Kulinarische Lektüren: Vom Essen und Trinken in der Literatur [1. Aufl.] 9783839423745

In der Literatur wird häufig aufgetischt. Dazu gehört die Inszenierung von Mahlzeiten aller Art: das schlaraffische Tisc

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Kulinarische Lektüren: Vom Essen und Trinken in der Literatur [1. Aufl.]
 9783839423745

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Mangel und Überfluss: Märchen der Brüder Grimm - Das Schlaraffenlandmotiv: E. T.A. Hoffmann: »Nußknacker und Mausekönig«, Gottfried Keller: »Spiegel, das Kätzchen>Siebenkäs((, Johann Heinrich Voß: »Luise«
Punsch und Poesie: E. T.A. Hoffmann: "Der goldene Topf((Regionalküche und Nationalspeisen: Heinrich Heine: "Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopskhl, "Deutschland. Ein Wintermärchen«
Tafelkultur und Tischgespräch: Theodor Fontane: "Jenny Treibe/ll, "Effi Briest(( - Gottfried Kellers Gasthäuser: »Kleider machen Leute«, "Romeo und Julia auf dem Dorfe«
Essen und bürgerliche Dekadenz: Thomas Mann: "BuddenbrookSll, >>Der Zauberberg«
Abendmahl, Opfermahl und Jüdische Küche: Thomas Mann: »Der Zauberbergl«, Heinrich Heine: »Vitzliputzlill«, »Disputation«, »Der Rabbi von Bacherach«
Hunger, Ekel und Appetit: Franz Kafka: »Die Verwandlung«, »Der Hungerkünstlen«- Familien bei Tisch: Franz Kafka: »Brief an den Vater«, E. T.A. Hoffmann: »Der Sandmann«, Christoph Meckel: »Suchbild. Meine Mutter«
Essen und soziales Milieu, männliches und weibliches Essverhalten: Alfred Döblin: >>Berlin AlexanderplatZll, lrmgard Keun: »Das kunstseidene Mädchen«, Hans Fallada: »Kleiner Mann- was nun?«
Alltagsessen, Einverleibung und Ausscheidung: Günter Grass: »Die Blechtrommeh«, »Der Butt«, »Das Treffen in Telgte«
Essstörungen: Ludwig Fels: »Ein Unding der Liebe«, Karen Duve: '»Dies ist kein Liebeslied«
Kochen als Kunst, Heimatküche und fremde Speisen, Essen und Erotik: Tania Blixen: »Babettes Fest«, Monique Truong: »Das Buch vom Salz«, Martin Suter: »Der Koch«
Essen und Ethik: Jonathan Safran Foer: »Tiere essen«, Karen Duve: »Anständig essem«
Bibliographie

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Tanja Rudtke Kulinarische Lektüren

Lettre

Tanja Rudtke ist Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Heinrich Heine, Holocaustliteratur, Literatur und Geologie sowie Gegenwartsliteratur und -kultur.

