übergeht, einen Übergang vom Epischen – und folglich vom ›Theatralischen‹ – zum Romanhaften darstellt. Das Werk wäre demnach anfänglich von der Gestalt Brechts dominiert und anschließend von derjenigen Prousts.« Rivière, Roland Barthes’ Schriften zum Theater, S. 15.

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Ich schlage eine alternative Interpretation zu diesen beiden Thesen vor, die ich in Kapitel II.3 ausführlich entwickeln werde: Was wir im Verhältnis Barthes’ zum Theater vorfinden, ist keine Abkehr-, sondern eine Internalisierungsbewegung. In ihr verschmilzt das Theater mit seiner philosophischen Methodologie, sodass es nicht nur als philosophisches Objekt betrachtet, sondern auch als philosophische Praxis geübt wird. Diese Synergieeffekte, die das Theater für die Philosophie Barthes’ und ihre Darstellungsmodi zeitigt, ergeben sich aus den Konsequenzen des aporetischen Charakters seines eigenen mythologischen Projekts. Seine Funktion als Modus der Subversion erfüllt das Theater dann in zweierlei Hinsicht auf methodischer Ebene des Barthes’schen Philosophierens: Zunächst im Sinne der Entschleierung, die der Mythologe als Ideologiekritiker vornimmt.81 Nachdem aber dann schließlich auch diese Ideologiekritik sich die alte, vergebliche Hoffnung auf eine Wahrheit hinter dem Schleier eingestehen musste, bleibt nun entweder das Verstummen oder das Setzen neuer Positivität im Wissen um ihre Perspektivität und Flüchtigkeit, um die Vorläufigkeit jedes Verstehens. Dies geschieht über die Performance eines Theatrum philosophicum82 . Als solche werde ich in Kapitel II.3 vor allem Barthes’ spätere, essayistische bis aphoristische Texte interpretieren. Diese rücken ihn schließlich in unmittelbare Nähe zur »Schrift in actu«83 des Theaters Artauds.

Epistemologien der Theatralität Im Rahmen der Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist es sinnvoll, zwei Konzepte von Theatralität zu unterscheiden, die sich im Werk Barthes’ finden. Da wäre zum einen die Theatralität des Mythologen, die auf dessen Fähigkeit zur Abspaltung vom Verstehen beruht, die Theatralität der Distanz. Zum anderen begegnet eine Variante der Theatralität, die auf der Abspaltung des Signifikanten von der ihm auferlegten Bedeutung beruht, die Theatralität der Signifikanz. Beide sind Phänomene des Zeigens, des Deiktischen und basieren auf der Unzulänglichkeit semischer Repräsentation, sie lassen sich also unterscheiden, aber nicht unbedingt trennen. Sie haben epistemologische Relevanz und sind in dieser Hinsicht, wie ich zeigen werde, Modi der Subversion. Beide Konzepte stellen, auf unterschiedliche Weise, eine Reaktion Barthes’ auf die Krise der Repräsentation dar. Die Theatralität der Distanz wurde in Kapitel II.1.2 ausführlicher bestimmt, und zwar als mythologisches Verfahren der Entselbstverständlichung. Dieses Ver81 82

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Für diese Parallelisierung vgl. den Abschnitt II.1.2. Den Ausdruck übernehme ich von Michel Foucault: Theatrum philosophicum. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et ecrits, Bd. II 1970-1975, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2014, S. 93-122. Helga Finter: Der subjektive Raum. Bd. 2: Der Ort, wo das Denken seinen Körper finden soll. Antonin Artaud und die Utopie des Theaters. Tübingen 1990, S. 4.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

fahren beruht auf einer Spaltung des Blicks, die es dem Mythologen erlaubt, zu seiner eigenen Kultur auf Distanz zu gehen, und das heißt zugleich: sich zu entsinnlichen. Er ist »zur Metasprache verurteilt«84 , ihn interessiert nicht – so das Barthes’sche Beispiel – der Wein, sondern er zeigt das Gerede vom Wein als bourgeoises Narrativ vom guten Geschmack. Für den Mythologen spielt die Signifikanz, der Wein als sinnliches Erlebnis, keine Rolle. Anders die Theatralität der Signifikanz, die die Signifikanz als »Sinn, insofern er sinnlich hervorgebracht wird«85 , in den Blick rückt. Diesen Gedanken entwickelt Barthes in Auseinandersetzung mit Baudelaire86 , und hier fällt dann auch, anders als in den Mythologies, der Begriff ›Theatralität‹. Als Schlüsselbegriff für das Werk Baudelaires sei sie [d]as Theater unter Abzug des Textes, eine gewisse Dichte der Zeichen und Empfindungen, die auf der Bühne von der geschriebenen Vorlage aus entsteht, diese Art ökumenische Wahrnehmung der Artefakte, die sich an die Sinne wenden, der Gesten, Töne, Distanzen, Substanzen, Lichter, dieses Untergehen des Textes in der Fülle seiner nonverbalen Sprache.87 Theatralität in diesem Sinne stellt eine Reminiszenz daran dar, »dass Gedanken Körper haben«88 , und nicht nur das: Auch, dass Worte Körper haben, führt sie vor Augen: »das Wort steigt hoch und schlägt sich sogleich in Substanzen nieder«89 . Damit subvertiert sie die ideengeschichtliche Tradition des Leib-Seele-Dualismus wie auch Vorstellungen von sprachlicher Reinheit. Die Theatralität der Signifikanz stellt dann nicht, wie die Theatralität der Distanz des Mythologen, ein Nichtverstehen mit dem Ziel des ideologiekritischen Begreifens und theoretischen Beschreibens dar. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Aufbrechen des Verstehens aus der Erfahrung der Sinnlichkeit der Signifikanz heraus, die sich, wenn auch nur sehr kurz, dem Zugriff der Bedeutungsgabe entziehen kann. Freilich ist sie dann keine Signifikanz mehr, sondern freigestelltes ästhetisches Phänomen, Intensität. Auch diese Variante der Theatralität ist also nicht an die Kulturinstitution Theater geknüpft, sie kann überall auftreten und entzieht sich zu einem nicht unerheblichen Teil der Absicht. In der Figur des Schauspielers der eigentlichen Theateraufführung allerdings wird die subversive Brisanz des Phänomens besonders deutlich:

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MdA, S. 150. LT, S. 77, Herv. i. O. SzT, S. 265-274. Ebd., S. 266. Konersmann: Vorwort. Figuratives Wissen. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von Ralf Konersmann. Darmstadt 2007, S. 7-21, hier S. 14. SzT, S. 266.

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Man kann vermuten, daß Baudelaire ein sehr ausgeprägtes Gespür für die geheimste und bestürzendste Theatralität besaß, für diejenige, die den Schauspieler in das Zentrum des Theaterwunders rückt und das Theater zum Ort einer Ultrainkarnation erhebt, an dem der Leib ein zweifacher ist, zugleich der aus einer trivialen Natur hervorgegangene lebende Leib und der emphatische, feierliche und durch seine Funktion als künstliches Objekt erstarrte Leib.90 Mit dieser Duplizität ist der Umstand gemeint, dass »die Figur, die auf der Bühne erscheint, als eine je spezifische ohne das je besondere leibliche In-der-WeltSein des Schauspielers nicht zu denken und zu haben ist«91 . Was die Theatralität der Signifikanz zeigt, ist das spannungsvolle Grundverhältnis des Menschen zur sinnlich gegebenen Welt. Einige Jahre nach den Mythologies erläutert Barthes die Bedeutungsproduktion im Anschluss an Hegels Charakterisierung des antiken griechischen Weltbezugs. Dieser schildert den Vorgang der Bedeutungsgenese als basale, selbst noch auf der Ebene sinnlicher Wahrnehmung sich vollziehende Verschränkung von Welt und Selbst: »Ebenso horchten die Griechen auf das Gemurmel der Quellen und fragen, was das zu bedeuten habe; die Bedeutung aber ist ihnen nicht die objektive Sinnigkeit der Quelle, sondern die subjektive des Subjekts selbst […].«92 Von Hegel übernimmt Barthes diese »Vorstellung von den ›Produktionen‹ des Geistes im Hinauslauschen in die Welt des Sinnlich-Erfahrbaren«93 . Ohne diese konstruierende Tätigkeit könnten wir uns gar nicht auf die Welt beziehen. Im Lichte des Begriffs der Theatralität, wie ihn Barthes im Baudelaire-Text entwickelt, fallen damit Ideologie und Verstehen in eins, sodass der Begriff der Ideologie neutralisiert wird. Erstaunlicherweise bleibt der Ideologiebegriff der Mythologies, obwohl ebenfalls, wie der Baudelaire-Text, aus Mitte der Fünfzigerjahre stammend, von diesen Konsequenzen des Theatralitätsgedankens seltsam unangetastet. In der Widerständigkeit der Jeweiligkeit des Schauspielerkörpers, die von keiner Bedeutungsgabe je ganz wird erfasst werden können, zeigt sich das prekä-

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Ebd., S. 268f. Fischer-Lichte, Performativität, S. 16ff. Fischer-Lichte referiert vor allem auf das Denken Merleau-Pontys und Plessners, welches den Körper nicht nur als »Objekt oder Ursprungsort und Medium von Symbolbildungsprozessen betrachtet, nicht nur als Oberfläche für und Produkt von kulturellen Einschreibungen, sondern auch und vor allem als leibliches In-derWelt-Sein. […] Er wird als Agens, wenn nicht gar als Akteur berücksichtigt« (ebd., S. 18). Diese Akteurhaftigkeit ist der Kerngedanke des Barthes’schen Theatralitätsbegriffs, von hier aus wird er dann auch auf andere, unbelebte sinnliche Erscheinungen ausgedehnt. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Ders.: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1823-45 neu edierten Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 12. Frankfurt a. M. 1970, S. 289. Neumann,Theatralität der Zeichen, S. 80. Außerdem Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 288.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

re Wechselspiel aus Verstehensentzug und Verstehensproduktion, das Ringen des Menschen mit der ihm sinnlich gegebenen, aber dennoch nie objektiv fassbaren Welt.94 Die Form des Theaters kann insofern, hier folge ich Nikolaus Müller-Schöll, als Vorgang »fortwährende[r] Katachrese des logischen Denkens«95 beschrieben werden. Mit seinem Konzept der Theatralität der Signifikanz suspendiert Barthes dann sowohl die konstruktivistische wie die essentialistische Perspektive.96 Bei der Theatralität der Signifikanz handelt es sich um eine Form nicht-propositionaler Erkenntnis, die sich, wie im Kapitel I.2 beschrieben, im Modus des Zeigens statt des Sagens vermittelt. Sinn und Bedeutung werden dynamisiert: »[Theatricality] is also a way of perceiving and sensing as an activity, which is related to the density of signs the theatre produces but which is not identical to the meaning these signs produce.«97 Momente der Theatralität sind indes nicht allein von einem Zuschauer abhängig, der eine epistemische Spaltung seiner Perspektive vornimmt, wie der Mythologe es tut. In den flüchtigen Momenten der Theatralität zeigt sich der Körper, geht die Materialität uns an, in seiner und ihrer immer nur potentiellen, nie zwangsweisen Zeichenhaftigkeit.98 Die Erfahrung der Theatralität der Signifikanz unterscheidet sich also fundamental von der sarkastisch geprägten Gegenstandserfahrung des Mythologen. Bei der Theatralität der Signifikanz ist es gerade die vom Mythologen verschmähte sinnliche Erfahrung des Weins, in der dessen Jeweiligkeit, die besondere »Diesheit«99 seines Geschmacks auffällig wird und den bourgeoisen Mythos zu entleeren vermag, weil sie das Narrativ vom guten Geschmack »mobilisiert«100 . 94

Die Theatralität der Signifikanz ist mit dem Zusammenbruch von Repräsentation aufs Engste verknüpft, so Siegmund: »It accompanies it and makes the crisis productive.« (Siegmund, Jérôme Bel, S. 85.) 95 Nikolaus Müller-Schöll: Wissenschaft vom Theater als Denkzeitraum. In: Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, hg. von Milena Cairo u. a. Bielefeld 2016, S. 29-40, hier S. 31. 96 Ich folge Emil Angehrn darin, dass es darauf ankommt, »nicht den Interpretationsbegriff als pauschale Chiffre für subjektive Setzungsmacht zu verwenden«. Vielmehr kommt im menschlichen Hervorbringen die »Sache […] zur Artikulation«, nicht »die Widerständigkeit des Realen, [aber] doch die Eigenständigkeit des Wirklichen«, allerdings eben jenseits subjektiver »Mächtigkeit« oder »metaphysische[m] Grund« (Emil Angehrn: Jenseits der Postmoderne. Zwischen Neuem Realismus und Hermeneutik. In: Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, hg. von Christoph Riedweg: Basel 2014, S. 83-93, hier S. 92f.). 97 Siegmund, Jérôme Bel, S. 85. 98 Vgl. auch Gerhard Neumann: Spurenlese. Roland Barthes, die Krise der Repräsentation und das Theater der Zeichen. In: Spuren Lektüren. Praktiken des Symbolischen, hg. von Gisela Fehrmann u. a. München 2005, S. 33-51, hier S. 38. 99 Mirbach, Einleitung, S. XLIII. 100 Neumann, Spurenlese, S. 38.

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Auch die Theatralität der Signifikanz ist eine Erfahrung des Verstehensentzugs, sie geht aber nicht im analytischen Begreifen auf. Hier wird der Gegenstand nicht distanziert beschrieben, wie in begrifflich-diskursiven analytischen Verfahren, sondern ein Spiel wird eröffnet, in dem sich auch der Wahrnehmende als berührbar erfährt.101 Diese Erfahrung ist eine Erfahrung der Spannung, die Barthes als erotische Spannung und Risikoerfahrung charakterisiert: Die erotische Funktion des Theaters ist nicht Beiwerk, denn von allen figurativen Künsten (Film, Malerei) gibt allein das Theater die Körper und nicht ihre Darstellung. Der Theaterkörper ist zufällig und wesenhaft zugleich: wesenhaft, denn ihr könnt ihn nicht besitzen […]; er ist zufällig, denn ihr könntet in seinen Besitz gelangen, würde es doch genügen, einen Augenblick von Sinnen zu sein (was in jedermanns Macht liegt), auf die Bühne zu springen und das Begehrte zu berühren.102 Für eine solche Spannung ist der Ideologiekritiker vom Schlag des Mythologen nicht empfänglich. Als Vertreter der asketischen Lebensweise fürchtet er die Sinnlichkeit, da in ihr die mythologische Essentialisierung lauert, in Gestalt der Rede von der Natürlichkeit, dem Instinkt und Ähnlichem. Hat Barthes seine mythologische Methode zwar in Auseinandersetzung mit Brechts Verfremdungseffekt entwickelt,103 so entlässt das Brecht’sche Theater sein Publikum doch nicht zwangsläufig 101

Siegmund charakterisiert diese Erfahrung als Riss: »[…] what emerges out of this rupture is not theatre, but theatricality, which is simultaneously indicative of this gap or inbetween space and a way to bridge it, to work in and with it.« (Siegmund, Jérôme Bel, S. 92.) 102 ÜM, S. 96. Barthes entwickelt seinen Theatralitätsbegriff – zunächst bezogen auf die Literatur – in Auseinandersetzung mit dem Schauplatz des Unbewussten im Sinne der Freud’schen Traumdeutung (BOC II, S. 1647; vgl. außerdem Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich u. a. Bd. II. Frankfurt a. M. 2000, S. 577. Hier heißt es: »Das seelisch Unterdrückte […] findet im Nachtleben und unter der Herrschaft der Kompromißbildungen Mittel und Wege, sich dem Bewußtsein aufzudrängen.«). Parallel hierzu kann es, das zeigt das Barthes’sche Zitat, vorkommen, dass sich die Materialität eines Gegenstandes oder Körpers aufdrängt, dass der genaue Grund dafür rätselhaft bleibt und dass die sinnliche Affizierung dennoch Konsequenzen für unser Handeln zeitigt. Daraus ergeben sich für Barthes überdies zwei Konnotationen von Theatralität, nämlich zum einen die ›hysterische‹ Konnotation, die sich mit dem alltagssprachlichen Begriff von »theatralisch« deckt, und die Barthes mit den pathosbeladenen Inszenierungen des bürgerlichen Theaters identifiziert. Zum anderen existiert, in Analogie zur Freud’schen »Differenz von Bewußtsein und Unbewußtem« (Neumann, Spurenlese, S. 39), eine Konnotation von Theatralität mit dem Inszenatorischen. Aus der Uneinholbarkeit der Differenz zwischen Leser und Text ergibt sich eine zwangsweise inszenatorische Tätigkeit, »eine Theatralität, die auf Mechanismen beweglicher Kombinatoriken gegründet ist, die so beschaffen sind, daß sie das Verhältnis zwischen dem Lesenden und dem Zuhörenden in jedem Augenblick verschieben« (KdS, S. 185). Auf das Motiv der Erotik und Risikohaftigkeit des Verstehensentzugs komme ich in Kapitel II.3 zurück. 103 Vgl. den Abschnitt II.1.2.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

in den Sarkasmus des Mythologen. Wie das Theater Artauds baut es nämlich wesentlich auf den Verstehensentzug durch die Theatralität der Signifikanz.104 Während die Figur des Mythologen auf die Krise der Repräsentation also mit Negativität antwortet, nehmen die späteren Texte Barthes’ – insbesondere Die Lust am Text, Fragmente einer Sprache der Liebe und Die helle Kammer die eigentümliche Subversivität des Sinnlichen als inhaltliche und methodologische Herausforderungen an. Sie stellen den Versuch dar, dem mythologischen Ödland durch neue Formen der Positivität zu entkommen – ohne in die Alternative eines positivistischen Denkens zurückzufallen.105

Brecht und Artaud: List und Gewalt Barthes hat sich, in unterschiedlichem Umfang, sowohl mit Brecht als auch mit Artaud beschäftigt. Diese Beschäftigung und ihre Leitmotive werden im Folgenden in groben Zügen nachgezeichnet, bevor in den Einzelanalysen der Theaterkonzepte spezifischere inhaltliche Parallelen und Synergieeffekte mit Barthes’ Werk aufgezeigt werden. Auffällig ist, dass Barthes in einigen Texten eine Nähe der beiden Autoren zueinander nahelegt und damit schon früh eine Rezeption Brechts und Artauds als Antipoden106 unterläuft. Die Schriften Barthes’ zu Brecht sind zahlreich. Neben der expliziten Beschäftigung mit seinem Theater und dessen Verfahren haben die Gedanken Brechts stets auch die Methodologie Barthes’ beeinflusst.107 Im Brecht’schen V-Effekt erblickt Barthes eine Strategie, die auf jene epistemische Einstellung zielt, die seiner Mythologie zugrunde liegt, Ideologiekritik auf dem Theater. Seine dem Leben abgeschaute Spielweise ermöglicht ein Studium der

104 Dieser Gedanke wird anhand des Brecht’schen Konzepts des Gestus in Abschnitt II.2.4 ausführlich entwickelt. 105 Gegenwärtig manifestieren sich diese Alternative und die mit ihr verbundenen Ansprüche auf Objektivität öffentlichkeitswirksam in Theorien des sogenannten »Neuen Realismus« oder »Spekulativen Realismus«. Führende Vertreter dieser Strömung wenden sich dezidiert gegen einen bei Kant vermuteten »Korrelationismus«, demzufolge »es unmöglich ist, durch das Denken Zugang zum Sein zu erlangen, das unabhängig vom Denken ist« (Quentin Meillassoux: Metaphysik, Spekulation und Korrelation. In: Realismus jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, hg. von Armen Avanessian. Berlin 2013, S. 23-56, hier S. 41). Demgegenüber machen sie im Sinne einer »Problematisierung von anthropozentrischen Fundierungen in der Philosophie« objektzentrierte Theorien geltend (Armen Arvanessian: Editorial. In: Ebd., S. 8). Diese schreiben auch leblosen Objekten den Status von Akteuren unabhängig von menschlicher Weltdeutung zu oder versuchen, zu objektiv gültigen Aussagen über eine »anzestrale Vergangenheit« zu treffen, »die jedem Menschentum […] vorausgeht«. (Graham Harman: Objektorientierte Philosophie. In: Ebd., S. 134 sowie Meillassoux, Metaphysik, Spekulation und Korrelation, S. 32). 106 Vgl. hierzu meine Einleitung. 107 Neumann, Theatralität der Zeichen, S. 67ff.

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Kultur mitsamt milieuspezifischen habituellen Eigenheiten und Selbstverständlichkeiten für jedermann.108 Diese Spielweise vermag es zugleich, mit den bürgerlichen Künstlermythen von Besessenheit und Natürlichkeit aufzuräumen,109 entfaltet also auch auf dieser Ebene subversive Kraft. Brechts Theater für jedermann sieht Barthes im Dienst einer Überwindung der »Opposition von Intellektualismus und Antiintellektualismus«110 , von ›Hochkultur und ›Massenkultur‹. Vor allem die zweitgenannte Opposition ist für Barthes, ähnlich wie für Benjamin und Adorno, leitendes Motiv seiner Kulturkritik: Seine Mythologies provozieren auch dadurch, dass ihnen Beefsteak und Catchen, Racine und Avantgardetheater gleichwertige philosophische Untersuchungsgegenstände sind. Neben der Ausdehnung des Sprachbegriffs auf nonverbale Zeichensysteme durch Saussure dürfte Brechts Theaterkonzept entscheidende Impulse für die Fokussierung der Mythologies auf ästhetische Phänomene (Kleidung, Geschmack, Atmosphären, um nur einige zu nennen) geliefert haben. Was nämlich Barthes an Brecht vor allem begeistert ist, dass er »ein Marxist war, der über die Effekte des Zeichens nachgedacht hat: eine seltene Sache«111 . Trotz der Orientierung am Theater erfolgt die mythologische Inblicknahme des Ästhetischen, wie bereits dargestellt, rein aus der Distanz ideologiekritischer metasprachlicher Beschreibung heraus. Erst eine Äußerung über Brecht aus dem Jahr 1975 trägt dieser Diskrepanz Rechnung: »Bei Brecht geht die Ideologiekritik nicht direkt vonstatten (sonst hätte sie erneut einen abgedroschenen, tautologischen, militanten Diskurs geschaffen); sie nimmt ihren Weg über ästhetische Weitergaben […].«112 Obgleich Brechts Theater, eben weil es als Theater ästhetisches Medium ist, den Fallstricken theoretisch verfasster Ideologiekritik zu entgehen scheint, verwirft es doch nicht prinzipiell den sprachlichen Diskurs. Daher ist Brechts Theater für Barthes eine »List«, die darin besteht, dass es durch Unterbrechungen »Beziehungen modifiziert und somit der Lektüre zuführt«, und zwar »weder zufällig, noch ge-

108 Vgl. hierzu besonders meine Ausführungen zu Brechts Modell der Straßenszene in Abschnitt II.2.3. 109 Zwischen diesen beiden Mythen ist der Schauspieler, nach Barthes, gleichsam zerrissen: »man will, daß er beide Aspekte des Mythos gleichzeitig darstellt, den irrationalen und den rationalen, die körperliche Verausgabung […], die die Trance des Zuschauers definiert, und die Zurückhaltung, die der wahrhaften Intimität zwischen dem Schauspieler und seiner Figur angemessen sein könnte« (SzT, S. 193). Daher stellt Brechts Theater eine Befreiung des Schauspielers dar. 110 BOC III, S. 63, Übers. M. R. 111 BOC II, S. 1312, Herv. i. O., Übers. M. R. 112 ÜM, S. 122f., Herv. i. O. Es lässt sich nicht ausmachen, ob Barthes die pikante Parallele jenes ›abgedroschenen, tautologischen, militanten Diskurses‹ mit seiner eigenen, inzwischen akademische Mode und damit selbstgenügsam gewordenen Mythologie bewusst war.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

waltsam«.113 Es ist eben diese Figur des listigen Brecht, die Barthes nutzt, um die Figur Artauds schärfer zu profilieren.114 Zu Artaud äußert sich Barthes zwar mit Achtung, aber stets verhalten, es existiert nur ein einziger Text, der Artaud in den Mittelpunkt rückt.115 Artaud ist für Barthes eine Figur offener Gewalt gegen die Diskursivität, derjenige der der in die Krise geratenen Repräsentation den Todesstoß versetzen will – und es doch nicht kann, weil auch er dem Diskurs der Kunst verpflichtet bleiben muss. So markiert Artaud für Barthes diejenige Stelle in der Struktur der Literatur als kultureller Form, an der diese zerstört wird, aber noch nicht zerstört ist.116 In der Figur Artauds artikuliert sich so die vergebliche Sehnsucht nach der Befreiung von der stets intentional befrachteten Form: »Sogar Artaud, der heterologische Gott, sagt von dem, was er schreibt: das soll gesagt sein!«117 Schon im Nullpunkt hat Barthes die Schwierigkeit, der Form der Kunst bzw. der Literatur zu entrinnen, beschrieben und gegen Jean-Paul Sartre geltend gemacht, dass eine form- und intentionslose Literatur nicht zu haben ist.118 Artauds Theaterkonzept, das einen Angriff auf ein Sprachverständnis darstellt, welches die begrifflich-propositionale Form epistemisch privilegiert, kommt der Mobilisierung und Dissoziierung des Barthes’schen Sprachbegriffs entgegen. Zugleich bestimmt Barthes das Theater Artauds nicht in den Koordinaten von blinder Einfühlung oder lesbarem Symbolismus. Stattdessen interpretiert er das Konzept als Forderung nach Kultivierung eines fundamental anderen Verhältnisses von

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RdS, S. 242 sowie SzT, S. 21. SF, S. 233f. Ausführlich hierzu Melanie Reichert: Der heterologische Gott. Roland Barthes über die Grenzen und Potentiale des Schreibens mit Artaud. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2017/1, S. 235-246. In diesem Text widmet sich Barthes vor allem dem Schriftsteller Artaud. In den Schriften zum Theater wie auch in Die Lust am Text geht Barthes jedoch auch auf das Theaterkonzept selbst ein (SzT, S. 256ff. sowie LT, S. 97). An den systematischen Stellen seines Denkens jedoch, an denen Barthes die Motive Nichtverstehen, Körper und Lust sich treffen lässt, als philosophische Konsequenz aus den Aporien kulturkritischer Verfahren, taucht immer wieder die Figur Artauds auf, wie in Kapitel II.3 gezeigt wird. SF, S. 233. ÜM, S. 185. Eine wirklich »frei konsumierbare sprachliche Ausdrucksform« gibt es nicht, so Barthes. Es bleibt dem Schriftsteller, zur tragischen Gestalt werdend, daher nur die Forderung nach einer solchen freien Ausdrucksform. In der Gestaltung dieser Forderung ist er allerdings frei und produzierend (NdL, S. 19f.). Barthes hat im Zusammenhang dieser Freiheitsutopie immer wieder auch das surrealistische Projekt verworfen, von dem er Artaud explizit abgrenzt. In einem Interview antwortet Barthes auf die Frage nach der surrealistischen Verbindung von Freiheit und Traum: »Der ›Traum‹, den sie sich vorstellten, eröffnete keinen Zugang zum verrückten Körper (außer bei Artaud: aber ich nehme an, daß Sie ihn nicht dazurechnen), sondern eher zu einer Art kultureller Vulgärsprache, zum ›Onirismus‹, das heißt einer rhetorischen Freisetzung der Bilder. Sie haben, wie mir scheint, den Körper verfehlt. Darum bleibt von ihnen zu viel Literatur.« (KdS, S. 267. Herv. i. O.)

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Kultur in Stücken

Mensch und Welt, innerhalb dessen der Mensch ästhetisch in diese verstrickt ist und daher das Denken vollständig in der Physis des dramatischen Geschehens aufgehen [soll]; keine Innerlichkeit mehr, keine Psychologie und sogar und im Gegenteil zu dem, was der Bürger oft der Avantgarde unterstellt, kein Symbolismus mehr: Jedes Symbol ist wirklich; Artaud ›totemisiert‹ die Objekte; er möchte, das sein Publikum an der szenischen Materie teilnimmt wie ein Primitiver an einer rituellen Zeremonie119 . Der Artaud’sche Diskurs, den ich in Kapitel II.3 im Denken Barthes identifizieren möchte, nimmt zum einen diese ästhetische Verstrickung und ihre semantische Verflüssigungspotenz in den Blick, zum anderen betont er die Unhintergehbarkeit der Kultur, ihrer aus der Gerinnung hervorgegangenen Formen. So findet sich auch bei Barthes, wie die Kapitel II.3 und II.4 zeigen werden, ein Aspekt jener Grausamkeit, die Artaud zum zentralen Motiv seines Theaters macht. Vor diesem Hintergrund erscheint Barthes’ Kulturphilosophie dann – seine Nietzschebegeisterung teilt er mit Artaud – in vitalistischer Durchfärbung. Wie in der Einleitung erwähnt, ist Barthes einer der wenigen Theatertheoretiker, die Brecht und Artaud zusammenbringen: [N]ichts ist so fragil wie die Gewalt: die Ordnung lauert darauf und ebenso der Sinn, der stets über die Gewalt triumphiert (deshalb kann man, mit Rücksicht auf die Zerstörung des Diskurses – okzidental, christlich etc. – aus taktischen Gründen dem listigen Diskurs den Vorzug vor dem gewaltsamen Diskurs einräumen, Brecht vor Artaud).120 In Die Lust am Text rechnet Barthes zudem beide Autoren einer Ästhetik der Lust zu, wie in Kapitel II.3 weiter ausgeführt wird. Der Nexus ist hierbei das Nichtverstehen in der Variante einer Hermetik der Theatralität der Signifikanz. Hierbei löst sich der Signifikant dergestalt vom Signifikat, dass die Einsichten dieser Hermetik nur noch ästhetisch erfahren, nicht aber für die Verstehensökonomie fruchtbar gemacht werden können. Für Barthes zeichnet es die Avantgarde aus, nicht wie das bürgerliche Theater solche Momente als Lapsus zu verschleiern, sondern ihr Ereignis zu forcieren. Daher findet sich der Geist der Avantgarde nicht nur bei Artaud, sondern auch »bei Brecht: das ist keine Frage der ›Form‹ (noch weniger des ›For-

119 SzT, S. 256f. 120 SF, S. 233.

II.1 Das mythologische Abenteuer: Roland Barthes I

malismus‹), sondern des Antriebs: Avantgarde ist immer dann anzutreffen, wenn es der Körper ist, der schreibt, und nicht die Ideologie.«121

II.1.4

Zusammenfassung

Stirbt die Hoffnung auf die Gabe der Wahrheit durch Gott oder Natur, dann wird Bedeutung, als menschengemachter Reim auf die Welt, zur epistemischen Hauptkategorie. Die Mythologies kreisen um die notwendige Relativierung der Bedeutungen, die als semische Repräsentation des Nichtrepräsentierbaren keinen Alleinvertretungsanspruch mehr erheben können, woraus sich eine Situation konkurrierender Bedeutungssysteme ergibt. Erkennen von Wahrheit und Verstehen von Bedeutung nicht zu verwechseln, ist das ideologiekritische Hauptanliegen der Mythologies. Dafür bringt Barthes einen partikularistischen Mythosbegriff ins Spiel. Dieser umfasst nicht das menschliche Bedeutungsschaffen als List angesichts epistemischer Unsicherheit an sich, sondern die listige Verschleierung dieser Unsicherheit im Sinne einer hegemonialen Geste, konkret der Bourgeoisie. Diese Geste weist die arbiträren Bedeutungen als überzeitliche Selbstverständlichkeiten aus. Der hermeneutische Bann des Selbstverständlichen kann nur durch ein Verfahren des Unverständlichmachens gebrochen werden. Ein solches Verfahren stellt die Mythologie dar, die in ihrer Struktur an das Brecht’sche Verfremdungstheater angelehnt ist. Der Mythologe reinszeniert seine eigene Verfremdungserfahrung für seine Leser, indem er die Funktionsweise der Mythen beschreibt und so subvertiert, ihnen die Selbstverständlichkeit nimmt. Barthes’ Konzept jedoch reagiert nur unvollständig auf die Herausforderungen der postrestitutiven Einsicht, da sich in seinen Mythologies das alte Phantasma der wahrheitsbasierten Neutralität artikuliert. In Barthes’ Verschränkung von Kulturkritik und Zeichentheorie, die er in den Mythologies ausformuliert, ist das Motiv des Theaters als genuin gestische, ja deiktische Kunst inbegriffen. Zeitgleich zur Mythologie entwirft Barthes jedoch unter dem Begriff der Theatralität eine zweite Variante subversiver Nichtverstehenserfahrung, die ich mit dem Terminus der Theatralität der Signifikanz spezifiziere,: Diese behauptet keinen neutralen Punkt, sondern erhebt die ästhetische und damit unberechenbare Involviertheit des Menschen in die Welt zum Prinzip. Indem Barthes thematisch wie methodologisch auf diese Involviertheit fokussiert, vollendet sich das postrestitutive Projekt, wie Kapitel II.3 zeigen wird. 121

KdS, S. 211. Der Schriftbegriff wird hier erweitert: Es geht um die Bedeutungsgabe als sinnliches Abarbeiten am kulturell Vorgefundenen – analog zum Vorgang des Schreibens im Spannungsfeld von individueller Körperpraxis und kulturell gegebenem sprachlichem Horizont.

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II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht »Allenthalben treffen wir auf etwas, das zu selbstverständlich ist, als daß wir uns bemühen müßten, es zu verstehen.«1

Tritt man mit der Frage nach dem Nichtverstehen an das Brecht’sche Theater heran, so offenbaren sich sogleich mehrere Spannungsfelder. Bündeln lassen sie sich in der Frage nach der Radikalität der Offenheit der Nichtverstehenserfahrungen, auf die sein Theater abzielt. Brechts Beharrung auf der gesellschaftlichen Funktion oder gar Didaxe der Kunstscheinen,2 wie auch seine Nähe zum Marxismus, seine Forderung nach einer Redynamisierung von Bedeutung nämlich einzuschränken. Soll im Brecht’schen Theater wirklich nichts verstanden werden, oder geht es am Ende doch schlicht um eine Didaktik der Revolution in den Koordinaten des Marx’schen Klassenkampfes, eine also ihrerseits wieder festgelegte Bedeutung, die es einzusehen gilt? In Brechts Theaterkonzept werden Fragen nach der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Ideologiekritik und theatraler Intervention akut, die später auch das Denken seines großen Verehrers Barthes herausfordern. Im Dialog mit den Schriften Barthes’ erscheint Brechts Konzeption, so wird im Folgenden gezeigt, zunächst als theatrale Variante der Mythologies.3 Zugleich jedochist in Brechts Theater die Überschreitung der Ideologiekritik auf die Erfahrung der Sinnlichkeit hin präsent. In seinem Konzept treffen sich damit, so meine These, der frühe und der späte Barthes, Affirmation und Überwindung der Ideologiekritik. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verschiebungen seit dem 19. Jahrhundert4 lässt Brecht im Kleinen Organon für das Theater 1 2 3

4

GBA 23, S. 681. Die »Künste sind es gewöhnt, ihre Weltfremdheit zur Tugend zu stilisieren«, polemisiert Brecht. (GBA 23, S. 152.) Für Brecht und Barthes ist die Marx’sche Kritik eine wichtige Stichwortgeberin – Brecht kannte sie wohl vor allem durch seinen regen Austausch mit Karl Korsch, hierzu vgl. die ausführliche Darstellung von Wolfdietrich Rasch: Bertolt Brechts marxistischer Lehrer. Aufgrund eines ungedruckten Briefwechsels zwischen Brecht und Korsch. In: Merkur 17/1963, S. 988-1003. Innerhalb der produzierenden Bevölkerungsgruppe, das heißt der Arbeiterklasse, hat sich bereits etwas manifestiert, was man mit Barthes als mythologischen Blick bezeichnen könn-

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sein Theaterkonzept auftauchen und charakterisiert es zunächst als Guerillataktik, die »je nach Kampflage« agiert.5 In diesem wandelbaren, unzuverlässigen Theater, diesem flirrenden Raum findet, so werde ich im Folgenden zeigen, sowohl Ideologiekritik als auch Ideologie Platz, und zwar aufgrund mehrfacher dialektischer Wendungen des Unverständlichmachens. Im Titel eines unveröffentlichten Essays setzt Brecht im Jahr 1935 Vergnügungstheater und Lehrtheater in ein antagonistisches Verhältnis. In seinem Theater jedoch verbirgt sich eine Synthese aus beidem, da hier sowohl die Theatralität der Distanz wie auch die Theatralität der Signifikanz am Werk sind. Zum Aufweis dieser Heterogenität der Brecht’schen Nichtverstehensstrategien werde ich im Folgenden sowohl sein Konzept der Verfremdung als auch sein Konzept des Gestus untersuchen. Die bereits erwähnten Spannungen werden hier näher auszubestimmen sein, insbesondere die zwischen Restitution und Postrestitution: Der Gedanke des unaufhaltsamen Wandels,6 auf den Brecht sein dialektisches Theater festschreibt, steht im Kontrast zur Beantwortung der Frage nach dem Wie oder Wohin dieses Wandels, die er im Unbestimmten belässt. So mäandert die Brecht’sche Dynamisierung zwischen dem Messianismus marxistischer Teleologie und der riskanten, offenen Prozessualität des Pharmakongedankens. Daher wohnt der Konzeption eine eigentümliche, kaum aufzulösende Spannung inne, die sie in der Tat als dialektisches Theater, nicht nur im marxistischen, sondern auch im hermeneutischepistemologischen Sinne, ausweist.7 Ähnlich wie Barthes ersetzt Brecht die Frage nach der Wahrheit durch die Frage der Methodologie, wie der Blick auf die Rolle des Dialektikbegriffs zeigen wird. So

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te. Brecht bringt dies mit der Entwicklung der soziologischen Wissenschaften in Verbindung: »Seitdem gibt es etwas vom wissenschaftlichen Geist in der Tiefe, bei der neuen Klasse der Arbeiter […]: die großen Katastrophen werden von dort aus als Unternehmungen der Herrschenden gesichtet.« (GBA 23, S. 73.) Ebd., S. 65. Im Kleinen Organon legt Brecht sein Theater auf die materialistische Dialektik als Methode fest: »Diese Methode behandelt, um auf die Beweglichkeit der Gesellschaft zu kommen, die gesellschaftlichen Zustände als Prozesse und verfolgt diese in ihrer Widersprüchlichkeit. Ihr existiert alles nur, indem es sich wandelt, also in Uneinigkeit mit sich selbst ist.« (ebd., S. 82.) Brecht hat sein Theater mehrfach umbenannt. Die Bezeichnung ›episches Theater‹ wurde zugunsten der Formulierung ›dialektisches Theater‹ als »zu ärmlich und vage« aufgegeben (ebd., S. 289). Dabei geht es Brecht um eine Verschiebung seines Konzepts weg von der Kritik an der betäubenden Immersion der Gattung Drama. Auch das epische Theater wirkt nämlich erzählerisch, aber es verschleiert nicht mehr, dass es Erzählung ist. Die Brecht’sche Umbenennung reflektiert also die Unmöglichkeit der Neutralität, die Aporie der Ideologiekritik. Im Folgenden verwende ich den von Brecht geprägten Begriff des dialektischen Theaters, weil es mir auf den Nachweis einer epistemologischen Dialektik ankommt. Im Kleinen Organon fällt weder der Begriff episches noch dialektisches Theater, sondern die Rede ist von der ›epischen Spielweise‹ und dem ›Theater des wissenschaftlichen Zeitalters‹.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

kommt es, dass die Beschaffenheit der Theaterpraxis die Vorhaben der Theorie bisweilen zu unterlaufen scheint. Während der Brecht der Theorie stellenweise stark didaktisierend und damit abschließend auftritt, scheint der Brecht der Praxis, der sich im Akt seiner Wahl der ästhetischen Form »meldet«, dem Nichtverstehen im Sinne der tatsächlichen Bedeutungsauflösung nahezustehen. Weder stumpfes Vergnügen noch politische Lehre, sondern eine kulturphilosophische Hermetik ist es hier, was sein Theater anvisiert.

II.2.1

»Er hat Vorschläge gemacht«: Methodische Reflexion

Es ist eine wesentliche Prämisse der vorliegenden Auseinandersetzung, dass die theoretischen Schriften der Theaterkünstler nicht ohne die ästhetische Beschaffenheit der praktischen Theaterarbeit betrachtet werden können. Für die Auseinandersetzung mit dem Brecht’schen Theaterkonzept stellt die fundamentale Unberechenbarkeit ästhetischer Subversion die Weichen, und zwar dergestalt, dass ich hier eine avantgardistische Lesart seiner Schriften verfolgen werde. Diese fokussiert auf den Gedanken der theatralen Hermetik im Sinne der nicht-propositionalen Erkenntnis.8 Während sich in der Forschung eine Einteilung des Brecht’schen Œuvres in Phasen etabliert hat,9 behandle ich das Theaterkonzept Brechts orientiert an einer kulturphilosophischen Systematik. Hierbei werden Zeitsprünge und die Unterschiedlichkeit der Textsorten – etwa Essay, Dialog, Rede – an passender Stelle reflektiert. Methodisch ist die Auseinandersetzung, wie in der Einleitung angekündigt, vom figurativen Verfahren der Diskursidentifizierung inspiriert, die Barthes mit Blick auf Brechts Stücke vorgenommen hat.10 Im Sinne der ebenfalls in der Einleitung beschriebenen Profilierung des Denkens Brechts werden hier insbesondere Benjamin, Marx und speziell seine Auslegung durch Korsch sowie wiederum Nietzsche wichtige philosophiehistorische Bezugspunkte darstellen.

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Hierzu auch Lehmann, Brecht lesen, S. 31-42. Zur Phasentheorie sowie ihrer Kritik siehe Jan Knopf: Der entstellte Brecht. Die Brechtforschung muss (endlich) von vorn anfangen. In: Bertolt Brecht, hg. von Arnold, Heinz Ludwig. München 3 2006, S. 5-20. Barthes identifiziert zwei Diskurse in den Stücken Brechts: zum einen einen »Diskurs der Zerstörung«, dessen Merkmal es ist, dass mithilfe des Theaters die Zustände subvertiert werden sollen. Zum anderen einen »Diskurs der Eschatologie«, welcher im Aufbau einer Kritik besteht, die prinzipiell davon ausgeht, dass herrschende Missstände behoben werden können. Nach Barthes fehlt jedoch der »apologetische Diskurs«, sodass auch Brechts Ideologiekritik wieder in Ideologie umschlägt. Ich werde diesen Vorwurf Barthes’ in Abschnitt II.2.5 aufnehmen und vor dem Hintergrund des Theaters des Nichtverstehens wie auch der Werktektonik Barthes’ untersuchen. Vgl. RdS, S. 241.

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Kultur in Stücken

Im Folgenden werde ich demgemäß die ästhetischen Schriften Brechts auf ihren kulturphilosophischen Diskurs hin untersuchen und diesen dabei auf den Gedanken des Pharmakons beziehen, der die notwendige systematische Vorbedingung für Brechts Theaterkonzept stellt. Dazu gehört die Reflexion der Eigenlogiken und Tektonik von Begriffen und Motiven auch jeweils an Ort und Stelle. Dies betrifft etwa den Begriff der Dialektik, den der Geschichte oder der Wissenschaft. Im Anschluss daran wird das Theaterkonzept Brechts auf die beiden Theatralitäten hin untersucht und werden unterschiedliche Nichtverstehensphänomene beleuchtet. Die Ergebnisse aus diesen Betrachtungen werden dann durch ihren Bezug auf die Philosophie Barthes’ in einen weiteren Kontext des Nachdenkens über Ideologiekritik und ästhetische Subversivität überführt. Die Gleichzeitigkeit von durch Nichtverstehenserfahrungen konstruierter Offenheit und Rückbezug auf die teleologisch verstandene marxistische Geschichtsauffassung, die Brechts Theaterkonzept kennzeichnet, wird in ihrer Ambivalenz und Dialektik – ebenfalls an Ort und Stelle – darzustellen sein.11 Brecht ist ein Autor zerklüfteter Texte, ein Autor der Montagen, nicht nur auf der Bühne.12 Er hat die Vollendung seiner Werke, den Aufweis ihrer Qualität an ihre theatrale Umsetzung gekoppelt. Allerdings wurden die meisten seiner so genannten »großen« Exilstücke13 nicht aufgeführt oder zu Ende geschrieben und haben daher de facto ihre Tauglichkeit bezogen auf das Vorhaben Brechts nicht unter Beweis stellen können. Das Unfertige ist damit als ein wesentliches Charakteristikum in das theoretische Schreiben Brechts eingelassen. Darin spiegelt sich jedoch, so meine ich, die Beschaffenheit seiner ästhetischen Schriften selbst: Sie haben stets den Charakter des nicht Feststellbaren, des sich-Vollziehenden, sie sind Passagen.14 11 12

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Für eine ausführliche biographische Rekonstruktion des Verhältnisses Brechts zum Marxismus vgl. Knopf, Der entstellte Brecht. Dieser Charakter wurde allerdings, so Knopf, durch die »›klassische‹ Präsentation der Werke Brechts, die Goethe mit den späten Editionen seiner Schriften vorgegeben hatte« verdeckt, was dazu führte, dass »Brechts Texte – es sei denn, sie wurden als ›politisch‹ (und damit als ›undichterisch‹) abqualifiziert – wie ›klassische‹ Texte gelesen und in der Forschung analysiert wurden«. »Die Forschung verband damit«, so Knopf weiter, »auch die Vorstellung, dass Werk und Autor einer ›Entwicklung‹ nach klassischem Muster (des Bildungsromans) unterlägen« (ebd., S. 7). Die Figur Brechts gibt damit nicht nur innerhalb seiner Stücke und Essays den Blick auf den bürgerlichen Mythos frei, sondern er wird auch selbst, rezeptionsgeschichtlich, Opfer der mythischen Vernatürlichung, welche die Einheitlichkeit und Zwangläufigkeit des künstlerischen Werks behauptet. Im Bewusstsein dieser Problematik orientiere ich mich ausschließlich an der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe. Vgl. ebd., S. 8. Nach Knopf haben frühere Ausgaben (und infolge dessen ein großer Teil der BrechtForschung) »ausgerechnet Brechts ›offenes‹ Werk in einer ›klassisch-bürgerlichen‹ Form so zementiert, dass es zusammenhängt wie ein geschlossenes und nicht mehr befragbares System. Es ist deshalb nötig, dass es nicht nur in der Edition, sondern auch in den Analysen auf neue Weise, mit Brecht zu reden, ›auseinander gerissen‹ wird« (ebd., S. 9).

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

Um über die Nichtverstehensphänomene in Brechts Theaterkonzept nachzudenken, werde ich mich vor allem auf jene Schriften beziehen, deren Form den diskursiven Anspruch und das Vermittlungsbestreben einer theoretischen Auseinandersetzung im weiten Sinne erkennen lassen und die eben nicht nur als »Dokumente eines fast immer grundsätzlich praxisbezogenen Arbeitsprozesses« aufgefasst werden können.15 Daher wird mein zentraler Bezugstext das Kleine Organon für das Theater von 1948 sein. Erschienen ist es 1949 in Sinn und Form. Brecht hatte eine »grundlegende theoretische Schrift« schon im Exil in Amerika geplant, aber erst auf Anregung Helene Weigels tatsächlich geschrieben. Beim Kleinen Organon handelt es sich eigentlich, so Brecht, um eine »Zusammenfassung des Messingkaufs«.16 Der Messingkauf ist als Theaterstück unvollendet geblieben, allerdings ist überliefert, dass Brecht vorhatte, in diesen auch einige seiner Essays einzuarbeiten. Zu diesen Essays gehört wahrscheinlich auch der Text Die Straßenszene. Grundmodell des epischen Theaters von 1940, der die zweite wesentliche Referenz meiner Auseinandersetzungen darstellt. Daneben beziehe ich mich vornehmlich auf zu Lebzeiten Brechts veröffentlichte Essays, wie etwa den Text Verfremdungseffekte der chinesischen Schauspielkunst und Vergnügungstheater oder Lehrtheater, sowie auf Manifeste und Vorträge, auf Notizen jedoch nur insofern, als dass sie nachweislich im Umfeld dieser Texte entstanden sind. Ich möchte unterstreichen, dass auch diese Schriften, obgleich als Texte mit dem Anspruch von Vermittlung, Klärung und Argumentation konzipiert, keine abgeschlossenen Theoriegebilde darstellen. Vielmehr lassen die von Brecht präferierten Formen – Organon, Essay, Dialog – unsere Vorstellungen von Theorie selbst fraglich werden.17 Als ausgefranste, fragmentierte und zerklüftete Theoriegebilde können sie gleichwohl der immer schon im Unsicheren agierenden philosophischen Orientierungs- und Begriffsarbeit Zugriffs-, Reibungs- und Haltepunkte bieten.

II.2.2

Auf mythischen Pfaden: Kulturbegriff und Kulturkritik

Prozessdenken und Pharmakologie Im Folgenden werde ich zunächst das implizite Brecht’sche Kulturverständnis auf Basis seiner theoretischen Schriften umreißen, da es die Bedingung der Möglichkeit seines transformatorischen Theaters und das Fundament seiner Zeitkritik dar-

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Ebd., S. 17 und GBA 23, S. 65. Hierzu vgl. GBA 23, S. 459. Hierzu vgl. ausführlich die Abschnitte II.2.2 und II.3.3.

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stellt. Darauf, wie dieses Kulturverständnis in seinem Theater wiederkehrt, werde ich in Abschnitt II.2.5 zu sprechen kommen. Wenn Brecht den Begriff Kultur explizit gebraucht, meint er damit zumeist die »Kulturindustrie« bzw. Institutionen der sogenannten Hochkultur – Museen, Literatur, Universitäten und Akademien.18 Dennoch ergibt sich aus den Konstellationen der Motive insbesondere des Kleinen Organons ein noch grundlegenderer Kulturbegriff Brechts. Er entwirft hier den Menschen, seinen Zuschauer, als Kulturwesen, das sich seine Welt zurechtmacht – auch er denkt Kultur unter den Paradigmen von Prozessualität und Schöpfertum, wie ich nun zeigen werde. Brecht ist, so habe ich im vorigen Kapitel dargelegt, einer der großen Stichwortgeber für die Barthes’sche Mythologie. Sein Theater wendet sich, wie die Mythologie, gegen Formen der Enthistorisierung. Demgemäß wendet er auch auf sein eigenes Projekt einer Theaterästhetik das Verfahren der Historisierung an. Im Kleinen Organon entwickelt er hiermit die Geschichte der Möglichkeit seines eigenen Theaters. Brecht beschwört keine überzeitlichen Kräfte, wie etwa die Kunst oder die allgemeine Menschenvernunft, sondern er erzählt von einem mehr oder weniger kontingenten Gewordensein. Die Urszene des Kleinen Organons enthält das kulturphilosophische Motiv einer unwirtlichen Natur, in der es sich ohne menschliches Zutun lediglich »hausen«19 lässt – wenngleich Brecht den Prozess des Zurechtmachens der Natur positiver darstellt, als etwa Nietzsche oder Simmel es tun20 : »Mit einem neuen Blick sah der Mensch sich allerorten um, wie er lange Gesehenes, aber nie Verwertetes zu seiner Bequemlichkeit anwenden könnte.«21 Auch für Brecht muss der Mensch sich die Welt als zweite Natur einrichten und wird, so charakterisiert Norbert Rath diesen Prozess, »aus seiner primären Natürlichkeit herausgedrängt«22 . Brecht jedoch schildert diesen Prozess indes nicht ausschließlich als eine Herausdrängung, sondern ebenso als ein Herausarbeiten. Die Neuzeit ist für Brecht die Zeit der schöpferischen Optimierung dieses Prozesses: Die Menschen verschiedener Länder, so Brecht, begannen »vor einigen hundert 18

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Diesen Kulturbegriff verwendet Brecht etwa in seiner Rede zum zweiten internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, die er 1937 in Paris gehalten hat: »Wenn dem so ist, wenn die Kultur etwas von der gesamten Produktivität der Völker Untrennbares ist, wenn ein und derselbe gewalttätige Eingriff den Völkern die Butter und das Sonett entziehen kann, wenn also die Kultur etwas so Materielles ist, was muß dann getan werden zu ihrer Verteidigung?« (GBA 22.1, S. 324.) GBA 23, S. 70. Vgl. Nietzsche KSA 5, S. 314. In Simmels Tragödienaufsatz heißt es etwa, »[d]aß der Mensch sich in die natürliche Begebenheit der Welt nicht fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt« (GSG 14, S. 194). GBA 23, S. 71. Rath, Norbert: Zweite Natur. In: Handbuch Kulturphilosophie, hg. von Ralf Konersmann. Stuttgart 2012, S. 360-365, hier S. 363.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

Jahren« mithilfe von Experimenten »den Stern, auf dem sie hauste[n], bewohnbar zu machen.«23 Erst in der Neuzeit also ergreift der Mensch sein Potential zur Weltgestaltung, das vorher nur vorbewusst und chaotisch am Werke war.24 Wie für Barthes,25 so sind auch für Brecht die kulturellen Leistungen des Menschen untrennbar mit epistemischen Leistungen verbunden. In der Neuzeit »hofft« der Mensch auf die Beherrschung der Natur durch die Errungenschaften der instrumentellen Wissenschaft, die »der Natur ihre Geheimnisse« entreißen soll.26 In seinem kulturgeschichtlichen Narrativ rekurriert Brecht dabei vor allem auf ein Wissenschaftsverständnis im Sinne einer Téchne als Poîesis.27 Wichtig für unseren Zusammenhang ist hier, dass Brecht die Entzauberung der Natur als Hoffnung deklariert, die tatsächlichen Möglichkeiten einer solchen Entzauberung also eingeschränkt sind. Pikanterweise scheinen die Metaphern der Erzählung des Kleinen Organons dem Brecht’schen Relativismus zu widersprechen: Sie entsprechen durchaus dem mit dem Mythos des »ewige[n] Mensch[en]«28 verbundenen Rationalitätsparadigma der philosophischen Tradition, das Barthes kritisiert hat. Dessen Grundannahme ist, dass die Welt mit Geheimnissen durchsetzt ist, die der Mensch als ewige Größe Kraft seiner Ratio entschlüsselt. Allerdings interpretiere ich Brechts Entscheidung zur Orientierung an der Bacon’schen Form des Organons als performative Distanzierung von der Tendenz zur Objektivitätsgläubigkeit des Wissenschafts- und Technikoptimismus.29 Die Vorstellung der gemeinschaftlichen Neumontage überzeitlich geglaubter wissenschaftlicher Erkenntnisse im Organon Bacons30 korrespondiert mit den montagehaften Elementen des Brecht’schen Theaters. Im Sinne der Politik der Form, wie sie Barthes, aber auch

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GBA 23, S. 70f. »Es war, als ob sich die Menschheit erst jetzt bewußt und einheitlich daran machte«, schreibt Brecht (ebd., S. 71). Vgl. Kapitel II.1. GBA 23, S. 71. »Viele seiner [des Planeten, M. R.] Bestandteile, wie die Kohle, das Wasser, das Öl, verwandelten sich in Schätze. Wasserdampf wurde beordert, Fahrzeuge zu bewegen; einige kleine Funken und das Zucken von Froschschenkeln verrieten eine Naturkraft, die Licht erzeugte […].« (GBA 23, S. 71.) Zur Akzentuierung des Téchne-Begriffs als Praxis oder Poîesis siehe Blättler: List der Technik. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2/2013, S. 271-285, hier S. 274. MdA, S. 128. Die Form des Bacon’schen Organons kann als Montage interpretiert werden. Ihre Basis ist die ganz grundlegende, jedoch entscheidende und revolutionäre Einsicht in den Werkcharakter des Wissens. In der Instauratio Magna schreibt Bacon, sein Ziel seien »nicht Grundlagen für irgendeine Sekte oder Lehrmeinung […], sondern Nutzen für die Größe der Menschheit«. Man möge zur Erneuerung der Wissenschaft »den Eifer für Meinungen und Vorurteile ablegen und gemeinschaftlich beratschlagen«. (Francis Bacon: Neues Organon. Teilband 1, hg. und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn. Hamburg 2 1999, S. 35.) Hierzu auch Konersmann, Kulturphilosophie, S. 334.

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Benjamin entwirft, bricht die montierende, also den Interpretationsspielraum öffnende Schreibweise31 Brechts hier mit dem Inhalt seiner Erzählung – dem Optimismus, mit dem das Kleine Organon kokettiert. Es wäre also voreilig, das »Theater des wissenschaftlichen Zeitalters« – als solches charakterisiert Brecht es im Kleinen Organon – als Versuch einer Gleichsetzung von Wissenschaft und Kunst zu interpretieren. Einer solchen widerspricht Brecht deutlich zugunsten der Autonomie und Eigengesetzlichkeit der Formen, so denke ich. Im Dialog über die Schauspielkunst heißt es entsprechend: »Frage: ›Sollen wir denn Wissenschaft im Theater sehen?‹ Antwort: ›Nein, Theater.‹«32 In der Spannung zwischen der bisweilen restitutiven, da messianischen Ausdrucksweise der Theorie und der ergebnisoffenen Beschaffenheit theatraler Praxis artikuliert sich nämlich durchaus eine Unterscheidung von Bedeutung und Wahrheit im Sinne des postrestitutiven und post-alethischen Denkens. Zudem ist auch Brecht ein Denker der Krise der insbesondere sprachlichen Repräsentation, erscheint doch bereits hier, wie später bei Barthes, der Mythos als Form der Aussage: »Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik. Das Wort Volk besagt eine gewisse Einheitlichkeit und deutet auf gemeinsame Interessen hin […].«33 Die Unterscheidung von Bedeutung und Wahrheit wird von Brecht nicht expliziert, tritt aber auf der kulturphilosophischen Folie zutage: Der Rede vom ›Volk‹ liegt eine »vom Motivzusammenhang der nackten Wahrheit getragene Vorstellung einer vollen Präsenz zeitlosen Bedeutens«34 zugrunde, deren Setzungscharakter analog zum mythologischen Programm Barthes’ unterlaufen werden soll, indem er offengelegt wird. Dennoch ist auffällig, dass auch Brecht von der Lüge spricht und damit im Sprachraum der Wahrheitsbegriffs verbleibt. Auch hier begegnet

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Als »Schreibweise« bezeichnet Barthes die Wahl der schriftstellerischen Form, sei sie wissenschaftlich, poetisch, romanhaft oder revolutionär. Die Schreibweise stellt die »Affirmation eines bestimmten Gutes« dar, im Falle des theoretischen Schreibens etwa die Affirmation des intellektuellen, begrifflich repräsentierbaren Diskurses (vgl. NdL, S. 18). Daher positioniert sich der Schriftsteller mit der Wahl der Form zur Gesellschaft, in ihr artikuliert sich seine Auffassung von Literatur und ihrem Verhältnis zur Zeit: »sie bedeutet die Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft […] sie ist die in ihrer menschlichen Intention ergriffene Form« (ebd.). Benjamin beschreibt ein ähnliches Phänomen, betont aber stärker noch als Barthes die Involviertheit des Schriftstellers: »Also ehe ich frage: Wie steht eine Dichtung zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen? Diese Frage zielt unmittelbar auf die Funktion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit hat.« (BGS II.2, S. 686. Herv. i. O.) GBA 21, S. 280. Ebd. Konersmann, Kulturelle Tatsachen, S. 67. Auch nach Konersmann bieten die Weisen des Sprechens Aufschluss über das Verhältnis von Bedeutung und Wahrheit sowie über die an sie geknüpften Erwartungen: »Bedeutungen werden ›gesetzt‹, nicht ›enthüllt‹.« (Ebd.)

