Körperlicher Umbruch: Über das Erleben chronischer Krankheit und spät erworbener Behinderung 9783839464731

Was bedeutet es in der westlich aufgeklärten Gesellschaften der Jahrtausendwende, chronisch krank zu werden oder dauerha

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Körperlicher Umbruch: Über das Erleben chronischer Krankheit und spät erworbener Behinderung
 9783839464731

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Erster Teil. Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit und seine unmittelbaren Folgen
1. »Das Martyrium hielt an.« – Das körperliche Geschehen
2. »Mein Kopf konnte mir auch keine Erklärung geben.« – Die unterbrochene Kohärenz
3. »Ein Mann nähte mit Nadel und Faden mein rechtes Augenlid zu.« – Die veränderte Alterität
4. »Das Restbein darf unter keinen Umständen naß werden.« – Die aufgehobene Narration
5. »Ich bin in einer Krise.« – Moratorium für das überwältigte Selbst
Zweiter Teil. Die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch
1. »Das wöchentliche Bad taucht mich zugleich in Jammer und Glückseligkeit.« – Struktur der Identität und Ereignis
2. »Ich begann mein zweites Leben, voll Festigkeit und Schwanken.« – Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität
3. »Urvertrauen zu einer Beatmungsmaschine?« – Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen
4. »Meine intellektuelle Arbeit enthält höchst kreative Teile.« – Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden
5. »›Einmal mehr aufstehen als hinfallen.‹ Das ist mein Motto.« – Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln
Dritter Teil. Der umbrochene Körper im sozialen System
1. »So bin ich im Tunnel um eine Kurve gebogen.« – Das Pathische im sozialen System
2. »Auch Querschnittsgelähmte erzählen sich Witze.« – Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung
3. »Das Gefühl, begehrt zu werden, war wunderschön.« – Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen
4. »Die Bedeutung entsteht nach dem Ereignis.« – Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch
5. »Ich bin ich.« – Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper
Zusammenfassung und Schluss
Literatur

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Bernhard Richarz Körperlicher Umbruch

Medical Humanities Band 11

Editorial Menschen sind mehr als die Summe ihrer Organe und Körperteile: Ihre sozialen Rollen, ihre Geschichte(n), ihre Lebensumstände, ihre ökonomischen Verhältnisse, aber auch ihre Phantasien, Ängste und Erfindungen prägen ihre Gesundheit. Die Reihe Medical Humanities will sich inter- und transdisziplinär an die Schnittstellen zwischen Gesundheit, Gesellschaft und Umwelt setzen, Perspektiven der Geistes- wie der Sozial-, Kultur- und Humanwissenschaften verbinden. Eng am Körper, aber auch am Leib stellt sie genderpolitische, sozialkritische und bioethische Fragen, vermittelt zwischen Pflege und Gesundheitspolitik, Technik und Körperbildern.

Bernhard Richarz (Dr. med.), geb. 1958, ist als Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse in Berlin tätig und Co-Leiter von »tanzfähig – Initiative für mehr körperliche Vielfalt im zeitgenössischen Tanz«.

Bernhard Richarz

Körperlicher Umbruch Über das Erleben chronischer Krankheit und spät erworbener Behinderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Dr. Klara Vanek, Köln Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839464731 Print-ISBN 978-3-8376-6473-7 PDF-ISBN 978-3-8394-6473-1 Buchreihen-ISSN: 2698-9220 Buchreihen-eISSN: 2703-0830 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung ..................................................................................... 9

Erster Teil Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit  und seine unmittelbaren Folgen .............................................................. 25 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

»Das Martyrium hielt an.« – Das körperliche Geschehen ................................ Die somatische Dimension der Körperlichkeit ............................................ Die soziale Dimension der Körperlichkeit ................................................. Die psychische Dimension der Körperlichkeit ............................................. Die körperliche Überwältigung ........................................................... Frühe Antworten des Selbst und der Anderen .............................................

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

»Mein Kopf konnte mir auch keine Erklärung geben.« – Die unterbrochene Kohärenz .... 61 Unverständlich, nicht handhabbar und sinnlos............................................. 61 Allgemeines zum inkohärenten Erleben und Verhalten .................................... 66 Verringerte körperliche Kohäsion ......................................................... 71 Körperlich bedingte zeitliche Diskontinuität .............................................. 77 Gestörte Flexibilität der Körpergrenzen................................................... 82

3.

»Ein Mann nähte mit Nadel und Faden mein rechtes Augenlid zu.« – Die veränderte Alterität................................................................. 89 Der Arzt: Die erste äußere Ressource..................................................... 89 Eintritt ins Exosystem Krankenhaus ......................................................102 Einige Formen sozialen Interagierens .................................................... 115 In der Rolle des Patienten................................................................120 Fremde Beziehungsqualitäten............................................................ 127

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

27 27 34 40 46 52

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

»Das Restbein darf unter keinen Umständen naß werden.« – Die aufgehobene Narration  ............................................................ 133 Erzählen und Identität .................................................................. 133 (Re)Strukturieren der Körpergeschichte ..................................................140 Die Sprache der Spezialisten............................................................. 147 Sprachliches Einüben ...................................................................154 An den Grenzen des Erzählens ...........................................................160

5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

»Ich bin in einer Krise.« – Moratorium für das überwältigte Selbst...................... 167 Der Weg in die Krise ..................................................................... 167 Psychiatrisch auffällig ................................................................... 175 Stillstand im Werden..................................................................... 181 Narzisstisch gestört ..................................................................... 187 Vor der Rückkehr in den Prozess ......................................................... 194

Zweiter Teil Die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch ........................................201 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

»Das wöchentliche Bad taucht mich zugleich in Jammer und Glückseligkeit.« – Struktur der Identität und Ereignis..................................................... 203 Exkurs zum Konstrukt Identität ......................................................... 203 Innere Bedingungen weiterer Identitätsarbeit ........................................... 208 Teilidentität Körperlichkeit............................................................... 218 Verknüpfungen von Ereignis und Struktur ............................................... 224 Perspektiven der Verknüpfung .......................................................... 229 »Ich begann mein zweites Leben, voll Festigkeit und Schwanken.« – Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität ................................... 243 Durch Identitätsarbeit zur kohärenten Passung.......................................... 243 Krankheitsbewältigung und Abwehr ..................................................... 248 Im Prozess retrospektiv-reflexiv ........................................................ 258 Im Prozess prospektiv-reflexiv .......................................................... 274 Willentlich in die Umsetzung ............................................................ 280 »Urvertrauen zu einer Beatmungsmaschine?« – Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen......................... 289 Von außen nach innen .................................................................. 289 Ökonomische Ressourcen............................................................... 299 Kulturelle Ressourcen................................................................... 301 Soziale Ressourcen ...................................................................... 310 Gesucht und Gefunden .................................................................. 324

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

»Meine intellektuelle Arbeit enthält höchst kreative Teile.« – Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden ..................... 335 Die Gewissheit des umbrochenen Körpers ............................................... 335 Angepasste Teilidentitäten.............................................................. 353 Die Gewissheit des umbrochenen Selbst ................................................ 359 Umgedeutete Vergangenheit ............................................................ 364 Im Zeichen der Alterität................................................................. 369 »›Einmal mehr aufstehen als hinfallen.‹ Das ist mein Motto.« – Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln .................. 387 Der somatische Körper: geschädigt ..................................................... 387 Der soziale Körper: behindert ........................................................... 394 Vom Erzählen des umbrochenen Körpers ............................................... 402 Vom Handeln des umbrochenen Körpers ................................................. 412 An den Grenzen des sozialen Systems ................................................... 424

Dritter Teil Der umbrochene Körper im sozialen System................................................. 439 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

»So bin ich im Tunnel um eine Kurve gebogen.« – Das Pathische im sozialen System... 441 Kollektive Identität, Körperlichkeit und subjektives Pathos................................ 441 Der psychische Körper: pathisch ........................................................ 446 Fremdheit und Ordnung, subjektiv und kollektiv ......................................... 452 Vom absolut Fremden zum relativ Anderen .............................................. 459 Mit dem umbrochenen Körper unterwegs................................................ 465

2.

»Auch Querschnittsgelähmte erzählen sich Witze.« – Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung ............................................... 477 Hermeneut wider Willen ................................................................ 477 Auslegungen des Konstrukts chronische Krankheit ...................................... 484 Interpretationen des Blind- und Behindertseins.......................................... 497 Erkenntnisse über die Alterität .......................................................... 507 Lebensansichten chronisch Kranker und Behinderter .................................... 524

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

»Das Gefühl, begehrt zu werden, war wunderschön.« – Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen ......................................... 533 Inklusion und Barrieren ................................................................. 533 Kognitive Achtung ...................................................................... 538 Soziale Wertschätzung................................................................... 541 Affektive Zuwendung ................................................................... 547 Über soziale Energie in psychische Struktur ............................................. 554

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

»Die Bedeutung entsteht nach dem Ereignis.« – Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch ...................................................... 563 Zum Erhalt der Kohärenz................................................................ 563 Die Kohäsion des Selbst ................................................................. 571 Die Kontinuität des Erlebens ............................................................ 580 Die Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen ........................................ 588 Selbstwirksam mit Sinn ................................................................. 598

5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

»Ich bin ich.« – Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper .............. 611 Mit Vitalität im Hier und Jetzt ............................................................ 611 Tiefe aus der Reflexivität ............................................................... 626 Autonom und versöhnt in der Realität ................................................... 636 Reife an den Grenzen ................................................................... 644 Authentisch in Beziehung zur Alterität .................................................. 654

Zusammenfassung und Schluss ............................................................. 663 Literatur .................................................................................... 673

Einleitung

Menschen haben Unfälle, Menschen verletzen sich und sie erkranken, und die meisten genesen wieder vollständig. Einige erliegen ihrem Leid, und manche überleben es und bleiben für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Da der menschliche Körper wie jeder Organismus verletzbar ist, ist es durch alle Zeiten hindurch so geschehen, und wird es weiterhin so geschehen. Doch wie die davon Betroffenen1 den Verlust ihrer gewohnten Körperlichkeit erleben und wie sie mit ihm umgehen, ist bestimmt von der Zeit und der Kultur, in der sie leben. Es ergibt sich daraus, wie die Anderen, die nicht mit ihrem Körper unmittelbar betroffen sind, sich dazu verhalten, wie sie das Geschehen verstehen und wie sie darüber sprechen und denken. Die durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung bedingten, nicht nur vorübergehenden, sondern für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden Veränderungen der gewohnten Körperlichkeit stellen für die meisten einen tiefgreifenden Umbruch dar, der sich durch ein klar zu unterscheidendes Vorher und Nachher kennzeichnen lässt. Stets geht er mit einem Verlust von bis dahin selbstverständlich ausgeübten körperlichen Funktionen einher, und stets schneidet er tief in die bisherigen Lebensgewohnheiten ein. Unabhängig davon, ob der Umbruch in wenigen Sekunden abläuft oder sich über mehrere Jahre erstreckt, ist in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende nichts anderes vorstellbar, als dass solche Veränderungen der gewohnten Körperlichkeit in den Bereich der Medizin gehören und von den Spezialisten des Gesundheitswesens zu behandeln sind. Für das betroffene Subjekt und seine Alterität ist der Körper nun davon bestimmt, dass er eine mehr als sechs Monate andauernde, gesellschaftlich negativ bewertete Abweichung aufweist. Auch wenn es bisweilen Menschen gibt, die solch einen körperlichen Umbruch für sich ersehnen, um ihr inneres Unglück sichtbar zu machen, oder andere ihn gezielt herbeiführen, weil sie sich finanzielle Vorteile davon versprechen oder weil sie sich nur in einem versehrten Körper heil fühlen, gehört er im Unterschied zu den bleibenden Veränderungen der gewohnten Körperlichkeit, wie sie entwicklungsbedingt im Heranwachsen oder im höheren Lebensalter geschehen – oder auch im Unterschied zu den vorübergehenden Veränderungen, wie sie bei Erschöpfung, bei Hunger und Durst, im 1

In der Einzahl wird im Folgenden das generische Maskulinum verwandt, um das Allgemeine zu betonen, das zugleich eine Vielfalt beinhaltet, die über Sex und Gender hinausgeht.

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Körperlicher Umbruch

Fieber oder während einer Schwangerschaft eintreten – im Allgemeinen zu den Ereignissen, die zu erleben sich kaum jemand für sich oder seine Nächsten erhofft. Die Fortschritte der Medizin scheinen das Eintreten eines körperlichen Umbruchs sogar ganz vermeidbar zu machen, während früher selbstverständlich angenommen wurde, dass solche Schicksalsschläge zum Lauf des Lebens dazu gehören. Wenn es trotz vermeintlich geringer Wahrscheinlichkeit zu einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit kommt, wird es vielfach als Aufgabe der Betroffenen angesehen, in ihrem Alltag die notwendigen psychischen und sozialen Umstellungen zu vollziehen (vgl. Keller/Deter 1997: 101), die eine chronische Krankheit oder spät erworbene Behinderung auf Grund der körperlichen Einschränkungen verlangt. Was es für das subjektive Erleben bedeuten mag, die gewohnte Körperlichkeit durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung für längere Zeit oder auf Dauer verloren zu haben, wird in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende vornehmlich unter folgenden Gesichtspunkten betrachtet: Zum Ersten werden in einer psychologisch ausgerichteten Medizin alle psychosozialen, kognitiven, emotionalen und Verhaltensprozesse, die meist bewusst und willentlich eingesetzt werden, um bestehende oder erwartete Belastungen im Zusammenhang mit einer Erkrankung abzufangen, unabhängig von ihrem Erfolg als Krankheitsbewältigung bezeichnet (vgl. Muthny 1988). Ob ein Verlust der körperlichen Unversehrtheit erfolgreich verarbeitet werden kann, wird zum Zweiten nicht so sehr als von der Krankheit abhängig gesehen, sondern vielmehr von den dadurch bedingten spezifischen und unspezifischen Belastungen in Wechselwirkung von Persönlichkeit und sozialem Umfeld (vgl. Heim 1998). Es werden dafür u.a. die subjektiven Krankheitskonzepte (vgl. Lipowski 1970), die prämorbiden Eigenschaften der Persönlichkeit (vgl. Beutel 1988, Weisman 1979) und die unbewussten Abwehrmechanismen (vgl. Schüßler 1993) beschrieben und das emotionale Erleben und Verhalten der Angehörigen (vgl. Bahnson 1997) erfasst. Der körperliche Umbruch mit seinen Folgen lässt sich zum Dritten als kritisches Lebensereignis einordnen. Mit diesem Konzept (vgl. Filipp/Aymanns 2010: 13–17) werden Ereignisse verschiedener Art zusammengefasst, die außerhalb des normalen Erwartungs- und Erfahrungshorizonts liegen und denen gemeinsam ist, dass sie die Passung zwischen Mensch und Umwelt durcheinanderbringen und heftige Emotionen frei setzen, denen aber mit einem einfachen korrigierenden Eingriff nicht beizukommen ist. Da eine chronische Krankheit oder Behinderung die bisher gültigen Lebensgewohnheiten, Wertvorstellungen und Sinnsetzungen erschüttert, ist es schließlich zum Vierten möglich, den Verlust der gewohnten Körperlichkeit in Hinblick auf die Identität zu betrachten (vgl. Richarz 2008, Richarz 2004, Little et al. 2002, Charmaz 1995, Charmaz 1994, Beland 1985). Dabei wird u.a. ausgeführt (vgl. Marschewski 2007: 19f.), dass sich das veränderte Körpererleben auf das Verhältnis von Körper und Selbst auswirkt, dass nicht nur die Kontrolle über den Körper und seine Funktionen, sondern auch die in anderen Lebensbereichen verloren geht, dass die Konfrontation mit der veränderten Lebensperspektive bisherige Ansprüche an die Identität bedroht oder dass eine Diskrepanz zwischen den realen Lebensbedingungen und dem Ich-Ideal eingetreten ist. Diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie den körperlichen Umbruch medizinisch erklären und die körperlichen Veränderungen mit einer Behinderung gleichsetzen.

Einleitung

Solche Überlegungen aufgreifend und erweiternd geht es mir darum, eine umfassende Geschichte des körperlichen Umbruchs zu erzählen. Sie spielt in einem Zeit- und Kulturraum, der sich von den 1980er Jahren, als der Blick schon auf das Millenium gerichtet war, bis in das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erstreckt und die Gesellschaften umfasst, die von der europäischen Aufklärung geprägt sind. In Einzelheiten soll ausgemacht werden, • • •



• •

wie das Subjekt es erlebt, seine gewohnte Körperlichkeit und seine bisherige Passung zur Umwelt zu verlieren, welche psychischen und sozialen Umstellungen das Subjekt infolge des körperlichen Umbruchs zu erbringen hat und zu welchen Ergebnissen sie führen, wie seine Beziehungen zur Alterität – also zur Gesamtheit der Anderen, mit denen das Subjekt verbunden ist – und seine Zugehörigkeit zu sozialen Systemen das Erleben des körperlichen Umbruchs beeinflussen, wie sich das Selbstverständnis des Subjekts und sein Verhältnis zu dem veränderten Körper über die Zeit hinweg wandelt und welche Erkenntnisse es aus seiner besonderen Körperlichkeit gewinnt, was der Verlust der gewohnten Körperlichkeit für die Alterität bedeutet und wie sie damit umgeht und in welchem Verhältnis der Verlust der gewohnten Körperlichkeit zu der Gesellschaft steht, in der er stattfindet.

Es sind Fragen, die in den westlichen Gesellschaften erst seit den 1980er Jahren aufkamen, die sich in früheren europäischen Epochen nicht stellten und die sich auch in indigenen Kulturen kaum in diesem Umfang ergeben. Denn diese Fragen brauchen das Konstrukt einer persönlichen Identität ebenso wie die vom subjektiven Erleben abgespaltene objektive Betrachtung des Körperlichen, und sie bedürfen einer hochtechnisierten Medizin, die infolge ihrer Möglichkeiten von Diagnostik und Therapie Menschen mit schweren Krankheiten vermehrt und länger überleben lässt. In der Geschichte des körperlichen Umbruchs werden ausführlich Personen zu Wort kommen, denen im Erwachsenenalter ein körperlicher Umbruch widerfahren ist.2 Die von mir herangezogenen zwölf Erfahrungsberichte (vgl. Tabelle) über einen Verlust der gewohnten Körperlichkeit und das Leben mit einem umbrochenen Körper beruhen auf körperlichen Veränderungen, die sich Krankheiten verschiedener medizinischer Fachgebiete zuordnen lassen, nämlich der Neurologie (Locked-in-Syndrom, Bauby 1997; Multiple Sklerose, Lürssen 2005, Ruscheweih 2005; Hirninfarkt, Peinert 2002; M. Parkinson, Todes 2005), Pneumologie (künstliche Beatmung bei Amyotropher Lateralsklerose, Balmer 2006), Kardiologie (Herz- und Hirninfarkt, Härtling 2007; Herzinfarkt, Huth 2003), Onkologie (M. Hodgkin, Lesch 2002), Orthopädie und Traumatologie

2

Da sich die von mir so genannten westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende auf einen Kulturraum beziehen, der von der europäischen Aufklärung beeinflusst ist und das Adjektiv »westlich« nicht als Gegensatz zu östlich gleich kommunistisch verwendet wird, ist es auch kein Widerspruch, wenn in die Darstellung ein Erfahrungsbericht einbezogen wird, der teilweise in der DDR spielt.

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12

Körperlicher Umbruch

(aufsteigende Querschnittslähmung, Buggenhagen 1996; traumatischer Gliedmaßenverlust, Mills 1996) und Ophthmalogie (Netzhautablösung mit Erblindung, Hull 1992). Tabelle: Übersicht zu den inhaltsanalytisch ausgewerteten Erfahrungsberichten Name (Geschlecht)

Medizinische Diagnose

Alter bei Ereignis

Beruf bei Ereignis

Familienstand bei Ereignis

Erstpublikation

Lebensalter bei Publikation

Erfahrungszeitraum

Balmer, Sonja (w)

Ateminsuffizienz bei ALS

31 Jahre

Kauffrau

ledig

2006

34 Jahre

mehr als 2 Jahre

Bauby, JeanDominique (m)

LockedinSyndrom

43 Jahre

Journalist

getrennt lebend

1997 (franz.), 1997

45 Jahre

9 Monate

Buggenhagen, Marianne (w)

Querschnittslähmung

20 Jahre

Krankenschwester

ledig

1996

43 Jahre

23 Jahre

Härtling, Peter (m)

Herzinfarkt, Hirninfarkt

69 Jahre

Schriftsteller

langjährig verheiratet

2005

72 Jahre

9 Monate

Hull, John M. (m)

Netzhautablösung, Erblindung

48 Jahre

Universitätsprofessor

wiederverheiratet

1990 (engl.), 1992

55 Jahre

3 Jahre

Huth, Peter (m)

Herzinfarkt

33 Jahre

Journalist

ledig, wechselnde Partnerschaften

2003

34 Jahre

6 Monate

Lesch, Michael (m)

M. Hodgkin

43 Jahre

Schauspieler

geschieden, in fester Beziehung

2002

46 Jahre

13 Monate

Lürrsen, Pia-Maria (w)

Multiple Sklerose

31 Jahre

Med. techn. Assistentin

verheiratet

2001

57 Jahre

26 Jahre

Einleitung

 

Mills, Heather (w)

Traumatische Beinamputation

25 Jahre

Model

geschieden, in Partnerschaft

1995 (engl.), 1996

27 Jahre

15 Monate

Peinert, Dietrich (m)

Hirninfarkt

70 Jahre

Lehrer im Ruhestand

langjährig verheiratet

1998

73 Jahre

2 Jahre 9 Monate

Ruscheweih, Christiane (w)

Multiple Sklerose

22 Jahre

Krankengymnastin

ledig, in fester Partnerschaft

2001

39 Jahre

17 Jahre

Todes, Cecil (m)

M. Parkinson

39 Jahre

Psychoanalytiker

verheiratet

1990 (engl.), 2005

59 Jahre

20 Jahre

Diese Erfahrungsberichte können unter zehn Gesichtspunkten näher beschrieben werden (vgl. Ette 2020: 103–130):3 Linie: Die Ereignisse des körperlichen Umbruchs werden meistens in ihrem Ablauf geschildert, nämlich vom eigentlichen Geschehnis über die Krise zur Neuordnung und weiter zur gewonnenen Einsicht in Bezug auf das Selbst und die Alterität. Doch gibt es Ausnahmen: Ein Bericht (Balmer 2006) beschreibt nur einen Abschnitt einer längeren Krankheit. Zwei Berichte (Lürssen 2005, Ruscheweih 2005) beruhen auf der Sichtweise von Personen, deren Selbstverständnis bereits dem veränderten Körper angepasst ist und die als Beispiele für die von ihnen gemachten Erfahrungen nur unverbundene Episoden aufführen, und ein weiterer (Peinert 2002) folgt dieser Art der Darstellung zumindest teilweise. Fläche: Die Berichte über das persönliche Erleben nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit werden erweitert, indem auch nicht selbst Erlebtes in sie aufgenommen wird. So kann unmittelbar im Bericht medizinisches Fachwissen vermittelt werden, um den berichteten Ablauf zu erklären oder den Leser mit dem Krankheitsbild vertraut zu machen. Auch ist es möglich, dass der Bericht von Spezialisten des Gesundheitswesens ergänzt wird; es finden sich Stellungnahmen unter neurologischen, psychologischen und sportmedizinischen Gesichtspunkten (Lürssen/Ruscheweih 2005), eine Nachschrift des behandelnden Lungenfacharztes (Balmer 2006) und Aufzeichnungen der behandelnden Physiotherapeutin (Peinert 2002). Außerdem können kurze Darlegungen von gleichfalls Betroffenen, die das Berichtete aus ihrer Sicht bestätigen, die Erzählung des Ablaufs verbreitern (Lürssen/Ruscheweih 2005). In die Schilderung des linearen Ablaufs kann weiterhin die Stimme eines Angehörigen eingefügt sein, sodass noch ein persönlicher Blick von außen dazukommt (Lesch 2002). Oder der Co-Autor schildert, wie er die Begegnungen mit der Autorin erlebte, in denen der Bericht entstand (Buggenhagen 1996).

3

In der Annahme, dass Krankheit und Behinderung als Teil einer Lebensreise anzusehen sind, wurden von mir die zehn Dimensionen, in denen Ette 2020 Reiseberichte analysierte, auf die Erfahrungsberichte über Krankheit und Behinderung übertragen und entsprechend angepasst.

13

14

Körperlicher Umbruch

Tiefe: Bis auf eine Ausnahme (Peinert 2002) ergänzen in allen Berichten Erinnerungen an früher Erlebtes die Erzählung des körperlichen Umbruchs. Entweder wird der Verlust der gewohnten Körperlichkeit als ein Teil des Lebenslaufs erzählt (Buggenhagen 1996, Mills 1996), oder es werden Episoden von zuvor überstandenen Schwierigkeiten, durchgemachten Krankheiten oder anderen prägenden Erlebnissen aufgeführt. Bei zwei Berichten (Bauby 1997, Peinert 2002) teilt der Verlag mit, dass der Autor inzwischen infolge seiner Erkrankung verstorben ist. Auch sind alle Berichte bis auf einen mit zeitlichem Abstand verfasst. Das heißt, sie beruhen auf einer Verarbeitung. Während sieben Berichte (Balmer 2006, Bauby 1997, Härtling 2007, Huth 2003, Lesch 2002, Mills 1996, Peinert 2002) nach sechs Monaten bis nach etwa drei Jahren verfasst sind, liegt bei vier Berichten der körperliche Umbruch, von dem erzählt wird, und die ersten Erfahrungen mit dem umbrochenen Körper 17 oder mehr Jahre zurück (Buggenhagen 1996, Lürssen 2005, Ruscheweih 2005, Todes 2005); einer ist ein Tagebuch über drei Jahre (Hull 1992), doch hier erfolgt die Darstellung aus einer bereits bestehenden Ordnung. Zeit: Die Berichte bilden unterschiedlich lange Erfahrungen eines Lebens mit einer veränderten Körperlichkeit ab. Bei drei von ihnen (Bauby 1997, Härtling 2007, Huth 2005) handelt es sich um einen Zeitraum von weniger als einem Jahr, bei fünf (Balmer 2006, Hull 1992, Lesch 2002, Mills 1996, Peinert 2002) von einem bis drei Jahre und bei vier (Buggenhagen 1996, Lürssen 2005, Ruscheweih 2005, Todes 2005) von 17 bis 26 Jahre. Der linear geschilderte Ablauf des Geschehens wird in manchen Berichten dadurch aufgebrochen, dass von Begegnungen mit anderen erzählt wird, die erst kurz mit einem entsprechend veränderten Körper leben und daher gewissermaßen die eigene Vergangenheit verkörpern. Ein Blick in die Zukunft ergibt sich daraus, dass entweder zusätzlich Personen eingeführt werden, die mit dem umbrochenen Körper oder den veränderten Lebensbedingungen besonders geschickt umgehen, oder solche erwähnt werden, die von derselben Krankheit mehr beeinträchtigt sind oder ihrem Leiden erlegen sind. Interaktion: Die Berichte beinhalten die Erfahrungen, die in den Institutionen des Gesundheitswesens mit den dort tätigen Spezialisten, vor allem mit den Ärzten, gemacht wurden. Dazu kommen die Begegnungen mit den Mitpatienten, aber auch mit Menschen, die kennenzulernen erst mit dem umbrochenen Körper möglich wurde. Ebenso wird geschildert, wie sich durch den körperlichen Umbruch der gewohnte Alltag und die Beziehung zu den vertrauten Menschen veränderte, wie im Austausch mit der Alterität allmählich neue Vorstellungen vom Leben entstanden, an die zuvor nicht zu denken war, und wie diese Vorstellungen mit Hilfe der Alterität oder auch gegen deren Widerstand in die Tat umgesetzt wurden. Fiktion: Was in den Berichten erzählt wird, ist keine objektive Wahrheit, auch wenn es den Anspruch hat, wahrhaft zu sein und auf Tatsachen zu beruhen. Notwendigerweise ist für die Erzählung der Inhalt gestaltet worden, um zu erfassen, was jenseits der Worte liegt. Es ist anzunehmen, dass jeder der Autoren auswählte, was ihm als hervorhebenswert erschien, und dass er wegließ, was ihm unliebsam war oder wo er sich vielleicht falsch verhielt. Wie bei jeder Geschichte erklärt der Autor sein Handeln, erhofft er sich Verständnis oder beruhigt sich mit seiner Erzählung. Texte über chronische Krankheit und Behinderung, die ihre Verfasser als Romane bezeichneten, wurden für die Auswertung nicht berücksichtigt.