TANJA RUDTKE

Kulinarische Lektüren Vom Essen und Trinken in der Literatur

[ transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung

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Mangel und Überfluss: Märchen der Brüder GrimmDas Schlaraffenlandmotiv: E. T.A. Hoffmann: »Nußknacker und Mausekönig«, Gottfried Keller: »Spiegel, das Kätzchen>Siebenkäs((, Johann Heinrich Voß: »Luise« I 37 Punsch und Poesie: E. T.A. Hoffmann: "Der goldene Topf((Regionalküche und Nationalspeisen : Heinrich Heine: "Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopskhl, "Deutschland. Ein Wintermärchen« I 59 Tafelkultur und Tischgespräch: Theodor Fontane: "Jenny Treibe/ll, "Effi Briest(( Gottfried Kellers Gasthäuser: "Kleider machen Leute((, "Romeo und Julia auf dem Dorfe(( I 81 Essen und bürgerliche Dekadenz: Thomas Mann: "BuddenbrookSll, >>Der Zauberberg(( 1 I 05 Abendmahl, Opfermahl und Jüdische Küche: Thomas Mann: >>Der Zauberbergl(, Heinrich Heine: >> Vitzliputzlill, >>Disputation((, "Der Rabbi von Bacherach(( 1 127 Hunger, Ekel und Appetit: Franz Kafka: >>Die Verwandlung((, >>Der Hungerkünstlen(Familien bei Tisch: Franz Kafka: >>Brief an den Vater((, E. T.A. Hoffmann: >>Der Sandmann«, Christoph Meckel: >>Suchbild. Meine Mutter« I !51 Essen und soziales Milieu, männliches und weibliches Essverhalten: Alfred Döblin: >>Berlin AlexanderplatZll, lrmgard Keun: >>Das kunstseidene Mädchen((, Hans Fallada: >>Kleiner Mann- was nun?(( I 175

Alltagsessen, Einverleibung und Ausscheidung: Günter Grass: »Die Blechtrommeh(, »Der Butt((, »Das Treffen in Telgte(( I 199 Essstörungen: Ludwig Fels: »Ein Unding der Liebe((, Karen Duve: '>Dies ist kein Liebeslied(( I 221 Kochen als Kunst, Heimatküche und fremde Speisen, Essen und Erotik: Tania Blixen: »Babettes Fest((, Monique Truong: »Das Buch vom Salz((, Martin Suter: »Der Koch« I 237 Essen und Ethik: Jonathan Safran Foer: I> Tiere essen«, Karen Duve: '>Anständig essem( I 255 Bibliographie I 267

Einleitung

»Das Vergnügen der Tafel gehört jedem Alter, jedem Stande, jedem Lande und jeder Zeit an. Es verträgt sich mit allen anderen Genüssen und bleibt bis ans Ende, um uns über deren Verlust zu trösten.« 1 Die Erkenntnis des französischen Gastrosophen Brillat-Savarin beschreibt die Allgegenwart des Themas Essen für den Menschen. Dieses Grundbedürfnis hat aber noch wesentlich mehr Eigenschaften: Essen war inuner [ ... ]eine besondere Lust- und Leidquelle menschlicher Existenz, bedeutete Genuß und erregte Ekel, förderte Gemeinschaft und Individuation, stiftete Krieg und Frieden, war Zeichen der Liebe und des Hasses, spiegelte Armut und materi ellen Wohlstand, diente als Integral des Alltags und des Festtags, fungierte als Herrschaftsinstrument und Sozialisationsmittel, Medium und Experimentierfeld sinnlicher, sozialer und ästhetischer Erfahrungen und Sehnsüchte. Nicht zuletzt war das Essen immer auch ein Mittel der Erkenntnis ... 2

Diese Übersicht betont außer der gesellschaftlichen Komponente, die auch Brillat-Savarin erwähnt, die starke Verbindung des Essens mit Emotionen und Ereignissen unterschiedlichster Art. Hatte der Franzose auf das Verbindende der Nahrungsaufnahme abgezielt, wird hier auf ihre Funktionen und die damit einhergehende Möglichkeit der Differenzierung und der besonderen Zuordnung von Essen hingewiesen. Es kann Indikator für ein bestimmtes Alter des Menschen sein und ihn als Individuum charakterisieren, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht herausstellen und Nationalitäten kennzeichnen. Geht es Brillat-Savarin in seiner Gastrosophie vor allem um ästhetische Aspekte, eine Art Esskultur, die

Jean Anthelme Brillat-Savarin: Physiologie des Geschmacks, Frankfurt a. M./Leipzig 1998, S. 15.

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Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hrsg): Handbuch Interkulturelle Germanistik, Stuttgart2003, S.171.