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

uns also, wie beim Barthes der Mythologies, die Aporie der Ideologiekritik, die vom archimedischen Punkt ihres eigenen Sprechens ausgehen muss, den sie der Gegenposition abspricht.35 Dennoch wäre es verkürzt, die Verwendung des Begriffs der Wahrheit im Werk Brechts sogleich mit einem Rückfall in die Vormoderne gleichzusetzen, sein Verhältnis zu diesem Begriff ist komplexer und muss als Spannung begriffen werden. Dass Brecht diesen Begriff verwendet, ist sicherlich eine Pikanterie, die ihm sehr wohl bewusst war. Ich möchte, um den Stellenwert des Wahrheitsbegriffs in Brechts Konzeption zu erhellen – wenngleich er sich nicht endgültig wird ausbestimmen lassen –, die inhaltliche Ebene des Begriffs von der Ebene der werkimmanenten Systematik unterscheiden: Zunächst ist dann festzuhalten, dass der Begriff der Wahrheit selbst für Brecht eher die Bedeutung von Darstellung einer Beobachtung zu haben scheint. Aufschluss darüber gibt etwa eine Notiz zu Stanislawski mit dem Titel Was unter anderem vom Theater Stanislawskis gelernt werden kann. Als fünften Punkt nennt Brecht hier die »Verpflichtung zur Wahrheit« und führt aus: Stanislawski lehrte, daß der Schauspieler sich selbst und die Menschen, die er darstellen will, genauestens kennen muß und daß das eine aus dem andern kommt. Nichts, was der Schauspieler nicht aus der Beobachtung holt oder was nicht von der Beobachtung bestätigt wird, ist wert, vom Publikum beobachtet zu werden.36 In dieser Konzeption können also potentiell mehrere Wahrheiten vorkommen, Darstellungen haben hier beschreibenden Charakter und können perspektivisch voneinander abweichen, in Konkurrenz zueinander treten oder einander ablösen. Dabei muss stets das Methodenrepertoire des dialektischen Theaters mitgedacht werden, damit die Darstellung nicht mit naturalistischer Wiedergabe verwechselt wird.37 Auf der Ebene der werkimmanenten Systematik wird darüber hinaus, so zeigen die folgenden Kapitel, Brechts ideologiekritische, also implizit auf Wahrheit rekurrierende Emphase durch das Ungewissheitsmoment des Theaters selbst gebrochen. In der Theorie tritt Brecht also als Ideologiekritiker im Sinne des frühen Barthes auf, in der Praxis jedoch zieht er die Konsequenzen der Krise der Wahrheit. Dass sich die Hervorbringungen des Menschen gegen ihn selbst wenden, ist ein verbreitetes kulturphilosophisches Motiv38 und findet sich auch bei Brecht: »Wie den unberechenbaren Naturkatastrophen der alten Zeit stehen die Menschen von

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Vgl. das Kapitel I.1 sowie speziell für Barthes den Abschnitt II.1.1. GBA 23, S. 168. Vgl. hierzu auch Christine Blättler und Christian Voller: Einleitung. In: Walter Benjamin: Politisches Denken, hg. von Christine Blättler und Christian Voller. Baden-Baden 2016, S. 9-31, hier S. 12. Vgl. Kapitel I.1.

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heute ihren eigenen Unternehmungen gegenüber.«39 Die Diagnose Brechts verläuft an dieser Stelle parallel zu der von Adorno und Horkheimer beschriebenen Dialektik einer terroristischen Vernunft, gemäß derer die vormals gebannte feindliche Natur in Gestalt einer sich totalitär gebärdenden Kultur wiederkehrt. Was zum Segen für alle hätte gedeihen können, verkommt dann alsbald zur Ausbeutung Vieler durch wenige Mächtige: »Was der Fortschritt aller sein könnte, wird zum Vorsprung weniger, und ein immer größerer Teil der Produktion wird dazu verwendet, Mittel der Destruktion für gewaltige Kriege zu schaffen.«40 Kultur, als ein Herrichten der Natur mithilfe von Wissenschaft und Technik, ist also ein hochgradig ambivalenter Prozess und immer nur so human wie die Menschen, die ihn vollziehen. In den Nachträgen zum Kleinen Organon, die schließlich gemeinsam mit dem eigentlichen Textkorpus erschienen sind, revidiert Brecht die so wichtige Formel des ›Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters‹.41 Möglicherweise trägt diese Änderung auch den Erfahrungen der katastrophalen Verstrickung der Wissenschaften in den Nationalsozialismus Rechnung, angesichts derer jegliche Heilserwartungen an die Wissenschaften ihrer Begründbarkeit entrissen wurden. Wie auch für seinen Weggefährten Benjamin42 , so stellt damit für Brecht die Entwicklung der technisierten Moderne nicht zwangsläufig eine Erfolgsgeschichte dar. Brecht definiert im Jahr 1934 Dialektik, nach der er sein Theater schließlich benennt, als Lehre vom »Fluß der Dinge«43 . Dialektik an sich ist allerdings für Brecht noch kein Prinzip zwangsläufiger Befreiung. Sie ist kein Prozess des Erringens menschlicher Hervorbringungen, sondern des beständigen, allerdings nicht stringenten und simultanen Wandels. Gleichzeitig bewegen sich Brechts Metaphern für den Wandel des Menschengemachten im Kleinen Organon auf dem Feld einer »Rhetorik des Machens und Hervorbringens, der Arbeit und der Aktion«44 , was eine Eigenheit der Metaphorik des Kulturellen ist. Unkontrollierbares Fließen und kontrollierbares Schaffen treten hier also spannungsvoll auseinander und lassen die

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GBA 23, S. 72. Ebd. Ebd., S. 289. Wie die meisten Texte Brechts hat das Kleine Organon, welches zwar 1948 erschienen, aber bereits 1933 verfasst wurde, einige wichtige Änderungen durch seinen Autor erfahren. Benjamin schreibt: »Der imperialistische Krieg ist ein Aufstand der Technik, die am ›Menschenmaterial‹ die Ansprüche eintreibt, denen die Gesellschaft ihr natürliches Material entzogen hat.« (BGS I.2, S. 508. Herv. i. O.) GBA 22.1, S. 87. Brecht schließt sich der »rationellen Form« der Dialektik an, die Marx von der »mystifizierenden Form« unterscheidet. Kennzeichen der »mystifizierende[n] Form« ist es, »das Bestehende zu verklären«, das der »rationelle[n]« Form, das Bestehende als veränderlich zu begreifen, diese ist »dem Bürgertum […] ein Ärgernis« (MEW 23, S. 27f.) Hierzu ausführlicher auch Dieter Henrich: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1971, S. 510. Konersmann, Metaphern für Kultur, S. 433.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

Herausforderung sichtbar werden, vor denen der Mensch der Moderne sich wiederfindet.45 Schon hier deutet sich an, dass auch Brecht Kultur im Sinne der prinzipiell dynamischen menschlichen Hervorbringungen als Pharmakon denkt. Erst in seinem Theaterkonzept allerdings löst er diesen Gedanken praktisch ein, insofern für Brecht offenbar trotz allem Kultur mit Kultur, das heißt mit Theater auf den Versuch einer humaneren Zukunftsgestaltung hin subvertiert werden kann. Die Kriterien dieser Humanität müssen, will Brechts Konzeption konsequent sein, freilich erst hervorgebracht werden, worauf ich in Abschnitt II.2.3 zurückkomme.

Missverstehen und Nichtbegreifen Bevor in Abschnitt II.2.3 das Theater des Nichtverstehens in Brecht’scher Gestalt beschrieben und untersucht wird, soll zunächst die Brecht’sche Kulturkritik stärker auf ihre hermeneutisch-epistemischen Konturen hin skizziert werden. Sie bietet die Grundlegung für die Mobilisierung von Nichtverstehensphänomenen und alternativen Erkenntnisformen im Sinne des Nichtpropositionalen. Wie Barthes und Artaud, so ist auch Brecht ein Denker der Dynamisierung. Die Unterdrückung des Menschen durch seine eigenen Hervorbringungen, die eben umrissen wurde, basiert für ihn wesentlich auf einem hermeneutisch-epistemologischen Problem: Der fehlenden Einsicht in die Dynamik und damit die Veränderbarkeit der Zustände. Diese erscheinen, wie eben gezeigt, statisch, als Naturkatastrophen, die dem gestalterischen menschlichen Einfluss entzogen sind.46 Insofern basiert ein nicht unbeträchtlicher Teil der Kultur auf einem fundamentalen Missverständnis dessen, was menschliches Zusammenleben ausmacht: »Was sie miteinander erleben, scheint den Menschen das Gegebene menschliche Erleben«, schreibt Brecht.47 45

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Das Metaphernpanorama Brechts zeigt etwa »Regulierung«, »Okulierung«, »Konstruktion«, »Umwälzung« (GBA 23, S. 73). Besonders mit der Metapher der Umwälzung deutet sich eine Legierung der Begriffe Subversion und Kultur an – subvertere, Umwälzung, als ursprünglich aus dem Ackerbau kommend. Für Konersmann kommt der Gartenmetaphorik bei den philosophischen Annäherungen an den Begriff der Kultur herausragende Bedeutung zu: »Gerade in Zeiten der Industrialisierung verspricht der Garten die Kompatibilität von natürlichen Entwicklungsmöglichkeiten und menschlicher Weltgestaltung, und eben diese Synthetisierungsleistung prädestiniert ihn als Realmetapher für Kultur.« (Konersmann, Metaphern für Kultur, S. 433.) In der Gartenmetaphorik tritt, so Konersmann, der Mensch nicht – als Herrscher oder Beherrschter – der Welt gegenüber, sondern er bewegt sich schaffend und erhaltend in ihr. Zum Garten als Metaphernfeld für Kultur siehe ausführlicher Konersmann, Metaphern für Kultur, S. 432f. Bereits 1935 schreibt Brecht im Entwurf einer Rede auf dem Internationalen Schriftstellerkongress in Paris, »daß man der Rohheit nicht den Anschein von Naturgewalten verleihen darf« (GBA 22.1, S. 143). Ebd.

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Was Brecht als Schein des schlicht und einfach Gegebenen charakterisiert, deckt sich mit der Vernatürlichungskritik der Barthes’schen Mythologie wie der Kritischen Theorie, für die die vormals feindliche Natur in der »Ewigkeit des Tatsächlichen«48 ihren Wiedergänger findet. Was gegeben ist, erscheint als geschichtslos, daher ewig und unhinterfragbar. Es kann lediglich konstatiert werden: Es ist, wie es ist. Dies ist die Sprache des Selbstverständlichen, die typische Tautologie des bürgerlichen Mythos, die Barthes als eine seiner machtvollsten rhetorischen Strategien beschreibt.49 Intervention wird, wie Brecht hellsichtig bemerkt, durch die Assimilierungskraft des Selbstverständlichen erschwert. Die Logik des Ruhigen und Wohlgeordneten nährt sich an eben dem Außen, das sie selbst hervorbringt. Das Missverstehen unserer eigentlich dynamischen Kulturexistenz als statische Naturexistenz ist so undurchdringlich, dass auch Gegenentwürfe immer nur als Ausnahmen von der Regel zu denken sind: »ist einer kühn genug, etwas nebenhinaus zu wünschen, wünschte er es sich nur als Ausnahme.«50 Damit greift Brecht der Barthes’schen Diagnose der Assimilierung des Inkommensurablen durch den bürgerlichen Mythos vor. So wird für Barthes das Verrückte, das Kindliche, das Künstlerische stets wieder mit der mythischen Textur verwoben, als Ausnahme von der Regel. Hier ist sicher einer der systematischen Punkte, an dem Brecht den von Barthes angemahnten aporetischen Diskurs vermissen lässt, kann doch auch sein eigenes Theater als grundsätzlich assimilierbarer Ausbruchsversuch gewertet werden. Ich komme in Abschnitt II.2.5 auf diese Schwierigkeit zurück. Wie nach ihm Barthes, so wird auch Brecht versuchen, das Ideologieproblem methodologisch zu lösen, nämlich durch die dynamisierende Potenz ästhetischer Verfahren. Als Statthalterin eines Denkens des Dynamischen wird die materialistische Dialektik zum methodischen Paradigma des Brecht’schen Theaters des Nichtverstehens: »Diese Methode behandelt, um auf die Beweglichkeit der Gesellschaft zu kommen, die gesellschaftlichen Zustände als Prozesse und verfolgt diese in ihrer Widersprüchlichkeit. Ihr existiert alles nur, indem es sich wandelt, also in Uneinigkeit mit sich selbst ist.«51 An diesem Punkt wird deutlich, dass für Brecht unsere Auffassung von den Dingen transformatorischen Charakter hat, das Bewusstsein also durchaus das Sein bestimmen kann. Wie wir die Dinge auffassen, so behandeln wir sie: Für Brechts ästhetisches Denken ist kulturelle Intervention also epistemologisch unterlegt, wie für die Barthes’sche Mythologie. Die theoretische Fundierung hierzu liefern Verschiebungen, welche die Marxauslegung Karl Korschs vollzieht, der großen Ein-

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AGS 3, S. 44. MdA, S. 143. Ebd. GBA 23, S. 82.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

fluss auf Brecht ausgeübt hat. Korsch bringt die Dialektik von Theorie und Praxis gegen eine Überbetonung der rein wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Auslegungstradition in Anschlag.52 Das Bewusstsein ist für Korsch »ein notwendiger, unentbehrlicher, konstitutiver Bestandteil« im geschichtlichen Prozess, und dies ist der systematische Ansatzpunkt für den interventiven Anspruch von Brechts Theaterkonzept.53 Gleichwohl dreht Brecht das Marx’sche Diktumvon der bewusstseinsbestimmenden Kraft des Seins54 nicht einfach um. Vielmehr verklammert er Sein und Bewusstsein in seiner »Mythologie des Alltags avant la lettre«. Unsere Lebensbedingungen haben Werkcharakter, sind nicht natürlich und nicht selbstverständlich. Brecht spricht demgemäß im Kleinen Organon davon, dass die historischen Bedingungen unter denen wir leben nicht von »dunkle[n] Mächten«, sondern »von Menschen geschaffen und aufrechterhalten« werden.55 Das Problem ist nicht, dass die historischen Umstände Werkcharakter haben, sondern dass dieser Werkcharakter durch Rhetoriken des Tatsächlichen verschleiert wird: »Etwas Licht, und es treten Menschen in Erscheinung als Verursacher der Katastrophen! Denn wir leben in einer Zeit, wo des Menschen Schicksal der Mensch ist.«56 In seiner Theaterkonzeption verknüpft Brecht also, sicher inspiriert vom Verfestigungsparadigma der Marx’schen Theorie57 , Epistemologie und kritische Intervention. Den Knotenpunkt bildet auch bei ihm, obgleich der Begriff nicht weiter ausgearbeitet wird, das Selbstverständliche. Dieses ist so beschaffen, dass es die Einsicht in das Prozesshafte kultureller Weltgestaltung trübt: »Allenthalben treffen wir auf etwas, das zu selbstverständlich ist, als daß wir uns bemühen müßten, es zu verstehen.«58 Die Schwierigkeit, diesen Mechanismus nachhaltig zu brechen 52 53 54 55 56

57 58

Hierzu ausführlicher Rasch, Bertolt Brechts marxistischer Lehrer, S. 989. Vgl. ebd., S. 997f. MEW 13, S. 9. GBA 23, S. 79. GBA 22.1, S. 79 (Herv. M. R.). Großer historischer Bezugspunkt Brechts ist hier die Rhetorik der nationalsozialistischen Diktatur: »Sie reden viel vom Schicksal«, schreibt Brecht mit Blick auf deren Rhetorik (ebd., S. 87). »Die Zeiten der äußersten Unterdrückung sind meist Zeiten, wo viel von großen und hohen Dingen die Rede ist«, so außerdem in dem Essay Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, den er 1934 nach eigener Aussage »zur Verbreitung in Hitlerdeutschland« verfasste (ebd., S. 74 sowie die dazugehörigen Anmerkungen in GBA 22.2, S. 905). In Zeiten wie dieser ist es nicht erwünscht, zu begreifen, sondern hinzunehmen und zu empfinden. Die ›großen und hohen Dinge‹, von denen Brecht spricht, sind jene mythischen Begriffe analog zur ›Grand Nation‹, die Barthes im Titelbild der Zeitschrift Paris Match erblickt (vgl. MdA, S. 125). Brecht selbst meint zunächst natürlich vor allem die von der NSPropaganda bemühten Motive wie ›Mutterpflichten‹, die ›Gemeinschaft zum Tode‹, die der ›jüdisch-bolschewistischen Verschwörung‹ widersteht und dergleichen. Im Kapital spricht Marx von der »Gallerte […] menschlicher Arbeit«, beschreibt also einen Verfestigungsprozess, vgl. MEW 23, S. 52. GBA 23, S. 81.

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Kultur in Stücken

besteht darin, dass das Selbstverständliche selbst unsichtbar bleibt. Brecht fragt: »[…] wer mißtraut dem, was ihm vertraut ist?«59 Ich denke, dass sich hier ein Unbehagen gegenüber kulturellen Hervorbringungen artikuliert, das in einem Gespür dafür gründet, dass Kultur »Handlungsnebenfolge«60 ist, unserem Blick also zumeist entzogen bleibt und eben gerade dadurch ihre Entlastungsfunktion erfüllt. Dass das Selbstverständliche uns der Mühsal der Ausdrücklichkeit enthebt, macht es so elastisch und erschwert Widerstand. Daher können offensive Formen, wie etwa das Argument, gegen es nichts ausrichten, es ist zu sublim. Das Selbstverständliche ist für Brecht eine Form epistemischen Ungenügens, die scheinbar paradoxe Form eines unverständigen Verstehens. Mit einer Übertragung der im ersten Teil meiner Untersuchung dargestellten Begrifflichkeiten Gottscheds lässt sich diese scheinbare Paradoxie auflösen: Obwohl wir im Alltag von Selbstverständlichkeiten umgeben sind und mit ihnen unser Leben bewältigen, sind wir doch Nichtbegreifende, wenn es um die Einsicht in die Arbitrarität unserer Umstände geht. Diesem Ungenügen entsprechend schreibt Brecht über die Menschen seiner Zeit: »Sie haben freilich die Augen offen, aber sie schauen nicht, sie stieren«.61 Es ist der Einsatz des – mit Barthes gesprochen – listigen Theaters Brechts, der Hermetik des Selbstverständlichen eine subversive Hermetik entgegenzusetzen. Diese klärt den Blick nicht, sondern verschließt das Auge, damit geschaut werden kann. Der hermetische Charakter des Brecht’schen Theaters deutet sich im Dialog über die Schauspielkunst an. Hier bringt Brecht die Möglichkeit ins Spiel, zu schauen und zu lernen, ohne den Gegenstand völlig transparent zu machen und das Publikum dadurch bloß über konkrete Inhalte zu belehren: Frage: ›Du meinst, die Amöbe, wenn sie beobachtet wird, biedert sich dem Menschen nicht an. Er kann sich in sie nicht einfühlen. Aber der wissenschaftliche Mensch versucht, sie zu verstehen. Versteht er sie wenigstens am Ende?‹ Antwort: ›Ich weiß nicht. Er wünscht sie in Zusammenhang zu bringen mit den andern Dingen, die er gesehen hat.‹ Frage: ›Also soll der Schauspieler nicht versuchen, den Menschen, den er darstellt, verständlich zu machen?‹ Antwort: ›Nicht so sehr den Menschen, mehr vielleicht die Vorgänge. Ich meine: Wenn ich den dritten Richard sehen will, will ich mich nicht als dritter Richard fühlen, sondern ich will dieses Phänomen in seiner ganzen Fremdheit und Unverständlichkeit erblicken.‹62

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Ebd. Konersmann, Kultur als Metapher, S. 327. GBA 23, S. 75. GBA 21, S. 280.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

Im Projekt einer speziell theatralen Ermöglichung des »fremden Blicks«63 – Brecht denkt hier an Galilei, ich denke an Barthes – begegnet uns zwar durchaus der aporetische Enthüllungsgestus des Mythologen. Bei der Enthüllung im Sinne Brechts handelt es sich jedoch zum einen um Freigabe des Blicks auf fundamentale, untilgbare Unverständlichkeit. Zum anderen erfolgt sie durch Verhüllung mithilfe der spezifischen Qualität des Ästhetischen64 und kann daher trotz allem im Sinne der Postrestitutivität bestimmt werden.

Verstehen und Fühlen Sein interventives Potential lässt das traditionelle bürgerliche Theater, so Brecht, unausgeschöpft. Auch für ihn ist es, wie für Barthes, einer der Agenten des Selbstverständlichen. Ausgehend von den beiden Denkern lässt sich seine Form als Paradoxie enthistorisierender Geschichten charakterisieren. Hierzu tragen insbesondere zwei seiner formalen Beschaffenheiten bei, die freilich ineinandergreifen: Erstens die iterative Festigung des Selbstverständlichen, die als Leistung einer autonomen, vernunftgemäßen Einsicht des Zuschauers erscheint. Zweitens die verstehende Einfühlung, die den Zuschauer emotional in den Status quo involviert und Kritik so verunmöglicht. Bei beiden handelt es sich, so meine These, um verzerrte Ausgaben der Theatralität der Distanz und der Theatralität der Signifikanz. Im Fadenkreuz dieser beiden formalen Beschaffenheiten zielt Brechts Kritik am bürgerlichen Theater auf jene Phänomene, die nach Barthes das mythische Weltverhältnis bestimmen: »[D]ie bürgerliche Ideologie ist wissenschaftsgläubig oder intuitiv, sie konstatiert das Faktum oder nimmt Werte wahr, lehnt aber die Erklärung ab. Die Ordnung der Welt ist ausreichend oder unsagbar, niemals ist sie bedeutend.«65 Durch die Anlage seiner Figuren wie auch durch die Stringenz der Erzählung beschwört das herkömmliche Theater die Statik des Natürlichen und damit die Unausweichlichkeit der Umstände. Obgleich die Stringenz des klassischen Handlungsverlaufs die Form geschichtlicher Tiefe aufweist, gilt diese Historizität allerdings nicht für die Rahmenbedingungen der Handlung, so Brecht 1936 in dem Essay Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst: Das Milieu ist so eigentümlich unwichtig, rein als Anlaß aufgefaßt, es ist eine variable Größe und etwas eigentümlich Unmenschliches; es existiert eigentlich ohne den Menschen, es tritt ihm als geschlossene Einheit gegenüber, ihm, dem immer Unveränderten, der fixen Größe.66

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GBA 23, S. 82. Die entsprechenden Strategien werde ich in den Abschnitten II.2.3 und II.2.4 ausführlicher beschreiben. MdA, S. 129. GBA 22.1, S. 208.

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Allerdings steht das bürgerliche Publikum durchaus unter dem Einfluss des neuzeitlichen Wissenschaftsparadigmas, wendet es aber nicht gegen die Kultur: »Als Menschen dieser Zeit haben Sie [die Zuschauer, M. R.] das Bedürfnis, Ihre Kombinationsgabe spielen zu lassen, und sind steif und fest gesonnen, Ihr Organisationstalent gegenüber dem Leben […] Triumphe feiern zu lassen.«67 Das herkömmliche Theater ist also nicht ohne epistemischen Gehalt. Allerdings ist die Erkenntnis des bürgerlichen Theaters nur eine Scheinerkenntnis, da nicht wirklich transgressiv. Vielmehr schmiegt sich die hegemoniale Festigung des Status quo in die Koordinaten des neuzeitlichen Rationalitätsparadigmas ein, indem Scheinurteile ermöglicht werden, die den Raum des Selbstverständlichen nicht überschreiten: »Ich wußte, Sie wollen ruhig unten sitzen und Ihr Urteil über die Welt abgeben sowie ihre Menschenkenntnis dadurch kontrollieren, daß Sie auf diesen oder jenen setzten.«68 Die einzige Erkenntnis, die das bürgerliche Theater also bereithält, ist die bestätigende Tautologie des Selbstverständlichen. Dieses erhält hierdurch die beruhigende Sicherheit und Stabilität des Vernunftförmigen. Was es tatsächlich vermag, nämlich die Welt zu organisieren, wird hier in verabsolutierender Form künstlerisch propagiert. Die Welt erscheint dann durch die Logik der ökonomistischen Rationalität beherrschbar. Das Theater wird zum Selbstberuhigungsorgan derjenigen, die die Moderne fürchten. Wie für Barthes, so gibt es auch für Brecht durchaus Veränderungsversuche unter seinen Zeitgenossen, insbesondere mit avantgardistischem Anspruch. Diese verbleiben jedoch oftmals auf der Ebene formaler Spielereien, die mühelos in die Logik des Selbstverständlichen eingespeist werden können, die für Brecht eine Sachwalterin der kapitalistischen Wirtschaftsform ist. Der leere »Formalismus« der Inszenierungen, die auf das Spektakuläre aber zugleich Überflüssige setzen, repräsentiert für Barthes die Verbrüderung von Kunst und Kapitalismus, insofern die Inszenierung »sich vor allem als eine diskontinuierliche – infolgedessen kalkulierbare – Aufeinanderfolge formal gelungener Episoden« und daher als vermarktbar erweist.69 Die Diagnose der Ökonomisierung auch scheinbar widerspenstiger Kunsterfahrung teilt Brecht also mit Barthes. Das Produkt, welches das bürgerliche Theater dem Zuschauer zum Kauf anbietet, ist nicht bloß Sensation, Spek67 68 69

GBA 21, S. 117. Herv. i. O. Ebd. MdA, S. 22. Barthes’ Urteil deckt sich mit Brechts, der schreibt: »Die formalistische ›Erneuerung‹ der klassischen Werke ist die Antwort auf die traditionsgebundene, und es ist die falsche Antwort. Das schlecht konservierte Fleisch wird sozusagen nur durch scharfe Gewürze und Saucen wieder schmackhaft gemacht.« (GBA 23, S. 317.) Für Brecht spricht nichts gegen die Aufführung alter Stoffe und vergangener Ereignisse, ebenso wenig spricht etwas gegen Schocks und Brüche, allerdings muss sich der Künstler immer fragen, ob er diese Stoffe und Techniken im Dienste des Status quo einsetzen will oder nicht.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

takel, großes Gefühl, sondern das, was hierüber abgeglichen und bestätigt wird: Verstehen als situatives Orientiertsein. »Ich denke mir, Sie wollen für Ihr Geld bei mir etwas vom Leben sehen«70 , schreibt Brecht. Dieses ›Etwas‹ ist allerdings kein willkürlicher Ausschnitt, den die Zuschauenden aus bloßer Neugierde oder Wissensdurst studieren: Sie wollen die Menschen dieses Jahrhunderts in Sicht kriegen, hauptsächlich seiner Phänomene, deren Maßregeln gegen ihre Nebenmenschen, ihre Aussprüche in den Stunden der Gefahr, ihre Ansichten und ihre Späße. […] Und natürlich wollen Sie auch guten Sport haben.71 Das Inkommensurable wird hier in mundgerechten Stückchen konsumierbar, indem in der Form der Proposition über es gesprochen und geurteilt werden kann. Es existiert nur noch als Sensation und wird daher getilgt, zumindest in der menschlichen Wahrnehmung. Es ist, mit Adorno und Horkheimer,72 ein und dieselbe instrumentelle, berechnende Vernunft, die den Mythos und, als seine Verlängerung, den Kapitalismus hervortreibt. Mythos und Kapitalismus sind auch für Brecht Geschwister.73 Indes, nicht nur die Berechnungen der instrumentellen Vernunft, die distanzierte Beurteilung verheißen, wo sich doch nur tautologische Verstrickung ereignet, verhindern die kulturelle Redynamisierung. Die instrumentelle Vernunft besitzt ihre emotionale Entsprechung im Phänomen der Einfühlung. Auch diese Theaterauffassung ist dem alten Wahrheitsbegriff der Restitution verpflichtet, insofern sie darauf abzielt, »Natur […] aus[zu]drücken« statt zu »erklären«74 – so als könne sie sich menschenunabhängig und dennoch für seine Ohren aussprechen, als müsse sich der Mensch keinen Reim auf sie machen. Das Theater der Einfühlung bedient ein tiefsitzendes Bedürfnis: Die Zuschauer wollen nämlich, so Brecht, »eine widerspruchsvolle Welt mit einer harmonischen 70 71 72

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GBA 21, S. 117. Ebd. »Aufklärung schlägt«, so Adorno und Horkheimer, »in Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte. […] In der Prägnanz des mythischen Bildes wie in der Klarheit der wissenschaftlichen Formel wird die Ewigkeit des Tatsächlichen bestätigt und das bloße Dasein als der Sinn ausgesprochen, den es versperrt. Die Welt als gigantisches analytisches Urteil […] ist vom gleichen Schlage wie der kosmische Mythos, der den Wechsel von Frühling und Herbst an den Raub der Persephone knüpfte.« (AGS 3, S. 44.) Für Adorno und Horkheimer unterscheiden sich »Mythologie« und »Logistik des Denkens« jedoch dadurch, dass erstere immerhin noch die »Reflexion auf sich« enthält (AGS 3, S. 55). Zudem besteht Brecht, ebenso wie die Denker der Kritischen Theorie, auf einem Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus: »der Faschismus kann nur bekämpft werden als Kapitalismus«, vgl. GBA 22.1, S. 78. Hintergrund ist auch hier, so denke ich, die Verschlingung des rationalistischen Wahrheitsbegriffs mit essentialistischem Denken. SzT, S. 187f.

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vertauschen«.75 Alles in diesem Theater ist auf leichte Identifizierung und Erfüllung des Aktualisierungswunsches des Zuschauers ausgerichtet, sodass »jedermann sogleich sagen kann: Ja, so ist es.«76 Das bloße Haben von Gefühlen ist hier ein Wert, der überdies mit der Forderung verknüpft wird, das »Richtige« zu empfinden. Der Zuschauer erwirbt, für Brecht wie für Barthes, mit der Eintrittskarte also Zutritt zu einem wohltemperierten Raum des Empfindens.77 Dass er sich in der Situation, die auf der Bühne stattfindet, intellektuell wie emotional zurechtfindet, macht den Theaterabend zu einem lustvollen Erlebnis im Sinne der Barthes’schen Lebenskunst, die er in Die Lust am Text als kulturelle Komplizenschaft charakterisiert.78 Mit Brecht jedoch kann darüber hinaus die Notwendigkeit erkannt werden, Empfindung und Engagement zu unterscheiden. Auch das dialektische Theater macht sich, wie noch gezeigt wird, die spezifischen Qualitäten des Emotionalen für seine Lusterzeugung zunutze: Brecht ist kein Gefühlsverächter. Allerdings wird hier eine wache Lust, ein emanzipiertes Gefühl gesucht, keine dumpfe Einlullung durch die Selbstbelohnungsmaschine Theater.79 Emotionalität wird für Brecht vor allem dann problematisch, wenn die Handlungen aus dem Charakter als »mit Naturgesetzlichkeit hervorgehend dargestellt«80 werden. Das heißt: Wenn man die Menschen zu gut versteht, kann man sie nicht

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GBA 23, S. 76f. Die Verewigung des Menschen im bürgerlichen Theater wirft für Brecht die Frage nach der Möglichkeit einer »Dramatik der Widersprüche und dialektischen Prozesse« auf (ebd., S. 151). Wenn der »Held nur Heldisches« tun kann hat das Folgen für die Auslegung des aufgeführten Textes: Die Brisanz etwa, dass der Humanist Faust einen Pakt mit dem Teufel eingeht wird, so Brecht, einfach »weggespielt« (ebd., S. 318). Ebd., S. 76. Barthes schreibt: »In einem neuen Stück […] hatte man den Eindruck, einer entsetzlichen physischen Anstrengung beizuwohnen, einem ungeheuerlichen Auswringen der inneren Gewebe, als ob die Leidenschaft ein großer nasser Schwamm sei, der von der eisernen Faust des Regisseurs ausgedrückt wird. Die Absicht dieses viszeralen Sturms versteht man sehr wohl: aus der Physiologie ein quantitatives Mittel machen, das Lachen oder den Schmerz zwingen, einfache metrische Formen anzunehmen, so daß auch die Leidenschaft eine Ware werde, ein Gegenstand des Handels, eingepaßt in ein Tauschsystem: ich gebe dem Theater mein Geld, und dafür verlange ich eine gut sichtbare, nahezu berechenbare Leidenschaft.« (MdA, S. 20.) Brecht formuliert das Phänomen wie folgt: »Denn der Zuschauer wünscht in den Besitz ganz bestimmter Empfindungen zu kommen.« (GBA 23, S. 76.) Ich gehe in Kapitel II.3 ausführlich auf Barthes Lustkonzeption ein. Es sei hier aber vorab gesagt, dass für Barthes ein verstehendes Sich-Orientieren eine lustvolle Erfahrung ist, für die Menschen so weit gehen, Widersprüche und Ungereimtheiten zu ignorieren und willig in die scheinbaren Selbstverständlichkeiten ihrer Kultur einzutauchen: »der Text der Lust, das glückliche Babel« (LT, S. 8). In den Abschnitten II.2.4 und II.2.5 werde ich die wachen, emanzipierten Konzepte der Lust und des Gefühls weiter ausbestimmen. GBA 21, S. 280.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

mehr kritisieren. Auch hier wird kritische Distanznahme verunmöglicht. Das herkömmliche Theater bildet daher nur vermeintlich, da es Verständigkeit eben nie wirklich herausfordert. So gehen Schauspieler und Publikum eine Gefühlsgemeinschaft ein, die ganz auf Empathie setzt: »Sie haben etwa den Abschied darzustellen. Sie versetzen sich in Abschiedsstimmung. Sie wollen, daß das Publikum in Abschiedsstimmung gerät.«81 Zu den Zwei Mythen des jungen Theaters, wie sie Barthes in seinem gleichnamigen Essay beschreibt, gehört diese zum scheinbaren Exzess gesteigerte Leidenschaft der Darstellenden: »der Schauspieler liefert sich dem Dämon des Theaters aus, er opfert sich, er läßt sich von innen durch die dargestellte Person aufzehren«.82 Dass Barthes in diesem Text dem jungen französischen Theater Ähnliches diagnostiziert, wie Brecht fast 30 Jahre vorher dem bürgerlichen Theater, offenbart die Resilienz der mythischen Naturalisierung. Brechts Theater verfolgt demgegenüber das Außerkraftsetzen des Selbstverständlichen durch die Herstellung emotionaler Distanz. Hierzu sucht es »die Entfremdung, welche nötig ist, damit verstanden werden kann. Bei allem ›Selbstverständlichen‹ wird auf das Verstehen einfach verzichtet. Das ›Natürliche‹ muss das Moment des Auffälligen bekommen«83 . Gesucht wird also eine alternative Erkenntnisform, die weder den Gesetzen der instrumentellen Vernunft gehorcht, noch der Esoterik der Einfühlung. Nicht Verstehen, sondern Begreifen, nicht Einfühlung, aber involvierende Affizierung. Obwohl Brecht sicher großen Einfluss auf die Barthes’sche Mythologie ausgeübt hat, ist er doch immer schon über sie hinaus. Indem er, wie im Folgenden gezeigt wird, beide Theatralitäten mobilisiert, die der Distanz und die der Signifikanz. So wird der Zuschauer nicht nur zum Fremden, sondern zugleich auch zum Fetischisten.

II.2.3

Begreifen: Techniken der Distanzierung

Die Straße als signaletisches Labor Das Brecht’sche Theaterkonzept lebt – als Platz der Schau im Sinne einer begreifenden Betrachtung aus der Distanz heraus – zumindest in der Konzeption der Dreißiger- und Vierzigerjahre, also nach den interaktiven Lehrstücken, von der Distanz. Der Brecht’sche Funktionswechsel, der Wechsel von der Einfühlung zur Demonstration, besteht vor allem in einer hermeneutischen Tektonik: Kultureller Alltag wird von Brecht aufgefasst als durch wiederholtes Zeichengeben stets wieder bestätigte Sphäre des Selbstverständlichen. Für Brecht kann diese zumeist

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Ebd. MdA, S. 21. GBA 22.1, S. 63. Herv. M. R.

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kaum bewusst ablaufende Kommunikation durch einen Bruch im Selbstverständlichen ins Bewusstsein gebracht werden. Möglich ist dies ironischerweise wiederum durch das Nutzen kultureller Zeichen, allerdings mit veränderter Haltung des Schauspielers. Diese veränderte Haltung ist eine zeigende Haltung im Gegensatz zur empfindenden Haltung des traditionellen Theaters, und sie bildet die Grundlage von Brechts nichtaristotelischer, d.h. »nicht auf Einfühlung beruhende[r]« Dramatik.84 Das so konzipierte Theater ist, folgt man Brecht, ein auf Beobachtung beruhendes Theater, in seiner »Durchkältung« vom asiatischen Theater inspiriert, wie Brecht schreibt.85 Entlang der Figur einer Theatralität der Distanz lassen sich verschiedene Strategien des Brecht’schen Theaters zu einem Panorama der Störungen ordnen, die den Blick auf die Beschaffenheit kultureller Weltgestaltung freigeben. Der epistemologische Einsatz des Verfremdungseffekts besteht in der Ermöglichung einer der Barthes’schen Mythologie analogen Distanzierung vom Selbstverständlichen. Das Panorama der Verunmöglichung des immersiven Versinkens im Selbstverständlichen zeigt zwei Ebenen, auf denen Verstehen und Nichtverstehen dialektisch verschlungen sind: Die Ebene der Spielweise, die ich in diesem Abschnitt behandle, und die Ebene der Inszenierungsweise, die in Abschnitt II.2.3 analysiert wird. Freilich sind die hier isolierten Techniken von Schauspiel und Inszenierung nicht sauber voneinander zu trennen und beeinflussen sich in ihren Manifestationen gegenseitig. Gemeinsam ist ihnen das Ziel einer Ermöglichung eines begreifenden, kritischen Blicks, wie ihn der Barthes’sche Mythologe einzunehmen im Stande ist. Zwischen Zuschauer und Darsteller, wie auch zwischen Darsteller und Rolle, gilt es, einen Abstand herzustellen, so Brecht. Das Paradigma dieses Theaters ist nicht der Ausdruck, sondern das Zeigen, oder, mit Benjamin, »die Geste«86 . Statt den Zuschauer durch Einfühlung zu bannen, soll Brechts Theater einen Keil zwischen Schauspieler und Zuschauer, ja mehr noch in die Zuschauer selbst treiben. So heißt es im Dialog über die Schauspielkunst von 1929: »Nicht nahekommen sollten sich Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selber entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist.«87 Die eher düsteren, schweren Motive der Brecht-Essays der Zwanzigerjahre bergen einen fast schon Artaud’schen Klang.88 Die Stelle bezeugt aber vor allem den

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Ebd., S. 200. Ebd., S. 116. BGS II.2, S. 521. GBA 21, S. 280. Besonders, wenn Brecht im gleichen Text sein ideales Theater als »Spirituell. Zeremoniell. Rituell« bezeichnet (ebd.).

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

Facettenreichtum des hermeneutisch-epistemologischen Prismas und seine unterschiedlichen Stellungen in den strategischen Konstellationen des Brecht’schen Theaters. Neben der Erkenntnis durch Schock setzt Brecht vor allem später auf eine »Technik des Irritiertseins«89 . In beiden Fällen wird der Zuschauer gestört, allerdings in unterschiedlicher Intensität. Die Distanzierung als theatrales Verfahren lässt sich insbesondere mit dem Paradigma der Straßenszene explizieren, das Brecht 1940 im gleichnamigen Aufsatz einführt.90 Ausgangspunkt dieses Paradigmas ist die Beobachtung des Verhaltens eines Unfallzeugen, der das Geschehene für die eintreffende Polizei und andere Umstehende nachzustellen versucht. Interessant ist die Straßenszene für Brecht deshalb, weil der Straßendemonstrant nicht versucht, die Gesamtheit des Unfalls nachzustellen, sondern völlig offenlegt, dass er einen spezifischen Realitätsausschnitt gewählt hat, den er »der Begutachtung«91 empfiehlt: Unser Theater an der Straßenecke ist primitiv […]. Aber es ist unbestreitbar ein sinnvoller Vorgang, dessen gesellschaftliche Funktion deutlich ist und alle seine Elemente beherrscht. Die Vorführung hat einen Vorfall zum Anlaß, der verschieden beurteilt werden kann, der sich in der einen oder andern Form wiederholen kann und der noch nicht abgeschlossen ist, sondern Folgen haben wird, so daß die Beurteilung von Bedeutung ist. Zweck der Vorführung ist es, die Begutachtung des Vorfalls zu erleichtern.92 Statt Einfühlung erleben wir in der Straßenszene eine Lenkung des Blicks, ein Zeigen. Im Gegensatz zum bürgerlichen Theater bleibt dieses Zeigen hier sichtbar. Der Schauspieler muss für Brecht »den Akt des Zeigens zu einem künstlerischen machen«93 Dieses Modell benötigt keine Mythisierung des Bühnenvorgangs mehr, um wirksam zu sein: »Das Modell kommt aus, ohne solche Erklärungen des Theaterspielens zu benötigen wie ›Trieb, sich auszudrücken‹, ›Aneignung fremder Schicksale‹, ›seelisches Erlebnis‹, ›Spieltrieb‹, ›Lust am Fabulieren‹.«94 Das Zeigen wird hier nicht versteckt, wie etwa die technischen Beschaffenheiten einer herkömmlichen Theaterbühne.95 Die Straßenszene ist als anti-illusionis89 90 91 92 93 94 95

GBA 22.2, S. 647. Vgl. GBA 21, S. 370ff. GBA 22.1, S. 374. Ebd., S. 380f. Herv. i. O. GBA 23, S. 84. GBA 22.1, S. 378. Herv. i. O. Zu zeigen, dass gespielt wird, erlaubt dem Schauspieler auch zu zeigen, was er nicht tut. Die Alternativen dessen, was er tatsächlich tut, kann er durchscheinen lassen und so zusätzlich das Verstehen erschweren und Interpretationsmöglichkeiten streuen: »Er sagt zum Beispiel: ›Das wirst Du mir bezahlen‹ und er sagt nicht: ›Ich verzeihe Dir das‹. […] So bedeuten alle Sätze und Gesten Entscheidungen, bleibt die Person unter Kontrolle und wird getestet. Der technische Ausdruck für dieses Verfahren heißt: Fixieren des Nicht – Sondern.« (GBA 22.2,

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tisches Theater ein Theater des Zeigens. Die Behauptung einer Totalschau des Menschen existiert hier nicht, die Wahl eines Ausschnitts und damit die perspektivische Bindung des Zeugen wird nicht verschleiert. Daher kann das Gezeigte auch nicht so einfach in die Logik des Verstehens im Sinne des Selbstverständlichen überführt werden. Die an der Straßenszene orientierte distanzierte Spielweise des dialektischen Theaters zielt auf ein Auffälligwerden des vormals Unauffälligen. Erreicht wird dieses Auffälligwerden, das Erstaunlichmachen nicht allein durch emotionale Distanziertheit der Schauspieler. Im Straßenszene-Essay nennt Brecht vor allem Strategien des Merkwürdigmachens und des Bruchs: plötzliche extreme Verlangsamung alltäglicher Bewegungen, Unterbrechung einer Alltagsszene durch erklärende Kommentare, Chöre, wechselnde Plakatierung.96 Der V-Effekt nimmt seinen Ausgang also durchaus bei etwas Bekanntem. Dieses lässt er als bekannt und zugleich fremd erscheinen, wie Brecht im Kleinen Organon schreibt.97 Die Effekte des dialektischen Theaters können daher zunächst als ein distanzierendes Nichtverstehen im Sinne eines Außer-Kraft-Setzens kultureller Selbstverständlichkeiten interpretiert werden. Durch dieses erlebte Nichtverstehen wird, so die Hoffnung Brechts, ein Begreifen der Konfigurationen kultureller Selbstverständlichkeiten, die menschliches Zusammenleben bestimmen, ermöglicht: »Das Selbstverständliche wird in gewisser Weise unverständlich gemacht, das geschieht aber nur, um es dann umso verständlicher zu machen«98 , so lautet das Ziel des VEffekts, den ich daher als eine Möglichkeit der Verschränkung von Hermetik und Transgression charakterisieren möchte. Sowohl bei Brecht als auch bei Artaud finden sich noch weitere Möglichkeiten einer solchen Verschränkung, wie noch gezeigt wird. Die Singularität der Perspektive desjenigen, der zeigt und die Holzschnitthaftigkeit des gewählten Ausschnitts widersetzen sich hier der Selbstverständlichkeit. Während in der Philosophie Barthes’ das Konkrete vor allem in seiner sinnlichen Beschaffenheit als subversive Größe auftaucht und so den Rezipienten gleichsam zu sich heran zieht, finden wir in der Straßenszene zwar ebenfalls eine Form der Widerständigkeit des Konkreten, allerdings ohne Fokus auf seiner sinnlichen Be-

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S. 643.) Dadurch wird eine Erwartung, »gerechtfertigt durch Erfahrung« (ebd., S. 656) an ein bestimmtes kulturelles Möglichkeitsrepertoire gebrochen. Eine weitere dialektische Taktik ist etwa Verwendung der Worte »tatsächlich« und »eigentlich« (ebd., S. 657), denn auch sie deuten weitere Möglichkeiten des Verhaltens an und lenken den Blick des Zuschauers so auf die Potentialiät situativer Gestaltung. Sie bringen Normalerwartungen in die Schwebe und prekarisieren als verbale Zusätze das jeweils aktuell sich Abspielende. GBA 22.1, S. 377. GBA 23, S. 680. GBA 22.2, S. 655.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

schaffenheit.99 Auch in der Straßenszene widersetzt sich das Konkrete der Verallgemeinerungsbewegung des Selbstverständlichen. Allerdings beschreibt Brecht es hier nicht im Sinne der Theatralität der Signifikanz, also ohne Fokussierung auf die körperliche Jeweiligkeit des Straßendemonstranten oder Schauspielers. Diese spielt gleichwohl eine entscheidende Rolle, allerdings ist die systematische Stelle in Brechts Denken, an der sie konzeptuelle Relevanz erlangt, die Idee des Gestus. Erst mit dieser lässt sich das Paradigma der Straßenszene im Sinne einer ästhetischen Theorie der Theatralität entfalten, wie in Abschnitt II.2.4 ausgeführt wird.100 Am Straßenszenemodell des dialektischen Theaters lässt sich potentiell die Werkförmigkeit kultureller Bedeutungszusammenhänge studieren, da die Szene immer wieder anders gespielt werden kann, je nach gewähltem Ausschnitt des Geschehens gemäß der Zeigeintention des Darstellenden. Da sie zeigt, wie sich Bedeutungsgabe ereignet, lässt sie sich, so denke ich, als Modell nicht-propositionaler Erkenntnis101 lesen und wird als solche für Brechts Theater fruchtbar gemacht. Als nicht-propositionale Erkenntnis handelt es sich bei ihr um die ästhetische Variante der Barthes’schen Signaletik als Wissenschaft vom Zeichengeben. Mit einer pointierten Charakterisierung Benjamins lässt sich der exponierende Charakter der Brecht’schen Spielweise veranschaulichen und zugleich an das Barthes’sche Wissenschaftsmotiv anschließen: Der Schauspieler muss gemäß dem Paradigma der Straßenszene, so Benjamin, »[…] seine Gebärden […] sperren können wie ein Setzer die Worte«102 . Somit wird es außerdem möglich, im Theater auf gestischer Ebene mit Zitat und Unterbrechung zu arbeiten.103 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist zudem, dass mit der Entscheidung für das Paradigma der Straßenszene der Standpunkt des dialektischen Theaters und seiner Schauspieler selbst im post-alethischen Sinne verunsichert wird: Nach Brecht wäre der ideale Ideologiekritiker jemand, der seine eigene Positionalität ausstellt. Allerdings kann diese Konsequenz seiner eigenen Ästhetik die Kritik an der fehlenden Apologie seines Konzepts, die Barthes formuliert hat, nicht befrieden. Denn indem der kritisch-distanzierte Blick auf etwas gelenkt wird, wird dieses als betrachtenswert ausgezeichnet.104 Analog zum ideologiekritischen Mythologen Barthes’ lässt also auch Brecht eine apologetische Reflexion darüber vermissen, dass schon allein die Auswahl des Begutachtenswerten selbst wieder ein intentionaler Akt ist, der verschleiert werden kann oder nicht. Sowohl hinsichtlich

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Auch Brecht arbeitet mit der sinnlichen Verfasstheit des Konkreten, und zwar im GestusKonzept. Dieses wird in Abschnitt II.2.4 ausführlich behandelt. Vgl. den Abschnitt II.2.4. Zum Begriff der nicht-propositionalen Erkenntnis vgl. den Abschnitt I.2.3. BGS II.2, S. 529. Hierzu vgl. speziell den zweiten Brechtessay Benjamins (ebd., S. 535f.). RdS, S. 241.

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einer Epistemologie und Ästhetik der Distanz – ihre Aporien der bürgerlich-kapitalistischen Assimilierung eingeschlossen – als auch hinsichtlich der Fallstricke der Ideologiekritik gleicht das Brecht’sche Theater somit der Barthes’schen Mythologie. Betrachtet man sie losgelöst von der Spezifik ihrer ästhetischen Manifestation im Theater, dann lassen Brechts ästhetische Schriften die post-alethische Perspektive also bisweilen vermissen. Allerdings fordern sowohl die literarische als auch die theatrale Form, derer er sich bedient, die verschiedenen inhaltlichen Proklamationen seiner Theorie heraus. Die Dialektik zwischen Theorie und ästhetischer Praxis ist es, welche die Stücke Brechts davor schützt, zur szenischen Umsetzung ideologiekritischer Programme zu verflachen, und damit hinter die postrestitutive Perspektive der Moderne zurückzufallen.105

Zeit in Stücken: Historisierung, Szene, Geste Der Barthes’sche Mythos lebt vom Gedanken der Ewigkeit. Auch für Brecht ist das Ewigkeitsmotiv Ansatzpunkt seiner Kritik. Auf der Ebene der Inszenierungsweise kommt zunächst dem Phänomen der Historisierung ein paradigmatischer Stellenwert für die Profilierung der Brecht’schen Verfremdungsstrategien zu. Am Bezug auf die Geschichte kann jetzt bereits der pharmakonhafte Charakter kulturellen Weltgestaltens studiert werden: Obgleich nämlich Brecht sich gegen die Klassikerfixierung des bürgerlichen Theaters wendet, spielt Historisierung, im Unterschied zum bloßen Historismus des naturalistischen Theaters, das Brecht abgelehnt hat, als Verfahren der Störung für sein Theaterkonzept eine wichtige Rolle.106 Geschichtsbezug per se ist wichtig und nötig, sein Modus muss aber transformiert werden, so die Position Brechts. Auch hier gibt es die beiden Wege der verselbstverständlichenden Einfühlung und des begreifenden Betrachtens. Der Historismus des bürgerlichen Theaters unterliegt dem Einfühlungsparadigma, da es der Annahme folgt, sich in vergangene Epochen hineinversetzen zu können, sie also trotz der Inkommensurabilität des historischen Abstandes in Verstehen überführen zu können. Eigentlich jedoch fühlt man sich, hier folge ich Benjamin mit Konersmann, in die Weltsicht der Sieger – mit Barthes: den Mythos –

105 Mit dieser Interpretation folge ich Rasch, Bertolt Brechts marxistischer Lehrer, S. 997. 106 Das naturalistische, naiv historistische Theater fand Brecht vor allem durch Konstantin Sergejewitsch Stanislawski vertreten. Problematisch ist für Brecht an einem solchen Theater vor allem, dass die Vergangenheit in ihrer Andersartigkeit nicht vorkommt, sondern lediglich als romantisierte Variante des Heute vorgestellt wird. Eine fortschrittliche Ästhetik müsste nach Brecht der historischen Abständigkeit älterer Bühnenstoffe Rechnung tragen. Zum komplexen Verhältnis Brechts zu Stanislawski siehe ausführlicher Klaus-Detlef Müller: Die Funktion der Geschichte im Werk Bertolt Brechts. Studien zum Verhältnis von Marxismus und Ästhetik. Tübingen 2 1972, hier insbes. S. 31.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

ein107 und perpetuiert diese damit. Die Wahrnehmungs- und Darstellungsweise von Geschichte bringt diese somit allererst performativ hervor und gestaltet sie.108 Das Brecht’sche Theater des Nichtverstehens gehorcht einer anderen, nämlich der post-alethischen Logik, die ebenso wie das Denkens Benjamins »die Wahrheit zu einer Tochter des Augenblicks [macht]. Sie ist nicht ewig gültig, sondern hat ihre Stunde.«109 In der theatralen Umsetzung bedeutet das, dass das Gesamtgeschehen durch verschiedene Strategien – wie etwa plötzlich einsetzenden Gesang, unpassende musikalische Untermalung einer Szene, wechselnde Plakatierung im Hintergrund, Wiederholung einer einzelnen Geste – unterbrochen und somit in einzelne Augenblicke zerlegt wird, die Szene, mit Barthes, »um ihrer selbst willen kommt«110 . Der Bruch mit dem, was Barthes »Pseudo-Natur«111 nennt, führt bei Brecht zum Bruch mit einem bestimmten Verständnis des theatralen Kunstwerks. Der Gedanke der Pseudo-Natur rekurriert, so wurde in Kapitel II.1 der vorliegenden Untersuchung gezeigt, auf die Statik der Ewigkeit, die sich in der Rede vom Natürlichen verbirgt. Der Blick auf das Theaterkonzept Brechts verdeutlicht darüber hinaus, dass mit dem Gedanken der Ewigkeit auch der Gedanke einer Allheit im Sinne der perspektivischen Entbundenheit verknüpft ist: Schon vor Erscheinen des Kleinen Organons fordert Brecht mit der »Gewohnheit« zu brechen, »eine Kunstdarbietung als Ganzes aufzunehmen.«112 Die Konventionalisierung der Werkganzheit hat einen essentialistischen Effekt, da sie verschleiert, dass jedes einzelne theatrale Repräsentationsmoment im Sinne einer künstlerischen Entscheidung montiert ist. Nicht dass das Theater Geschichten erzählt, sondern wie es sie erzählt, ist also entscheidend für Brecht.113 Die Szene als »Stückchen im Stück«114 zu behandeln, bedeutet nicht, dass ein Gesamtzusammenhang gar nicht mehr besteht. Dieser ist schon allein durch die Haltung des Regisseurs gegeben. Womit das Brecht’sche Theater allerdings nach der »Krise der Rationalität«115 Schluss macht, ist die Illusion einer bruchlosen Stringenz:

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Konersmann, Lebendige Spiegel, S. 97. Außerdem hierzu Blättler und Voller, Einleitung, S. 13. Konersmann, Lebendige Spiegel, S. 98f. Ebd., S. 97. Vgl. RdS, S. 246 sowie Abschnitt II.3.2 der vorliegenden Untersuchung. MdA, S. 130. GBA 22.1, S. 200. Herv. i. O. Vorgänge und Figuren sind, auch im Theaterkonzept Brechts, auf die »Ideen des Fabelerfinders« hin zurechtgemacht, allerdings wird diese Zurechtmachung nicht länger verschleiert, vgl. GBA 23, S. 292. Ebd., S. 65. Dies geschieht etwa dadurch, dass Brecht den Szenen Überschriften voranstellt, die den Inhalt ankündigen (hierzu GBA 22.2, S. 651). Müller-Schöll, Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 187ff.