Einleitung

Intertextualität: Die Berichte stehen vielfach in einem Zusammenhang mit weiteren Texten. Manche Autoren haben bereits an anderer Stelle über dieselbe Thematik veröffentlicht, beispielsweise philosophisch (Balmer 2002) oder wissenschaftlich (Todes 1983). Andere Autoren sind später noch einmal auf diese oder eine ähnliche Thematik zurückgekommen (Janzer/Balmer 2008, Buggenhagen 2010, Hull 2001). Der Bericht kann Teil eines literarischen Werkes sein (Härtling). Oder der Autor veröffentlichte wissenschaftliche Texte zu anderer Thematik (Hull). Auch ist es möglich, dass sich die Berichte selbst auf andere Texte beziehen: In zweien (Hull 1992: 185, Peinert 2002: 20) finden sich Verweise auf Erfahrungsberichte anderer Autoren, bei mehreren (Balmer 2006: 31f., Bauby 1997: 49f., Buggenhagen 1996: passim, Härtling 2007: passim, Lürssen 2005: 46f., Todes 2005: 166) Bezüge auf Lieder, Gedichte und Romane und bei einem (Hull 1992: passim) Auslegungen von Bibelstellen und religiösen Werken. Intention: Die Berichte wurden aus den verschiedensten Beweggründen heraus verfasst: Vier von ihnen (Balmer 2006, Lürssen 2005, Ruscheweih 2005, Todes 2005) wenden sich an andere von derselben Krankheit Betroffene, um ihnen Mitteilungen zu geben, die ihnen bei ihrer Verarbeitung helfen könnten; zwei (Bauby 1997, Peinert 2002) wollen Freunde, Bekannte und Kollegen über die eingetretenen körperlichen und seelischen Veränderungen in Kenntnis setzen; zwei (Buggenhagen 1996, Mills 1996) beschreiben einen gesamten Lebensverlauf, von dem der körperliche Umbruch einen Teil ausmacht; einer (Härtling 2007) führt aus, wie sich nach der körperlichen Überwältigung ein Kindheitstrauma überwinden ließ; einer (Hull 1992) dient als Tagebuch der Selbstvergewisserung des eigenen Erlebens und der philosophischen Erkundung des umbrochenen Körpers; und zwei wollen ihre gewonnenen Erkenntnisse der Öffentlichkeit mitteilen, nämlich einmal (Huth 2005) das Sinnlose des körperlichen Geschehens, das andere Mal (Lesch 2002) das Sinnhafte. Identität: In die Berichte fließen unterschiedliche Lebenserfahrungen ein. Sie sind von fünf Frauen und sieben Männern verfasst, die im Alter zwischen 20 und 70 Jahren ihre gewohnte Körperlichkeit verloren. Bei den meisten, nämlich bei sieben, wurde die zutreffende medizinische Diagnose im vierten bzw. fünften Lebensjahrzehnt gestellt. Alle sind weiß. Alle sind wohl heterosexuell bzw. niemand ist erklärt homo-, bioder asexuell. Als der körperliche Umbruch geschieht, stehen alle Autorinnen und Autoren mitten in ihrem Leben, mehr oder weniger zufrieden mit dem, was sie bis dahin erlebt und erreicht haben, und mit den Aussichten, welche sie für ihre Zukunft haben. Von Beruf sind etliche Akademiker, einige als Psychoanalytiker, Physiotherapeutin, Medizinisch-Technische Assistentin oder Krankenschwester im Gesundheitswesen tätig, zwei berentet. Sie sind ledig, verheiratet, geschieden oder wiederverheiratet, leben in langjährigen Ehen oder in einer gerade frisch begonnenen Beziehung; sie haben Familie und Kinder, einige mit Enkeln, oder sie sind kinderlos. Kultur: Die Berichte wurden in Deutschland, Österreich, der Schweiz, England und Frankreich zwischen 1990 und 2006 als Buch in erster Auflage veröffentlicht. Sie stammen also aus einem Zeit- und Kulturraum, in dem es noch nicht möglich ist, sich über Soziale Medien unmittelbar an die Öffentlichkeit zu wenden, um in einem Blog vom Erleben chronischer Krankheit oder Behinderung zu berichten, sondern alle Ausführungen sind vor der Drucklegung in einem Verlag lektoriert und redigiert worden. Die Berichte beziehen sich auf eine Medizin, die zwar mehr und mehr apparativ ausgerüstet,

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aber erst beginnend biomedizinisch ausgerichtet ist und die deutlichen Sparmaßnahmen ausgesetzt, aber noch nicht als ökonomisierte Gesundheitswirtschaft betrieben wird. Krankheit ist ein individuelles Geschehen, und Epidemien oder gar Pandemien scheinen einer fernen Vergangenheit anzugehören. Die Berichte verweisen auf eine Gesellschaft, in der sich Bewegungen von Frauen, Homosexuellen oder Behinderten bilden, um gleichberechtigte Teilhabe und Anerkennung ihrer Lebensweise einzufordern, in der aber die Folgen von Migration erst allmählich beachtet werden. Allgemein ist es ein Zeit- und Kulturraum, in dem die politische Ordnung von der überwundenen Spaltung in Ost und West geprägt ist, sich die Globalisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche meist, wenn überhaupt, erst abzeichnet und in dem es für die Natur zwar einen Umweltschutz gibt, aber die Gefahren durch Erderwärmung, Artenschwund oder Plastikmüll erst ansatzweise zu erahnen sind. Während sich einer der Berichte (Lesch 2002) als der einer Wiederherstellung lesen lässt, sind die übrigen letztlich die einer Suche, wenn auch in einem Fall (Huth 2005) einer zumindest vorerst gescheiterten. Die Berichte des reinen Chaos, wie sie nach einem körperlichen Umbruch auch erzählt werden, sind nicht berücksichtigt, auch wenn in einzelnen Abschnitten erlebtes und überwundenes Chaos dargestellt wird (vgl. Frank 1995: 76–136). Die zwölf Erfahrungsberichte zu chronischer Krankheit und Behinderung wurden unter dem Gesichtspunkt von Identität erfasst und ausgewertet. Dieses psychologische und soziologische Konstrukt wurde gewählt, weil es Körper, Selbst und Alterität verbindet und damit die Dimensionen aufweist, in denen die Geschichte des körperlichen Umbruchs erzählt werden soll. In mehreren Durchgängen wurde jeder Erfahrungsbericht einer strukturierenden Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2000) unterzogen. Dafür wurden aus der Fachliteratur Kriterien für drei Kategorien mit jeweils fünf Unterkategorien abgeleitet, die der Auswertung zugrunde gelegt wurden:4 •





Es ist erstens die Kategorie »Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit und seine unmittelbaren Folgen« mit ihren fünf Unterkategorien »körperliche Überwältigung«, »Inkohärenz«, »Alterität«, »Narration« und »Moratorium«. Es ist zweitens die Kategorie »Die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch« mit ihren fünf Unterkategorien »bisherige Identität einschließlich der Körperidentität«, »Verknüpfung von Ereignis und Identitätsstruktur«, »genutzte äußere Ressourcen«, »angepasste Teilidentitäten und Identitätsempfinden« und »Erzählen und Handeln mit dem umbrochenen Körper«. Es ist drittens die Kategorie »Der umbrochene Körper im sozialen System« mit ihren fünf Unterkategorien »äußere Bewegung«, »Auslegungen und Erkenntnisse«, »soziale Anerkennung«, »Kohärenz« und »Vitalität, Tiefe, Reife«.

Es ist nicht zu vermeiden, dass durch die Einordnung von einzelnen Aussagen in Kategorien Zusammenhänge aufgebrochen werden. Dadurch wird bisweilen getrennt, was

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In allen Kategorien erfolgt ein Bezug zu Keupp et al. 1999. Zusätzlich wurde in den Unterkategorien weitere, an den jeweiligen Textstellen angegebene Literatur hinzugezogen.

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im Alltag von Gleichzeitigkeit oder Überschneidung bestimmt ist. Denn bereits unmittelbar nach dem Verlust der Kohärenz kann sich eine neue Handlungsfähigkeit mit dem umbrochenen Körper ergeben, und Bereiche der Identität können noch von Spannungen geprägt sein, wenn Erkenntnisse zu der Alterität in einem sozialen System gewonnen werden. Da Aussagen oft mehrdeutig sind, war es außerdem nicht möglich, sie alle nur einer einzigen Kategorie zuzuordnen. Daher finden sich einige in zwei oder sogar drei Kategorien. In der Darstellung folgt die Geschichte des körperlichen Umbruchs den Kategorien und Unterkategorien der Inhaltsanalyse. Sie gliedert sich daher in drei Teile mit jeweils fünf Kapiteln: Der erste Teil behandelt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit und seine unmittelbaren Folgen. Dafür wird zuerst das Körperliche in eine somatische, soziale und psychische Dimension aufgefächert und dann ausgeführt, wie die körperliche Veränderungen mit Schmerz, Angst und Scham erlebt werden, wie sich die Alterität, auf die ein Subjekt bezogen ist, durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit wandelt und wie infolge der veränderten Körperlichkeit die vertraute Narration aufgehoben und eine neue eingeübt wird, ehe das Moratorium erläutert wird, in dem sich das Subjekt in Folge des körperlichen Umbruchs vorübergehend befindet. Im zweiten Teil geht es um die Identitätsarbeit, die durch den körperlichen Umbruch bedingt ist. Dafür wird zuerst das Konstrukt der Identität eingeführt und die bestehende Struktur der Identität eines Subjekts einschließlich der Körperidentität beschrieben und dann gezeigt, wie im Selbst des Subjekts das körperliche Geschehen und sein Erleben mit früheren Erfahrungen abgeglichen und verknüpft wird, wie für dessen prozesshafte Verarbeitung ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen der verschiedenen sozialen Systeme genutzt werden und wie sich daraus ein subjektives Identitätsempfinden ergibt, das der veränderten Körperlichkeit angepasst ist, ehe beschrieben wird, wie das Subjekt gegenüber der Alterität von seinem umbrochenen Körper erzählen und mit ihm handeln kann. Der dritte Teil widmet sich dem umbrochenen Körper im sozialen System. Dafür wird zuerst dargelegt, wie die kollektive Identität von westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende ebenso dazu beiträgt, den Verlust der gewohnten Körperlichkeit zu einem Widerfahrnis (vgl. Waldenfels 2002: 9) zu machen, wie es das Fremde und Widrige des körperlichen Umbruchs wieder in eine sozial anerkannte Ordnung einfügt, und dann darauf eingegangen, welche Erkenntnisse das Subjekt durch die Auslegung einer bei ihm festgestellten chronischen Krankheit und Behinderung zu gewinnen vermag, welche Anerkennung ihm für die erfolgreiche Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch von der Alterität zuteil wird und welche Authentizität es mit dem umbrochenen Körper erreicht und wie es sie in die sozialen Systeme einbringt, denen es angehört. Indem für die Geschichte des körperlichen Umbruchs Erfahrungsberichte herangezogen werden, die in der Art und Dauer der körperlichen Veränderungen, in den Lebenserfahrungen ihrer Verfasser, in ihren Absichten und ihren Stilen verschieden sind, ist es möglich, diese Geschichte in vielen Einzelheiten zu schildern. Aber meine Erzählung greift nicht nur die Aussagen derjenigen auf, die einen körperlichen Umbruch erlebten und darüber berichteten. Zu ihnen fügen sich die Befunde derjenigen, die sich wissenschaftlich mit einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit, mit Fragen der Identität oder mit verwandten Gebieten befassten. Neben der Medizin

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sind es vor allem Bezüge zu Psychoanalyse, Psychologie, Soziologie, Literaturwissenschaft und Philosophie, welche in die Darstellung einfließen. Damit wechseln sich in ihr Theorie, das Geschehen des körperlichen Umbruchs und Zitate aus den Erfahrungsberichten ab. Werden allein die Stimmen der betroffenen Personen gelesen, ohne die theoretischen Überlegungen mit zu bedenken, wirken sie wie ein Gespräch eigener Art, in dem es um einen Austausch über die gemachten besonderen Erfahrungen mit der Körperlichkeit geht, bei dem der eine mehr, die andere weniger zu sagen hat. Doch geht es nicht darum herauszuarbeiten, wie die Einzelnen ihren körperlichen Umbruch erlebten. Vielmehr soll ausgehend vom subjektiven Erleben der Einzelnen möglichst genau und anschaulich über den Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung im Allgemeinen erzählt werden. Was die Einzelnen sagen, wird als Aussagen eines nicht näher bezeichneten Subjekts abstrahiert, jedoch bleibt eine Zuordnung der Zitate zu den einzelnen Personen über die jeweilige Fußnote möglich. Dieses Subjekt, das die Geschichte des körperlichen Umbruchs trägt, wird als gesellschaftlich bestimmt angesehen und ist stets äußeren Umständen unterworfen, verfügt aber zugleich über Selbstbewusstsein und vermag zu denken, zu erkennen und zu handeln; als geschichtliches Wesen ist es in eine kulturelle Lebenswirklichkeit eingebunden. Vertraute Begriffe wie Krankheit, Behinderung, Patient und Arzt werden möglichst nur dann verwandt, wenn die Bedeutungen, die sie unausgesprochen vermitteln (vgl. Gergen 2002: 17–25, 130–143), ausdrücklich gemeint sind. Ähnlich wie bei Fachausdrücken, die noch nicht in die Umgangssprache eingegangen sind, wird versucht, an ihrer Stelle mit eigenen Worten zu bezeichnen, was durch diese Begriffe besagt wird. Damit geht die von mir erzählte Geschichte des körperlichen Umbruchs mit einer hermeneutischen Auslegung vertrauter Begriffe wie Krankheit und Behinderung, Arzt und Patient einher. Solange angenommen wird, dass ihr Inhalt nicht weiter hinterfragt werden muss, lässt sich in ihnen nichts anderes erkennen, als die Tatsachen, die sie vermeintlich bezeichnen. Damit bleibt verborgen, dass in diese Begriffe ein Vorverständnis eingeflossen ist, welches das, was sie bezeichnen, in einen Zusammenhang einordnet. Um den Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung von seinem vermeintlichen Verständnis als Krankheit zu trennen und die Gleichsetzung der dadurch bedingten körperlichen Veränderungen mit einer Behinderung rückgängig zu machen, wird das körperliche Geschehen wieder als Gegebenheit eingesetzt. Das passiert, indem von ihm in aller Ausführlichkeit erzählt wird; denn die Sprache der Medizin schließt ab, wenn sie den Verlust der gewohnten Körperlichkeit in Zahlen misst und wenn sie als objektiven Befund bezeichnet, was eine kulturell überlieferte Interpretation ist. Statt den körperlichen Umbruch mit Fachausdrücken zu erklären und scheinbar verstehbar zu machen, ist er in eine Sprache zu fassen, die mitteilt, was existentiell Menschliches in ihm geschieht. Doch auch wenn dieses Geschehen, bei dem die gewohnte Körperlichkeit für längere Zeit oder auf Dauer verloren geht, als körperlicher Umbruch bezeichnet wird, interpretiert selbst dieser Begriff bereits wieder etwas, das sich vom üblichen Erleben absetzt. Indem das durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung Gegebene als Geschichte eines körperlichen Umbruchs erzählt und das Vorverständnis aufgezeigt wird, das in die üblicherweise verwendeten Begriffe von Krankheit und Behinderung, Arzt und Patient einfließt und das in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende so selbstverständlich ist, dass es ih-

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ren Mitgliedern nicht bewusst ist, wird versucht, die Wirklichkeit sichtbar zu machen, die in diesen Begriffen verborgen ist und die von chronisch kranken oder behinderten Menschen gelebt wird. Die Geschichte des körperlichen Umbruchs führt zu Erkenntnissen, die mit mehreren wissenschaftlichen Gebieten verbunden sind. Zu nennen sind unter anderem •







die narrative Medizin, nämlich wie es von Patienten erlebt wird, chronisch krank oder behindert zu werden, welche Lebensbereiche davon betroffen sind und was für psychische und soziale Anpassungen über die Zeit hinweg erfolgen, die Rehabilitationswissenschaften, nämlich wie ein Kranker mit für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden körperlichen Veränderungen umgeht und wie sie sich auf seine Beziehungen zur Alterität auswirken, die Identitätsforschung, nämlich was es für ein Subjekt bedeutet, wenn die im Laufe des bisherigen Lebens erworbene Passung von Identität und Körper verloren geht und ungewohnte körperliche Erfahrungen in die Identität eingebaut werden müssen und welche Rolle dabei der Alterität zukommt, und die Disability Studies, nämlich wie aus einem bisher nichtbehinderten Menschen ein behinderter wird, was dabei körperlich, psychisch und sozial zusammenwirkt, wofür ein Mensch mit Behinderung sozial anerkannt wird und wie seine Körperlichkeit ihn das soziale System erkennen lässt, dem er angehört.

Doch letztlich sind es philosophische Themen, die in der von mir erzählten Geschichte des körperlichen Umbruchs abgehandelt werden, nämlich ob das Wesen eines Menschen an eine bestimmte Körperlichkeit gebunden ist, wie mit Widerfahrnissen eines Lebens gut umzugehen ist und was es braucht, um selbst unter unerwünschten, nicht zu ändernden Gegebenheiten ein erfülltes Leben zu führen. Dabei werden die Konstrukte von chronischer Krankheit und Behinderung als ein herausragendes Kulturgut betrachtet, das einem sozialen System wie einem Subjekt gleichermaßen Optionen aufzeigt, Relevanz vermittelt und Halt gibt, wenn unvorhergesehen, für längere Zeit oder auf Dauer dem kulturell anerkannten Ideal der Körper- und Affektkontrolle nicht mehr genügt werden kann. Die besondere Lebens- und Welterfahrung von chronisch kranken und behinderten Menschen lässt nicht nur verstehen, wie Körper, Identität und Alterität zusammenwirken, um eine bis dahin gewachsene Persönlichkeit reifen zu lassen. Sie lässt auch Strukturen eines sozialen Systems hervortreten, die im Alltag mit einem unversehrten Körper nur selten wahrgenommen werden. Dass ich mich ausführlich mit dem durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung bedingten Verlust der gewohnten Körperlichkeit und den Folgen für die Identität befasst habe, liegt in meiner Körperlichkeit begründet. Nachdem ich mit knapp fünf Jahren eine Polio-Erkrankung mit bleibender Lähmung eines Beines überstanden hatte, dauerte es fast 40 Jahre, bis ich anfing, über mein Erleben zu sprechen. In dieser Zeit lernte ich, mit dem Makel zu leben. Denn weder das geweihte Wasser, das mir als Kind von einer Marien-Wallfahrt nach Lourdes mitgebracht wurde, noch jahrelange Krankengymnastik oder Operationen an den Beinen brachten die Schädigung zum Verschwinden. Mit einem Studium der Medizin, mit einer Weiterbildung zum Psychiater und zum Psychoanalytiker und mit der Gründung einer Familie entfaltete sich mein Leben. Ich

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erfuhr dabei sehr vieles, was mein Selbstwertempfinden stärkte. Doch gab es immer wieder Augenblicke, wo ich schmerzhaft merkte, dass ich mir in meiner behinderten Körperlichkeit fremd geblieben war. Lange nahm ich sie als schicksalshaft hin, bis ich mich dann doch stark genug fühlte, zu versuchen, mein Behindertsein in mein Leben einzubeziehen. Mit großer Angst suchte ich das Gespräch mit anderen behinderten Menschen.5 Eine Vielzahl zwischenmenschlicher Begegnungen führte dazu, dass sich mein Selbstverständnis und die Beziehung zu meinem Körper nach und nach wandelte. Daraus entstand allmählich das Bedürfnis, mich in meiner Geschichte noch mehr zu verstehen. Nicht ohne Angst nahm ich mir vor, anhand von als Buch veröffentlichten Erfahrungsberichten über chronische Krankheiten oder spät erworbene Behinderungen herauszufinden, was es mit mir gemacht haben könnte, dass ich im fünften Lebensjahr meine gewohnte, altersgemäße Körperlichkeit verlor, also die Körperlichkeit, die ich mit den Anderen gemeinsam gehabt hatte und die auch die Anderen bei mir erwarteten. In die Auswertung der Erfahrungsberichte und in die Darstellung der Ergebnisse sind einige persönliche Voraussetzungen eingeflossen, die erwähnt werden müssen. Sie liegen zum einen darin, dass ich männlich, weiß und heterosexuell bin und dass ich demselben Zeit- und Kulturraum angehöre, auf den sich die Erfahrungsberichte beziehen. Sie ergeben sich zum anderen aus meiner Biographie. Durch meine Erfahrung als Behinderter ist mir zunächst aus eigenem Erleben vertraut, was in den Erfahrungsberichten ausgeführt wird. Auch ich war als Patient in Krankenhäusern und in der Behandlung von verschiedenen Spezialisten des Gesundheitswesens, entfremdet von meinem Körper und auf der Suche nach Wegen, wie ich mir zu eigen machen kann, was mir mit ihm geschehen ist. Aus meiner Tätigkeit als Psychoanalytiker und Gruppentherapeut bin ich es zudem gewohnt, den Einzelnen in seinen Beziehungen zur Alterität zu sehen und den emotionalen Gehalt des Nicht-Gesagten zu erfassen. In Langzeittherapien bekam ich an vielen Beispielen mit, wie psychische Krisen zu persönlichem Wachstum führen können. In meiner Sozialisation als Arzt lernte ich darüber hinaus viele Krankheitsbilder kennen, die mit einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit verbunden sind, behandelte ich die Patienten, die dadurch beeinträchtigt waren, nahm ihre Krankengeschichte auf und untersuchte klinisch ihre geschädigten Körper. Durch mein Aufwachsen als Kind von Eltern, deren Jugend und junges Erwachsensein durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg geprägt war, bekam ich schließlich von klein auf vermittelt, dass der Tod selbst dann anwesend ist und die Lebenden beeinflusst, wenn nicht über ihn gesprochen wird. Vor allem aber begegnete ich immer wieder Menschen, die einen körperlichen Umbruch erlebt und in unterschiedlichster Weise verarbeitet hatten. Mit anderen Behinderten zusammen erkundete ich in partizipativer Forschung, was es heißt, in einer westlich Gesellschaft der Jahrtausendwende mit einem Körper zu leben, der allgemein als negativ von der Norm abweichend angesehen wird. Als Psychotherapeut hörte ich Geschichten sowohl von Patienten, die durch

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An der Sommer-Universität »Disability Studies in Deutschland – Behinderung neu denken!« 2003 in Bremen hielt ich einen Workshop zum Thema »Behinderung als Trauma – Über die Verleugnung, die Ausgrenzung und die Ausmerzung abweichender Körperlichkeit« (vgl. Richarz 2003). Daran anschließend wurde die Thematik von 2004 bis 2007 in der von mir geleiteten Berliner Arbeitsgruppe »Behinderung und Trauma« weiter behandelt.

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den körperlichen Umbruch in ihrem Selbstverständnis anhaltend erschüttert waren, als auch von denjenigen, die ihre Identität erfolgreich dem durch chronische Krankheit oder Behinderung veränderten Körper angepasst hatten. Indem ich als Kind ebenso neugierig wie verstohlen den kriegsbeschädigten Architekten beobachtete, wie er mit seinem einen verbliebenen Arm die Baupläne entrollte, den Stumpf des anderen dabei einsetzte und dann den Eltern das geplante Bauvorhaben erläuterte, erhielt ich früh eine Ahnung davon, was es bedeuten mag, mit einem umbrochenen Körper im Leben zu stehen. In einem zweifachen Zirkel von Selbstverständnis und Verständnis des berichteten körperlichen Geschehens und von Alltagserfahrung und Erfahrung des Selbst veränderte sich in den 15 Jahren, in denen ich an der Geschichte des körperlichen Umbruchs schrieb, mein allgemeines Identitätsempfinden. Zum Psychoanalytiker, der hinter der Couch sitzend das Erleben seiner Patienten deutet, ist der Co-Leiter einer Tanzinitiative getreten, deren Anliegen es ist, den Zeitgenössischen Tanz durch körperliche Vielfalt zu bereichern.6 Aus einem Körper, für dessen Schädigung ich mich schämte, ist ein Körper geworden, der mich erkennen lässt, wer die Anderen sind. In der langjährigen Beschäftigung mit den Erfahrungsberichten wurde mir deutlich, dass jemanden für chronisch krank oder behindert zu erklären, mindestens genau so viel über das soziale System aussagt, in dem es geschieht, als über die Betreffenden und dass es zukünftig Bestimmungen des Körperlichen braucht, die über die kulturell üblichen Konstrukte von Alter, Geschlecht, Herkunft, Rasse, Sexualität oder Behinderung hinausgehen. Im Laufe dieser Jahre merkte ich, dass meine Lebenserfahrungen mir eine Sichtweise der Wirklichkeit vermitteln, die auch dann zutreffen kann, wenn sie nicht von allen geteilt wird.