8 I KULINARISCHE LEKTÜREN Vielfalt und Verfeinerung von Genüssen, den Umgang damit und die Teilhabe daran, schließen diese Gesichtspunkte auch die Kehrseite ein: Abneigung, Mangel, Tabu, Exklusion. Mahlzeiten sind außerdem ein wichtiger Faktor in der Wahrnehmung von Zeit: ob als singuläres Ereignis oder im alltäglichen Leben als ein zu festgelegten Zeiten wiederkehrendes Ritual. Essen kann aus historischer Perspektive betrachtet werden oder als persönliche Erinnerung fungieren. Da verwundert es nicht, dass Essen und Trinken auch in die Literatur auf ebenso vielfältige Weise Eingang gefunden haben. Die einzelnen Kapitel des vorliegenden Bandes rücken jeweils bestimmte Aspekte des Themas in den Mittelpunkt, dazu werden ausgewählte Texte interpretiert und teilweise kulturgeschichtlich kommentiert. In diesen kulinarischen Lektüren wird gefragt: Welche Nahrungsmittel, welche Speisen werden aufgetischt, inwieweit spielt ihre Beschaffung und Zubereitung eine Rolle, in welchem Zusammenhang erscheinen sie und welcher Symbolgehalt wird ihnen zugesprochen? Welche Funktionen hat das Thema, das Motiv innerhalb eines Textes, wie spiegelt sich darin auch der epochengeschichtliche Kontext wider? Dabei lassen sich Parallelen herstellen zu anderen Texten, Nahrungsaufnahme erscheint zudem als Diskurs, in dem das Verhältnis von Körper und Geist durch wechselnde Einflussfaktoren fortwährend neu bestimmt wird. Den Anfang macht das Thema Essen und Trinken im Märchen, da sich in diesem Genre Grundmuster und -konstellationen menschlicher Existenz finden, wie die Dichotomie von Mangel und Überfluss, die in der Literatur in abgewandelter Form wieder aufgenommen werden, dazu gehört beispielsweise das Schlaraffenlandmotiv als Utopie des Überflusses. Neben drei Grimm' schen Märchen werden auch drei Kunstmärchen daraufhin gelesen, ausgewählt wurden: E.T.A. Hoffmanns »Nußknacker und Mausekönig«, Gottfried Kellers »Spiegel, das Kätzchen« und Walter Moers' »Der Schrecksenmeister«. Schlaraffische Fülle bzw. Völlerei setzt sich im nächsten Kapitel fort, hier geht es um barocke Schauessen innerhalb einer höfischen Festkultur und deren Beschreibung, die selbst als Teil des Festes fungieren kann. Vom aufwendigen Entwurf bis zum teilweise versifizierten Lobpreis ist die barocke Tafel immer Teil eines Gesamtkunstwerkes. Als hum01istische Reminiszenz auf barocke Schauessen lässt sich das Hochzeitsessen in Jean Pauls »Siebenkäs« lesen, das mit weit ausholender Geste beschrieben wird und doch recht kärglich ausfällt, ein »Schmaus-Luxus«, der mit einer »kurfürstlich-sächsischen« Festtafel verglichen wird. In der Hexameterdichtung »Luise« schildert Johann Heinrich Voß im Zuge der Aufklärung bzw. Empfindsamkeit ein opulentes Picknick im Grünen, einer ländlichen Idylle. Dieses Festmahl versteht sich vor allem als Gegenentwurf zum