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Daß die Szenen in ihrer Reihenfolge, aber ohne viel Rücksicht auf die folgenden oder sogar den Gesamtsinn des Stücks, zunächst einfach gespielt werden, […] das hat für das Zustandekommen einer echten Fabel große Bedeutung. Diese entwickelt sich dann nämlich in widerspruchsvoller Weise, die einzelnen Szenen behalten ihren eigenen Sinn, […] und vermieden wird jene banale Durchidealisierung (ein Wort gibt das andere) und Ausrichtung von unselbständigen, rein dienenden Einzelteilen auf einen alles befriedenden Schluß.116 Hier emanzipiert sich also das Einzelne vom Allgemeinen, was ich in Abschnitt II.2.5 noch weitergehend kulturphilosophisch kontextualisieren werde. Im bürgerlichen Theater wird eine Szene zur Szene durch ihr Davor und ihr Danach. Dieser szenische Zusammenhang auf einen Schluss hin erzeugt die Illusion endgültiger Verstehbarkeit: Am Ende fügen sich alle Teile zum Ende als der Wahrheit des Stückes, die natürlich immer schon vorher feststeht, nur noch nicht erkannt werden konnte. Im Brecht’schen Theater ist es umgekehrt: Hier tritt die Szene erst mit ihrer Heraussprengung durch Unterbrechungen als Szene hervor, gewinnt sie ihr Eigenleben: Barthes fasst dieses Phänomen der Manifestation durch Spaltung – eine Form schöpferischer Zerstörung – mit Lessing im Motiv des prägnanten Augenblicks117 . Die Manifestation der Szene beschreibt Barthes hierbei als spannungsgeladenes Zugleich von Konkretion und Abstraktion: Als zwangsläufig totaler wird dieser Augenblick künstlich sein […], er wird eine Hieroglyphe sein, aus der sich auf einen Blick […] die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft herauslesen lassen […]. Diesen entscheidenden, absolut konkreten und abstrakten Augenblick wird Lessing […] als prägnanten Augenblick bezeichnen. Das Theater Brechts [bietet] Abfolgen prägnanter Augenblicke: Wenn Mutter Courage in das Geldstück beißt, das ihr der anwerbende Feldwebel hinhält, und durch diese sehr kurze Zeit des Mißtrauens ihren Sohn entkommen läßt, führt sie zugleich ihre Vergangenheit als Händlerin vor und die Zukunft, die ihr bevor-

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GBA 23, S. 294. Von Barthes’ Lessing-Import aus, lassen sich Parallelen zu Benjamins – wiederum von Leibniz herkommenden – Monadegedanken herstellen (zu Letzterem vgl. Konersmann, Lebendige Spiegel, S. 164f.). »[D]er Gegenstand wird monadologisch, indem er aus dem Kontinuum der Überlieferung herausgesprengt wird, in das er eingelassen war. […] Damit aber bestätigt das Konzept der Monade auf sehr besondere Weise das Prinzip der Diskontinuität« (ebd., S. 166). Das genaue Verhältnis von Brecht’scher Szene, Barthes’ prägnantem Augenblick und Benjamin’scher Monade kann im Umfang dieser Arbeit nicht geklärt werden. Da Barthes aber, wenn auch in ungewissem Umfang, mit den Schriften Benjamins vertraut war (vgl. Ette, Roland Barthes, S. 111f.), könnte über diesen Nexus das Verhältnis der deutschen und französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts weitergehend untersucht werden.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

steht: daß alle ihre Kinder aufgrund ihres verblendeten Krämergeistes umkommen.118 Indem Brecht diesen Verstehenszusammenhang zersprengt, soll das Versinken des Publikums ins Bühnengeschehen, die Immersion, verhindert werden: »Da das Publikum ja nicht eingeladen werde, sich in die Fabel wie in einen Fluß zu werfen, um sich hierhin und dorthin unbestimmt treiben zu lassen, müssen die einzelnen Geschehnisse so verknüpft sein, daß die Knoten auffällig werden.«119 Mit der Metaphorik Brechts lässt sich hier deutlich die Parallele zu Barthes’ Mythologie ziehen. Wie diese, so ist auch Brechts Theaterkonzept im Hinblick auf seine Momente des Unverständlichmachens durch Schock, Störung und Bruch ein Verfahren der Ermöglichung von Emersion. Es ist die mimetische Wiederholung des epistemischen Vermögens des Menschen, aus seiner eigenen Welt aufzutauchen. Damit wird hier das philosophische Verfahren des Mythologen theatral vorweggenommen. Benjamin beginnt seine erste Brechtstudie mit der Bemerkung, das Problem des heutigen Theaters sei auf die »Verschüttung der Orchestra«120 zurückzuführen. Demgemäß legt Brecht die Orchestra wieder frei und ermöglicht seinem Publikum ein Exerzitium der epistemischen Spaltung des Alltags. Hier ist, wie beim Barthes’schen Mythologen, die Theatralität der Distanz am Werk: »More than a property with analyzable characteristics, theatricality seems to be a process that has to do with a ›gaze‹ that postulates and creates a distinct, virtual space belonging to the other, from which fiction can emerge.«121 Dass Unterbrechung, die sich im Bühnengraben architektonisch manifestiert, eine Offenheit kreiert, die Erkenntniskräfte freisetzt und anregt, ist bereits bei Kant eine Eigenschaft der ästhetischen Erfahrung, die wiederum Schiller politisch fruchtbar zu machen sucht.122 In dieser Tradition stehen auch Brechts szenische 118

Ebd., S. 98. Dass die szenische Form für Barthes keine Eigenheit der klassischen Theateraufführung ist, zeigt der Blick auf seine Rezeption der klassischen Kunstgeschichte im Rahmen der Schriften zur Fotografie. Die Darstellung Napoleons auf dem Schlachtfeld etwa ist, in ihrer Überzeichnung, eine Szene. Und auch hier generiert die Unnatürlichkeit des pathetisch verdrehten Körpers Distanz beim Betrachter. 119 GBA 23, S. 92. 120 BGS II.2, S. 519. 121 Féral und Bermingham, Theatricality, S. 97. 122 Die Erfahrung des Erhabenen beschreibt Kant als Unterbrechung: Hier versagt der Verstand angesichts der Erfahrung des Formlosen, nicht in Erkenntnis Überführbaren. Genau diese Unterbrechung des Versagens stellt die Bedingung der Möglichkeit für eine eigene Erkenntnisform: Im Reflexionsurteil, das auf der Ebene des Gefühls – eben nicht des Verstandes – manifest wird, erfährt der Mensch angesichts des Erhabenen die Idee der Freiheit. Kant AA V, S. 260-269. Auch für Schiller ist das Phänomen der Formlosigkeit zentral, da es den Spieltrieb in Gang setzt und eben dadurch die Erfahrung der Freiheit als Grundlage moralischen Handelns ermöglicht. Zur Veranschaulichung vgl. Schillers berühmte Beschreibung der Ju-

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Unterbrechungen.123 Die Szenen erhalten ein Eigenleben, sodass der Zuschauer geistig beweglich bleibt: »Er muß sozusagen laufend fiktive Montagen an unserm Bau vornehmen können […].«124 Brechts Theater lädt den Zuschauer aber nicht nur zur Montage im Geiste ein, sondern verweist, indem er »die Knoten auffällig«125 macht, darauf, dass Bedeutungszusammenhänge immer schon das Ergebnis von Montagen, oder, um im Bild zu bleiben, Verknüpfungen sind. Indem der Szenenfluss aufbricht, erscheint der prägnante Augenblick zugleich als ein ausgewählter. Für Benjamin ist demgemäß die Grundform des Brecht’schen Theaters der »Chok« des Aufeinandertreffens der »einzelnen, wohlabgehobenen Situationen. Die Songs, die Beschriftungen, die gestischen Konventionen heben eine Situation gegen die andere ab. So entstehen Intervalle, die die Illusion des Publikums eher beeinträchtigen.«126 Während das Verstehen im Sinne des Selbstverständlichen sich durch einen ewigen Horizont von Traditionen, Routinen und Üblichkeiten aufgehoben wähnt, zersprengt das Theater Brechts diesen Horizont und multipliziert ihn damit gleichermaßen: Denn jetzt erst wird deutlich, »nicht, wie es eigentlich gewesen sein mag, sondern […] wie es hätte sein können«127 und damit ganz fundamental: dass es auch anders hätte sein können. Nach Konersmann impliziert Benjamin in seinem Essay Über den Begriff der Geschichte eine Verpflichtung zur Geschichtsschreibung als »Fortsetzung [vergangener] Kämpfe mit anderen Mitteln«128 , ist doch die Geschichte, die der Historismus zu schreiben sucht, immer nur die Geschichte der Sieger. Das Theater Brechts kann demgemäß als Versuch gewertet werden, die Mittel zur Erfüllung einer solchen Verpflichtung bereitzustellen. Der Zuschauer wird hier Historiker im Sinne Benjamins, der aus dem scheinbaren Kontinuum der Geschichte das Ereignis des Augenblicks freisprengt: Er »verwirft Geschichte […] schlechthin«129 . no Ludovisi (ders.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. i. A. der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller Nationalmuseums von Norbert Oellers. 20. Bd.: Philosophische Schriften Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese. Weimar 2001, S. 359f.). Ein Zusammenhang zwischen der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts und dem Gedanken der Erhabenheit ist in den letzten Jahrzehnten oft hergestellt worden, insbesondere im Umfeld der Studien Lyotards, vgl. etwa ders.: Das Erhabene und die Avantgarde. In: Merkur. 38/1984, S. 151-164. 123 Die Parallele zu Schillers Konzeption des freien Spiels teilt Brecht mit Artaud, vgl. Abschnitt II.4.4. 124 GBA 23, S. 680. Müller-Schöll spricht mit Blick auf Benjamins Brechtlektüre von der Forderung einer Vermöglichung der Geschichte (vgl. Müller-Schöll Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 182). 125 GBA 23, S. 92. 126 WBW II.2, S. 537f. 127 Konersmann, Lebendige Spiegel, S. 101. 128 Ebd. 129 Ebd. S. 162.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

Auf der Folie der von Barthes geleisteten Begriffsübertragung von Lessing auf Brecht zeigt sich, dass Brechts isolierte Szenen Simulationsmodelle für das Studium kultureller Bedeutungsgenese sind. Insofern erlaubt Brechts Theater nicht nur ein Nachdenken über die Konfigurationen des Theaters, sondern liefert Einsichten in die Konfiguration von Kultur selbst, und zwar mithilfe theatraler Repräsentationsformen, die hier als Formen nicht-propositionaler Erkenntnis in Erscheinung treten. Die Theatralität der Distanz erscheint im Rahmen des Brecht’schen Theaterkonzepts allerdings nicht, wie in Barthes’ Mythologie, als Wegbereiterin von Sterilität und Sarkasmus, sondern des Schöpferischen und Lustvollen. Es wird im Folgenden zu fragen sein, welche Verschiebungen oder Additionen mit Bezug auf das Konzept der Distanzierung erfolgen müssen, damit der Brecht’sche Zuschauer Schöpfer werden kann, nicht bloß Richter.

II.2.4

Involvieren: Technik des Genießens

Der Gestus als inkarnierte Kultur Das Theaterkonzept Brechts ist, so die These der vorliegenden Arbeit, von einer Spannung der zwei Theatralitäten – Distanzierung und Affizierung – geprägt. Beide Modi sind Modi des Nichtverstehens: Begreifen und Genießen. In diesem Spannungsfeld kommt dem Brecht’schen Konzept des Gestus130 eine besondere Bedeutung zu, da sich durch ihn, wie die folgenden Abschnitte zeigen, beide Modi ereignen können. Das Konzept des Gestus reflektiert zunächst auf die Reflexhaftigkeit, Situativität und Körperlichkeit kulturellen Verstehens: Körperhaltung, Tonfall und Gesichtsausdruck sind von einem gesellschaftlichen Gestus bestimmt: die Figuren beschimpfen, komplimentieren, belehren einander und so weiter. Zu den Haltungen, eingenommen von Menschen zu Menschen, ge-

130 Der Gestus nun ist ein »Komplex einzelner Gesten der verschiedensten Art, zusammen mit Äußerungen, welcher einem absonderbaren Vorgang unter Menschen zugrundeliegt und die Gesamthaltung aller an diesen Vorgängen Beteiligten betrifft (Verurteilung eines Menschen […], eine Beratung, ein Kampf usw.) oder einen Komplex von Gesten und Äußerungen, welcher, bei einem einzelnen Menschen auftretend, gewisse Vorgänge auslöst (die zögernde Haltung des Hamlet, das Bekennertum des Galilei usw.), oder auch nur eine Grundhaltung eines Menschen (wie Zufriedenheit oder Warten). Ein Gestus bezeichnet die Beziehungen von Menschen zueinander. Eine Arbeitsverrichtung z.B. ist kein Gestus, wenn sie nicht eine gesellschaftliche Beziehung enthält wie Ausbeutung oder Kooperation.« (GBA 23, S. 188. Herv. i. O.) Zu dieser Nomenklatur siehe weiterführend Müller-Schöll, Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 299.

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hören selbst die anscheinend ganz privaten, wie die Äußerungen des körperlichen Schmerzes in der Krankheit oder die religiösen.131 Zunächst kann der Gestus, orientiert am Schauspieler der Straßenszene, im Sinne des Verfremdungseffekts genutzt werden: Mit Barthes gesprochen wird hier, wie bereits erwähnt132 , das Zeigen zeigbar, die Geste wird Plakat. Gestische Zitate können dann, als Montageakte, die Zusammenhänge der Geschichte unterbrechen und so zur Verfremdung und begreifenden Abstandnahme im Sinne der Theatralität der Distanz beitragen. Über die emersive Spaltung hinaus offenbart sich im Brecht’schen Konzept des Gestus aber auch die immersive Qualität der Kultur und damit die scheinbare Undurchdringlichkeit des Selbstverständlichen als zum Reflex gewordenes Verstehen. Unser Theater des Alltags ist ein Totaltheater. Es umgibt uns, mit Barthes gesprochen, »wie ein Milieu«, unsere Klasse, unser Beruf, unsere Epoche etc. durchdringt uns selbst noch auf der Ebene unseres körperlichen Ausdrucks und unserer ihm zugrunde liegenden Gefühle, Stimmungen, Haltungen und Intuitionen als eine »Gegebenheit unseres Subjekts«.133 Im Konzept des Gestus offenbart sich Kultur im Brecht’schen Sinne und mit ihr »kulturelle Orientierungen als vor- und halbbewusste, als vorgreifend anerkannte und geläufige Muster […] die bereitliegen, um die Ausschnitthaftigkeit des positiven Wissens zu kontextualisieren, es zu ergänzen, zuzulassen oder auszublenden«134 . Jegliches Subversionsvorhaben wird es also mit dem Problem der Reflexhaftigkeit und des ›Vor- und Halbbewussten‹ aufzunehmen haben – das zum einen kulturelle Unterdrückung nähren kann und zum anderen den Kern der ungeheuren Entlastungsleistung kulturellen Weltumgangs bildet. Aus dem immersiven Moment des gestischen Ausdrucks erklärt sich auch, dass eine gewisse Komplizenschaft des Individuums mit den es unterdrückenden Zuständen kein Widerspruch sein muss: Was zu seinem Nachteil geschieht, muss es nicht zwangsläufig stören, und genau hier liegt die Herausforderung für jegliche Formen von Subversion und die Gefahr ihres Abgleitens in Paternalismus. Davon ist nicht zuletzt auch Brechts an der Emanzipation vor allem der Werktätigen orientiertes Theater betroffen. Hier zeigt sich darüber hinaus, dass Brechts Theaterkonzept ein hochgradig spannungsgeladenes Kulturkonzept impliziert. Das Konzept des Gestus ergänzt die in Abschnitt II.2.2 extrahierte prozessuale und postalethische Komponente der Kultur um das Element der Immersion. Kultur ist also, so müssen wir aus Brecht folgern, sowohl prozessual und transgressiv als auch immersiv und hermetisch, darauf werde ich in Abschnitt II.2.5 zurückkommen. 131 132 133 134

GBA 23, S. 89. Vgl. den Abschnitt II.2.3. RdS, S. 242. Konersmann, Metaphern für Kultur, S. 435.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

Der Gestus ist, so Brecht, eine Form der »Äußerung«, und zwar eine, die »meist recht kompliziert und widerspruchsvoll« verläuft.135 Der soziale Gestus funktioniert dennoch als Bedeutungsvermittlung von Mensch zu Mensch, er kann gelesen und interpretiert, ja verstanden werden wie eine Sprache. Im Gestus ereignet sich nichts anderes als das vorbewusste, je situativ angepasste Einnehmen eines gesellschaftlichen Platzes. Auch er ist eine verstehende und verstehbar machende Bezugnahme auf einen kulturellen Horizont. Daher müssen wir den Gestus als Konzept nicht begrifflicher Rationalität fassen. Wie auch das sich in begrifflich verfassten Aussagen ereignende Selbstverständliche handelt es sich beim Gestus um ein Phänomen, mit dem verstanden werden kann – aber eben nicht unter den Koordinaten von Reinheit und Wahrheit des Rationalitätsparadigmas. Auch dies zeigt das dialektische Theater, indem es den Gestus zitiert, von einer Szene in die nächste importiert. Der Gestus ist sodann körperlicher Ausdruck der kulturellen Jeweiligkeit des Individuums oder kurz: inkarnierte Kultur. Ich interpretiere ihn inspiriert von Barthes’ Literaturtheorie als Summierung innerer und äußerer Haltungen. Als eine solche ist er eine Legierung der Vertikalität individueller Geschichtlichkeit – d.h. auch biologischer wie biographischer –, und der Horizontalität kultureller Geschichtlichkeit.136 Der Gestus kann, dies betont Brecht vor allem, für den kritisch-distanzierten Blick auf die Horizontalität der gesellschaftlichen Zustände einer Zeit eingesetzt werden, etwa im Sinne des spaltenden und verfremdenden Zitats, das Nichtverstehen als Begreifen ermöglicht. Das Konzept kann aber auch, so denke ich, an den Gedanken des Nichtverstehens im Sinne der Barthes’schen Jouissance angeschlossen werden, bei der sich die Materialität des Zeichens der Verselbstverständlichung entzieht und hierdurch subversiv wirkt. In Die Lust am Text deutet Barthes das Thema der Brecht’schen Lust an, ohne es jedoch weiter zu explizieren: »Brecht hat […] eine Ästhetik der Lust entworfen; von all seinen Vorschlägen vergißt man diesen am häufigsten.«137 Der Körper kann verfremden oder affizieren, wobei die Verfremdung leichter strategisch steuerbar ist, die Affizierung gemäß der Theatralität der Signifikanz, wie schon erwähnt138 , ereignishaft bleibt. Ich werde also im Folgenden mit Barthes einen Brecht der Jouissance, der Theatralität der Signifikanz figurieren.139 Eine

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GBA 23, S. 89. Das Bild von vertikaler Individualität und horizontaler Kulturalität entlehne ich Barthes Literaturkonzeption, vgl. NdL, S. 16f. Ich komme in Abschnitt II.2.5 darauf zurück. LT, S. 87. Zum Verhältnis der Begriffe Lust und Jouissance bei Barthes sowie den Schwierigkeiten ihrer Übersetzung siehe ausführlich Abschnitt II.3.2 der vorliegenden Untersuchung. Vgl. die Abschnitte II.1.3 und II.3.2. Auch Siegmund verweist auf die Nähe des Brecht’schen Gestuskonzeptes zur Theatralität der Signifikanz, wie sie Barthes in seinem Baudelaire-Aufsatz beschreibt (Siegmund, Jérôme Bel, S. 87).

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solche Lektüre hat, so wird gezeigt, Einfluss auf die systematische Bestimmung des interventiven Potentials des Brecht’schen Theaters, das nun nicht einfach eine Didaxe etwa politisch-weltanschaulicher Art darstellt140 , sondern eine wirkende Hermetik im Sinne des Pharmakongedankens.

Der Gestus als Figuration der Spannung Benjamin legt in seiner Brechtstudie das dialektische Theater entlang eines Brechtzitats aus, gemäß dem »die Bühne ihrer stofflichen Sensationen« zu berauben sei.141 Ich denke diesen Punkt allerdings, ausgehend vom Barthes’schen JouissanceBegriff wie auch vom Theater Artauds, mit Brecht gegen Brecht. Mit dem Konzept des Gestus manifestiert sich nämlich auch bei ihm – hier liegt eine Parallele zu Artaud – ein Denken der Kultur von ihrer ästhetischen Beschaffenheit her. Auch Brecht setzt auf eine Heterogenität sinnlicher Formen, auf Musik, Pantomime und Tanz: »Den allgemeinen Gestus des Zeigens […] betonen die musikalischen Adressen an das Publikum in den Liedern.«142 »Jedenfalls kann ein Theater, das alles aus dem Gestus nimmt«, so Brecht außerdem, »der Choreographie nicht entraten. Schon die Eleganz einer Bewegung und die Anmut einer Aufstellung verfremdet, und die pantomimische Erfindung hilft sehr der Fabel.«143 Wichtig bleibt jedoch für ihn, dass diese Formen sich gegenseitig unterbrechen, sodass keine von ihnen zu immersiv wirkt. Dies gilt besonders für die Musik: »Deshalb sollten die Schauspieler nicht in den Gesang ›übergehen‹, sondern ihn deutlich vom übrigen absetzen, was am besten noch durch eigene theatralische Maßnahmen, wie Beleuchtungswechsel […] unterstützt wird.«144 Zugleich besteht auch Brecht hier durchaus auf der Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit sinnlicher Formen: »Die Musik muß sich ihrerseits durchaus der Gleichschaltung widersetzen, die ihr gemeinhin zugemutet wird und die sie zur gedankenlosen Dienerin herabwürdigt.«145 Barthes hat Brecht anerkennend ein Nachdenken über den Signifikanten attestiert, im Gegensatz zur breiten Masse der Marxisten.146 Die systematische Stelle 140 Hierzu auch Rasch: »Das Bewußtmachen der Widersprüche, die in der Wirklichkeit dem Menschen verborgen bleiben […] mittels der Verfremdung des Gewohnten setzt das Nachdenken des Zuschauers gerade dann in Gang, wenn ihm die Richtung der möglichen Veränderung nicht ausdrücklich gewiesen wird.« (Rasch,Bertolt Brechts marxistischer Lehrer, S. 997.) 141 BGS II.2, S. 525. 142 GBA 23, S. 95. 143 Ebd., S. 96. 144 Ebd., S. 95. 145 Ebd. Für Brecht kann auch die Musik Stellung nehmen, etwa, wenn Eisler im Brechtstück Leben des Galilei die an sich fröhliche Fastnachtsszene mit »bedrohliche[r]« Musik unterlegt. 146 Auch Brecht kritisiert etwa die deutsche Kultur für ihre Tendenz zur Entkörperung: »[B]ei uns rutscht sehr leicht alles in das Unkörperliche und Unanschauliche, worauf wir anfangen,

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

dieses Nachdenkens wird von Barthes allerdings nicht benannt. Ich verorte sie in Brechts Konzept des Gestus‹ und in der Bedeutung, die er den »Schwesterkünste[n] der Schauspielkunst«147 beimisst. Müller-Schöll beschreibt in seiner umfangreichen Brechtuntersuchung den Gestus als Modus von »Distanz und Identifikation«148 . Übertragen auf das Denken Barthes’ spricht sich, so denke ich, im Konzept des Gestus dann ein zwischen Freiheit und Erinnerung mäanderndes Verhältnis von Individuum und Kultur aus.149 Und in der Tat kann der Gestus im Sinne der Dialektik von Verstehen und Nichtverstehen wirken, die im vorigen Kapitel beschrieben wurde. Mit der Ausstellung des Gestus‹ bricht das Verfremdungstheater die Selbstverständlichkeiten des bürgerlichen Illusionismus und offenbart zugleich das alltägliche Hantieren und körperliche Sich-Verhalten als Vorgänge der Bedeutungsgabe. Die Unbeherrschbarkeit der körperlichen Jeweiligkeit jedoch vermittelt durch die Ausstellung der körperlichen Vorgänge das kulturphilosophisch relevante Spannungsverhältnis von Einzelnem und Allgemeinem. Im Gestus erscheint es als Verhältnis gegenseitiger Formung und vergegenwärtigt so die Veränderbarkeit kultureller Tatsächlichkeit wie auch ihre immersive Wirkung. Ausgehend vom Konzept einer Theatralität der Signifikanz aber müssen die Pole jener Spannung, die den Gestus auszeichnet, anders gefasst werden. Der Gestus kann distanzieren, er kann aber auch gemäß der Theatralität der Signifikanz wirken, wobei hier dann allerdings keine Identifikation stattfindet, sondern eine erotische Affizierung durch den Riss des Bedeutungsgefüges.150 Im Gestus wird der menschliche Körper als Signifikant auffällig: als selbstverständliche Weise sich zu halten, seinen Körper zu führen, mit Gegenständen zu hantieren, zu sprechen. In Die Lust am Text beschreibt Barthes den Körper als innerliche und äußerliche Pluralität: Ich habe einen Verdauungskörper, einen Brechreiz erregenden Körper, einen dritten mit Migräne […]: einen Körper der Sinne, der Muskeln […], der Säfte, vor allem: einen fühlenden: bewegt, in Bewegung, abgeklärt oder begeistert, oder verängstigt, ohne dass es nach außen träte151 .

von einer Weltanschauung zu sprechen, nachdem die Welt selber sich aufgelöst hat. Selbst der Materialismus ist bei uns wenig mehr als eine Idee. […] Unser Tun hat nichts von einem fröhlichen Sich-Umtun, und um uns auszuweisen, verweisen wir nicht darauf, wieviel Spaß wir mit etwas gehabt haben, sondern wieviel Schweiß es uns gekostet hat.« (GBA 23, S. 97.) 147 Ebd., S. 96. 148 Müller-Schöll, Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 301 und weiterführend S. 304. 149 NdL, S. 20. Für Barthes war der Begriff des Gestus – obwohl oft verspottet – einer der besten und klarsten, »den die dramaturgische Reflexion jemals hervorgebracht hat« (ESS, S. 98). 150 Hierzu ausführlich Abschnitt II.3.2. 151 LT, S. 29 sowie 69.

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Daneben aber gibt es für Barthes auch einen »sozialisierten, mythologischen, künstlichen […] und öffentlichen […] Körper«.152 Daher sind auch Körper und Gefühl kontextgebunden und existieren nicht unmittelbar und natürlich.153 Die Jeweiligkeit der schauspielerischen Verkörperung154 schreibt dem Bühnenvorgang zudem ein Moment der Ungewissheit ein. Dieses wird potenziert durch die Fraglichkeit der körperlichen wie geistigen und emotionalen Affizierung der Zuschauer. Die Fragilität der Verkörperung ist indes kein Alleinstellungsmerkmal des Theaters, sondern die Eigenschaft immanenter Subversivität, die dem Ästhetischen eignet.155 Als Mitte der Siebzigerjahre die Signifikanz des Körpers verstärkt in Barthes’ Denken einrückt, geht er so weit, Brecht der Avantgarde zuzurechnen – dieser Lesart schließe ich mich an. Barthes gibt damit zugleich eine eigene Antwort auf die in der Brechtforschung vieldiskutierte Frage nach dem marxistischen Dogmatismus des Brecht’schen Werks: Die Avantgarde sei »keine Frage der ›Form‹ (noch weniger des ›Formalismus‹), sondern des Antriebs: Avantgarde ist immer dann anzutreffen, wenn es der Körper ist, der schreibt, und nicht die Ideologie«156 . Der Begriff Avantgarde beschreibt hier den Weg nicht-propositionaler Darstellungsformen, wie Körper oder Musik. Tatsächlich findet sich bereits im Kleinen Organon Brechts die Affirmation des eigentümlich Diffusen des Gestus, dessen »meist recht kompliziert[e] und widerspruchsvoll[e]« Äußerungen vom Schauspieler nicht nivelliert werden dürfen.157 Auch die Darstellung der Rolle und Potentiale der Musik verrät Brechts eigene Ambivalenztoleranz bezogen auf die Wirkweise seines Theaters: Die Musik kann zunächst für Brecht »in ihrer Weise zu den Themen Stellung nehmen«158 . Damit aber impliziert er zum einen die Notwendigkeit einer Unterscheidung der Formen, die sich zueinander autonom verhalten, zum anderen eine epistemische Potenz des Ästhetischen. Darin nähert er sich Artaud an. Zugleich zeitigen diese Implikationen Konsequenzen für die Frage nach der politischen Didaxe des Brecht’schen Theaters. In der Betonung der Eigenständigkeit des Ästhetischen bezeugt sich eine Haltung, die im Sinne von Lukács‹ Politik der Form die Arbitrarität kultureller Bedeutung duldet – was, will sie konsistent sein, ihre eigenen (politischen) Konzepte einschließen muss. 152 153

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Ebd. Neben der tatsächlich körperlich hervorgebrachten und ausgestellten Geste kann auch das Gefühl zur Geste werden, indem es »nach außen gebracht« wird (vgl. GBA 22.2, S. 645). Chinesische Schauspieler beobachten, so Brecht, ihre eigenen Gesten, was einen »meisterhafte[n] V-Effekt hervorbringt«, also nicht mehr rein empfunden, sondern als ein mögliches Phänomen unter vielen zur Beobachtung ausgestellt wird (ebd.). Zum Begriff der Verkörperung vgl. den Abschnitt II.1.3. Vgl. Teil I der vorliegenden Untersuchung sowie Dieter Mersch: Körper zeigen. In: Verkörperung, hg. von Erika Fischer-Lichte u. a. Tübingen 2001, S. 75-89, hier S. 88. KdS, S. 211. GBA 23, S. 89. Ebd., S. 95.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

Von der List zur Lust Mit dem Konzept des Gestus kann, in der Terminologie Barthes’, das Auseinanderdriften von Signifikant und Signifikat nicht nur theoretisch, sondern – hier bietet das Theater eine entscheidende Erweiterung der theoretischen Einstellung des Mythologen – situativ und genussvoll erfahrbar gemacht werden. Für Brecht liegt eben darin, dass es Genuss stiften kann, die Quelle seiner Würde.159 Die Lektüre des Brecht’schen Gestuskonzeptes vor dem Hintergrund der Barthes’schen Philosophie der Lust am Text erlaubt es, den Gestus als ein Phänomen der Jouissance zu bestimmen. Auch Brechts Theater zielt nicht nur darauf, das Nichtverstehen des Mythologen zu kreieren. Im Konzept des Gestus artikuliert sich auch das Bestreben, ein Nichtverstehen im Sinne der Theatralität der Signifikanz zu vermitteln, welche das Individuum in ein lustvoll-zerstörerisches Verhältnis zur Kultur setzt. Dem Genuss kommt ein besonderer Stellenwert im Kleinen Organon zu. Um das Phänomen des Nichtverstehens und die mit ihm verbundene interventive Erwartung Brechts genauer zu bestimmen, ist es nötig, den Topos des Genusses in den Koordinaten der Barthes’schen Systematik von Lust und Jouissance zu verorten. Es existiert in den Schriften Brechts ein Bedeutungsfeld des Genießens, ohne dass seine Begriffe exakte Definition erfahren würden. Zu diesem Feld rechne ich neben dem Begriff des Genusses den der Lust, der Heiterkeit, der Fröhlichkeit und des Spaßes.160 Mit allen Begriffen sind freilich unterschiedliche Akzentuierungen verbunden. Die Brecht’schen Begriffe der Lust und des Genusses sind mit den Barthes’schen Begriffen von Plaisir und Jouissance nicht zur Deckung zu bringen. Allerdings lässt sich aus den Schriften Brechts eine Linie des Denkens der Jouissance als epistemisch potentem Nichtverstehen figurieren. Betrachten wir zunächst, um sie schärfer konturieren zu können, wie Brecht die Verbindung von Genuss und Subversion innerhalb seiner eigenen künstlerischen Entwicklung verortet: Im Kleinen Organon korrigiert Brecht seine früheren Theaterversuche auf diesen Punkt hin und referiert seine eigene frühere Position als Versuch »aus dem Genußmittel den Lehrgegenstand zu entwickeln und gewisse Institute aus Vergnügungsstätten in Publikationsorgane umzubauen«161 . Lehre und Genuss scheinen sich hier auszuschließen. Demgegenüber geht es dem dialektischen Theater des Kleinen Organon aus den Vierzigerjahren nun darum, »nicht aus dem Reich des Wohlgefälligen [zu] emigrieren, sondern sich darin nieder[zu]lassen«162 . In Brechts Theater wird Lehre zur Verführung. Seine ästhetischen Strategien geben die Zustände nicht nur der kritischen, distanzierten und in Begriffe übersetzbaren Analyse preis. Mit Barthes lässt sich festhalten, dass das Werk Brechts 159 Ebd., S. 63. 160 Ebd., S. 75. Barthes hat insbesondere das Brecht’sche Diktum aufgegriffen, Kritik zur Lust machen zu wollen, diesen Gedanken nehme ich in Abschnitt II.2.5 wieder auf. 161 Ebd., S. 65. 162 Ebd., S. 65f.

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»darauf [abzielt], eine Praxis des Rucks zu erarbeiten (nicht der Subversion: der Ruck ist weitaus ›realistischer‹ als die Subversion); die kritische Kunst ist jene, die eine Krise eröffnet: die Risse schlägt, den Mantel aufspringen lässt«163 . Gegen Barthes allerdings halte ich hier am Begriff der Subversion fest, zumal Brecht selbst den Begriff der »Umwälzung«164 gebraucht. Aber auch über Brechts Selbstbeschreibung hinaus besteht ästhetische Subversivität, dies hatte ich mit Blick auf die Barthes’sche Jouissance gezeigt, in eben jenem Aufspringen des Mantels, der ja hier eine Metapher für Bedeutungsentzug darstellt, das Aufklaffen der kulturellen Textur, was Barthes im Begriff der Jouissance fassen wird.165 In der Unterbrechung des Bedeutungszusammenhangs des Selbstverständlichen offenbart sich eine – der aufspringende Mantel deutet es an – Erotik des Nichtverstehens. Diese Erotik entspringt dem Diffusen, das die Nichtverstehenserfahrungen des dialektischen Theaters kennzeichnet, da es eben das Bekannte nicht einer plumpen Utopie gemäß verwirft. Vielmehr setzt es zum einen den Zuschauer unter Spannung, da zum einen Immersion und Emersion, »Intentionalität und Nichtintentionalität«166 beständig wechseln. Darüber hinaus wechseln sich hier aber auch abschließbares, da urteilsermöglichendes Begreifen im Sinne der Theatralität der Distanz und unabschließbares167 , da Intensität ermöglichendes Nichtverstehen im Sinne der Theatralität der Signifikanz ab. Die Brecht’sche Erotik des Nichtverstehens meint indes etwas anderes als die Phänomene des Massenrausches, die zur nationalsozialistischen Mobilisierung genutzt wurden und die Adorno und Horkheimer wie folgt beschreiben: Die deutschen Neuheiden und Verwalter der Kriegsstimmung wollen die Lust wieder freigeben. Da sie aber im Arbeitsdruck der Jahrtausende sich hassen gelernt hatte, bleibt sie in der totalitären Emanzipation durch Selbstverachtung gemein und verstümmelt. Sie bleibt der Selbsterhaltung verhaftet, zu der sie die inzwischen abgesetzte Vernunft vordem erzogen hat.168 Bereits hier deutet sich an, dass andere Formen der Lust denkbar sind als die verstümmelten der faschistischen Bewegung oder der kapitalistischen Kulturindustrie. Genuss meint bei Brecht eben nicht »Fun« als härtendes, entsolidarisierendes und letztlich entemotionalisierendes »Stahlbad«.169 Die Brecht’sche Lust ist von

163 RdS, S. 242. 164 Vgl. GBA 23, S. 73. Diese Umwälzung wird allerdings entlang der Achse des Nichtverstehens näher auszubestimmen sein, dies geschieht in Abschnitt II.2.5 meiner Untersuchung. 165 Vgl. die Abschnitte II.1.3 sowie II.3.2. 166 Mersch, Posthermeneutik, S. 333. 167 Barthes schreibt über die Jouissance, sie liege außerhalb »jeder vorstellbaren Finalität« (LT, S. 77). 168 AGS 3, S. 49. 169 Ebd., S. 163.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

epistemischem Wert, wie eines seiner Fragmente nahelegt: »Es ist nämlich eine Eigentümlichkeit der theatralischen Mittel, daß sie Erkenntnisse und Impulse in Form von Genüssen vermitteln; die Tiefe der Erkenntnis und des Impulses entspricht der Tiefe des Genusses.«170 Es geht diesem Theater also nicht um rauschhafte Betäubung, vielmehr darum, »die LUST am Erkennen [zu] erregen«.171 Bei dieser genussvollen Erkenntnis soll das Theater freilich nicht stehen bleiben. Die Vergnügungen an den theatralen Abbildungen sollen »in das höhere Vergnügen gesteigert werden, das die zutage getretenen Regeln in diesem Zusammenleben als vorläufige und unvollkommene behandelt sind. In diesem läßt das Theater den Zuschauer produktiv, über das Schauen hinaus«.172 Die Hoffnung Brechts besteht darin, dass die durch das Theater lustvoll freigegebene Sicht auf die Dynamik der kulturellen Hervorbringungen den Gestaltungswillen der Zuschauer anregt und dergestalt subversive Wirkung zeitigt. Die theatrale Sichtbarmachung ermöglicht sowohl Genuss als auch epistemische Unabschließbarkeit, sie verschließt den Blick, wie bereit dargestellt, und öffnet ihn wieder, allerdings ohne Vorgabe einer Fokussierung. Die Provokation und Radikalität des dialektischen Theaters allerdings erwächst, folgt man der avantgardistischen Lesart Brechts, daraus, dass die Lust am Produzieren nicht zu haben ist ohne die Lust am Untergang des Geschaffenen – und das muss in letzter Konsequenz heißen: des selbst Geschaffenen.173 Benjamin bezeichnet mit Blick auf Brecht die »›kritische Gewalt‹« als eine, »die das Werk ›zum Stückwerk zerschlägt‹«.174 Erinnern wir uns, dass Barthes mit der Formel »Kultur in Stücken« die Szene der Jouissance verbalisiert.175 Die rauschhafte Lusterfahrung der nationalsozialistischen Massenveranstaltungen entfaltet sich entlang der Koordinaten von Verewigung und Immersion: Der rassistisch gestützte Nationalsozialismus ist die Lust am Verewigen par excellence. Seine Narrative und ihre vielfältige mediale Verbreitung zielen auf die Rauscherfahrung in der Form entindividualisierender Immersion. Genau hiergegen wendet sich das dialektische Theater mit seiner Verschränkung von Genuss, Epistéme und Kritik. Es ist ein Exerzitium des Genusses »an den Möglichkeiten des Wandels aller Dinge«176 . Gleichwohl scheint in unserer Gegenwart, nicht ein-

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GBA 24, S. 380. GBA 25, S. 428. GBA 23, S. 700. Artaud radikalisiert dies schließlich so weit, dass das Theater der Grausamkeit wesentlich als Bewegung der Versöhnung mit der eigenen Sterblichkeit aufgefasst werden kann. Der Tod ist ihm die ultimative Auflösung der Form (vgl. Abschnitt II.4.3). BGS I.1, S. 181. LTb, S. 66. GBA 23, S. 94.

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mal hundert Jahre nach Brecht, gerade die Affirmation der Dynamisierung tragischerweise dem Flexibilitätsparadigma des kapitalistischen Narrativs das Wort zu reden. Als grundlegendes Problem des Theaters des Nichtverstehens betrifft diese Tragik ebenso Barthes und Artaud und soll daher hier nur identifiziert, im Schlusskapitel meiner Untersuchung dann ausführlicher diskutiert werden.

II.2.5

Eine kulturphilosophische Hermetik

Verstehen als Umgehen: Kultur als Theater Ich fasse das Theater des Nichtverstehens als ästhetische Praxis der Reflexion der Beschaffenheiten von Kultur entlang der Paradigmen von Prozessualität und Postrestitutivität. Das Individuum ist hier nicht mehr auf natürliche Weise mit seiner Umgebung verbunden. Diese Umgebung erscheint zudem wesentlich als Raum menschlicher Werke. Das Verhältnis zwischen Individuum und Werkwelt ist im kulturphilosophischen Denken auf unterschiedliche Weise bestimmt worden. In seinem Versuch, einen Keil zwischen Individuum und Situation zu treiben, nähert Brecht das Bühnengeschehen der Urszene der Simmel’schen Kulturtragödie an. In dieser Konstellation sieht sich der Mensch der Dialektik der menschlichen Werke gegenüber, die als fixierte Formen und Institutionen zwar Resultate lebendiger Weltgestaltung sind, seine individuelle Lebendigkeit im konkreten, situativen Hier und Jetzt jedoch bannen.177 Brecht hat dieses Spannungsverhältnis von Mensch und Kultur, das Bedrängnis des Besonderen angesichts des Allgemeinen, erkannt. Diese Konstellation ist sicher auch vor dem Hintergrund der Kriege akut geworden, in denen der einzelne Mensch der allgemeinen Idee auf ganz reale Weise geopfert wurde. Entsprechend schreibt Brecht: »Wo ist er selber, der Lebendige, Unverwechselbare, der nämlich, der mit seinesgleichen nicht ganz gleich ist?«178 Die Differenz zwischen dem Singulären und dem Allgemeinen sichtbar zu machen, ist einer der Einsätze des Brecht’schen Theaters des Nichtverstehens, und zwar »indem dieser Widerspruch im Abbild gestaltet […] wird«.179 Momente des Nicht177 178 179

GSG 14, S. 194-223. GBA 23, S. 80. Ebd. Auch bei Barthes bildet das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem, von Individualität und Kultur ein Spannungsverhältnis, das sein gesamtes Denken durchzieht. Allerdings thematisiert er dieses Verhältnis zumeist auf zurückhaltendere Weise als Simmel es in seiner Lebensphilosophie tut. Im Rahmen seiner frühen Literaturtheorie bildet die Jeweiligkeit der individuellen Geschichte den schriftstellerischen Stil. Der Stil ist ein Mysterium, das aus der Tiefe der individuellen Erfahrung, körperlichen, geistigen und emotionalen Verfasstheit aufsteigt. Während die Sprache für Barthes als Horizont der Soziabilität gilt, ist der Stil ein Grenzphänomen, »fast jenseits« der Sprache. Der Stil ist Ausdruck einer individuellen Arbeit am und mit der Sprache als Allgemeinem im Sinne der Langue. Der Stil, wie auch das fotografische Punctum und die Körnung der Stimme sind jeweils Phänomene, an denen Barthes das

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

verstehens, insbesondere hervorgerufen durch die Verkörperung im Gestus, liefern insofern ein Abbild dieses Widerspruchs, als dass die Singularität der körperlichen Jeweiligkeit des Schauspielers sich der verstehenden Bedeutungsgabe zu entziehen vermag. Dies geschieht im Moment der erotischen Affizierung gemäß der Barthes’schen Theatralität der Signifikanz. Zwei Dimensionen kennzeichnen das Gestuskonzept des Brecht’schen Theaters: In der ersten, strategischen Dimension stellt er im Gestus des Zeigens den alltäglich begegnenden sozialen Gestus aus und unterläuft damit den Illusionismus der konventionellen Theateraufführung. So ist er ein Mittel der Verfremdung. Grundlage hiervon ist eine zweite, kulturkonstituierende Dimension des Gestus: Als Medium mythischer Wiederholung festigt er im Alltag kulturell Selbstverständliches, indem er es stets wieder vergegenwärtigt. Bernd Auerochs hat auf die Notwendigkeit einer semantischen Verschiebung der Übersetzung des MimesisBegriffs hingewiesen, und zwar zugunsten des Begriffs der Vergegenwärtigung.180 Über den Nexus des Gestus kann daher die theatrale, mimetische Dimension von Kultur noch über das Konzept der sozialen Rolle hinaus bestimmt werden: Die durch geschichtliche Brüche freigegebene Szene181 erscheint nämlich als Akutwerden des immer situativen Vollzugs der Beziehung zwischen Einzelnem und Allgemeinem, zwischen Individuum und Kultur, und zwar mithilfe eines wenn auch vorbewussten Moments der Schau im Sinne eines intuitiven, instantan manifesten Bescheidwissens. Nur auf Basis dieses intuitiven Wissens um die Beschaffenheiten der eigenen Kultur können die mannigfachen Rollen, die ein einzelnes Individuum im Verlauf seines Alltags spielt, überhaupt eingenommen werden. Der Gestus gibt damit den Blick auf zwei Theater frei, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielen: Zum einen das Theater der Aufführung selbst, die Institution, zum anderen das reflexhafte Theater des kulturellen Alltags. Die Art und Weise, in der die Marketenderin Mutter Courage ein Goldstück prüft, ist eine bestimmte, was mithilfe der Verfremdung, die den Gestus als Gestus ausstellt, gezeigt wird. So verliert das Hantieren mit dem Geldstück seine Vertrautheit und ermöglicht eine Verortung der Figur in einem bestimmten, historisch gebundenen kulturellen Gefüge. Kultureller Alltag wird hier erfahrbar als ein Feld komplexer, allerdings meist vorbewusster situativer Aktualisierung von Bedeutung, das heißt, des verstehenden Umgangs. Der V-Effekt Brechts zielt darauf, diese Vorgänge ins Bewusstsein zu heben, um »mit dem Urteil dazwischen kommen [zu] können«, wie er schreibt.182 Übertragen auf den Phänomenzusammenhang des Nichtverstehens Spannungsverhältnis von Einzelnem und Allgemeinem kulturphänomenologisch entfaltet (hierzu vgl. NdL, S. 14ff.). 180 Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 54. 181 Vgl. Abschnitt II.2.4. 182 GBA 23, S. 92.

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lässt sich damit von Brecht her die Entlastungsfunktion des Selbstverständlichen nochmals deutlicher profilieren: Es enthebt den Menschen der Mühsal des Urteilens, eben deshalb widersteht es den meisten Angriffen, es leistet sozusagen zu viel. Hier zeigt sich außerdem, dass Verstehen nicht auf begriffliche Vollständigkeit, Klarheit und Stringenz im Sinne der Prädikatenlogik angewiesen ist. Das Konzept des Gestus erlaubt sogar eine noch weitergehende Bestimmung kulturellen Verstehens, nämlich dass es nicht zwangsläufig an speziell begriffliche Repräsentation gebunden ist. Brechts Straßenszenemodell impliziert einen Begriff von Verstehen, welcher dem der Mythen des Alltags entspricht. Verstehen ist dann ein Umgehen mit Situationen auf Basis eines fragmentierten, fragilen Wissens unter gleichzeitiger Bezugnahme auf die eigene Rolle im Vollzug des Verstehens. Der Straßendemonstrant, der den Unfall nachstellt, rekurriert bspw. auf ein Wissen um das Justizsystem. Gleichzeitig reflektiert er, wenn auch vorbewusst, seine Rolle als Demonstrant eines Unfalls, er »performt« als Demonstrant und verhält sich entsprechend. Mithilfe dieses Modells können die hermeneutisch-epistemologischen Aspekte von Kultur wie folgt bestimmt werden: Sie ereignet sich immer schon unter Rekurs auf ein hermetisches Wissen, das durch eine eigene Rationalität charakterisiert ist, die den Umgang mit der Welt ermöglicht, ohne dass ihre Strategien jederzeit explizit gemacht werden können oder müssen oder rezeptartig bereitliegen. Der Gestus als Modell der Verkörperung bietet zudem die Chance, den wiederholenden Rekurs auf den überlieferten Horizont kulturellen Wissens als differente Wiederholung zu sehen, die sich mit dem Bild der logarithmischen Spirale veranschaulichen lässt: Was wir im Gestus sehen, ist keine künstlerische, aber dennoch eine schöpferische Improvisation, keine reine Wiederholung der Gesten und Haltungen anderer, sondern eine endlose Folge von Bezugnahme und Abweichung.

Prozess und Subversivität Ich folge Hans-Thies Lehmann darin, dass der »Wechsel der Dinge« die »Idée fixe« Brechts ist,183 was letztlich politische Konzepte als vergängliche Formen einbezieht. Beim dialektischen Theater handelt es sich um eine ästhetische Praxis, welche über die Dialektik von Verstehen und Begreifen die prozessuale Beschaffenheit von Kultur enthüllt. Der Brecht’sche Gestus vermittelt diese nicht als Abstraktum – hier zeigt sich die Nähe zu Korschs Kritik an einer allzu idealistischen Marxauslegung –, sondern als Prozess, der uns buchstäblich durch Mark und Bein geht. Dies allerdings nicht im biologistischen Sinne, sondern im Sinne einer sich körperlich manifestierenden Routiniertheit.

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Lehmann, Brecht lesen, S. 8.

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Demgemäß ist die hier theatral vermittelte Prozessualität auch nicht zu verwechseln mit einem konstruktivistischen Verfügbarkeitsphantasma.184 Die Lust am »[E]ingreifen«, von dem Brecht spricht, kann immer nur aus der Kultur selbst heraus geschehen und ist natürlich mit den Widerständen der vor- und halbbewussten Formen – Routinen, Reflexe, Träume, Haltungen – konfrontiert.185 Der Brecht’sche Eingriff ist daher kein göttlicher Eingriff. Sein Konzept gibt den Blick frei auf die Schwierigkeit, mit der interventive Vorhaben und Ansprüche konfrontiert sind. Sie besteht darin, es mit der Reflexhaftigkeit des Alltäglichen aufzunehmen, ja, diese überhaupt erst einmal sichtbar zu machen und zu bestimmen. Ohne einen Begriff von Kultur, das zeigt der philosophische Blick auf Brecht, der diese Herausforderungen des Selbstverständlichen ausmisst, verbleiben Strategien der Subversion im Utopischen. Die Sphäre des Selbstverständlichen entzieht sich dem gewaltvollen Zugriff. Der Gegenentwurf zur Gewalt, so fasst es Barthes, ist die List.186 Auf produktionsästhetischer Ebene ist es allgemein vor allem die List des Ausstellens und im Speziellen das Ausstellen des Gestus, der die verkörperte Selbstverständlichkeit in ihrer Reflexhaftigkeit dem Blick preisgibt. Des Weiteren bewirkt die List der szenischen Fragmentierung, dass der Zuschauer den Prozess der Kultur gleichsam selbst nachvollzieht: Konfrontiert mit dem Nichtverstehen als Unmöglichkeit des ungehinderten Umgangs mit einer Situation, beginnt er selbst eine Montage von Bedeutungen, ohne sie allerdings endgültig ins Stocken bringen zu können. Das Publikum wird also selbst schöpferisch, es »dichtet im Geist andere Verhaltungsweisen und Situationen hinzu und hält sie, der Handlung folgend, gegen die vom Theater vorgebrachten«187 . Daran schließt sich allerdings die Frage an, inwieweit es für dieses »KoFabulieren«188 einer Vorbildung des Publikums bedarf: Um überhaupt dichten zu können, braucht es bereits einen Fundus, ein Repertoire der Assoziationen und Verständnisse, einen – mit Barthes gesprochen – Horizont der Sprache. Auch Brechts Theater des Nichtverstehens stellt eine Hermetik dar und ist entsprechend mit denselben Problemen konfrontiert, die Barthes dem Avantgardetheater Frankreichs attestiert hat. Es benötigt einen Kreis der Eingeweihten, was auch Brecht

184 Hier folge ich Birgit Recki, die schreibt: »Die Autonomie der Kunst ist nicht zu verwechseln mit dem Fehlen jeglicher Verbindlichkeit« (dies.: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Würzburg 1988, S. 91). 185 Vgl. GBA 23, S. 82: »Es ist eine Lust unseres Zeitalters […] alles so zu begreifen, daß wir eingreifen können.« Brechts Theater sucht nicht das Argument, sondern die Auseinandersetzung mit »Gefühle[n], Meinungen und Haltungen der Menschen, in denen die jeweilige Art ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens sich ausdrückt« (ebd.). 186 Vgl. den Abschnitt II.1.3. 187 GBA 23, S. 300. 188 So Brecht in den Nachträgen zum Organon, vgl. ebd., S. 301.

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als Problem sieht: Die Produktion des neuen Theaters, wie sie ihm vorschwebt »kann zunächst ihrem Inhalt und ihrer Form nach nur von denjenigen verstanden werden, die diese Situation [d.h. diese historische Situation, M. R.] verstehen«189 . Daher verpflichtet Brecht seine Ästhetik bereits Mitte der Zwanzigerjahre darauf, »das Theater einem anderen Publikum zu erobern.«190 Dieses Publikum ist Bestandteil eines, so fasst es Müller-Schöll, »Theater[s] der Zukunft« nicht »im historischen Sinne«, sondern eines »Theater[s], das noch im Kommen ist, Theater der Zukunft oder Potentialität«.191 Freilich steht das Brecht’sche Konzept auch hier unter Spannung, ist doch eine seiner Pointen, so hatte ich gezeigt, der Gedanke der pharmakonhaften Beschaffenheit der Kultur, die die Ungewissheit der Wirkungen ästhetischer Formen einschließt.192 Der Prozess des Sich-Haltens im Schwanken, im Ungewissen ist es, der nach Samuel Weber die theatrale Zuschauererfahrung ausmacht: »The staging of ›Autumn River‹ demonstrates how theatre can be the medium of a displacement or dislocation that opens other ways, not bound to arrive at a final destination – or at least, not too soon.«193 Zwischen Immersion und Emersion, Verstehen und Nichtverstehen verläuft die Dialektik des Brecht’schen Theaters, schwankt sein Zuschauer. Damit aber vollzieht er zugleich das Schwanken der Kultur, die, folgen wir Barthes, »Grenze und Station« zugleich ist, Verfestigung und Verflüssigung, Bestätigung und Subversion.194 Brechts Theater stiftet damit zu postrestitutiver Kulturkritik an und entwirft diese als ästhetische Praxis. Darüber hinaus erscheint hier Kultur selbst zuletzt als kritisches Prinzip: Bringt man ein prozessuales, an den Herausforderungen des Alltäglichen orientiertes Kulturkonzept mit den Gedanken des dialektischen Theaters in Dialog, 189 190 191 192

GBA 21, S. 204. Ebd., Herv. i. O. Müller-Schöll, Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 324. Vgl. den Abschnitt II.2.2 der vorliegenden Untersuchung. Hierzu auch Karl Heinz Bohrer: Surrealismus und Terror. In: Merkur 23/1969, S. 921-940. Außerdem Samuel Weber zur Theatralisierung des Politischen in den Terrorakten des 11. September 2001: Samuel Weber: Theatricality as medium. New York 2004, S. 336-364. 193 Ebd., S. 28f. (Herv. i. O.). Spricht Brecht vom ›Fluß der Dinge‹, so gebraucht Weber hier, in ähnlicher Motivik, die Allegorie der Kahnfahrt, um die Besonderheit theatraler Repräsentation zu erfassen: In einer Szene des zeitgenössischen Stücks Autumn River der Peking-Oper wird die Fahrt einer jungen Frau auf einem Boot dargestellt. Hierbei ist sie beständig herausgefordert, auf dem schwankenden Untergrund stehend ein Gleichgewicht zu finden, und zwar nicht nur reagierend auf den Wellengang, sondern auch gleichsam dialogisch mit den Körperbewegungen des Bootsführers. Hinzu kommt, dass im Stück auch ein Klassenunterschied zwischen den beiden Figuren etabliert wird. Das Suchen des Gleichgewichts zwingt dabei zu einer Reziprozität und Bezüglichkeit, die unter alltäglichen Umständen niemals stattfinden würde. 194 NdL, S. 15. Vgl. auch Abschnitt II.1.1 dieser Untersuchung. Wie bereits ausgeführt verwiest auch Cassirer in seiner Replik auf Simmel auf diese Ambivalenz der Kulturformen.

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dann zeigen sich Synergieeffekte zwischen der Kultur und ihrer Subversion, sodass Erstere als mehrdimensionales subversives Prinzip gefasst werden muss. Als solches subvertiert sie sowohl sich selbst als auch die Individuen, die sie gestalten, und gibt damit immer zugleich Anlass zur Sorge und zur Hoffnung.

Wider die Apologie: Affirmation des Ungewissen Trotz seiner Brechtverehrung diagnostiziert Barthes diesem im Jahr 1975 eine entscheidende konzeptuelle Leerstelle, die auch seiner eigenen Mythologie inhärent ist. Diese Leerstelle stellt der sogenannte »apologetische Diskurs«195 dar. Barthes selbst führt an dieser Stelle nicht näher aus, worauf genau sich die Apologie beziehen sollte. Vor dem Hintergrund der ideologiekritischen Emphase, die Barthes’ Denken durchzieht, ist es allerdings naheliegend zu vermuten, dass hier die fehlende Reflexion auf die Ideologie der Ideologiekritik gemeint ist, auf ihre eigene perspektivische Gebundenheit: Der Auswahl eines künstlerischen Sujets liegt eine implizite Wertung zugrunde, insofern von den betreffenden Gegenständen gesagt wird, dass sie es wert sind, zum Sujet künstlerischer Auseinandersetzung und vor allem Kritik zu werden. Eine solche Kritik der Ideologiekritik wird mit der Krise der Wahrheit akut, wo die Unterscheidung von Ideologie und Wahrheit hinfällig zu werden beginnt.196 Hier ist kritische Distanznahme nicht mehr möglich, da es kein neutrales, wahrheitsverbürgendes Außen mehr gibt, von dem aus erkannt werden könnte, »wie es wirklich ist«. Brechts Theater erschöpft sich jedoch, so wurde in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt, nicht in bloßer Distanznahme. Hierin unterscheidet es sich fundamental von der Barthes’schen Mythologie, deren Hauptfigur seinen Zeitgenossen allenfalls durch eine Ethik des Unterlassens verbunden bleibt. Die theatrale ästhetische Praxis ist sowohl in epistemologischer als auch in subversiver Hinsicht im Wesentlichen durch Ungewissheit gekennzeichnet. Auch das Nichtverstehen ist nicht bedingungslos, insofern es an Momente des Verstehens, der Vorerfahrung geknüpft ist und besonders in der Form der Jouissance ereignishaft, also unbeherrschbar verläuft. Mit dem Aufweis einer Affirmation von Ungewissheit in der Brecht’schen Entscheidung zur Form möchte ich jüngere Lesarten der Brecht’schen Ästhetik erweitern, die eher deren avantgardistische Aspekte betonen, bis hin zu einer hier und da angedeuteten Nähe zu Nietzsche und Artaud.197 Hans-Thies Lehmann etwa identifiziert in seinen Essays einen »ande195 RdS, S. 241. 196 Vgl. das Kapitel I.1. 197 Es gibt nur einen Aufsatz, der dezidiert der Frage nach einem Brecht’schen Theater der Grausamkeit nachgeht (vgl. Rainer Nägele: Brechts Theater der Grausamkeit. Lehrstücke und Stückwerke. In: Brechts Dramen. Neue Interpretationen, hg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1984, S. 300-320). Hierbei nimmt Nägele aber nur die Artaud’sche Formel auf, ohne näher auf ihre formphilosophische Prägung einzugehen, bezüglich derer sich zweifellos einige Parallelen

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ren Brecht«, und zwar gerade gegen eine verkürzende marxistisch-didaktisierende Auslegung.198 Charakteristikum dieses ›anderen Brecht‹, so zeigt Lehmann unter Bezug auf Hans Henny Jahnns Auseinandersetzung, ist das Fehlen einer marxistischen Heilserwartung. Ich denke, dass in der Leerstelle des apologetischen Diskurses eine besondere Pointe des Brecht’schen Theaters liegt, und dass wir zwar nicht von einem apologetischen, wohl aber von einem anamorphotischen Diskurs in seinem Denken sprechen können. Hinweis darauf gibt die bereits im ersten Teil meiner Untersuchung erwähnte Stelle im Kleinen Organon: »Wenn die Kunst das Leben abspiegelt, tut sie es mit besonderen Spiegeln.«199 Dieser Diskurs manifestiert sich nicht ausschließlich, aber vor allem metatextuell, in der Entscheidung zur Form: Brecht entscheidet sich für die ungewisse Form ästhetischer Repräsentation und Subversion, die sich der Logik und den Verfügbarkeitsfantasien politischer und moralischer Grundsatzprogramme entzieht. Stattdessen offenbart ein Studium der Gedichte und der Stücke, so zeigt Lehmann, die tiefe Skepsis Brechts gegenüber der glücklichen Wandlung des menschlichen Charakters.200 Ich möchte die Position Lehmanns mit Blick auf die ästhetischen Schriften Brechts aufnehmen und unter Rückgriff auf meinen Gedanken des Pharmakons wie folgt erweitern: Der Blick auf die philosophischen Konsequenzen des Nichtverstehenskonzeptes der Texte hat gezeigt, dass Brechts künstlerische Arbeit einem Spannungsfeld Rechnung trägt. Zum einen zielt sie via Nichtverstehen auf die Einsicht in den permanenten Wandel des Kulturellen. Hierin liegt – diesen Gedanken werde ich im Anschluss an meine Untersuchung der Schriften Artauds im Schlusskapitel wieder aufnehmen – tatsächlich eine erstaunliche Nähe zum Grausamkeitskonzept Artauds. Zum anderen zielt Brecht, indem Nichtverstehen durch ästhetischen Genuss vermittelt ist, auf die Affirmation jener Ungewissheit, die sich aus dem Schicksal zur Form ergibt: Wir sind, bei allem Wandel, aktiv und passiv zur Form verdammt, und keine Apologie der Welt vermag daran etwas zu ändern.201 In diesem Punkt entspricht das Theater der kulturellen Wirk-

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zwischen Brecht und Artaud aufweisen lassen, wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat. Abgesehen von dem Aufsatz Nägeles existieren hier und da versprengte Andeutungen zu einer möglichen Nähe Brechts und Artauds. Für die Brechtforschung stellt, so Hans-Thies Lehmann, die Untersuchung einer Verbindung der beiden Theaterkünstler ein echtes Desiderat dar (vgl. Lehmann, Brecht lesen, S. 35). Hierzu ebd., S. 31-42. GBA 23, S. 96. Lehmann, Brecht lesen, S. 35. Es wäre überdies generell nach dem geeigneten Ort apologetischer Strategien zu fragen. Können und sollten sie etwa Teil einer künstlerischen Arbeit sein, oder sind sie an ihr widerstreitende Repräsentationsformen gebunden? Vielleicht wäre es, im Ausgang der Diskussionen um die fehlende Apologie Brechts geboten, noch einmal über die spezifische Potenz künstlerischer Repräsentationsformen nachzudenken. Eine Spezifik könnte etwa sein, dass

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lichkeit, denn Schauspieler und Regisseure können sich niemals sicher sein, dass ihre Intentionen sich tatsächlich rezeptionsästhetisch übertragen und dann auch noch darüber hinaus längerfristig die erhofften Wirkungen entfalten. Bezogen auf Brecht heißt das: Es ist, wie bereits angesprochen, überhaupt nicht sicher, dass das Publikum, welches Einsicht in die gesellschaftliche Veränderbarkeit gewonnen hat, diese im Sinne humanitärer Ideale fruchtbar machen wird. Es ist noch nicht einmal sicher, dass diese Einsicht überhaupt stattfindet, da sie niemals vollständig begrifflich repräsentierbar, das heißt überprüfbar sein wird. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen verliert Barthes’ am Anfang dieses Kapitels zitiertes Diktum, der »Brechtismus [sei] eine richtiggehende Kultur«202 seinen bewundernden Tonfall fast gänzlich: Wenn der ›Brechtismus‹ eine Kultur ist, dann nicht zuletzt deshalb, weil es sogar bei ihm Selbstverständliches, Unhinterfragtes, Verewigtes gibt. Zudem ist festzuhalten, dass die »Möglichkeiten des Wandels aller Dinge«203 im dialektischen Theater genussvoll erfahren werden sollen. Nimmt man diese Brecht’sche Spezifizierung ernst, so muss es sich dabei um ein genießendes Verhältnis zum Risiko und zum Verlust handeln. Theatrales Nichtverstehen ermöglicht also die Vergegenwärtigung der Ungewissheit über die Fortdauer des Bestehenden, wie auch die Vergegenwärtigung der Unsicherheit eigener Wahrnehmung: Wir haben die Situationen, in denen wir uns befinden, nie endgültig begriffen, obgleich wir uns, als permanent Improvisierende und Montierende, erfolgreich in ihnen bewegen können. Diese Ungewissheiten können verschleiert werden oder eben nicht. Aus dem letzteren Fall lässt sich, besonders mit Blick auf den Barthes’schen Anamorphosebegriff, ein alternativer Begriff von Kritik entwickeln: Sie ist dann die gestalterische Tätigkeit dieses Montierens, Improvisierens und Abspiegelns trotz Einsicht in die Vergänglichkeit und Fehlbarkeit des so Hervorgebrachten.204 In Brechts Notizen taucht Anfang der Fünfzigerjahre die Spiegelmetaphorik nochmals ausführlicher auf. Hier zeigen sich starke Parallelen zu Barthes’ anamorphotischem Kritikverständnis, das sowohl Repräsentation als auch deren Kritik als immer schon verzerrt auffasst und das der Hoffnung auf Entzerrung im Sinne der

sie als unapologetische Strategien das Privileg besitzen, Positivität zu setzen. Als Konsequenz aus der legitimen Kritik von Distinktions- und Machtmechanismen auf dem Kunstfeld – prominent etwa im Anschluss an die Kunstsoziologie Bourdieus – wäre dann aber nach geeigneteren Präsentationsformen für apologetische Diskurse zu fragen. Verlegt in den künstlerischen Prozess selbst, verkommen sie nämlich bisweilen allzu leicht zum Selbstzweck, oder – mit Barthes – zum Genre. Diese Problematik kann an dieser Stelle nur als Desiderat künftiger Auseinandersetzungen umrissen werden. 202 SzT, S. 21. Herv. i. O. 203 GBA 23, S. 696. 204 Nicht unerwähnt dürfen hier die Parallelen zur Romantikrezeption Benjamins bleiben: »für die Romantiker und für die spekulative Philosophie bedeutete der Terminus kritisch: objektiv produktiv, schöpferisch aus Besonnenheit.« BGS I.1, S. 55.