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Die von mir seit 2010 zusammen mit Evelyne Walser-Wohlfarter geleitete Initiative tanzfähig will den Zeitgenössischen Tanz allen zugänglich machen, die tanzen wollen, unabhängig von Alter, Behinderung, Herkunft oder Vorerfahrung: www.tanzfaehig.com

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Erster Teil

Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit  und seine unmittelbaren Folgen

Der erste Teil der Geschichte des körperlichen Umbruchs behandelt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit und seine unmittelbaren Folgen. Dafür wird im ersten Kapitel das Körperliche in eine somatische, soziale und psychische Dimension aufgefächert und geschildert, wie durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung dem Subjekt die üblicherweise abwesende somatische Dimension der Körperlichkeit so gegenwärtig wird, dass sie sein Selbst überwältigt. Im zweiten Kapitel wird ausgeführt, wie das ungewohnte körperliche Geschehen ein inkohärentes Erleben und Verhalten bedingt; es wird im Einzelnen dargestellt, wie die körperliche Kohäsion verringert, die Kontinuität des Erlebens beeinträchtigt und die Flexibilität der Körpergrenzen gestört ist. Das dritte Kapitel beschreibt, wie sich durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Alterität verändert und das Subjekt seine bisherige Selbstbezogenheit verliert: Durch den Eintritt in die Institution Gesundheitswesen begegnet es einer ihm bis dahin weitgehend unbekannten Alterität, wird dort zum Patienten, und auch die vertrauten Anderen treten ihm danach anders gegenüber. Im vierten Kapitel geht es darum, dass infolge des körperlichen Umbruchs die gewohnte Narration bis zur Sprachlosigkeit aufgehoben wird; zugleich wird in den Beziehungen zu den Spezialisten des Gesundheitswesens dem Subjekt ein bis dahin fremdes Sprechen über den Körper vermittelt und in der Interaktion eingeübt. Abschließend wird im fünften Kapitel das Moratorium erläutert, das dem Subjekt wegen der Erschütterung seiner Identität infolge des körperlichen Umbruchs gewährt wird, und seine beginnende Rückkehr in den Prozess der Identitätsarbeit aufgezeigt. Danach erfolgt der Übergang in den zweiten Teil der Geschichte des körperlichen Umbruchs, der sich mit der Anpassung der Identität an die veränderte Körperlichkeit befasst.

1. »Das Martyrium hielt an.« – Das körperliche Geschehen

Durch den Körper ist jeder Mensch Teil der Welt. Während sich die Körperlichkeit von der Kindheit bis ins Alter, von der Geburt bis zum Tod fortlaufend ändert, gibt sie mit ihrer jeweiligen Beschaffenheit vor, wie das Subjekt mit der Welt verbunden ist und was es in ihr zu erleben vermag. Die Struktur, die einer Körperlichkeit in ihrer somatischen, sozialen und psychischen Dimension eigen ist, bestimmt mit den ihr zur Verfügung stehenden Funktionen die Dynamik, die einen Körper ausmacht, und die Dynamik der vom Körper ausgeübten Funktionen prägt wiederum seine Struktur. Dabei sind Struktur und Dynamik des Körpers und die Art seiner Wechselwirkung mit der äußeren Welt dem Subjekt meist unbewusst. Sie werden ihm nur dann bewusst, wenn ein Geschehen innerhalb oder außerhalb seines Körpers eine besondere Aufmerksamkeit einfordert. Um nachvollziehbar zu machen, was es bedeutet, die gewohnte Körperlichkeit zu verlieren, werden zunächst die drei Dimensionen der Körperlichkeit beschrieben, nämlich der somatische Körper (1.1), der soziale Körper (1.2) und der psychische Körper (1.3); sie werden unter ähnlichen Gesichtspunkten abgehandelt. Im Anschluss daran wird im Einzelnen geschildert, wie die üblicherweise abwesende somatische Dimension der Körperlichkeit dem Subjekt durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung gegenwärtig wird (1.4) und welche erste Antworten die Alterität gibt, um die körperliche Überwältigung zu beherrschen (1.5). Mit diesen Angaben kann sich im Weiteren die Geschichte des körperlichen Umbruchs in ihrer somatischen, sozialen und psychischen Dimension entfalten.

1.1

Die somatische Dimension der Körperlichkeit

Zum Wesen des somatischen Körpers: Bei der somatischen Dimension der Körperlichkeit bestimmt der Aufbau der Sinnesorgane, was das Subjekt von der Welt wahrnimmt, und es sind seine motorischen Fähigkeiten, die vorgeben, wie es in ihr handeln kann. Sein sensomotorischer Körper ist von seinen Eigenschaften darauf ausgerichtet, der äußeren Welt zugewandt zu sein und mit ihrer Vielfalt umzugehen (vgl. Leder 1990:

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Körperlicher Umbruch

20–23). Der sensomotorische Körper ist an sich ekstatisch: Wenn er tätig ist, sei es, dass er sich bewegt, sei es, dass er wahrnimmt, wird er vom Subjekt nicht als solcher bewusst empfunden. In seiner Aufmerksamkeit ist das Subjekt allein auf das Ziel ausgerichtet, dem seine Tätigkeit gilt, aber nicht auf das Organ, das sie ausführt, und auch nicht auf all die anderen Organe, die es braucht, damit dieses eine Organ seiner Tätigkeit nachkommen kann. Die Wechselwirkung mit der äußeren Welt ist aber nicht auf den sensomotorischen Körper beschränkt. Zu ihr kommt es auch im viszeralen Körper (vgl. Leder 1990: 38–47). Ihm sind all die körperlichen Strukturen zuzuzählen, die mit der Aufnahme und der Ausscheidung von Nahrung und Flüssigkeit, dem Ein- und Ausatmen, der Fortpflanzung oder dem jeweiligen Verhältnis des somatischen Körpers als Gesamtes zu seiner augenblicklichen Umwelt befasst sind. Während der sensomotorische Körper im Wesentlichen aus den fünf Sinnen und der quergestreiften Muskulatur besteht, gehören zum viszeralen Körper viele verschiedene Organe, die in ihrer Arbeitsweise hoch spezialisiert sind und als gastrointestinales, kardiopulmonales, urogenitales oder endokrines System zusammengefasst werden. Sie führen ihre Tätigkeit Tag ein, Tag aus in anhaltender Regelmäßigkeit aus, ohne dass das Subjekt ihnen eigens Aufmerksamkeit widmen muss. Denn das Subjekt merkt nicht, wenn es verdaut oder Thyroxin produziert. Der viszerale Körper ist an sich rezessiv: Solange er den Aufgaben nachkommt, die er zu bewältigen hat, tritt er ganz zurück und bleibt in den Tiefen des Körpers verborgen. Der Teil des somatischen Körpers, der nicht unmittelbar in den Austausch mit der Umwelt eingebunden ist, aber mit seiner Tätigkeit wesentlich dessen Leben erhält, soll als konnektiver Körper bezeichnet werden.1 Er umfasst u.a. Bindegewebe, Fettgewebe, Knorpel und Knochen, das Nervensystem und das blutbildende sowie das lymphatische System. Es ist grundsätzlich nicht möglich, ihn mit Aufmerksamkeit zu bedenken. Zu ihm gehört auch das Gehirn, das sich ebenfalls weder in seinem Bestand empfinden noch in seiner Tätigkeit wahrnehmen lässt; ihm kommt das besondere Vermögen zu, den sensomotorischen Körper bewusst zu steuern. All diese Teile des somatischen Körpers, der sensomotorische ebenso wie der viszerale oder der konnektive, können in ihrer Struktur und Funktion durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung so schwerwiegend geschädigt werden, dass sie vorübergehend oder dauerhaft ihre Tätigkeit überhaupt nicht mehr oder allenfalls noch eingeschränkt auszuüben vermögen. Es ergibt sich dann ein lang anhaltender oder bleibender körperlicher Umbruch. Austausch und somatisches Wohlbefinden: Das Verhältnis des somatischen Körpers zu seiner Umwelt hängt davon ab, ob er sich in einem inneren Gleichgewicht befindet oder ob in ihm ein Zuviel oder ein Zuwenig besteht, zu dem es wiederkehrend kommt. Wenn der Körper in eine Beziehung zur Umwelt tritt, zielt seine Tätigkeit darauf ab, den Ausgleich herbeizuführen, der zu seinem erneuten Wohlbefinden erforderlich ist. Überwiegt in ihm der Mangel, erwächst ein Begehren, damit jenem abgeholfen wird,

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Während Leder 1990 zwischen sensomotorischem Körper, viszeralem Körper und Gehirn unterscheidet, wird hier zusätzlich ein konnektiver Körper eingeführt, dem neben dem Gehirn auch andere die einzelnen Organe verbindende und übergeordnet steuernde körperliche Systeme zugeordnet werden.

1. Das körperliche Geschehen

wie jeder Überschuss nach unmittelbarer Abfuhr verlangt. Es sind die Bedürfnisse des viszeralen Körpers nach einer ausreichenden Zufuhr von Sauerstoff, Nahrung und Flüssigkeit und nach einer genügenden Abfuhr von Kohlendioxid, Kot und Urin, nach einer angemessenen Temperatur, nach einem ausgeglichenen Verhältnis von Schlafen und Wachen und nach einem Abbau seiner Libido, die von jedem Körper in zyklischen Abläufen befriedigt werden müssen. Dabei ist es gerade der konnektive Körper, der am wenigsten unmittelbar auf die umgebende äußere Welt bezogen ist, der am meisten bestimmt, in welchem Umfang der Austausch zwischen Körper und Umwelt erfolgen muss. In seinen Organen wird das innere Ungleichgewicht festgestellt, das zu beheben ist. Denn es ist das Fehlen des Zuckers, der den einzelnen Zellen die für ihre Tätigkeit benötigte Energie liefert, welches die Stärke des Hungers bestimmt, aber nicht die Füllung des Magens. Ebenso ist es das Übermaß an Stoffwechselendprodukten, das lebensnotwendig aus dem Körper auszuwaschen ist, um nicht den gesamten Organismus zu schädigen, das zur Ausscheidung führt, aber nicht die Niere, die danach verlangt. Für den Ausgleich als solchen zu sorgen, ist die Aufgabe des viszeralen Körpers. In seinen Organen findet der eigentliche Austausch statt, der das verlorene Gleichgewicht wiederherstellt. Dem sensomotorischen Körper schließlich kommt es zu, die Voraussetzungen zu schaffen, damit der Austausch vollzogen werden kann. Dafür muss er seinerseits in eine Wechselwirkung mit der äußeren Welt treten. Die Muskeln des Armes führen die Limonade an den Mund, durch die der quälende Durst beseitigt werden soll, und das Auge sieht den stillen Ort, an dem die Notdurft verrichtet werden kann. Aber wiederum ist es nicht das Auge, das um seiner selbst sehen, oder der Muskel, der sich um seiner selbst willen bewegen will. Gelingt im Austausch mit der äußeren Welt der Ausgleich des inneren Zuviel oder Zuwenig, dann befindet sich der Körper in einem Gleichgewichtszustand. Er geht mit Wohlbefinden einher. Das Vermögen, den Gleichgewichtszustand immer wieder aufs Neue herzustellen, wird gemeinhin als körperliche Gesundheit angesehen. Solange dieser Zustand besteht, wird der Körper als solcher kaum bemerkt. Er ist gewissermaßen abwesend. Möglichkeiten somatischer Steuerung: In ihrer jeweiligen Tätigkeit lassen sich diese drei Teile des somatischen Körpers, also der sensomotorische, viszerale und konnektive Körper, in unterschiedlichem Maße willentlich steuern. Der konnektive Körper vermittelt dem Subjekt ein »Es geschieht mir« und ist in seiner Tätigkeit nicht mit dem Willen zu beeinflussen. Auch wenn das Subjekt es wollte, es kann nicht mehr Immunglobuline produzieren, um dadurch besser mit den Viren fertig zu werden, die in seinen Körper eingedrungen sind. Anders dagegen der viszerale Körper und der sensomotorische Körper. Während jener das Subjekt einem »Ich muss« unterwirft, nämlich atmen, essen, trinken, Urin und Kot ausscheiden usw., gilt für diesen ein »Ich kann«, nämlich mich bewegen, hören, riechen, sehen oder schmecken. Ohne dass es bemerkt wird, wirken die drei Teile des somatischen Körpers zusammen. Die Organe des viszeralen Körpers entziehen sich zwar dem bewussten Wollen und Handeln. So ist es nicht möglich, die Bauchspeicheldrüse willentlich dazu zu bringen, mehr Hormone herzustellen. Aber nach dem Verzehr eines reichhaltigen Mittagessens kann man sich dazu entschließen, einen Spaziergang zu machen, um die Verdauung anzuregen. Dem entsprechend führt eine starke Produktion von Insulin zur unangenehmen Empfindung von Hunger,

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der auf jeden Fall früher oder später gestillt werden muss, indem gezielt Bewegungen gemacht werden, die diesem Zweck dienen, die aber als solche auch für eine begrenzte Zeit aufgeschoben werden können. Gerade bei den Tätigkeiten des sensomotorischen Körpers ist es meistens möglich, bewusst zu entscheiden, ob sie ausgeführt oder unterlassen werden sollen. Abgesehen von extremen Bedingungen wählt das Subjekt willentlich, welchen Sinneseindruck es in sich aufnehmen oder von welchem es sich abwenden will und welche Gliedmaße es bewegen will und welche nicht. Wird aber aus welchen Gründen auch immer von außen dem sensomotorischen Körper die Freiheit genommen, Art und Umfang seiner Tätigkeit selbst zu bestimmen, geht das Wohlbefinden verloren. Es wird für das Subjekt zur Qual, wenn es Sinneseindrücken nicht zu entkommen vermag, die es stören, oder wenn es sie sich nicht verschaffen kann, falls es ihrer bedarf. Ebenso erlebt das Subjekt es als unangenehm, wenn es Bewegungen nicht ausführen kann, obwohl ihm danach ist, oder wenn es gezwungen ist, sie entgegen seinem Wollen machen zu müssen. Die Gesundheit eines jeden Subjekts nimmt unweigerlich Schaden, sobald sein sensomotorischer Körper dem Müssen unterworfen wird, welches seinem viszeralen so selbstverständlich eigen ist. Den sensomotorischen Körper seines Könnens zu berauben und ihm einem von außen bestimmten Müssen zu unterwerfen, wird infolgedessen in allen sozialen Systemen als Strafe eingesetzt. Dauerlicht in der Arrestzelle oder völliger Reizentzug, Stillstehen bis zur Erschöpfung oder Zwangsarbeit gelten als Verschärfungen der Haft. Sie schränken an sich schon die Möglichkeiten des sensomotorischen Körpers ein, während sie das Befinden des viszeralen oder des konnektiven Körpers nicht unmittelbar beeinflussen. Bewusste Empfindungen des somatischen Körpers: Konnektiver Körper, viszeraler Körper und sensomotorischer Körper sind sich darin gleich, dass sie unbewusst bleiben, solange sie ihre Aufgaben ungestört erfüllen. Es ist dem Subjekt unmöglich, bewusst zu empfinden, wie ein Knochen Gewicht trägt oder das Blut Sauerstoff in das Gewebe schafft. Auch wird weder der Darm bei der Verdauung gespürt noch das Ohr beim Hören oder der Muskel beim Gehen. Allerdings lassen sich diese Teile des somatischen Körpers darin unterscheiden, inwieweit sie selbst bei ungestörter Tätigkeit dem Bewusstsein zugänglich werden können. Während der konnektive Körper dem Subjekt grundsätzlich nicht bewusst wird und es beim viszeralen Körper nur mittelbar durch die Art geschieht, wie er den übrigen Körper beeinflusst, ist es durchaus möglich, dass sich das Subjekt bewusst einer Tätigkeit des sensomotorischen Körpers zuwendet. Das Subjekt schnuppert, um einen angenehmen Duft besonders gut wahrzunehmen zu können, oder es spürt, wie angespannt die Muskeln sind, wenn es den schweren Koffer die Treppen hinauftragen muss. Falls aber doch Empfindungen aus dem viszeralen Körper kommen, sind sie beunruhigend (vgl. Leder 1990: 40–42). Weil sie im Unterschied zu Empfindungen aus dem sensomotorischen Körper üblicherweise fehlen, lässt ihr Auftreten vermuten, dass irgendwelche Abläufe beeinträchtigt sind. Diese Empfindungen lassen sich räumlich nur schwer zuordnen, was bei denen des sensomotorischen Körpers meist leicht gelingt. Die viszeralen Empfindungen kennzeichnet eine räumlichzeitliche Diskontinuität, während die sensomotorischen Empfindungen die Möglichkeit der Kontinuität beinhalten. Da die meisten Empfindungen des viszeralen Körpers

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beunruhigend sind, führt es unvermeidlich dazu, dass sie den Zustand des sensomotorischen Körpers beeinflussen. Sobald es zu viszeralen Empfindungen kommt, bestimmen sie, wie das Subjekt seine Außenwelt erlebt und wie es in ihr handelt. Ein Beispiel kann diese Zusammenhänge veranschaulichen: Der leckere Geruch eines Gänsebratens steigt dem Subjekt unaufhörlich in die Nase und reizt dabei beharrlich ihre Riechzellen. Es kann ihn so lange betrachten, wie es seine Augen offen hält. Durch seine willkürlichen Bewegungen vermag das Subjekt, sich dem Braten anzunähern und ihn sich einzuverleiben. Wenn es ihn heruntergeschluckt und in den viszeralen Körper aufgenommen hat, ist er seinem sensomotorischen Körper entzogen, denn das Subjekt riecht, schmeckt und sieht ihn nicht mehr. Die folgende Passage des Bratens durch Magen und Darm kann weder von ihm wahrgenommen noch beeinflusst werden. Allenfalls spürt das Subjekt ihn mittelbar wieder, wenn sein Fett ihm Übelkeit verursacht. Dann ist der ganze Bauch druckempfindlich und dem Subjekt ist so schlecht, dass es sich von der Welt zurückzieht und möglichst wenig von außen behelligt werden will. Sollte das Subjekt sich jedoch eine Brandwunde zugezogen haben, als es den Braten aus dem heißen Ofen zog, kann es die schmerzhafte Stelle genau bezeichnen und sie betrachten, ohne dass sein Appetit oder sein allgemeines Befinden leidet. Während sich eine Störung in der Tätigkeit des sensomotorischen oder des viszeralen Körpers mehr oder weniger einem Organ zuweisen lässt, erfasst eine Störung des konnektiven Körpers oft den gesamten Organismus. Wenn Zellen ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen, weil ihnen der Sauerstoff fehlt, entwickelt das Subjekt gewaltige Kräfte in seinem sensomotorischen Körper, um das Ersticken abzuwenden und sein Überleben zu sichern. Umwelt und körperliche Gestalt: Die Gestalt des somatischen Körpers wird durch die Wechselwirkung mit der Umwelt geprägt. Das betrifft den viszeralen Körper, über den sich der Austausch vollzieht, ebenso wie den konnektiven Körper, für den der Austausch mit der Welt geschieht, und den sensomotorischen, der dessen Voraussetzungen schafft. So passt sich der viszerale Körper den äußeren Bedingungen an, unter denen er seinen Aufgaben nachzukommen hat. Die Umwelt vermehrt oder vermindert seine Möglichkeiten. Das Herz wird kräftig, wenn es ausdauernde Leistungen erbringen muss, oder der Darm träge, wenn er nicht genügend Ballaststoffe erhält. Auch der konnektive Körper, der selbst nicht im Austausch mit der Umwelt steht, wird in seiner Struktur wesentlich durch äußere Bedingungen geformt. Dadurch, dass er sich ihnen anzupassen vermag, vergrößert er den Raum und die Zeit, in denen sich das Leben entfalten kann. Dem Subjekt ist es möglich, sich unbeeinträchtigt in großer Höhe aufzuhalten, wenn es vermehrt rote Blutkörperchen bildet, um den lebensnotwendigen Sauerstofftransport sicherzustellen. Umgekehrt können die äußeren Bedingungen aber auch sein Dasein gefährden. Enthält die aufgenommene Nahrung nicht genügend Calcium, ist das Leben auf lange Sicht beeinträchtigt, weil die Dichte der Knochen ab- und die Menge des Fettgewebes zunimmt. Die ständige Wechselwirkung mit der Umwelt gestaltet des Weiteren den sensomotorischen Körper. Indem durch die äußeren Bedingungen die Sinne geschärft und die Muskeln trainiert werden, kommt er in die Lage, drohende Gefahren besser zu vermeiden oder lohnende Ziele leichter zu erreichen. Genauso wie der sensomotorische

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Körper sich den Aufwand für nicht mehr benötigte Strukturen einspart, indem sie zurückgebildet werden, kann er seine zeitlichen und räumlichen Grenzen erweitern (vgl. Leder 1990: 30–35). Er dehnt sich zeitlich aus, wenn ihm mit Mühe oder im Spiel zusätzliche Fähigkeiten eingeübt werden, über die er nicht von sich aus verfügt. Er kann dann heute etwas tun, was er sich gestern eigens erworben hat, bzw. erlernt heute etwas, was ihm erst morgen nutzen wird. Indem Werkzeuge entwickelt und eingesetzt werden, dehnt der sensomotorische Körper sich außerdem räumlich aus. Mit ihnen findet er auch dort noch einen Zugang zu Bereichen seiner Umwelt und kann über sie verfügen, wo es ihm ohne sie nicht möglich gewesen wäre. Begrenztheit und Erweiterung des somatischen Körpers: In unterschiedlicher Weise vermitteln die verschiedenen Teile des somatischen Körpers Raum und Zeit. Der konnektive Körper ist nicht in der Lage, sich einen Raum zu erschließen oder ihn selbst zu gestalten, ist aber in hohem Maße vom äußeren Raum abhängig, da die Bedingungen, denen er ausgesetzt ist, sein Leben bestimmen. Der sensomotorische Körper dagegen ist ganz auf den Raum bezogen und gliedert ihn in ein Nah und ein Fern, in ein Hier und ein Dort, in ein Erreichbar und ein Unerreichbar. Mit den Sinnesorganen nimmt das Subjekt den Raum in den Körper auf, und mit der Muskulatur gibt es seinen Körper in den Raum hinein. Auch wenn das Subjekt gezielt den Raum zu erschließen und zu gestalten vermag, ist es von dem bestimmt, was der konnektive Körper verlangt, um sein Wohlbefinden zu bewahren oder wiederherzustellen. Das Subjekt findet mit seinen Sinnesorganen den Bäcker, zu dem ihn dann seine Muskeln bewegen, wenn der Mangel an Glucose es erfordert. Der viszerale Körper bestimmt mit seinen verschiedenen Organen, wie der äußere Raum in den Körper bzw. das Innere des Körpers in den Raum hineingelangt. Er bildet die Grenze, welche Körper und Raum gleichermaßen trennt wie verbindet und über die der stoffliche Austausch zwischen innen und außen erfolgt. Der viszerale Körper ist aber selbst nicht in der Lage, den Raum wahrzunehmen oder sich in ihm zu bewegen. Der konnektive Körper hat gar keinen unmittelbaren Bezug zum äußeren Raum. Ihm ist zu eigen, dass er bleibt: Das Fettgewebe ist; die Lymphe ist. Während der konnektive Körper durch seine Stetigkeit zeitlos ist, ist die Tätigkeit des sensomotorischen Körpers eindeutig durch einen Beginn und ein Ende bestimmt. Jeder Muskel ist nur für eine gewisse Zeitspanne aktiv und kehrt dann zur Ruhe zurück, wie auch ein Sinnesorgan zeitlich begrenzt tätig ist: Man hört ein Geräusch und lauscht, bis es wieder still wird. Dagegen ist das Zeiterleben, das mit dem viszeralen Körper einhergeht, der dauerhafte, aber sich in seiner Geschwindigkeit ändernde Rhythmus. Während der sensomotorische Körper die Grenzen der Zeit bewusst werden lässt, bedeutet es das Ende des Lebens, wenn der konnektive Körper seine Tätigkeit einstellt. Affekterleben: Jedes Ereignis, das den Zustand des Körpers von innen oder von außen beeinflusst, bewirkt etwas in ihm. Es löst Affekte, unbewusste Emotionen oder bewusste Gefühle aus, mit denen das Subjekt bewertet, was ihm geschieht (vgl. Ekman 1984): Furcht kommt auf, wenn etwas wahrgenommen wird, das innerhalb oder außerhalb des Körpers geschieht und ihm gefährlich erscheint. Glück entsteht, wenn etwas Angenehmes in den sensomotorischen oder viszeralen Körper aufgenommen oder etwas Unangenehmes aus ihm entfernt wurde und damit das Wohlbefinden zugenommen hat. Zorn verweist darauf, dass sich etwas innerhalb oder außerhalb des Körpers als

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übermächtig erweist und ihm nicht zu Willen ist, so dass das Subjekt zusätzliche Kraft aufwendet, um sich zu stärken und es doch noch zu beherrschen. Ekel wird empfunden, wenn etwas Widerliches von außen in den Körper eindrang, ohne dass es möglich ist, es wieder loszuwerden, oder wenn vom Körper etwas Widerliches entäußert wurde, ohne dass es sich in ihn zurücknehmen lässt. Trauer heißt, dass dem Körper etwas verloren ging, das ihm als ein Teil seiner selbst erschienen ist. Überraschung schließlich besagt, dass dem Körper von außen oder innen etwas geschieht, das unvorhergesehen ist und sich nicht gleich einordnen lässt. Zu diesen elementaren Emotionen kommen noch nichtelementare affektive Empfindungen: So mischt sich in der Angst Furcht und Erwartung, im Schuldgefühl Freude und Furcht und in der Liebe Freude und Akzeptanz (vgl. LeDoux 1998: 122f.). Wie ein somatischer Körper Affekte empfindet, wie sie von ihm mitgeteilt und wie sie von der Alterität verstanden werden, ist dabei allen Subjekten gemeinsam (LeDoux 1998: 118).2 Aber welche Geschehnisse der Umwelt überhaupt durch den sensomotorischen Körper wahrgenommen und mit welchem Affekt sie erlebt werden, ergibt sich nicht allein aus dem Körper und seinen Vorerfahrungen. Es ist wesentlich von den sozialen Systemen bedingt, denen das Subjekt mit seinem Körper angehört (vgl. Gergen 2002: 137–142). Während sich Lächeln und Lachen in verschiedenen Kulturkreisen gleichermaßen findet und rasende Wut überall Furcht auslöst, erfreut der Pfälzer Saumagen den einheimischen Feinschmecker und lässt er den dazu eingeladenen Kollegen aus dem Nachbarland verächtlich den Mund verziehen. Die dunklen Wolken des herannahenden Sommergewitters ängstigen den Landwirt, weil sie ihn um seine Ernte fürchten lassen, während sie von einem Call-Center-Angestellten, der im Inneren eines fensterlosen, klimatisierten Büros seinen Dienst verrichtet, gar nicht bemerkt werden, und sie den erschöpften Kranken auf seinem Lager hoffen lassen, dass sie ihm endlich die ersehnte Abkühlung bringen werden. Unabhängig davon, wie ein Geschehnis körperlich unbewusst bzw. subjektiv bewusst bewertet wird, weist der dadurch bedingte Affekt darauf hin, dass von außen oder von innen eine Grenze berührt wurde; denn ohne dass es zu solch einer Berührung an den Grenzen des Körpers gekommen ist, gibt es keine Affekte. Ihr Auftreten kennzeichnet, dass in diesem Augenblick ein Innen und ein Außen, ein Vorher und ein Nachher besteht und dass im augenblicklichen Erleben diese räumlichen und zeitlichen Räume voneinander geschieden oder miteinander verbunden werden. Das Affekterleben ist dabei stets unmittelbare Gegenwart. Je nach dem, was die Grenzen des Körpers berührt, können die Affekte so heftig werden, dass sie das ganze Sein bestimmen. Dann ist das subjektive Erleben pathisch (vgl. Waldenfels 2002: 14–22).