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höfischen, das in seiner Inszenierung ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein offenbart, von einer Fokussierung auf Gegenstände des Alltags bis hin zu moralischen Werten und sittlichen Prinzipien. Punsch und Poesie: ln E.T.A. Hoffmanns Märchen vom »Goldenen Topf« nimmt der Alkohol eine zentrale Rolle ein, feurige Getränke eröffnen den Zugang zur poetischen Welt, während der biedere Bierrausch der Philister nur Kopfschmerzen verursacht. Heinrich Reine hat sehr viel vom Essen und Trinken in sein Werk einfließen lassen, er bedient dabei auch nationale Stereotypen, singt ein Loblied auf Frankreichs Küche und hadert mit der deutschen »Sauerkrautsippschaft«. Durch eine ausgeprägte Tafelkultur und vor allem das Tischgespräch präsentiert sich die bürgerliche Gesellschaft, werden die sozialen Kontexte und politischen Positionen offen gelegt. Theodor Fontane bedient sich des Dialogs als eines seiner wichtigsten erzählerischen Mittel: Er nutzt die ausführliche Darstellung der Gespräche bei geselligen Mahlzeiten, um Personen zu charakterisieren, den Verlauf der Handlung anzudeuten und polyphone Sttukturen zu etablieren. Gasthäuser sind in Gottfried Kellers Novellen stark semantisierte Räume (»Romeo und Julia auf dem Dorfe«, »Kleider machen Leute«). Sie dienen als Kulminationspunkt sozialer Gemeinschaft und spiegeln die Stellung des Einzelnen darin wider. Die im Wirtshaus eingenommenen Mahlzeiten zeigen bei Keller überdies als sinnlich erfahrbares Zeichen den Wunsch nach Integration und Selbstvergewissetung, zudem den direkten Einfluss des Materiellen auf Geist und Psyche. Dekadenz und Krankheit: ln Thomas Manns »Buddenbrooks« und dem »Zauberberg« wird das Bürgertum auf den Prüfstand gestellt: bürgerlichkaufmännische Traditionen, die in der Auflösung begriffen sind. Überreichliches Essen verbindet sich da schon mit dem Pathologischen, gerät ins Abgründige, rückt in Todesnähe. Das gilt vor allem für den »Zauberberg«. Hier nehmen die Kranken ebenfalls in schlaraffischem Ausmaß Speisen zu sich, dieser Konsum kontrastiert mit dem drohenden körperlichen Verfall und ist Teil einer Lebensmaxime. Abendmahl, Opfermahl und Jüdische Küche: Bei Thomas Mann und Heinrich Reine wird das Abendmahl imitiert und parodiert, kannibalische Aspekte fließen mit ein und werden zur Religionskritik verwendet. Heine beschäftigt sich außerdem in sinnenfreudiger Weise mit jüdischer Küche und stellt sie als Ausdtuck einer sensualistischen Position dem freudlosen Spiritualismus gegenüber. Hunger, Ekel und Appetit: Franz Kafka zeigt in seinen Erzählungen verstärkt die Kehrseiten der Nahrungsaufnahme bzw. ihre Verweigerung. Gregor Samsas Verwandlung in ein »ungeheures Ungeziefer« zieht auch eine Änderung seines