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Kultur in Stücken

Wahrheitsfindung eine Absage erteilt. Einen Satz Gustave Flauberts aufnehmend notiert Brecht: Wir müssen nicht nur Spiegel sein, welche die Wahrheit außer uns reflektieren. Wenn wir den Gegenstand in uns aufgenommen haben, muß etwas von uns dazukommen, bevor er wieder aus uns herausgeht, nämlich Kritik, gute und schlechte, welche den Gegenstand vom Standpunkt der Gesellschaft aus erfahren muß. So daß, was aus uns herausgeht, durchaus Persönliches enthält, freilich von der zwiespältigen Art, die dadurch entsteht, daß wir uns auf den Standpunkt der Gesellschaft stellten.205 Der Kritikbegriff Brechts geht also von der prinzipiellen Perspektiviertheit von Kritik und damit ihrer Involviertheit in den Status quo aus. Zudem fasst er sie transformativ, nicht analytisch: »Eine kritische Haltung des Zuschauers ist eine durchaus künstlerische Haltung.«206 Da Kritik in diesem Sinne eine Tätigkeit ist, kann sie auch weder wahr noch falsch sein, sondern immer nur produzierend. Für Brecht wird sie damit zur Meta-Performance: »diese Kritik an der Welt ist eine aktive, handelnde, positive Kritik«.207 Der Brecht’sche Zuschauer wird also in ein Spannungsfeld versetzt, in dem er zugleich Gutachter und Richter sowie Schöpfer und Genießer ist. Indem Brecht die kritische Distanznahme seiner Zuschauer mit dem Element des Genusses und der Produktivität verstrickt, erteilt er jedweder Hoffnung auf Neutralität, egal von welcher Kasteiung man sie sich verspricht, eine Absage.208 Vor dem Hintergrund der Betonung der inhärenten Produktivität des distanzierten Blicks erscheinen plötzlich auch jene Projekte kritischer Wissenschaft, die auf Negativität fußen – in unserem Zusammenhang ist besonders Barthes’ Philosophie bedeutsam, aber es wäre weiterhin nach dem Anschluss etwa der Frankfurter Schule an diesen Problemhorizont zu fragen –, einem Mythos verfallen, nämlich dem der Enthaltung. Brecht hat mit seiner politischen, dichterischen, theoretischen und inszenatorischen Tätigkeit einen Formreichtum gewählt, und bei aller Undurchsichtigkeit seiner politischen Agenda ist dieser Reichtum ernst zu nehmen. Vor diesem Hintergrund könnte eine Revision zeitgenössischer wissenschaftlicher wie auch künstlerischer Strategien der Apologie interessante Konsequenzen zeitigen, da auch diese, wie jede kulturelle Darstellungs- und Ausdrucksform, Genre werden kann. Als Figur aufgefasst kann nämlich die Diffusität Brechts auch als Widerstand gegen die Annahme gelesen werden, dass zum einen apologetisch sämtliche Motive von 205 GBA 23, S. 132. Zur Diskussion des Brecht’schen Wahrheitsbegriffs vgl. den Abschnitt II.2.2 der vorliegenden Untersuchung. 206 GBA 22.2, S. 647. 207 Ebd., S. 659. 208 Hierzu bes. BGS II.2, S. 664 sowie Müller-Schöll, Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 31.

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

Aussagen erfasst werden können und zum anderen damit irgendeine Form von Neutralität oder Absolution erlangt ist. Denn auch apologetische Reflexion ist, als Erzählung, nicht frei von positionaler Bindung, sodass sich hieran die Frage anschließt, inwieweit Gesten der Apologie selbst in Rituale der Verdeckung unseres permanenten Formens und Geformtwerdens umschlagen können. Daraus muss keineswegs folgen, dass apologetische Diskurse ihren Wert verlieren, es bleibt aber zu ermitteln, inwieweit sie zusätzlicher praktischer Strategien bedürfen, um Glaubwürdigkeit und Konsequenz zu zeitigen. Es zeigt sich hier ein grundsätzliches Problem der Philosophie nach 1945, dem Barthes schließlich methodologisch begegnen wird, wie ich in Kapitel II.3 zeigen werde. Brecht beschreibt das dialektische Theater als »Prinzip«209 und lässt auch hier wieder mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu: Man kann das Prinzip im Sinne der Verewigung interpretieren oder aber im Sinne des Wie der Gestaltung. Im Lichte der paradigmatischen philosophischen Konflikte seines Rezipienten Barthes erscheint Brechts Bezeichnung damit fast als Spurlegung für den Nachgeborenen.

II.2.6

Zusammenfassung

Im Theaterkonzept Brechts begegnet die Subversion des Nichtverstehens in zweierlei Gestalt: Als Emersion des fremden Blicks im V-Effekt und als Offenbarung der ästhetischen Jeweiligkeit kultureller Verkörperung im Gestus, die sich der Bedeutungsüberformung widersetzt. Zugespitzt formuliert, vereinen sich in Brechts Theaterkonzept die zwei Hauptfiguren der Barthes’schen Philosophie: der Mythologe und der Fetischist. Auf dem Schauplatz des Theaters konfiguriert das Theater des Nichtverstehens Brechts zwei Ebenen der Einsicht: Auf institutioneller Ebene können nun die theaterspezifischen Selbstverständlichkeiten reflektiert werden, aus denen Erwartungen der Schauspieler und Zuschauer erwachsen. Hierzu gehört etwa die Erwartung, dass überhaupt etwas erzählt wird, dass diese Erzählung von kausaler und stringenter Struktur und daher verstehbar ist, dass man emotional bewegt wird.210 Im Theater Brechts sollen diese Selbstverständlichkeiten unterwandert werden, sodass ein bloß verstehender, die Gepflogenheiten und Erzählungen zementierender Umgang mit dem Erlebten nicht mehr möglich ist. Die zweite Ebene der Einsicht ist die der kulturphilosophischen Hermetik. Die Verbindung von Theater und Philosophie ist alt: Etymologisch sind beide im Be-

209 GA 23, S. 275. 210 Andere Erwartungen betreffen den Rahmen der Zuschauerkonventionen wie Applaus, die Wahrnehmbarkeit der Guckkastenbühne, das illusionistische Verbergen der technischen Apparatur.

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Kultur in Stücken

griff der Schau und des Staunens verbunden.211 Brechts Theaterkonzept erinnert an diese gemeinsame Wurzel, nutzt er doch die ausstellende Qualität des Theaters, um Selbstverständliches außer Kraft zu setzen und einen Zustand zwischen Immersion und Emersion herzustellen. Dieser ermöglicht zwar, dass die auffällig gemachten Dinge lustvoll studiert werden, verhindert aber zugleich deren unmittelbare Erklärung im Sinne überzeitlicher Evidenz.212 Hier werden, so meine kulturphilosophische Interpretation der ästhetischen Schriften Brechts, über den singulären Theaterabend hinaus die prozessualen Konfigurationen von Kultur der Betrachtung zugänglich gemacht. Damit aber fungiert sein Theater des Nichtverstehens zugleich als Theater des Verstehens: Die Fraglosigkeit des Selbstverständlichen ermöglicht innerkulturelles Orientieren und Verhalten ohne vorhergehende erneute Reflexion. Es funktioniert reflexhaft und erfüllt so eine erhebliche Entlastungsfunktion. So ist es, zugespitzt formuliert, die Kultur selbst, die im Theater zum Gegenstand des Staunens wird. Die Effizienz der beschriebenen Reflexhaftigkeit ist einer der Gründe für die Resilienz des mythischen Selbstverständlichen. Mit Brecht kann diese schwierige Verschlingung einsichtig gemacht werden. Hier deutet sich an, dass kulturelle Interventionsvorhaben es mit einem unsichtbaren Gegner aufzunehmen haben, der nicht bloß in der Ideologie der Anderen, sondern immer auch in der Ideologie und sogar der Körperlichkeit des Selbst anwesend ist. Erst von diesem Punkt aus lässt sich das subversive Potential ästhetischer Erfahrungen genauer fassen und zudem die Notwendigkeit erkennen, es von einer oberflächlichen Politisierung der Kunst abgrenzen. Ich denke, dass Brechts stets beibehaltene Unterscheidung von Theaterraum und Alltagsraum eine Intuition für diese – in der vorliegenden Untersuchung bedeutungstheoretisch entfaltete – Problematik erkennen lässt. Das Theater bleibt ein besonderer Ort, es ist nicht Politik und nicht Wissenschaft, aber es kann Politik und Wissenschaft inspirieren und wird von ihnen inspiriert. Wie nach ihm für Barthes, so wird auch für Brecht die Frage nach der Subversion zur methodologischen Frage, er bündelt sie in der Rede von der Dialektik als Methode seines Theaters. Getragen ist diese Fokussierung auf das Wie von der post-alethischen Einsicht in die Positionalität auch der Ideologiekritik: Wir haben das, worüber wir sprechen, immer schon verzerrt, wir sind immer schon schöpferisch tätig. Die Immanenz der Kultur betrifft demnach auch die Kritik, so folgt aus Brechts wie aus Barthes’ Denken. Kritik ist also nur als Anamorphose möglich,

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Theáomai: »sich wundern, schauen, staunen« (Wilhelm Gemoll: Griechisch-Deutsches Schulund Handwörterbuch. Wien u. a. 1908, S. 369). Die Anwendung des V-Effekts besteht für die Brecht’schen Schauspieler darin, »sich in die Haltung des Staunenden [zu] bringen« und so das Staunen des Zuschauers zu ermöglichen (GBA 22.1, S. 207).

II.2 Weder zufällig noch gewaltsam: Bertolt Brecht

als schöpferische, wenngleich nicht allmächtige Gestaltung im Dialog mit dem seinerseits werkförmigen Vorgefundenen. Das Brecht’sche Konzept weist, so wurde gezeigt, trotz dieser Einsichten eine Spannung zwischen Arbitrarität und Restitution auf, proklamiert es doch das Ziel einer lustvollen Veränderung der Zustände durch die systematisch Unterdrückten. Völlig auflösen lässt diese Spannung sich nicht. Allerdings ist, auch dies wurde gezeigt, die theoretisch verfasste ästhetische Konzeption nicht ohne die spezifische Beschaffenheit der ästhetischen Praxis zu denken. Dann scheint der Praktiker Brecht bisweilen moderner zur sein als der Theoretiker Brecht. Gleichwohl artikuliert sich gerade in dieser Spannung die spezifische Herausforderung der Moderne und eine der wesentlichen Pointen des Theaters des Nichtverstehens: Als Pharmakologie in finsteren Zeiten erdacht, wirft es nicht zuletzt die Frage auf, wie viel Hoffnung zu viel ist – und wie viel zu wenig.

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II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II Und sobald eine Sache sich von selbst versteht, lasse ich sie fallen: das ist die Jouissance.1

Die Sechziger- und Siebzigerjahre zeitigen mit Blick auf Barthes’ mythologisches Projekt entscheidende philosophische Neukonfigurationen. Auslöser ist eine spezifische systematisch-historische Konstellation, nämlich die Entwicklung der Mythologie zu einer intellektuellen Mode oder kurz: ihre Verselbstverständlichung. Dass Kulturkritik selbst zur Routine und zum Stereotyp wird, haben bereits Adorno und Benjamin als ihr systematisches Problem ausgewiesen.2 Im Falle der Mythologies wird es nun vor dem Hintergrund der französischen Studentenbewegung der Sechzigerjahre akut, die sich – marxistisch bewegt – dem Analyseinstrumentarium der Semiologie zuwendet. Ich interpretiere im Folgenden Barthes’ Einsicht, dass auch die Mythologie ein Mythos geworden ist, als entscheidende systematische Zäsur mit Blick auf sein Denken der Subversivität von Nichtverstehenserfahrungen. Obwohl der Begriff der Theatralität der Signifikanz, wie in Kapitel II.1 gezeigt, zeitgleich in den Fünfzigerjahren mit den Mythologies entwickelt wurde, werde ich ihn in den folgenden Kapiteln dennoch diachron in einen systematischen Zusammenhang zu den Erfahrungen der Sechzigerjahre stellen. Die spezifischen Probleme der Mythologie, nämlich die Sterilität der mythologischen Einstellung und ihre Verselbstverständlichung, geben den Blick frei auf die eigentümliche Subversivität der ästhetischen Erfahrung im Sinne der Theatralität der Signifikanz. Diese durchherrscht Barthes’ späte Texte wie überdies das Theater Artauds. Analog zu Kapitel II.1 werde ich daher in den folgenden Abschnitten einen Artaud’schen Diskurs im Denken Barthes’ identifizieren.3 Der systematische 1 2

3

LT, S. 65. Adorno etwa spricht im Zusammenhang akademischer Gesellschaftskritik davon, Kritik werde »departementalisiert« (AGS 10.2, S. 789). Benjamin fängt das Phänomen im Motiv des »revolutionäre[n] Routiniers« ein (BGS II.2, S. 692). In seiner Studie zur Theatralität bei Barthes fragt auch Christophe Bident nach der Möglichkeit einer Öffnung bzw. Ergänzung der bei Barthes zu findenden »Brecht’schen Theatrologie« durch eine auf Artaud ausgerichtete Lektüre Barthes (vgl. ders.: Le geste théâtral de Roland Barthes. Paris 2012, S. 152f., Übers. M. R.). Bident beschreibt hier Fragerichtungen, perspektivi-

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Kultur in Stücken

Rahmen, den die Frage nach dem subversiven Potential von Nichtverstehenserfahrungen vorgibt, ermöglicht die Unterscheidung dreier elementarer Dimensionen dieses »Artaud’schen Barthes«: Die Erfahrung der Sechzigerjahre führt die Unhintergehbarkeit kultureller Formung vor Augen – bei aller Unzulänglichkeit, die die Krise der Repräsentation offenbart hat. Barthes’ Eingeständnis, ja Affirmation dieser Unhintergehbarkeit, so werde ich im Folgenden zeigen, besitzt einige Ähnlichkeit zum vitalistischen Grausamkeitskonzept Artauds. Diese Einsicht bedeutet allerdings nicht, dass Barthes’ Position nun darin besteht, den hegemonialen Ansprüchen der Selbstverständlichkeit nachzugeben. Stattdessen stellen seine späten Texte den Versuch dar, die prekäre Subversion der Theatralität der Signifikanz, auf die es Artaud ankam, auf inhaltlicher und methodischer Ebene erfahrbar werden zu lassen. Dies geschieht, so werde ich zeigen, als theatrales Philosophieren, das mit eigenem wie fremdem Nichtverstehen arbeitet und dem Geist einer Erotik des Nichtverstehens verpflichtet ist. Die Artaud’sche Lektüre Barthes’ offenbart darüber hinaus, so wird im letzten Schritt gezeigt, wie diese philosophische Methodologie der Dynamisierung und Prekarisierung des Denkens den riskanten, pharmakonhaften Charakter kultureller Formung enthüllt und so – nach dem Zusammenbruch der Ideologiekritik – zu den Ansprüchen postrestitutiver Kulturkritik aufschließt.

II.3.1

Tektonik reaktiven Denkens

Mythologie als Tragödie Die kulturellen Entwicklungen der Sechziger- und Siebzigerjahre haben zu einer Konjunktur der Strategien kritischer Wissenschaft geführt. Diese Konjunktur darf jedoch nicht mit einem Siegeszug verwechselt werden, da sie vor allem eine jeder Kulturkritik immanente Spannung zwischen Popularität und Exklusivität offenbart, die sie zu zerreißen droht.Vor dem Hintergrund der intellektuellen Trends der politisierten Universitätskultur Frankreichs muss Barthes dann ernüchtert feststellen: »[D]ie Entmystifizierung (oder Entmythifizierung) ist selbst zu einem

sche Voraussetzungen und Konsequenzen einer solchen Lektüre, führt diese aber selbst nicht durch. Zudem setzt er Brecht und Artaud in ein antipodisches Verhältnis: Einer »Theatralität der Exposition, Explikation und Distanzierung« (ebd., S. 152., Übers. M. R.), die er streng Brecht zurechnet, stellt er mit Derrida eine Theatralität gegenüber, die »die Existenz und das Fleisch durchquert und wiederherstellt« (ebd., Übers. M. R.). Dieser Aufstellung wiederspreche ich, da, wie gezeigt wurde, auch für Brecht die Theatralität der Signifikanz eine tragende Rolle spielt, wenngleich die Akzentuierung der Distanz wesentlich größer ist als bei Artaud (vgl. hierzu auch die Einleitung sowie die Abschnitte II.1.3, II.2.3 und II.2.4 der vorliegenden Arbeit).

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

Diskurs, einem Korpus von Phrasen, einer katechetischen Aussage geworden […].«4 Das Verfahren der Entselbstverständlichung ist selbst zur Selbstverständlichkeit geworden. Dergestalt ihres irritierenden Moments beraubt, stirbt die Mythologie an ihrem eigenen Erfolg. Wenn das mythologische Verfahren massenkompatibel wird, scheint es nichts mehr wert zu sein. Es offenbart sich hier pikanterweise als Verfahren für Wenige. Den Verlust des Exklusiven führt Barthes im Rahmen einer seiner Retrospektionen der Siebzigerjahre als auschlaggebenden Grund an, die ideologiekritische Methodologie zu überdenken: »Heute werden die Aufgaben der Ideologiekritik ein wenig von jedermann aufgegriffen.«5 Bleibt Kritik allerdings Sache von Experten, die bereits bei Benjamin und Adorno zum Gegenstand teils beißender Polemiken wurden,6 dann ist der aufklärerische Einsatz von Barthes’ Projekt null und nichtig. Die Revision der spezifischen Probleme der Mythologie wie auch Barthes’ Umgang mit ihnen offenbaren die Herausforderungen kulturkritischer Methodologie, die das Konzept einer spannungsvollen Praxis zwischen notwendiger Exklusivität und diskursverarmendem Spezialistentum zu entwerfen hat. Aus der postrestitutiven Perspektive heraus, die, wie in Kapitel II.1 gezeigt, in den Mythologies unzureichend eingelöst ist, kann aber auch dieses Problem nochmals gewendet werden. Kulturkritik kann hier immer nur als Korrektiv fungieren, nie als Bruch der kulturellen Formungsprozesse, und sieht sich in post-alethischen Zeiten damit konfrontiert, ihren Maßstab selbst hervorbringen zu müssen und daher nicht mehr zweifelsfrei begründen zu können.7 In dieser Perspektive ist es nötig, dass der Mythologe stellvertretend, und soweit dies eben möglich ist, aus der Sozialität heraustritt, damit alle anderen im Sinne der Korrektur in ihr verbleiben können. In einer Gesellschaft der Mythologen nämlich ist jede Sozialität dahin, ist ihren Mitgliedern doch einzig das Absondern metasprachlicher Sätze gestattet. Einen wesentlichen Punkt allerdings unterschlägt die Barthes’sche Rückschau auf das eigene Projekt: Die Verselbstverständlichung der Mythologie ist soziokulturell und historisch situiert, auf ein bestimmtes kulturelles Milieu (die französische 4 5 6

7

RdS, S. 74. KdS, S. 176. Auch Benjamin beschreibt die Selbstabschaffung der Subversion durch Experten oder, wie er es nennt, »Routiniers«: »Wir stehen nämlich der Tatsache gegenüber, […] daß der bürgerliche Produktions- und Publikationsapparat erstaunliche Mengen an revolutionären Themen assimilieren, ja propagieren kann, ohne damit seinen eigenen Bestand und den Bestand der ihn besitzenden Klassen ernstlich in Frage zu stellen. Dies bleibt jedenfalls so lange richtig, als er von Routiniers, und seien es auch revolutionäre Routiniers, beliefert wird.« (BGS II.2, S. 692.) In einer Kritik der Institutionalisierung der Kulturkritik schreibt schließlich Adorno, dass die »gesellschaftliche Selektion der Träger des Geistes« in »dessen Rückbildung« resultieren (AGS 10.1, S. 13). Vgl. Konersmann, Kulturkritik, S. 131.

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Kultur in Stücken

Universitätskultur8 ) bezogen. An dieser Stelle ist es nötig, das mythologische Verfremdungsverfahren im Sinne eines Verfahrens kritischer Wissenschaft von den epistemologischen Fähigkeiten zu unterscheiden, die es fundieren. Wie in Kapitel II.1 gezeigt, basiert die mythologische Technik auf der Fähigkeit zur Theatralität im Sinne der Emersion. Daher ist sie nicht allein Sache des wissenschaftlichen Zugriffs, was schon der Blick auf Brechts Theater gezeigt hat, sondern sie kann auch außerhalb akademischer wie künstlerischer Präsentationsformen als Phänomen einer Subvertierung des Alltäglichen auftreten. Ein weiterer blinder Fleck der Mythologies – dieser wurde bereits in Kapitel II.1 kurz angesprochen – besteht in der Annahme, nur die Bourgeoisie entwickle Selbstverständlichkeiten. Sicherlich besitzen, darauf hatte ich bereits verwiesen, bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen stärkere Durchsetzungskraft als andere. Allerdings existieren, gerade weil Verstehen immer durch Vorwissen bedingt, durch Situativität mobilisiert und durch Vorläufigkeit eingeschränkt wird, verschiedene kulturelle Hermetiken zur gleichen Zeit. Diese Milieus mit je eigenen Selbstverständlichkeiten können potentiell immer durch theatrale Wahrnehmungsverschiebung unterlaufen werden. Barthes’ Diagnose vom Katechismus der Mythologie, so treffend sie auch sein mag, ist daher auch das Ergebnis einer Engführung zum einen auf die Mythologie als wissenschaftliche Methode, zum anderen auf das akademische Milieu seiner eigenen Kultur.

Familienprobleme Weil nun nach den herkömmlichen Formen des Politischen auch die philosophische Ideologiekritik korrumpiert scheint, nimmt das Ästhetische den Platz des großen Hoffnungsträgers im Denken der Subversion ein – eine Verschiebung, die Barthes mit Adorno und Foucault teilt.9 Hierbei ist es allerdings nötig, das Ästhetische von der Kunst zu unterscheiden. Mit Blick auf den Subversionsanspruch dessen, was als Kunst Teil der entsprechenden institutionellen Abläufe ist – eine Theatervorstellung bspw. –, legt Barthes zwei große Aporien frei, die weiteren Aufschluss über die Beschaffenheit kulturellen Verstehens und die Möglichkeit seiner Subvertierung geben. Bei diesen Problemen handelt es sich erstens um die Assimilation durch den bürgerlichen Mythos und zweitens um das apolitische Momentder Kunst.10 Aus diesen beiden Aporien heraus bestimmt Barthes einen eigenen, speziellen Begriff der Avantgarde, nämlich im Sinne eines spezifischen kulturellen Funktionalismus:

8 9 10

Vgl. KdS, S. 176-185. Vgl. Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Übersetzt von Klaus Laermann. Stuttgart 1994, S. 7 und 393. SzT, S. 308-312.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

Es ist wahrscheinlich, daß die Avantgarde für den Künstler immer nur ein Mittel darstellte, einen präzisen historischen Widerspruch zu lösen: den einer demaskierten Bourgeoisie, die ihren Anspruch auf ihren ursprünglichen Universalismus nur in Gestalt eines heftigen, gegen sich selbst gerichteten Protests aufrechterhalten konnte.11 Die Kollaboration künstlerischer Subversionsansprüche mit dem mythisch verschleierten bourgeoisen Hegemonieanspruch präzisiert Barthes wie folgt: Die Avantgarde ist im Grunde nur ein weiteres kathartisches Phänomen, eine Art Impfung, die den verkrusteten bürgerlichen Werten ein wenig Subjektivität, ein wenig Freiheit inokulieren sollte: Man fühlt sich besser, wenn man der Krankheit einen deklarierten, aber beschränkten Raum eingeräumt hat.12 Mit der Metapher des »Serums«13 fasst Barthes das Phänomen der avantgardistischen Komplizenschaft mit dem Mythos. Damit zeigt sich, dass der metaphorische Raum des Pharmakologischen bei Barthes angelegt, wenngleich auch nicht weiter expliziert ist. Somit lässt sich sein Denken hier an den Begriff des Pharmakons anschließen, mit dem ich die Herausforderung der Faits culturels in postrestitutiven Zeiten charakterisiert habe14 : Wie die Mittel, die die Kunst bereitstellt, wirken, ist offenbar kaum vorhersehbar. Was als verstörender Akt gedacht ist, fügt sich am Ende mühelos ein in die Behaglichkeit distinguierten Kunstgenusses. Indem er der mythischen Gesellschaft zur Impfung verhilft, nähert sich der Avantgardekünstler zudem der Rolle des asketischen Priesters an, den Nietzsche in seiner Religionskritik der Genealogie der Moral beschreibt. Dieser lindert nur scheinbar das Leiden des von seiner eigenen Lebendigkeit entfremdeten Menschen: »Er bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel; […] indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde […].«15 Auf unheilvolle Weise hat so in Zeiten zunehmender Säkularisierung die Kunst das pharmakologische Erbe der Religion angetreten – bis hin zur Askese des formalästhetischen »Pauperismus«16 , als den Barthes die avantgardistische Bühnensprache und ihren bedeutungsentleerenden Gestus beschreibt. Solche Bedeutungs11 12 13 14 15

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Ebd., S. 308. Ebd., S. 309. MdA, S. 140. Vgl. hierzu Kapitel I.1. KSA 5, S. 372f. Barthes selbst bezieht sich indes auf Lévi-Strauss, um die Kompensation kultureller Abweichung durch Kunst in den Blick zu nehmen: Der Avantgardekünstler »bindet die Irregularität, um die soziale Masse besser von ihr reinigen zu können« (SzT, S: 309). Vgl. die Darstellung des trennenden und dadurch zugleich verbindenden Ablaufs, den Rituale der Algonkin-Stämme aufweisen und der überdies die Grundstruktur sportlicher Wettkämpfe ausmacht (Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 47). SzT, S. 255.

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entleerung bedarf allerdings eines vorgängigen Verstehensmilieus, auf das ihre Attacken bezogen werden können: […] in einer bürgerlichen Gesellschaft zum Beispiel lehnt der Avantgardeschriftsteller die bürgerlichen Werte ab, aber diese Ablehnung, die er zum Schauspiel erhebt, kann letzten Endes nur von der Bourgeoisie konsumiert werden – die Avantgarde ist, mag der Schein auch trügen, eine Familienangelegenheit.17 Die Erfahrung des Nichtverstehens ist daher nicht ohne Verstehen im Sinne intuitiver kultureller Komplizenschaft zu haben – diese Paradoxie teilen sämtliche Konzepte subversiven Nichtverstehens. Die eigentümliche Hermetik des Theaters des Nichtverstehens bringt das Verhältnis von subversivem Selbstverständnis und realpolitischer Einsatzbereitschaft des Publikums in eine Schieflage, insofern der Protest des Publikums auf den Konsum ästhetischer Erfahrung, beschränkt bleibt.18 Die Mythisierung unverständlicher Kunst ist inzwischen so weit vorangeschritten, dass sie weder überrascht noch sonderlich schockiert, sondern im Gegenteil zum Qualitätsmerkmal geworden ist. Kunstgenuss ist verdienstvolle Anstrengung. In seiner Polemik gegen das Avantgardetheater spielt Barthes daher mit Referenz auf die kommunistische Avantgardekritik Kunst und Politik gegeneinander aus: »In Wirklichkeit ist die Avantgarde immer nur von einer einzigen Kraft bedroht worden, die keine bürgerliche ist: vom politischen Bewußtsein.«19 Die konsumistische Beschränkung ist nicht ausschließlich Ausdruck bürgerlicher Selbstzufriedenheit, wie Barthes’ Beschreibungen es nahelegen: Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass die Unhintergehbarkeit der oben beschriebenen Hermetik dem Transgressionsanspruch milieuübergreifender politischer Interventionsprojekte fundamental entgegensteht. Parallelisiert man die von Barthes beschriebenen Aporien der Avantgarde mit den spezifischen Problemen seines eigenen Projekts der Mythologies, dann erscheinen beide erstens als Strategien des Unverständlichmachens und zweitens gerade deshalb als exklusiv.20 17

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Ebd., S. 254. Der künstlerische Angriff auf den mythischen Diskurs mit dem Anspruch seiner Zerstörung ist, so Barthes mit Blick auf Artaud, ein höchst prekäres, fragiles Unterfangen. In dem Moment nämlich, in dem avantgardistische Kunst im öffentlichen Diskurs ankommt, etwa durch Besprechungen des Feuilletons oder akademische Forschung, beginnt die Gerinnung zur Legende, zum Stereotyp. Geschieht das allerdings nicht, ist sie quasi nicht existent: »So ist jedes Avantgardetheater ein wesenhaft prekärer theatralischer Akt und gewissermaßen ein Schwindel: Es will ein Schweigen bedeuten, kann dies aber nur tun, indem es spricht, das heißt, indem es das Schweigen hinausschiebt: Es wird wahr, wenn es verstummt.« (SzT, S. 262f.) Einige Autoren versuchen, dieser Schwierigkeit ästhetisch Ausdruck zu verleihen, so etwa Eugène Ionesco mit seinem stummen Ehepaar in Die Stühle (ebd.). Ebd., S. 309ff. Ebd., S. 310. Diesen Punkt werde ich im Schlusskapitel nochmals aufnehmen.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

Mit Blick auf die ästhetische Ausrichtung von Barthes’ Spätschriften möchte ich allerdings fragen, ob sich auf der Ebene des Ästhetischen des Avantgardetheaters nicht doch eine spezifische Subversivität unabhängig von institutionellen Rahmungen und funktionalistischen Vereinnahmungen der Kunst beschreiben lässt – gerade angesichts der Abgrenzungsnotwendigkeit von ästhetischer und politischer Subversion. Ich interpretiere das Auftauchen der Figur Artauds in Barthes’ Avantgardekritik als Ahnung einer solchen Subversivität.21 Artaud nämlich distanziert sich explizit von einer Aufladung des Theaters mit tagespolitischen Begehrlichkeiten, hält aber am subversiven Anspruch fest.22 Verschränkt man die Gedanken Artauds mit denen Barthes’, was besonders mit Blick auf dessen Kultur- und Theatralitätsbegriff in den folgenden Kapiteln geschehen wird, so können die beschriebenen Aporien nicht aufgelöst werden. Vielmehr wird eine insbesondere zeitliche Einschränkung des Aktionsradius der Subversion des Nichtverstehens nötig. Es lassen sich aber behauptete subversive Potentiale des Ästhetischen spezifizieren, Erwartungen korrigieren und schließlich tatsächliche Handlungsspielräume benennen.

Kultur als Schicksal. Eine Barthes’sche Grausamkeit An der Tektonik des Barthes’schen Denkens lassen sich zwei für unsere Fragestellung wesentliche Einsichten ablesen, die miteinander verschränkt sind: Sowohl wissenschaftliche als auch künstlerische Subversionsbestrebungen nehmen erstens früher oder später ihren festen Platz in der Kultur ein, was Barthes in die Formel vom »großen Mythos des Versus«23 fasst. Diese Entwicklung basiert zweitens, wie eben gezeigt, auf der hermeneutischen Involviertheit kritisch-subversiver Formen in den Status quo, die auch Strategien des Unverständlichmachens fundiert und die Ideologiekritik an ihr Ende führt. Neben diesen Einsichten fordern zwei weitere Paradigmen tektonische Konsequenzen für das Denken Barthes’ wie auch für seine philosophische Erforschung: Zum einen die Tendenz der Ausdehnung der kapitalistischen Ökonomie auf sämtliche Lebensbereiche, zum anderen

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Barthes’ Erwähnung Artauds im Zusammenhang seiner Avantgardekritik besteht lediglich aus einer Verhältnisbeschreibung: Das Theater Artauds steht zur Avantgarde im Sinne jener funktionalistisch geprägten kulturellen Formation, die Barthes beschreibt, in einem Fundierungsverhältnis. Die Avantgarde ist »in ihrer Befreiung und ihren Ausdrucksweisen stark dem Werk von Antonin Artaud verpflichtet«, konnte dessen Radikalität aber nicht einlösen: »Das ›Theater der Grausamkeit‹ hat eher ein ›Theater des Unbehagens‹ hervorgebracht.« (SzT, S. 257.) Als Vertreter dieses Latenz-Theaters nennt Barthes Jean Vauthier und Jean-Louis Barrault. Artauds Verhältnis zur Verknüpfung von Kunst und Politik wird in Kapitel II.4 ausführlicher dargestellt. LT, S. 81.

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die Tendenz der Radikalisierung der Auflösung des Essentialismus insbesondere im Rahmen der Diskussion um die Postmoderne. Der Kapitalismus entbehrt, so Barthes, jener »halb-wissenschaftlichen, halbethischen […] Systemfigur«, nach der seine Aussagen mythisch geordnet werden könnten.24 In den Koordinaten der Frage nach der Subversivität des Nichtverstehens lässt sich das von Barthes beschriebene Phänomen wie folgt zuspitzen: Die kapitalistische Doxa25 entbehrt selbst noch der Rationalität des Mythischen. Sie kommt ohne Verstehen aus, weil selbst Verstehen – das zeigt der hegemoniale Anspruch des Selbstverständlichen – noch von Inkommensurabilität ausgeht. Die radikal-kapitalistische Logik der universellen Austauschbarkeit droht das Inkommensurable zu tilgen. Das aber wäre das Ende der Möglichkeit der Emersion, des Erwachens aus der eigenen Kultur oder kurz: des Theaters. Als zweite paradigmatische Veränderung lässt sich Barthes’ Übertragung der Beobachtungen der Mythologies in die Koordinaten des Denkens der Postmoderne fassen, die er Anfang der Siebzigerjahre vornimmt: »Der zeitgenössische Mythos ist diskontinuierlich: er wird nicht mehr in großen, zusammenhängenden Erzählungen geäußert […].«26 Dennoch ist das Mythische »überall dort anwesend […], wo man Sätze, Phrasen, bildet, wo man Geschichten erzählt«.27 Damit nimmt Barthes eine entscheidende Ausweitung seines Mythosbegriffs vor, der nun endlich zur postrestitutiven sprachtheoretischen Fundierung seiner frühen Kulturphilosophie – wie überdies zu generalisierten28 Mythosbegriffen wie dem Cassirers, Lévi-Strauss’ oder Blumenbergs – aufschließt. Konsequenterweise büßt der Begriff dann seine ideologiekritische Kontur ein, befinden wir uns doch nun in einer Situation konkurrierender, aber gleich unzulänglicher Interpretationen der Welt. Folgerichtig

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Ebd., S. 45. Dies steht im Gegensatz zu Marxismus, Christentum und Psychoanalyse, die über solche Figuren verfügen. Im Falle des Marxismus, so Barthes, ist »jeder Einwand ein Klasseneinwand«, für die Psychoanalyse jede »Verleugnung ein Geständnis« und für das Christentum »jede Ablehnung eine Suche« (ebd.). Sicher besitzt, so würde ich einwenden, auch der Kapitalismus seine eigenen Essentialismen – man denke an Topoi wie menschliches Konkurrenzstreben, den Homo faber oder den Fortschrittsoptimismus, um nur einige zu nennen. Barthes selbst bezeichnet den Kapitalismus als »doxa, eine Art Unbewußtes: kurz: die Ideologie schlechthin« (ebd.). RdS, S. 73. Ebd., S. 76. Herv. i. O. Damit meine ich im Besonderen Am Nullpunkt der Literatur. Vgl. hierzu Kapitel II.1.1 der vorliegenden Untersuchung. Als »generalisiert« bezeichne ich einen Mythosbegriff, der, in Abgrenzung zu Barthes, nicht nur im Sinne der Ideologiekritik als Tätigkeit vornehmlich einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung gefasst ist. Stattdessen bezeichnen die genannten Autoren mit dem Begriff des Mythos eine umfassende, welterschließende menschliche Tätigkeit.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

ist für Barthes die neue kulturkritische Herausforderung »nicht mehr die kritische Entzifferung« von Mythen, »sondern die Evaluierung« von »Idiolekte[n]«.29 Ich interpretiere Kapitalismus und Postmoderne mit Blick auf Barthes als zwei Figuren einer Krise des Verstehens, als zwei miteinander verflochtene Enden eines Strangs der semiologischen Entwertung. Der Kapitalismus wird zu einer Figur totaler Immersion, insofern er das Gespür für Bedeutungsunterschiede eliminiert. Die Figur der Postmoderne hingegen zeigt sich als totale Emersion, im Sinne einer radikalisierten Betonung der menschlichen Dissoziations- und Konstruktionspotenz.30 Barthes selbst radikalisiert sein Denken zunächst entlang dieser beiden kulturellen Tendenzen der Bedeutungsentwertung: »Nicht mehr die Mythen gilt es zu demaskieren […], sondern das Zeichen selbst gilt es ins Wanken zu bringen.«31 Auf der Folie der von mir vorgenommenen Figuration von Kapitalismus und Postmoderne im Sinne einer Prekarisierung von Bedeutung lässt sich dieser Einsatz Barthes’ schärfer konturieren. Hierzu verbinde ich nun Barthes’ Kulturkonzept, wie es in seinen Studien zur Avantgarde erscheint, mit Artauds Grausamkeitskonzept. Barthes’ Texte zur Avantgarde haben gezeigt, dass auch Bedeutungszerschlagung an Bedeutung gebunden ist.32 Diesem Zwang des Bedeutens verleiht

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RdS, S. 76. Der Idiolekt ist nach Barthes ein »Geflecht aus Gewohnheiten, Wiederholungen, Stereotypen, Pflichtfloskeln und Schlüsselwörtern«. Darüber hinaus ist er »ein Begriff, den ich vor zwanzig Jahren, mit dem Wort écriture, Schreibweise, bezeichnete« (ebd., S. 76, zum Begriff der Schreibweise vgl. auch meine Anmerkungen in Abschnitt II.2.2 der vorliegenden Untersuchung). Bei meiner Darstellung handelt es sich um eine bewusst vorgenommene begriffliche Vergröberung, mit der ich keinesfalls beabsichtige, die philosophische Komplexität und Vielgestaltigkeit sowohl ökonomischer als auch postmoderner Theoriebildung zu unterschlagen. Mir geht es vielmehr darum, zwei kulturelle Tendenzen zu erfassen, die zum einen für Barthes’ Denken entscheidend waren und mit denen sich zum anderen der spezifische Einsatz des Denkens Barthes’, Brechts und Artauds für die Gegenwart verdeutlichen lässt – die, wie ich denke, von beiden Tendenzen geprägt ist. RdS, S. 74. Barthes selbst erwähnt den Begriff der Postmoderne hier noch nicht. Seine Analyse deckt sich aber weitgehend mit dem, was Lyotard später als ›Ende der großen Erzählungen‹ bezeichnet und als Charakteristikum der Postmoderne ausgewiesen hat: »Das soll nicht heißen, daß keine Erzählung mehr glaubwürdig wäre. Unter Metaerzählung oder großer Erzählung verstehe ich gerade die Erzählungen […] mit legitimierender Funktion. Ihr Niedergang hindert Milliarden von kleinen und weniger kleinen Geschichten nicht daran, weiter den Stoff täglichen Lebens zu weben.« (Ders.: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Aus dem Französischen von Dorothea Schmidt, unter Mitarbeit von Christine Pries. Wien 2 1996, S. 35.) Unter Bezug auf das Absurde Theater zeigt Barthes etwa, dass Bedeutung zu zerstören »ein verzweifeltes Vorhaben [ist], […] [w]eil die ›Außer-Bedeutung‹ unweigerlich […] aufgesaugt wird von dem Nicht-Sinn, der seinerseits schlicht und einfach ein Sinn ist (unter dem Namen des Absurden)« (NdL, S. 163). Vgl. hierzu ausführlich Abschnitt II.3.1 meiner Untersuchung.

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Kultur in Stücken

Barthes – paradoxerweise – den Status einer anthropologischen Konstante: »Der Mensch ist dazu verurteilt, etwas zu bedeuten.«33 Ähnlich wie Artaud, der in seinem vitalistisch fundierten Grausamkeitskonzept das unaufhörliche Werden und Vergehen der Formen zum ewigen Prinzip erklärt,34 schiebt Barthes hier Statik und Dynamik ineinander: Bedeutung ist nicht ewig, sondern arbiträr – und ebendies ist nun, kurz gesagt, das ewige Prinzip. Bedeutung im Sinne eines unerbittlichen, nicht vollständig kontrollierbaren, amoralischen Prozesses des Bildens und Auflösens von Formen am eigenen Leib zu erfahren, ist indes der Kerngedanke des Artaud’schen Grausamkeitskonzepts, worauf ich in Abschnitt II.4.3 ausführlich zu sprechen komme.35 Wenn Barthes konstatiert: »Was evident ist, ist gewalttätig«, dann lässt sich dies nicht nur im Sinne der mythologischen Hegemoniekritik interpretieren, sondern noch weitergehend im Sinne der von Nietzsche inspirierten Grausamkeitskonzeption Artauds. Verstandenwerden, so lässt sich damit zuspitzen, ist eine Grausamkeit, die sowohl Barthes’ Mythologie als auch Brechts und Artauds Theaterkonzepten am Ende widerfahren muss, eben in Gestalt akademischer und künstlerischer Trends und Routinen. Angesichts der Unhintergehbarkeit von Kultur im Sinne des Hervorbringens von Bedeutung kann es sich dann auch bei der bedeutungsentleerenden Potenz von Kapitalismus und Postmoderne lediglich um Tendenzen handeln und transgressive Ansprüche künstlerischer Subversionsvorhaben sind zu relativieren: Es ist unmöglich, eine Nicht-Kultur zu praktizieren. Die Kultur ist ein Schicksal, zu dem wir verdammt sind. Somit heißt eine radikale, gegen-kulturelle Aktion ausführen einfach, die Sprache zu verschieben und sich dabei, wenn man nicht aufpaßt, von neuem auf Stereotypen zu stützen, also auf Bruchstücke von Sprache, die bereits existieren.36 ›Die Sprache zu verschieben‹ heißt aber mehr denn je, auf Strategien des Nichtverstehens statt auf Publikumsbelehrung zu setzen, und zwar im Wissen um die kurze Halbwertszeit und den Voraussetzungsreichtum solcher Verfahren. Vor diesem Hintergrund interpretiere ich die Ambivalenz des wankenden Zeichens als pharmakologische Pointe. Ein Nichtverstehen, das sich auf das Wanken oder auch

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SzT, S. 262. Die Paradoxie liegt zum einen darin, dass es sich dabei formal um eine essentialistische Aussage handelt. Zum anderen wird dieser Essentialismus durch die Arbitrarität des Bedeutungskonzepts Barthes’ konterkariert. Artaud schreibt: »Ich habe also ›Grausamkeit‹ gesagt, wie ich ›Leben‹ oder ›Notwendigkeit‹ gesagt hätte; denn ich will vor allem darauf hinweisen, dass das Theater für mich Vollzug und fortwährende Ausstrahlung ist, dass es nichts Starres in sich birgt […].« (TD, S. 149.) Vgl. außerdem die ausführliche Darstellung des Konzepts in Abschnitt II.4.3. Vgl. auch TD, S. 148f. KdS, S. 169. »Eine Haltung der radikalen Zerstörung der Kultur scheint mir daher unüberlegt, relativ unwirksam und von lediglich expressivem Wert zu sein.« (Ebd., S. 169.)

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

»Flackern«37 des Zeichens ausrichtet, kann nicht mehr im latent belehrenden Gestus der Ideologiekritik gefunden werden. Vielmehr sind nun Verfahren gefragt, die ambige Zustände hervorrufen, die beständig mit ihrer eigenen Scheiternsprävalenz konfrontiert sind, da das Zeichen zwar wankt, sein tatsächliches Fallen aber allenfalls als Aufschub gedacht werden kann. Entsprechende subversive Verfahren sind dann solche, die Nichtverstehen im Sinne der Theatralität der Signifikanz forcieren und hierdurch Kultur als Pharmakon erfahrbar machen. Die Grausamkeit des Pharmakons besteht darin, dass wir nicht anders können, als es trotz Ungewissheit seiner Wirkung zu injizieren – dass wir immer schon formen, Bedeutung geben. Die Erfahrung der Sinnlichkeit des Signifikanten38 zu ermöglichen und ihn dabei weder zur Essenz zu mythifizieren noch in radikal konstruktivistischer Absicht zur Beliebigkeit zu degradieren, ist der Einsatz des Theaters Artauds wie überdies der ästhetischen Spätschriften Barthes’. Mag das Theatrum mythologicum doch an sein Ende gekommen sein, so bricht nun im Denken der Subversivität – gerade mit der Abgrenzung von Kunst und Politik – die Ära der Theatralität der Signifikanz, des Ereignisses der ästhetischen Erfahrung an. Als Ergebnis der Einsicht in die »Immanenz«39 des kulturellen Formungsgeschehens stellt sie das anspruchsvolle Projekt dar, die Hoffnung auf epistemische, politische oder gar moralische Atopie fahren zu lassen, ohne sich in fatalistischer Verzweiflung zu verlieren.

II.3.2

Jouissance: Nichtverstehen und hedonistische Ästhetik

Ästhetische Subversion als Subversion des Konkreten Auch nach der bürgerlichen Assimilierung von Mythologie und Avantgarde bleibt Barthes’ Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit subversiver Formen bestehen. Weder Wissenschaft noch Kunst können kulturell – im Sinne der Selbstverständlichwerdung – intervenieren, weil sie allzu leicht unter die neutralisierenden Formen umgehenden Verstehens subsumiert werden können. Als Beispiel hierfür nennt Barthes schon früh den »Nicht-Sinn«, der »unter dem Namen des Absurden«40 Einzug in das Inventar literarischer Hochkultur gehalten hat. Dass die Institutionen der Wissenschaft und selbst der Kunst es nicht vermocht haben, die prekäre Prozesshaftigkeit kulturellen Bedeutungschaffens einsichtig zu machen, kompensiert Barthes nun durch einen Kategoriensprung, indem sein Denken die Ebene der Ästhetik fokussiert: »Es genügt also, dass die Ideologieanalyse (oder die 37 38 39 40

RdS, S. 74 sowie KdS, S. 194. Der Signifikant ist dann freilich kein Signifikant mehr, sondern ein kaum zu benennendes Anderes, das die Zuschauer affiziert. Hierzu siehe auch Konersmann, Kulturkritik, S. 125. NdL, S. 163.

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Kultur in Stücken

Gegenideologie) sich wiederholt und besteht […], um selbst zu einem ideologischen Gegenstand zu werden. Was tun? Eine Lösung ist möglich: die Ästhetik.«41 Mit dem Scheitern der Ideologiekritik offenbart sich sowohl die Unhintergehbarkeit kultureller Konstruktion als auch die Unmöglichkeit ihrer Verabsolutierung oder kurz: das Scheitern des Allgemeinen. Wie schon Adorno so reagiert Barthes auf dieses Scheitern mit einer Fokusverlagerung auf das vermeintlich nicht Verallgemeinerbare in Gestalt der Konkretion der vergänglichen sinnlichen Erscheinung. Das Ästhetische wird – die Mythologies deuteten diese seine Potenz bereits an42 – zum basalen, alle kulturellen Formen umfassenden Phänomen und als solches primärer Untersuchungsgegenstand. In Barthes’ Ästhetik spiegelt sich der Anspruch, das Einzelne als dasjenige in den Blick zu nehmen, das sich der Repräsentation entzieht: Im Moment der Theatralität. Ich interpretiere Barthes’ spätes Schreiben als Versuch, sich dementsprechend thematisch möglichst weit von Formen begrifflicher Repräsentation zu entfernen und sich in einer paradoxen Bewegung – im Wissen nämlich um seine stets nur punktuelle und mehr zufällige Erreichbarkeit – dem Sehnsuchtsort abwesender Bedeutung anzunähern. Diesen Sehnsuchtsort subversiver Abwesenheit will Barthes, nach dem Ende der Ideologiekritik, in sinnlichen Phänomenen, insbesondere im Körper finden: Dieses Wort ist weder exzentrisch noch zentriert; es ist unbeweglich und getragen, abschweifend, niemals eingeordnet, immer atopisch (es entzieht sich jeder Topik), zugleich Rest und Ergänzung, Signifikant, der den Platz eines jeden Signifikats einnimmt. Dieses Wort ist in seinem Werk allmählich erschienen; es war zunächst von der Instanz der Wahrheit verdeckt (der Geschichte), dann von der der Validität (der Systeme und Strukturen); jetzt entfaltet es sich; dieses ManaWort ist das Wort ›Körper‹.43 Damit lässt sich insbesondere Barthes’ Spätwerk in den Kontext einer spannungsgeladenen Konjunktur des Fetischgedankens stellen, die sich zwischen »Sehnsucht nach Wiederverzauberung der Welt und unvermittelter Dinglichkeit« und dem Versuch bewegt, »Momente des Unverfügbaren offenzuhalten und ein technisch

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ÜM, S. 122f. Hier folge ich Siegmund, der darauf hinweist, dass es auch in den Mythen des Alltags einen starken Akzent auf sinnliche Manifestationen des Mythischen gibt (vgl. ders., Jérôme Bel, S. 87f.), ich denke hier etwa an die Analysen »Beefsteak und Pommes frites«, »Striptease« oder »Das Gesicht der Garbo«. Ette zeigt, dass sich die Motive der Lust und der widerständigen Sinnlichkeit nicht nur in Barthes’ späteren Schriften, prominent der Lust am Text finden, sondern bereits in einem seiner frühesten Aufsätze, Am Rande des Kriton. Hierzu vgl. Ette, Kommentar, S. 107 sowie ders., Roland Barthes, S. 117ff. ÜM, S. 152, Herv. i. O.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

vorherrschendes Verfügbarkeitsphantasma in Frage zu stellen.«44 Aber auch schon für Barthes’ frühe Verschränkung von Sprach- und Kulturphilosophie ist der Körper eine entscheidende Referenz. Um dies zu zeigen, mache ich die Implikationen seiner Theorie der Literatur für einen prozessualen Kulturbegriff fruchtbar. Im Nullpunkt spricht Barthes vom Stil als einer der »formalen Realitäten« des literarischen Schreibens: Unter dem Namen Stil formt sich auf diese Weise eine autarke sprachliche Ausdrucksweise, die nur in die eigene, geheime Mythologie des Autors hinabreicht, […] wo sich ein für allemal die großen Wortthemen seiner Existenz niederlassen. […] [E]r taucht in die geschlossene Erinnerung der Person und bildet seine Dichtigkeit von einer bestimmten Erfahrung von der Materie aus; er ist immer nur Metapher, das heißt Gleichung zwischen literarischer Absicht und fleischlicher Struktur des Autors (es sei daran erinnert, daß Struktur Ablagerung einer Dauer ist). Daher ist auch der Stil immer ein Geheimnis […].45 Ich möchte den Barthes’schen Begriff des literarischen Stils in ein Denken der Kultur importieren, das diese als spannungsvollen Prozess zwischen ›Grenze und Station«46 auffasst, und so weder Essentialismus noch Konstruktivismus das Wort redet: Die Art und Weise, wie Bedeutung durch situatives Sichverhalten, das immer auch körperliches Sichverhalten ist, reproduziert wird, ist kein analytisch fundierter und transparent darstellbarer Vorgang – sondern ein Stil.47 Als Stil ist dieser Vorgang ein hermetischer, er manifestiert sich reflexhaft und situativ, indem das Individuum sich an den Vorgaben seiner Kultur abarbeitet, ohne dabei jedoch bloße Marionette48 zu sein. Vielmehr sind die Möglichkeiten des Verhaltens und Interpretierens, die der kulturelle Horizont bereitstellt, an die Umsetzung durch das Individuum gebunden. Dieses exerziert, gleich einem Tänzer, die Vorgaben nicht einfach nur nach, sondern gestaltet sie durch seine körperliche und biographische Jeweiligkeit mit.49 Diesen Gedanken entwickelt auch Artaud mit Blick auf sein eigenes Schreiben. Dieses sei die Reproduktion/einer magischen Geste auf dem Papier,/einer Geste, die ich/in dem wahren Raum/ausgeführt habe/mit dem Hauch meiner Lungen/und meinen 44 45 46 47

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Blättler, Fetisch, Phantasmagorie und Simulakrum, S. 279. NdL, S. 16. Vgl. Kapitel II.1.1. Zum literarischen Stil schreibt Barthes, er sei nicht das »Ergebnis eines Wollens«, sondern eines Wachsens, er denkt also auch ihn prozessual (NdL, S. 16). Bezogen auf das körperliche Sichverhalten im Prozess der Bedeutungsgabe existieren einige Parallelen zum Brecht’schen Gestuskonzept, das ich in Abschnitt II.2.4 ausführlich untersucht habe. Zum Motiv der Marionette vgl. Gerald Siegmund: Recht als Dis-Tanz: Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes. In: Forum modernes Theater. Bd. 22/1 (2007), S. 75-92. Ebd.