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Seit Darwin wird angenommen, dass gewisse emotionale Ausdrucksformen nicht nur bei Menschen, sondern auch bei verschiedenen Lebewesen übereinstimmen.

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1.2

Die soziale Dimension der Körperlichkeit

Zum Wesen des sozialen Körpers: Der menschliche Körper ist nicht nur somatisch bestimmbar, sondern auch sozial.3 Stets befindet er sich in einer Gemeinschaft, mit der er sich fortlaufend austauscht, die er in sich aufnimmt und auf die er einwirkt. In den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende gilt das Verhältnis zu einem anderen Körper als intim, wenn er weniger als 50 Zentimeter entfernt ist, als persönlich, wenn die Entfernung zu ihm unter 120 Zentimetern liegt, als sozial, wenn es weniger, und als öffentlich, wenn es mehr als 3,5 Meter sind (vgl. Hall 1969: 117–125). In der Gemeinschaft mit anderen kann das Subjekt viel leichter die für sein Leben grundlegenden körperlichen Bedürfnisse befriedigen, als wenn es auf sich alleine gestellt ist. In ihr vermag es auch all den weiteren Motivationen nachzugehen, die zu seinem Wesen gehören (vgl. Lichtenberg 1991: 88): In einer Gemeinschaft erhält das Subjekt die lebenswichtige Bindung an andere, wo ihm feinfühlig auf seine körperlichen Äußerungen geantwortet wird und wo es sich mit anderen verbunden fühlt, wo es sich erzählend seiner selbst vergewissert und in den Erzählungen der Alterität wiederfindet und wo es über sich hinausgeht und sein Selbst in einem größeren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang erfährt. In einer Gemeinschaft bekommt das Subjekt auch die Sicherheit, die es braucht, um sich selbst zu behaupten, neugierig die Welt zu erkunden und seine Erlebnisse zu verarbeiten. In einer Gemeinschaft kann das Subjekt weiterhin aversiv reagieren, anderen widersprechen und sich zurückziehen, aber auch einen Schutz vor Gefahren aller Art finden. Und in einer Gemeinschaft ist dem Subjekt schließlich auch sinnliches Vergnügen und sexuelle Erfüllung möglich. Jede Gemeinschaft bildet ein soziales System, das stets mehr ausmacht als die Zahl seiner Mitglieder. Dabei gehört ein Subjekt mit seinem Körper immer mehreren sozialen Systemen gleichzeitig an, die ihrerseits wieder aufeinander bezogen sind (vgl. Bronfenbrenner 1981: 38–42): Im Mikrosystem sind es die Gemeinschaften zu anderen Menschen und Gruppen in den überschaubaren Lebensbereichen wie Familie, Schule, Arbeitsplatz oder Verein. Das Mesosystem umfasst die Gesamtheit der einzelnen Mikrosysteme mit ihren jeweiligen Wechselbeziehungen untereinander, an denen das Subjekt aktiven Anteil hat. Als Makrosystem schließlich wird der gesellschaftliche und kulturelle Rahmen bezeichnet; zu ihm gehören die Normen, Werte, Traditionen und Konventionen einer Gesellschaft ebenso wie die Exosysteme, d.h. die Lebensbereiche, an denen das Subjekt nicht unmittelbar körperlich selbst beteiligt ist, deren Ausgestaltung aber dennoch sein Erleben prägen wie die Behörden, die Massenmedien oder das Gesundheitswesen. Diese verschiedenen sozialen Systeme von der Familie bis zur Gesellschaft beeinflussen das Leben ihrer Mitglieder bis in deren Körperlichkeit hinein. Austausch und soziales Wohlbefinden: Je nach dem, welchen sozialen Systemen das Subjekt angehört, wird es ein und dieselbe äußere Welt anders erleben. Die verschiedenen sozialen Systeme unterscheiden sich darin, welche Affekte in ihnen willkommen sind und offen gezeigt werden dürfen und welche Motivationen anerkannt und

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Der Begriff des sozialen Körpers findet sich mit etwas anderer Bedeutung z.B. bereits bei O’Neill 1985 oder Scheper-Hughes 1987.

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geschätzt, aber auch verurteilt und geächtet werden. Gesucht werden in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende üblicherweise all die Formen des Aufeinandertreffens von Körper und Welt, die mit Freude, Lust und Spaß einhergehen und die Unabhängigkeit des Subjekts und seine Selbstverwirklichung fördern. Während Furcht als Schwäche bzw. Krankheit gilt, Trauer nicht gezeigt werden darf und Äußerungen von Zorn als fehlende Selbstbeherrschung oder soziale Minderwertigkeit gewertet werden, wird es im Gegensatz zum Makrosystem der Gesellschaft im Mikrosystem einer Gruppenpsychotherapie gerade als heilsam angesehen, sich auf die Anderen einzulassen oder die oft als negativ bezeichneten Affekte bewusst zu erleben und sich in ihnen mitzuteilen. Die soziale Dimension der Körperlichkeit zeigt sich auch darin, welche Affekte der somatische Körper in den zwischenmenschlichen Beziehungen auslöst, wenn die Alterität wahrnimmt, wie er sich mit der Welt austauscht. Dabei hat die Aufnahme der Welt in den sensomotorischen und in den viszeralen Körper jeweils im rechten Maß zu erfolgen. Auch wenn die Auffassung, was das rechte Maß ist, in den verschiedenen sozialen Systemen unterschiedlich ist, wird jeweils eine unangemessene Aufnahme als unschicklich betrachtet. Vor allem wird das Zuviel wie das Starren oder das Lauschen, das übermäßige Essen, das maßlose Trinken oder die enthemmte Sexualität abgelehnt, aber es kann auch das Zuwenig wie das Wegschauen oder das Nichtstun oder starke Enthaltsamkeit missbilligt werden. Das Einwirken des sensomotorischen Körpers auf die Welt wiederum wird, abhängig von der Motivation des Subjekts und der von ihm ausgeführten Handlung, sozial entweder anerkannt oder verurteilt, während das des viszeralen Körpers meist mit großer Scham betrachtet wird. So können die Taten eines Subjekts es zum Helden oder zum Verbrecher machen, sodass noch Jahre und Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte später über sein körperliches Handeln gesprochen wird. Dagegen haben aber seine Absonderungen wie Schweiß, Schleim oder Kot im Verborgenen zu bleiben und im Alltag, außer in privaten Beziehungen, nicht Inhalt eines Gesprächs zu werden. Solche kulturellen Normen nicht zu befolgen, wird als peinlich empfunden; außer bei Kleinstkindern gehört es sich nicht, die körperlichen Ausscheidungen öffentlich zu preisen. Möglichkeiten sozialer Steuerung: In seinem täglichen Austausch mit der äußeren Welt wird der Körper in hohem Maße durch die jeweils anerkannten Normen, Werte, Traditionen und Konventionen sozial gesteuert. Über die verschiedenen sozialen Systeme, an denen das Subjekt Teil hat, wird ihm von klein auf veranschaulicht, welches körperliches Verhalten erwünscht und welches zu vermeiden ist. Die höher stehenden Mitglieder vermitteln den übrigen durch ihr Beispiel, aber auch durch die Belohnungen und die Bestrafungen, die sie vergeben, sowie durch Überzeugen und durch Ängstigen, was ein somatischer Körper tun darf und was er besser zu lassen hat. Unmerklich beeinflussen sich die einzelnen Mitglieder eines sozialen Systems dahingehend, dass sie den Austausch mit der Welt in der Weise vollziehen, die sozial anerkannt ist. Die Vorstellungen, was für einen Körper richtig und was falsch ist, schlagen sich in bestimmten Umgangsformen nieder, die von allen geteilt werden, sodass sie innerhalb des sozialen Systems nicht weiter hinterfragt werden. Sich dementsprechend zu verhalten, erscheint den Mitgliedern eines sozialen Systems als von ihnen selbst gewollt. Ohne zu erkennen, wie sehr sie von außen bestimmt sind, schreiben die einzelnen Mit-

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glieder des sozialen Systems ihrem Körper die soziale Steuerung als Teil seines Wesens ein. Solange alle diesen Vorstellungen bereitwillig folgen, gilt das im Alltag geforderte Verhalten als so selbstverständlich, dass seine soziale Bedingtheit nicht weiter bedacht, sondern als natürlich angesehen wird (vgl. Elias 1969: passim). Für die soziale Dimension der Körperlichkeit ist es unerheblich, ob das soziale System, das mit seinen Vorstellungen auf den Körper einwirkt, von einer Familie, einer Bürogemeinschaft oder einem Volk gebildet wird. Es entstehen jedoch Spannungen, wenn soziale Systeme mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen, wie ein Körper sich zu verhalten hat, aufeinander treffen. Bisweilen werden sie so stark, dass sie für einzelne Mitglieder tödlich werden. Für die Angehörigen einer Mafia-Organisation ist es angebracht, körperliche Gewalt einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen, während es ihnen von dem Staat, in dem sie leben, also ihrem Makrosystem, unter Strafe verboten ist. Dabei ändern sich über die Zeit hinweg die Vorstellungen, wie ein Körper sich in einem sozialen System zu verhalten hat, ebenso wie die Begründungen, mit denen sie als angebracht vermittelt werden. So wird in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende der sozial erwünschte Austausch des Körpers mit der Welt nicht mehr mit dem Willen Gottes begründet, sondern von der Steigerung des Wirtschaftswachstums oder der Stärkung der Gesundheit abgeleitet. Bewusste Empfindungen des sozialen Körpers: Solange ein Körper den Vorstellungen der sozialen Systeme, an denen er teilhat, entspricht, wird er weder dem Subjekt noch der Alterität bewusst. Erst wenn der Körper in seinem Verhalten oder seiner Gestalt von dem abweicht, was eine Gesellschaft, eine Familie oder ein Betrieb als angemessen ansieht, fällt er auf. Diejenigen, die es gelernt haben, ihren sensomotorischen Körper in besonderer Weise zu beherrschen und durch ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten seine räumlichen und zeitlichen Grenzen über das übliche Maß zu erweitern, werden geachtet und bewundert. Sie werden zu Vorbildern, denen es gleich zu tun als erstrebenswert gilt. Wer aber den Bedingungen seines sensomotorischen, viszeralen oder konnektiven Körpers durch Anlage, Herkunft, Gebrechen oder andere Umstände so sehr unterworfen ist, dass es ihm nicht oder nicht mehr möglich ist, seinen Körper in der sozial erwünschten Weise zu steuern, gilt den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems als anormal, krank oder kriminell oder wird von ihnen mit Merkmalen wie Behinderung oder Migrationshintergrund als ein Anderer gekennzeichnet. Damit die so Bezeichneten die Alterität mit ihrer Körperlichkeit nicht beunruhigen oder verunsichern, werden sie oft aus dem sozialen System ausgegrenzt, dem sie angehören. Vielfach leben sie in besonderen Einrichtungen, die eigens für sie erbaut oder die allein ihnen gewidmet sind. Ob sie neben dem Wohnhaus ihrer Familie in einen Bretterverschlag gesteckt werden, wie es bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in Island für Geisteskranke üblich war, ob sie von Mauern eingesperrt in Ghettos gehalten oder durch fehlende Zugänglichkeit von Gebäuden ausgeschlossen werden, ob sie nach Sibirien oder Alcatraz gebracht oder in Anstalten für Krüppel, Idioten oder Verbrecher eingeliefert werden, die seit dem 19. Jahrhundert für sie errichtet wurden und die es unter anderen Bezeichnungen in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende weiterhin gibt, ist dabei unerheblich. Stets bezwecken solche Institutionen mehreres: Sie verringern bei denjenigen, die sie erschufen, die Angst, die ansonsten immer dann entsteht, wenn Körper zusammentreffen, die allzu verschieden sind. Auch dient solch eine Institution

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dazu, die täglichen Abläufe zu erleichtern, weil sich die nun noch vorhandenen Körper weitgehend gleichen und es nicht mehr nötig ist, sich auf eine andere Körperlichkeit mit ihren anderen Grenzen und Möglichkeiten zu einstellen. Außerdem zeigt solch eine Institution allen auf, dass es sich lohnt, das gewünschte körperliche Verhalten nach außen zu zeigen und ein anderes Begehren im Inneren zu verbergen. Schließlich ermahnt sie allein durch ihr Vorhandensein alle Mitglieder des sozialen Systems, sich weiter zu bemühen, ihren Körper nach den anerkannten Vorstellungen zu formen. Manche dieser Institutionen besteht einzig und allein zum Zweck der dauerhaften Aussonderung wie die Sicherheitsverwahrung von Kriminellen, manche zusätzlich der Pflege wie Alten- und Behindertenheime, manche der Besserung der körperlichen Befindlichkeit wie Krankenhäuser der Akutbehandlung und der Rehabilitation. In allen sozialen Systemen gilt es darüber hinaus als gerechtfertigt, diejenigen zu töten, die durch ihre abweichende Körperlichkeit und ihr anderes Verhalten die Sicherheit und das Wohlbefinden der übrigen Mitglieder erheblich gefährden. In vielen Staaten ist die Todesstrafe gegen Kriminelle selbstverständlich, in anderen werden mit weitgehender gesellschaftlicher Billigung diejenigen am Leben gehindert, bei denen vor der Geburt eine schwerwiegende körperliche Schädigung festgestellt wird. In bestimmten Familien gebietet es außerdem die Ehre der männlichen Angehörigen, dass sie das Leben derjenigen beenden, die vermeintlich Schande über das soziale System gebracht haben. Soziales System und körperliche Gestalt: Welche Struktur ein Körper bekommt und welche Funktionen er entwickelt, ist nicht nur somatisch durch die lebenslange Auseinandersetzung mit seiner Umwelt bedingt, sondern auch durch die sozialen Systeme, an denen er teilhat. Es ist unvermeidlich, dass sich die Einzelnen die Vorstellungen der sozialen Systeme, denen sie angehören, einverleiben. In den ersten Lebensjahren ist zu erlernen, wie der Körper in sozial erwünschter Weise gesteuert wird. In der Kindheit, die in manchen Gesellschaften sechs bis acht Jahre, in anderen um die Jugend verlängert 20 bis 25 Jahre umfasst, ist zu verinnerlichen, wie sozial anerkannt mit Affekten und Motivationen umzugehen, sich mit der Umwelt auszutauschen und gegenüber der Alterität zu handeln ist. Dabei bestehen bisweilen überraschende kulturelle Einflüsse auf den sensomotorischen, viszeralen oder konnektiven Körper. So weisen türkischstämmige Kinder in Berlin signifikant weniger allergische Erkrankungen wie Asthma und Heuschnupfen auf als deutschstämmige gleichen Alters, jedoch nur solange in ihren Familien türkisch gesprochen wird; wenn aber die Sprache ihres Zuhauses Deutsch ist, gleichen sich die Unterschiede fast vollständig aus (vgl. Grüber et al.: 2002). In allen sozialen Systemen gibt es klare Vorstellungen, wie ein Körper auszusehen hat; und diese Vorstellungen formen die körperliche Gestalt. Sie äußern sich in den Schönheitsidealen einer Gesellschaft. Auch wenn sie sich über die Zeit hinweg ändern, beeinflussen sie bis ins hohe Lebensalter den somatischen Körper, weil ihnen entsprechende Merkmale verstärkt und ihnen widersprechende möglichst beseitigt werden. Vorstellungen, wie ein Körper auszusehen hat, lassen sich auch in Familien finden, so dass körperliche Merkmale, die an geschätzte Angehörige erinnern, hervorgehoben und andere verborgen werden. Ebenso formen Beruf und Freizeit unweigerlich einen Körper. Manche der sozialen Einflüsse auf den somatischen Körper werden nach außen sichtbar. An den Händen

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lässt sich ablesen, wer körperlich und wer geistig arbeitet. Auch traumatische Amputationen durch Arbeitsunfälle, wie sie in frühkapitalistischen Arbeitsverhältnissen häufig erfolgten, waren für alle zu sehen, falls die dadurch veränderten Körper nicht ausgegrenzt wurden. Dagegen findet die Vergrößerung des Hippocampus bei Londoner Taxifahrern durch die von ihnen stark verlangte räumliche Orientierung ganz im Verborgenen statt (vgl. Maguire et al.: 2000). Auch die gesellschaftlichen Gewohnheiten der Nahrungsaufnahme wirken sich auf den somatischen Körper aus. Infolge des gleichzeitigen Konsums von Fernsehprogrammen, Cola und Kartoffelchips ist in den USA ein Körper normal, der anderswo als übergewichtig eingeschätzt wird. Die sozialen Einflüsse können so langsam vonstatten gehen, dass es scheint, der Körper sei schon immer so gewesen. Kaum jemand wird bemerkt haben, dass er sich 2006 mit etwa um 10 Prozent höherer Gehgeschwindigkeit durch seine Stadt bewegt hat als Anfang der 1990er Jahre, wie es vergleichende Messungen ermittelten (vgl. Wiseman 2008: 277). Die sozialen Einflüsse können so nachhaltig sein, dass sie auch dann noch bestehen, wenn das soziale System, das sie vermittelt hat, schon untergegangen ist. Der Umgang, den Institutionen wie Kinderkrippe, Kindergarten und Schule, aber auch Familien in der BRD und in der DDR mit den ihnen anvertrauten Körpern pflegten, war so unterschiedlich, dass selbst dann Westdeutsche noch häufiger als Ostdeutsche in den Spiegel sahen, um sich ihrer körperlichen Attraktivität zu versichern, und Ostdeutsche eine erfülltere Sexualität hatten und unbefangener mit ihrem Körper als Westdeutsche umgingen, als bereits sieben Jahre seit der Vereinheitlichung der politischen Verfassung in Deutschland vergangen waren (vgl. Hessel et al.: 1997). Begrenztheit und Erweiterung des sozialen Körpers: So sehr es zu den Eigenheiten sozialer Systeme gehört, die Körper, aus denen sie sich zusammensetzen, den Vorstellungen anzugleichen, die ihnen wichtig sind, und so sehr sie dazu neigen, diejenigen auszuschließen, die zu stark davon abweichen, so wenig ist es möglich, die Verschiedenheit der einzelnen Körper aufzuheben. Bereits sechs Monate nach der Geburt lässt sich ausmachen, dass jeder Körper sein eigenes Verhalten aufweist, das ihn von anderen unterscheidet. Zwischenmenschlich bildet der Körper eine Grenze. Durch ihn sind die einzelnen Subjekte voneinander getrennt, denn jeder Körper schafft und beinhaltet ein anderes Erleben; und durch ihn sind die einzelnen Subjekte gleichzeitig miteinander verbunden, da es ihnen möglich ist, durch Empathie sich in den anderen Körper hineinzuversetzen und so zu empfinden, als sei der eine der andere. Gerade weil der somatische Körper das eine Subjekt von dem anderen trennt, kann das Bedürfnis groß sein, ein Verhältnis zwischen ihnen zu schaffen, das die Trennung der Körper aufzuheben vermag. Zwischen zwei oder mehreren Körpern geschieht es in der sexuellen Vereinigung; dabei kommt es zu einer scheinbaren Auflösung der Grenzen, bis die beiden Körper durch die gemeinsamen Empfindungen im orgiastischen Höhepunkt vorübergehend als eins erlebt werden. Die Grenze zwischen den Körpern lässt sich auch durch gemeinsam vollzogene Riten aufheben, wie sie jedes soziale System kennt. Das kann ebenso ein Heiltanz sein, an dem alle Stammesmitglieder teilnehmen, wie ein Festessen, ein Gottesdienst oder ein Fußballspiel. Diese Riten lassen zeitlich befristet eine Gemeinschaft entstehen, bei der alle Beteiligten körperlich dasselbe erleben. Die Grenze zwischen den Körpern wird schließlich auch dadurch aufgehoben, dass ihnen die Merkmale, die sie unterscheidbar machen, gezielt genommen

1. Das körperliche Geschehen

werden. Das kann die soziale Dimension der Körperlichkeit betreffen: Indem jedes Mitglied eines sozialen Systems denselben Haarschnitt und dieselbe Kleidung erhält, wird versucht, allen das gleiche Aussehen zu geben. Das kann ebenso die somatische Dimension der Körperlichkeit betreffen: Indem von außen festgesetzt wird, wann die Einwirkung des viszeralen Körpers auf die äußere Welt mittels Stuhlgang und Wasserlassen zu erfolgen hat, oder indem in der Masse der sensomotorische Körper in seiner Empfindung und Bewegung gleichgeschaltet wird, wird versucht, den einzelnen Körpern ihre Besonderheiten zu nehmen. Nicht nur bezogen auf die in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende verlangte Körper- und Affektkontrolle, sondern allgemein hat jedes soziale System ein Maß, wieviel Heterogenität es aushält und wieviel Homogenität es anstrebt (vgl. Bataille 1978). Daraus ergibt sich, wieviel körperliche Verschiedenheit das soziale System in seiner Ordnung zulässt und ab wann es die Anderen jenseits seiner Grenzen zu verorten beginnt. Selbsterkenntnis und Erkennen der Alterität: Im Spiegel der Alterität wird für das Subjekt der eigene Körper erfahrbar. Da das Subjekt körperlich sowohl am Mesosystem teilhat als auch den Mitgliedern anderer sozialer Systeme begegnet, denen es nicht angehört, wird es stets in seiner Körperlichkeit wahrgenommen, nämlich in seiner Gestalt und seiner Haltung ebenso wie in seinem Geruch, im Ausdruck des Gesichts, in der Beschaffenheit der Haut, in der Ausprägung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, in der Kleidung oder in seiner ganzen körperlichen Ausstrahlung. Was dabei von der Alterität bemerkt und dem Subjekt gespiegelt wird, ist vom Selbstverständnis des sozialen Systems bedingt, dem die Anderen angehören. Während die Zuschauer einer Fernsehshow der Wortwitz des Conferenciers beeindruckt und der Herrenschneider Stoff und Schnitt seiner Garderobe erfasst, sieht der Arzt die geröteten Handinnenflächen und schließt auf eine beginnende Leberentzündung. Dadurch, dass sich die Alterität seinem Körper mit besonderer Aufmerksamkeit zuwendet, merkt das Subjekt, dass es einen Körper hat und was diesen ausmacht. Sobald sein selbstvergessenes Einssein mit dem Körper gebrochen wird, löst es in ihm Affekte, Emotionen und Gefühle aus. Das Subjekt kann Freude und Stolz empfinden, dass sein Körper besonders ist, oder Schmerz, Angst und Scham, weil er von der Norm abweicht, je nach dem, wie dessen Eigenheit von der Alterität bewertet wird. Durch seine Körperlichkeit steht das Subjekt als ein relativ Anderer oder ein absolut Fremder dann einer Gemeinschaft gegenüber. Aus einem Wir, in das das Subjekt einbezogen gewesen ist, ist ein Du und ein Ich geworden, die ihr Getrenntsein allenfalls durch Identifikation überwinden können. Wie im Spiegel der Alterität das Subjekt seinen Körper und darüber hinaus sein Selbst erkennt, vermag es umgekehrt gerade durch sein Getrenntsein die sozialen Systeme, denen es angehört, und die Alterität, der es begegnet, zu erkennen. Damit es zur Erkenntnis der Anderen kommt, muss das Subjekt aber in der Lage sein, die Verschiedenheit der Körper auszuhalten. Angefangen vom Säugling, der seinen Kopf von der überstimulierenden Mutter abwendet, über den Jugendlichen, der aus dem Elternhaus auszieht, bis hin zu dem Angestellten, der nach seiner Berentung seinen Arbeitsplatz nicht mehr aufsucht, geht der Erkenntnis der Alterität immer eine körperliche Bewegung voraus, die einer Trennung entspricht.

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Körperlicher Umbruch

Selbst- und Fremderkenntnis sind dabei aufeinander bezogen. Im Sinne des hermeneutischen Zirkels kann das Subjekt tiefer und tiefer sowohl sich selbst erkennen als auch das Wesen der sozialen Systeme, auf die es bezogen ist; und es kann dann erfassen und verstehen, wie sie sein Erleben prägen, lenken und ordnen. Das Erkennen des Selbst und der Alterität bedarf nicht unbedingt der Sprache, sondern es erfolgt auch in den Handlungen, die zwischen dem Subjekt und den Anderen stattfinden. Auch braucht es nicht die körperliche Anwesenheit, vielmehr ist es möglich, dass die erkennende Abgrenzung des Selbst und der Alterität über räumliche und zeitliche Entfernung hinweg gedanklich erfolgt.

1.3

Die psychische Dimension der Körperlichkeit

Zum Wesen des psychischen Körpers: Aus der somatischen und der sozialen Dimension der Körperlichkeit ergibt sich ihre psychische. Sie beinhaltet die Gesamtheit der Erlebnisse und Erfahrungen, die mit dem Körper gemacht werden. Sie lässt sich unterscheiden in Körperschema, Körperselbst und Körperidentität: Das neuropsychologisch zu verstehende Körperschema entsteht aus dem Geschehen im somatischen Körper. In ihm kommt zusammen, was an körperbezogenen Informationen in der Propriozeption von innen und in der Exterozeption von außen gewonnen worden ist. Es umfasst dreierlei, nämlich erstens die Körperorientierung, zweitens das Wissen um die räumliche Ausdehnung des Körpers und drittens die Körperkenntnis (vgl. Bielefeld 1991: 19). In das psychodynamisch zu verstehende Körperselbst4 fließen neben dem Erleben des somatischen Körpers wesentlich die Erfahrungen des sozialen Körpers ein. Wie das Körperschema umfasst es dreierlei, nämlich erstens das Körperbewusstsein, das die Aufmerksamkeit bezeichnet, die das Subjekt dem eigenen Körper zuteil werden lässt, zweitens die Körperausgrenzung, die dazu führt, dass das Subjekt eine Grenze zwischen seinem Körper und der Umwelt erlebt, und drittens die Körpereinstellung, die angibt, wie das Subjekt zu seinem Körper und zu dessen Merkmalen steht. In der Körperidentität, welche das psychisch repräsentierte Erleben des Subjekts mit seinem Körper bezeichnet, lassen sich fünf Bereiche ausmachen.5 Es sind erstens der körperbezogene Bereich, in dem das Subjekt bewusst erfasst, was seinen Körper kennzeichnet, zweitens der soziale Bereich, in dem das Subjekt bezeichnen kann, was seinen Körper in den sozialen Beziehungen ausmacht, drittens der produktorientierte Bereich, in dem das Subjekt darum weiß, über welche besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten sein Körper verfügt, was seine Grenzen sind und welche Leistungen es mit ihm erbringen kann, viertens der kognitive Bereich, in dem das Subjekt benennen kann, welche Einstellung es zu seinem Körper hat und wie zufrieden oder unzufrieden es mit ihm ist, und fünftens der affektive Bereich, in dem das Subjekt bemerkt, welche Gefühle es mit seiner Körperlichkeit verbindet.