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Geschmacks nach sich, hier wird das Essmotiv außerdem an soziale Aspekte gekoppelt. Gregor verhungert, weil ihm die Speise nicht geboten wird, auf die er Appetit hat, ebenso wie der Hungerkünstler, der mit seiner Kunst eine ganze Reihe von Paradoxien durchexerziert. Unter dem Aspekt Familien bei Tisch sollen drei Beispiele aus unterschiedlichen Jahrhunderten beleuchtet werden: E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann«, Franz Kafkas »Brief an den Vater« und Christoph Meckels Porträt »Suchbild. Meine Mutter«. Alle drei beinhalten ebenfalls das Motiv des Ekels, resultierend aus verschiedenen familiären Zuständen und Zwängen, die sich aus der Eltern-Kind-Beziehung ergeben. Nahrungsaufnahme und soziales Milieu: In den Romanen der 1930er Jahre stehen Typen im Mittelpunkt, die ein bestimmtes soziales Umfeld repräsentieren. Es sind Antihelden wie der ehemalige Gefängnisinsasse Franz Biberkopf in Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz« oder der Angestellte Pinneberg in Hans Falladas Roman »Kleiner Mann- was nun?«. Zum Leben in der Großstadt gehört der Besuch von Speisegaststätten, der Küchenalltag der kleinen Leute, auch der Mangel an Essen, der durch Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen sozialen Abstieg verursacht wird. Hier wird das Stereotyp vom männlichen und weiblichen Essen erkennbar: Doris, das einfache Mädchen, das »ein Glanz werden will«, aus Irmgard Keuns Roman »Das kunstseidene Mädchen« legt dementsprechend ein ganz anderes Essverhalten an den Tag als beispielsweise Franz Biberkopf, auch wenn sie sich durchaus in den Aschirrger-Restaurants begegnen könnten, da beide in der Großstadtmetropole Berlin auf der Suche nach Auskommen und Aufstieg unterwegs sind. Günter Grass ist einer der Autoren, dessen Texte stark in der Sphäre des Materiell-Leiblichen angesiedelt sind, besonders im Roman »Der Butt«, in dem nicht nur Kochen und Essen immer wiederkehrende, durch alle Zeiten bestehende Tätigkeiten des Alltags sind, sondern auch der Verdauung große Aufmerksamkeit zuteil wird. Grass' literarischer Küchenzettel besteht aus spezieller Kost, die teilweise als Arme-Leute-Essen gilt. Fleisch, insbesondere Innereien, Fisch, Suppen, Hirsebrei sind darin alimentäre Konstanten. In ihre Darstellung mischt sich oft der Ekel, aber zuweilen eine starke Sinnlichkeit, nicht zuletzt, wenn sie mit Sexualität verbunden ist, wobei auch hier die Grenzen fließend sind. Mit Ludwig Fels' »Ein Unding der Liebe« und Karen Duves »Dies ist kein Liebeslied« liegen exemplarisch zwei Texte für Essstörungen in der Gegenwart vor: der eine Fresssucht, der andere Magersucht und Bulimie behandelnd. Nicht von ungefähr wird im Titel jeweils die Liebe negiert, denn hier ist die Essstörung vor allem mit der Sehnsucht nach Liebe und ihrer Nichterfüllung in Beziehung gesetzt. Das Gefühl nicht zu genügen, nicht attraktiv genug zu sein, geht sowohl

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bei der männlichen als auch der weiblichen Hauptfigur mit einer umfassenden Lebensangst und -enttäuschung einher. Georg Bleistein wird solange herausgefüttert, bis er Essen als Lebenszweck verinnerlicht hat, Anne Strelau beschließt dagegen immer wieder vergebens: »Schöner zu werden, also weniger«. Kochen als Kunst: Das Zubereiten von Speisen erhält in neueren Texten wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Eine der bekanntesten kulinarischen Erzählungen handelt von Babette, der französischen Spitzenköchin aus Paris, die es nach Norwegen verschlägt und die die Bier und Stockfisch-Gemeinde mit einem Feinschmeckermenü erster Güte verwöhnt, ohne dass sie es recht merken, aber durch dessen Genuss sie wundersam verwandelt werden (Tania Blixen: »Babettes Fest«). Zwei Texte aus der jüngeren Gegenwart thematisieren ebenfalls das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Koch- und Esskulturen, in Monique Truongs Roman »Das Buch vom Salz« kocht der Vietnamese Binh für das Paar Gertrude Stein und Alice B. Toklas in Paris, die französische und die vietnamesische Kochkunst werden u.a. im kolonialen Kontext beleuchtet. - In Martin Suters Roman »Der Koch« kreiert Maravan, ein vor dem Bürgerkrieg geflohener Koch aus Sri Lanka, aphrodisierende Molekular-Menüs für Schweizer Geschäftsleute. Neben den kulturellen Unterschieden werden auch Verflechtungen von Politik und Wirtschaft offenbar. Besonderes Augenmerk liegt außerdem bei beiden auf der Darstellung des Kochens und der spezifischen Wirkung der Gerichte. Den Abschluss bilden zwei Publikationen, die von Schriftstellern stammen, die beide ihr erstes Sachbuch dem Thema Essen widmeten. Dem amerikanischen Autor Jonathan Safran Foer (»Tiere essen«) geht es um vegetarische Ernährung; der deutschen Autorin Karen Duve darum, »anständig« zu essen. Der Frage nach einer Ethik des Essens wächst zunehmend Bedeutung zu. Damit werden eine Vielzahl von Problemstellungen erörteii: Nahrungsüberschuss auf der einen und Hunger auf der anderen Seite: Essen auf Kosten anderer Menschen, Massentierhaltung als Bestandteil der Nahrungsmittelindustrie. Die Politisierung von Nahrung, bedingt durch die Art ihrer Herstellung und ihres Vertriebs unter dem Blickwinkel der Gewinnmaximierung und deren globale Folgen sind nur einige der Themen, die es dabei zu verhandeln gilt. Sowie »das Vergnügen der Tafel« nach Brillat-Savarin jedem offen steht, sollte j eder einzelne im Rahmen seiner Möglichkeiten auch über ethische Aspekte des Essens reflektieren, die Autoren dieser Bücher haben dies exemplarisch vorgeführt. Der Konzeption dieses Buches liegt eine Vorlesung zugrunde, gehalten an der Universität Erlangen-Nürnberg im Wintersemester 2012/13.