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Kultur in Stücken

Händen,/mit meinem Kopf/und meinen zwei Füßen/mit meinem Rumpf und meinen Arterien usw.50 Bedeutungsgabe ist somit wesentlich ein Vorgang der – auch hier übernehme ich einen Barthes’schen Begriff – »Transmutation«, bei dem sich die Art und Weise der Situationsbewältigung und die für sie mobilisierten epistemischen Ressourcen »aus der Konstitution und der Vergangenheit«51 des nicht zuletzt körperlich verfassten Individuums schöpfen. Diese Jeweiligkeit ist es nun, die nicht nur beim menschlichen Individuum, sondern bei allen Arten sinnlicher Details subversiv wirken kann. Entsprechend referiert Barthes’ eine philosophische Hoffnung, die er letztlich teilt: »Von dem Konkreten wird angenommen, dass es dem Sinn widersteht«.52 Hier lässt sich die Historizität der Bedeutungskonfiguration nicht länger von der sinnlichen Erscheinung subtrahieren, wie es im Mythos geschieht53 : Die Erfahrung der Materialität ist nur möglich in den Koordinaten von hier, jetzt, und ich. Momente der Subversion durch das Konkrete offenbaren sich als Schauspiel, etwa im Phänomen der Körnung der Stimme, in dem der sprechende Körper »tatsächlich die Sprache bearbeitet«54 . Diese Arbeit an der Bedeutung wird ironischerweise dann auffällig,55 wenn es die sinnliche Verfasstheit des Sprechenden selbst ist, die Gegenstand der Aufmerksamkeit wird – und eben nicht mehr die Bedeutung selbst: Die ›Rauheit‹ ist der Körper in der singenden Stimme, in der schreibenden Hand, im ausführenden Körperteil. […] [B]ei der Klaviermusik weiß ich sofort, welcher Teil des Körpers spielt: ob es der Arm ist, der leider allzu oft muskulös ist, […] oder ob es, im Gegenteil […] die Fingerkuppen sind.56 Ein weiteres Phänomen dieses Entzugs stellt das Punctum dar, das Barthes in Die helle Kammer wie folgt beschreibt:

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Zitiert nach Paule Thévenin und Jacques Derrida: Antonin Artaud. Zeichnungen und Portraits. München 1986, S. 43. NdL, S. 17 sowie S. 16. ÜM, S. 100. Dies deutet Barthes bereits in den Mythen des Alltags und in Am Nullpunkt der Literatur an. ESS, S. 272. Was keinen Sinn macht, kann nicht in Selbstverständlichkeit überführt werden, allerdings nur für einen Moment, da die mythische Assimilierungsbewegung, wie wir gesehen haben, nicht lange auf sich warten lässt, etwa in Gestalt der Rede von der ›Unschuldigkeit‹ des Körpers. Eine solche Interpretation des Körpers hätte Barthes sicher abgelehnt, vielmehr betont er, wie ich in Abschnitt II.1.3 gezeigt habe, das Wechselverhältnis zwischen körperlich verfasstem Individuum und Kultur. Auf diesen Punkt werde ich in Abschnitt II.3.2 noch weiter eingehen. ESS, S. 277f.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

Kertész hat 1926 den jungen Tzara porträtiert (mit Monokel); was ich indes darauf bemerke, durch dieses Mehr an Sichtbarem, das gleichsam das Geschenk, die Gunst des punctums ist, das ist Tzaras Hand, am Türrahmen ruhend: eine große Hand mit schmutzigen Fingernägeln.57 Indem er die Subversivität des materiellen Details in den Fokus seiner Untersuchungen rückt, kommt Barthes – obwohl er immer weniger über konkrete Inszenierungen schreibt – vollends beim Theater an, insbesondere beim Theater Artauds, dem es ein Anliegen war, […] auf die plastischen, aktiven, die Atmung betreffenden Quellen der Sprache zurückzukommen, […] die Wörter wieder mit den körperlichen Bewegungen, die sie hervorgebracht haben, zu verknüpfen, die logische, diskursive Seite des Wortes hinter seiner körperlichen, gefühlsmäßigen verschwinden zu lassen […].58 Der Barthes’sche Begriff der Theatralität, dies wurde in Abschnitt II.1.3 bereits erläutert, fasst eben jenen Moment, in dem sich ein materielles Phänomen der verstehenden Handhabung entzieht und in seiner ästhetischen, begrifflich nicht unmittelbar übersetzbaren Qualität auffällig wird – ob im Theater oder anderswo. Als Detail tritt es aus dem semiologischen Gesamtzusammenhang (einer Inszenierung, einer Fotografie) heraus, es fragmentiert ihn durch sein Auffälligwerden und sabotiert so seine einwandfreie Lesbarkeit. Das Fragment ist, so Barthes in einem seiner Brechttexte, die »Szene, die ›um ihrer selbst willen‹ kommt«, die also nicht dem Gesamtzusammenhang der Erzählung untergeordnet ist, sondern als konkretes Einzelnes auffällig wird, sich zeigt59 . Solches Sichzeigen ist indes durchaus ein hermetischer, an die biographische Jeweiligkeit des Betrachters gebundener Vorgang, was auch Barthes erkennt: »Beispiele für das punctum anzuführen bedeutet […] in gewisser Weise, sich preiszugeben.«60 Der Philosoph, der solche Phänomene sammelt, enthüllt sich, und zwar nicht als kalter Analytiker, wie es noch der Mythologe konnte, sondern als Fetischist: Er muss zugeben, was ihn anzieht, was er begehrt. Mit einem Phänomen subjektiver Gebundenheit lässt sich dann allerdings keine Subvertierung gesellschaftlicher Zustände planen – was Barthes’ späten Texten als Verrat am ideologiekritischen Projekt ausgelegt wurde. Schon für Brecht »besteht der Verdacht, allzu subjektive Darstellungen der Welt erzielten asoziale Wirkungen.«61 Allerdings beruht sein eigenes Gestuskonzept eindeutig auf dem

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HK, S. 54f. Herv. i. O. Das Punctum ist, so Barthes weiter, ein Bildelement, das »wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor[schießt], um mich zu durchbohren« (ebd., S. 35). TD, S. 157. RdS, S. 246. Zum Sichzeigen des Körpers vgl. Mersch, Körper zeigen, S. 80-87. HK, S. 53, Herv. i. O. GBA 23, S. 295.

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Phänomen der Theatralität der Signifikanz – und damit auf einer Ungewissheit des Wirkens, die er mindestens hingenommen hat. Aus marxistischer Perspektive problematisiert in den Neunzigerjahren Terry Eagleton die Barthes’sche Fokusverschiebung von der Ideologiekritik auf Phänomene des Ästhetischen: Dennoch läßt sich bei der Lektüre der Spätschriften von Roland Barthes oder Michel Foucaults kaum der Eindruck vermeiden, daß eine bestimmte Art der Meditation über den Körper, über seine Oberflächen und Lüste, über seine Reizzonen und die Techniken im Umgang mit ihnen zu einer ganz angenehmen Entfernung des politischen Engagements aus einem weniger unmittelbar körperlichen Bereich beigetragen hat, ja sogar als Ersatz für eine Art Ethik diente.62 An dieser Stelle ist es jedoch notwendig, die tektonischen Verschiebungen des Barthes’schen Denkens zu vergegenwärtigen. Dieses Denken hat sich durch die – zeitgeschichtlich fundierte – postrestitutive Einsicht in die Widersprüche der Ideologiekritik verändert. Die Subversivität des Ästhetischen ist, das sei hier ausdrücklich betont, von anderer Art als die Rede von der ›politischen Kunst‹ etwa es hoffen lässt. Die ›Szene, die um ihrer selbst willen kommt‹ lässt sich nicht in den Ökonomien politischer Bewegungen organisieren. Barthes’ methodologische Konsequenz einer neuen Positivität gibt, wie ich im Folgenden zeigen werde, genau wie das dezidiert apolitische Theater Artauds, den Blick frei auf die Unersetzbarkeit sowohl der ästhetischen als auch der politischen Form: Im Erfahrbarmachen der kulturellen – nicht der politischen – Subversionspotenz des Nichtverstehens.

Enthüllen/Verhüllen In Barthes’ Spätwerk tritt der Philosoph nicht mehr als Diener des Allgemeinen, sondern als Liebhaber des Konkreten, als Erotiker auf. Dabei bricht Barthes mit der Vorstellung einer passiven Materie und mit der Entsinnlichung mythologischer Neutralitätsfantasien. Beeinflusst durch die Psychoanalyse63 thematisiert Barthes 62

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Eagleton, Ästhetik, S. 8. Für Barthes sind die Motive von Körper und Lust – auf die ich im folgenden Abschnitt eingehen werde – immer Gegenstand politischer Grabenkämpfe gewesen: In ihrem Verhältnis zur Lust enthüllt, so Barthes, die Position der »Rechten« ihren Antiintellektualismus, der Herz gegen Kopf ausspielen will. Die Position der »Linken« enthüllt deren Überlegenheitsanspruch gegenüber vermeintlichen Dekadenzerscheinungen: »Eine ganze Mythologie will uns weismachen, daß die Lust (und besonders die Lust am Text) eine Idee der Rechten ist. Bei der Rechten weist man mit ein und derselben Geste der Linken zu, was abstrakt, langweilig, politisch ist, und behält die Lust für sich […]. Und bei der Linken verdächtigt und verschmäht man aus moralischen Gründen jeden ›Rest von Hedonismus‹ (wobei man die Zigarren von Marx und Brecht vergißt).« (LT, S. 34.) KdS, S. 220. Für Barthes ist die Psychoanalyse – neben der insbesondere ›linken‹ Politik – einer von »zwei Gendarmen«, die immer gleich zur Stelle sind, wenn man über Facetten des Lustvollen spricht. »Das Monument der Psychoanalyse muß«, so Barthes allerdings weiter, »durchschritten – nicht umgangen – werden wie die Prachtstraßen einer Großstadt, auf de-

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

nun zunehmend die Theatralität der Signifikanz. Nach der Verselbstverständlichung von Mythologie und Avantgarde scheint Nichtverstehen nur noch als Teil eines intimen Spiels zwischen Subjekt und sinnlich Konkretem denkbar.64 Dieses zeigt sich hier in seiner Konkretion, um den Preis seiner Bedeutung, aber immer nur punktuell, als Dialektik einer Ent- und Verhüllung. Der Eintritt der Wirkung dieser Dialektik ist von einer zweifachen Unsicherheit geprägt: Zum einen, wie im vorigen Abschnitt bereits erläutert, durch die individuelle Empfänglichkeit des Begehrens desjenigen, der, als Zuschauer einer Theateraufführung etwa, immer nur potentiell von ihrer beabsichtigten Wirkung erfasst wird. Zum anderen ist das Spiel der Enthüllung des Materiellen durch Vorerfahrungen und Kontexte gefährdet, die es schnell mythisch überformen. Daher vollzieht es sich immer nur als punktuelles Aufklaffen des Bedeutungsgewebes, für Barthes als erotisches Ereignis: »die Unterbrechung ist erotisch […]: die Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt«65 . Für Barthes wird, im Anschluss an die Psychoanalyse Freuds und Jacques Lacans, besonders die Frage nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Theatralitätserfahrungen relevant. Theatralität kehrt hier, psychoanalytisch gewendet, im Begriff der Jouissance wieder.66 Im Folgenden greife ich insbesondere auf die philosophischen Koordinaten von Die Lust am Text zurück, um den Gedanken

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nen man spielen, träumen kann usw.: es ist eine Fiktion.« (LT, S. 86.) Barthes entlehnt daher auf undogmatische Weise Motive und Begriffe insbesondere der Lacan’schen Psychoanalyse. Zur Differenz zwischen Barthes und Lacan vgl. Martin Jay: Roland Barthes and the Tricks of Experience. In: Yale Journal of Criticism. 14/2 September 2001, S. 469-476, hier S. 470 und 475. Es existieren einige Parallelen zu Schiller, die hier nicht umfangreich analysiert werden können. Zwei Punkte möchte ich dennoch kurz benennen. Wie Barthes’ Spiel der Jouissance, so entzieht sich Schillers ästhetisches Spiel der Ökonomisierung durch politische Zweckzusammenhänge und bleibt doch, im Sinne einer wirkenden Hermetik, nicht ohne Konsequenz für das Zusammenleben der Individuen. Darüber hinaus bricht auch Schiller mit der Vorstellung einer passiven Materie: Für Schiller erlaubt es das ästhetische Spiel der Natur, »sich gegen uns herein zu bewegen«, uns also zu affizieren (Schiller, Über die ästhetische Erziehung, S. 350. Herv. i. O.). LT, S. 17. Sowohl die deutsche Übersetzung Ettes als auch die Königs geben ›jouissance‹ mit ›Wollust‹ wieder. Diese Übersetzung greift jedoch viel zu kurz. Barthes übernimmt den Begriff zwar von Lacan, erweitert die Bedeutung des Lacan’schen, auf sexuelle Triebbefriedigung beschränkten Begriffs der Jouissance jedoch zu einer Körper und Geist umfassenden epistemischen Erfahrung, die Auswirkungen auf das Verhältnis von Individuum und Kultur hat. Auch die etwa bei Dylan Evans bzw. Gabriele Burkhart anzutreffende Übersetzung als ›Genießen‹ reflektiert nicht die komplexe, lust- wie schmerzvolle Spannung zwischen Zerstörung und Schaffen, die die Barthes’sche Pointe des Begriffs darstellt. Ich verwende daher weiterhin den französischen Begriff ›jouissance‹ und ersetze diesen im Folgenden in den Zitaten deutscher Übersetzungen Barthes’, was ich entsprechend kennzeichne. Für eine Überblicksdarstellung zum Begriff der Jouissance bei Lacan siehe Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Übersetzt von Gabriele Burkhart. Wien 2002, S. 113-115.

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einer subversiven Erotik des Nichtverstehens zu entwickeln und diesen schließlich mit den Herausforderungen eines pharmakologischen Kulturbegriffs zu konfrontieren. Fundiert sind meine Überlegungen durch die Verbindung von Verstehensentzug und Erotik, die Barthes am Phänomen der Körnung der Stimme herstellt: Bei dieser handelt es sich um »eine erotische Mischung aus Timbre und Sprache«, die auf eine »Kunst, seinen Körper zu führen« hindeutet, die der Sprecher beherrscht. Hierdurch wird die Möglichkeit zur sinnlich-erotischen Interaktion mit ihm vergegenwärtigt.67 Ich greife die – zunächst literaturtheoretisch konnotierte – Unterscheidung von Lust (im französischen Original »plaisir«) und Jouissance auf, die Barthes in Die Lust am Text trifft.68 Für meine Fragestellung sind insbesondere die kulturphilosophischen Implikationen der beiden Konzepte relevant, die auch Barthes andeutet. Während Lusterfahrungen nämlich Konsistenzerfahrungen sind, handelt es sich bei Erfahrungen der Jouissance um Auflösungserfahrungen – beide jeweils bezogen auf Kultur und Subjekt. Der Moment lustvoller Lektüre ist ein Moment äußerster Verstehensbereitschaft, in dem das Subjekt in ein Verhältnis der Komplizenschaft zu seiner eigenen Kultur tritt. Gegen alle möglichen logischen Widersprüche wird hier das Verstehen aufrechterhalten.69 Es festigt sich dadurch sowohl der Status quo der Kultur als auch der des Subjekts, das sich durch die, wenn auch nur vermeintliche, Konsistenz der Erzählung das hereinbrechende Chaos der Welt vom Leib hält.70 Die Erfahrung der Jouissance hingegen setze ich mit der Theatralität der Signifikanz 67 68

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LT, S. 97. Was den Lustbegriff selbst angeht, so räumt Barthes gleich zu Beginn von Die Lust am Text eine uneinholbare terminologische Unsicherheit ein, die auf einer sprachlichen Unverfügbarkeit beruht: »leider verfügt die französische Sprache über kein Wort, das Lust und [Jouissance] gleichzeitig umfaßt; man muß also die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ›Lust am Text‹ akzeptieren, der bald speziell (Lust contra [Jouissance]), bald als Artbegriff (Lust und [Jouissance]) verstanden wird.« (KdS, S. 193.) Die Unterscheidung von Lust- und JouissancePhänomenen ist bedeutsam, wenn auch nicht streng systematisierbar. So ist es nach Barthes unzulässig, Literatur in Texte der Lust und Texte der Jouissance einzuteilen – aufgrund der Subjektivität der Leseerfahrung (vgl. KdS, S. 225ff.). Barthes selbst benutzt manchmal den Begriff der Lust (Plaisir) für den der Jouissance, nie aber umgekehrt. Die Urszene in Die Lust am Text ist die des lustvollen Lesens, in der die Lesenden sämtliches Wissen, ihre Ideale und Weltanschauungen über Bord werfen, um dem Text zu folgen. Es ist dabei egal, wie es um die Logik oder die historische Akkuratesse eines Textes bestellt ist. Lesend wird alles anerkannt, nur um »jenes alte Gespenst abzuschütteln: den logischen Widerspruch« (LT, S. 8). Die durch vorauseilenden Verstehensgehorsam geprägte Szene lustvoller Lektüre lässt sich mit der Mythosdeutung Blumenbergs parallelisieren: Die wirklichkeitsbewältigende Leistung des Mythos ist die »Fähigkeit zur Prävention, der Vorgriff auf das noch nicht Eingetretene […].« (Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 10.) Grundiert wird diese Leistung von der »Angst« angesichts einer unberechenbaren, chaotischen Wirklichkeit, die den »ganze[n] Horizont

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

gleich, bei der das Verstehen durch das Auffälligwerden der Materialität ausgesetzt wird. Dies vermag nach Barthes auch der Film, der den Ton »aus größter Nähe«71 aufnimmt und so in ihrer ganzen Materialität, in ihrer Sinnlichkeit, den Atem, die Rauheit, die Fleischlichkeit der Lippen, die ganze Präsenz der menschlichen Schnauze hören [lässt], […] (die Stimme, das Schreiben, sie müssen nur frisch, schmiegsam, eingefettet, fein gekörnt und vibrierend sein wie die Schnauze eines Tieres), und schon gelingt es ihm, das Signifikat in weite Ferne zu rücken und den anonymen Körper des Schauspielers sozusagen in mein Ohr zu werfen: Das körnt, das knistert, das streichelt, das schabt, das schneidet: das lüstet.72 Beide Phänomene, Lust und Jouissance, stellen Erfahrungen des Hermetischen dar: In der Lusterfahrung verbleibt das verständige Subjekt in den hermeneutischen Grenzen seiner Kultur, es affirmiert sie. Die Erfahrung der Jouissance ist ebenfalls hermetisch, insofern dasselbe sinnliche Detail nicht für alle Menschen gleichermaßen auffällig wird. Von der entfremdenden Emersion des Mythologen ist auch die Jouissance weit entfernt, und doch ist sie kein blindes sinnliches Involviertsein. Als Moment des enthüllenden Verhüllens besitzt sie die epistemische Qualität nicht-propositionaler Erkenntnisformen: Dem Mangel an Verstehen korrespondiert die Intensitäts- und Merkmalsfülle des Singulären – ein wahres Artaud’sches Theater.73 Im Nichtverstehen der Barthes’schen Jouissance, wie auch im Theater Artauds, kehrt hiermit die Figur des platonischen Eros auf epistemologischer Ebene wieder, als Wechsel von

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gleichwertig als Totalität der Richtungen, aus denen ›es herankommen kann‹« erscheinen lässt (ebd.). LTb, S. 84. Herv. i. O. Ebd. Der letzte Teil des Satzes lässt sich kaum angemessen ins Deutsche übertragen. Während König »ça jouit« durch »Wollust« substantiviert, behält Ettes Übersetzung (»das lüstet«) die Verbform des Französischen bei, desubstantiviert dann aber das deutsche »Lust« und schränkt damit den Bedeutungshorizont des Jouissance-Begriffs zwangsweise ein, in Ermangelung eines ihr äquivalenten deutschen Ausdrucks. Über sein ideales Drama schreibt Artaud: »Die philosophische Analyse eines solchen Dramas ist unmöglich; nur poetisch ist es zu bestimmen […]; nur durch Formen, durch Töne, Musik und Volumen […] vermag man nicht etwa uranfängliche Richtungen des Geistes, die unser logischer, missbräuchlicher Intellektualismus zu nutzlosen Schemata reduzieren möchte, zu evozieren, sondern so etwas wie Zustände von einer so intensiven Schärfe, von einer so absolut schneidenden Wirkung, dass man durch das Zittern der Musik und der Form hindurch die unterirdischen Drohungen eines ebenso endgültigen wie gefährlichen Chaos verspürt.« (TD, S. 65.) Für Barthes ereignet sich die Jouissance nicht nur auf der körperlichen Ebene: Auch die Unsicherheit darüber, ob ein Text überhaupt noch der Literatur zuzurechnen ist oder schon wahnhafte Züge aufweist – wie die Texte Artauds –, gehört in den Bereich des lustvollen Schwankens von Bedeutung (LT, S. 65).

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Überfluss und Mangel.74 Die Entleerung der Werte, die implizit für den Umgang mit einer Situation herangezogen werden, rückt die Erfahrung der Jouissance in die Nähe der Epoché75 : Situatives Beurteilen wird verunmöglicht aufgrund fehlender übersubjektiver Referenzpunkte. Stattdessen konfrontiert die Jouissance mit einer Dispersion, einer Streuung oder Stückelung von Bedeutung. Barthes’ Jouissance-Begriff stellt eine Verklammerung subjekt- und kulturphilosophischer Aspekte dar, mit Schwerpunkt auf den erstgenannten: Sie ist »der Riß, der Bruch, die Deflation, das fading, das das Subjekt mitten in der [Jouissance] ergreift.«76 Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Konjunktur von Subversivitätszuschreibungen auf dem Feld der Kunst und des Ästhetischen77 fokussiere ich auf den kulturphilosophischen Aspekt des Jouissancekonzeptes. Das Besondere an den oben genannten Zuständen – Riss, Deflation, Fading – ist, dass sie ein Nichtmehr und Noch-nicht ausdrücken, Motive des Ambivalenten und Ambigen sind. Vom Phantasma der revolutionären Zerstörung der Kultur ist Barthes’ Konzeption allerdings nach wie vor weit entfernt: »Weder die Kultur noch ihre Zerstörung sind erotisch; erst die Kluft zwischen beiden wird es.«78 Kultur wird also nicht zum Verschwinden gebracht – zugunsten der Restitution einer natürlichen Unschuld, eines archimedischen Punktes der Subversion oder Ähnlichem – sie ist im Gegenteil integraler Bestandteil der momenthaften Auflösungserfahrung. Im Sinne des postrestitutiven Denkens möchte ich Barthes’ Jouissancekonzept für eine Bestimmung der Risiken poietischer Verantwortlichkeit nutzen. Das Risiko der nichtverstehensimmanenten Erotik der Auflösung lässt sich am Beispiel des Theaters veranschaulichen: Hier könnte man verführt werden, das strenge ritualisierte Gefüge eines Theaterabends zu zerreißen, zu brechen, aufzulösen, indem man die Bühne stürmt und den begehrten Schauspielerkörper berührt.79 Die Erotik des Nichtverstehens reißt »Kultur in Stücke«80 , fragmentiert Bedeutungszusammenhänge, stiftet Chaos und verführt zum Spiel mit dem Ambigen, dem Kippen von Situationen; die Richtung dieses Kippens ist jedoch ungewiss. In dieser riskanten Lockung des Nichtverstehens offenbart sich Kultur als Pharmakon: Wie man 74

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Als Sohn von Penia (Mangel) und Poros (Überfluss) ist Eros »an demselben Tage […] bald obenauf, solange ihm die Mittel zufließen, bald sinkt er wie tot dahin, lebt aber immer wieder auf vermöge der Natur seines Vaters, doch, was er gewonnen, zerrinnt immer wieder […]. Zwischen Weisheit und Unwissenheit hält er die Mitte.« Platon: Das Gastmahl. In: Ders.: Sämtliche Dialoge. In Verbindung mit Kurt Hildebrandt u. a. hg. und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen v. Otto Apelt. Bd. III. Hamburg 1998, S. 47f. LT, S. 95. Ebd., S. 14. Herv. i. O. Vgl. Abschnitt I.3.1. LT, S. 14. Hierzu s. a. ÜM, S. 96 sowie den Abschnitt II.1.3 der vorliegenden Untersuchung. LT, S. 77.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

sich angesichts der fundamentalen Arbitrarität von Bedeutung verhält und wohin dieses Verhalten trägt, bleibt ungewiss – von Nihilismus bis Faschismus ist alles möglich. Die Jouissance ist, als intimes Geschehen, nicht politisierbar, sie ist »nicht von einer Logik des Verstehens und Fühlens abhängig; sie ist ein Treiben, etwas, was zugleich revolutionär und asozial ist und von keiner Kollektivität, keiner Mentalität, keinem Idiolekt mit Beschlag belegt werden kann.«81 Sie stellt für einen kurzen Moment eine Urszene her, in der das Subjekt zum ersten Menschen wird, der sich seine Mythen erst schaffen muss.82 Diese Vereinzelung steht natürlich in eklatantem Widerspruch zu Solidarisierungsforderungen etwa marxistisch inspirierter Kulturkritik.83 Barthes wirft dieser mit Blick auf seine Philosophie der Lüste vor, moralischen Zwängen unterworfen zu sein, die im scharfen Widerspruch zu ihren eigenen Befreiungsrhetoriken stehen.84 Demgegenüber bezeichnet er sein eigenes Projekt als Versuch einer Verantwortungsübernahme »für einen gewissen Hedonismus«85 – gegen ein sinnenfeindliches, moralisierendes Philosophieverständnis. Verantwortungsübernahme, nicht rationale Tilgung oder moralische Reinwaschung menschlicher Begehrlichkeiten ist der Einsatz der theatral und philosophisch kultivierten Erotik des Nichtverstehens, wie wir sie bei Barthes, Brecht und Artaud finden86 – der platonische Eros ist nicht zuletzt ein wilder, hässlicher Gott87 . Die Erotik des Nichtverstehens steht im Dienst einer Lebenskunst in postrestitutiven Zeiten, die, gemäß der Eigenschaft des Pharmakons, ihrer eigenen Wirkung nie sicher sein kann, da Erotisierung sich nicht verordnen88 lässt: So kann dem Theater des Nichtverstehens entweder – gemäß der alten Schiller’schen Hoffnung89 – größere Toleranz dem Fremden, Unverstandenen gegenüber erwachsen oder eine totalitäre Bestärkung des Selbstverständlichen angesichts der Unaushaltbarkeit des Ungewissen.

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Ebd., S. 34f. Artaud verlagert die Szene des – insbesondere körperlich sich vollziehenden – Ringens mit der Bedeutung auf die Bühne, wie im Abschnitt II.4.4 gezeigt wird. Vgl. exemplarisch den Vorwurf Eagletons, den ich im Abschnitt II.3.2 thematisiert habe. KdS, S. 225ff. Ebd., S. 225. Barthes selbst bezeichnet Brechts und Artauds Konzepte als Ästhetiken der Lust, vgl. LT, S. 87 und 97. »[…] erstens ist er immer arm, und weit gefehlt, daß er zart und schön wäre, wie die meisten wähnen, ist er vielmehr rauh und struppig, barfuß und obdachlos«, so die Rede des Aristophanes in Platons Symposion (Platon, Symposion, S. 47f.). Wenngleich insbesondere der Situationismus im Anschluss an Artaud dies bisweilen versucht hat (vgl. Raoul Vaneigem: Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen. Aus dem Französischen von der Projektgruppe Gegengesellschaft. Neu durchgesehen und überarbeitet von Hanna Mittelstädt. Hamburg 2008, insbes. S. 309-314). Schiller, Über die ästhetische Erziehung, S. 350f.

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Der Eros des Nichtverstehens lässt sich abschließend als Reiz der Erschütterung von Bedeutung mit ungewissem Ausgang bestimmen. Das Theater des Nichtverstehens ermöglicht im Anschluss daran ein ästhetisches Exerzitium der radikalen Bejahung des Risikos, das kulturelle Formung aufgrund ihrer doppelten Struktur als ›Grenze und Station‹ immer schon darstellt.

II.3.3

Theater machen: Eine Methodologie der Dissidenz

In Stücken. Jouissance der Philosophie Im Folgenden wird gezeigt, wie Nichtverstehen für Barthes, auch unabhängig von seiner dezidierten Beschäftigung mit Brecht und Artaud, zum philosophischen Gestaltungs- und Darstellungsprinzip wird, das seine Texte schließlich zu einem Theatrum philosophicum transformiert. Barthes hat sein Verfahren selbst als »kurze Schreibweise«90 bezeichnet, wobei der Übergang von Essayistik zu Aphoristik teilweise fließend ist. Ich interpretiere dieses keineswegs spezifisch moderne91 Verfahren als Subvertierung philosophischer Mythen: Insbesondere die Fragmentierung, Dissoziierung und der Metaphernreichtum von Die Lust am Text enttäuscht die »Darstellungserwartung sprachlicher Präzision«92 und analytischer Schärfe, die der Kontext der kulturellen Form Philosophie erwecken mag. Auf die Flüchtigkeit ihres Ereignischarakters reagiert Barthes mit einer spezifischen Methodologie, nämlich der Transformation der Analyse zur Addition – ein alter Gedanke, findet er sich doch, wie bereits gezeigt, schon bei Baumgarten.93 So gleichen denn auch Barthes’ späte Essays einem philosophischen Auflesen konkreter Phänomene des Körperlichen und Materiellen. Weil das Ereignis der ästhetischen Subversion, wie bereits dargelegt wurde, so unberechenbar ist, bleibt dem Philosophen nichts als die dokumentarische Sammlung und Exhibition; weder auf Verstehen noch auf Begreifen lässt sich hoffen. Das dokumentarische Moment dieser Texte darf allerdings nicht auf Phantasmen eines objektiven Gegenstandszugriffs zurückgeführt werden. Dokumentiert wird nämlich nicht der Gegenstand, sondern seine Wirkung auf den Philosophen –

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ÜM, S. 108. Der Einfluss Nietzsches war für diese methodologische Entwicklung entscheidend, wie Ette zeigt: ders., Roland Barthes, S. 361ff. und 367. Darüber hinaus bestehen auffällige Parallelen zwischen Barthes späten Essays und den Salons Baudelaires. Auf Parallelen zwischen Barthes und Montaigne etwa verweist Jay, Roland Barthes and the Tricks of Experience, S. 470. Konersmann, Vorwort. Figuratives Wissen, S. 14. Der Ästhetiker zieht »den allgemeineren, höchst abgesonderten Wahrheiten die bestimmteren, weniger allgemeinen und weniger abgesonderten Wahrheiten und dem Allgemeinen das Einzelne, so weit er kann« vor (Baumgarten, Ästhetik, S. 419). Die Möglichkeit einer Parallelisierung mit Baumgarten teilt Barthes mit Artaud, vgl. Abschnitt II.4.2.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

dessen Position eben nicht der Nullpunkt ist. Die Positionalität seines Blicks wirft den Philosophen – diametral zum sinnlichen Reichtum seiner Betrachtung – zurück auf ein recht karges Anliegen: zu zeigen, dass es Momente des Bedeutungsentzuges gibt. Die Methode Barthes’ impliziert ein solches Anliegen, wie ich meine, und hier offenbart die essayistisch ermöglichte philosophische Schau ihre theatrale Qualität. Damit ist freilich noch nichts über den Erfolg eines solchen Projektes gesagt: Die Hermetik kultureller Formen lässt sich auch hiermit nicht überwinden, gleichwohl speist sich die Methodologie Barthes’ aus der Einsicht in diese Unüberwindbarkeit. Der Phänomenhorizont der Lust am Text lässt die Begrenztheit des definitorischen Zugriffs studieren, ist doch über die positional gebundene lustvolle Lektüre, so Barthes, »keinerlei ›These‹ möglich«94 . »Bestenfalls« kann man sich durch »eine Inspektion (eine Introspektion)« mit ihr auseinandersetzen.95 Was sich nicht instantan in Verstehen überführen lässt, bedarf der Strategien der Übersicht, der Exhibition, als Bedingungen der Möglichkeit von Inspektion wie Introspektion. Für dieses Bedürfnis erweist sich die essayistische Schreibweise, nicht erst seit Barthes, als Form der Wahl.96 Die Essayistik leistet eine solche Inspektion, insofern sie anders verfährt als die an der reduzierenden Funktion von Subsumtion orientierte wissenschaftliche Betrachtungsweise: Als heuristisches Verfahren erlaubt sie die Ausrichtung auf das Additive, auf Sichtung und Sammlung von Begriffen und Phänomenen. In seinen Miniaturen der Lust am Text lässt Barthes demgemäß Begriffe in scheinbar assoziativer Weise auf- und abtreten. Das Denken präsentiert sich so als lose Szenenfolge, die nicht mehr dem Paradigma der Stringenz, sondern dem des Kreisens verpflichtet ist, wie sich etwa hier zeigt: »[N]icht die Gewalt beeindruckt die Lust; die Zerstörung interessiert sie nicht; was sie will, ist der Ort

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LTb, S. 46. Ebd., S. 67. Barthes artikuliert seine Probleme bei der Unterscheidung von Lust und Jouissance gleich zu Beginn des Textes wie folgt: »Plaisir/Jouissance […]: Terminologisch schwankt das noch, ich verheddere mich, ich vertue mich. In jedem Falle wird es immer eine Spanne Unentschiedenheit geben; diese Unterscheidung wird nicht die Quelle sicherer Klassifizierungen sein, das Paradigma wird knirschen, der Sinn wird prekär, revozierbar, reversibel, der Diskurs wird unvollständig sein.« (Ebd., S. 12.) Der Essay als Gattung wurde und wird auf vielfältige Weise beschrieben: Im Anschluss an Adorno wird er als Krisenphänomen aufgefasst, das auf den Verlust tradierter Gewissheiten reagiert und Ungewissheit bejaht (hierzu vgl. AGS 2, S. 8-33; Annett Welsch: Der Essay als Denkbewegung. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie. 2003/2, S. 5-26; Markus Wild: Essay. In: Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Roland Borgards u. a. Stuttgart u. a. 2013, S. 277-281). Peter V. Zima charakterisiert den Essay mit Gerhard Haas als heuristisches »Gestaltungsprinzip« von Prozessen des Probierens, Prüfens, Verifizierens (vgl. ders.: Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne. Würzburg 2012, S. 5).

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eines Sichverlierens, ist die Spalte, der Schnitt, die Deflation, das fading, welches das Subjekt im Herzen der Jouissance erfasst.«97 In Über mich selbst benutzt Barthes selbst das Bild des Kreises, um sein Schreiben zu charakterisieren: »In Fragmenten schreiben: die Fragmente sind dann wie Steine auf dem Rand des Kreises: ich breite mich rundherum aus, meine ganze kleine Welt in Bruchstücken; und was ist in der Mitte?«98 In post-alethischen Zeiten bleibt der Mittelpunkt dieses philosophischen Kreisens ungewiss, da Wahrheit nicht gefunden werden kann. So muss es sich, hier korrigiere ich Barthes, bei seiner Methode philosophischen Schreibens um den Nachvollzug einer logarithmischen Spirale handeln: Eine unendliche Annäherung an die Sache durch vom Vorangegangenen abweichende Wiederholung. In Akten der Zerstückelung und Fragmentierung des Bedeutungsflusses durch Aneinanderreihung von nicht immer kohärenten Sprachbildern gibt Barthes seine Gedanken für das montagehafte Spiel der Tmesis99 frei: Gedanken werden fragmentiert im Sinne der Szene, die ›um ihrer selbst willen kommt‹, herauslösbar aus einem Gesamtzusammenhang. Die Konkretion der Eindrücke wird mit dem Allgemeinheitsanspruch der wissenschaftlichen Schreibweise kontrastiert. Erinnern wir uns: Die ästhetische Beschaffenheit der Körper und Dinge offenbart die semiologische Unabschließbarkeit im Ereignis der Theatralität – bei dem die Singularität des Materiellen, gleich der widerspenstigen Szene, aus dem Gesamtzusammenhang der Bedeutung heraustritt. Routine ist dabei der Feind der ästhetischen Erfahrung: Die Routinen und Mythen des philosophischen Betriebes bedrohen die Subversion des ästhetischen Gegenstandes ebenso sehr wie die Verstehensroutinen der bürgerlichen Alltagswelt. Entsprechend bezeichnet Barthes die Doxa als schlechte Form der Wiederholung: »Die Doxa ist ein schlechter Gegenstand, weil das eine tote Wiederholung ist«.100 Hingegen existieren auch gute 97

LTb, S. 15f. Herv. i. O. Zur Metapher des Kreisens vgl. auch Barthes LT, S. 46: »Um ein solches Sujet kann ich nur kreisen […].« (Herv. i. O.) 98 ÜM, S. 108. 99 Die inhaltliche Ausbestimmung der Textstücke sowie ihr Verhältnis zueinander bleiben diffus: »Lust am Text. Klassiker. Kultur (je mehr Kultur, desto größer, diverser wird die Lust sein). Intelligenz. Ironie. Feingefühl. Euphorie. Beherrschung. Sicherheit: Lebenskunst. Die Lust am Text kann man durch eine Praxis definieren […]: Ort und Zeit der Lektüre: Haus, Provinz, bevorstehende Mahlzeit, Lampe, Familie, wo sie hingehört, das heißt in der Ferne und nicht fern (Proust im Zimmer mit Schwertlilienduft) usw. […] Texte der [Jouissance]. Die Lust in Stücken; die Sprache in Stücken; die Kultur in Stücken. Sie sind insofern pervers, als sie außerhalb jeder vorstellbaren Finalität sind – sogar jener der Lust […]. Kein Alibi hält, nichts stellt sich wieder her, nichts wird einverleibt. Der Text der [Jouissance] ist absolut intransitiv.« (LTb, S. 66.) Die Diffusität der Wortketten lässt die Sätze als – vermeintlich – abgeschlossene Bedeutungsträger zurücktreten und transformiert sie zur Szenerie für das freie Spiel der Assoziationen der Leser. 100 ÜM, S. 81.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

Wiederholungen: »Gut ist die Wiederholung, die vom Körper kommt«.101 Mit Blick auf Artaud, der sein Theater auf den Schauspieler ausrichtet, »der nicht zweimal dieselbe Geste macht«102 interpretiere ich Barthes’ essayistisches und fragmentarisches Schreiben als ein an abweichender Wiederholung orientiertes mimetisches Verfahren eines Theatrum philosophicum: immer dann, wenn man die Beschreibung nicht schließt, immer dann, wenn man auf hinreichend mehrdeutige Weise schreibt, damit die Bedeutung ›fliehen‹ kann, immer dann, wenn man tut, als ob die Welt bedeute, ohne doch zu sagen was, eine Frage frei, rüttelt am Bestehenden, ohne jedoch jemals das noch nicht Bestehende vorauszuformen, und verleiht der Welt Atem.103 Mit seinen Wortkaskaden erhöht Barthes die Dichte der möglichen Bedeutungen, statt argumentativ auf die Verwirklichung einer einzigen Bedeutung hin zu schreiben. Damit imitiert seine Schreibweise den Bedeutungsentzug ästhetischer Erscheinungen im Moment der Theatralität, lässt, wie das Theater Artauds104 , Bedeutung erahnen und Bedeutungslosigkeit erhoffen. Barthes’ Streuen und Spalten von Bedeutung lässt den Leser am Exerzitium des Sammelns und Inspizierens teilhaben – freilich mit Abweichungen: Die Sammlung wird mit den Lüsten und Assoziationen eines jeden neuen Sammlers transformiert, was zum subjektivistischen Eingeständnis in die ästhetische Qualität denkerischer Auseinandersetzung nötigt. Für gegenwärtige Erwartungen an die Leistungsfähigkeit wissenschaftlicher Verfahren ergeben sich daraus einige Konsequenzen: Zunächst werden damit neopositivistische Objektivitätserwartungen sowohl biologistischer als auch neu-realistischer Provenienz enttäuscht.105 Sodann wird die theoriepolitisch motivierte Erwartung einer Absolution versprechenden »ideale[n] Transparenz«106 der Gedanken als Illusionismus enttarnt. Beide Erwartun-

101 Ebd. 102 TD, S. 16. 103 NdL, S. 158. Ihre Abschließbarkeit macht die Sätze zu Werkzeugen der Ideologie: »jede abgeschlossene Aussage läuft Gefahr, ideologisch zu sein« und dann zu Institutionen zu erstarren (LT, S. 75). Inspiriert wurden meine Überlegungen durch einen kurzen Verweis Helmar Schramms auf die Parallelität von Essay und Theater (vgl. Schramm: Theatralität. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 6: Tanz-Zeitalter/Epoche, hg. von Karlheinz Barck u. a. Stuttgart 2005, S. 48-73, hier S. 54). 104 Artaud schreibt, seine mit Gestik, Pantomime, Schreien und stimmlichen Wortentleerungen arbeitende Poetik stelle eher die »Notwendigkeit« des Wortes aus, statt seine tatsächliche Manifestation (TD, S. 143). Bevor es zur Bildung des Wortes kommt, soll der Schauspieler »auf spontane Weise zur Gebärde« zurückfinden (ebd.). Bedeutung im Sinne begrifflicher Repräsentation existiert im Theater Artauds also vor allem als Lockung, wie in Kapitel II.4 gezeigt wird. 105 Vgl. Abschnitt II.1.3. 106 Siegmund, Jérôme Bel, S. 85f.

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gen speisen sich aus der Hoffnung auf einen archimedischen Punkt, vom dem aus Wahrheit erkannt bzw. dargelegt werden kann – die Welt, und das Selbst, endlich berechenbar wird. Mit seiner performativ vollzogenen Absage an solche Hoffnungen und Erwartungen entspricht die Barthes’sche Methodologie einer bereits von Schlegel aus der Unsicherheit der Philosophie gezogenen Konsequenz: Hat man nun einmal die Liebhaberei fürs Absolute und kann nicht davon lassen: so bleibt einem kein Ausweg, als sich selbst immer zu widersprechen, und entgegengesetzte Extreme zu verbinden. Um den Satz des Widerspruchs ist es doch unvermeidlich geschehen, und man hat nur die Wahl, ob man sich dabei leidend verhalten will, oder ob man die Notwendigkeit durch Anerkennung zur freien Handlung adeln will.107 Barthes’ theatrale, fragmentierende Schreibweise bringt, so denke ich, nach der Krise der Repräsentation einen alternativen, nämlich ästhetischen Wahrheitsbegriff performativ ins Spiel – im Modus des Sammelns und Sichtens. Statt die Lust am Text in der Tradition einer objektiven Wahrheitsvorstellung zu bestimmen, versucht Barthes den Gegenstand durch asymptotische Annäherung erfassbar zu machen.108 Hier erscheint Wahrheit als Skala: Je größer die dargestellte Merkmalsfülle eines Gegenstandes, desto »wahrer« ist seine Darstellung.Die Ideale dieses philosophischen Theaters des Nichtverstehens heißen Lebendigkeit, Ambiguität und Fülle, nicht Subsumtion, Exaktheit oder gar Moral. Als ein »Stück Philosophie« führt Barthes’ Essay diese im Theatrum philosophicum vor sich selbst. Die Philosophie zeigt sich dabei als Praxis der unendlichen Annäherung. Im Spannungsfeld zwischen Begrenztheit und Transgression behilft sie sich durch die Ausrichtung auf lebendige Erfahrung und wertet ihr eigenes Nichtverstehen zur Tugend auf.

Sich in die Welt stürzen. Von sich erzählen. Sich nicht entschuldigen: Eine anamorphotische Performance Barthes’ Denkweg bietet vielleicht nicht die nötige Kohärenz zum makellosen Entwicklungsnarrativ. Dennoch lässt die Untersuchung der Reaktivität seiner Gedanken eine systematische Folgerichtigkeit erkennen, die es erlaubt, eine – nicht zwangsläufig stringente – Entwicklung von der Ideologiekritik zur anamorphotischen Performance zu figurieren. Dies soll nun abschließend geschehen. 107 Schlegel: Blütenstaub. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band, Erste Abteilung: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. München u. a. 1967, S. 164. 108 Die Ähnlichkeit zum Konzept der ästhetischen Wahrheit Baumgartens ist auffällig (vgl. zu Baumgartens Konzept Mirbach, Einleitung, S. XLIX) und bedürfte weiterer Untersuchung. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann allerdings nur auf die prägnantesten Aspekte hingewiesen werden.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

Während die mythologische Schreibweise die Sinnlichkeit flieht, stürzt sich der späte Barthes in der Rolle des Fetischisten gleichsam in die Welt. Insbesondere die essayistischen Schriften der Siebzigerjahre präsentieren sich als ästhetische Exerzitien im Spannungsfeld zwischen Verstandenwerden und Nichtverstandenwerden. Dem Enthüllungsgestus des Mythologen wird ein theatrales Spiel mit der Verhüllung von Bedeutung gegenübergestellt. Wie bei Brecht und Artaud, so findet sich also auch bei Barthes die Vorstellung einer wirkenden Hermetik109 . Diese Vorstellung speist sich aus der Einsicht in die Unmöglichkeit des eigenen Heraustretens aus der Kultur, die das kulturkritische Anliegen entweder zum Schweigen verdammt oder in die unendlichen Schleifen von Apologie und Selbsttransparentmachung bannt.110 Mit dem Spätwerk Barthes’ haben wir jedoch einen dritten Weg vor uns. Um dies zu zeigen, möchte ich zwei entscheidende Motive aufnehmen, die Barthes in den Sechzigerjahren in seine Theorie der Literaturkritik einführt: Tätigkeit und Anamorphose. Beide werde ich in den weiteren Kontext der Entwicklung der Barthes’schen Kulturphilosophie übertragen. Zum einen verabschiedet die Betonung des Tätigkeitscharakters der Kritik die kühle Distanzierung und erklärt die Involvierung des Kritikers zum Gestaltungsprinzip: [D]ie Kritik ist keineswegs ein Verzeichnis von Resultaten oder ein Korpus von Urteilen, sie ist wesentlich eine Tätigkeit, das heißt eine Folge von intellektuellen Handlungen, die tief in der historischen und subjektiven (beides ist dasselbe) Existenz dessen wurzeln, der sie ausübt […].111 Im Verstehensentzug von Barthes’ Theatrum philosophicum der Siebzigerjahre kommt diese Tätigkeit, so denke ich, zur Aufführung, indem die ästhetische Beschaffenheit der Intellektualität in der Leseerfahrung enthüllt werden soll – durch Verhüllung des allzu leicht Verständlichen. Zum anderen nutzt Barthes jetzt die Metapher der Anamorphose, um gegen den wahrheitsenthüllenden Gestus der Explication de texte in der Tradition Gustave Lansons einen post-alethischen Kritikbegriff starkzumachen: Es handelt sich im Grunde um eine Art Anamorphose, die natürlich, da einerseits das Werk sich nie für eine reine Widerspiegelung eignet […] und andererseits die

109 Vgl. Kapitel I.3. 110 Ich sehe hier eine geistige Verwandtschaft von Barthes und Adorno, insofern letzterer den Essay dezidiert als Aufkündigung der Hoffnung beschreibt, aus der Kultur auszubrechen (vgl. AGS 2.1, S. 19f.). 111 NdL, S. 119f. Zur Konturierung von Barthes’ schöpferischem Kritikbegriff unter Rückgriff auf Benjamins Auseinandersetzung mit der romantischen Kunstkritik vgl. das Kapitel I.1 der vorliegenden Untersuchung.

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Anamorphose selbst eine kontrollierte Umwandlung ist, optischen Notwendigkeiten unterliegt: das, was es widerspiegelt, muss es umwandeln […].112 Mit der Anamorphose tritt »[d]er imitative, der Natur nacheifernde […] Darstellungsmodus […] zurück«113 . Im Sinne des Barthes’schen Modernebegriffs als Wissen um das, was nicht mehr möglich ist, artikuliert sich in dieser Metapher ein selbstbewusster Umgang mit der epistemischen Begrenztheit des Menschen und der Unausweichlichkeit kultureller Formung – den vormaligen Kränkungen von bürgerlichem Mythos und Ideologiekritik. Die Metapher der Anamorphose betont die schöpferische Potenz des Menschen und zugleich seine positionale Bindung – das transzendente wie auch das immanente Moment der Kultur, das auch in Barthes’ Metaphern von Grenze und Station114 zum Ausdruck kommt. Die Kulturkritik klärt sich hier gleichsam über sich selbst auf: Sie ist gebunden sowohl an die Positionalität des Kritikers als auch an die des Rezipienten. Als fundamental hermetisches Verfahren kann sie nicht mehr zu allen über alles sprechen. Ich möchte das Motiv der tätigen Involviertheit nun mit dem Motiv der Anamorphose verbinden. Zwischen inhaltlicher und methodischer Ebene nämlich zeitigt der Eklektizismus der Barthes’schen Essayistik Synergieeffekte, welche die Darstellungsweise seiner Kulturkritik selbst zur Performance werden lassen – im Sinne der bewusst und deutlich verzerrenden Anamorphose. Statt als Lichtbringer aufzutreten, nimmt der Philosoph die Position des Jedermann ein, indem er seine Erfahrung ästhetischer Subversion zugänglich macht, ohne damit bestimmte Phänomene auf- oder abzuwerten, wie es etwa eine Unterscheidung zwischen Hochkultur und Massenkultur nahelegen würde. Während nämlich Ideologiekritik und bürgerlicher Mythos im Schweigen enden – erstere durch die Sterilität von A-Sozialität und Apologie, letztere durch den Schweigebefehl des Selbstverständlichen – interpretiere ich Barthes’ Theatrum philosophicum als Versuch, Kritik in Dialog zu überführen und hierdurch zu einer aufgeklärten Positivität zu finden: In seiner hedonistischen Ästhetik erzählt der Philosoph von sich und setzt so dem Negativen der Ideologiekritik eine neue Form des Positiven entgegen, die sich insofern vom Totalitarismus des mythischen »So ist es!« unterscheidet, als sie ihre Beobachtungen nicht absolut setzt, sondern punktuell erscheinen lässt. So wird die Möglichkeit zum dialogischen Ein- und Aufgreifen offengelassen und auch die Verselbstverständlichung kritischer Verfahren erschwert.115 Zu den Tugenden die112 113 114 115

NdL, S. 221. Konersmann, Lebendige Spiegel, S. 104. Hierzu ausführlich Kapitel II.1.1. Auch Barthes spricht von einem Dialog, in den es einzutreten gilt, nämlich den zwischen Autor und Kritiker (NdL, S. 122). Im Falle der ästhetischen Subversivität, wie sie Die Lust am Text thematisiert, besteht der Dialog zwischen Subjekt und Kultur. Ich folge Zima, der zum Dialogischen im Zusammenhang von Essay und Ideologiekritik – insbesondere mit Blick auf die Frankfurter Schule – schreibt: »Das dialogische Verfahren kann als ›essayistisch‹ bezeichnet

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

ser neuen Positivität gehört es, Mut zum Sprechen zu haben und sich gerade nicht zu entschuldigen, weil es nur verzerrte Gemälde und gekrümmte Spiegel gibt und alles auf die Perspektive ankommt. Mit Schlegel lässt sich an dieser Stelle verdeutlichen, dass selbst eine hedonistische Ästhetik eine Ethik umfassen kann – bei Barthes verborgen in ihrer Methodologie: »Wenn man in der Mitteilung der Gedanken zwischen absolutem Verstehen und absolutem Nichtverstehen abwechselt, so darf das schon eine philosophische Freundschaft genannt werden.«116 Für die Frage nach dem Verhältnis von Verstehen und Nichtverstehen ergibt sich von hier aus das Eingeständnis, dass uns nichts anderes übrigbleibt, als zu verstehen, Bedeutung zu geben, das Pharmakon zu verabreichen. Gleichwohl zeigt sich in Barthes’ späten Essays der Versuch, es im Gerinnungsprozess des Verstehens nicht zum endgültigen Erstarren zum Selbstverständlichen kommen zu lassen. Das dahinterstehende, gleichwohl nie zu erreichende Ideal beschreibt er wie folgt: [E]in weites, unaufhörliches Säuseln belebt zahllose Sinngebungen, die aufbrechen, knistern, aufflackern, ohne jemals die endgültige Form eines mit seinem Signifikat traurig beladenen Zeichens anzunehmen: ein glückliches, unmögliches Thema, denn dieser ideal erschauernde Sinn wird unerbittlich von einem soliden Sinn eingeholt (dem der Doxa) oder von einem nichtigen Sinn (dem der Mystiken der Befreiung).117 Mit einem solch hohen Grad an Fluidität lässt sich freilich kein Alltag bewältigen. So lässt der Idealismus der ästhetischen Spätschriften zu guter Letzt ironischerweise, so denke ich, den Wert des Selbstverständlichen und die Konsequenzen seiner Preisgabe erkennen. Diese Erkenntnis sieht sich in unserer Gegenwart bestätigt: Die spielerische Auflösung aller Stabilität ist nämlich nur für diejenigen attraktiv, die ohnehin in Sicherheit leben. Wie in Teil I meiner Untersuchung bereits gezeigt wurde, hat der kunsttheoretische Diskurs der letzten Jahre das Paradigma der prekären Existenz, zu dessen Etablierung die Schriften der Kritischen Theorie, des Strukturalismus und Poststrukturalismus beigetragen haben, auf eben diesen Punkt hin kritisiert. In einer Gegenwart, die von materieller Prekarisierung durch

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werden, weil es heterogene Theorien in einer experimentellen Konfrontation ›erschüttert‹ und ihnen zugleich die Möglichkeit bietet, einen Neuversuch zu wagen.« Weiter schreibt Zima, »[e]in solcher Dialog [banne] die Gefahr, die Diskussionen innerhalb einer homogenen Wissenschaftlergruppe stets droht: dass die in dieser Gruppe etablierte Doxa keine genuine Kritik zulässt.« (Zima, Essay/Essayismus, S. 268f.) Ich möchte hierbei klarstellen, dass es dennoch eine epistemologische Ebene gibt, auf der Dialogizität und Hermetik immer nebeneinander bestehen, insofern der Dialog als Bemühung um Interaktion doch gerade dadurch konstituiert ist, dass das Gegenüber niemals transparent zu machen ist. Schlegel, Blütenstaub, S. 164. ÜM, S. 114.

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beschleunigte kapitalistische Entwicklung einerseits sowie ideeller Prekarisierung durch den Einfluss und die Auslegung relativistischer Denkströmungen andererseits gezeichnet ist, zeigen sich neben den Chancen auch die Risiken des Verlustes von Selbstverständlichkeiten. Man wird also die Gedanken Barthes’ nicht ohne Weiteres auf die Gegenwart übertragen können – wofür sich die vorliegende Arbeit auch nicht ausspricht. Was aber die Auseinandersetzung mit der denkerischen Entwicklung Barthes’ leistet, ist, dass sie es erlaubt, ein umfassenderes Bild von den Risiken und Chancen einer postrestitutiven Gegenwart zu gewinnen und Haltungsoptionen zu figurieren: Einer optimistischen, oftmals von epistemischem Wohlstand118 gekennzeichneten Proklamation einer umfassenden Auflösung der Zeichen wäre die Pluralität kultureller Hermetiken und die Untilgbarkeit der Bedeutungsgabe entgegenzuhalten. Einem reaktionären Wunsch nach starker Führerschaft und beruhigender Eindeutigkeit wäre nicht durch kalte analytische Verachtung, sondern Dialog und Verführung zum Nichtverstehen zu begegnen. Zuletzt zeigt die Verschränkung von Barthes’ Philosophie mit den Gedanken Brechts und Artauds, dass sich hier ein heuristisches Denken manifestiert, das sich durch seinen Gegenstand verändert weiß. Mit Barthes haben wir eine Philosophie vor uns, die nicht steril sein will, deren Darstellungsformen nicht von ihren Inhalten zu trennen sind. So subvertiert Barthes auch auf methodischer Ebene jenes Verewigungsstreben, das seit den Mythen des Alltags prominentes Ziel seiner Kulturkritik ist. Von dieser Kritik wird damit die Philosophie selbst erfasst, die sich, als Teil einer bestimmten Kultur, mit der Moderne neu zu orientieren und über sich selbst aufzuklären hat.

II.3.4

Zusammenfassung

Der Barthes der Mythologies analysiert aus der Distanz heraus die ideologischen Verirrungen und Verstellungen in den sinnlichen Phänomenen. Der spätere Barthes aber beginnt, diese Phänomene zu sammeln wie ein Liebhaber. Sie allein nämlich sind es, in ihrer Singularität, die sich dem Terror des Verstehens punktuell zu entziehen vermögen. Die Subversionsversuche von Mythologie und künstlerischer Avantgarde müssen als gescheitert angesehen werden, ist doch kein Ausweg aus der Kultur im Sinne von Analyse und Formzertrümmerung möglich.

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Damit meine ich den Umstand, dass möglicherweise die Zeichen gerade jenen als entwertet erscheinen, die sie widerstandsfrei entziffern können – sich also auf Augenhöhe mit der jeweiligen Repräsentationsmacht befinden. Es wäre wichtig, diese Perspektive bei Untersuchungen zu Veränderungen semischer Verbindlichkeiten in der Gegenwart zu bedenken.

II.3 Vom Eros des Nichtverstehens: Roland Barthes II

Die Subversion des sinnlich Konkreten ereignet sich in Momenten der Theatralität der Signifikanz. Hier löst sich die Materialität des Gegenstandes von seiner Bedeutung, sodass er in seinem materiellen Sosein auffällig wird. Dieses Auffälligwerden geschieht nicht analytisch, sondern in der ereignishaften sinnlichen Affizierung des Philosophen: Dieser tritt in ein erotisches Spiel aus Verstehen und Nichtverstehen ein, das gleichwohl riskant ist, da es den Genuss der Zerstörung kultiviert – es bleibt offen, welche Selbstverständlichkeiten zerstört werden sollen. Sowohl Form als auch Inhalt der späten Texte Barthes’ inszenieren – wie das Theater Artauds – dieses körperlich-geistige Involviertsein in die Welt und das Ringen mit der Unmöglichkeit vollständigen Verstehens im Sinne treffsicherer begrifflicher Repräsentation. Damit wendet Barthes sich nicht zuletzt gegen Klarheitsund Deutlichkeitserwartungen, die an die philosophischen Untersuchungs- und Darstellungsformen gebunden sein mögen. Die essayistischen und aphoristischen Texte des späten Barthes stellen somit ein eigenes Theater des Nichtverstehens dar. Hier zeigt sich, welche Lehre aus der Postrestitutivität und dem damit verbundenen Scheitern des ideologiekritischen Negativitätskonzepts zu ziehen ist: Der abschließenden, versteinernden Positivität der mythischen Evidenz setzt Barthes eine aufgeklärte, da an Öffnung und Dialog orientierte Positivität entgegen. Im Wissen um die grausame Unvermeidlichkeit und das Risiko jeglicher Setzung versucht diese Philosophie erst gar nicht mehr, sich herauszuhalten. Dabei flüchtet sie sich nicht etwa in die Alternative der Irrationalität, sondern bezieht vielmehr das persönliche Involviertsein in ihre Themen und Darstellungsmodi ein. Diese methodologische Verschiebung lässt sich mit Barthes’ Konzept der anamorphotischen Kritik profilieren, das er in seinen Schriften zur Literaturkritik entwirft und das im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auf Fragen zu den Bedingungen der Möglichkeit von Kulturkritik ausgedehnt wurde: Auf Entzerrung der Welt, ihre endgültige Verständlichmachung auch im Sinne der ideologiekritischen Enthüllung ist nicht mehr zu hoffen. Nicht nur die Kunst, sondern auch die Philosophie also spiegelt die Welt mit besonderen Spiegeln.