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Vielfach wird auch nahezu gleichbedeutend der Begriff des Körperbildes verwendet. Die fünf Bereiche der Körperidentität sind aus den fünf Bereichen der reflexiven Identitätsarbeit abgeleitet, wie sie bei Keupp et al. 1999: 192 benannt werden.

1. Das körperliche Geschehen

Aus der Gesamtheit der Erlebnisse und Erfahrungen, die mit dem Körper gemacht werden, entstehen im Lauf der psychischen Entwicklung das Selbst und die Identität des Subjekts (vgl. Freud 1999: 253). Austausch und psychisches Wohlbefinden: Die soziale und die psychische Dimension der Körperlichkeit sind aufeinander bezogen. Ihre Wechselwirkung beruht darauf, dass in einer zwischenmenschlichen Begegnung jeder Körper unwillkürlich und unvermeidlich von sich erzählt und ihm von der Alterität geantwortet wird. Die nach außen sichtbare Landschaft eines Körpers zeigt den Anderen, was dem Subjekt in seinem bisherigen Leben geschah und was sich dabei in seinen Körper einschrieb. So wirken manche Körper unberührt und verweisen damit auf die Liebe, die sie nicht bekamen; andere wirken bekämpft, abgelehnt oder verzärtelt, erscheinen kindlich oder vorgealtert, sexualisiert, misshandelt oder vernachlässigt; und genauso teilen manche Körper die Liebe und Zuwendung, die Wertschätzung und Achtung mit, die sie über die Zeit hinweg erhielten und in sich aufnahmen. In denjenigen, denen sie begegnen, lösen Körper durch ihre Gestalt Affekte und Fantasien aus, bedingen in der Alterität eigene körperliche Bewegungen hin zu oder weg von ihnen und veranlassen die Anderen zu Erzählungen und Handlungen über sie. Dadurch wird die Vergangenheit des Körpers, die sich in seiner sichtbaren Landschaft entäußert, im Augenblick der Begegnung lebendig, zwischenmenschlich verfügbar und bewusst fassbar. Dabei teilt sich der Körper der Alterität stets in einem Umfang mit, der weit über das hinausgeht, was willentlich beeinflusst werden kann. In seiner Gestalt bewahrt der Körper auch das, was sich sprachlich nicht mehr erinnern lässt, und ohne es verhindern zu können, offenbart er bis in seine Gesten hinein seine Geschichte und seine Herkunft (vgl. Schroer 2005: 16). Aber genauso wie ein Körper in der Begegnung mit der Alterität seine Vergangenheit erzählt, bekommt er von ihr seine Zukunft zugewiesen. Die Antwort der Alterität weist einem Körper den realen und den symbolischen Raum zu, in dem er sich fürderhin aufzuhalten hat. Das geschieht auf verschiedene Weise: Der Gestalt und Landschaft eines Körpers werden von der Alterität seelische Eigenschaften zugeschrieben, und seiner Art des Austausches mit der Welt wird ein besonderer Wert beigemessen. Von der Alterität wird zudem beurteilt, inwieweit die angeborenen oder erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Körpers das Anliegen des sozialen Systems erfüllen, dem das Subjekt angehört. Entsprechend seiner Körper- und Affektkontrolle wird es schließlich in einem sozialen System verortet und gruppendynamisch positioniert. Da ein menschlicher Körper in der Regel zuerst in Beziehung zu seinen Eltern steht und von ihnen erlebt wird, erhält er die ersten Antworten durch sie. Dadurch wird jedes Subjekt von klein auf zum einen in die Ordnung seiner Eltern und seiner Vorfahren eingebunden (vgl. Küchenhoff 1997: 45). Zum anderen erschließen sich ihm über deren Vermittlung die Werte, Normen, Traditionen und Konventionen der sozialen Systeme, in die es sich körperlich hinein entwickelt. Die Zukunft, die dem Subjekt und seinem Körper sozial und psychisch zuerkannt wird, ergibt sich aus der Vergangenheit der Alterität, der es real und symbolisch begegnet. Aus ihren Zuschreibungen erhält das Subjekt die Einstellung zu seinem Körper. Möglichkeiten der psychischen Steuerung: Aus dem Austausch des Körpers mit seiner Umwelt, aus den erlebten Affekten und verwirklichten Motivationen, vor allem aus der Beteiligung des Körpers an verschiedenen sozialen Systemen, aus den dabei gemach-

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Körperlicher Umbruch

ten und verinnerlichten Erfahrungen und den daraus gewonnenen Erkenntnissen entsteht allmählich nicht nur ein Körperselbst, sondern auch das Selbst (vgl. Borkenhagen 2000: 58–60). Indem das mit dem Körper Erlebte reflektiert und psychisch repräsentiert wird, ergibt sich in den Beziehungen zu der Alterität nicht nur die Körperidentität, sondern auch ein allgemeines Identitätsempfinden. Dabei besteht ein Ablauf, der das ganze Leben aufs Neue stattfindet: In Beziehung zur Alterität erwirbt das Subjekt aus dem zuerst unbewussten, rein körperlichen Geschehen allmählich über einzelne, sich nach und nach verbindende Erlebnisse ein Körperselbst und ein Selbst. In seinem Körperselbst und seinem Selbst erlebt das Subjekt sich eigenständig und zugleich von der Alterität, auf die es bezogen ist, getrennt. In Beziehung zu den Anderen gewinnt das Subjekt darüber hinaus bewusste Erkenntnisse zu seinem Körper und zu dem der Alterität ebenso wie zu seinem Selbst und dem der Anderen. In seiner Identität findet das Subjekt umfassend eine Einstellung zu sich, zu seinem Dasein und Sosein, seinem Gewordensein und Werden sowie zu seiner Alterität. Handelnd und erzählend entäußert das Subjekt sein allgemeines Identitätsempfinden gegenüber den Anderen, wie es wiederum deren Geschichten empfängt. Sowohl das Selbst mit dem Körperselbst als auch die Identität mit der Körperidentität bringen in der Vergangenheit geschehenes und für die Zukunft erwartetes Erleben zusammen. Vorerfahrungen und übergeordnete Ziele versetzen das Subjekt in die Lage, sich und seinen Körper dann bewusst und willentlich zu steuern, wenn es ihm durch irgendwelche inneren oder äußeren Umstände nicht mehr möglich ist, die Abläufe des Alltags so automatisiert zu erledigen, wie es ansonsten üblich ist. Solange eine Störung nicht zu schwer wiegt, schafft es das Subjekt mittels seiner Identität, d.h. der psychischen Repräsentation von Körper, Alterität und Selbst, auch unter widrigen Umständen sein inneres Gleichgewicht zu bewahren oder aus eigenem Vermögen rasch wieder befriedigende Lebensbedingungen herzustellen. Indem das Subjekt in der Lage ist, auf frühere Erfahrungen und verinnerlichtes körperliches Erleben zurückzugreifen, vermag es selbstbestimmt in seinem sozialen Mesosystem seine Zukunft zu gestalten, nämlich aus sich heraus Ideen und Pläne zu entwerfen, gezielt Vorhaben einzuleiten oder Handlungen auszuführen und sich der Alterität darin sprachlich mitzuteilen. Das Wissen um den Körper und das Selbst sowie die Fähigkeit, bewusst zu erleben, was geschieht, dabei sein gegenwärtiges Erleben mit früheren Erfahrungen zu vergleichen und in die eigene Geschichte und mögliche Zukunft einzuordnen, lässt das Subjekt über eine Identität verfügen, die sowohl von der Alterität geschieden als auch vom eigenen Körper getrennt erlebt wird. Bewusste Empfindungen des psychischen Körpers: In einem sozialen System wird das unbewusste Körpererleben und das Empfinden des Subjekts, mit seinem Körper eins zu sein, dann aufgehoben, wenn die Alterität nicht oder nicht mehr fähig und bereit ist, sich in ihrer Vorstellung an die Stelle des ihr fremden Körpers zu setzen und sich mit ihm zu identifizieren (vgl. Leder 1990: 96–98). So wird der weiße Europäer erst dann seinen Körper bewusst erleben, wenn er als exotischer Gast in der japanischen Provinz von den Dorfbewohnern neugierig betrachtet wird, aber nicht in seinem Alltag, solange er sich in der Gemeinschaft seiner Vertrauten aufhält. Auch der chronisch Kranke wird sich im Kreise seiner Angehörigen des Körpers nicht bewusst, weil er von ihnen in seiner körperlichen Sonderheit gar nicht wahrgenommen wird, wohl aber dann, wenn sein

1. Das körperliche Geschehen

Arzt die Farbe seiner Haut und die Kraft seiner Muskeln prüft. Dann geht dem Subjekt nicht nur die selbstverständliche zwischenmenschliche Verbundenheit verloren, sondern ihm wird auch sein eigener Körper mit seinen Eigenheiten, Möglichkeiten und Grenzen erfahrbar. Das Subjekt merkt, was seinen Körper ausmacht, wie er sich auf seine Weise mit der Umwelt austauscht und wie er von der Alterität eingeschätzt wird, welche Affekte er in ihr auslöst und welche Zuschreibungen er von ihr erhält. Auch erkennt das Subjekt, über welche besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten sein Körper verfügt und wie die Mitglieder des sozialen Systems, in dem er in Erscheinung getreten ist, die Handlungen bewerten, die sich aus seinen Motivationen ergeben. Aus solchen und ähnlichen Erfahrungen körperlichen Andersseins ergibt sich die Körperidentität. Dennoch ist das Bewusst-Werden des Körpers in der sozialen Interaktion begrenzt. Es erfolgt lediglich in den Merkmalen, in denen der Körper von der Alterität als Objekt von außen betrachtet wird, und unterbleibt in all den anderen, in denen die ansonsten übliche Identifikation anhält. Durch den distanzierten Blick der Anderen wird sich das Subjekt ihnen gegenüber entfremdet und sich in sich selbst unbehaglich fühlen. Wenn es sich dann die Wahrnehmung seines Körpers durch die Alterität zu eigen macht, weil es sich trotz ihres befremdeten Blicks in sie hineinversetzt und sich mit ihr identifiziert, wird es selbst beginnen, seinen Körper wie ein Objekt von außen zu betrachten. Ob das Bild seines Körpers das Subjekt in diesem Augenblick beschämt oder mit Stolz erfüllt, ist davon abhängig, welcher Blick seinen Körper erfasst, ob er der Alterität ein Objekt der Abscheu und der Missbilligung oder eines der Bewunderung und Idealisierung ist. Wie der Körper von der Alterität betrachtet und in welcher Weise er vom Subjekt bewusst erlebt wird, ist dabei durch den sozialen Zusammenhang gegeben, in welchem der Körper vor den Anderen erscheint. Wer verschwitzt ist, gilt im Fitnessstudio als tüchtig, im Theaterfoyer aber als ungepflegt, und dieselben entblößten langen Beine können auf der Straße mit anzüglichen Bemerkungen bedacht werden, während von der Trauergemeinde auf einer Beerdigung deren unzureichende Bekleidung getadelt wird. Auch wenn die Körperlichkeit in ihrer somatischen Dimension jeweils dieselbe ist, führt ihre soziale Dimension dazu, dass das Subjekt seinen Körper jeweils anders empfindet. Psychische Struktur und körperliche Gestalt: Die Gestalt, die ein Körper aufweist, ist neben seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt und außer dem Einfluss der sozialen Systeme, denen er angehört, auch durch die psychische Struktur von Selbst und Identität bedingt. In Wendungen wie »Wut macht blind«, »Es kotzt mich an« oder »Er hat Schiss« wird umgangssprachlich ausgedrückt, wie sich das psychische Erleben kurzfristig auf den sensomotorischen oder den viszeralen Körper auswirkt. Ebenso kann der konnektive Körper durch das gegenwärtige Erleben des Subjekts beeinflusst werden. So ist während der Pflege des dementen Ehepartners bei den Angehörigen die Heilung experimentell gesetzter kleiner Hautwunden verzögert, weil ihr Immunsystem im Vergleich zu einer Kontrollgruppe weniger aktiv ist (vgl. Kiecolt-Glaser 1995). Oder die fehlende Aufmerksamkeit für körperliche Beschwerden kann dazu führen, dass aus einem an sich harmlosen grippalen Infekt eine Herzmuskelentzündung wird, die den ganzen Körper schwächt, das Atmen erschwert und die Beine anschwellen lässt. Neuropsychologie und Psychodynamik vermögen die körperliche Gestalt für den Augenblick, vorübergehend oder auf Dauer zu prägen. Oft wird das Verhalten von jungen Frauen,

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Körperlicher Umbruch

bis hin zu einer das Leben bedrohenden Abmagerung kaum Nahrung zu sich nehmen, um nicht als dick zu erscheinen, darauf zurückgeführt, dass sie durch eine individuelle Störung ihres Körperschemas eine falsche Auffassung von der Ausdehnung ihres Körpers und seiner Grenzen haben. Dasselbe Verhalten kann bei anderen jedoch auch durch ihre Identität veranlasst sein, nämlich dass sie ihrem Körper eine besondere Gestalt geben wollen, um sich dadurch besser beruflich vermarkten zu können oder um sexuell attraktiver zu erscheinen. Bei den meisten dieser Annahmen über den Zusammenhang von psychischer Struktur und körperlicher Gestalt ist nur schwer zu belegen, dass es wirklich das Selbst oder die Identität sind, die den somatischen Körper in einer bestimmten Weise formen. So lässt sich nur vermuten, dass es wirklich die Schuldgefühle sind, die den Gang verunsichern und den Körper gelb färben, dass ihretwegen über Jahre hinweg zu viel Alkohol in den Körper aufgenommen wurde, was dann Muskeln, Nervenbahnen und Leber, also den sensomotorischen und den viszeralen Körper, dauerhaft schädigte. Es gibt sogar Vermutungen, dass eine lang anhaltende abgrundtiefe Verzweiflung Körperzellen entarten lässt und Krebs verursacht, also eine Veränderung des somatischen Körpers hervorruft, die auf Dauer mit dem Leben nicht vereinbar ist (vgl. LeShan 1993: 125–140). Wie hier ein Zusammenhang zwischen dem Selbst und einer Schädigung des somatischen Körpers angenommen wird, mutmaßen manche mit gutem Grund, dass das Selbst auch das Befinden des somatischen Körpers und die Gesundheit günstig zu beeinflussen vermag. So scheinen diejenigen, die sich als selbstwirksam erleben und ihr Leben als sinnhaft empfinden, in der Lage zu sein, den somatischen Körper dadurch zu stärken und gegen Veränderungen seiner Gestalt durch Krankheiten zu schützen. Begrenztheit und Erweiterung des psychischen Körpers: Zur psychischen Dimension der Körperlichkeit gehört wesentlich das Wissen um die Begrenztheit des Lebens und die Sterblichkeit des Körpers. In den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende gilt dabei: Ist der somatische Körper einmal tot, ist das Selbst vernichtet. Nicht nur der Austausch mit der Umwelt, sondern jegliche Zugehörigkeit zu einem sozialen System mit ihren Beziehungen zur Alterität sowie die Identität mit ihren Plänen und Vorhaben, Erzählungen und Handlungen und ihrer übergeordneten Zielen, scheint mit dem Tod beendet zu sein. Obwohl die Tatsache der Sterblichkeit im Alltag abgewehrt wird und das Sprechen über das Sterben vielfach einem Tabu gleichkommt, ist der Tod in jedem Leben gegenwärtig. Das Ende des Lebens gehört von seinem Beginn an dazu, auch wenn sich in seinem Verlauf durch neu erworbene Fähigkeiten und Fertigkeiten die körperlichen Grenzen im Raum und in der Zeit erweitern und scheinbar sogar aufheben lassen. Doch der Tod der Anderen wird erlebt und stellt die Illusion in Frage, dass der eigene unmöglich sei. Er kündigt sich in jeder Nacht an, und jeder Schlaf ist im Gegensatz zum Leben am Tag ein kleiner Tod. Jede Krankheit nimmt etwas von dessen endgültigen »Ich kann nicht mehr« vorweg, ebenso das Alter mit seinen Beschränkungen der zuvor selbstverständlichen körperlichen Möglichkeiten. Dennoch wird nicht nur in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende versucht, die Unausweichlichkeit des Todes aufzuheben; jede Kultur in ihren verschiedenen Wandlungen über die Zeit hinweg kann als ein entsprechender Versuch angesehen werden (vgl. De Marchi 1988). Schon die ältesten Funde menschlicher Kultur, nämlich die Grabstätten der Neandertaler, weisen auf eine gedankliche Auseinandersetzung mit

1. Das körperliche Geschehen

dem Tod hin, kommt in ihnen doch die Idee zum Ausdruck, dass es eine Fortsetzung des Lebens jenseits des Todes gibt. Eine Vorstellung von ewigem Leben findet sich in allen Religionen, auch wenn sie im Einzelnen verschieden ausfallen. Da der vermeintlich irrationale religiöse Glauben seit dem 19. Jahrhundert an Bedeutung verlor und deshalb immer weniger dazu beiträgt, die Angst vor dem Tod zu bewältigen, sind seitdem andere, scheinbar rationale oder wissenschaftlich begründete Anschauungen aufgekommen. Ideologien wie das Tausendjährige Reich des Nationalsozialismus, die klassenlose Gesellschaft im Marxismus, der allgemeine Wohlstand im Kapitalismus oder die moderne Medizin mit ihrem vermeintlichen Sieg über unheilbare Krankheiten und ihrem Bemühen um bleibende Gesundheit und Aufhebung des Alterns sind zwar in sich verschieden, erfüllen aber denselben Zweck, nämlich mit der Tatsache des Todes umzugehen. Angesichts dessen, dass in der psychischen Dimension der Körperlichkeit die Begrenztheit des somatischen Körpers bewusst erlebt wird, verstehen es diese Anschauungen, das Subjekt zu beruhigen, bieten sie ihm doch Sinn und versprechen Glück und Erlösung. Innere Freiheit: Wenn die Grenzen, die die Körperlichkeit in ihrer somatischen, sozialen und psychische Dimension vermittelt, nicht mehr als Kränkung zurückgewiesen, sondern als Herausforderung angenommen werden, findet das Subjekt innere Freiheit. Dabei ist unerheblich, welche Grenzen es sind, ob es die Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber den Widrigkeiten der Umwelt, der schmerzhafte Verlust der Beziehungen zur Alterität in einem sozialen System oder die Todesangst angesichts der Sterblichkeit des Körpers ist. So unwillkommen und schmerzhaft es dem Subjekt immer wieder ist, diese Grenzen erleben zu müssen, schaffen sie doch den Rahmen, innerhalb dessen sich erst persönliche Identität entwickeln, Erkenntnisse gewinnen und Fähigkeiten erwerben lassen. Stets ist das Erleben dieser Grenzen mit heftigen Affekten verbunden, überwältigen und entsetzen sie das Selbst und machen das Subjekt zunächst handlungsunfähig. Es hadert und verhandelt, verleugnet und verdrängt sie, bis es sie allmählich zulassen kann, und bis das, was an den Grenzen geschieht, mit all den Gefühlen, die es auslöst, auch da sein darf. In diesem Sinne innerlich frei zu sein, heißt für das Subjekt, nicht mehr länger ihm fremden, von außen gesetzten Bedingungen unterworfen zu sein, die sein Erleben und Verhalten bestimmen, sondern im Hier und Jetzt des gegebenen Augenblicks aus eigener Entscheidung heraus zu handeln, zu sprechen und zu denken, wonach ihm zumute ist. Das verlangt nicht nur, die Unabhängigkeit von äußeren Zwängen erworben zu haben, sondern ebenso frei geworden zu sein gegenüber den inneren Zwängen, die aus dem eigenen Körper und dem eigenen Selbst stammen. Es bedeutet, nicht mehr von Leidenschaften und Affekten beherrscht zu werden, unabhängig davon, ob sie nun aus den Vorerfahrungen der Vergangenheit oder aus den Erwartungen an die Zukunft herrühren. Solche Freiheit kann nicht von der Alterität gewährt werden, sondern muss stets aufs Neue erkämpft werden, immer wieder verbunden mit der Angst, das eigene Leben, die Beziehungen zu den bedeutsamen Anderen, das eigene Selbst und die bisherige Identität zu verlieren. Über solche Freiheit zu verfügen, gibt dem Subjekt die Kraft, das zu tun, was es für wesentlich hält, und nimmt den Grenzen des Lebens, des Körpers, des sozialen Systems oder des Selbst etwas von ihrem Schrecken. Nie lässt sich die innere

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Körperlicher Umbruch

Freiheit gegenüber der Alterität beweisen, aber wenn das Subjekt sie gewonnen hat, wird es von den Anderen empfunden.

1.4

Die körperliche Überwältigung

Unbewusste und bewusste Körperlichkeit: Die Körperlichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen und das sogenannte Unbewusste sind eins. Denn obwohl das tägliche Leben ein körperliches ist, wird in den üblichen Abläufen des Alltags die Vielschichtigkeit des körperlichen Erlebens nicht bewusst (vgl. Leder 1990: 11–68). Der Körper ist abwesend. Das betrifft den somatischen, sozialen und psychischen Körper gleichermaßen: Beim somatischen Körper ist der konnektive Körper dadurch gekennzeichnet, dass er dem Subjekt nie bewusst werden kann, und der viszerale dadurch, dass er unbewusst bleibt, solange er seine Aufgaben erfüllt. Auch im sensomotorischen Körper wird das Sinnesorgan, mit dem der Sinneseindruck gewonnen wird, nicht bewusst, und auch nicht der Muskel, mit dem eine Bewegung ausgeführt wird. Unbewusst bleibt auch, wie die Gestalt des Körpers durch die Umwelt geformt wird und wie durch ihn Raum und Zeit vermittelt werden. Beim sozialen Körper bleibt meistens unbeachtet, wie in einem sozialen System mit dem Körper Wirklichkeit geschaffen wird, wie ein soziales System das Verhalten des Körpers beeinflusst und wie es seine Struktur und seine Funktionen prägt oder wie sich das Subjekt mit dem körperlichen Erleben der Alterität identifiziert und damit eine Verbundenheit erzeugt. Beim psychischen Körper ist sich kein Subjekt ständig seines Körperschemas oder seines Körperselbst bewusst. Kaum jemand bedenkt im Allgemeinen, wie die im Körper gespeicherten Erfahrungen in seinen Beziehungen zur Alterität wieder lebendig werden; kaum jemand beachtet, wie sein Selbst oder sein allgemeines Identitätsempfinden die Gestalt seines Körpers prägt; und kaum jemand lebt im anhaltenden Bewusstsein seiner Sterblichkeit. Erst wenn die Handlungen, Absichten, Vorhaben und Notwendigkeiten des Alltags nicht einfach umzusetzen sind, wird dem Subjekt sein Körper in den verschiedenen Dimensionen erfahrbar. Dann hat das Subjekt auf einmal einen Körper, der ihm als Objekt gegenübertritt, den es zu beherrschen gilt oder der ihm dient, den es hasst oder liebt. Dieses Gegenübertreten des Körpers als Objekt geschieht willentlich oder unwillentlich: Das eigene Wollen hebt das selbstvergessene Eins-Sein mit dem Körper auf. Das ist der Fall, wenn das Subjekt etwas erreichen, erkennen oder einüben will, das es noch nicht verinnerlicht hat. Das Subjekt achtet erst darauf, welchen Muskel es betätigt, wenn es eine Bewegung ausführt, die von ihm besondere Aufmerksamkeit verlangt – vielleicht, weil es gerade etwas erlernt –, aber selbst dann bleibt der übrige sensomotorische, viszerale und konnektive Körper unbewusst. Oder das Subjekt achtet erst auf die Einstellung zum eigenen Körper und dessen Bewertung durch die Alterität, wenn es weiß, dass von dessen Wirkung in einem sozialen System etwas abhängt, das ihm bedeutsam ist, aber selbst dann bleiben ihm die anderen Eigenheiten seiner Körperlichkeit unbewusst.