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Über viele der behandelten Texte könnte wesentlich intensiver und ausgreifender gesprochen werden, doch soll ein kulinarischer Gang durch die Literaturgeschichte unternommen werden (vom barocken Schauessen bis zur Molekularküche der Gegenwart), was eine Beschränkung in mehrfacher Hinsicht, u.a. auch die Auswahl der Texte betreffend, mit sich bringt. In der Zusammenschau aber ergibt sich ein anregender Überblick über Wandel und Beständigkeit des Themas gleichermaßen in der Literatur. 3 Der Fokus richtet sich bei den einzelnen Texten naturgemäß auf Passagen, in denen vom Essen die Rede ist und die in irgendeiner Form Aufschluss geben über die Rolle, die es einnimmt. Oft handelt es sich bei den kulinarischen Einlassungen zunächst um scheinbare Nebensächlichkeiten und eine motivische Einzelheit neben vielen weiteren, die einen Text mitgestalten - außer natürlich, es ist das zentrale Thema des Buches - , daher werden diese Stellen ausführlich zitiert, um den Blick gerade auf dieses Nebensächliche zu lenken und es hervorzuheben. Auch die Eigenheit der jeweiligen literarischen Texte ist damit unmittelbar präsent und zeigt aufwelche Weise der Autor über das Essen schreibt, welche Bildlichkeit er benutzt. Die Konzentration auf diese Mikrostruktur erhellt zugleich den dahinter liegenden kulturgeschichtlichen Kontext, aus dem sie letztlich auch hervorgegangen ist. Gleichzeitig wird versucht, soviel Information zum Inhalt des Ganzen mitzuteilen, wie zur Beurteilung und Einordnung der ausgewählten Passagen nötig ist. Zuletzt möchte ich Vamn F. Ort fur Iaitische Lektüre und praktische Unterstützung beim Layout danken.

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Die Literaturhinweise nennen zur Vertiefung bereits existierende ausführliche Studien, etwa zu kulturgeschichtlichen Aspekten und umfassendere Darstellungen der Essmotivik zu in dieser Hinsicht besonders ergiebigen Autoren wie beispielsweise Thomas Mann und Heinrich Reine.

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Grimm- Das Schlaraffenlandmotiv: E. T.A. Hoffmann: »Nußknacker und Mausekönig«, Gottfried Keller: »Spiegel, das Kätzchen«, Wa/ter Moers: »Der SchrecksenmeisterAbend< eigentlich nicht leben zu können