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II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud Es gibt unlogische Mittel, den logischen Frieden des Geistes wiederzuerlangen.1

Die drei hier untersuchten Autoren verbindet die Kritik an der zur leeren Form erstarrten Repräsentation und ihrem hegemonialen Anspruch. Allerdings treten nirgends Formverachtung und Formungsdrang derart harsch auseinander wie im Schaffen Artauds. Quellpunkt der Kulturkritik Artauds ist, so werde ich zeigen, die Privilegierung begrifflicher Repräsentationsformen, hinter der sich eine Ideologie des Verstehens verbirgt. Hierbei ist es besonders der Gedanke der Form, der mit dem Konzept des Verstehens im Sinne des Selbstverständlichen und den damit verbundenen Rationalitätserwartungen korrespondiert. Artauds Theater fokussiert entsprechend auf die Auflösung der Form in die Dynamik des menschlichen Weltschaffens. Artauds Theater der Grausamkeit ist daher ein Theater des Werdens, oder, mit Blick auf Barthes: Ein Theater der Zeichen überhaupt. In seinem vitalistisch fundierten, durch Nietzsche, die Psychoanalyse und ethnologische Beobachtungen inspirierten Denken fungiert das Theater als Stätte der Selbstverständigung der Kultur, wobei ihre verfemten Anteile wie Gewalt, Sexualität und Tod eine besondere Rolle spielen. Die Verdrängung solcher Anteile durch die Versteinerung des Rationalismus ist es, die nach Artaud Mitschuld an der tiefen Krise seiner Zeit trägt. Stärker noch als Brecht und Barthes treibt Artaud dasjenige Denken kultureller Formung auf die Spitze, das ich mit dem Motiv des Pharmakons gefasst habe: Tod oder Heilung sind die alternativen Ergebnisse, mit denen die künstlerische Formsubvertierung zu rechnen hat. Gegen das herkömmliche Theater will Artaud den Menschen in seiner Ganzheit in den Blick nehmen. Dazu gehört eine Remythisierung des Theaters, da für Artaud in der mythischen Weltauffassung das Unverständliche der menschlichen Erfahrung selbst seinen Ausdruck findet, entgegen den modernen Verdrängungsstrategien von Wissenschaft und Moral. Darüber hinaus ist es bereits für Artaud,

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ST, S. 143.

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Kultur in Stücken

wie später für Barthes, die Ebene des Ästhetischen, speziell des menschlichen Körpers, die im Sinne einer wirkenden Hermetik Bedeutung außer Kraft setzen und Einblick in die prozessuale Beschaffenheit von Kultur liefern kann. Im Vergleich zu den Schriften und dem Konzept Brechts wirken Artauds Vorhaben und sein schriftstellerischer Duktus transgressiv, geradezu exzesshaft. Und in der Tat: Die Verunmöglichung des distanzierten Blicks zugunsten einer immersiven Körpererfahrung ist wesentlicher Teil seiner Dramaturgie. Zwar lebt auch Artauds Theater von Unterbrechungen, allerdings fokussiert er wesentlich auf jene Nichtverstehensphänomene, die ich im Begriff der Theatralität der Signifikanz zusammengefasst habe. Wie mit Blick auf den Barthes’schen Jouissance-Begriff allerdings gezeigt, verbirgt sich dahinter keine dumpfes, auf Hypnotisierung der Masse ausgelegtes Spektakel körperlicher Reize und Überschreitungen, schreibt Artaud dem Körper doch, ähnlich wie Nietzsche, den er sehr verehrt hat, epistemische Potenz zu. Nietzsche beschreibt die körperliche Gebundenheit unserer Wahrnehmung wie folgt: [W]ir sind nicht fein genug, um den mutmaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen: das Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen, wo so gar nichts existiert. Der Baum ist in jedem Augenblicke etwas Neues: die Form wird von uns behauptet, weil wir die feinste absolute Bewegung nicht wahrnehmen können […].2 Diese Gebundenheit kann als Einschränkung interpretiert werden, was auch bei Nietzsche anklingt. Für Artaud stellt sie jedoch eine Leistung dar. Momente des körperlich Immersiven sind, so wird aus Artauds Konzept zu folgern sein, niemals frei von Momenten des Epistemischen. Wie das Konzept Brechts, so zeigt auch Artauds Theaterkonzept durchaus eine Rhetorik der Restitution, insofern sein Theater des Nichtverstehens versucht, eine Entsprechung von kultureller Formung und Dynamik des Lebens zu erreichen. Dies fasst Artaud im Schlagwort der »authentischen Kultur«.3 Es stellt sich hier durchaus die Frage, ob und inwiefern das Konzept des Lebens nun den Stellenwert dessen erreicht, was einmal die mit einer bestimmten Vorstellung von Wahrheit verbundene Hoffnung war: Die Existenz einer festen Größe nämlich, die es zu erkennen und der es zu entsprechen gilt. Ich werde im Folgenden zeigen, dass hier der neuralgische Punkt einer Spannung von Essentialismus und Konstruktivismus liegt, und dass sich in Artauds Lebensbegriff der Versuch verbirgt, diese Spannung

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Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente: Frühjahr 1881 bis Sommer 1882. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Fünfte Abt., zweiter Bd.: Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 bis Sommer 1882. Berlin 1973, S. 452. TD, S. 13.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

durch eine Verklammerung von Statik und Dynamik zu überbrücken. Trotz der Tendenz zum restitutiven Denken, die Artaud mit Brecht teilt, lese ich ihn als Vertreter postrestitutiver Kulturkritik, insofern sein Weg der Entfremdungskorrektur eben nicht in die Wildnis des Naturzustands, sondern ins Theater führt, er sich also letztlich zur Sphäre kultureller Formung bekennt.

II.4.1

»Wie von Artaud sprechen?«: Methodische Reflexion

Im Schreiben wie im Theater Artauds wird das Risiko des Heterologischen, wie bei keinem anderen der hier untersuchten Autoren, zum Gestaltungsprinzip, ob es sich um theoretische Texte oder offenere, experimentelle Formate4 handelt. Die Einschätzung seines Theaterkonzepts wird zusätzlich dadurch erschwert, dass Artauds Entwurf eines Theaters der Grausamkeit nie zu seiner vollen Zufriedenheit umgesetzt wurde. Hinzu kommt, dass die Rezeption das Werk Artauds, wie bei kaum einem anderen Autor des 20. Jahrhunderts, mit der Frage nach der Pathologie verknüpft hat.5 Die Frage, die Barthes im Jahr 1971 schließlich stellen wird, drückt die Schwierigkeiten der Rezeptionsbemühungen auf prägnante wie schlichte Weise aus: »Wie von Artaud sprechen?«6 . Die vorliegende Arbeit legt das Augenmerk dezidiert auf eine philosophische Lektüre der Texte. Obgleich an geeigneter Stelle auf Artauds Lebensumstände referiert wird, um den Stellenwert bestimmter Ereignisse für die Entwicklung seines Denkens und seiner Motive zu erhellen – seine Armut, seine Enttäuschung über ungenügende Umsetzungen seines Konzepts, seine Verarbeitung der Zwischenkriegszeit – so nimmt die Arbeit doch entschieden Abstand von einer Pathologisierung seines Theaterkonzepts.7 Zudem lese ich Artaud nicht, wie oft geschehen, im Rahmen psychoanalytischer Konzepte: Sein Theater ist keine Übertragung von

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Hierzu zählen surrealistische Texte, Lyrik, Stücktexte für Bühne und Radio sowie Verbindungen von Text und Zeichnung besonders in den späteren Lebensjahren. Artaud war Zeit seines Lebens infolge einer frühen Nervenerkrankung stark schmerzmittelabhängig, später wurde ihm Schizophrenie diagnostiziert. Sein Leben war immer wieder gezeichnet von – auch zwangsweisen – Internierungen in psychiatrischen Anstalten, während denen er allerdings auch immer wieder zum künstlerischen Ausdruck gefunden hat. Zur Kritik an einer psychologisierenden Artaudrezeption und insbesondere an der damit zusammenhängenden Romantisierung durch Deleuze vgl. Rogozinski, Jacob: Das Leben heilen. Die Passion Antonin Artauds. Aus dem Französischen von Christian Driesen. Wien 2019, S. 18-25. SF, S. 233. Die Gefahr dieses Zugangs besteht darin, dass die provokanten Implikationen des Werks »wegerklärt« werden. So würden einige wichtige Pointen des Theaters des Nichtverstehens liquidiert, insbesondere solche, die die immanente Risikohaftigkeit kultureller Formung betreffen. Hierzu auch Rogozinski, Das Leben heilen, S. 9-37.

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Kultur in Stücken

Psychotherapie auf die Masse. Stattdessen lege ich den Fokus auf den kulturphilosophischen Fragehorizont, vor dem das Verhältnis von Individuum und Kultur zwar wichtig ist, aber nicht ausschließlich im Sinne der Subjekttheorie oder gar im Sinne einer persönlichen Pathologie. Hierin folge ich Derrida, der schreibt, Artauds Theater sei »kein Theater des Unbewussten«8 . Wohl ist es aber ein Theater des Verdrängten, was vor dem Hintergrund der politischen Zusammenbrüche des 20. Jahrhunderts und den philosophischen Konsequenzen, an denen sich auch Barthes abarbeitet, einige Brisanz entfaltet. Wesentlich für den methodischen Zugriff der vorliegenden Auseinandersetzung ist, wie bei Brecht, die Entscheidung zur Form. Das bedeutet im Falle Artauds: Er hat, bei allem Hass auf das »Literatenvolk«9 , Bücher gemacht. Indem er dies getan hat, hat er sich zum Sinn bekannt, wenn auch zu dessen Prekarisierung.10 Der literarische Charakter der ästhetischen Schriften Artauds prägt das Vorgehen der folgenden Überlegungen. So ist die Beschreibung seines Theaters in Das Theater und sein Double geprägt vom Umweg über Metaphern und Figuren: Theater als Pest oder Alchimie, die Grausamkeit, das Double um nur einige prominente aufzuführen. Im Folgenden werde ich die philosophischen Kernelemente und Grundannahmen des Theaters der Grausamkeit darstellen. Dazu gehört eine Annäherung an Artauds prägnanten Metaphern- und Chiffrenkosmos, freilich nicht mit dem kaum einzulösenden Anspruch, diesen vollständig transparent zu machen.11 Vielmehr richte ich mich auch hier nach der Barthes’schen Methode der Diskursidentifizierung entlang meiner Fragestellung und den Synergieeffekten zwischen den untersuchten Begriffskonstellationen sowie den philosophischen Topoi, welche die Untersuchung rahmen. Der wichtigste Topos bleibt hier das Nichtverstehen. Zu

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Jacques Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Übersetzt von Rodolphe Gasché. Frankfurt a. M. 1976, S. 351-379, hier S. 367. FS, S. 91. Barthes löst diese zunächst paradox anmutende Figur des schreibenden Literaturverächters Artaud folgendermaßen auf: »Sogar Artaud, der heterologische Gott, sagt von dem, was er schreibt: das soll gesagt sein!« (ÜM, S. 185.) Beim Primat des geschriebenen Sinns stehenzubleiben, würde an der Radikalität Artauds allerdings vorbeigehen. Seine Literaturzerstörung zeigt etwas, nämlich die Theatralität des Schreibens selbst, die Körperlichkeit sprachlichen Ausdrucks und die fundamentale Antastbarkeit von Bedeutung – hier der Literatur. Hierzu schreibt Évelyne Grossman: »Die Schrift war für Artaud immer ein theatraler und lebendiger Akt.« (Dies. : Préface – faire affluer les démons. In : CI, Bd. I, S. 7, Übers. M. R.) Für Artaud stellt der Geist-Körper-Dualismus die größte Zumutung der mitteleuropäischen Ideengeschichte dar. Der Kampf gegen diesen Dualismus wird nicht nur in der Arena des Theaterraums ausgetragen, sondern auch im Schreiben, das er in seinen Briefen und Notizheften als diachrone Übertragung körperlicher Regungen – Atem, Handbewegung, Körperhaltung, Emotion – beschreibt. Zu dieser Schwierigkeit vgl. Plocher, Der lebendige Schatten, S. 44.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

ihm werden herausragende Motive der Ästhetik Artauds in Bezug gesetzt. Für eine Schärfung des Begriffs der Kultur ist dabei besonders das Motiv der Grausamkeit wie auch das semantische Feld des Pharmakologischen von Belang. In diesem Zusammenhang interessiert vor allem die Ambiguität kultureller Erscheinungen, die in Artauds Motivkonstellation von Schatten und Double ihren Ausdruck findet, zu dem das Nichtverstehen Zugang verschafft. Der Versuch nachzuweisen, welche Schriften besagter Autoren Artaud genau gelesen hat, stößt indes an einige Grenzen und gibt Anlass für unauflösbare Forschungsdiskussionen. Nietzsche wird von Artaud öfters namentlich erwähnt und sogar zitiert, Letzteres jedoch nie transparent gemacht.12 Es lassen sich also lediglich an geeigneter Stelle im Sinne der historischen Semantik Ähnlichkeiten aufzeigen und Begriffsprofile schärfen, genau zurückverfolgen lässt sich die Begriffsgenese nicht. Obgleich Artauds Theater, wie zu zeigen sein wird, kein auf reiner Immersion beruhendes Gefühlstheater anvisiert, muten seine Forderungen und Motive oftmals rauschorientiert und brutalistisch an. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurde durchaus auf die Atmosphäre des Faschistoiden aufmerksam gemacht, die seine Texte bisweilen vermitteln mögen. Und in der Tat, Artaud figuriert in seinen Texten einige Antagonismen, deren Problematik nicht unterschlagen werden darf: Da ist die Rede von ›authentischer‹ Kultur, Gesundheit versus Krankheit der Gesellschaft, und schließlich vom wahren Theater als Ansteckung der Masse. Wenngleich in der Ambivalenz dieser Figuren, wie ich zeigen werde, eine wesentliche Pointe des Artaud’schen Theaterentwurfs liegt, werden sie im Verlauf meiner Argumentation problematisiert. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt auf den Texten ab 1930, die in dem von Artaud selbst verantworteten Band Das Theater und sein Double im Jahr 193813 erschienen sind. Dieser besteht aus Texten, die er in der Nouvelle Revue Française veröffentlicht hat sowie aus Vorträgen, Manifesten, Auszügen und Briefen. Für die vorliegende Arbeit ist dieser Textkorpus besonders deshalb relevant, da hier der Begriff der Kultur, sein Verhältnis zum Begriff des Lebens und zum Phänomen des Theaters explizit zum Tragen kommen. Neben Das Theater und sein 12

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Im Falle Bergsons etwa widerspricht Blüher Jacques Derrida und Henri Gouhier darin, dass ein direkter Einfluss auf Artaud für die 20er-Jahre nachweisbar wäre. Karl Alfred Blüher: Antonin Artaud und das ›Nouveau Théâtre‹ in Frankreich. Tübingen 1991, S. 37. Zur Auffindbarkeit von Spuren seiner Nietzschelektüre in Artauds Texten siehe Camille Dumoulié: Nietzsche et Artaud. Pour une éthique de la cruauté. Paris 1992, S. 8. Von Nietzsche her erklärt sich vermutlich die erstaunliche Nähe zu Simmel, den Artaud aber wahrscheinlich nicht rezipiert hat. Artaud hat die Texte vor seiner Reise nach Mexiko zusammengestellt, wo er für einige Monate beim Stamm der Tarahumaras lebte. Das Buch erscheint schließlich, während er in der psychiatrischen Klinik von Saint-Anne interniert ist (Hierzu TD, S. 248). Die erste deutsche Übersetzung des Bandes erschien 1969.

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Kultur in Stücken

Double werden ältere Texte Artauds sowie die sogenannten »Letzten Schriften« Beachtung finden, in denen sich sein Nachdenken über das Verhältnis von Körper und Kultur im Sinne einer Subjektphilosophie radikalisiert. Diese Schriften wurden besonders im Zuge machttheoretischer Überlegungen des poststrukturalistischen und postmodernen Diskurses rezipiert. Ich konzentriere mich auch hier vor allem auf das Verhältnis von Nichtverstehen, Theater und ästhetischer Subversion der Kultur im Sinne der Theatralität der Signifikanz.

II.4.2

Verstehen als Erstarrung der Dinge und Worte

Schatten und Double: Figurationen der Kultur Der Text, mit dem das Das Theater und sein Double beginnt, thematisiert das Verhältnis von Theater und Kultur, was durchaus programmatisch zu verstehen ist, da für Artaud Kulturkritik und Theaterkritik Hand in Hand gehen. Artauds Kulturkritik nimmt ihren Ausgang, so meine Interpretation, bei der Desorientierung, die die Krise der Wahrheit ausgelöst hat: »Wir leben eine wahrscheinlich einmalige Epoche der Weltgeschichte, in der die vielgeprüfte Welt ihre allgemeinen Werte in sich zusammenfallen sieht.«14 Für Artaud bedeutet diese Krise eigentlich eine Chance, ist doch nun eigentlich der Zeitpunkt gekommen, die Formen der Kultur endlich der Dynamik des Lebens anzupassen. Wir halten mit dem Theater das Mittel in Händen, die Krise zur Chance umzumünzen, wenn wir nur der Versuchung der Wiederverfestigung widerstehen. Im Vergleich zu Brechts, aber auch Barthes’ Kulturkritik wird im Schreiben Artauds die implizite Annahme eines pharmakologischen Charakters der Kultur nicht nur systematisch nachweisbar, sondern auch metaphorisch in besonderer Weise auffällig. Das Metaphernpanorama von Das Theater und sein Double umfasst neben der Formel vom Theater als Pest oder Alchimie15 die Diagnose der Krankheit der Gesellschaft. So beschreibt Artaud die Krise seiner Zeit wie folgt: »Wir sind allesamt verrückt, verzweifelt und krank, [u]nd ich fordere uns auf, dagegen anzugehen.«16 Das Theater auf Formen begrifflichen Verstehens zu beschränken, beraubt es seiner heilenden Kraft, verwandelt das Antidot in Gift. Wir neigen so dazu, die potentielle Prozesshaftigkeit der Kultur zu verdrängen. Allerdings ist diese für Artaud nicht zwangsläufig wohlgeordnet:

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Ebd., S. 115. Zum ›alchimistischen Theater‹ vgl. ebd., S. 62-68. Ebd., S. 101.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

[Das Theater soll] in uns die Vorstellung eines ewigen Konfliktes und eines Krampfes zum Ausdruck bringen und […] verankern, in denen das Leben in jedem Augenblick durchgehauen wird, in dem sich alles Geschaffene gegen unsern Stand als erschaffene Wesen erhebt und auflehnt.17 In der Annahme einer prinzipiellen Ambiguität der Formen weist Artaud erstaunliche Nähe sowohl zu Simmels Vorstellung einer ›Tragödie der Kultur‹ als auch zu Nietzsches früher Philosophie des Tragischen auf. Ebenso lässt sich eine konzeptionelle Nähe zur lebensphilosophischen Position Bergsons zeigen, wenngleich keine direkte Rezeption seiner Schriften nachweisen.18 Besonders die Vorstellung des Lebens als Prozess leidvoller Zerteilung rückt Artauds lebensphilosophische Gedanken in die Nähe von Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Besonders die Struktur des dort beschriebenen Principium individuationis19 als Teilungsprinzip, welches sich auf qualvolle, aber unaufhaltsame Weise vollzieht, weist Parallelen zum Begriff der Grausamkeit auf, den ich in Abschnitt II.4.3 ausführlich behandeln werde. Eine der Strategien der Kultur, das Leben in Schach zu halten, besteht für Artaud, der die Psychoanalyse rezipiert hat, in der Verdrängung.20 Verdrängt werden bestimmte Anteile des Menschen, in denen sich das Prinzip des Lebens als Prozess der unaufhaltsamen Umformung besonders stark manifestiert: Gewalt, Sexualität, Tod.21 Das Theater wäre für Artaud nun genau dazu geeignet, »unseren Verdrängungen Leben zu verleihen«22 , sie also aus der Latenz zu befreien. Artaud greift Carl Gustav Jungs Theorie des kollektiven Unbewussten auf, was den Grundstein seiner Dramaturgie der Ansteckung bildet.23 Besonders der Begriff des

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Ebd., S. 33. Vgl. GSG 14, S. 194-223 sowie den Abschnitt I.1.2 der vorliegenden Untersuchung. Zur Nähe Artauds zu Bergson vgl. Petra Maria Meyer : ›Encore – en corps – a corps‹ : Antonin Artaud. In: Forum modernes Theater 13/1 (1998), S. 18-41, hier S. 23f. Hierzu KSA 1, S. 30-48. Für Geoffrey Baker kommen in der Auseinandersetzung mit dem Principium individuationis Nietzsche und Artaud zusammen, vgl. ders.: Nietzsche, Artaud and tragic politics. In: Comparative Literature 55/1 (2003), S. 1-23, hier S. 8. Wahrscheinlich hat Artaud Sigmund Freuds Totem und Tabu gekannt und seine »tiefenpsychologische Epistemologie« zur Wiederbelebung mythischer Denkstrukturen für das Theater der Grausamkeit genutzt. Blüher, Antonin Artaud und das ›nouveau théâtre‹, S. 35. Darüber hinaus lassen sich Parallelen zu Freuds Das Unbehagen in der Kultur ziehen. Nach Freud ist es »unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese ›Kulturversagung‹ beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen«. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 227. Ich werde diese Aspekte in Abschnitt II.4.5 erneut aufgreifen. TD, S. 11. Artaud rezipiert Jung schon seit Beginn der Dreißigerjahre. Vgl. Blüher, Antonin Artaud und das ›nouveau théâtre‹, S. 32f.

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Kultur in Stücken

Schattens stellt einen wichtigen terminologischen Import des Jung’schen Denkens dar: »Unsere versteinerte Vorstellung vom Theater passt zu unserer versteinerten Vorstellung einer Kultur ohne Schatten […].«24 Die hier von Artaud angesprochene ›Kultur ohne Schatten‹ lässt sich mit Blick auf den Begriff des Verstehens als Sehnsuchtsvorstellung interpretieren. Was außerhalb des Schattens liegt, ist klar verstehbar. Mit dem Schatten ist ein metaphorisches Feld eröffnet, auf dem Artauds Konzept sich an eine Kritik der Aufklärung im Sinne der Vorstellung universeller Verstehbarkeit, Vernünftigkeit, Beherrschbarkeit und Transparenz anschließen lässt, etwa im Sinne Adornos und Horkheimers, für die die Aufklärung das Inkommensurable durchzustreichen sucht, oder auch im Sinne Nietzsches als Versuch der Beherrschung des chaotischen, rauschhaften Dionysischen.25 Das Konzept des Schattens lässt sich indes nicht vollständig transparent machen und in eine stringente Theorie übersetzen. Ein Aspekt des Motivs ist aber für unseren Zusammenhang wichtig und kann identifiziert werden, nämlich der Schatten als das Heterogene, das Verdrängte der Kultur. Verglichen mit der Jung’schen Auffassung des Schattens26 handelt es sich beim Schatten Artauds dann um eine Ausdehnung auf das Feld der Kultur: »Jedes wahre Bild hat seinen Schatten, der es doubelt; und die Kunst verfällt von dem Augenblick an, da der modellierende Bildhauer glaubt, eine Art Schatten zu befreien, dessen Dasein seine Ruhe zerreißen wird.«27 Den Begriff der Kunst gebraucht Artaud hier abwertend im Sinne des Kunstbegriffs Barthes’, für den diese Teil einer gesellschaftlichen Ökonomie ist, die das Irrationale dadurch zähmt, dass sie es »innerhalb der Grenzen einer Institution (der Kunst) fixiert«.28 Mit Artauds Beispiel lässt sich der pharmakologische Charakter kultureller Formen verdeutlichen: Der Bildhauer kann es sich im Sinne eines Anästhetikums entweder zum Ziel setzen, im Pantheon des Museums verewigt zu werden und so zur Formerstarrung beizutragen, oder er kann seine Form dazu nutzen, sich und den Betrachter zu destabilisieren und den Kulturprozess so zu reanimieren. Die erste Variante hält das Leben in Schach, die zweite, der Schatten, entfesselt29 es. Innerhalb der Kultur werden Techniken des Verstehens im Modus gesellschaftlicher Übereinkünfte, Üblichkeiten und Tabus kreiert, um das Verfemte in die Schatten

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TD, S. 16. Zur Nietzscherezeption der speziell französischen Aufklärungskritik Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. Le Rider, Nietzsche in Frankreich, S. 85. Le Rider interpretiert Artaud im Rahmen dieser Kritik. Nach Jung besteht aus subjekttheoretischer Perspektive die Herausforderung des Archetyps des Schattens darin, »die dunklen Aspekte der Persönlichkeit als vorhanden anzuerkennen.« (Ders.: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. In: Ders.: Gesammelte Werke, hg. von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf. Bd. 9.2. Ostfildern 32011, S. 17.) TD, S. 15. NdL, S. 169. Hierauf werde ich in Abschnitt II.4.5 ausführlich zu sprechen kommen.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

zu verweisen.30 Die Schatten der Kultur sind es, mit denen das Theater sich zu befassen hat, nicht die Repräsentation dessen, was ebenso gut in begriffliche Form gebracht werden könnte: Für das Theater wie für die Kultur besteht die Frage weiterhin, Schatten zu benennen und zu lenken: und das Theater, das sich nicht auf die Sprache und die Formen festlegt, zerstört durch die Tat die falschen Schatten und macht die Bahn frei für die Geburt anderer Schatten, um die sich das wahre Schauspiel des Lebens gruppiert.31 Die Begriffe Schatten und Double lassen sich in den metaphorischen Zusammenhang des Anamorphotischen einordnen. Die nicht entfremdete kulturelle Form – das Theater, wie Artaud es imaginiert – ist der Spiegel, mit dem die Anamorphose eines transzendenten Prinzips vor Augen geführt werden kann. Artaud benennt besonders Motive wie das Chaos und das Verhängnis als Gegenstände seines Theaters. Diese können sich in der Entfesselung des Unterdrückten manifestieren. Obwohl er mit dem Vokabular Jungs und Motiven Freuds arbeitet, verachtet Artaud dennoch die Engführung des Theaters auf die Psychologie im Sinne der begrifflichdiskursiv verfassten Wissenschaft: »Das Theater […] als eine psychologische oder moralische Funktion aus zweiter Hand anzusehen […], das heißt die tiefe poetische Tragweite […] des Theaters verringern.«32

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Auch für Barthes stellt das bürgerliche Theater eine solche Technik der Zähmung dar: »Die Moderne hat der Leidenschaft immer nur zwei Modi gestattet: entweder die trockene und feierliche Zurückhaltung des Pseudostoikers, an der sich eher seine Beherrschung ablesen läßt als sein Schmerz; oder die feuchten Augen, das Taschentuch, das oberflächliche Tränen trocknet, kurz, die vage Rührung, die mehr oder weniger die durchschnittliche Menge bei der Darstellung eines Unglücks erfaßt« (SzT, S. 41). Das Theater stellt nur mögliche Missgeschicke des Bürgertums dar, niemals aber das tief empfundene Unglück: »[…] es führt das Publikum nie in die tiefe Illusion eines im Reinzustand erlebten Unglücks, in diese Abwesenheit einer individuellen Geschichte, die die große und notwendige Nacktheit der Tragödie definiert.« (Ebd.) TD, S. 15ff. Ebd., S. 33. Diese kulturpessimistische Position reiht sich überdies in den kultur- und technikkritischen Diskurs seit dem 19. Jahrhundert ein, der eine Feindlichkeit der geschaffenen Dinge annimmt, hierzu finden sich ausführliche Darstellungen etwa bei Blättler, List der Technik, S. 277-280. Ähnlich wie für Simmel wohnt dem Verhältnis des Menschen zur von ihm hervorgebrachten Werkwelt eine eigentümliche Spannung inne, denn einerseits ist der Mensch ihr Schöpfer, andererseits erfährt er sie als totalitäre Einschränkung der eigenen Lebendigkeit. »Dem vibrierenden, rastlosen, ins Grenzenlose hin sich entwickelnden Leben der in irgend einem Sinn schaffenden Seele steht ihr festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber, mit der unheimlichen Rückwirkung, jene Lebendigkeit festlegen, ja erstarren zu machen […]. Hier liegt eine Grundform unseres Leidens an der eigenen Vergangenheit […]«, so Simmel (GSG 14, S. 199).

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Kultur in Stücken

Artauds ambivalente Haltung zur Psychologie liegt darin begründet, dass auch sie als Mittel zur Unterdrückung des Nichtverstehens im Sinne eines Inkommensurablen, nicht Handhabbaren benutzt wird: »Die Psychologie, die eifrig darauf bedacht ist, das Unbekannte auf das Bekannte, das heißt auf das Alltägliche und Gewöhnliche zurückzuführen, ist die Ursache für jenen Verfall und jene erschreckende Einbuße an Energie«33 , von der das Theater befallen ist. Indem die Psychologisierung die Vorgänge auf der Bühne im Rahmen ihrer Theoreme verstehbar macht, zerstört sie die ihnen immanente Risikohaftigkeit.34 Die Krise seiner Zeit ist als Kehrseite dieser Verdrängungspraktiken und als Rache des Verdrängten zu interpretieren: Das verkalkte Leben löst sich von unten her auf. In moralischer oder sozialer Hinsicht äußert sich dies in einer ungeheuerlichen Entfesselung der Begierden, in einer Freisetzung der niedersten Instinkte, einem Knistern und Prasseln von verbrannten Leben die sich vorzeitig der Flamme aussetzen.35 Die Konzeption selbst wie ihre Metaphorik offenbaren durchaus Spuren restitutiver Sehnsuchtsvorstellungen, insofern Artaud die Möglichkeit andeutet, die redynamisierten kulturellen Formen mit der Dynamik des Lebendigen zur Deckung zu bringen. Trotz dieser Spuren bestimme ich Artauds Theaterkonzept als postrestitutiven Versuch kulturkritischer Intervention. Dafür spricht, dass Artaud immer wieder auf die Risikohaftigkeit der Formverflüssigung hinweist und überdies explizit auf die Konventionsgebundenheit der Natur- und Formwahrnehmung verweist: »Dennoch [d.h. trotz der Anarchie der Poesie, M. R.] muss man zugeben, dass bei der Bestimmung eines Gegenstandes, beim Sinn oder der Verwertbarkeit einer Naturform alles der Konvention unterworfen ist.«36 Erst die Beachtung des zeitgeschichtlichen Hintergrundes der Artaud’schen Konzeption offenbart den immensen Anspruch und das Risiko37 seines Vorhabens: Im Angesicht des persönlichen wie zivilisatorischen Zusammenbruchs schreibt Artaud nicht gegen diesen an, sondern auf diesen zu. Im Zentrum seines impliziten pharmakologischen Konzeptes von Kultur steht der Mensch, der nicht nur mit seinen Werken, sondern zuvörderst mit sich selbst ringt. Speziell dieses Ringen ist

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TD, S. 101. Denkbar ist hier ein Anschluss der Gedanken Artauds an die Figur des Priesters in Nietzsches Genealogie der Moral, der die Lebendigkeit des Menschen durch schlichte Vorstellungen von Schuld und schlechtem Gewissen in Schach hält und so eine Gemeinschaft der ressentimentgeladenen »Sklavenmoral« stiftet (vgl. KSA 5, S. 390ff.). TD, S. 45. Ebd., S. 11. Ebd., S. 55. Herv. M. R. Hierzu vgl. die Auseinandersetzung mit Parallelen zwischen Artaud und dem italienischen Futurismus in Kapitel I.1.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

es, das den fundamental risikobehafteten, trotzdem unausweichlichen und stets schon im Gang befindlichen Schaffensprozess der Kultur forciert.

Fetisch des Wortes: Evidenz, Ende, Distanz Artauds Kulturkritik ist vor allem eine Kritik am – mit Barthes gesprochen – Mythos Sprache. Artauds Vorwurf an das herkömmliche Theater seiner Zeit lautet, dass dieses das Wort als bloßes Medium einer Botschaft gebraucht, als scheinbar überzeitlich evident. Insbesondere der Gebrauch zur Übermittlung einer psychologischen Botschaft wird von Artaud kritisiert: Es »dient das Wort immer nur dem Ausdruck von psychologischen Konflikten«38 . Begriffliche Repräsentation wird als Garant einer Transparentmachung des Menschen verabsolutiert und fetischisiert. Allerdings verfolgt Artaud keine Abschaffung von Sprache im Theater, sondern eine Neubewertung und Erweiterung ihres Verständnisses: Nicht prinzipiell, aber so wie wir sie behandeln, stellt unsere Sprache eine »Austrocknung«, ein »Verdörren«39 dar. Es geht Artaud also durchaus um eine Rehabilitierung der Wörter, denn diese haben »mit der Zeit ihre verbildlichende Kraft eingebüßt« und sind, »statt ein Mittel der Ausdehnung, nicht mehr […] als eine Sackgasse und ein Friedhof für den Geist«.40 Den Begriff der Ausdehnung interpretiere ich hier, wieder ausgehend von Baumgarten41 , bezogen auf die ästhetische Erfahrung im Sinne der Theatralität der Signifikanz, auf die ich in Abschnitt II.4.4 zurückkomme: Während der begriffliche Umgang mit der Welt subsumiert, addiert der Moment ästhetischer Affizierung die Phänomene und verfährt daher ausdehnungsorientiert. Die vermeintlich klare, begrifflich verfasste Sprache ist Artaud verdächtig, da sie die befreiende Leere42 des Nichtverstehens verhindert, in welcher die Vielfalt der ästhetischen Phänomene erfahren und hierdurch die prinzipielle kulturelle Prozessualität einsehbar werden kann. Sprache ist, hier deckt sich Artaud mit Barthes, stets kompromittiert und dennoch unentbehrlich. Es gibt kein unschuldiges Sprechen, insofern jedes Sprechen von Redeweisen, Selbstverständlichkeiten und Evidenzhoffnungen geprägt ist, oder, so Artaud, von dem »Respekt vor dem Geschriebenen, Formulierten oder Gemalten, vor dem, was Gestalt angenommen hat«43 . Artauds Kritik der Verabsolutierung begrifflicher Repräsentation ist daher zu radikalisieren: Nicht

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TD, S. 92. Ebd., S. 141. Dazu gehört aber, dass auch die Sprache für Artaud nichts Festes ist, sondern demselben Missverständnis zum Opfer gefallen ist wie alle anderen kulturellen Formen, nämlich dem Missverständnis der Überzeitlichkeit. AOC IV, S. 48, Übers. M. R. Vgl. hierzu ausführlich Abschnitt II.3.3. Diese Leere ist also keine absolute Leere, sondern die Abwesenheit speziell begrifflicher Zurichtungen. TD, S. 97.

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nur was begriffliche Form hat, sondern was überhaupt Form hat, wird verdächtig, Sprachkritik und Formkritik fallen also zusammen: »[S]ehen wir ein, dass […] jedes Wort tot ist, sobald es ausgesprochen ist, und nur in dem Augenblick wirkt, in dem es ausgesprochen wird, dass eine einmal verwendete Form zu nichts mehr nütze ist und nur dazu einlädt, nach einer anderen zu suchen […].«44 Die kulturelle Inventarisierung des Wortes, wie sie in der Verehrung und Kanonisierung literarischer Klassiker erfolgt, distanziert den Menschen vom eigentlich lebendigen kulturellen Prozess des Formwerdens und Formvergehens: »Unter diesen Umständen ist es keine Übertreibung, wenn man sagt, dass das Wort im Hinblick auf eine geschlossene, abgeschlossene Terminologie nur dazu dient, den Stillstand des Denkens zu bewirken; es zingelt es ein und beschließt es; es ist kurzum ein Ende.«45 Die Fluidität des Lebendigen versteinert im kulturellen Prozess, der – hier treffen sich Artaud und Barthes – wesentlich Sprachprozess ist. Damit aber gerät das Phänomen der Sprache an sich unter Druck, das ohne inventarisierende Absprachen nicht zu haben ist. Für dieses Problem liefert Artaud keine Lösung. Ich möchte an dieser Stelle aber darauf verweisen, dass Artaud, wie im Übrigen Brecht, immer betont hat, dass die Subversivität des Theaters eine sehr spezielle und autonome ist, der Ort des Theaters also nicht zu verwechseln ist mit dem Ort des Alltäglichen. Hier kann sich jene Formverflüssigung ereignen, die in anderen Lebenssphären vielleicht unmöglich wäre. Die Reanimierung des kulturellen Fließens soll durch sympathetische Übertragung erfolgen. An dieser Stelle lässt sich Artaud in die Aktualisierung des Mythosbegriffs im 20. Jahrhundert einordnen: Der Blick auf die entsprechende Theorie Cassirers zeigt, dass Artaud selbst mythisch denkt, nimmt er doch implizit einen »sympathetischen Zusammenhang«46 aller in der Aufführung präsenten Einzelteile – Körper und Dinge – an. Die Bewegungen des Schauspielerkörpers sollen sich auf den Zuschauerkörper übertragen und dieser so reanimiert werden. Re-animation bedeutet in diesem Kontext nicht nur die Wiederverbindung mit dem Lebensprozess, sondern auch die Erinnerung an die untrennbare Einheit von Geist und Körper. Der Körper ist der Dreh- und Angelpunkt der Artaud’schen Theatertheorie, in seinen Prozessen manifestiert sich das Leben jedes einzelnen Zuschauers und auf diese Prozesse gilt es theatral einzuwirken. Artauds Theater der Zeichen zeigt die Aufweichbarkeit begrifflicher Bedeutung durch die körperliche Dimension des Theaters und offenbart so auch deren materielle Gebundenheit. Damit stellt er sich gegen jegliche Tradition von Textzentrierung:

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Ebd., S. 99. Ebd., S. 154. ECW 12, S. 64.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

Anstatt auf Texte zurückzugreifen, die als endgültig, als geheiligt angesehen werden, kommt es vor allem darauf an, die Unterwerfung des Theaters unter den Text zu durchbrechen und den Begriff einer Art von Sprache zwischen Gebärde und Denken wiederzufinden.47 Hier deutet sich Artauds anspruchsvollstes Anliegen an, nämlich die künstlerische Überwindung des Leib-Seele-Dualismus, die er bereits in seinen frühen surrealistischen Schriften fordert: »Ich stelle mir ein System vor, an dem der ganze Mensch beteiligt wäre, der Mensch mit seinem körperlichen Fleisch und den Höhen der intellektuellen Projektion seines Geistes.«48 Dabei strebt Artaud nach einer epistemologischen Aufwertung und Neubestimmung des Körpers im Sinne Nietzsches, denn nur eine solche vermag den Dualismus von Intellektualität und Fleischlichkeit zu subvertieren.49 Die Unterordnung des Körpers unter den Geist ist eine der Selbstverständlichkeiten, gegen die Artaud bereits in den Dreißigerjahren, besonders aber in seiner späten Phase aufbegehrt. Während seiner Internierung in der Anstalt von Rodez schreibt er: »Und warum sollte der Körper dem Geist und nicht der Geist dem Körper entstammen? Warum sollte der Geist die Werte enthalten, von denen der Körper bloß das Elendskleid, der Stoff der Inkarnation wäre?«50 Der Körper scheint dasjenige zu sein, von dem man genau weiß, was es ist, was man verstanden hat. Es wird ein zentrales Anliegen des Theaters der Grausamkeit sein, mithilfe körperlicher Repräsentation die epistemischen wie subversiven Potentiale, die Lebendigkeit, aber auch die Risikohaftigkeit und Melancholie des Inkarniertseins zu offenbaren.51

Theater und Verstehen: Autonomie und Didaxe unter Spannung Der Anspruch Artauds ist »ein Theater, das wirkt«52 , allerdings weder politisch noch psychologisch, sondern durch Strategien, die sich dem propositionalen Verstehen entziehen. Artauds Verhältnis zum Verstehen wird also zunächst als ein Spannungsfeld von Hermetik und Wirken zu fassen sein, anhand dessen sich die Relevanz der grundsätzlichen Frage nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Nichtverstehenserfahrungen explizieren lässt.

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TD, S. 116. Herv. M. R. ST, S. 61. Artaud selbst verwendet nicht diese Formulierung und zitiert Nietzsche auch nicht direkt, der Zarathustra wird in Das Theater und sein Double jedoch mehrfach erwähnt, sodass davon auszugehen ist, dass Artaud wesentliche Impulse seiner Kritik am Leib-Seele-Dualismus von Nietzsche erhalten hat. BR, S. 124. Diesen Punkt werde ich in Abschnitt II.4.4 entwickeln. TD, S. 150.

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Der eigentliche Bereich des Theaters, das muss gesagt werden, ist nicht psychologisch, sondern plastisch, körperlich. Und es geht nicht um die Frage, ob die körperliche Sprache des Theaters imstande ist, dieselben psychologischen Lösungen zu erreichen wie die Sprache der Wörter, ob sie Gefühle und Leidenschaften ebenso gut auszudrücken vermag wie die Wörter, sondern ob es nicht im Bereich des Denkens, des Verstandes Haltungen gibt, die einzunehmen die Wörter nicht imstande sind und die die Gebärden und alles, was an der Sprache im Raum teilhat, mit größerer Treffsicherheit erreichen als sie.53 Artauds Kritik am Fetisch des begrifflichen Verstehens und der Evidenzverfallenheit seiner Zeit kulminiert in dem Versuch, Bedeutung im Sinne der Theatralität der Signifikanz ins Wanken zu bringen. Damit liegt hier bereits der Versuch vor, ein Problem ästhetisch einzuholen, das Barthes in den Sechzigerjahren philosophisch beschreibt, wie Kapitel II.3 gezeigt wurde. Dabei setzt Artauds Konzeption die Vorstellung eines einfachen Dualismus von Autonomieästhetik und der Idee des Theaters als moralisch-politischer Anstalt unter Spannung. Der erste der beiden Pole, zwischen denen diese Spannung akut wird, ist das insbesondere marxistisch orientierte engagierte Theater sowjetrussischer und deutscher Provenienz. Artaud hat sich während mehrerer Aufenthalte in Berlin mit den Bühnentechniken Piscators und Meyerholds befasst, was seine eigene Konzeption des Bühnenraums als Totaltheater wohl entscheidend beeinflusst hat.54 Überdies hat Artaud einer Aufführung von Brechts Dreigroschenoper beigewohnt55 und kannte auch deren Verfilmung. Trotz alledem wird Artaud, im Unterschied zu den von ihm studierten russischen und deutschen Theaterkünstlern, die neuen Techniken nicht im Sinne eines politisch-interventiven Theaterprojekts nutzen. Vielmehr nutzt er sie zur Konfrontation mit den unausweichlichen Konflikten, die der formschaffende Charakter der menschlichen Existenz mit sich führt. Den zweiten Pol dieser Spannungsmanifestation bildet die Sakralisierung des L’art pour l’art, das er heftig verwirft:

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Ebd., S. 93. Ausgangspunkt hierfür waren wohl vor allem seine filmischen Interessen. Zu Artauds Deutschlandaufenthalten und der möglichen Beeinflussung durch dortige dramaturgische und filmische Techniken siehe ausführlich Blüher, Antonin Artaud und das ›nouveau théâtre‹, S. 50-64. In seinen Briefen zeigt sich Artauds Kenntnis der theatertechnischen »Neuerungen […], die, zum Teil angeregt von den durch Futurismus, Konstruktivismus und ›Proletkult‹ geprägten Strömungen im sowjetrussischen Theater, Ende der zwanziger Jahre in Deutschland vom ›politischen Theater‹ Piscators übernommen und entwickelt worden waren.« (Ebd., S. 59.) Es ist nicht ganz klar, welche Inszenierung der Dreigroschenoper Artaud gesehen hat, in jedem Fall erwähnt er sie unter Nennung des deutschen Originaltitels mit einiger Begeisterung. Hierzu Blüher, Antonin Artaud und das ›nouveau théâtre‹, S. 55.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

Es geht darum, zu wissen, was wir wollen. Wenn wir uns alle auf Krieg, Pest, Hungersnot und Massenabschlachtung einrichten, brauchen wir es nicht einmal zu sagen, brauchen wir nur so weiterzumachen. Weiterzumachen, uns wie Snobs zu benehmen, uns massenweise hinreißen zu lassen von dem oder jenem Zauber, dem oder jenem herrlichen Schauspiel, das nicht die Domäne der Kunst überschreitet […], der oder jener Ausstellung von Tafelmalerei, wo einem mal hier, mal dort zwar eindrucksvolle, doch zufällige Formen in die Augen springen, die nicht vom echten Bewusstsein der Kräfte getragen sind, die sie in Bewegung setzen könnten.56 Dennoch beharrt Artaud – und hier liegt die Spannung – auf der Eigengesetzlichkeit der theatralen Form. Die Pointe autonomieästhetischer Konzepte liegt nicht zuletzt in der Abkehr vom Verstehbaren und in der Betonung des hermetischen Charakters der Kunst – sodass sich Artauds Konzept hier eigentlich mühelos einreihen ließe. Artauds Kritik am zeitgenössischen Theater bezieht sich nicht nur auf den Elitarismus der Inventarisierung einiger Meisterwerke, sondern auch auf jene Konzepte des moralisierenden Theaters, deren Vorstellung von der begrifflichdiskursiven Lösbarkeit bestimmter Probleme genauso naiv anmutet wie diese Ausgangsprobleme selbst.57 Diese Kritik teilt Artaud mit Barthes, der in seinen Schriften zum Theater die Haltung des bürgerlichen Publikums als Handel mit verständlichen Geschichten und sich verausgabenden Schauspielern charakterisiert. So schreibt Artaud: Wenn man vom Theater ausgeht, wie wir es hier betrachten, könnte man sagen, dass es sich im Leben um weiter nichts handelt als darum, zu wissen, ob wir gut vögeln, ob wir Krieg führen oder ob wir feige genug sein werden, Frieden zu schließen, wie wir mit unsern armseligen geistigen Ängsten fertig werden und ob wir uns unsrer ›Komplexe‹ bewusst werden […].58 Angesichts der tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüche seiner Zeit jedoch können für Artaud Psychologie und Moral nicht mehr das letzte Wort sein. Damit artikuliert Artaud die Unzulänglichkeit konzeptionellen Denkens und begrifflichen Verstehens, denn obwohl Psychologie und Moral im Theater Konjunktur haben, ändert sich nichts an den Verhältnissen außerhalb des Theaters. Offensichtlich sind Phänomene des Verstehbaren nicht geeignet, auf die kulturelle Krise zu reagieren. Ebenso ungeeignet, an den Zuständen etwas zu ändern, ist die Leere des kanonischen bürgerlichen Kunstgenusses. Die von Artaud beschriebene Krise der Werte stellt im Kern eine hermeneutisch-epistemische Krise dar: Mit den Werten einer Kultur gerät das Verstehen ins 56 57 58

TD, S. 103. Ebd., S. 92. Ebd., S. 53.

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Wanken. Zugleich unterbleibt aber der heilsame Blick auf die fundamentale Nichtverstehbarkeit dessen, was innerweltlich begegnet. Weil wir die Prozesshaftigkeit des Lebens, die unser Verstehen ohnehin beständig prekarisiert, da es eben immer nur ein Vorläufiges ist, verkennen, können wir auf die Krise der Werte nur inadäquat reagieren: Mit dem vergeblichen Versuch einer erneuten Überführung in Statik. Nach Artaud ist es die ästhetische Erfahrung, die mit der Reaktivierung mythischen Denkens auf diese sich öffnende Kluft antworten könnte. Tragischerweise reduziert das herkömmliche Theater das Unbekannte auf das Bekannte, auf Kommensurabilität.59 Wir beschränken das Theater hierbei auf den Bereich dessen, was das alltägliche Denken zu erreichen vermag, auf den bekannten oder unbekannten Bereich des Bewusstseins – und wenn wir uns mit den Mitteln des Theaters an das Unbewusste wenden, so geschieht es fast nur, um ihm zu entreißen, was es an erreichbarer, alltäglicher Erfahrung zu speichern (oder zu verbergen) vermocht hat.60 Der Fetisch von Transparenz und Offenlegung durchzieht also das Theater wie die Kultur. Dahinter steht eine Verstehenssehnsucht, welche die von Artaud beschriebene Krise mitverursacht hat. Artauds Theater begegnet indes dem Klischee, dass Wirken Verstehen und Transparenz braucht. So kritisiert er das europäische Theaterideal als am begrifflich fassbaren Verstehen orientiert, an einer Metahaltung, die Erleben zugunsten von Reflexion preisgibt.61 Mit Reflexion allein ist jedoch, so Artaud, nichts gewonnen. Hieraus ergibt sich lediglich ein Theater, dass die Leute in Ruhe lässt, ein Theater der Unbeteiligten, das sich nicht auf den Organismus des Zuschauers überträgt und keine realen Konsequenzen zeitigt.62 Das Ziel muss vielmehr eine »tiefgreifende Umwandlung von Vorstellungen, Sitten und Gebräuchen, Überzeugungen und Grundsätzen«63 , d.h. eine Umwandlung der Sphäre des Selbstverständlichen und der »stillschweigend […] gemachte[n] Voraussetzung[en]« und Übereinkünfte sein, also genau dem, was Konersmann als Kultur beschrieben hat.64 Diese Umwandlung kann jedoch nicht prädikativ und reflexiv erfolgen, sondern nur ästhetisch.

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Ebd., S. 101. Ebd., S. 61. TD, S. 14. Ebd., S. 100. Damit beweist Artaud bereits Gespür für eine Problematik, die auch derzeit im Zusammenhang zeitgenössischer Kunst und den Möglichkeiten ihres interventiven Charakters diskutiert wird, siehe besonders Alexander Garcia Düttmann: Die teilnahmslose Kunst. Über politische Veränderung und die Unzulänglichkeit der Reflexion. In: Lettre International 110/2015, S. 121-125. TD, S. 153. Konersmann, Kultur als Metapher, S. 335.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

Bei aller Verachtung des am Verstehen orientierten moralisierenden oder psychologisierenden Theaters65 kreist Artauds Konzeption durchaus um vermittlungsästhetische Ansprüche und ist, was sein Publikum betrifft, dezidiert anti-elitär: Eine Menge jedoch, die die Eisenbahnkatastrophen erzittern lassen, die Erdbeben, Pest, Revolution und Krieg kennt, die empfänglich ist für die wirren Schrecken der Liebe, vermag diese hohen Begriffe alle zu erreichen und verlangt danach, sich ihrer bewusst zu werden, aber nur unter der Bedingung, dass man in ihrer eignen Sprache zu ihr zu sprechen weiß und dass der Begriff von diesen Dingen nicht etwa eingekleidet und durch ein Wort verfälscht zu ihr gelangt, das längst vergangenen Zeiten angehört und das keine Zukunft haben wird.66 Allerdings trifft auch auf Artauds Theater die Aporie der vorauszusetzenden Kennerschaft zu, und auch hier ist diese Aporie kaum aufzulösen. Es können aber, ausgehend von Artauds Konzept, die Vermittlungsansprüche des Theaters weiter spezifiziert und als eigentümlich prekär von allzu naiv gedachter Kunstdidaxe abgegrenzt werden. Bewusstwerdung nämlich, so eine erste Einkreisung der Artaud’schen Epistemologie aufgrund des obigen Zitats, ist nicht zwangsläufig Sache prädikativer Vermittlung, sondern kann ebenso ästhetisch vollzogen werden. Damit wird der Begriff des Bewusstseins auf den Körper ausgedehnt. Die besondere Pointe des Artaud’schen Konzeptes besteht darin, dass Wirksamkeit und Verstehen geradezu als entgegengesetzt gedacht werden. Wirken bedarf der Singularität der körperlichen Erfahrung, Verstehen hingegen basiert auf Wiederholbarkeit und Fixierung. Daher ist das Theater der privilegierte Ort des Nichtverstehens, denn die szenische Form basiert auf Situativität und der stets abweichenden Wiederholung körperlicher Aktion: »[Die] Wirksamkeit des Theaters erschöpft sich deshalb am wenigsten schnell, weil sie die Aktion dessen erlaubt, was sich durch Gebärden ausdrückt und sich niemals ein zweites Mal wiederholt.«67 Der Sinn des Theaters liegt also für Artaud überhaupt nicht im Verstehen von Etwas. Die Metaphysik des Theaters der Grausamkeit vermittelt sich in der ästhetischen Abkehr vom Verstehen, nicht in einer moralischen oder psychologischen Didaktik der Lebensführung. Damit aber kann die Wirksamkeit des Theaters der

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Artauds Referenz ist Racine – dessen herausragende Stellung in der französischen Theatergeschichte auch von Barthes in seinen Mythen des Alltags demontiert wird. Artaud spricht von den »Missetaten des von Racine her stammenden psychologisierenden Theaters«. Daneben ist es für Artaud das Kino, das die menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten verkümmern lässt. In beiden Fällen zeigt sich das metaphorische Feld des pharmakologischen sehr deutlich, auf dem Artaud agiert. Im Falle Racines ist von einer »Entwöhnung« die Rede, einer Desensibilisierung also, im Falle Racines von einer »Betäubung«. Hierzu vgl. TD, S. 110. Ebd., S. 98. Ebd., S. 103.

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Grausamkeit, ebenso wie die des dialektischen Theaters Brechts, nur als eine ungewisse gedacht werden. Vor diesem Hintergrund ist Artauds Konzept in methodischer Hinsicht als mimetisch zu bezeichnen, da es sich in der Verunmöglichung von Verstehen den nie sicher fassbaren, höchstens erratbaren Gegenständen seiner Vermittlung anpasst: »Die Menge ist wie eh und je begierig nach dem Geheimnis; sie wartet nur darauf, sich Gesetze bewusst zu machen, durch die sich das Verhängnis kundtut, und vielleicht das Geheimnis seiner Erscheinungsformen zu erraten.«68 Diese Textstelle ist nicht nur deshalb entscheidend, weil sie hilft, die Themen des Theaters der Grausamkeit besser zu fassen: Verhängnis, Geheimnis, verborgene Gesetze der Existenz. Hier bekundet sich auch Artauds tiefe Überzeugung, dass neben einer Verstehenssehnsucht eben auch eine tiefe Nichtverstehenssehnsucht existiert – wir werden daher auf diese Stelle zurückkommen.69

II.4.3

Prozess und Wahrheit: Philosophie der Grausamkeit

Essenz und Dynamik: Grausamkeit Als Artaud 1938 die Texte für Das Theater und sein Double zusammenstellt, ist er bereits Zeuge eines Krieges, der nächste steht unmittelbar bevor – das Theater der Grausamkeit hat den Raum des Theaters also eigentlich längst überschritten und ist zum Prinzip einer politischen Wirklichkeit geworden. Umso erstaunlicher mag es anmuten, dass Artauds Theaterkonzept Grausamkeit nicht annulliert. Allerdings ist der Grausamkeitsbegriff Artauds, wie nun zu zeigen sein wird, ein sehr spezieller. Artaud erhebt zwar den Anspruch, mit seinem Konzept auf den erlebten zivilisatorischen Zusammenbruch zu reagieren, aber in klarer Abgrenzung zum Blutvergießen des Krieges. Seine Analogisierungen von Theater, Grausamkeit und Pest verorten Artaud vielmehr im größeren kulturkritischen Metaphernkanon70 der Moderne. 1932 erscheint in der Nouvelle Revue Française Artauds Manifest Das Theater der Grausamkeit, das er 1933 in reformulierter Form als Broschüre noch einmal herausgibt. Insbesondere Artauds Briefe an Jean Paulhan, die er sogar in Das Theater und sein Double aufgenommen hat, bezeugen seine Bemühungen, den Begriff von bloßem Sadismus und Brutalismus abzugrenzen. Es mag also der Eindruck entstehen, sein eigener Begriff sei ihm über den Kopf gewachsen und es gehe nun darum, ihn vor den mit ihm verbundenen Assoziationen zu schützen:

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Ebd., S. 98. Vgl. besonders Kapitel II.4.5. Vgl. zum »semantische[n] Feld« von Kulturkritik vgl. Becker-Lindenthal, Die Wiederholung der Philosophie, S. 36.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

Es handelt sich bei dieser Grausamkeit weder um Sadismus noch um Blut, wenigstens nicht ausschließlich. Ich kultiviere nicht etwa systematisch das Grauen. Das Wort Grausamkeit muss in einem weiteren Sinn verstanden werden, nicht in dem stofflichen […] Sinn, der ihm gewöhnlich beigelegt wird.71 Der Begriff der Grausamkeit muss, hier folge ich Blüher, als heterogener, antistatischer Begriff betrachtet werden.72 Ich werde ihn im Rahmen meiner Fragestellung besonders unter kultur- und lebensphilosophischen sowie, damit zusammenhängend, bedeutungstheoretischen Überlegungen fruchtbar machen. Grausamkeit ist bei Artaud untrennbar verknüpft mit einer bestimmten Vorstellung des Lebens. Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden – wie bereits angekündigt – dass sich im Vitalismus Artauds eine essentialistische Tendenz ausdrückt. Ich lese allerdings seinen Lebensbegriff insbesondere vor dem Hintergrund der von Barthes betonten Immanenz der Kultur73 und Artauds eigenen Gedanken zum Phänomen der Konvention als Versuch einer Verklammerung von Essenz und Dynamik: Leben ist grausam, insofern es als unerbittlicher Vollzug des Hervorbringens und Vernichtens der Formen vorgestellt wird, was den Menschen sowohl als Formschaffenden wie auch als eine Form unter anderen einschließt.74 Dabei ist dieser Vorgang zutiefst amoralisch, das heißt, er vollzieht sich ganz unabhängig von der Bewertung der Formen. Das Theater soll die entsprechende Vorstellung von Grausamkeit transportieren, und zwar als echte Geisteserregung, welche die Gebärde des Lebens selber nachvollziehen sollte; und zwar in der Vorstellung, dass das Leben, metaphysisch gesprochen und weil es Ausdehnung, Dichte, Schwere und Stofflichkeit duldet, in unmittelbarer Folgerichtigkeit auch das Böse und alles dem Bösen, dem Raum, der Ausdehnung und der Stofflichkeit innewohnende duldet.75 Grausamkeit besteht in der wesentlichen, dem Leben immanenten Unversöhnbarkeit und Unauflösbarkeit. Erst wenn kulturelle Formen prozessual gedacht werden, entsprechen sie der Fluidität des Lebens. Artaud ist also durchaus als Denker der Adäquation zu bezeichnen. Der Unterschied zum am Konzept der Adaequatio intellectus et rei orientierten Wahrheitsdenken besteht allerdings darin, dass der Gegenstand, die Res, von Artaud dynamisiert wird: Leben ist nicht ein festes Ding, 71 72

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TD, S. 132. Vgl. Blüher, Antonin Artaud und das ›nouveau théâtre‹, S. 74-96. Blüher allerdings interpretiert die verschiedenen Facetten des Grausamkeitsbegriffs vor allem vor dem Hintergrund psychoanalytischer Kategorien sowie Artauds eigener psychischer Pathologie – eine Deutung, von der die vorliegende Untersuchung Abstand nimmt zugunsten kulturphilosophischer Fragen. Diesen Gedanken habe ich in Abschnitt II.3.1 als »Barthes’sche Grausamkeit« beschrieben. Diesen Aspekt werde ich in Abschnitt II.4.5 wieder aufnehmen. TD, S. 148f.