1. Das körperliche Geschehen

Dem Subjekt wird sein Körper in seinen verschiedenen Dimensionen auch dann bewusst, wenn ihm gegen seinen Willen etwas von außen geschieht oder etwas sich in ihm ereignet, was es stört und hindert, wie gewohnt zu handeln. Hunger und Durst, Übermüdung, Schmerz oder heftiger Affekt, Unfall, Verletzung oder Erkrankung lassen das Subjekt erkennen, dass es einen Körper hat. Das ist auch der Fall, wenn das Subjekt wegen der auffallenden Gestalt seines Körpers, wegen dessen besonderer Fähigkeiten und Fertigkeiten oder wegen einer starker Abweichung von der sozial gewünschten Körper- und Affektkontrolle aus dem sozialen System ausgesondert wird; oder wenn Angst sein Herz rasen lässt und eine Depression seine Bewegung lähmt. Das Missbehagen, das sich daraus ergibt, dass dem Subjekt sein Körper bewusst wird, ist mitunter so stark, dass es das ganze Sein bestimmt und das Selbst sich fremd wird. Die Wahrnehmung engt sich auf dieses besondere körperliche Erleben ein, das nun auf einmal den Körper in einer ungewohnten Weise gegenwärtig macht. Alles Trachten des Subjekts zielt dann darauf ab, die möglichen Ursachen zu erkennen und zu beheben (vgl. Leder 1990: 73). Unbewusste und bewusste körperliche Veränderungen: Wenn die gewohnte und weitgehend unbewusste somatische Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung nicht nur vorübergehend, sondern für längere Zeit oder auf Dauer verloren wird, kann der Zeitraum, in dem sich solch ein Umbruch vollzieht, wenige Sekunden bis mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte umfassen. Schnellen und langsamen Veränderungen der gewohnten Körperlichkeit ist gemein, dass sie oft zuerst einmal gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Langsam vonstatten gehende Veränderungen bleiben lange unbewusst, weil ihre erste Folgen häufig nicht auf ein körperliches Geschehen bezogen, sondern als anderweitig bedingt angesehen werden. Eines Tages blieb meine Uhr stehen. Es handelte sich bei ihr um eine NivadaAutomatik, die mir von Freunden zu meinem 21. Geburtstag geschenkt worden war, bevor ich mein Heimatland verließ. Ich hing sehr an ihr und war ängstlich bemüht, sie am Laufen zu halten; deshalb schickte ich sie zur Reparatur in das Werk in der Schweiz. Zusammen mit der Versicherung, sie sei völlig überholt worden und nun in perfektem Zustand, wurde sie zurückgeschickt. Trotzdem blieb sie wieder stehen. Verärgert schickte ich sie ein zweites Mal ein. Dieses Mal schickte die Herstellerfirma sie mit einer etwas ungehaltenen Notiz zurück, dass ihre Experten keinen Fehler hätten finden können, und legte einen Katalog ihrer neuen Kollektion bei. Ein Kollege schlug mir vor, die Uhr am anderen Arm zu tragen, und begründete dies mit einer etwas fragwürdigen Theorie über Körperelektrizität und magnetische Felder. Ich legte die Uhr also an meinen rechten Arm, und zu meiner Überraschung ging sie. Diese halbwissenschaftliche Erklärung beunruhigte mich leicht, aber ich war froh, dass meine geliebte Uhr funktionierte, und ich verschwendete ein Jahr lang keinen weiteren Gedanken an sie. Dann fand ich heraus, dass an meiner Automatikuhr kein Defekt vorlag und sie auch nicht von mysteriösen Strömungen beeinflusst wurde. Stattdessen entdeckte ich, dass mit meinem Arm etwas nicht in Ordnung war.6

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Todes 2005: 13. – Die Zitate übernehmen die in den Originalen angewandten Regeln der Rechtschreibung, auch wenn sie nicht mehr den heute üblichen entsprechen. Ebenfalls folgt die Zei-

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Körperlicher Umbruch

Nicht bewusst wahrgenommen wird vielfach auch der körperliche Umbruch, der sich schnell und heftig ereignet. Das trifft zu, wenn die plötzliche körperliche Veränderung mit einem vorübergehenden Verlust des gesamten Bewusstseins einhergeht. Weiter links begannen Leute, die Straße zu überqueren. Ich sah wieder nach rechts. Hinter dem Bus schien die Straße frei zu sein. »Komm, Raffaele«, sagte ich. »Laß uns gehen.« Immer noch nach rechts gewandt trat ich auf die Straße. Einen Schritt, zwei Schritte. Danach erinnere mich an nichts mehr […].7 Die Bewusstlosigkeit kann zwischenzeitlich kurz aufgehoben sein, ohne dass es dadurch aber dem Subjekt möglich ist, zu erfassen, was geschieht. Ich habe später mehrfach mit meiner Frau und meinem Sohn über den Ablauf der Ereignisse in dieser Nacht gesprochen und dabei festgestellt, daß ich nur Bruchstücke des Geschehens wahrgenommen habe. Offenbar bin ich nur gelegentlich, für kurze Augenblicke, aus dem Koma aufgewacht.8 In der Zeit der eigenen Bewusstlosigkeit handelt die Alterität für das Subjekt. Dann kollabierte ich und fiel rücklings auf das Bett, das im Raum stand. Ich hörte nicht mehr den Alarm, der das Wiederbelebungsteam herbeirief, während ich bewusstlos in einen Raum mit High-Tech-Geräten zur Intensivbehandlung gerollt wurde.9 Stellvertretend für das Subjekt, das nicht mehr zu handeln in der Lage ist, bemüht sich die Alterität, seinen somatischen Körper am Leben zu erhalten. Ich aber erinnere mich gar nicht, überhaupt aus dem Haus gebracht worden zu sein. Ich weiß nicht, daß der Notarzt mir sofort und noch in unserem Badezimmer eine Tropfinfusion legte, vermutlich mit einem blutgerinnungshemmenden Medikament. Ich weiß auch nicht, daß der Krankenwagen mit Blaulicht die 25 km bis in die Stadt fuhr.10 Es kommt vor, dass der bewusstlose Zustand über längere Zeit andauert. Solange verhindert er ein Erleben des Geschehens. Was mich betrifft, so hatte ich Anspruch auf zwanzig Tage Koma und einige Wochen Nebel, bevor ich das Ausmaß der Schäden wirklich erfaßte.11 Wenn die Bewusstlosigkeit endet, braucht es wiederum die Alterität, die dem Subjekt hilft, die verlorene Zeit zu füllen. Im Austausch mit ihr erfährt das Subjekt, was ihm geschehen ist. Als ich bewußtlos auf der Intensivstation lag, hatte die Presse die ganze Geschichte gebracht. Fiona hatte die Artikel ausgeschnitten und für mich aufbewahrt, bis ich wieder

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chensetzung dem Original. Dort vorhandene Fehler von Grammatik und Orthographie wurden jedoch korrigiert, ohne dass weiter darauf hingewiesen wird. Mills 1996: 216. Peinert 2002: 22. Todes 2005: 154. Peinert 2002: 23. Bauby 1997: 7.

1. Das körperliche Geschehen

gesund war. […] Ich hatte immer noch keine Erinnerung an dieses Motorrad, das mich angefahren haben sollte. »Was ist mit dem Fahrer?« fragte ich Fiona. »Wurde er auch verletzt?«12 Eine plötzliche körperliche Veränderung muss jedoch nicht immer zum Verlust des gesamten Bewusstseins führen. Es ist möglich, dass sie das Bewusstsein lediglich einengt, sodass die Fähigkeit zum eigenständigen Handeln zwar eingeschränkt wird, aber noch besteht. Da keine Ersatzschwestern da waren, gab ich den Lehrlingen halb benommen Anweisungen, was zu tun ist, um den nächtlichen Stationsbetrieb in Gang zu halten. Manchmal denke ich an die Filme, in denen die Kamera die Rolle der Augen von Patienten übernimmt, die sich – durch Medikamente oder was auch immer – in einem Rauschzustand zwischen Wachsein und tiefem Schlaf befinden. So ist es mit meiner Erinnerung an diesen Tag. Als sähe ich mir selber zu, durch einen leichten Grauschleier, der einen schließlich fragen läßt: Ist das alles wirklich passiert?13 Weiterhin ist möglich, dass das Bewusstsein dahingehend verändert ist, dass dem Subjekt sein ganzes Erleben fremd erscheint. Ich fühle mich äußerst merkwürdig, so als hätte ich einen LSD-Trip eingeworfen, und ich sage mir, daß solche Phantasien nicht mehr zu meinem Alter passen. Nicht einen Augenblick kommt mir der Gedanke, daß ich vielleicht im Begriff bin, zu sterben.14 Umgekehrt kann ein bleibender körperlicher Umbruch damit beginnen, dass er den ansonsten abwesenden Körper bewusst macht. Der Schmerz, der mich weckte, drehte sich aus dem linken Handgelenk, fräste sich durch den Arm, der schwer und heiß wurde, erreichte die Schulter, lief auseinander, bereitete sich als Gitter über die Brust aus, er lastete mit jedem Atemzug mehr und mehr, ein Panzer, der mir die Luft raubte, der mich zunehmend einschnürte und mir Angst machte.15 Schmerz, Angst und Scham: Besonders die schnell verlaufenden körperlichen Veränderungen sind vielfach dadurch gekennzeichnet, dass sie mit heftigem Schmerz verbunden sind. Der Rücken ist verspannt, er fühlt sich an wie eine glühende Stahlplatte. Der Kopf ist am Nacken festgenagelt. Eine Bewegung: Feuer, das an der Wirbelsäule hinunterläuft. Die Knochen sind stark angeschwollen und pochen von innen gegen die Muskeln und wollen sich durch die Haut bohren. Die Schulterblätter glühen und bersten gleich auseinander. Das ist die eine Seite, hinten. Vorne ist es schlimmer. Eine tonnenschwere Maschine hat meine Brust flach gedrückt. Die Rippen glühen wie bei einer extrem starken Entzündung. Aus meinem Magen kriecht bittere Galle die Speiseröhre hoch. Der

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Mills 1996: 222. Buggenhagen 1996: 30f. Bauby 1997: 124. Härtling 2007: 7.

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Körperlicher Umbruch

Atem geht flach und trocken. Tausend kleine Disteln in meiner Lunge. Ich huste kurz. Ich kann die Arme nicht bewegen. Mir wird schwindlig und schwarz vor Augen. Ich reiße sie auf und sehe Sterne, die weiß und rot vor meinem Kopf tanzen. Eine Feuerzunge bohrt sich von ganz oben in der Lunge in den linken Arm. Er zuckt. Die Fingerspitzen kribbeln. Die Fingerspitzen hören auf zu kribbeln. Die Fingerspitzen sterben ab. Die Fingerspitzen sind tot und kalt. Ein böses Tier mit Stacheln klettert meine Luftröhre herauf und hinab. Es versprüht ätzende Gifte. Ich reiße den Mund auf und ziehe Luft ein, doch es kommt kein Sauerstoff in meiner Lunge an. Ich kriege keine Luft mehr. Ich kriege keine Luft mehr. Ich kriege keine Luft mehr!16 Die Schmerzen können äußerst stark werden. Ich kann die Schmerzen kaum noch ertragen. Ich halte die Luft an, ich reiße den Oberkörper in die Höhe und drücke die Arme auf den Rücken, bis die Fingerknöchel weiß werden, und ziehe mit weit geöffnetem Mund Luft ein.17 Die plötzliche Heftigkeit, mit der sich der somatische Körper, der ansonsten nicht bewusst ist, auf einmal bemerkbar macht, ruft im Subjekt Angst hervor, [w]eil mein Herz so schnell und unregelmäßig schlägt. Ich habe Angst, dass mir alle Blutgefäße platzen.18 Nachdem der ansonsten abwesende somatische Körper durch den beginnenden Umbruch überhaupt erst bewusst geworden ist, weckt das ungewohnte körperliche Geschehen die Angst, sterben zu müssen. Ich lag auf dem Rücken, starrte in die Dunkelheit, Wörter sausten mit einer solchen Geschwindigkeit durch meinen Kopf, das sie ihren Sinn verloren. Ich fürchtete zu sterben.19 Für das Aufkommen der Angst ist es unerheblich, ob die körperlichen Veränderungen schnell oder langsam eintreten, ob sie mehr oder weniger schmerzen. Vielmehr scheint es die unvermittelte Wahrnehmung des körperlichen Geschehens zu sein, die das Subjekt ängstigt. Im Oktober 1970 stand ich an einem Samstagmorgen spät auf und bemerkte, dass sich mein linker Arm in einem anhaltenden Krampf befand. Bald darauf ging dieser Zustand in einen Tremor über, und ich bekam Panik. Ich untersuchte mich oberflächlich, indem ich beide Arme parallel zum Fußboden ausstreckte, um zu sehen, ob der Tremor anhielt oder ob es sich um ein einmaliges Ereignis (eine »spontane Episode«) gehandelt hatte. Der Tremor hielt an. Mein erster Gedanke war, daß es sich um einen Tumor im Gehirn handeln könnte.20

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Huth 2003: 11f. Huth 2003: 21. Balmer 2006: 86. Härtling 2007: 7. Todes 2005: 13f.

1. Das körperliche Geschehen

Werden die Veränderungen der gewohnten Körperlichkeit bewusst erlebt, geht damit oft einher, dass sie das Subjekt beschämen. Mir ist die Sache jetzt ein wenig peinlich. Ich liege nackt wie ein Wurm in eiskaltem Schweiß und krümme mich im Takt meines pochenden Schmerzes. Manchmal guckt [die junge Frau; B.R.] auf meinen eingeschrumpelten Schwanz. Sie lächelt mutig.21 Das betrifft die plötzlich eingetretenen Veränderungen ebenso wie die langsam verlaufenden. Im Herbst 1986 flogen mein Freund und ich nach Ibiza. Es war viel zu heiß für mich und zum ersten Mal traten Harninkontinenz, Gang- und Gleichgewichtsstörungen massiv während des Urlaubs auf. Es war furchtbar unangenehm, ja peinlich: mit 24 Jahren machte ich mir in die Hose wie ein kleines Kind. Auch Vorlagen halfen da nicht mehr. Dieser Urlaub war eine einzige Katastrophe, hatte nichts Erholsames und Angenehmes mehr.22 Rat- und Hilflosigkeit: Da das Geschehen, das den somatischen Körper erfasst, so ungewohnt ist, macht es das Subjekt ratlos. Es weiß nicht, wie darauf zu antworten ist. Ihm stehen keine Vorerfahrungen zur Verfügung, auf die es zurückgreifen kann, um die Angst zu verringern. Jetzt wird es schlimm. Jetzt kommt die Angst. Jetzt lasse ich alles fahren. Ich schlucke Luft, als würde ich ertrinken. Aber die Luft ist leer. Mein Körper kann nicht mehr versorgt werden. Zelle um Zelle wird absterben. Es beginnt in den Füßen und in den Händen. Ich zittere, ich schwitze, ich friere, ich japse. Soll ich trinken? Soll ich kalt duschen? Soll ich schreien? WAS SOLL ICH TUN?23 Vollständig körperlichen Bedingungen ausgeliefert zu sein, die das ganze Sein beherrschen, die sich nicht beeinflussen lassen und deren Entstehung sich nicht wirklich erklären lässt, macht das Subjekt hilflos. Aus der Hilflosigkeit entsteht Wut. Die Qual, die sich scheinbar bis unter die Schädeldecke bohrte, das von den Augen wahrgenommene seltsam unwirkliche Bild der Umgebung einschwärzte, nahm nicht das erhoffte schnelle Ende, das der Volksmund mit dem Bonmot, es sei so schön, wenn der Schmerz nachlasse, beschreibt. Im Gegenteil, das Martyrium hielt an, halb ungläubig, halb staunend ertrug ich, was kaum zu ertragen war. Wie eine Spirale, wie ein kreisend vom Baß zum Tenor steigernder Zahnarzt-Bohrer setzte sich das Übel fest, auf das nun fast selbstquälerisch alle Konzentration gerichtet war. Wann hört es auf? Eine unglückliche Bewegung, ein falscher Schritt – kann so etwas solche Folgen haben? Mein linkes Bein fühlte ich teilweise nicht mehr, es war taub. Ich hatte eingenäßt, hätte laut schreien mögen, aber konnte es nicht. Was war da geschehen mit mir? Etwas, das

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Huth 2003: 15. – Die mit meinen Initialen gekennzeichneten Hinzufügungen sind in der Regel Verschiebungen. Sie stehen mit dem Zitat meist in einem unmittelbaren Zusammenhang. Ruscheweih 2005: 15f. Huth 2003: 14, Versalien im Original.

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Körperlicher Umbruch

ich nicht durch bloßen Willensentschluß verändern konnte. Das merkte ich, und das machte mich hilflos und wütend, weil ich nicht hilflos sein wollte.24 Die Hilflosigkeit angesichts des ungewohnten körperlichen Geschehens ängstigt das Subjekt bisweilen sogar noch mehr als die körperlichen Veränderungen. Jetzt war guter Rat wirklich teuer, denn weder Bein noch Arm gehorchten mir und gestatteten mir aufzustehen. Dies war nun genau die Situation, vor der ich mich seit eh und jeh gefürchtet hatte: hilflos im Krankenhaus zu liegen und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, und das im Intimbereich!25 Aus dem Erleben von Schmerz, Angst und Scham, verbunden mit Hilflosigkeit, entsteht der Wunsch, allein zu sein. Sie wacht auf. Sie fragt: »Ist was?« Ich sage: »Nee, geht schon.« Ich denke: Lass mich einfach in Ruhe. Frag mich nicht, sieh mich nicht an, schau mir nicht in die Augen, mach dir keine Sorgen, sei einfach weg.26

1.5

Frühe Antworten des Selbst und der Anderen

Gestufte Wahrnehmung des körperlichen Geschehens: Nur selten wird eine bleibende Veränderung der gewohnten Körperlichkeit schon in dem Augenblick in ihrer vollen Bedeutung erkannt, in dem sie eintritt. Bisweilen ist es bei einem Unfall oder einer Verletzung der Fall. Wenn das Subjekt darüber nicht das Bewusstsein verliert, erfasst es mitunter mit großer Klarheit, welche Folgen sich daraus für sein weiteres Leben, sein Selbstverständnis und seine Beziehungen zu seiner Alterität ergeben werden. Meist aber steht das ungewohnte Geschehen, das den Körper und das ganze Selbst erfasst, zuerst einmal für sich. Erst allmählich vermag das Subjekt die körperlichen Veränderungen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Es lässt sich daher ein Zeitpunkt ausmachen, wenn die körperliche Schädigung eintritt, ein weiterer, wenn das Subjekt merkt, dass dem Geschehen in seinem somatischen Körper die Bedeutung eines körperlichen Umbruchs zukommt, durch den die körperlichen Funktionen für längere Zeit oder auf Dauer beeinträchtigt bleiben werden, und ein dritter, wenn es das erste Mal dessen Folgen auf die bisherige Identität und die gewohnte Lebensführung mehr erahnt als schon wirklich erfasst. Am Montag, dem 27. März 1995, stürzte ich, D.P., unversehens nachts, auf dem Weg vom Bett ins Bad. Daß ich einen Schlaganfall erlitten hatte und neben das Toilettenbecken gefallen war, wußte ich in diesem Augenblick nicht. Der Sturz hatte für mich jedoch […] verwirrende Auswirkungen […].27

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Buggenhagen 1996: 30. Peinert 2002: 29f. Huth 2003: 13. Peinert 2002: 21, Kursivierung im Original.

1. Das körperliche Geschehen

Das Bedürfnis des Selbst ist oft groß, dem ungewohnten körperlichen Geschehen keine für sein Sein wesentliche Bedeutung beimessen zu müssen. Selbst wenn der körperliche Umbruch sich mit heftigem Schmerz bemerkbar macht, verleitet das vorübergehende Nachlassen des Schmerzes das Subjekt zur Annahme, es sei nur eine vorübergehende Störung gewesen, die den somatischen Körper überkommen hat. Erleichtert nimmt das Subjekt eine unterbrochene Tätigkeit wieder auf, als sei davor dem Körper nichts geschehen. Ich entspanne mich. Ich komme zurück. Der Schmerz hört auf, fast so schnell, wie er gekommen ist. Er ist weg. Ich wische kalten Schweiß von meiner Stirn. Ich atme durch. Ich checke. Ich sammle mich. Okay, okay, okay. Das war’s. Aber was? Egal. Es ist vorbei. Zurück ins Bett, zurück zu der weichen Haut und den schönen Haaren, meine Hand gleitet an den Busen. Er fühlt sich wunderbar an.28 Wenn körperliche Funktionen nur kurz beeinträchtigt sind, dann sich aber wieder wie gewohnt ausführen lassen, sieht das Subjekt diese Störung nur selten als Vorbote eines körperlichen Umbruchs an. Da sie sich von selbst wieder zurückbildet, scheint es nicht erforderlich, dem Geschehen weiter nachzugehen. Erst im Rückblick erschließt sich die wahre Bedeutung. Es hat, wie ich heute weiß, natürlich Vorwarnungen gegeben. Vielleicht hätte sich manches anders entwickelt, wenn ich diese Zeichen ernst genommen und mich gleich beim Arzt hätte untersuchen lassen. Etwa Mitte März 1995 konnte ich plötzlich einen Zebrastreifen nicht mehr zügig überqueren, mein linkes Bein war lahm und wollte nicht weiter. Da ich vorher im Auto gesessen hatte, meinte ich, das Bein sei nur eingeschlafen vom langen Sitzen, und tatsächlich ging es bald normal weiter. Schon vor dem eigentlichen Schlag fiel ich einmal nachts in der Wohnung und hatte große Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Heute weiß ich, daß schon da das linke Bein und der linke Arm mir für eine Weile nicht mehr gehorchten. Spätestens der plötzliche Ausfall eines Teils meines Sehfeldes beim abendlichen Fernsehen am Tag vor dem Zusammenbruch hätte mich stutzig werden lassen müssen. Ich aber meinte in meiner Naivität, es genüge, am nächsten Tag wie gewohnt zum Augenarzt zu gehen.29 Auch bei einem körperlichen Umbruch, der langsam verläuft, ist die Hoffnung des Subjekts zuerst einmal groß, dass dem ungewohnten körperlichen Geschehen keine besondere Bedeutung zukommt. Im April fuhren wir eine Woche an die holländische Nordseeküste. Für mich ein wunderschöner Urlaub: keine Gehstörungen, die Blasenschwäche hielt sich in Grenzen. War es doch nur ein Verdacht, waren es vielleicht doch nur MS-ähnliche Symptome?30 Gerade bei einem langsam verlaufenden körperlichen Umbruch bestehen mitunter über Jahre hinweg körperliche Beschwerden, deren Bedeutung das Subjekt nicht wahrnimmt. Es versteht sie lange als eine beiläufige Störung, bis sich dann ergibt, 28 29 30

Huth 2003: 12. Peinert 2002: 38f. Ruscheweih 2005: 16.

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Körperlicher Umbruch

dass die scheinbar vereinzelten Missempfindungen zusammengehörende Teile eines umfassenden Geschehens sind. In meinen Ferien auf dem Pferdehof nahm ich ein langes, heißes Bad gegen den Muskelkater vom Reiten. Danach war ich total ausgelaugt und lag minutenlang auf dem Kachelboden, ohne aufstehen zu können. Erst Jahre später erfuhr ich, dass früher so bei einigen Patienten positiv MS getestet wurde. […] Immer wenn ich bei Klaus, meinem späteren Ehemann, im Auto saß, presste ich meinen Arm fest an die kühlende Scheibe. Ich hatte zum ersten Mal intensive Gefühlsstörungen, aber wieder reagierte ich nicht darauf.31 Wenn die körperlichen Veränderungen nur schleichend oder erst allmählich sich verstärkend auftreten, wird die Wahrnehmung eines schwerwiegenden und folgenreichen Geschehens auf verschiedene Weise hinausgezögert. Eine Möglichkeit besteht darin, dass Hilfsmittel so geschickt eingesetzt werden, dass der Verlust einer körperlichen Funktion begrenzt bleibt. Die Lupen wurde immer größer und schwerer. Ich hielt sie in den Händen, montierte sie an meinen Schreibtisch und befestigte sie an meiner Brille. Mein Schreibtisch war ein Chaos aus Lampen und Buchstützen. Aufzuschreiben, was ich gelesen hatte, wurde zunehmend problematisch. Ich schrieb mit immer dickeren Filzstiften und hatte am Ende auf einem Blatt Papier nur noch ungefähr ein Dutzend Wörter stehen, die ich dann mit der Lupe las.32 Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass die Erfahrungen gezielt vermieden werden, die die Selbsttäuschung aufheben würden. Wenn diese Erfahrungen sich doch nicht vermeiden lassen, findet das Subjekt oft andere Erklärungen für das Geschehen als die eines beginnenden körperlichen Umbruchs. Zuerst unmerklich wurde meine Freude am Laufen geringer, kurzfristige Augen-, Sensibilitäts- und Blasenprobleme kamen und verschwanden, ohne dass ich in dieser Zeit etwas Böses gedacht hätte oder je zu einem Arzt gegangen wäre. Für jede Störung fand ich eine mehr oder minder plausible Erklärung. Während einer Woche mit sehr störendem »Nebel«-Sehen erfand ich eine vermutliche Augenreizung durch Chemikaliendämpfe, was bei meiner damaligen Tätigkeit absolut im Bereich des Möglichen lag. Um mir den langen Weg von der Straßenbahnhaltestelle zum Institut zu erleichtern, war das kleine Auto meiner Mutter gerade das passende Geschenk für mich, obwohl ich die Strecke übers freie Feld eigentlich liebte.33 Da das Bedürfnis so groß ist, die Wahrnehmung des körperlichen Umbruchs mit seiner Unumkehrbarkeit so weit wie möglich aufzuschieben, hofft das Subjekt auch gegen die eigene Gewissheit möglichst lange, dass die einzelnen Anzeichen unbedeutend sind, dass sie vorübergehen werden oder dass die Vermutung eines Schadens nicht wahr ist.

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Lürssen 2005: 25. Hull 1992: 27. Lürssen 2005: 25.

1. Das körperliche Geschehen

Ich ahne, dass ich Krebs habe. Ach was: Ich weiß es! Aber da ist ein letzter Funken Hoffnung, dass ich diese verdammte Krankheit vielleicht doch nicht habe […].34 Selbst nachdem das Subjekt bewusst wahrgenommen hat, dass dem Körper etwas geschah, was unumkehrbar ist, erfasst es anfangs dessen Bedeutung oft nicht. Sowohl bei den langsam sich vollziehenden körperlichen Veränderungen als auch bei den plötzlich eingetretenen betrachtet das Subjekt ungläubig, was ihm widerfahren ist. Kleinigkeiten zeigen ihm dann auf, welchen Verlust es erlitten hat. Immer wenn man mich auf die Bettpfanne hob, sah ich die leere Stelle unter dem dicken weißen Verband. Seltsamer Gedanke, daß ich meinen Fuß nie wieder sehen, nie mehr meine Zehennägel lackieren und nie mehr meinen komischen verbogenen kleinen Zeh massieren würde. Manchmal, wenn ich auf die leere Stelle hinabblickte, wo vorher mein Bein gewesen war, war mir fast so, als sei jemand gestorben.35 Mit vollem Bewusstsein wahrzunehmen, dass die gewohnte Körperlichkeit verloren ist, kann das Subjekt zutiefst erschüttern. Oft ist es ein eher beiläufiger Anlass, der das Subjekt erstmals erkennen lässt, was das körperliche Geschehnis, das gerade abgelaufen ist, für sein weiteres Leben bedeutet. Zwei Muskelmänner haben mich ohne viel Schonung bei den Schultern und den Füßen gepackt, aus dem Bett gehoben und in den Rollstuhl gesetzt. […] »Sie sind reif für den Stuhl«, kommentierte der Ergotherapeut mit einem Lächeln, das seine Worte zu einer guten Nachricht machen sollte, während sie in meinen Ohren wie ein Urteil klangen. Auf einmal sah ich die bestürzende Realität. So blendend wie ein Atomblitz. Schärfer als das Fallbeil einer Guillotine.36 Wie das Wahrnehmen des körperlichen Umbruchs und das Erkennen seiner weitergehenden Folgen meistens zeitlich nicht mit dem Geschehnis an sich zusammenfällt, wird das Kommen einer einschneidenden körperlichen Veränderung bisweilen erahnt, bevor sie wirklich eintritt. Warum ist es gerade die Nachricht von der Krankheit eines jungen, amerikanischen Golfers, die mich so seltsam anrührt? Natürlich ist das Golfspielen neben meinem Beruf als Schauspieler meine große Leidenschaft, aber Schlagzeilen über Krankheit und Tod bekannter Sportler oder Künstler gehören doch zu unserem Alltag! Also warum gerade diese Nachricht? Ist es möglich, dass mich gerade diese Meldung deshalb so berührt, weil mein Unterbewusstsein die Parallelität des Schicksals schon erahnen kann?37 Erstaunlicherweise scheint das Unbewusste sogar schon viele Jahre im Voraus zu ahnen, was einmal geschehen wird. Wenn es sich dem Subjekt darin mitteilt, wird seine Botschaft zu diesem Zeitpunkt meist nicht verstanden. Es ist aber möglich sein, dass diese Botschaft des Unbewussten gerade wegen ihrer Rätselhaftigkeit und der mit ihr 34 35 36 37

Lesch 2002: 37. Mills 1996: 223. Bauby 1997: 10f. Lesch 2002: 9.