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Kultur in Stücken

sondern ein Prinzip. Artauds lebensphilosophisches Denken lässt sich an dieser Stelle mit Barthes Diktum von der ›Verdammung zur Bedeutung‹ in Dialog bringen. Dann zeigt sich der menschliche Anteil der schöpferischen Zerstörung. Ich fasse Bedeutung hier mit Artaud als Form im Sinne des Geronnenseins auf. Indem wir lebendig sind, schaffen und vernichten auch wir Formen, ob wir wollen oder nicht, ob es uns bewusst ist oder nicht.

Lebens-Kunst Artaud selbst verbindet den Begriff der Grausamkeit, wie bereits oben erwähnt, mit dem Begriff des Lebens als Fatalität. In seinen Briefen an Paulhan will Artaud Grausamkeit verstanden wissen »im gnostischen Sinne von Lebensstrudel, der die Finsternis verschlingt, im Sinne jenes Schmerzes, außerhalb dessen unabwendbarer Notwendigkeit das Leben unmöglich wäre«76 . Leben wird hier gefasst als Geburt der Formen, als Vorgang der Konkretion, der das Allgemeine als undurchdringliche Finsternis vernichtet. Finsternis ist dabei zunächst nicht negativ konnotiert, sondern Sehnsuchtszustand im Sinne der dionysischen »Wonnebefriedigung des Ur-Einen«77 Nietzsches. Daher ist das Leben als Strudel der Formwerdung ein schmerzlicher Vorgang. Da er zudem unausweichlich ist, können Theater und Leben nur dann in ein stimmiges Verhältnis treten, wenn dieser Zustand nicht bloß repräsentiert, sondern im Sinne eines hermetischen Exerzitiums vergegenwärtigt wird, was das herkömmliche Theater, wie bereits gezeigt, gerade nicht vermag. Das Theater wird solchermaßen tatsächlich zur Lebens-Kunst, allerdings nicht im Sinne einer surrealistischen Vermischung von Bühne und Straße, sondern als hermetischer Raum der Ermöglichung einer Einsicht, wenn auch dem Ästhetischen selbst keine darauf bezogene Verlässlichkeit abgetrotzt werden kann. Die Kunst dieser Lebens-Kunst besteht darin, dass der Mensch vor dem Chaos im Sinne schöpferischer Zerstörung, dem Lebensstrudel, nicht einfach die Augen verschließt, sondern sich seiner auf heroische Weise bemächtigt, in ihn eintaucht, ohne von ihm endgültig verschlungen zu werden: »Man muss an einen durch das

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Ebd., S. 133f. Die Parallelen zum gnostischen Denken, die Artaud hier für sich in Anspruch nimmt, können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht überprüft oder gar entfaltet werden. Er selbst nennt in Das Theater und sein Double nur einmal die Gnosis als Referenz, unterlässt aber auch hier konkrete Angaben. Ich benenne daher nur kurz denkbare Elemente, die eine Parallelisierung zulassen würden, etwa der Gedanken eines Ringens finsterer und lichter Kräfte oder die vergessene Teilhabe des Menschen am Göttlichen. Zum Überblick über diese Aspekte der Gnosis vgl. Einar Thomassen u. a.: Gnostizismus und Verwandtes. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begr. von Friedrich Ueberweg, hg. von Helmut Holzhey. Bd. 5/1: Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike. Hg. von Christoph Riedweg und Dietmar Wyrwa. Basel 2018, S. 855-882, hier S. 855ff. und 875ff. KSA I, S. 30.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

Theater erneuerten Sinn des Lebens glauben, wo der Mensch sich unerschrocken dessen bemächtigt, was noch nicht ist, und es entstehen lässt.«78 Wie für Brecht, so ist auch für Artaud die Produktivität ein entscheidendes Paradigma seines Theaters des Nichtverstehens. Bereits im vorherigen Abschnitt habe ich Artauds Denken mit der Annahme eines Verdammtseins zur Bedeutung verbunden, und zwar vor allem bezogen auf das menschliche Formschaffen im Sinne des Kulturprozesses.79 Auf der Folie des Begriffs des Lebens möchte ich nun eine weitere Facette dieses Anschlusses aufnehmen, die ich in Abschnitt II.4.3 angedeutet habe: Nicht nur Kulturerscheinungen als Bedeutungsformung sind dem Werden und Vergehen unterworfen, sondern auch wir selbst als Formende. Mit Artaud muss gesagt werden: Auch der Mensch ist nur eine Form. Diese Perspektive deckt sich mit der Kritik am Mythos Mensch bei Barthes und Brecht.80 Die philosophischen Implikationen von Artauds lebensphilosophischem Denken, wie auch sein Theater, sind in ihrer Einsicht jedoch radikaler, im wahrsten Sinne des Wortes existentieller: Was in Artauds Theater eingesehen werden kann, ist nicht zuletzt das Sein zum Tode.81 Auch der Mensch ist Form, insofern er wird – und für Artaud heißt das immer auch vergeht. So lese ich denn auch die »Unterwerfung unter Notwendigkeit«82 , die nach Artauds vitalistischer Auffassung zu leisten ist, zwar vor dem Hintergrund eines modernen Heroismus, nicht aber im Sinne einer faschistoiden Massenhypnose, wie sie Artauds Konzept öfters unterstellt wurde.83 Ich lese sie metaphysisch, nicht politisch. Grausamkeit kann damit korrespondierend dann auch als Bewusstseinsform aufgefasst werden, die die Wahrnehmung des Lebens von seiner Eigenschaft der Vergänglichkeit aus organisiert: »Das Bewusstsein verleiht der Ausübung eines jeden Lebensvorgangs seine Blutfarbe, seine grausame Nuance, ist doch das Leben eingestandenermaßen stets jemandes Tod.«84

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TD, S. 17. Besonders Derrida hat Artaud auf diesen Gedanken hin rezipiert, stellt doch für ihn die Repräsentation die Grundstruktur unserer Kultur dar. Vgl. Derrida, Das Theater der Grausamkeit, S. 356. Mir kommt es allerdings auf eine Verschränkung von Artaud und Barthes an, mit der Pointe, dass Repräsentation sich hier nicht nur als unterdrückerisches Phänomen begreifen lässt – ich interpretiere Derridas Essay in dieser Tendenz –, sondern ebenso als Leistung, vgl. den Abschnitt I.1.1. Der Dreh- und Angelpunkt der bourgeoisen Ideologie ist für Barthes der »Ewige Mensch«, »weder Proletarier noch Bourgeois« (MdA, S. 128). Vgl. hierzu auch Derrida, Das Theater der Grausamkeit, S. 379. TD, S. 110. Vgl. hierzu auch Kapitel I.1.2. Zur Widerlegung einer solchen Auslegung Artauds durch Erika Fischer-Lichte vgl. dies.: Die Wirksamkeit theatralischer Zeichen. Überlegungen zur Theaterkonzeption Antonin Artauds. In: Maske und Kothurn 1981/27, S. 109-122, hier S. 121f. TD, S. 110.

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Der Eros des Nichtverstehens, von dem auch das Theater Artauds zehrt,85 gipfelt in der Bereitschaft, zur eigenen Kultur in ein Verhältnis der Jouissance zu treten. Diese ist, so Barthes, eine »Form des Vergehens«86 . Indem Artaud den Zuschauerkörper ins Zentrum seines Theatererlebnisses rückt, wird das Theater zu einem Raum der – wenn auch nicht vollständigen – Erosion des Subjekts. Fasst man diese Erosion über die psychoanalytische Auslegung hinaus im Rahmen von Artauds lebensphilosophischem Denken auf, so erscheint das Theater der Grausamkeit als thanatologisches Exerzitium der Moderne – die nach der Krise metaphysischer Autoritäten alternative Formen der Auseinandersetzung mit menschlicher Endlichkeit verlangt.

Grausamkeit verstehen? Begriffliches Verstehen stellt für Artaud den Inbegriff der geronnenen Form dar, welche dem Lebensstrudel feindlich, aber letztlich wirkungslos gegenübersteht. Hier deckt sich sein Urteil mit dem Barthes’, der das Signifikat als Stillstand bezeichnet.87 Verstehbare Bedeutung im Sinne der Überformung eines ästhetisch Gegebenen kann es im Strudel des Lebens, trotz des Erfolgs alltäglicher Situationsbewältigungsstrategien, immer nur für einen Moment geben. Artaud spricht der Bedeutung indes auch nicht ihre Praktikabilität und Orientierungsfunktion ab, hierzu enthält er sich. Er profiliert vielmehr sein Ziel als Destabilisierung von Bedeutung im Sinne eines Gedenkens an den unsicheren Grund, auf dem sie entstanden ist. Das Verstehen ist für Artaud immer verdächtig, es ist seiner Form nach der Abschluss des lebendigen Werdens: »Denn für mich sind klare Vorstellungen, auf dem Theater wie anderswo, tote, abgeschlossene Vorstellungen.«88 Die Betrachtung des Verstehens erhellt auch den Artaud’schen Lebensbegriff unter hermeneutisch-epistemischen Gesichtspunkten. Leben, das sich im Spannungsverhältnis der Formen manifestiert, ist selbst etwas nicht Verstehbares, jeder Verstehenszirkel bleibt ein Provisorium von unabsehbarer Dauer. Hier lässt sich der Begriff des Nichtverstehens mit dem Gedanken der Grausamkeit verbinden. Denn das Selbstverständliche schafft als Situationsbewältigungsstrategie Ruhe, Ordnung und Widerstandsauflösung. Andererseits sorgt es dafür, dass die Dinge weitergehen, verschafft also innerhalb eines bestimmten Rahmens Bewegungsmöglichkeit. Diese ruht allerdings auf der Anerkennung des Status quo, das heißt einer Stillstellung. Im wohlgeordneten Raum des Selbstverständlichen kann es überhaupt kein echtes Theater ge85 86

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Diesen Gedanken entfalte ich ausführlich in Abschnitt II.4.5. KdS, S. 193. Für Barthes gerät mit der Erosion der Kultur – im Anschluss an die psychoanalytische Theorie Kristevas – immer auch das Subjekt in die Krise, das sich wesentlich im Verhältnis zu seiner Kultur konstituiert. RdS, S. 78. TD, S. 52.

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ben. Artaud schreibt: »Wo Einfachheit und Ordnung herrschen, kann es anscheinend weder Theater noch Drama geben, und das echte Theater entspringt, wie übrigens auch die Poesie, doch auf andren Wegen, einer werdenden Anarchie […].«89 Erst vor dem Hintergrund der kulturellen Bedeutung, die Artaud dem Verstehen beimisst, lässt sich die Rolle des Nichtverstehens deutlich profilieren. Die Annäherung an das Phänomen des Verstehens sieht sich, wie die Annäherung an weitere Schlüsselmotive und -konzepte Artauds, mit der Diffusität seines Begriffskosmos konfrontiert. Zu diesem gehören etwa ›Verstehen‹, ›Begreifen‹, ›klare Vorstellung‹ und das ›Einleuchtende‹. Erhellen lassen sich diese zumeist vor dem Hintergrund seiner Kulturkritik und in Abgrenzung zu seinem sehr spezifischen, epistemologischen Körperbegriff.90 Verstehen ist, so viel lässt sich zunächst festhalten, vor allem in zwei Konnotationen für uns interessant: erstens im Sinne des Selbstverständlichen als situativer Strategie des Umgangs mit der Welt, zweitens im Sinne eines Mythos des Verstehens als vermeintlicher Leistung reiner, überzeitlicher Intellektualität. Dieser Mythos wird besonders in Abgrenzung zum archaisch-mythischen Weltzugriff konstituiert und ist Teil eines bürgerlich-akademischen Selbstverständnisses, das Artaud verabscheut. Das zeitgenössische Theater bezeugt zunächst vor allem den nachmythischen Menschen, zu dessen Selbstverständnis es gehört, dem Geist eine Vormachtstellung gegenüber dem Körper zuzusprechen und logisch-prädikative Formen zu verabsolutieren. Das Theater ist demnach, und hier treffen sich Artaud und Brecht, Ausdruck eines Nicht-mehr, einer hermeneutisch-epistemischen Verschiebung. Es entsteht in dem Augenblick, in dem der sakrale Ritus seine weltaufschließende Kraft verliert.91 Der nachmythische Mensch ist für Artaud, wie für Nietzsche, eine tragische Gestalt. Der existentielle Verlust, den er erlitten hat, äußert sich, so beobachtet Artaud, auf intuitiver Ebene, als letztes Aufblitzen eines Begehrens des nicht sogleich Transparenten. Entsprechend heißt es an der wichtigen, in Kapitel II.4.2 bereits angesprochenen Stelle in Das Theater und sein Double: »Die Menge ist wie eh und je begierig nach dem Geheimnis: sie wartet nur darauf, sich Gesetze bewusst zu machen, durch die sich das Verhängnis kundtut, und vielleicht das Geheimnis seiner Erscheinungsformen zu erraten.«92 Es gibt also im Sinne des Ideals vermeintlicher Transparentmachung und Evidenz nichts zu verstehen, lediglich zu

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Ebd., S. 66. Hierzu vgl. ausführlicher Abschnitt II.4.4. So schreibt Artaud 1936 über seinen Buchtitel an Paulhan: »Dieser Titel wird auf all die Doubles des Theaters antworten, die ich seit so vielen Jahren ausfindig gemacht zu haben glaube: die Metaphysik, die Pest, das Reservoir an Energien, die die Mythen konstituieren, welche die Menschen nicht mehr verkörpern, das Theater verkörpert sie« AOC V, S. 272f., Übers. M. R. TD, S. 98.

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Kultur in Stücken

erraten. Damit deutet sich hier bereits an, dass auch in Artauds Denken die Vorstellung eines Eros‹ des Ungewissen existiert, die ich bereits bei Brecht93 wie auch bei Barthes identifiziert habe, und den ich bezogen auf Artaud in Abschnitt II.4.5 weiter beschreiben werde. Mit der Analogie der Pest, einem der vielen Doubles des Theaters wie des Lebens, lässt sich die Erfahrung des Verstehensentzugs, die sein Theater ermöglichen soll, erhellen. Der Pestkranke durchläuft ein Martyrium nach dem anderen, aber nichts folgt daraus: »Der geöffnete Leichnam des Pestkranken weist keine Schädigungen auf. […] Alles deutet auf eine fundamentale Störung der gesamten Sekretion. Aber es gibt keine stoffliche Einbuße oder Zerstörung wie bei der Lepra oder der Syphilis.«94 Die Pest als anarchistisches Theater ist »unmittelbare Willkür, die zu Akten ohne Nutzen und Gewinn für die Aktualität treibt.«95 Auch in diesem Theater gibt es nichts zu verstehen, wobei ich Verstehen hier wieder als Handhabbarmachung einer Situation im Sinne einer Ökonomie des Status quo auffasse. Das hier erwähnte Nutz- und Gewinnlose, den Überschuss, der sich nur im Ausnahmezustand manifestiert, interpretiere ich im Rahmen einer Artaud’schen Verstehenskritik als Kritik am Primat des Kommensurablen. Das Kommensurable kann wissenschaftlich-psychologisch oder moralisch eingebettet sein. Insbesondere gegen das moralische Herstellen von Kommensurabilität richtet sich dann der Gedanke der Amoralität des Lebens, das im grausamen Vollzug auch diejenigen Formen gleichsam verschwenderisch vernichtet, die im Sinne der verstehenden Ökonomie des Weltumgangs fruchtbar gemacht werden können. Wenn überhaupt – und Artaud war sich dieser Einschränkung durchaus bewusst –, dann kann der Prozess der kulturellen Formung als anamorphotische Spiegelung des Prinzips des Lebens ausschließlich nicht-propositional zugänglich gemacht werden.96 Die Einsicht in die Beschaffenheit von Kultur und Leben muss das Publikum sich im analogen Prozess wechselnder Körperempfindungen gleichsam »er-leben«. Der individuelle Körper entfaltet hier, aufgrund der nicht verallgemeinerbaren Jeweiligkeit seiner Empfindungen selbst anamorphotische Potenz: Als prozessual Geformter wird er im Theater in einer neuen Dimension erfahrbar: Als selbst unaufhörlich im Aisthetischen, qua Wahrnehmung (Ver-)Formender.

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Vgl. Abschnitt II.2.4. TD, S. 25. Ebd., S. 30. Das balinesische Theater hat unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation dieses Vorgangs besonderen Eindruck auf Artaud gemacht. Die entsprechenden Repräsentationsvorgänge beschreibt er wie folgt: »Diesen geistigen Zeichen wohnt ein präziser Sinn inne, der uns nur noch intuitiv, doch so heftig beeindruckt, dass sich jede Übersetzung in eine diskursive, logische Sprache als unnütz erweist.« (Ebd., S. 70.)

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

II.4.4

… via Haut: Manifestationen des Nichtverstehens

Körper, Schrift Artauds Theater des Nichtverstehens ist sowohl auf Ebene der schriftstellerischen Darstellung als auch auf Ebene der dramaturgischen Umsetzung geprägt vom kulturphilosophischen Motivzusammenhang des Ringens zwischen Singularität und Allgemeinheit. Dazu versucht er, Körper und Gegenstände in ihrer singulären, je eigentümlichen ästhetischen Beschaffenheit zu vergegenwärtigen. Intellektualität und Physis bilden dabei keine Antipoden mehr, sondern, so beschreibt es Barthes: [D]as Denken soll vollständig in der Physis des dramatischen Geschehens aufgehen; keine Innerlichkeit mehr, keine Psychologie und sogar und im Gegenteil zu dem, was der Bürger oft der Avantgarde unterstellt, kein Symbolismus mehr: Jedes Symbol ist wirklich; Artaud ›totemisiert‹ die Objekte; er möchte, das sein Publikum an der szenischen Materie teilnimmt wie ein Primitiver an einer rituellen Zeremonie.97 Die Krise der Repräsentation ist nicht zuletzt eine Sprachkrise, die die Suche nach anderen Zeichen – etwa gestisch, mimisch, proxemisch – nötig macht.98 In diesem Sinne soll die Metaphysik des Lebendigen, so Artaud, »via Haut in die Gemüter einziehen«.99 Der Vorstellung einer Reinheit begrifflicher Repräsentation setzt Artaud die Betonung des ästhetischen Anteils von Repräsentation entgegen, mit dem diese als polysemischer, diffuser Vorgang aufzufassen ist.100 Der Begriff als Operation der Ruhigstellung ist weniger geeignet, die Flüchtigkeit des Lebensprozesses zu repräsentieren, als der Körper in seiner eigentümlichen semiologischen Diffusität. Der begrifflichen Repräsentation setzt Artaud also die Verkörperung entgegen. Da Grausamkeit, wie im vorigen Kapitel gezeigt, nicht verstanden werden kann, nimmt Artauds Theaterkonzept als Konzept nicht-propositionaler Erkenntnis den Weg in zweierlei Hinsicht über körperliche Weitergaben: Erstens über die Verkörperung des Schauspielers, zweitens über die Ansteckung des Zuschauers. Nichtverstehen ereignet sich hierbei auf mehreren Ebenen. In der Verkörperung des Schauspielers, dies wurde in Abschnitt II.1.3 bereits angesprochen, begegnet zunächst die körperliche Jeweiligkeit des Spielenden der97 98 99 100

SzT, S. 256f. Meyer, »Encore – en corps – a corps«, S. 19. TD, S. 130. So auch Helga Finter, nach der im Theater Artauds Repräsentation selbst »als Produktivität erfahren« wird (Finter, Der subjektive Raum Bd. 2, S. 3). In Anbetracht der Tatsache, dass gerade Barthes sich mit Artaud befasst hat, wäre aus Artauds Denken heraus folgende sprachphilosophische Konsequenz zu ziehen: Die emphatische, von Barthes geteilte Behauptung des Linguistic turn, alles sei Sprache, verhilft nur vermeintlich zu mehr Klarheit und Lesbarkeit der Welt.

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gestalt, dass die Figur des Hamlet zwar von mehreren Menschen gespielt werden kann, dabei aber trotzdem niemals die gleiche bleibt. Im Sinne der Theatralität der Signifikanz entzieht sich die jeweilige Darstellung also der verlässlichen, bedeutungsstiftenden Wiederholung, man könnte sagen: Jede einzelne Aufführung und jeder neue Schauspieler bewirkt eine Verschiebung des Verstehens der Figur des Hamlet, sodass dieses Verstehen, wenn vielleicht auch nur kurz, ins Wanken gebracht wird.101 Barthes’ Beschreibung der Körnung der Stimme etwa fängt genau diese Eigenschaft des Körpers ein, zugleich etwas und nichtsbedeuten zu können.102 Das Diffuse und die damit verbundene Unberechenbarkeit der körperlichen Repräsentation stellt für Artaud – darin besteht ein Bruch mit der neuzeitlichen theatralen Tradition der Entkörperlichung,103 wie Fischer-Lichte sie beschreibt – keinen Mangel, sondern ein entscheidendes subversives Potential dar. Artauds Theater nimmt den Vorgang des Erschaffens und Entgleitens von Bedeutung in den Blick, den er, hier dicht bei Nietzsche, als genuin körperlichen Vorgang auffasst. Dieser kann, wenn nicht verstehbar, so doch erfahrbar gemacht werden, als Ringen von Manifestation und Auflösung, welche sich vom Schauspieler ausgehend auf die Zuschauenden übertragen soll: Der Schauspieler, der nicht zweimal dieselbe Geste macht, sondern der Gesten macht, bewegt sich, und ganz gewiss misshandelt er Formen, doch hinter diesen Formen und dadurch, dass er sie zerstört, erreicht er wieder, was die Formen überlebt und ihr Fortleben sichert.104 Was überlebt und das Fortleben der Formen sichert – hier zeigt sich übrigens, dass Artaud kein radikal-konstruktivistischer Formverächter ist –, ist eben das Ringen mit der Form, der Vorgang des Gestikulierens selbst, der noch nicht zur verstehbaren Geste geronnen ist, die Dynamik des menschlichen Weltbezugs. Auch Artauds Theater kennt identifizierbare Motive, Themen und Erzählungen. So zählt er biblische Motive, aber auch etwa die Dramen Büchners zu Stoffen, die für die Umsetzung des Theaters der Grausamkeit interessant wären.105 Wie sich jedoch im Falle des von Artaud verfassten Stückes Die Cenci zeigt, zu dessen Umsetzung um-

101 Vgl. hierzu auch Mersch, Posthermeneutik, S. 89. 102 Zu dieser Eigenschaft des Körpers vgl. Mersch, Körper zeigen, S. 85ff. 103 Diese geht davon aus, dass die Figuren unabhängig vom jeweiligen Schauspieler existieren (vgl. Fischer-Lichte: Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie. In: Verkörperung, hg. von Erika Fischer-Lichte u. a. Tübingen 2001, S. 11f.). 104 TD, S. 16. 105 Ebd., S. 130f.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

fangreiche Materialien und Stellungnahmen Artauds erhalten sind, haben sich alle Texte zuletzt an den Möglichkeiten der praktischen Umsetzung zu messen.106 Auf der Ebene der körperlichen Darstellung soll, statt des Buchstabensystems des herkömmlichen Dialogs, eine andere Kategorie von Zeichensystem szenisch fruchtbar gemacht werden: Dem Buchstaben des Dramentextes wird die Hieroglyphe als Zeichen einer situativ gebildeten pantomimischen Sprache entgegengesetzt, was Finter als »Schrift in actu« bezeichnet hat.107 Artauds Theater kann also auch als Theater der Schrift im Sinne eines Paradigmas der Bedeutungsbildung bezeichnet werden. Hier lässt sich Artauds Theaterkonzept mit den schrifttheoretischen Überlegungen Barthes’ zur Deckung bringen: »das Schreiben setzt fortwährend Sinn, aber immer nur, um ihn zu verflüchtigen: es nimmt eine systematische Freistellung des Sinns vor.«108 Die Hieroglyphe bietet als Bildzeichen mehr Verstehensspielraum und dadurch für den Interpreten ein größeres Scheiternspotential als der Buchstabe, sie amplifiziert jene Freistellung, die auch die Buchstabenschrift immer schon vollzieht, allerdings verschleiert durch den Mythos der Klarheit des Wortes. Die hermeneutisch-epistemische Ungewissheit der Beschaffenheit der Hieroglyphen, ihr Zug zum Nichtverstehen, ermöglicht die Reanimation einer Teilhabe am immer schon erfolgten Bedeutungschaffen, ich denke durchaus im Sinne des freien Spiels der ästhetischen Erfahrung, wie Schiller es beschreibt, das ebenfalls aus der Erfahrung einer epistemische Leere anhebt: »Was also das Denken in Rücksicht auf Bestimmung ist, das ist die ästhetische Verfassung in Rücksicht auf Bestimmbarkeit; jenes ist Beschränkung aus innrer unendlicher Kraft, diese ist eine Negation aus innrer unendlicher Fülle.«109 Der psychologisierenden wie schlicht politisierenden Belehrung im Theater steht damit ein hermetischer Ansatz gegenüber, der zwar Vorverständnis erfordert, innerhalb des hermetischen Raums aber Spielfelder eröffnet. Artaud denkt den Körper, so zeigt Helga Finter, »als Produkt der Kultur«110 . Bereits in Das Theater und sein Double verweist er, wie bereits erwähnt, auf die Konventionsgebundenheit der Wahrnehmung. Dennoch ist der Körper keine tote Ma-

106 Artauds Umsetzung der Cenci sollte das Theater der Grausamkeit vorbereiten, es handelt sich, so der Autor, also noch nicht im eigentlichen Sinne um eine Umsetzung seines Konzeptes (vgl. Cen, S. 101ff.). 107 Finter, Der subjektive Raum Bd. 2, S. 4. Herv. i. O. Artaud schreibt, das Theater solle »aus Figuren und Gegenständen richtige Hieroglyphen« bilden (TD, S. 117). 108 RdS, S. 62. Herv. M. R. 109 Schiller, Über die ästhetische Erziehung, S. 377. Auch Wolfgang Pross weist darauf hin, dass Kultur sich ihre Arbitrarität primär im Spiel vergegenwärtigen kann (ders., Das Begehren des Narziss, S. 34). 110 Finter, Der subjektive Raum Bd. 2, S. 117. Finter deutet Artauds Körperverständnis vor allem im Rahmen der psychoanalytischen Systematik.

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terie, sondern er schafft und strukturiert seinerseits Bedeutung und ist in der Lage, epistemische Leistungen auszudrücken: Ich sage, […] dass es eine Poesie für die Sinne gibt wie eine für die Sprache, und dass diese körperliche, konkrete Sprache […] nur dann und in dem Maße wirklich dem Theater eignet, in dem die Gedanken, die sie zum Ausdruck bringt, sich der artikulierten Sprache entziehen.111 Das Theater Artauds ist durchaus als Schule der Wahrnehmung zu verstehen, insofern sie möglichst nah an das Werden und Vergehen im Sinne der Grausamkeit heranführen soll: Hingegen kommt es darauf an, dass die Sensibilität durch zuverlässige Mittel in den Stand vertiefter und verfeinerter Wahrnehmungsfähigkeit versetzt wird; dies nämlich ist der Inhalt der Magie und der Riten, deren bloßer Abglanz das Theater ist.112 Das infizierende Theater Artauds soll sich auf der Ebene des Zuschauerkörpers fortsetzen. Besonders an zwei Strategien lässt sich zeigen, dass es sich bei der Infizierung der Zuschauer nicht um reine Immersion handelt, sondern um eine eigene Artaud’sche Dialektik. Dazu betrachten wir den Rhythmus und den »Singsang«.113 Beide stellen situative Interventionen dar, die das herkömmliche Verstehen körperlich außer Kraft setzen. Interessanterweise lassen sich allerdings beide als Verwandte des Selbstverständlichen beschreiben: Das Selbstverständliche als das Hermetische der Kultur weist große Ähnlichkeit mit der Einhaltung eines Taktes bzw. Singsangs auf, da alle drei Phänomene der Iteration bedürfen. Das Nachdenken über den Takt, als Akt der Distanznahme, führt sodann meist zum »Herausfallen«, ebenso wie das mythologische Vor-Augen-Führen des Selbstverständlichen dessen einlullende Macht bricht. Mithilfe von Rhythmus und Singsang als Strategien ästhetischer Affizierung lässt sich also Verstehen unterlaufen, zugleich jedoch handelt es sich hierbei um eine immersive Erfahrung. Bei dieser bleibt Artaud indes nicht stehen. So listet er zusätzlich folgende, äußerst heterogene inszenatorische Elemente auf: Schreie, Klagen, Erscheinungen, Überraschungen, allerlei Knalleffekte, […] Charme der Harmonie, seltene Musiknoten, […] körperlicher Rhythmus der Bewegungen, dessen Crescendo und Decrescendo das Pulsieren von Bewegungen annehmen wird, […] unvorhergesehene Lichtwechsel, körperliche Wirkung des Lichts, das einen heiß und kalt überläuft usw.114 111 112 113 114

TD, S. 39. Ebd., S. 119. Ebd., S. 114. Ebd., S. 122.

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Es ist also davon auszugehen, dass auch Artauds Theater, bei aller entdistanzierenden Infizierung, ein nicht unwesentliches dialektisches Moment enthält, in dem sich Immersion und Emersion gegenseitig stören. Diese Störung geschieht in beiden Fällen auf der körperlichen Ebene. Das bedeutet dann aber, dass Emersion, als Auftauchen aus dem Selbstverständlichen, nicht allein Sache der Theorie ist, wie die Figur des Barthes’schen Mythologen es nahelegt. Für Artaud gibt es »neben der Kultur mittels Wörter[n]« auch die Kultur mittels Gebärden«.115 Das Selbstverständliche, wie sein Bruch, können sich, so ist daraus zu schließen, körperlich vollziehen: als inkarnierte Kultur – hier trifft sich Artauds Körperpoesie mit dem Gestuskonzept Brechts.

Stimme, Wort Die »Sprache durchbrechen, um das Leben zu ergreifen«116 , so lautet die Losung des Theaters der Grausamkeit. Im Phänomen der Stimme offenbart sich vielleicht am eindringlichsten das Spannungsverhältnis von Verstehen und Nichtverstehen, mit dem Artaud seine Zuschauer konfrontiert. Die Poesie der Gebärde »geht«, so Artaud, »sehr viel mehr von der NOTWENDIGKEIT des Wortes als vom bereits gebildeten Wort aus.«117 Damit verschiebt sich der Fokus weg vom begrifflichen Verstehen hin zur körperlichen Wahrnehmung der Aussprache, so Artaud: [D]ie Wörter brauchen nur, statt einzig und allein für das genommen zu werden, was sie, grammatisch gesehen, sagen wollen, unter ihrem klanglichen Gesichtspunkt verstanden […] zu werden (…) und schon bildet die Sprache der Literatur sich neu und wird lebendig […]118 . Das Theater bleibt also, so ließe sich provokant zuspitzen, ein Theater der Sprache. Allerdings ist es, stärker als das Theater Brechts, auf Momente der Theatralität der Signifikanz ausgerichtet und das bedeutet: auf Momente der Fleischlichkeit des Sprechens. Die Onomatopöie unterläuft den Mythos der Sprache als überzeitlich, klar und intelligibel und zwingt dazu, sich von Gewissheitsversprechungen und Evidenzverheißungen bezüglich prädikativer Formen zu verabschieden. Die »verbale Sprache« verliert, so formuliert es Meyer, »ihre Fähigkeit […] einen Zusammenhang von Subjekt und Welt zu garantieren«119 , womit Artaud zur neuzeitlichen Krise der Wahrheit aufschließt. Entsprechend schreibt Artaud bereits in frühen Jahren über die andere Seite der Sprache, ihr »dunkles« Potential:

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Ebd., S. 141. Ebd., S. 17. Ebd., S. 143. Herv. i. O. Ebd., S. 157. Meyer, »Encore – en corps – a corps«, S. 18.

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Ja, das ist jetzt der einzige Zweck, zu dem die Sprache künftig dienen kann: als ein Mittel zum Wahnsinn, zur Ausmerzung des Denkens, zur Auflösung; ein Labyrinth der Unvernunft, und kein WÖRTERBUCH, in das irgendwelche Schulmeister aus der Seine-Umgebung ihre geistigen Beschränktheiten kanalisieren.120 Hier manifestiert sich eine Abkehr vom funktionalistischen Sprachverständnis, das wörtliche Äußerungen auf ein »Um … zu« reduziert. Als körperliches Ereignis ist auch sie an das Nichtverstehen im Sinne des Selbstverständlichkeitsentzugs zurückgebunden, das die Ökonomie der Alltagsbewältigung beständig zu subvertieren droht. Besonders deutlich wird dies am Phänomen des Schreis, der zuvörderst einen zivilisatorischen Bruch darstellt.121 Was der Schrei darüber hinaus noch zeigt, ist die Materialität der Stimme, die nun nicht mehr von der sprachlichen Bedeutung verdeckt wird.122 Die hervorgebrachten Töne bedeuten nur sich selbst, sie lassen sich nicht in herkömmliche Verstehenshorizonte einspeisen. Daneben verweisen sie zum einen auf den Körper als Medium ihrer Hervorbringung, erhalten also zeigenden Charakter, zum anderen auf die Beschaffenheit von Sprache. Die Theatrale Repräsentation soll nämlich [alle] jene Verfahren, die das Wort durchlaufen hat, […] alle jene Verfahren mittels Schreien, onomatopoetischen Worten, Zeichen, Haltungen und langsamen, überströmenden und leidenschaftlichen nervlichen Modulationen Ebene für Ebene und Zustand für Zustand […]123 offenbaren, wodurch der prozessuale, diffuse Charakter der Sprache selbst demonstriert und nicht bloß begrifflich behauptet wird: Sie [die Poesie der Gebärde, M. R.] stellt auf poetische Weise jene Bahn wieder her, die zur Erschaffung der Sprache geführt hat. […] Sie fördert wieder die in den Schichten der menschlichen Silbe eingeschlossenen und festgelegten Beziehungen, die diese [die Sprache, M. R.] abgetötet hat, indem sie sich in sich selbst verschloss, zutage.124 Auch Artaud geht also von einem prozessualen Sprachverständnis aus, das lediglich verschüttet ist. Wie alle anderen kulturellen Erscheinungen stellt sie die Ausfällung einer immer wieder erfolgten menschlichen Bezugnahme auf die Welt dar,

120 ST, S. 40. Herv. i. O. 121 Michael Leiris: Schreie. In: Über Antonin Artaud, hg. von Bernd Mattheus und Cathrin Pichler. München 2002, S. 83-85, hier S. 85. 122 Hierzu siehe den unveröffentlichten Text, dessen Titel überdies deutlich den Einfluss Baudelaires auf Artaud zeigt: TD, S. 194. 123 Ebd., S. 143f. 124 Ebd., Herv. i. O.

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keine wahrheitsgetreue Abbildung überzeitlicher Tatsachen. Indes sind alle Sprachen, also auch die Körpersprache, prozessual verfasst, insofern lässt sich nur eine epistemologische Privilegierung der Körpersprache im Hinblick auf eine ästhetische Hermetik konstatieren. Auch sie ist nicht näher an einer subjektunabhängigen Wahrheit, sie lässt aber unser Bedeutungsschaffen angesichts der Abwesenheit einer solchen Wahrheit klarer sehen. Der Stimme kommt dabei eine herausragende systematische Stelle zu, sie kann, mit Meyer, als »Scharnier« beschrieben werden, insofern sie »sowohl Körper wie Sprache ist, beides verbindet und gleichsam trennt.«125 Als ein solches Scharnier macht Artaud die Stimme nutzbar126 : Im Phänomen der Stimme zeigt sich das Ringen der körperlichen Singularität mit dem allgemeinen Horizont der Sprache, ähnlich des Barthes’schen Stilbegriffs aus dem Nullpunkt 127 . Im Motiv der Stimme sind Artauds psychoanalytische und seine kulturphilosophischen Gedankenstränge verflochten: Zum einen soll das Theater verdrängte Aspekte des Menschen aus der Latenz befreien, es ist dazu da, »unseren Verdrängungen Leben zu verleihen«128 . Insofern werden auf der Bühne diese Aspekte beschworen, herbeigerufen und im Theater, nicht aber in der Realität des Alltagsgeschehens ausgelebt, wodurch sich ihre vitale Kraft über das Theatererlebnis hinaus erhalten kann.129 Zum anderen ist Kultur für Artaud als Kosmos menschlicher Hervorbringungen »in den Dingen gegenwärtiger Geist«130 . Für Artaud fallen auch Worte und Taten unter diesen Vergegenwärtigungsvorgang, den er im Begriff der Beschwörung mythisch fasst.131 Der Begriff lässt sich im Sinne des mythischen Formungsvorgangs verstehen, in dem der Mensch zum einen mit dem innerweltlich Begegnenden, zum anderen mit sich selbst umgeht. Artaud will »das Wort als eine Notwendigkeit auftauchen [lassen], als Resultat einer Reihe von szenischen Verdichtungen, Zusammenstößen und Berührungen«132 . Damit wohnen die Zuschauer einer Demonstration bei: Das Wort haftet nicht dem Gegenstand an, sondern es folgt aus einer Szene. Die Szene erzählt dabei nicht eine stringente

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Meyer, »Encore – en corps – a corps«, S. 19. Prominent geschieht das in seinem 1948 inszenierten Radiostück Schluss mit dem Gottesgericht, was Meyer ausführlich entlang psychoanalytischer und kulturphilosophischer Koordinaten analysiert hat (vgl. ebd.). Aber auch im Theater der Grausamkeit finden sich Versuche der Umsetzung dieses Gedankens. 127 Barthes’ Stilbegriff ist hier ein literaturtheoretischer, lässt sich aber dennoch modellhaft auf die Konzeption Artauds übertragen. Zum Stilbegriff Barthes’ vgl. ausführlicher Abschnitt II.3.2 der vorliegenden Untersuchung. 128 TD, S. 11. 129 Hierzu Artaud: Die Raserei des Mörders hat sich entladen und ist daher flüchtig; »er verliert den Kontakt zu seiner Kraft gerade wie er sie ausagiert« (ebd., S. 27). 130 Ebd., S. 10. 131 AOC IV, S. 45, Übers. M. R. 132 TD, S. 145.

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Wortentstehung. Sie figuriert ein wechselvolles, von körperlichen Intensitäten getragenes Schaffen und Geschaffenwerden, die kulturelle Urszene selbst.

Mythos Artauds Theater stellt keine Verabsolutierung des Körpers dar,133 sondern es schiebt Intellektualität und Physis ineinander. Dazu bedient er sich mythischer Stoffe als Reservoir einer intellektuellen, wenngleich nicht begrifflich-diskursiv erfassbaren kollektiven Innerlichkeit. »Der wirkliche Gegenstand des Theaters besteht in der Erschaffung von Mythen, im Ausdruck des Lebens unter universalem, umfassendem Aspekt und in der Gewinnung von Bildern, in denen wir uns wiederfinden möchten, aus diesem Leben.«134 Krieg, Drogenrausch und Verbrechen sind Phänomene dieser latenten Sehnsucht nach einem Kontakt zum Prinzip des Lebendigen. Obgleich das Theater Artauds, das sich der beschriebenen Sehnsucht annimmt, ein körperzentriertes Theater ist, ist es nicht textlos. Schwerpunkte von Artauds Aufzählungen bilden Motive des Schicksalhaften, des Unwahrscheinlichen, Chaotischen und besonders der erotischen Überschreitung. Hierzu nennt er die Legende von Blaubart und die Erzählungen de Sades.135 Hinzu kommt – hier wird der surrealistische Einfluss deutlich – eine Einbeziehung von Träumen als kollektives und individuelles Motivreservoir. Was in diesen Stoffen und Motiven zum Ausdruck kommt, ist der Bruch des Verstehens im Sinne des Selbstverständlichen. Das Gewebe des Alltags, des widerstandsfreien Umgehens, zerreißt in situativer Konfrontation mit Gewalt, Tod, Sexualität, aber auch im Traum. Verstehen im Sinne innerkultureller Orientierung und Identifikation wird außer Kraft gesetzt, da die dargestellten Handlungen und Träume kulturelle Übereinkünfte und Normalitätserwartungen überschreiten. Mythen sind für Artaud das Ergebnis einer kulturellen Einigungspraxis, die auf die beschriebenen Überschreitungssituationen figurativ-demonstrativ, nicht begrifflich-analytisch reagiert, zeigend, nicht analysierend. Ähnlich wie Jung geht Artaud dabei von einem kollektiven kulturellen Bewusstsein aus, denn er beschreibt Mythen als etwas, »mit [dem] kompakte Kollektive sich einverstanden erklärt ha-

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Wie es etwa Caroline Pross und Gerald Wildgruber interpretieren (vgl. dies.: Mimik im Spiegel der Sprache. In: Verkörperung, hg. von Erika Fischer-Lichte u. a. Tübingen 2001, S. 53-73, hier S. 59). TD, S. 152. Dazu gehören darüber hinaus Dramentexte wie etwa Büchners Woyzeck oder Shakespeares Stücke, aber auch mythische und romantische Erzählungen und Ausschnitte aus Kosmogonien verschiedener Religionen. Hinzu kommen historische Ereignisse insbesondere kriegerischer und verbrecherischer Art wie die Eroberung Mexikos, Jerusalems und eben die Ermordung des Grafen Cenci durch die von ihm geschändete Tochter (ebd., S. 161 und 117).

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ben«136 , und was im Zuschauerkollektiv bestimmte Bilder und Assoziationen wachzurufen vermag, die aus einem unbewussten kollektiven Wissensfundus hervortreten. Artaud setzt den Mythos für die Konfrontation mit dem Nichtverstehbaren aber nicht analysierend, sondern konstatierend ein. Dies zeigt ein Monolog des Grafen Cenci in Artauds Bühnenfassung der einer Familientragödie aus dem 16. Jahrhundert. Graf Cencis tyrannisches Verhalten ist im Stück in keinerlei psychologischen, moralischen oder religiösen Verstehensrahmen übertragbar: [M]ir passiert es mehr als einmal, daß ich mich im Traum mit dem Schicksal identifiziere. Das ist die Erklärung für meine Laster und diese natürliche Neigung zum Haß, bei der mich meine Verwandten am meisten stören. Ich halte mich für eine Naturgewalt, und ich bin eine. Für mich gibt es weder Leben noch Tod, weder Gott noch Inzest, weder Reue noch Verbrechen. Ich gehorche meinem Gesetz, das mich in Taumel versetzt; und umso schlimmer für den, der erfaßt wird, und in den Abgrund versinkt, der ich geworden bin. Ich suche und tue das Böse aus Bestimmung und aus Prinzip. Ich könnte den Kräften nicht widerstehen, die darauf brennen, sich in mir zu entfesseln.137 Indem Artaud mythische Erzählungen als eigene, dezidiert anti-reduktionistische Art des Weltumgangs und der Bewältigung starkmacht, passt er sich hier erneut in den Kanon der Theorie des Mythos des 20. Jahrhunderts ein. Für ihn stellt der Mythos eine epistemische Leistung dar, die zu komplex ist, als dass sie in die Koordinaten von Psychologie oder Moral aufgelöst werden könnte.138 Zudem liefert das Motiv der Angst einen Nexus zwischen Artaud und der philosophischen Mythosdeutung: Artaud benennt die »große metaphysische Angst«139 als Gegenstand seines Theaters. Auch bei Denkern des Mythischen wie Adorno, Horkheimer und Blumenberg spielt die Angst bei der Genese des Mythischen eine große Rolle, allerdings bezogen auf das Verhältnis des Menschen zur Welt als ihm Äußerliches, Fremdes.140 Bei Artaud wird der Mensch nun selbst zum Quellpunkt der Angst. In den Mythen einer Kultur manifestiert sich für Artaud also keine überzeitliche

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Ebd., S. 111. Cen, S. 11. Herv. i. O. Außerdem: »Über diese ganze Familie streicht ein eigenartiges Fatum.« (Ebd., S. 128.) 138 Der Gedanke der allmählichen Reduktion mythischer Fülle findet sich etwa in Blumenbergs Überlegungen zur Narratologie der Lebenswelt. Auch Blumenberg merkt, wie Artaud, den Reduktionismus moralischer Lehrsätze an: Es »hat uns längst zu belustigen begonnen, in welchem Mißverhältnis die tradierten Moralschlüsse zur Bedeutungsfülle uralter Fabeln stehen, denen sie wie hilflose Annotationen nachgeschoben zu sein scheinen.« (Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986, S. 68.) 139 TD, S. 57. 140 Vgl. bes. AGS 3, S. 19 sowie Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 28 und 124ff.

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Wahrheit, sondern ein Umgang des Menschen mit seiner Angst nicht ausschließlich, aber in erster Linie vor sich selbst. Es ängstigt den Menschen hier seine eigene Grausamkeit in zweifacher Hinsicht: Zum einen in Gestalt monströser, zivilisationsgefährdender Überschreitungshandlungen, zum anderen insofern er selbst inkarnierte Grausamkeit ist, da sich in seinem eigenen Tod das sich unerbittlich vollziehende Leben selbst überschreiten wird. Wo auf die Entlastung durch metaphysische Rahmenkonzeptionen oder gar religiös fundierte Absolutionsversprechen nicht mehr zu hoffen ist, da wird ein diesseitiger Umgang mit den unberechenbaren, transgressiven menschlichen Anteilen nötig – Artauds Konzept stellt einen Versuch eines solchen alternativen Umgangs dar. Seine konzeptuelle Ausrichtung basiert auf der Einsicht, dass, was im Möglichkeitsbereich des Menschlichen liegt, selbst die Ruhe und Sicherheit des Begrifflichen überschreitet. Dies darf weder verdrängt noch überhöht werden. Auch integrieren lässt es sich, als Inkommensurables, nicht. Was bleibt, ist weder Reinigung noch Tilgung, sondern der heroische Akt des Schauens. Dem bietet das Theater Raum, womit sich Artauds Konzeption von der billigenden Entfesselung von Gewalt und Zerstörung unterscheidet, als welche sich die surrealistische Vermischung von Kunst und Leben interpretieren lässt.141

Inszenierung und Nichtverstehen Die Inszenierungen und Stücke Artauds weisen keine einheitliche Dramaturgie auf. Während Artauds Stück Die Cenci von 1936, welches das Theater der Grausamkeit nur vorbereiten sollte, durchaus erzählerische Stringenz besitzt, zersprengt sein Radiostück Schluss mit dem Gottesgericht von 1948 – das wahrscheinlich am dichtesten an einer tatsächlichen Umsetzung des Theaters der Grausamkeit liegt – jegliche Stringenz. In Das Theater und sein Double erscheint die Beschreibung seines dramaturgischen Vorhabens durchaus paradox, da dieses sowohl als hochgradig immersiv als auch als montageartig dargestellt wird. Widmen wir uns zunächst dem Aspekt der Immersion. Artauds Theater umfasst die reine Inszenierung mittels Gebärden […] all das, was das Wort umfasst, und außerdem verfügt sie noch über das Wort. Rhythmische Wiederholungen von Silben, besondere Modulationen der Stimme, die den genauen Sinn der Wörter verschleiern, beschleunigen in der großen Zahl die Bilder im Hirn, fördern dadurch einen mehr oder weniger halluzinatorischen Zustand und unterwerfen Sensibilität wie Geist einer Art von organischen Veränderung, die dazu beiträgt,

141

Hierzu ausführlich Karl Heinz Bohrer, Surrealismus und Terror, sowie die Auseinandersetzung Webers mit der Theatralität und Inszenierung der Terroranschläge des 11. September 2001: Weber, Theatricality as medium, S. 326-364.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

der geschriebenen Poesie, jene Unverbindlichkeit zu nehmen, die sie gemeinhin kennzeichnet.142 Das körperliche Wirken als Vornahme einer Veränderung am Zuschauer nimmt dem Dramentext, als ästhetischem Phänomen, seine Unverbindlichkeit und stellt jene »Beteiligung« her, die den Kern »authentischer Kultur«143 ausmacht, die es wiederherzustellen gilt. Der mythologische Blick wird, mit Barthes gesprochen, geradezu verunmöglicht. Das Publikum des Theaters der Grausamkeit blickt im Übrigen nicht auf eine Bühne im Guckkastenformat, sondern es befindet sich auf Drehstühlen und wird so von der Handlung umschlossen. Überdies kommen bereits bei Artaud Surround–Techniken zum Einsatz, da über Lautsprecher Stimmen und Geräusche das Publikum umhüllen und zugleich durchdringen sollen.144 Was mit diesen Techniken der Umhüllung und Durchdringung erreicht werden soll, ist zunächst eine totale Entgrenzungserfahrung.145 Diese läuft dem Phänomen des Nichtverstehens nun eigentlich entgegen, denn im Kern bedeutet Selbstverständlichkeit die totale Immersion in eine Kultur, Widerstandsfreiheit, Distanzlosigkeit. Andererseits braucht jedes Verstehen, auch das des Selbstverständlichen, Begrenzungen in Form von Bezugnahmen situativer Jeweiligkeit. Beide Aspekte schließen sich indes nicht kategorisch aus, da Selbstverständlichkeit – scheinbar paradox – sowohl durch Diffusität als auch durch Präzision gekennzeichnet ist. Artaud selbst weist allerdings Phänomenen der Dissonanz und des Bruchs, wie etwa geistigen und sprachlichen Fehlleistungen,146 größte Bedeutung zu. Allerdings akzentuiert Artaud mit den von ihm eingesetzten Dissonanzen andere Aspekte der theatralen Erfahrung als etwa Brecht. Die Brüche und Überraschungen des Theaters der Grausamkeit sollen nicht zum Bruch im Sinne des Brecht’schen Begreifens des Theaters als Theater führen, keine Durchkältung147 erreichen. Sie sollen vielmehr auf der Ebene der körperlichen Individualität des Zuschauers im Sinne einer Schule der Wahrnehmung Werden und Vergehen erfahrbar machen. Beide Aspekte des Lebendigen werden hier sowohl als beeinflussbar als auch als unbeeinflussbar erfahren. Beeinflussbar erscheinen sie immer dort, wo der Zuschauer seiner eigenen schöpferischen Kraft gewahr werden kann, etwa im sehnsuchtsvollen Erahnen eines Wortes, mit dessen Bildung der Schauspieler zu ringen

142 TD, S. 158f. 143 Ebd., S. 13ff. 144 »[D]er im Zentrum der Handlung befindliche Zuschauer wird von ihr umhüllt und durchzogen […].« (Ebd., S. 126.) 145 Ebd., S. 125ff. Vgl. auch meine Ausführungen zu Rhythmus und Singsang in Abschnitt II.4.4. 146 Ebd., S. 123. 147 Vgl. den Abschnitt II.2.3.

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scheint, und das jederzeit in eine reflexhafte Vorwegnahme einer Bedeutung kippen kann. Dieses Gewahrwerden beruht allerdings auf Strategien des Aufschubs. Dass die Auflösung des schauspielerischen Ringens in begrifflich fassbare Bedeutung nicht erfolgt, sondern stattdessen andere Bilder und Geräusche diese Arbeit des Zuschauers an der Bedeutung unterbrechen und vereiteln, vermag in der Tat einen Verfremdungseffekt zu zeitigen, der dem Zuschauer sein eigenes Tun, seine Arbeit an der Bedeutung, vor Augen führt.148 Dem Ruf des Theaters der Grausamkeit scheint eines von Artauds wichtigsten dramaturgischen Mitteln zu widersprechen, nämlich der Humor, das Lachen. Humor zerstört den Status quo des zu Verstehenden. Artaud beschreibt in seinen Texten dazu vor allem etwa ein Spiel mit Bekanntheit und Fremdheit, wodurch ermöglicht wird, dass durch Fremdes Neues über Bekanntes gelernt werden kann.149 Das Lachen bildet, ähnlich wie die Stimme, ein Scharnier zwischen dem Intelligiblen und dem Körperlichen, greift doch ein geistiger Vorgang unmittelbar körperlich ein. Das Theater der Meisterwerke hat »den Sinn verloren […] für das körperliche und anarchische Dissoziationsvermögen des Lachens.«150 Seinen Anarchismus entfaltet das Lachen insbesondere in seiner Eigenschaft als körperlicher Reflex, dann aber auch durch seinen epidemischen Charakter. Artaud beschreibt es in Das Theater und sein Double vor allem als körperliche Reaktion auf einen Erwartungsbruch, der in die hermeneutische Integrität des Handlungsablaufs einfällt und »durch eine anarchische Zerstörung, […] einen gewaltigen Schwarm von Formen erzeugt […]«151 , also eine Form schöpferischer Zerstörung darstellt. In den Dimensionen der Sprache, der Körperzeichen und der Dinge, die alle auf ihre Weise im Sinne der Theatralität der Signifikanz subversiv wirken, verbindet Artauds Konzept passives Erleiden und aktive Situationsbeurteilung, Immersion und Emersion. Wichtig bleibt, dass die Unterbrechungen, mit denen Artauds Theater spielt, kein distanzierendes Begreifen im Sinne des Mythologen ermöglichen sollen. Sie funktionieren im Sinne einer speziell ästhetischen Epistemologie vielmehr additiv, als Ablösung der Intensitäten. Distanzierung erfolgt hier nicht so sehr, wie noch bei Brecht, mit Bezug auf die Institution der Theateraufführung, sondern sie wird gänzlich auf den Körper verlagert, im Sinne des Wechselbades der Affizierung. 148 Ich folge daher Rogozinski in seiner Beobachtung, dass auch Artaud mit seinem Versuch, das Leben zu inszenieren, auf die ursprüngliche etymologische Verwandtschaft von théôria und theáomai rekurriert. Auch sein Theater enthält, eben weil es »Schau« ist, ein nicht unwesentliches Moment der Distanzierung. (Rogozinski, Das Leben heilen, S. 70.) 149 TD, S. 56. Darüber hinaus gehört es zur Eigenschaft des Witzes, dass er nicht mehr funktioniert, wenn er analysiert wird, also sowohl immersive als auch emersive Faktoren eine Rolle spielen, ähnlich wie beim Rhythmus. 150 Ebd., S. 54. 151 Ebd., S. 120.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

Der Prozess der Körperpoesie bleibt hochriskant: Erst im Augenblick der Aufführung und auf der Ebene der Individualität des Zuschauers zeigt sich, ob das Experiment glückt. Darüber hinaus lässt sich das »Gelingen« dieses Theaters, das Artaud als Wirken bestimmt, kaum prüfen, weil es keine begrifflich adäquate Beschreibung dessen geben kann, was mit dem Zuschauer passiert, ob die Ansteckung erfolgt. Das Mysterium des Singulären der je eigenen Körpergeschichte, die in Bezug zum allgemeinen Horizont der Kultur tritt, will Artaud, 20 Jahre vor Barthes, auf körperliche Weise einsehbar machen, gerade indem die immersive Theatererfahrung den analytischen Blick verunmöglicht. Die Zuschauenden erfahren die Aufführung, die tätige Metaphysik am eigenen Leib, als Zunahme und Abnahme von Intensitäten, als Manifestation und Auflösung von Zuständen und Reizen, oder, so könnte man mit Samuel Weber152 formulieren: als Balance zwischen Identifikation und Separation. Der Körper wird einem Prozess ausgesetzt und transformiert sich »zum theatralischen Ort«153 . Grundlage von Artauds Theaterkonzept ist damit in letzter Konsequenz der Versuch einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus: »Es gibt im Fleisch einen Geist, aber einen Geist, der schnell ist wie der Blitz«154 , schreibt er. Vergegenwärtigt man sich diesen Anspruch, so löst sich dann auch die paradoxe Formel der ›Metaphysik via Haut‹ auf. Wenn Körper und Geist sich durchdringen, wie bereits angesprochen, dann können geistige Erscheinungen körperlich studiert werden. Daher kann Artaud auch nicht an eine Tradition angeschlossen werden, die im Körper das unzähmbare Andere sieht. Das Theater ist ein besonderer kultureller Raum, weil es, wie Barthes formuliert, den Körper »gibt«155 . Das aber heißt nicht, dass dieser Körper als bedeutungsbefreit oder irrational verstanden wird. Der werkförmige Charakter der Kultur betrifft so zuletzt auch menschliche Körpererfahrungen, ja mehr noch: Der Körper selbst erhält den epistemologischen Status des Kulturellen, da er selbst formt und dergestalt an der Bedeutungsgenese beteiligt ist. Im Theaterkonzept Artauds erscheint er nicht bloß, weil er zu einer eigenen Sprache fähig ist, sondern vor allem, weil er einen eigenständigen Modus der Weltgestaltung birgt, als Grenze und Station im Sinne Barthes’. Intensität muss als Modus nicht-propositionaler Erkenntnis auf körperlicher Ebene verstanden werden: Hier zeigt der Körper sich und die Welt.

152 153 154 155

Weber, Theatricality as medium, S. 28f. Mersch, Körper zeigen, S. 81. ST, S. 62. ÜM, S. 96.