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Körperlicher Umbruch

verbundenen Erschütterung in der Erinnerung haften bleibt, bis dann nach dem körperlichen Umbruch verstanden wird, was sie besagte. Ich stand neben meiner Kollegin in einem Leichenraum. Es handelte sich um einen kleinen Raum und nicht um eine der typischen sterilen Leichenhallen. Auch war die Leiche, die auf einem Alutisch aufgebahrt war, die einzige im Raum. Ich sah mich selbst im Traum nicht dort stehen, aber ich fühlte es. Meine Kollegin blieb während des ganzen Traums verschwommen, dennoch wusste ich, dass es sich um meine Kollegin handelte. Mein Blick konzentrierte sich auf die Leiche, die bis zum Kinn mit einem weissen Tuch zugedeckt war, so dass man lediglich ihren Kopf wahrnehmen konnte. Die Augen waren geschlossen und ihre halblangen, geraden, schwarzen Haare schön gebürstet. Das Gesicht schien bleich und wachsig, glänzte aber nicht, und die Gesichtszüge liessen erraten, dass es sich um eine knapp zwanzigjährige Frau gehandelt haben muss, deren Wachstum noch nicht ganz abgeschlossen gewesen war. Mit einem Schaudern stellte ich fest, dass die Leiche, die vor uns lag, meinen eigenen Körper darstellte. […] Erst mehr als zehn Jahre später begann ich zu verstehen: Meine Krankheiten begannen im Jugendalter. Scheinbar hatte ich damals das Gefühl, mein Körper sei für immer gestorben.38 Maßnahmen der Spezialisten: Ein anderer Zusammenhang als der vom Subjekt selbst hergestellte ist derjenige, der dem ungewohnten körperlichen Geschehen von außen gegeben wird. Ihn erstellen vor allem die Spezialisten des Gesundheitswesens mit ihrem Fachwissen. Oft erkennen sie vor den Betroffenen, welche Bedeutung den Veränderungen des somatischen Körpers für die Fortführung des Lebens zukommt. Sie ergreifen verschiedene Maßnahmen, um die Ursachen einer körperlichen Veränderung abzuklären oder um sie zu beheben. Diese Maßnahmen werden vielfach ähnlich erlebt wie das eigentliche Geschehen im Körper selbst. Sie schmerzen. Schmerzen, bei denen man nicht mal mehr weinen kann. Wenn es einen Vorhof zur Hölle gibt, hier gab es schon einmal einen Vorgeschmack. Ich bettelte um Morphium. »Gebt mir was. Gebt mir in Gottes Namen endlich mal eine richtige Dröhnung, damit ich diese Schmerzen nicht mehr habe.« Doch Morphium gibt es nicht. Morphium gibt es nur für die ganz schweren Fälle. Wie habe ich diese fünf Tage überlebt? Rohes Fleisch im Mund, rohes Fleisch innen, Krater auf der Zunge. Da war nur Schmerz, Schmerz, Schmerz.39 Diese Maßnahmen lassen ein Entkommen nicht zu. Man muß liegen, stundenlang liegen, die Schmerzen sind furchtbar. Der Kopf droht zu zerspringen, es ist, als seien zugleich von außen Schrauben angesetzt und von innen trümmern gewaltige Hammerschläge an die Schädelwand. Wenn nur endlich alles zu Ende wäre, wenn man nur weglaufen, der Marter einfach davonlaufen könnte. Doch

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Balmer 2006: 13, 17. Lesch 2002: 128f.

1. Das körperliche Geschehen

Flucht ist nicht möglich, wehren auch nicht. Es hat etwas von Hinrichtung, aber das Henkerbeil fällt nicht.40 Diese Maßnahmen ängstigen. Dann ließen sie mich allein. Ich wollte schreien: »Bitte, bitte, lasst mich nicht allein. Ich habe Angst!« Doch ich schrie nicht. Stattdessen sah ich zu, wie die Lösung quälend langsam in meinen Körper floss.41 Diese Maßnahmen rufen Todesangst hervor. Eine Krankenschwester kam herein und gab mir unerwartet eine halbe Dosis [des AntiParkinson-Medikaments; B.R.] Sinemet. […] Es war 15.07 Uhr nachmittags. Ich hatte sehr große Angst, ich könne sterben oder zusammenbrechen oder, noch schlimmer, ich müsse für immer dahinvegetieren.42 Diese Maßnahmen beschämen. Zögerlich betrat ich, nachdem ich meinen Oberkörper freigemacht hatte, den Bestrahlungsraum. Immer noch schämte ich mich, fremden Menschen diesen Beutel zeigen zu müssen. Obwohl es Ärzte und Krankenschwestern waren.43 Auch die Maßnahmen der Spezialisten verändern die gewohnte Körperlichkeit. Bisweilen lässt sich das dadurch bedingte körperliche Geschehen nicht von dem unterscheiden, das von einem Unfall, einer Verletzung oder einer Erkrankung bedingt ist. Die Medikamente verursachten jedoch zusätzliche Symptome wie zum Beispiel Sensibilitätsstörungen oder epilepsieähnliche Muskelzuckungen oder sogar Anfälle. Symptome und Therapien liefen derart ineinander, dass eine sachliche Differenzierung nicht mehr möglich schien.44 Im Wissen um die Grenzen des Selbst bittet das Subjekt die Spezialisten, die von ihnen als notwendig erachteten Maßnahmen im Zustand der Bewusstlosigkeit durchzuführen. Am 16. Dezember wurde die Beckenkammstanze gemacht und am nächsten Tag die Leberpunktion. Beide Eingriffe konnten ambulant vorgenommen werden, aber ich bestand darauf, dass ich nicht nur eine örtliche Betäubung bekam, sondern eine richtige Narkose. Helden spiele ich nur vor der Kamera.45 Auch nach dem Eingriff kann es zur Bewusstlosigkeit kommen.

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Buggenhagen 1996: 35. Lesch 2002: 55. Todes 2005: 89f. Lesch 2002: 152. Balmer 2006: 77f. Lesch 2002: 45.

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Körperlicher Umbruch

»Wir werden uns wiedersehen«, verspricht der Arzt, und ich wünsche ihm erholsame Ferien. Im Lift zur Station, begleitet von dem schwarzen Cicerone, fällt der Schlaf mich von neuem an, reißt mich in die Ohnmacht, in eine atemlose Finsternis.46 Weitere Schädigungen der Körperlichkeit: Außerdem ist es möglich, dass die von den Spezialisten des Gesundheitswesens veranlassten Maßnahmen zu den schon bestehenden Veränderungen der gewohnten Körperlichkeit weitere Schädigungen hinzufügen. Meist sind sie aber nur vorübergehend. Meine Reaktion auf die erste Spritze war dramatisch: Ich schaffte es erst beim dritten Anlauf vom Bett aufzustehen, um zur Toilette zu gehen. Aber bis dorthin kam ich gar nicht. Ich konnte mich nicht mehr auf meinen Beinen halten, fiel auf den Boden und kam nicht mehr hoch. Robbend erreichte ich mein Funktelefon und rief Freunde an, die im gleichen Haus wohnten. Um ihnen zu öffnen, musste ich zur Wohnungstür kriechen und hoffen, dass ich es schaffte, mich aufzurichten. Das klappte nach einigen Versuchen, und die Freunde kamen rein. Thomas hob mich hoch und brachte mich ins Badezimmer, seine Frau half mir auf die Toilette. Ich konnte nichts mehr machen, war völlig schlapp. Anschließend trug mich Thomas wieder ins Bett […].47 Dabei können diese Schädigungen auf den sensomotorischen, den viszeralen oder den konnektiven Körper betreffen. Falls die von den Spezialisten des Gesundheitswesens veranlassten Maßnahmen auf lange Zeit angesetzt sind, beeinflussen sie die Körperlichkeit auch für länger. Danach nahm ich einige Jahre lang [den Dopaminagonisten; B.R.] Pergolid ein, wobei ich bemerkte, dass es die Libido in die Höhe trieb. Ebenso förderte es die Entwicklung von Brüsten.48 Die Auswirkungen auf den Körper dieser Maßnahmen sind nicht immer nur vorübergehend. Mitunter schädigen sie den sowieso schon beeinträchtigten körperlichen Zustand dauerhaft weiter. Diese Angiographie verursachte bei mir allem Anschein nach eine Kontrastmittelallergie, löste ein Blutgerinnsel in der Karotis und führte zu einem zweiten, schwereren Schlaganfall, der meinen Zustand merklich verschlechterte.49 Diese weitere Schädigung beruht manchmal darauf, dass die Spezialisten ihre Maßnahmen fehlerhaft ausgeführt haben. Ich bekam bei der fünften Chemotherapie wie immer die volle Menge an Gift für einen 67 Kilogramm schweren Mann, wog aber nur noch 54 Kilogramm. Das Resultat: Ich bekam eine ganz schwere toxische Vergiftung. […] Meine Zunge war nur noch rohes Fleisch, und ich bekam Schmerzen, Bauchschmerzen der schlimmsten Art, weil auch meine Magenschleimhäute aufhörten zu existieren. Es war alles nur noch Schmerz. Ich

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Härtling 2007: 14. Ruscheweih 2005: 19. Todes 2005: 75. Peinert 2002: 34.

1. Das körperliche Geschehen

konnte nichts mehr essen, ich konnte nichts mehr trinken. Ich musste künstlich ernährt werden. Meine ganze Immunabwehr brach zusammen.50 Die zusätzliche körperliche Schädigung, zu der es im Verlauf einer der von den Spezialisten des Gesundheitswesens ausgeführten Maßnahmen kommt, kann durch den schlechten Zustand des somatischen Körpers bedingt sein. Vermutlich war die Lage in der Stenose so labil, daß allein der Außendruck des Schallgebers auf die Arterie einen Embolus löste, der dann in dem heftigen Blutstrom weiterwanderte. […] Die Duplex-Untersuchung war fast abgeschlossen, als ich plötzlich merkte, daß ich auf dem linken Auge nichts – gar nichts – mehr sehen konnte.51 Mit Hoffnung: Im subjektiven Erleben besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen den körperlichen Veränderungen, die unvermittelt im Körper entstanden, und denen, die von außen verursacht sind. Haben sich die einen scheinbar sinnlos im Körper gebildet, gehen die anderen mit Hoffnung einher, wurden sie doch von den Spezialisten des Gesundheitswesens in der Absicht herbeigeführt, die Ursachen des körperlichen Geschehens zu erkennen und seine Folgen zu verringern oder sogar zu beheben. Diesen körperlichen Veränderungen misst das Subjekt infolgedessen einen Sinn bei. Da vielfach von den Spezialisten eigens erklärt wird, welche Bedeutung ihren Maßnahmen zukommt und wie sie ablaufen werden, verlieren sie ihren Schrecken. Zusätzlich wird von den Spezialisten vorgeschlagen, schwierige Maßnahmen in bewusstlosem Zustand durchzuführen. Ich entspanne und treibe mir mit witzigen Bemerkungen die Angst aus. Die Anästhesie sei ganz und gar ungefährlich, beteuert eine Frauenstimme. […] Es geht sehr rasch, sagt die Stimme im voraus. Der Sprung aus dem Bewusstsein in die Bewusstlosigkeit dauert einen Atemzug.52 Da die Maßnahmen der Spezialisten dazu dienen sollen, dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit abzuhelfen, nimmt das Subjekt sie lange Zeit bereitwillig hin. Das ist selbst dann der Fall, wenn sie ihrerseits lang anhaltend die gewohnte Körperlichkeit verändern und beträchtliche Einschränkungen der körperlichen Funktionen bedingen. »Unter Strom« gehalten durch die konstante Versorgung mit [dem Anti-ParkinsonMedikament; B.R.] Sinemet hatte ich Tremor und Angstzustände unter Kontrolle und verborgen halten können, dafür aber mit Steifheit, einem hyperkinetischen Zustand und einer schrecklichen Müdigkeit verbunden mit ständigem Gähnreiz bezahlt. Fünf Jahre hatte dieser wechselhafte Zustand angehalten, kombiniert mit dem Gefühl, auf einer Zeitbombe zu sitzen.53 Weil das Subjekt sich eine Besserung des ungewohnten körperlichen Geschehens wünscht, hält es die Maßnahmen der Spezialisten des Gesundheitswesens immer wieder von Neuem aus. Wie der Verlust der gewohnten Körperlichkeit bringen sie das 50 51 52 53

Lesch 2002: 127f. Peinert 2002: 103. Härtling 2007: 41f. Todes 2005: 52.

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Körperlicher Umbruch

Selbst an seine Grenzen, wenn die durch sie bedingten körperlichen Unannehmlichkeiten zu groß werden. Verdammt, was muss ich noch aushalten, bis ich endlich diesen Krebs vom Hals habe? Wieder diese Schmerzen. Wieder dieses rohe Fleisch. Wieder jeder Schluck ein grauenhafter Schmerz. Wann werde ich endlich wieder ohne Schmerzen leben?54 Aber mit den unangenehmen und bisweilen äußerst quälenden Maßnahmen der Spezialisten ist die Aussicht verbunden, dass sie die körperlichen Veränderungen und die dadurch bedingte Erschütterung der Identität beseitigen. Es entsteht ein eigenartiger Zustand: Das Subjekt ist zwischen der Angst vor den sozialen und psychischen Folgen des körperlichen Umbruchs und der Hoffnung, dass sich im Körper oder von außen veranlasst noch etwas ereignet, damit die befürchtete Wirklichkeit nicht eintritt, hin- und hergerissen. Immer die verdrängte Angst, daß etwas Unumkehrbares mit mir passiert, immer die wachgehaltene Hoffnung, daß alles wird wie früher. Es mußte doch einfach, es mußte. Hat diese fast krankhafte Überzeugung meine Leidensfähigkeit so groß gemacht?55 Tatsächlich können die Maßnahmen der Spezialisten dazu beitragen, die Auswirkungen eines körperlichen Umbruchs abzuschwächen. Als ich nach dieser Operation wieder zu mir kam, war der Unterschied riesengroß. Die schrecklichen Schmerzen waren verschwunden, und ich spürte nur noch einen dumpfen Druck. Auch das furchtbare Gefühl von Lähmung war verschwunden. Ich konnte mich wieder bewegen und mit Hilfe sogar sitzen.56

54 55 56

Lesch 2002: 153. Buggenhagen 1996: 35. Mills 1996: 225.

2. »Mein Kopf konnte mir auch keine Erklärung geben.« – Die unterbrochene Kohärenz

Was das Subjekt an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten seines Lebens erlebt, muss in einen inneren Zusammenhang gebracht werden, um seinem Selbst verfügbar zu sein. Wenn es ihm gelingt, wird es in hohem Maße Kohärenz empfinden. Dann wird das Subjekt sein Leben als verstehbar, handhabbar und sinnhaft ansehen, geht davon aus, dass es mit seinen eigenen Möglichkeiten oder mit den Ressourcen seiner Umgebung sein Erleben bewältigen kann, und ist davon überzeugt, dass es sich lohnt, sich anzustrengen, um den Belastungen des Lebens gewachsen zu sein. Doch ist die Fähigkeit des Subjekts, Kohärenz zu empfinden, nicht ein für alle Male festgelegt, sondern in sich veränderbar. Durch ungünstige Umstände kann sie geschwächt, durch günstige Bedingungen gestärkt werden. Einleitend wird ausgeführt, dass ein Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung das körperliche Erleben unverständlich, nicht handhabbar und sinnlos erscheinen lässt (2.1). Davon ausgehend wird allgemein erklärt, was inkohärentes Erleben und Verhalten ausmacht (2.2). Im Anschluss daran wird anhand von vielen Beispielen dargestellt, wie durch das ungewohnte körperliche Geschehen das Kohärenzempfinden unterbrochen wird. Es wird gezeigt, wie die körperliche Kohäsion verringert ist (2.3), die Kontinuität des Erlebens beeinträchtigt (2.4) und die Flexibilität der Körpergrenzen gestört (2.5). Damit verdeutlicht dieses Kapitel, welche Inkohärenz von Selbst und Körperselbst der körperliche Umbruch hervorruft.

2.1

Unverständlich, nicht handhabbar und sinnlos

Inkonsistenz und herabgesetzte Verstehbarkeit: Wenn das Subjekt einen Unfall erleidet, sich verletzt oder erkrankt, ist sein Erleben von Inkonsistenz bestimmt. Das, was außerhalb des Selbst liegt, erscheint dem Subjekt unübersehbar und unerwartbar, willkürlich und zufällig (vgl. Antonovsky 1997: 34). Das körperliche Geschehen ist unverständlich. Über den somatischen Körper ist etwas gekommen, das sich vom Subjekt nicht einordnen lässt.

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Körperlicher Umbruch

Wann strudelte der Pfropfen in die Ader, wann hielt er den Blutfluss im Hirn an? Wann staute sich das Blut in der Carotis? Es gab keinen Schlag, keine Bewusstlosigkeit.1 Was dem Körper geschehen ist, kann aber auch nicht übergangen werden. Eine ganze Woche lang dämmerte mir nur vage, was mit mir geschehen war. Fiona hatte mir zwar von dem Bein erzählt, als ich am dritten Tage das Bewußtsein wiedererlangte, aber es war nicht real für mich, weil die Schmerzen in der Hüfte und im Brustkorb so überwältigend waren.2 Das gesamte Geschehen ist dem Subjekt unverständlich, auch wenn es schon bewusst erfasst, dass sein Jetzt des Erlebens nicht zu seinem Davor passt. Was passiert eigentlich mit mir? Meine Kollegen drehen gerade draußen große, neue Serien. Ich will auch große, neue Filme drehen. Es kann doch nicht zu Ende sein! Kann die Welt nicht stehen bleiben? Kann ich die Uhr nicht zurückdrehen? Für Krebs habe ich doch gar keinen Platz in meinem Leben!3 Auch die Maßnahmen der Spezialisten des Gesundheitswesens tragen nicht dazu bei, das körperliche Geschehen verstehbar zu machen. Ich weiß also weder, ob meine Lebensführung den Anfall ausgelöst hat, noch, was ich gegebenenfalls ändern müßte, um eine Wiederholung zu verhindern. […] Mir scheint aber, daß alle Untersuchungen den eigentlichen Grund für meine plötzliche Erkrankung nicht haben eindeutig ermitteln können.4 Das unverständliche körperliche Geschehen wirkt sich auf das Verhältnis des Subjekts zu den sozialen Systemen, denen es angehört, und auf sein Selbst aus. Da seine Aufmerksamkeit so sehr auf das körperliche Geschehen gerichtet ist, schafft das Subjekt es nicht mehr, Beziehungen zur Alterität einzugehen. Irgendwo im Hintergrund spürte ich auch einen dumpfen Schmerz im linken Bein, aber verglichen mit den anderen Qualen nur so leicht, daß ich mir dessen kaum bewußt war. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich mich befand, was mir in diesem Moment auch völlig gleichgültig war. Ich brauchte meine ganze Kraft, um mit den Schmerzen fertig zu werden.5 Wie dem Subjekt die Gegenwart unverständlich ist, erwartet es, dass ihm auch zukünftige Geschehnisse unvorhersehbar und ungewohnt sein werden. Welche Folgen sein Handeln hat, ist für das Subjekt nicht absehbar, da ihm ein zuverlässiges Modell seiner Umwelt fehlt, das ihm Vorhersagen erlauben würde. Das nicht verstehbare Unbekannte, das dem Körper geschieht, erschüttert die bisherige Einstellung des Subjekts zur Welt.

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Härtling 2007: 21. Mills 1996: 220. Lesch 2002: 23. Peinert 2002: 80. Mills 1996: 7.

2. Die unterbrochene Kohärenz

Mein Kopf […] konnte mir auch keine Erklärung geben oder mich beruhigen. Hier wurde jetzt mein bis dahin naives, unbedingtes Selbstvertrauen und das Gefühl der Geborgenheit in der Welt zum ersten Mal einschneidend in Frage gestellt.6 Belastungsdysbalance und herabgesetzte Handhabbarkeit: Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit führt zu einer Belastungsdysbalance. Infolge der körperlichen Veränderungen meint das Subjekt, dass ihm Aufgaben gestellt werden, die es nicht bewältigen kann und die es überfordern. Weder aus seinen Vorerfahrungen noch mit Hilfe äußerer Ressourcen vermag es mit dem zurecht kommen, was in seinem Körper geschieht. Immer dann, wenn ein Geschehen von Belastungsdysbalance bestimmt ist, ist seine Handhabbarkeit herabgesetzt (vgl. Antonovsky 1997: 35). Da der somatische Körper sich verändert hat, ist das Subjekt nicht mehr in der Lage, in seinem Alltag in die Tat umzusetzen, was ihm wesentlich ist. Mit dieser fehlenden Handhabbarkeit verbindet sich das Unverständnis für das eigene Erleben. Ich kam mit der ganzen Situation nicht klar. Fieber, Nierenprobleme, Gehen war längst zu einem schleppenden Hinken geworden, Stehen ein Kraftakt von kurzer Dauer, den ich schon nach Sekunden aufgeben mußte. Auf zwei, drei Tage Arbeit folgten vier Wochen Krankenhaus. Wollte ich oder wollte ich nicht, und was wollte ich überhaupt? Fragen, die ich mir nur selbst beantworten konnte und auf die ich doch nichts zu antworten wußte. Es gab Tage, an denen ich vor Schmerzen nicht in der Lage war, mein Zimmer zu verlassen.7 Die Bedingungen, in denen das Leben sich vollzieht, sind so unübersichtlich, dass das Subjekt sie nicht mit den eigenen Fähigkeiten zu gestalten weiß. In ihm entstehen Ärger und Verdruss. Mir schwirrt der Kopf. Wo, wie und wann soll ich was, wie und wo? Meine Güte! Inzwischen habe ich so viel erklärt und geredet, dass mich meine Kräfte verlassen. Ich habe die Schnauze voll.8 Auch durch zukünftige Ereignisse fühlt das Subjekt sich mehr bedroht als herausgefordert, und es nimmt an, dass sie ihm eher Unglück als Glück bringen werden. Das Subjekt geht nicht davon aus, den Aufgaben, die ihm das Leben fürderhin stellen wird, gewachsen zu sein. Es sieht sich in seiner Handlungsfähigkeit beeinträchtigt und glaubt nicht mehr, kommende Anforderungen mit den eigenen Möglichkeiten bewältigen zu können. Ich bin nicht imstande zu denken, die Angst hält mich besetzt. Ich möchte fragen, ob Mechthild mitfährt.9 Dabei ist das körperliche Geschehen auch deshalb nicht mehr handhabbar, weil das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit noch gar nicht begriffen hat.

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Peinert 2002: 25. Buggenhagen 1996: 39. Balmer 2006: 89. Härtling 2007: 9.

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Was ich nicht im Kopf hatte, war das Wissen um die Schwere meiner Verletzungen und was es tatsächlich bedeutete, ein Bein zu verlieren. Ich benahm mich so, als sei ich nur am Blinddarm operiert worden.10 Das Subjekt versteht seinen Alltag nicht zu handhaben, weil ihm Aufgaben gestellt werden, die es mit seinen augenblicklichen Möglichkeiten nicht bewältigt kann. Das gibt Mechthild die Gelegenheit, mich zu tadeln. Du hast deinen Schrank neben dem seinen. Ich weiß. Rechts neben dem seinen. Ich weiß. Weshalb holst du dir immer wieder Unterwäsche von dort? Ich weiß es nicht. Und seinen Rasierapparat benützt du auch. Im Bad bringst du alles durcheinander. Ich weiß, beteuere ich. Ich habe überhaupt keine Ahnung.11 Fehlende Partizipation und herabgesetzte Sinnhaftigkeit: Bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit geschieht dem Subjekt ohne sein Zutun etwas, von dem es überwältigt wird und das es nicht zu beherrschen vermag. Dem Geschehen in seinem somatischen Körper ist das Subjekt machtlos ausgesetzt, und auch bei den medizinischen Behandlungen wird oft über es verfügt, ohne dass es darauf großen Einfluss nehmen kann. Wenn jedoch ein Geschehen von fehlender Partizipation bestimmt ist, ist die Sinnhaftigkeit herabgesetzt (vgl. Antonovsky 1997: 36). Zukünftige Ereignisse werden vom Subjekt als weitere Last gesehen, auf die es eh nicht gestaltend einwirken kann, und nicht als etwas, das es erfreuen und für das sich anzustrengen lohnen könnte. Auch fühlt es sich nicht an den Entscheidungen beteiligt, die in den sozialen Systemen, denen es angehört, getroffen werden, und nicht für sie verantwortlich. Da dem Subjekt der Sinn verloren ist, wird von ihm nach dem Sinn gefragt. Da habe ich mich zum ersten Mal gefragt: »Warum gerade ich?«12 Die Sinnfrage kann das Subjekt lange beschäftigen. Sie kann sein Denken weitgehend und über lange Jahre beherrschen. Der vordringlichste Gedanke in meinem Kopf war: »Warum ich?«, und dann: »Warum jetzt?«. In den folgenden 20 Jahren sollten meine ganze Aufmerksamkeit und mein ganzes Interesse der Suche nach einer Antwort auf dieses Rätsel gelten.13 Die Sinnfrage kann das Subjekt anhaltend bewegen, bis es sie als unlösbar ablegt. Lange Zeit war ich mit der Frage beschäftigt, wieso gerade ich erkrankt bin. Diese Frage stellt sich bei solch einem Schicksalsschlag wohl jeder, aber es gibt keine Antwort darauf.14    

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Mills 1996: 221. Härtling 2007: 59. Mills 1996: 226. Todes 2005: 15. Lürssen 2005: 57.

2. Die unterbrochene Kohärenz   Genauso kann das Subjekt die Sinnfrage als sinnlos zur Seite schieben.

Warum ich? Blöde Frage.15 Körperliches Geschehen und vermindertes Kohärenzempfinden: Da die Inkonsistenz des körperlichen Geschehens seine Verstehbarkeit herabsetzt, die Belastungsdysbalance seine Handhabbarkeit und die fehlende Partizipation seine Sinnhaftigkeit, ist die Fähigkeit des Subjekts herabgesetzt, Kohärenz zu empfinden; gleichermaßen ist das Identitätsempfinden gestört. Durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit ist das Subjekt nicht mehr in der Lage, all das, was es an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Beziehungen mit der Alterität erlebt, zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen, denn genau darin liegt die eigentliche Aufgabe der Identität (vgl. Keupp et al. 1999: 86–94). Das bedeutet: Das Subjekt bleibt einer Vielzahl unverbundener, zufällig gereihter Geschehnisse ausgesetzt, die es weder affektiv noch rational einzuordnen weiß. Aus seinem Tun wird kein Handeln, das einem übergeordneten Ziel dient und einem Plan folgt oder das es der Alterität mitteilen könnte. Dafür, wie stark das Subjekt durch das verminderte Kohärenzempfinden in seiner Identität beeinträchtigt ist, sind dessen drei Komponenten, nämlich die Handhabbarkeit, die Verstehbarkeit und die Sinnhaftigkeit, von unterschiedlicher Bedeutung (vgl. Antonovsky 1997: 38, 93f.): Das Erleben und Verhalten des Subjekts ist am wenigsten beeinflusst, wenn bei einem Geschehnis dessen Handhabbarkeit nicht gegeben ist. Zwar kann das Subjekt dann mit diesem Geschehnis nicht aus seiner Erfahrung heraus oder mit Hilfe äußerer Ressourcen umgehen. Aber solange das Geschehnis dem Subjekt noch verstehbar und sinnhaft ist, kann es diesen Zustand verhältnismäßig leicht aushalten; erst wenn er andauert, setzt die fehlende Handhabbarkeit auch die Sinnhaftigkeit herab. Wenn die Verstehbarkeit eines Geschehnisses fehlt, wirkt es sich stärker aus. Solange aber die Sinnhaftigkeit noch gegeben ist, wird sich das Subjekt weiter bemühen, befriedigende Erklärungen und Lösungen zu finden, selbst wenn das eigentliche Geschehen völlig ratlos macht. Am stärksten belastet ist das Subjekt, wenn die Sinnhaftigkeit verloren ist. Ohne sie wird es sich nicht bemühen, ein Geschehnis zu verstehen, mit ihm zurecht zu kommen oder sich weitere Ressourcen zu erschließen, und ohne sie wird auch eine noch vorhandene Verstehbarkeit oder Handhabbarkeit bald an ihre Grenzen kommen. Aus dem Sinnverlust kann eine psychische Krise bis hin zur Suizidalität erwachsen. Aus dem verminderten Kohärenzempfinden infolge der Inkonsistenz des körperlichen Geschehens, der Belastungsdysbalance und der fehlenden Partizipation ergibt sich, dass bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit das gesamte Erleben des Subjekts und sein Verhalten inkohärent wird.16 Dabei ist die Kohäsion des Selbst eben-

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Huth 2003: 37. Während vielfach untersucht und belegt ist (vgl. Bengel et al. 1998: 115-133), dass körperliche Veränderungen durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung umso besser bewältigt werden, je höher das Kohärenzempfinden ist, wird hier umgekehrt behauptet, dass die für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden körperlichen Veränderungen das Kohärenzempfinden vermindern.