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II.4.5

Wanken. Versöhnung mit den Schatten

Verstehen als Ideologie: Hoffnung Sprache Im vorigen Kapitel wurde der Begriff des Mythos, wie Artaud selbst ihn gebraucht, untersucht, nämlich als Geschichte über die metaphysischen, insbesondere dunklen, bedrohlichen Aspekte des Menschseins. Der Mythos ermöglicht zwar keine Befriedung dieser Aspekte, wohl aber einen Umgang mit ihnen. Dieser Umgang ist allerdings ein anderer, als der der Evidenzbehauptung alltäglichen Verstehens im Sinne des Selbstverständlichen: Er ist mimetisch, vergegenwärtigend. Artauds Konzeption lässt sich, unabhängig von seinem eigenen Mythosbegriff, an die mythologische Ideologiekritik Barthes’ anschließen. Durch die Inszenierungsstrategien Artauds, insbesondere die performative Ausstellung des Sprachprozesses, wird die »unbestimmte Struktur des Begriffs«156 , die Barthes attestiert hat, nicht nur ausgenutzt, sondern selbst gezeigt. Die szenische Form erschließt den Wort- und damit Bedeutungsbildungsprozess – um die Subvertierung begrifflich gefasster Bedeutung geht es Artaud ja hauptsächlich – als immer nur vorläufig abschließbar. Das Theater der Grausamkeit soll, so Artaud, Bedeutung »wieder in Frage«157 stellen. Das heißt, sie stand also schon einmal in Frage und kann immer wieder verunsichert werden. Mit Artaud lässt sich von einem Mythos des Verstehens sprechen, insofern dieses mit besonderen Attributen ausgestattet wird. Dass die Dinge durch den Zugriff des Wortes, den Be-Griff, durchsichtig und handhabbar gemacht werden können, in dieser Auffassung liegt die beruhigende, verewigende Kraft des Mythos vom begrifflichen Verstehen, der vom herkömmlichen Theater perpetuiert wird: [D]as abendländische Theater erkennt nur die artikulierte, grammatisch artikulierte Sprache, das heißt die Sprache des Wortes, des geschriebenen Wortes, des Wortes, das ausgesprochen oder nicht ausgesprochen nicht mehr Bedeutung hat, als wenn es lediglich geschrieben stünde, als Sprache an […], und zwar mit jener Art von geistigen Würde, die man gemeinhin mit diesem Wort verbindet.158 Es endlich mit der Intransparenz, Flüchtigkeit und Unvorhersehbarkeit dessen, was da, mit Blumenberg, herankommt und heraufzieht,159 aufzunehmen, dieser tiefen Sehnsucht erteilt Artaud eine Absage. Die szenische Ausstellung der Vorläufigkeit subvertiert diesen Mythos, allerdings nicht mythologisch, durch Theatralität der Distanz, sondern gemäß der Jouissance, durch Theatralität der Signifikanz. Diese vergegenwärtigt »[a]lles, was die besondere Aussprache des Wortes betrifft,

156 157 158 159

MdA, S. 118. TD, S. 55. Ebd., S. 154. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 12.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

die Vibration, die es dem Raum mitzuteilen vermag, und infolgedessen all das, was es dem Denken hinzufügen kann«160 . Der Blick auf Artaud zeigt zudem, dass die Auffassung von Kultur als Text genau genommen keinerlei Lesbarkeits- und damit nicht zuletzt keinerlei Gewissheitserwartungen zu erfüllen vermag. Indem Artaud die inhärente Diffusität der Sprache als zunächst vor allem ästhetischem Medium offenbart, gerät nicht nur der Linguistic turn im Anschluss an Barthes – er selbst äußert in einem Interview die Überzeugung, dass »alles Sprache ist«161 –, sondern geraten auch Annahmen und Methoden etwa des logisch-positivistischen Denkens in Bedrängnis, deren Entwicklung zu Artauds Lebzeiten im Gange war.162 Artaud ist kein radikaler Konstruktivist. Die von Barthes attestierte Verdammung zur Bedeutung würde Artaud zweifellos teilen, dies hat der Blick auf Das Theater und sein Double gezeigt. Bereits hier, wie auch in seinem gesamten Spätwerk, stellt allerdings die Konventionsbildung und Bedeutungsgerinnung, der Akt des Formens im Angesicht des Zerrinnens selbst den Dreh- und Angelpunkt seines Theaters der »Form-Inversionen« und »Bedeutungsverschiebungen« dar.163 Da dieser Vorgang keinesfalls ein Akt göttlicher Beseelung passiver, toter Materie ist, sondern ein Ringen mit der Materialität des eigenen Körpers wie des ästhetisch Begegnenden, eine Formung ins Unreine, so kann die Privilegierung begrifflicher Repräsentation, die nicht nur eine philosophische ist, sondern tief ins Selbstverständnis des modernen Menschen hineinreicht, nicht aufrechterhalten werden. Was das Theater der Grausamkeit zeigt, ist der körperliche Aspekt des Prozesses der Sprache selbst. Die performative Beschaffenheit des Mediums Theater, das ausstellt und vergegenwärtigt, versetzt es so in die Lage, das paradoxe Kunststück

160 TD, S. 154. 161 KdS, S. 169. 162 Christiane Schildknecht etwa verweist darauf, dass den Klärungsbestrebungen des logischen Positivismus die durchaus erfolgreiche orientierungsstiftende Funktion vermeintlich unklarer Texte der Literatur und der Philosophie entgegenzuhalten ist: »Die Spezifika literarischer Texte und der durch sie vermittelten klaren Erkenntnis – Unbestimmtheit und begriffliche Unausschöpfbarkeit – haben über unterschiedliche literarische Darstellungsformen (etwa Dialog, Aphorismus, Essay, Autobiographie und Brief) auch philosophische Texte in erheblichem Maße geprägt. Nach den bisherigen Überlegungen verwundert es nicht, dass genau dies die Texte sind, von denen wir aufgrund ihrer literarischen Komponente sagen würden, dass sie unsere Einstellung zur Welt grundlegend verändert haben, etwa Texte von Platon, Montaigne, Wittgenstein, Nietzsche, Seneca und Descartes. Was sich aus Sicht der analytischen Philosophie als Mangel an Präzision präsentiert, erweist sich also gerade unter dem Desiderat Orientierung vermittelnder Klarheit als unverzichtbar. Mit der Literatur verbindet diese Erkenntnis die Einsicht, dass Orientierung nur auf eine bestimmte, nämlich spezifisch unbestimmte Weise zu haben ist.« (Dies., Klarheit in Philosophie und Literatur, S. 786f.) 163 TD, S. 55.

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zu vollführen, mithilfe der Sprache eine Reflexion der Sprache selbst zu ermöglichen. Der in Artauds Werk auffindbare anamorphotische Motivzusammenhang lässt sich nun auch auf die Form seiner Kritik münzen: Der Ideologie des Verstehens setzt sein Theater des Nichtverstehens nicht den mythologischen Enthüllungsgestus entgegen, sondern die den Blick immer wieder neu und anders verstellende Anamorphose des Körpers.

Ungewisse Subversion: Anamorphose des Körpers Artauds Konzept konfrontiert mit der hermeneutisch-epistemischen Inkommensurabilität des Kulturellen, die wesentlich auf dessen ästhetischer Beschaffenheit basiert, darauf, dass dieses »in den Dingen gegenwärtiger Geist«164 ist. Diese Inkommensurabilität kultureller Erscheinungen zuzulassen, ohne in ein weltabgewandtes L’art pour l’art zu verfallen, ist eine der zentralen Herausforderungen, der sich Artaud mit seinem Entwurf zu stellen versucht. Im Theater als polysemischem ästhetischen System ereignet sich das Nichtverstehen des Inkommensurablen paradigmatisch. Es bleibt stets ein Rest, mit dem sich nicht umgehen lässt, der sich nicht zur Identifikation, Orientierung oder kurz: Situationsbewältigung nutzbar machen lässt. Daher subvertiert das Theater vor allem das Verhältnis des Menschen zur Bedeutung, keine konkreten politischen Systeme oder moralischen Agenden. Solche überführen das Theater in semantische Verwertungszusammenhänge, weshalb Artaud sich der Vermischung von Kunst mit Politik, Moral oder Psychologie verweigert. Mit der Betrachtung des epidemischen Anspruchs des Theaters der Grausamkeit gerät die immanente Unsicherheit künstlerischer Subversionsvorhaben, die auch Brechts Theater kennzeichnet, erneut in den Blick – nun aber mit Fokus auf den Zuschauerkörper: Ob die Ansteckung erfolgt, bleibt ungewiss. Das Individuum stellt, dieser Gedanke lässt sich im Anschluss an Artauds Konzept entwerfen, sowohl für die Untermauerung des Status quo als auch für seine Zersetzung potentiell eine Grenze dar, zu der sich Subversionsbehauptungen und -zuschreibungen von Kunst und ihrer Theorie zu verhalten haben. Das Entzugspotential des Ästhetischen funktioniert also nicht nur in eine Richtung, kann sie sich letztlich auch gegen das Subversionsvorhaben selbst richten und dieses ins Leere laufen lassen. Der Körper wird bei Artaud zum Refugium der Dissidenz und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum Ersten zielt Artaud auf die Möglichkeiten der bedeutungszersetzenden Jouissance-Erfahrungen ab, wie Barthes sie beschreibt. Diese Erfahrungen ereignen sich zunächst mit Blick auf die vom Publikum wahrgenommenen Objekte. Darüber hinaus, und zum Zweiten, ist der Zuschauerkörper selbst ein Ort der Dissidenz, insofern die Wirksamkeit der bereitgestellten ästhetischen Erfahrungen auf eben diesen Körper ungewiss bleibt.

164 Ebd., S. 10. Herv. M. R.

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So lässt sich auch Artauds Theater des Nichtverstehens im Sinne der anamorphotischen Kritik interpretieren, und zwar in mehrerlei Hinsicht und mit besonderem Akzent: Die immanente Dissidenz des Ästhetischen, hier konkret in Gestalt des menschlichen Körpers des Zuschauers wie Schauspielers, bildet die Basis für den pharmakologischen Charakter des Kulturellen, da sie die intendierten Wirkungen kultureller Formungsprozesse potentiell verzerrt. Die besondere Pointe Artauds besteht dann darin, dass die subversive, den Theaterraum überschreitende Wirksamkeit seiner Hermetik eben nicht selbstverständlich, sondern ungewiss und flüchtig ist, aber er eben darin einen Wert erkennt – bis zur Selbstaufgabe, wie auch Finter andeutet165 . »Wie umfangreich dies Programm auch sein mag, so überschreitet es doch nicht das Theater selbst, das für uns, mit einem Wort, mit den Kräften der alten Magie eins zu werden scheint«166 , schreibt Artaud, auch sein Theater kann, bezogen auf die Erfüllung seiner Ansprüche, in Stücke gehen. Umso deutlicher zeichnet sich aber hier die Möglichkeit und Beschaffenheit ästhetischer Subversion ab, wie ich denke. In den Zwanzigerjahren hat diese entschiedene Abgrenzung zum Bruch Artauds mit der surrealistischen Gruppe geführt. Der Konflikt steht dabei paradigmatisch für einen Konflikt der kommunistischen Ideologie mit der Avantgardekunst. Barthes fasst die Vorbehalte der französischen Kommunisten gegen die dekadent erscheinende Entgegenständlichung der Avantgarde so zusammen, dass man in ihr nur »eine ästhetische […] Subversion, aber nie eine revolutionäre«167 sah. Artaud selbst veröffentlicht bereits 1927 ein wütendes Pamphlet mit dem Titel In tiefster Nacht oder Der surrealistische Bluff.168 Darin heißt es bezüglich der surrealistischen Vermischung von Kunst und Politik: [I]st der Surrealismus nicht seit jenem Tage tot, da Breton und seine Adepten glaubten, sich dem Kommunismus anschließen zu müssen, und auf dem Gebiet der Tatsachen und der unmittelbaren Materie das Ergebnis eines Tuns zu suchen, das sich normalerweise nur im inneren Bereich des Hirns abspielen konnte.169 Es bleibt ungewiss, wie überzeugt Artaud von der Wirksamkeit seines Theaters tatsächlich war – auffällig oft charakterisiert er seine Vorhaben als Versuche, immer wieder ist er mit ihrem Scheitern konfrontiert. Sein eigentliches Anliegen jedoch bezeugt jenseits aller Politik eine tiefe Sehnsucht des modernen Menschen. Dessen Hoffnung besteht nach dem Verlust religiöser Heimstatt darin, dass die Kunst ihn mit einem Bereich in Kontakt zu bringen vermag, der für sein Leben höchste Relevanz besitzt, aber eben nicht gemäß der Koordinaten alltäglicher Kosten-Nutzen-

165 166 167 168 169

Finter, Der subjektive Raum Bd. 2, S. 115. TD, S. 113. SzT, S. 256. Vgl. hierzu SzT, S. 147. Vgl. ebd., S. 75.

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Abwägungen, der Kontrollsehnsüchte wissenschaftlicher Transparenzversprechen oder politisch-moralischer Profilisierungsbestrebungen170 organisierbar ist. Artauds Subversion ist keine Revolution, trotz aller aggressiver Polemik, Grausamkeitsmetaphorik und dem Hang zur körperlichen Grenzüberschreitung. Das Ziel seines Vorhabens – dies mag angesichts all dessen erstaunen – ist ein Theater, das »mit dem Werden versöhnt«171 . Dazu gehört, dass eben nicht nur die edlen, hilfreichen und guten Seiten des Menschen affirmiert werden, was Artauds Themenwahl immer wieder bezeugt. Ich folge Sontag darin, dass es für das Artaud’sche Theaterkonzept entscheidend ist, dass »Humanität […] nicht identisch mit Moralität«172 ist. Dazu, dies einzusehen, müssen wir verführt werden, wie im Folgenden gezeigt werden soll: Nur so sind wir imstande, den Abgrund zu schauen, der wir selbst sind.

Der Eros des Nichtverstehens Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich in Artauds Ästhetik eine Erotik des Nichtverstehens verbirgt, deren Kernstück eine Entsprechung der Barthes’schen Jouissance als Genießen des Ungewissen bildet. Damit treibt Artaud den »Heroismus des modernen Lebens«173 auf die Spitze. Denn nicht bloß Mut und Tapferkeit, sondern die eigene Gott- und Ortlosigkeit genüsslich zu kultivieren, das ist die schier übermenschliche Aufgabe, die das Theater der Grausamkeit seinem Publikum stellt. Damit leistet er zudem bereits implizit jene Radikalisierung, die Barthes in Die Lust am Text auf methodischer Ebene vornehmen wird. Über sein ideales Theater schreibt er, dass »die Verärgerung darüber, dass man […] es nicht richtig verstehen kann, […] ein zusätzlicher Reiz« ist.174 Ich lese den ›Reiz‹ als Teil einer Erotik des Nichtverstehens, in die das Theater der Grausamkeit einführt. Diese ist durch die Suspense konstituiert, die sich im Augenblick der wankenden, noch nicht wieder verfestigten Bedeutung ereignet. Den Charakter des Aufschubs teilt Artauds Nichtverstehen mit Barthes’ immer schwebendem, uneindeutigen Begriff der Jouissance, die er als »epoché«175 , also ebenfalls als Aufschub charakterisiert. Erinnern wir uns, dass Erfahrungen der Jouissance für Barthes, der in Die Lust am Text Artaud an einigen Schlüsselstellen erwähnt, Erfahrun-

170 Ich lese Artaud hier im Sinne der Moralkritik, die Nietzsche in seiner Genealogie der Moral entwickelt. 171 TD, S. 141f. Herv. M. R. 172 Sontag, Marat/Sade/Artaud, S. 210. 173 Charles Baudelaire: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, ›Salons‹, Intime Tagebücher. Hg. von Henry Schumann. Leipzig 2 1994, S. 100. Artaud spricht von einer »heroische[n] Haltung«, zu deren Einnahme das Theater der Grausamkeit bewegen soll (TD, S. 34). 174 Ebd., S. 74. 175 LT, S. 95.

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gen des Flackerns von Bedeutung, des »fadings«176 , des Reißens, des Erscheinens und Verschwindens sind: »[D]ie Unterbrechung ist erotisch […]: die Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt […]; das Glänzen selbst verführt, oder besser noch: die Inszenierung eines Auf- und Abblendens.«177 Beim Phänomen des Nichtverstehens handelt es sich um eine solche Unterbrechung im Prozess der Bedeutungsgenese, die durch Unterbrechung des Szenenflusses analog hergestellt wird, und zugleich um einen Riss im Selbstverständlichen. Bei Artaud ist das Motiv des Auf- und Abblendens und die damit verbundene hermeneutisch-epistemische Unsicherheit explizit präsent.178 Momente des Diffusen, Unsicheren und Ungewissen werden von Artaud immer wieder beschrieben, wenn es um die Charakterisierung seines idealen Theaters geht. In diesem oszillieren die Bühnenerscheinungen zwischen Enthüllen und Verhüllen, Manifestation und Entzug, was er anhand des Gemäldes Loth und seine Töchter Lukas van Leydens erläutert, in dem er die Essenz seines Theaters auf bildliche Weise verwirklicht sieht: Im Knistern eines Feuerwerks, durch das nächtliche Bombardement von Sternen, Raketen und Sonnenbomben hindurch enthüllen sich unsren Augen bisweilen, in einem halluzinatorischen Licht und reliefartig aus der Nacht hervortretend, gewisse Einzelheiten der Landschaft: Bäume, Turm, Berge, Häuser.179 Sein Theater soll dann entsprechend mit dem An- und Abschwellen des »Crescendo und Decrescendo«, einem »Pulsieren von Bewegungen« und »unvorhergesehene Lichtwechsel[n]« arbeiten, um die entsprechenden Intensitäten zu erreichen.180 Schließlich verbleibt der körperliche Ausdruck stets im Diffusen und Unberechenbaren, wie bereits gezeigt wurde. Momente der Jouissance ereignen sich vor allem dann, wenn der sprechende Körper in seiner Materialität wahrnehmbar wird, der Signifikant sich zeigt.181 Man muss dazu »in ihrer Sinnlichkeit den Atem, die Rauheit, das Fleisch der Lippen, die ganze Präsenz des menschlichen Maules«182 hörbar machen, wie es im Gesang, im Radio und eben im Theater geschehen kann. An dieser Stelle bezieht Barthes sich im Übrigen direkt auf Artaud und seine Fokussierung des klanglichen Aspekts der Worte: »Wenn man sich eine Ästhetik der Textlust vorstellen könnte, müßte sie das laute Schreiben einschließen. Dieses vo-

176 177 178 179 180 181 182

Ebd., S. 14. Herv. i. O. Ebd., S. 17. Hierzu siehe etwa TD, S. 42-61. Ebd., S. 44, Herv. M. R. Ebd., S. 122. LT, S. 97. Ebd., S. 98.

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kale Schreiben (das keineswegs das Reden ist) wird nicht mehr geübt, aber es ist sicher das, was Artaud empfahl […].«183 Dieses ›laute Schreiben‹, so Barthes weiter, wird nicht von den dramatischen Modulationen, den boshaften Intonationen, den gefälligen Akzenten getragen, sondern von der Rauheit der Stimme, das eine erotische Mischung aus Timbre und Sprache ist und daher […] Material einer Kunst sein kann: der Kunst, seinen Körper zu führen184 . Im Theater Artauds wird der Schauspielerkörper, aber ebenso auch der Zuschauerkörper durch Phänomene wie die Rauheit der Stimme auffällig – bis hin zu der bereits angesprochenen Versuchung, das Tabu des Theaters zu brechen und den Schauspielerkörper mit dem eigenen Körper zu berühren.185 Für Barthes ereignet sich in diesem Auffälligwerden der Materialität des Signifikanten eine Entselbstverständlichung. Das sich hier manifestierende Verhältnis von Individuum und Kultur ist das der Jouissance. In ihr zeigt sich, so meine ich, die spezifisch hermeneutisch-epistemische Qualität ästhetischer Subversion, insofern das Individuum sich hier für einen kurzen Moment aus den Verstrickungen der Unerschütterlichkeits- und Klarheitsbehauptung des Selbstverständlichen löst. Mit Blick auf das Konzept Artauds liegt das kritische Potential des Theaters also in einer körperlich-geistigen genussvollen Konfrontation mit jener Ungewissheit, die der uneinholbaren Vorläufigkeit kultureller Formungen und Selbstverständlichkeiten erwächst. Der Eros des Nichtverstehens verführt die Zuschauenden dazu, sowohl das Gewebe ihrer Kultur als auch ihrer Subjektivität aufs Spiel zu setzen, weil mit dem Selbstverständlichen eben nicht nur Unterdrückung, sondern auch Orientierung, Identifikation, Sicherheit und Handlungsbefähigung preisgegeben wird. Das Motiv der Jouissance lässt sich also bei allen drei Autoren ausfindig machen. Barthes selbst beschreibt die Ästhetiken Brechts und Artauds als Ästhetiken der Lust, wobei er den Begriff der Lust hier wieder zwischen Plaisir und Jouissance mäandern lässt.186 Mit Bezug auf beide Autoren lege ich den Begriff an dieser Stelle im Sinne der Jouissance aus, wenngleich die Tendenz bei Artaud stärker ausgeprägt ist als bei Brecht, der mehr mit Motiven arbeitet, die auch die Erfahrung des Barthes’schen Plaisir als kulturelle Komplizenschaft ermöglichen. Die Dialektik zwischen Plaisir und Jouissance ist im Brecht’schen Konzept also stärker ausgeprägt, 183 184 185 186

Ebd., S. 97. Ebd., Herv. i. O. Vgl. den Abschnitt II.1.3. Vgl. ebd., S. 87 und 97 sowie den Abschnitt II.3.2 der vorliegenden Untersuchung. Brechts ideales Theater verführt »in sinnlicher Weise und heiter« (GBA 23, S. 96) zur Infragestellung des Selbstverständlichen, was bei Barthes offenbar tiefen Eindruck hinterlassen hat: »Ich bin zu sehr Brechtianer, um nicht an die Notwendigkeit zu glauben, Kritik und Lust nebeneinander bestehen zu lassen.« (KdS, S. 194.)

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

Artauds Konzept zielt, so meine Auslegung, mehr auf die erotische Erfahrung der Jouissance. Barthes schreibt: »Weder die Kultur noch ihre Zerstörung sind erotisch; erst die Kluft zwischen beiden wird es.«187 Der Körper wird bei Artaud zum Ort, an dem sich diese Klüftung ereignet. Die Gefahren dieser Auseinandersetzung, der Kultivierung einer gewissen Lust an der Kulturzerstörung, dürfen indes nicht diminuiert werden, wie im Laufe der Artaud-Rezeption durchaus geschehen. Niemand kann vorhersehen, ob eine solche Lust im Sinne der Jouissance im fröhlichen situationistischen Spiel oder der Befreiung von struktureller Gewalt endet – oder in der Schule der Libertinage de Sades.188 Ich folge hierbei Baker189 darin, dass, anders als es vielleicht Derridas Artaud-Lektüre nahelegt, Artaud nicht auf eine lustvolle Zerstörung des Individuums im Sinne des Nietzscheanischen Dionysos-Prinzips abzielt. Ich lese ihn vielmehr im Rahmen des Barthes’schen Jouissance-Begriffs als Hasardeur. In Artauds Theater ist der moderne Heros zugleich als Pharmakologe gefordert, der die Dinge genussvoll ins Wanken zu bringen vermag und zugleich dem Risiko ins Auge sieht, sich schuldig zu machen. Der Blick auf sein Konzept erlaubt es schließlich, auch den Begriff der Jouissance einer Schärfung zu unterziehen, die bei Barthes unterblieben ist: Die Jouissance, die das Artaud’sche Theater vermittelt, besitzt eine epistemische Qualität auf mehreren Ebenen, sie besteht bei aller Infizierungsrhetorik nicht im bloß passiven Konsum sinnlicher Eindrücke. Dies basiert auf systematischer Ebene nicht zuletzt darauf, dass Artaud dem Körper, mit Nietzsche, hermeneutisch-epistemische Fähigkeiten zuerkennt. Zur Erotik des Nichtverstehens gehört nämlich nicht nur Lust an der Zerstörung, sondern auch am Bedeutungschaffen. Wenn Barthes, wie bereits erwähnt, von der erotischen Kluft zwischen Kultur und Zerstörung spricht, dann gehört zu dieser auch eine Verführung zum Verstehen, durch den beständigen Wechsel aus Verheißung und Entzug in der Aufführung. So lassen sich denn auch zweierlei menschliche Begehren in den Texten Artauds identifizieren, die das Theater der Grausamkeit aufnimmt: Ein Begehren des Verstehens und ein Begehren des Nichtverstehens. Der gestikulierende und tönende Schauspieler verkörpert die »Notwendigkeit«190 des Wortes, wie in Abschnitt II.4.4 gezeigt wurde. Das Wort ist noch entzogen, das Publikum fühlt es allenfalls als Verheißung, die jedoch nicht gestillt werden wird. Daneben nimmt Artaud das gegen187 LT, S. 13. 188 Vgl. etwa die situationistische Theorie, auf die Artaud gewiss großen Einfluss ausgeübt hat. So schreibt etwa Raoul Vaneigem, durchaus auch mit vitalistischem Zug: »Die Leidenschaft der Kreation, die Leidenschaft der Liebe und die Leidenschaft des Spiels sind für das Leben das, was das Bedürfnis, sich zu ernähren und zu schützen, für das Überleben ist« (ders., Handbuch der Lebenskunst, S. 288). 189 Baker, Nietzsche, Artaud and tragic politics, S. 15ff. 190 TD, S. 143.

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läufige Begehren des Undurchsichtigen auf, das er als überzeitliches menschliches Begehren ausmacht: Das Publikum verlangt nämlich »wie eh und je«191 nach dem Geheimnis. Dieses Begehren bildet die Basis dafür, dass das Publikum überhaupt ansprechbar ist für eine Erotik des Nichtverstehens. Artaud schreibt nämlich, die Menge, die das Geheimnis begehre, begehre zugleich, es zu »erraten«, und das auch nur »vielleicht«.192 Das bedeutet dann aber tatsächlich, dass das Begehren des Geheimnisses nicht das Begehren nach unverbrüchlicher Transparenz im Sinne des neuzeitlichen Wissenschaftsparadigmas ist. Stattdessen spürt Artaud hier einem tiefen epistemologischen Begehren nach, nämlich nach alternativen Erkenntnisformen, mit denen ein Zugang zum ganzen Reichtum menschlicher Welterfahrung erlangt werden kann. Die Einschränkung auf bestimmte Formen der Erkenntnis geht, so lässt sich aus Artauds Konzept folgern, mit einer Einschränkung der Fülle dieser Erfahrung einher – da der Begriff eben nicht nur das ihm Gemäße auszudrücken vermag. In dieser Perspektive kulminiert auch für Artaud, wie für Barthes und Brecht, alles in der Frage der Methodologie, im Sinne des post-alethischen Denkens die Frage des Wie, nicht so sehr des Was. Mit den sich widersprechenden Begehren alternativer Formen epistemischer Ansprache einerseits sowie dem Begehren nach begrifflicher Repräsentation im Sinne einer Klarheits- und Sicherheitsverheißung andererseits artikuliert Artaud hier somit den tiefen, epistemologischen Konflikt im Selbstverständnis der Moderne. Das Ziel seines Theaters ist, so Artaud, eine Rückführung zum Ergreifen und Ausüben des Lebens, in diesem Sinne: zur Lebenskunst.193 Im Lichte der theatralen Praxis der tätigen Metaphysik, erscheint Artauds Lebensbegriff als spannungsvolle Verschränkung von Widerfahrnis und Gestaltung. Das Widerfahrnis einerseits zu bemerken und auszuhalten, die Gestaltung andererseits zu ergreifen, ohne das Gestaltete selbst zu fixieren, wären dann die Herausforderungen, vor die Artauds Theater seine Zuschauer stellt – eine Artaud’sche Tugend, wenn man so will. In der Erfahrung der Jouissance offenbart sich dem Publikum die Potentialität des Kulturellen als Möglichkeit zur Gestaltung. Die Herausforderung, die anzunehmen sich mit dem Konzept Artauds verbindet, besteht darin, sich weder durch die vordergründige Humanität der Moralisierung noch durch die nihilistische Inhumanität exzessiver Überschreitung Erleichterung zu verschaffen. Zuletzt ist auch Artaud der Gestus der Demaskierung nicht fremd: Sein Theater will die Zuschauer dazu auffordern, »sich zu sehen, so wie sie sind, [es] lässt […] die Maske fallen, deckt […] die Lügen, die Schwäche, die Niedrigkeit, die Heuchelei auf«194 . Das Theater der Grausamkeit lässt diese nichtverstehbaren menschlichen

191 192 193 194

Ebd., S. 98. Herv. M. R. Ebd. Vgl. hierzu auch Meyer, »Encore – en corps – a corps«, S. 23f. TD, S. 34.

II.4 Metaphysik via Haut: Antonin Artaud

Anteile schauen, ohne sie moralistisch abzustrafen, zu leugnen oder zu pathologisieren.

II.4.6

Zusammenfassung

Artauds Theater des Nichtverstehens fokussiert auf die subversive Erfahrung der Theatralität der Signifikanz, die singuläre sinnliche Erfahrung. Im Rahmen des figurativen Ansatzes der vorliegenden Arbeit korrespondiert ihm die philosophische Methodologie des späten Barthes. Über die ästhetische Umsetzung mithilfe von Körpertechniken, Requisiten und musikalischen Phänomenen hinaus handelt es sich bei den von Artaud ausgewählten Inszenierungsthemen um Phänomene des nicht verstehensmäßig Handhabbaren, weder Psychologie noch Moral haben hier ihren Platz. Artauds Theater, obgleich oft als Formzertrümmerung beschrieben, unterhält ein ambivalentes Verhältnis zur Form in Gestalt der Konventionalität des moralischen Empfindens, des Denkens und der Wahrnehmung. Lyotard hat Artaud genau dies als mangelnde Radikalität und Konsequenz ausgelegt, als Verfallenheit an das Signifikat im Sinne einer Herstellung von Stringenz.195 Ich bin im Gegensatz dazu mit Barthes davon ausgegangen, dass sich in der Ambivalenz des Artaud’schen Theaters, die als Aufnehmen und Verwerfen bestehender Formen beschrieben werden kann, eine auf Beobachtung beruhende, kulturphilosophische Einsicht in die Unausweichlichkeit des eigenen Weltschaffens bekundet. Aus dieser Einsicht folgt das Konzept einer pharmakologischen Kultivierung von Ambivalenztoleranz. Diese ist eben nicht gleichzusetzen mit einseitigen Zersplitterungspraktiken – der Körper wird von Artaud als eine epistemische und insofern immer auch auf seine Weise konstatierende und eingrenzende Größe aufgefasst.196 Mit Artauds Forderung eines metaphysischen Theaters zeichnet sich die Tendenz einer Resakralisierung ab. Insofern bewegt er sich zunächst weg vom Autono195 Lyotard, Essays zu einer affirmativen Ästhetik, S. 16ff. 196 Dahingehend lege ich bei meiner Artaud-Interpretation einen anderen Akzent, als es etwa Denker getan haben, die der Postmoderne zugerechnet werden und auf die Artauds Motive großen Einfluss ausgeübt haben. Prominent ist hier das Motiv des organlosen Körpers, das Artaud in seinem späten Radiostück auftauchen lässt. Dieses wurde von Lyotard und schließlich Deleuze und Guattari aufgenommen. Vgl. Lyotard ebd. sowie Gilles Deleuze und Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übers. von Bernd Schwibs. Frankfurt a. M. 14 2014, S. 14ff. sowie S. 421f. Ich bringe diese Idee aber vor allem mit den späten Schriften Artauds in Verbindung und schlage eine systematische Differenzierung innerhalb des Artaud’schen Schaffens vor: Da Das Theater und sein Double auf derart prägnante Weise die Ambivalenz des Semiologischen betont, wäre es verkürzt, Artaud nur im Sinne postmoderner, machttheoretischer Zersetzung zu lesen und ihn an damit verbundenen Ansprüchen – besonders der sogenannten »Schizoanalyse« – zu messen.

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miegedanken der Kunst. Gleichwohl entzieht seine Ästhetik des Nichtverstehens, insofern sie den Charakter einer Hermetik besitzt, das Theater der vorschnellen Indienstnahme für konkrete religiöse, moralische wie gesellschaftspolitische Vermittlungsansprüche und Übersetzungsleistungen. Er affirmiert vielmehr die Ungewissheit des Versuchs und das Risiko des Scheiterns. Das nachmythische Mythentheater Artauds nimmt den Menschen, der nicht mehr auf metaphysischen Freispruch hoffen kann, auf ganzheitliche Weise in den Blick. Zu dieser Ganzheitlichkeit gehört jedoch die je eigene Unverständlichkeit des Menschen selbst: Mit der Distanzierung von der begrifflichen Repräsentation, auf der das neuzeitliche Vernunft- und Wissenschaftsparadigma fußt, wird auch der Mythos der hermeneutischen Transparentmachung des Menschen subvertiert. Diese zeigt sich nun gerade nicht mehr als Transparentmachung, sondern als Begrenzung des Menschen auf seine leicht erklärbaren Anteile und insofern als Akt der Verdeckung. Indem die Kultur des Verstehens, die Artauds Kulturkritik diagnostiziert und angreift, der Vermutung erliegt, sämtliche Zustände des Menschen könnten durch (psychologische) Wissenschaft oder Moral begrifflich erschlossen und somit befriedet werden, wandelt sie sich zum Terrorismus. Der Antrieb dieser Vivisektion ist – hier treffen sich Artaud und Barthes197 – die alte Furcht vor dem Nichtverstehen, die alte Sehnsucht danach, das Leben endlich anzuhalten, zu verewigen, zu verstehen. In Artauds Konzeption artikuliert sich die leidenschaftliche Verteidigung eines Bereichs des Menschlichen, dem die Repräsentation des Begriffs zwar nicht adäquat ist, der aber trotzdem nicht einfach als dumpfe, blinde Affektivität, Tierhaftigkeit oder Ähnliches diskreditiert werden kann. Die Sehnsucht nach dem Nichtverstehen, nach dem, was nicht hermeneutisch-epistemisch bewältigt werden kann, wird hier auf den Menschen selbst gemünzt. Artauds Konzept lässt die Möglichkeit erahnen, die Nichtverstehbarkeit des Menschen als dessen spezifische Dignität zu imaginieren.

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Im Rahmen seiner mythologischen Analyse zum Gehirn Albert Einsteins, das dieser der Forschung vermacht hat, schreibt Barthes: »Das Denken selbst wird so als eine energetische Materie das meßbare Produkt eines komplexen […] Apparates, der Gehirnsubstanz in Kraft verwandelt. […] Er brachte ohne Unterlaß Denken hervor wie die Mühle Mehl […]. Die historische Gleichung E = mc2 erfüllt durch ihre unerwartete Einfachheit fast die reine Idee des Schlüssels, nackt, handlich, aus einem einzigen Metall, mit einer ganz und gar magischen Leichtigkeit eine Tür öffnend, an der man sich seit Jahrhunderten stieß.« (MdA, S. 25.)

III Zum Schluss

Zerzauster Heroismus: Ausblick auf eine Philosophie der schmutzigen Hände

Das Theater des Nichtverstehens stellt eine Praxis säkularer Hermetik dar, deren Subversion darin besteht, die Verabschiedung des Wahrheitsbegriffs zu vollenden und ihre Konsequenzen zu vermitteln: als Affirmation des Ungewissen. Als eine solche Praxis zielt es auf die Ermöglichung eines Einblicks nicht etwa in den Raum des Metaphysischen, sondern in den Raum des ganz und gar Menschlichen: Die Beschaffenheit von Kultur als spannungsvolles Weltverhältnis zwischen Erleiden und Erschaffen sowie zwischen Immanenz und Transzendenz. Das Theater des Nichtverstehens ist indes von einer Aporie gekennzeichnet, die auf die eigentümliche Hermetik des Kulturellen selbst zurückzuführen ist und die nach sich zieht, dass selbst die Subvertierung von Bedeutung nicht bedeutungsfrei zu haben ist. Wie alle kritischen Verfahren ist auch das Theater des Nichtverstehens auf Vorverständnisse angewiesen und zudem in der Auswahl des Objekts der Subversion perspektivisch gebunden. Die Betrachtung der Theaterkonzepte Brechts und Artauds und ihrer Resonanz mit der philosophischen Entwicklung Barthes’ erzwingt von hier aus eine Revision der Ansprüche und Darstellungsmodi philosophischer Kulturkritik und ästhetischer Subversionsvorhaben. Im Dialog mit den philosophischen Konsequenzen und Aporien der Theaterentwürfe Brechts und Artauds wird Barthes zu einer Figur der Selbstaufklärung philosophischer Kulturkritik im 20. Jahrhundert, mündet doch bei ihm die Philosophie selbst in ein Theater des Nichtverstehens. Aus den Herausforderungen dieses Theaters lassen sich dann weitergehend alternative Strategien zum denunzierenden Gestus der Ideologiekritik ableiten. Dazu gehört die Vorstellung einer aufgeklärten Positivität, die das Bewusstsein ihrer perspektivischen Gebundenheit in ihre Themen und Darstellungsformen einbezieht. Statt auf ideologiekritische Distanzierung, deren Voraussetzung die Möglichkeit der Beurteilung von einem archimedischen Punkt aus ist, setzen die Autoren auf die Involvierung in der ästhetischen Erfahrung und verschmelzen durch sie Kritik mit subversiver Aktion. Getragen ist diese konzeptuelle Verschiebung von der Einsicht in die Unmöglichkeit der Neutralität, die der klassische Wahrheitsbegriff der Kritik noch in Aussicht gestellt hatte. Hier inspiriert das Theater Brechts und Artauds die Philosophie Barthes’ zu

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verstärkter Radikalität. Für das Theater des Nichtverstehens ist der Verlust eines archimedischen Punktes der Kritik zum einen ein Quellpunkt. Zum anderen bedeutet er, dass es selbst keine universelle Vermittelbarkeit mehr beanspruchen kann, ist es doch, als anamorphotisches Verfahren, nur aus einer bestimmten Perspektive rezipierbar. Obwohl die Emphase Brechts und Artauds eine solche Bescheidenheit oft vermissen lässt, entsprechen die Konzepte bei eingehender Analyse ihrer ästhetischen Konfiguration einem Eingeständnis in diese Ungewissheit ihrer Wirkung: Im Theater des Nichtverstehens wird nicht zufällig der Zuschauer selbst zum Medium einer spezifischen Erotik. Es geht um die Kunst, sich zu führen; nicht um Agitation der Massen.1 Das Theater des Nichtverstehens vermittelt zudem ein Wissen um die ästhetische Verfasstheit des Kulturellen. Kultur – dies ist eine philosophische Konsequenz aus der Betrachtung der Konzepte – ist eben nicht bloß ein intelligibles System, sondern auch ein ästhetisches. Zu ihren Manifestationen gehören materielle Objekte, aber auch Träume, Intuitionen, Reflexe, Resonanzen und Haltungen. Sie ist immer auch Prägung im Ästhetischen und erzeugt als solche Verbindlichkeiten, die sich bei aller Arbitrarität dem konstruierenden Zugriff zu entziehen vermögen.2 Das Ästhetische der Kultur fundiert daher ihren ambigen, pharmakonhaften Charakter, weil es stets einen Rest enthält, der niemals in begriffliches Verstehen aufgelöst werden kann. So ist es zugleich offen für Rezeptionen und Zugriffe aller Art sowie ihr Scheitern und Gelingen. Von dieser Ungewissheit und Risikohaftigkeit sind also auch die Wirkungen des Theaters des Nichtverstehens selbst betroffen. Von der Ästhetizität des Theaters her gerät also die Vorstellung künstlerischer Vermittlung unter Druck. Dies betrifft die Annahme einer allzeit übersetzbaren, verlässlichen und störungsfreien ästhetischen Bezugnahme auf Bedeutungssysteme und damit eben auch die Wirkung des vermeintlich selbstverständlich Kritischen im Sinne des Barthes’schen Mythos des Versus. Dieses Problem teilt das Theater mit der philosophischen Ideologiekritik. Als Konsequenz bringt Barthes in seinen ästhetischen Schriften – besonders den Essays der Siebzigerjahre – sein eigenes Theater des Nichtverstehens zur Aufführung. Sicherlich ist dabei der Analyse Eagletons zuzustimmen, insofern er, ebenso wie Michael Hirsch, die Verlagerung philosophischer Ideologiekritik hin zur Ästhetik mit der Krise herkömmlicher politischer Formen in Verbindung bringt: »Solche Diskurse haben Teil an einem privilegierten, privatisierten Hedonismus, der nicht zufällig in genau dem historischen Augenblick

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»Es ist eine Arbeit mit esoterischen Aspekten, die absolut nicht darauf abzielt, das zu erreichen, was man die Masse oder die Massen nennt. Dessen muß man sich bewußt sein […].« (KdS, S. 172. Herv. i. O.) Vgl. hierzu auch Mersch, Posthermeneutik, S. 312f.

Ausblick auf eine Philosophie der schmutzigen Hände

auftrat, an dem bestimmte weniger exotische Formen der Politik Rückschläge erlitten.«3 Hinter Eagletons Vorwurf des hedonistischen Elitarismus verbirgt sich allerdings der alte Vorwurf des L’art pour l’art, der ursprünglich ja der Ausgangspunkt der Theaterkritik Brechts und Artauds war. Da Barthes von beiden Autoren beeinflusst ist, ist es daher nötig, den Einsatz des Theaters des Nichtverstehens hier nochmals abzugrenzen. Ich kann Eagletons Einschätzung, es handele sich bei der beschriebenen Verlagerung der Ideologiekritik erstens um einen Rückzug und zweitens um einen eindeutigen Hedonismus, nicht ganz zustimmen. Zunächst nämlich sind hermetische Räume wie das Theater des Nichtverstehens bei aller berechtigten Kritik am Elitarismus immer auch Refugien der Dissidenz,4 deren Bewertung je nach Standpunkt variiert. Mein zweiter und, wie ich denke, gewichtigerer Einwand jedoch betrifft die Unterscheidung der Formen: Was Eagleton als Rückzug ins Private charakterisiert, interpretiere ich als Folge einer notwendigen Einsicht in die begrenzte Leistungsfähigkeit der Ideologiekritik, existiert doch in post-alethischen Zeiten zum Begriff der Ideologie schlicht kein Gegenbegriff mehr. Was die Schriften Barthes’ zudem zeigen, ist die Spezifik des Ästhetischen, das sich eben nicht willkürlich politisch aufladen und instrumentalisieren lässt, dem ein letzter Rest Unsicherheit immer inhärent bleibt. An diesem Punkt aber darf dann nicht nur die Abkehr der Philosophie vom politischen Anspruch problematisiert werden. Auch die derzeit wieder verstärkte Hinwendung der Kunst zum politischen Anspruch stellt ein analoges Problem dar, denn auch sie gründet in einer Skepsis gegenüber herkömmlichen Formen politischer Gestaltung und bleibt zumeist konsequenzlos.5 Grundlage ist auch hier wieder das Selbstverständliche, und zwar in Gestalt der unhinterfragten Annahme einer interventiven Wirkung von Kunst. So droht der Konsum vermeintlich subversiver Kunst, der mit keinerlei politischen Konsequenzen und Risiken verbunden ist, selbst zum hedonistischen Pseudoaktionismus zu verkommen. Die Lösung kann allerdings nicht sein, wieder wie Brecht und Artaud zu inszenieren. Mithilfe der Verschränkung Barthes’, Brechts und Artauds, ihren Ansprüchen, Strategien und den Aporien ihres Denkens lässt sich eine Auflösung dieser Problematik figurieren, die Philosophie und Kunst gleichermaßen betrifft: Trotz seines Auflösungsgestus erwächst aus dem Theater des Nichtverstehens aller drei Autoren der Imperativ, die Formen zu unterscheiden. Erst wenn der Kompensati-

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Eagleton, Ästhetik, S. 8. Außerdem Hirsch: Logik der Unterscheidung. Zehn Thesen zu Kunst und Politik. Hamburg 2015. Vgl. Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, S. 75f. Zu dieser Diagnose vgl. Hirsch Logik der Unterscheidung. Außerdem Düttmann, Die teilnahmslose Kunst.

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onsgedanke aufgegeben wird, hat jede Form wieder die Chance, ihre spezifischen Wirkungen zu entfalten. Ich möchte daher, ausgehend von meiner Analyse des Theaters des Nichtverstehens, das Verhältnis von Kunst und Politik abschließend wie folgt aufstellen: Indem es die Ungewissheit, Begrenztheit und Abhängigkeit kultureller Formungen – einschließlich seiner selbst – zum Prinzip macht, gibt das Theater des Nichtverstehens den politischen Raum überhaupt erst frei für die tatsächliche Aktion. Es tilgt die Legitimität, sich im Theater oder der philosophischen Kontemplation zu verschanzen.6 Für die Kunst heißt das nun tatsächlich,7 dass sie nur auf der Ebene des Kulturellen im Sinne des Selbstverständlichen und der Bedeutungsgabe subversiv wirken kann, nicht auf der Ebene der institutionalisierten Politik. Schon bei Barthes findet sich eine solche Intuition, wenn er vom »[I]ndirekten«8 als dem Wirkungsfeld des Ästhetischen spricht. Aus den Gedanken Brechts und Artauds erwachsen demnach Konsequenzen für die Forderungen und Selbstansprüche, die Kunst heute stellen kann. Zugleich verraten Subversionsstrategien etwas über die Beschaffenheit des zu subvertierenden Systems. In unserem Fall heißt das, nach den Paradigmen und Sehnsüchten zu fragen, die die Behauptung und Hoffnung interventiver Potentiale von Kunst konstituieren. Die Aufladung des Ästhetischen mit interventiven Ansprüchen deutet auf ein Relevanzproblem unter den Paradigmen von Rationalität und Mathematisierbarkeit hin. Hinter diesen verbirgt sich, so wurde gezeigt, eine vormoderne Wahrheitsvorstellung. Dem drohenden Relevanzverlust wirkt die Vorstellung einer politisch-moralisch nutzbringenden Kunst entgegen. Damit aber wird die Kunst, als Expertin für ästhetische Praxis, in die Koordinaten eines essentialistisch fundierten Kausalitätsdenkens eingepasst. Auch der derzeit zu beobachtende Trend zur Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft gründet womöglich auf einer Prekarisierung ästhetischer Formen durch die genannten Paradigmen. Zugleich kann die momentane grundsätzliche Verbündungslust der Kunst als Ausdruck eines konstruktivistischen Verfügbarkeitsdenkens interpretiert werden, das sich zur essentialistisch fundierten Tendenz hinzugesellt, nicht zuletzt inspiriert durch Implikationen von Denkern der Dynamisierung wie etwa Barthes’, Brecht und Artaud. Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass ästhetische Verfahren über eine eigene epistemische Potenz verfügen, die ihre spezifische Subversivität begründet. Dennoch lassen sie das Verwertbarkeits- und Sicherungsbedürfnis so-

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Bereits Brecht formuliert eine entsprechende Forderung an seine Schauspieler: Die Wahl eines »Standpunktes« gehört zur Schauspielkunst dazu, aber dieser Standpunkt »muß außerhalb des Theaters gewählt werden« (GBA 23, S. 87). Vgl. hierzu das Kapitel I.3. ÜM, S. 123. Herv. i. O.

Ausblick auf eine Philosophie der schmutzigen Hände

wohl von Politisierung und Moralisierung als auch von Verwissenschaftlichung ins Leere laufen. Zudem scheinen derzeit kulturelle Tendenzen zum Essentialismus und zum Konstruktivismus sehr stark auseinanderzudriften. Die Probleme, mit denen sich Barthes, Brecht und Artaud konfrontiert sahen, sind demnach nicht behoben, sondern haben sich allenfalls verschärft. Vor dem Hintergrund insbesondere radikalkonstruktivistischer Entwertungstendenzen gewinnt ihr Einsatz jedoch neue Kontur: Auf der Folie der bedeutungstheoretischen Implikationen der Konzepte aller drei Autoren nämlich zeichnet sich in der Gegenwart, so denke ich, ein Mythos des Zeichens ab, zu dem seine Zerstörbarkeit gehört.9 Der Sturz des Zeichens hat in einem bestimmten historischen Moment als eine Hoffnung existiert. Nimmt man die kulturphilosophischen Lehren der drei Autoren jedoch ernst, so muss die gegenwärtige Situation anders charakterisiert werden. Dass es scheint, als hätte sich der Sturz des Zeichens inzwischen tatsächlich realisiert, kann nämlich zuletzt zweierlei bedeuten: Zunächst könnte eine solche Zeitdiagnose schlicht auf die privilegierte Position des Diagnostikers hinweisen, denn wer die Zeichen kennt, bemerkt ihre Existenz nicht, er macht die immersive Erfahrung des Selbstverständlichen. Darüber hinaus kann der Anschein des gefallenen Zeichens als Hinweis auf wachsende kulturelle Homogenität und Totalisierung eines bestimmten – dynamisierten – Lebensentwurfs interpretiert werden.10 Die hier untersuchten Autoren sind durchaus in der Tradition eines Denkens der Dynamisierung verortbar, welches zur Rechtfertigung einer totalen, wesentlich kapitalistisch geprägten Flexibilisierung herangezogen werden kann. Hier zeigt sich die Pharmakonhaftigkeit des Theaters des Nichtverstehens selbst. Es gehört allerdings zu seinen wesentlichen Pointen, dass es sich eben jener Wohlstands- und Fortschrittsversprechen enthält, die mit der Aufforderung zu maximaler Flexibilisierung oftmals verbunden werden. Diese wiederum sind Versuche, Dinge unter den Vorzeichen der Dynamik berechenbar zu halten und Diskussionen mit Verweis auf die ohnehin nicht zu verstehenden Umstände zu unterbinden.

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Es muss gesagt werden, dass Barthes selbst gelegentlich zu diesem Mythos beigetragen hat, wenn er etwa schreibt: »Möge das Zeichen fallen, wie eine schlechte Haut.« (RdS, S. 251f.) Hier fällt er, so denke ich, hinter seine eigenen Erkenntnisse zurück. Gleichwohl behält sein Werk in diesem Punkt einige Ambivalenz, existieren doch auch Äußerungen wie diese bereits zitierte: »Der Mensch ist dazu verurteilt, etwas zu bedeuten.« (SzT, S. 262.) Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass wir das Selbstverständliche nicht loswerden, da es elementarer Bestandteil unseres Weltschaffens und Grundlage unserer Orientierung ist. Diese Interpretation widerspricht dem postmodernen Narrativ von der Dispersion der Perspektiven und bedarf weiterführender Auseinandersetzungen, die im Umfang dieser Arbeit allerdings nicht geleistet werden können. Es geht mir hier lediglich darum, die Potentiale der Autoren für künftige Auseinandersetzungen und Zeitdiagnosen »gegen den Strich« anzuzeigen.

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Kultur in Stücken

Beim Theater des Nichtverstehens handelt es sich zudem immer auch um ein Theater des Verstehens, um eine Einsicht nicht nur in die Dynamik, sondern auch in die Statik kulturellen Schaffens. Als Praxis langsamen Erwachens in postrestitutiven Zeiten zieht es weder nur die Bilanz dessen, was nicht mehr möglich ist, noch begnügt es sich mit der Aussage, dass nun alles möglich ist, sondern es verweist auch auf die Frage, was man sich eigentlich zumuten will. Diese Evaluation ist angesichts des pharmakonhaften Charakters der Kultur wie auch der Unmöglichkeit eines archimedischen Punktes nur dialogisch und immer von Neuem zu leisten. Barthes, Brecht und Artaud entziehen sich also der Gegenüberstellung von Statik und Dynamik, von Essentialismus und Konstruktivismus und widersetzen sich den kulturellen Konsequenzen einer solchen Dichotomie: Explizit gegen die reaktionäre Flucht in die essentialistische Stagnation soll das Theater des Nichtverstehens als Dynamisierungsstrategie wirken. Vergegenwärtigen wir uns exemplarisch nochmals das Ziel des Brecht’schen Theaters: Das bedeutet den Bruch mit unserer Gewohnheit, die verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen vergangener Zeitalter ihrer Verschiedenheiten zu entkleiden, so daß sie alle mehr oder weniger wie das unsere aussehen, welches durch diese Operation etwas immer schon Vorhandenes, also schlechthin Ewiges bekommt. Wir aber wollen ihre Unterschiedlichkeit belassen und ihre Vergänglichkeit im Auge halten, so daß auch das unsere als vergänglich eingesehen werden kann.11 Implizit behaupten die Modi dieser Dynamisierung aber auch eine Inkommensurabilität der ästhetischen Erfahrung gegenüber einem übersteigerten konstruktivistischen Verfügbarkeitsphantasma, was hier exemplarisch Artaud verrät: Der tätige Körper hat keine Zeit zum Denken und um sich, wie man sagt, Gedanken zu machen. Die Gedanken sind bloß die Leere des Körpers. Interferenzen der Abwesenheit und des Mangels zwischen zwei Bewegungen strotzender Wirklichkeit, die der Körper durch seine alleinige Anwesenheit unablässig diktiert hat.12 Essentialistische Strategien reaktivieren die Statik des universalistischen Wahrheitsbegriffs in Gestalt des naturwissenschaftlichen Positivismus‹ oder des Selbstverständlichen des bürgerlichen Wertekanons. Konstruktivistische Strategien hingegen verwerfen den Gedanken der Verbindlichkeit in Gestalt postmoderner Dynamisierungsemphase und ökonomistischer Suggestion universeller Flexibilität und

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GBA 23, S. 678. BR, S. 127.

Ausblick auf eine Philosophie der schmutzigen Hände

Austauschbarkeit.13 Auf der Folie des Theaters des Nichtverstehens erscheinen, bezogen auf die Herausforderungen der Moderne, beide als Entledigungsstrategien. Speziell bezogen auf die Einordnung des Relativierungsgestus‹ konstruktivistischer Strömungen ergeben sich aus den Implikationen des Theaters des Nichtverstehens darüber hinaus einige wichtige Pointen. Zunächst ist dieser Gestus als Ergebnis einer Rezeption der philosophischen Aufarbeitung des faschistischen Essentialismus zu bestimmen. Wie einleitend beschrieben, erfolgte diese Aufarbeitung besonders in Gestalt der Philosophien der Negativität, wie sie die Dialektik der Aufklärung und die Mythologies entwerfen. Der relativierende Gestus der Entlarvung erschien einer traumatisierten Philosophie als einzig verbleibende Existenzberechtigung. Mit dem Theater des Nichtverstehens allerdings lässt sich ein philosophisches Panorama entwerfen, vor dem im Lichte unserer Gegenwart die Fallstricke der philosophischen Vergangenheitsbewältigung sichtbar werden: Das vormals hilfreiche, wenn auch aus post-alethischer Perspektive inkonsistente Distanzierungsnarrativ verkommt schnell zur Ausweichbewegung, zur Strategie der Unangreifbarkeit, kurz: zum Versuch, sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Der besondere Einsatz des Theaters des Nichtverstehens ist die Konfrontation mit dem, was ich das Pharmakon der Kultur genannt habe. Die Möglichkeit der Enthaltung existiert nicht, sie dient allenfalls als Legitimationsnarrativ. Wohin die Positionen, die wir einnehmen, und die Formungen, die wir vornehmen, führen, bleibt ungewiss. Strategien der Kritik und der Subversion sind keine Humanitätsgaranten: Ist nicht auch die Idee der universellen Menschenwürde ein Essentialismus, der subvertiert werden kann und wird? Kultur ist ein Risiko. Daran erinnert uns das Theater des Nichtverstehens. Was als Strategie der Humanität gedacht war, führt möglicherweise einmal dazu, dass eben diese Humanität zu Fall kommt. Wir sind zur Formung verdammt – es kommt jetzt nur noch darauf an, mit welchem Selbstverständnis wir sie vollziehen. Dem Theater des Nichtverstehens geht es demgemäß nicht um Absolution, sondern um den ungeheuren Anspruch, das Ungewisse, Unverständliche, Dunkle, Risikohafte des Menschlichen, das sich in seinen Hervorbringungen manifestiert, für sein Publikum einsehbar zu machen und diese Einsicht in produktive Affirmation zu überführen. Die Affirmation des pharmakonhaften Charakters kultureller Formung meint hier allerdings nicht blinde Entfesselung oder fatalistisches »Anything goes« – denken wir daran, dass das Theater der Grausamkeit ein unblutiges Theater ist –, sondern erst einmal den mutigen Blick auf seine schiere Existenz.

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Auch die Entwicklung der Kunstauffassung spiegelt dies: Dem Gedanken des L’art pour l’art korrespondiert eine essentialistische Kunstauffassung. Der Überführung der Kunst aus dem Raum des Sakralen in den Raum des Politischen und Wissenschaftlichen korrespondiert eine konstruktivistische Verfügbarkeitslogik.

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Die Hellsichtigkeit Brechts und Artauds setzt die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs etablierten ideologiekritischen Entledigungsphantasmen unter Druck. Barthes wird in Die Lust am Text schließlich deutlich machen, was diese für die Philosophie letztlich bedeuten: »Manche wollen einen Text (eine Kunst, eine Malerei) ohne Schatten, der getrennt ist von der ›herrschenden Ideologie‹; aber das wäre ein Text ohne Fruchtbarkeit, ohne Produktivität, ein steriler Text […].«14 Auf der Folie der historischen Entwicklung der Philosophie im 20. und 21. Jahrhundert lässt sich aus dem Theater des Nichtverstehens die Forderung nach der Rückkehr zu Formen des Dialogischen ableiten. Damit verbunden ist aber die endgültige Verabschiedung von Fantasien der Reinwaschung, der vollkommenen Transparenz und Kontrollierbarkeit, braucht doch besonders der Dialog Momente des Unreinen, des Nichtverstehens. Die Anamorphose dieses Theaters, dieser Philosophie offenbart den Heros der Moderne fernab göttlicher Essenz oder konstruktiver Omnipotenz als zerzaustes Wesen, als Anti-Held, versehrt und versehrend. Als Exerzitium dieses zerzausten Heroismus verführt es zum Blick auf die schmutzigen Hände des Menschen und erweist sich gerade darin als Statthalterin einer anderen Humanität.

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LT, S. 49.

Bibliographie

Verzeichnis der Siglen1 Schriften Roland Barthes’ BOC     Œuvres complètes . ESS     Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. HK     Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie . KdS     Die Körnung der Stimme. Interviews 1962 – 1980. LT     Die Lust am Text. Übersetzt von Traugott König. LTb     Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Ottmar Ette. MdA     Mythen des Alltags. Übersetzt von Helmut Scheffel. MdAb    Mythen des Alltags. Übersetzt von Horst Brühmann. NdL     Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit. RdS     Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV . SF     Schreibweise/Figur. SzT     Schriften zum Theater. ÜM     Über mich selbst.

Schriften Bertolt Brechts GBA     Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe .

Schriften Antonin Artauds AOC     BR     Cen     CI    

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Œuvres Complètes . Briefe aus Rodez. Postsurrealistische Schriften . Die Cenci. Briefe, Materialien . Cahier d’Ivry .

Bei dieser Zitationsweise gebe ich nur die Sigle und die Seitenzahl an, bspw. HK, S. 100 oder LTa, S. 100. Bei mehrbändigen Werken ist außerdem die Bandnummer angegeben und durch Komma von der Seitenzahl getrennt: BOC III, S. 100 oder GBA 23, S. 100.

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FS    

Frühe Schriften. Korrespondenz mit Jacques Rivière. Der Nabel des Niemandslands. Die Nervenwaage. Fragmente eines Höllentagebuchs. Die Kunst und der Tod. LS     Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater. SuT     Surrealistische Texte. Briefe. TD     Das Theater und sein Double.

Schriften anderer Autoren AA

   Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. AGS    Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. BGS    Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. ECW    Ernst Cassirer: Gesammelte Schriften, Hamburger Ausgabe. GSG    Georg Simmel: Gesamtausgabe. KSA    Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. MEW    Karl Marx und Friedrich Engels: Werke.

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Kultur in Stücken

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Philosophie Ashley J. Bohrer

Marxism and Intersectionality Race, Gender, Class and Sexuality under Contemporary Capitalism 2019, 280 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4160-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4160-2

Jürgen Manemann

Demokratie und Emotion Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet 2019, 126 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-4979-6 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4979-0

Harald Lemke

Szenarien der Ernährungswende Gastrosophische Essays zur Transformation unserer Esskultur 2018, 396 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4483-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4483-2 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4483-8

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Philosophie Jürgen Manemann, Eike Brock

Philosophie des HipHop Performen, was an der Zeit ist 2018, 218 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4152-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4152-7

Anke Haarmann

Artistic Research Eine epistemologische Ästhetik 2019, 318 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4636-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4636-2 EPUB: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4636-8

Hilkje Charlotte Hänel

What is Rape? Social Theory and Conceptual Analysis 2018, 282 p., hardcover 99,99 € (DE), 978-3-8376-4434-0 E-Book: 99,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4434-4

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