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so beeinträchtigt wie die Kontinuität des Erlebens und der flexible Umgang mit Grenzen gegenüber der Alterität und zum Unbewussten (vgl. Ferrara 1998: 80–87).

2.2

Allgemeines zum inkohärenten Erleben und Verhalten

Mögliche Kohärenzminderungen: Verschiedene körperliche Veränderungen vermögen das Kohärenzempfinden zu vermindern: In der somatischen Dimension der Körperlichkeit ist es der Fall, wenn sich der Austausch von somatischem Körper und äußerer Welt verändert hat. Das kann daran liegen, dass entweder der gewohnte Körper durch Veränderungen wie Hunger, Durst und Erschöpfung kurzzeitig, wie Fieber und Schwangerschaft vorübergehend oder wie chronische Krankheit oder Alter dauerhaft abhanden gekommen ist, oder aber daran, dass durch ein plötzliches Unwetter oder ökologische Verwerfungen die gewohnte Umwelt verloren gegangen ist. Beides hat zur Folge, dass die bisherige Passung zwischen Körper und Umwelt wertlos geworden ist und keinen Nutzen mehr erbringt. Wenn sich die sozialen Systeme verändern, denen das Subjekt angehört, wirkt es sich ebenfalls auf das Kohärenzempfinden aus. Dann betreffen die Veränderungen die soziale Dimension der Körperlichkeit. Das kann durch den Lauf der Zeit genauso allmählich geschehen wie durch den Zusammenbruch eines Staates plötzlich, freiwillig durch den Umzug in eine andere Kultur oder erzwungen durch die Einweisung in ein Krankenhaus oder die Deportation in ein Arbeitslager. Jedes Mal wird der soziale Körper des Subjekts auf einmal den Regeln und den Normen, den Werten und den Traditionen eines ihm unbekannten sozialen Systems ausgesetzt, von dessen Existenz es zwar wusste, das ihm aber ansonsten bis dahin fremd gewesen ist. Bedeutsame soziale Veränderungen können auch innerhalb eines vertrauten sozialen Systems entstehen, wenn Beziehungen durch Tod, Krankheit oder andere Gründe verloren gehen oder wenn sich in ihm Beziehungen durch das Hinzukommen weiterer Personen grundlegend ändern. Auf die Fähigkeit des Subjekts, Kohärenz zu empfinden, kann sich weiterhin ungünstig auswirken, wenn es in dem sozialen System, dem es angehört, eine neue Rolle übernehmen muss, die zu erfüllen seine bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht ausreichen, oder wenn neue Erkenntnisse über dessen Mitglieder das bis dahin gültige Bild von ihnen heftig erschüttern. Veränderungen im Selbst des Subjekt vermindern das Kohärenzempfinden, wenn sie die Körperlichkeit in ihrer psychischen Dimension betreffen. Der psychische Körper kann dadurch nachteilig beeinflusst werden, dass das Subjekt eine schwere hirnorganische, wahnhafte oder affektive Störung erleidet, sich durch andere Umstände nicht mehr in gewohnter Narration seines Selbst zu versichern weiß oder in ihm starke Erinnerungen an frühere, nicht verarbeitete Erlebnisse lebendig und bisher abgewehrte Bedürfnisse geweckt werden. Solange das Subjekt von einem ungewohnten Geschehen in seinem Körper überwältigt ist, bleibt seine Fähigkeit, Kohärenz zu empfinden, herabgesetzt. Erst nachdem es aufgehört hat, mit seinem Körper eins zu sein, und begonnen hat, ihn als Objekt von außen zu erleben – auch wenn ihm dieses Erleben zuerst einmal unverständlich, nicht handhabbar und sinnlos erscheint –, kommt es in die Lage, das verminderte Ko-

2. Die unterbrochene Kohärenz

härenzempfinden wieder zu stärken. Ob es dem Subjekt gelingt, durch Arbeit an seiner Identität seine veränderte Körperlichkeit in ein stimmiges Ganzes einzufügen, ist dabei nicht von vornherein abzusehen. Wie aber bestimmte Ereignisse das Kohärenzempfinden vermindern, kann es durch Konsistenz, Belastungsbalance und Partizipation auch wieder zunehmen. Bis dahin bleibt die Kohäsion des Selbst verringert, die Kontinuität des Erlebens beeinträchtigt und die Flexibilität der Grenzen gestört. Verringerte Kohäsion des Selbst: Wenn die Kohäsion des Selbst verringert ist, weiß das Subjekt nicht zu sagen, wer es ist und welche Eigenschaften und Wesensmerkmale es ausmachen. Es findet keine Ruhe im eigenen Selbst, da sein Selbst in sich zerrissen ist, und nichts, das zu erstreben sich lohnen würde. Es fehlen ihm die Erinnerungen genauso wie die Ausrichtung auf die Zukunft. Das Leben hat ihm keine Tiefe und wirkt zugleich bedrohlich. Verschiedene Teilidentitäten wie Körperlichkeit, Sexualität, Partnerschaft, Familie, Beruf oder Spiritualität sind nur bedingt oder gar nicht aufeinander bezogen. Sie ergänzen sich nicht, sondern stehen unverbunden und spannungsvoll nebeneinander. Die sie antreibenden unterschiedlichen Motivationen können nicht zusammengeführt werden. Im Erleben überwiegt eine anhaltende Unzufriedenheit, die sich nur schwer bezeichnen lässt. Was dem Subjekt zu verschiedenen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und in seinen Beziehungen geschieht, vermag es nicht mit früheren Erfahrungen zu vergleichen und in einen größeren Zusammenhang einzufügen. Stattdessen beherrscht die Furcht, einmal mehr vom eigenen Erleben überwältigt zu werden und dem Leben mit seinen Anforderungen ohnmächtig gegenüberzustehen, das Sein. Zwischen einzelnen Identitätsentwürfen und -projekten kann ebenso wenig gewählt wie beabsichtigten Handlungen ein übergeordnetes Identitätsziel beigemessen werden. Weiterhin ist bei einer geringen Kohäsion des Selbst die Identität in ihrer Beziehung zur Alterität betroffen. Anliegen können wegen ihrer Widersprüchlichkeit oder Vieldeutigkeit den Anderen nicht vermittelt werden. Eigene Motivationen und die der Anderen lassen sich weder aufeinander beziehen noch miteinander vereinen. Ebenso ist es dem Subjekt nicht möglich, sich mit Empathie in die Alterität einzufühlen oder sich auf eine Identifikation mit ihr einzulassen. Die Narration zerfällt in einzelne Episoden und ist in ihrem Gedankengang zerfahren. Sie vermittelt dem Zuhörer keine Bilder, sodass das Subjekt mit seiner Aussage unverstanden und es trotz seiner Rede einsam bleibt. Aus der fehlenden Verwurzelung in einem sozialen System wird anhaltende Heimatlosigkeit. Beeinträchtigte Kontinuität des Erlebens: Wenn das Kohärenzempfinden vermindert und dabei die Kontinuität des Erlebens beeinträchtigt ist, ist das Subjekt nicht fähig, die einzelnen Abschnitte des Lebens miteinander zu verbinden. Da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht aufeinander bezogen werden können, sind gegenwärtiges Erleben und Handeln nicht aus früheren Erfahrungen abzuleiten oder auf zukünftige Erwartungen auszurichten. Nichts dauert dem Subjekt an; alles scheint stets von Neuem zu beginnen. Einen inneren Fluss kann es nicht empfinden. Das Leben zerfällt in Augenblicke, ohne dass sich das Besondere eines Augenblicks erfassen lässt. Das Subjekt kann weder das Jetzt mit Erinnerungen verknüpfen noch von ihm aus in die Zukunft blicken. Weder kann es die Gunst der Stunde nutzen noch ihrer Ungunst entkommen. Eine Diskontinuität im Zeiterleben zeigt sich bisweilen auch darin, dass sich Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit vermischen. Ohne dass es dem Subjekt

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bewusst wird, bestimmen frühere Erfahrungen sein heutiges Erleben. Heftige Affekte sind aus der Vergangenheit in die Gegenwart verschoben und lassen die Gegenwart unbeherrschbar erscheinen, weil sie der Vergangenheit nicht zugeordnet werden können. Alles, was heute erlebt wird, scheint schal und schon einmal da gewesen zu sein, ohne wirklich als vergangen erlebt zu werden, oder es ist wertlos, weil es gegenüber dem Vergangenen nicht zählt. Es gibt keine Gegenwart, in der etwas neu entsteht, und keine Zukunft, in der etwas unvorhergesehen ist, weil in ihr nur fortgeschrieben wird, was heute ist. Umgekehrt kann die Gegenwart jegliche Bedeutung verlieren, weil die ganze Motivation auf die Zukunft ausgerichtet ist. Entweder werden sich in ihr die Hoffnungen erfüllen, sodass das heutige Leid nicht bewältigt werden muss, oder in ihr werden all die Schrecken wahr werden, sodass es deshalb unmöglich ist, das Glück des Augenblicks zu erfassen und zu genießen. In seinem Verlust der zeitlichen Kontinuität wartet das Subjekt auf etwas, ohne zu wissen, worauf es wartet. Das Dasein ist ihm langweilig und in der Langeweile verstreicht die Zeit. Die Zeit steht still und rast zugleich. Dem Subjekt sind das Selbst und die Welt entglitten (vgl. Safranski 2015: 19–39). Gestörte Flexibilität der Grenzen: Die Verminderung des Kohärenzempfindens kann auch die Flexibilität der Grenzen des Selbst stören. Dann ist es dem Subjekt nicht möglich, sich in dem für sein Selbst angemessenen Maße mit den sozialen Systemen, denen es angehört, und dem eigenen Unbewussten, das sein Erleben prägt, auszutauschen. Die Grenzen nach außen und nach innen können nicht so geöffnet und geschlossen werden, wie es sein Wohlbefinden erfordert, sondern sind entweder zu weit offen oder zu fest verschlossen. Wenn die Grenzen des Selbst nach außen zu weit geöffnet sind, kann das Subjekt bis zum Verlust seiner Identität in den äußeren Bedingungen aufgehen. Es vermag weder eigenständig gegenüber der Alterität zu sein noch verschieden von ihr. Es macht, was von ihm gewollt wird, und lässt zu, dass über es bestimmt wird, ohne zu merken, welchen Kräften es ausgesetzt ist. In der Gemeinschaft mit der Alterität fühlt sich das Subjekt stark und sicher und fürchtet doch stets, verlassen zu werden. Ungeprüft bezieht es auf sich, was ihm nicht gilt, und übernimmt es die Zuschreibungen, die es von den Anderen bekommt. Das Subjekt schämt sich oder fühlt sich schuldig für das, was sie an ihm versäumt haben, weil es nicht zwischen dem eigenen Selbst und dem der Anderen zu unterscheiden versteht. Wenn die Grenzen des Selbst nach außen aber zu fest geschlossen sind, wird sich das Subjekt mit der Alterität nicht verbunden fühlen. Weil es weder eine Anregung von außen zulässt noch etwas in eine Gruppe hineingibt, kann es sich persönlich nicht weiterentwickeln. Andere Menschen gelten als unerreichbar oder gefährlich, sie werden in ihrem Wesen nicht erkannt. Wenn die Grenzen des Selbst zum eigenen Unbewussten zu weit geöffnet sind, wird das Empfinden von Affekten, Intuitionen, Fantasien und Illusionen bestimmt, ohne dass sie mit der Realität abgeglichen werden. Vage Hoffnungen oder unbestimmte Ängste beeinflussen das Selbstverständnis und leiten das Handeln. Aufkommende Impulse werden nicht beherrscht, sondern ausgelebt und gleich in die Tat umgesetzt. Wenn die Grenzen des Selbst nach innen dagegen zu fest geschlossen sind, ist das Subjekt nicht mit seinen Bedürfnissen und Motivationen verbunden. Es fühlt sich von seinen Wurzeln abgeschnitten. Wiederkehrende Gedanken kreisen in ihm, ohne dass es sie zu beenden weiß. Das Subjekt vertraut seinen Einfällen nicht und spürt keinen

2. Die unterbrochene Kohärenz

Standpunkt, der zu vertreten wäre. Es weiß nicht, warum es was macht. Es weiß nicht, was ihm schadet oder was ihm gut tut. Es spricht, ohne sich selbst zu hören, und vermag nicht zu benennen, welche Menschen und welche Beziehungen es braucht, um sich wohlzufühlen. Psychopathologische Beschreibungen: Das Erleben und Verhalten, das sich aus dem verminderten Kohärenzempfinden ergibt, lässt sich psychopathologisch beschreiben. Dafür sind verschiedene Bezeichnungen gebräuchlich: Bei einer verringerten Kohäsion des Selbst kommt es zur Dissoziation. Bei der Unterform der Spaltung sind es zwei Anteile des Selbst, bei der Unterform der Zersplitterung oder Fragmentierung sind es mehrere Anteile des Selbst, die unverbunden nebeneinander stehen und nichts voneinander wissen, entweder weil sie sich getrennt haben oder weil sie nie zuvor vereint gewesen sind. Wenn die einzelnen Selbstanteile dann abwechselnd das Verhalten des Subjekts bestimmen, entsteht der Eindruck einer doppelten oder gar einer multiplen Persönlichkeit. Bei einer anderen Störung der Kohäsion des Selbst, der Depersonalisation, wird das gesamte eigene Selbst von außen betrachtet und erscheint in sich als fremdartig. Die Depersonalisation kann sich auch auf den eigenen Körper beziehen, sodass er dem Subjekt nicht zum Selbst zu gehören scheint, auf einzelne Körperteile, die ihm vergrößert oder verkleinert, verzerrt oder fehlend erscheinen, oder auf die Bewegungen des Körpers; sie lässt dem Subjekt die eigenen Gefühle seltsam erscheinen und das eigene Denken und Handeln unlebendig. Bei der Derealisation wiederum, die der Depersonalisation ähnlich ist, sind es vertraute Menschen und Gegenstände, die dem Subjekt fremd und unwirklich sind. Bei der beeinträchtigten Kontinuität des Erlebens ist das Zeitbewusstsein gestört. Der Zeitablauf ist wie in einer Zeitlupe verlangsamt oder wie in einem Zeitraffer beschleunigt; oder das Zeitgitter ist betroffen, sodass viele Einzelheiten des bisherigen Lebens zwar noch erinnert, aber nicht mehr in eine richtige Beziehung zueinander geordnet werden können. Bei der gestörten Flexibilität der Grenzen werden Teile des Selbst in die Alterität verlegt oder Teile von ihr in das Selbst aufgenommen. Bei der Introjektion übernimmt das Subjekt Gedanken und Gefühle der Alterität so selbstverständlich in sein Selbst, als wären sie ein Teil von ihm. Bei der Projektion verschiebt es unwillkommene Gedanken und Gefühle in die Alterität, denen nun die Eigenschaften zugeschrieben werden, die es im Selbst nicht bewahren kann. Bei der Abjektion schließlich wird von einem Subjekt all das mit Ekel besetzt und verworfen, was sein Selbst bedroht, ohne dass es sich dadurch aber je vollständig davon zu lösen und ganz von seiner Angst zu befreien vermag. Psychopathologisch zeigt sich das verminderte Kohärenzempfinden aber nicht nur im Erleben des Subjekt, sondern auch nach außen in seinem Verhalten: Die Sprache erscheint dann fragmentiert und weist inhaltlich-semantische, formal-strukturelle und grammatikalische Auffälligkeiten auf. Stimmige Erzählungen zum eigenen Selbst sind nicht mehr möglich; und innerhalb eines einzelnen Gedankens können die Zusammenhänge so weit aufgelöst, eigentlich zusammengehörende Inhalte so getrennt und nicht zusammengehörende so verbunden worden sein, dass der Gedankengang völlig zerfahren wirkt und seine Erzählung sich von seinen Zuhörern nicht mehr nachvollziehen lässt. Ebenso können die Erinnerungen an frühere Erlebnisse abgespalten sein, sodass sie scheinbar der Verdrängung anheim gefallen sind. Das Handeln wiederum erscheint

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Außenstehenden unangebracht, unvernünftig, gestört oder krankhaft und wird von den Spezialisten des Gesundheitswesens als Agieren bezeichnet. Potentialität der Inkohärenz: Obwohl inkohärentes Erleben und Verhalten meist psychopathologisch gefasst wird, lässt es sich unter dem Gesichtspunkt seiner Potentialität betrachten: Es kann ein, wenn auch unreifer, doch für das Überleben entscheidender Versuch des Subjekts sein, mit innerpsychischen Spannungen umzugehen, die ansonsten nicht zu ertragen wären. Denn wenn ihm etwas widerfährt, das es überwältigt und mit der bisherigen Struktur der Identität nicht verarbeiten kann, ist die Gefahr groß, dass sein Selbst völlig zusammenbricht. Um den Zusammenbruch zu vermeiden und zumindest das Überleben zu sichern, versucht das Subjekt, durch verschiedene Formen der Inkohärenz bis hin zur Bewusstlosigkeit zu erreichen, dass es solch bedrohliche Ereignisse zuerst einmal nicht wahrnimmt und daher auch nicht verarbeiten muss. Die schützende Verminderung des Kohärenzempfindens kann dann so lange andauern, bis die Bedingungen günstig genug geworden sind, um die abgewehrten Erlebnisse psychisch repräsentieren zu können. Inkohärenz ist außerdem eine Möglichkeit für das Subjekt, um dauerhaft verschiedene, in sich widersprüchliche Selbstanteile als zu sich gehörend ansehen zu können. Indem sie voneinander getrennt gehalten werden, erkennt das Subjekt sich als ein und dasselbe, auch wenn es Unvereinbares in der Welt erlebt oder in sich empfindet. Wie sehr diese Selbstanteile miteinander verbunden sein müssen, um vom Subjekt noch als einheitliche Identität empfunden zu werden, ist dabei von einem zum anderen verschieden. Manche erstreben einen hohen Grad von Kohärenz, anderen genügt eine Kernidentität, an die ihre einzelnen Teilidentitäten locker angefügt sind. Dann bestehen unterschiedlichste Erfahrungen und Handlungsweisen nebeneinander, ohne dass die damit einhergehenden Spannungen das Selbst gefährden. Brüche und Gegensätze lassen sich so lange miteinander vereinbaren, wie sich das Subjekt immer wieder aufs Neue bemüht, Kohärenz im jeweils erforderlichen Maß herzustellen, und wie ihm sein Erleben und Verhalten an sich noch als sinnhaft erscheint (vgl. Keupp et al. 1999: 90–94). Schließlich ist die Fähigkeit, Inkohärenz bewusst einzugehen und auszuhalten, eine wichtige Voraussetzung für persönliches Wachstum. Nur wenn das Subjekt dazu in der Lage ist, sich verwirren zu lassen, an seine Grenzen zu kommen und sein Selbst zu verlieren, ist es in der Lage etwas zu lernen, was es nicht schon zuvor kannte. Auch wenn es aus der Widersprüchlichkeit einzelner Teilidentitäten eine höhere Ordnung schaffen oder psychiatrisch auffällige Formen des Erlebens und Verhaltens überwinden will, muss es bereit sein, bewusst die Affekte zuzulassen, die stets damit verbunden sind, wenn Selbstanteile zusammengeführt und die Grenzen des Selbst erweitert werden. Wenn der Verlust der gewohnten Körperlichkeit das Kohärenzempfinden vermindert und mit einer verringerten körperlichen Kohäsion, einer körperlich bedingten zeitlichen Diskontinuität und einer gestörten Flexibilität der Körpergrenzen einhergeht, lässt sich noch nicht sagen, ob dieses inkohärente Erleben und Verhalten des Subjekts als eine psychopathologische Auffälligkeit krankheitswertig bleibt oder ob sich daraus ein persönliches Wachstum ergibt.

2. Die unterbrochene Kohärenz

2.3

Verringerte körperliche Kohäsion

Kohäsion des Selbst und Körperlichkeit: Neben dem Unbewussten, das sein Erleben prägt, und den sozialen Systemen, auf die es bezogen ist, ist die Fähigkeit des Subjekts, eine Kohäsion des Selbst herzustellen, in hohem Maße von seiner Körperlichkeit bestimmt. Schon wenn es dem Subjekt im Alltag nicht gelingt, den nötigen Austausch mit der Welt sicherzustellen, und dadurch ein Zustand von Hunger, Durst oder Übermüdung eintritt, ist sein Befinden beeinträchtigt. Auch eine körperliche Veränderung, von der das Subjekt weiß oder zumindest annimmt, dass sie vorübergehen wird, vermag, solange sie andauert, sein Erleben und seinen Bezug zu sich selbst erheblich zu beeinflussen. Heftiger Zahnschmerz lässt alle anderen Teilidentitäten des Subjekts wie seine private oder berufliche hinter seine körperliche zurücktreten, und auch diese ist ganz auf den Schmerz eingeengt, sodass die Kohäsion des Selbst verringert ist. Auch wird das Selbstverständnis des Subjekts davon beeinflusst, wenn sich in eigentlich vorhersehbarer Weise die körperliche Kohäsion verändert. Während sich das Verhältnis zwischen der somatischen, der sozialen und der psychischen Dimension der Körperlichkeit bei Frauen zwischen Menopause und Menarche durch die hormonelle Umstellung monatlich verschiebt, kann sich jedes Mal aufs Neue ihr allgemeines Identitätsempfinden verändern und die Kohäsion des Selbst verringern. In der lutealen Phase des Menstruationszyklus kommen viele Frauen den Anforderungen ihres Alltags nur mit Mühe nach. Ihr somatischer Körper schmerzt und fühlt sich schwer an. Seine ganze Belastbarkeit ist herabgesetzt. Sein Austausch mit der Welt ist bei manchen vermindert, bei anderen gesteigert. Die Aufnahme der Welt in den Körper wird affektiv anders bewertet, so dass nun Ängstlichkeit, Reizbarkeit oder Traurigkeit vorherrschen. Auch zeigt der soziale Körper in den privaten Beziehungen oder im Beruf Verhaltensweisen, die von denen deutlich abweichen, die während der Follikelphase vorherrschen. Vorübergehend kann das Selbstwertempfinden herabgesetzt sein, und es hebt sich erst wieder, wenn die Menstruation beginnt. In dieser Hälfte des Zyklus fällt den betroffenen Frauen das Leben dann wieder leicht; getragen von Zuversicht und Kraft, gehen sie die täglichen Aufgaben nun wieder in der Weise an, die dem von ihnen angestrebten Maß an Kohäsion entspricht. Ungewohntes körperliches Erleben: Bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung wird der Körper grundlegend anders als sonst erlebt, wobei es aber keine – oder zumindest auf absehbare Zeit keine – Rückkehr zum gewohnten Erleben gibt. Während der Körper sonst den Austausch mit der Umwelt und den sozialen Systemen vermittelte, ohne selbst hervorzutreten und auf sich aufmerksam zu machen, wird er nun selbst zu einem Objekt der Wahrnehmung. Schon allein dadurch, dass das Subjekt nicht mehr unbewusst mit seinem Körper eins ist, sondern einen Körper hat, den es bewusst spürt, geht die gewohnte Kohäsion verloren. Dazu kommt, dass das körperliche Erleben an sich ein anderes ist. Es sind dabei nicht nur Schmerz, Angst oder Scham, die das Selbst überwältigen. Es geschieht auch durch körperliche Missempfindungen und Beeinträchtigungen. Sie können aus dem sensomotorischen Körper kommen.

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Die Symptome wechselten zwischen Ameisen-, Watte- oder Schmirgelpapiergefühl in den Armen oder Beinen, mal Blitze- oder Nebelsehen und immer wieder schlechter gehen, stolpern, hinfallen.17 Ebenso können die körperlichen Missempfindungen und Beeinträchtigungen aus dem viszeralen Körper stammen. Und dieser Druck im linken Lungenflügel. Die Tatsache, dass man die Lungen gar nicht spüren kann, widerspricht meiner Wahrnehmung.18 Das Subjekt ist davon überrascht, auf welch unbekannte Art und Weise sein somatischer Körper sich ihm mitteilt. Diese Art und Weise der Mitteilung lenkt seine Aufmerksamkeit auf körperliche Funktionen und auf Teile des Körpers, die es sonst nicht beachtet hat. Ich bin erstaunt, welche Kräfte ich trotz Muskelschwund und Muskelschwäche entwickeln kann, um meiner Atemnot Ausdruck zu verleihen. Könnte ich tief einatmen, würde meine Atemnot offensichtlicher erscheinen. Aber meine Atemmuskeln sind zu schwach. Ich atme fast nicht mehr, versuche meine Halsmuskeln anzuspannen, damit ich wenigstens ein bisschen Luft bekomme, was jedoch auch nichts bringt. Anders mein Herz. Es scheint kräftiger denn je und schlägt unaufhörlich.19 Die körperlichen Veränderungen führen dazu, dass der Körper der Umwelt in einer Art und Weise begegnet, wie es zuvor noch nicht geschehen ist. Auch daraus kann sich ein bisher nicht gekanntes körperliches Erleben ergeben. Für von Infarkten heimgesuchte Klaustrophobe muss die mit ihren Magneten lärmende Röhre eine Art Vorhölle sein. Meine Ohren werden gegen das arhythmische Knallen und Knattern verstöpselt, und ich bekomme einen Klingelknopf für alle Fälle in die Hand gedrückt, werde in die Röhre geschoben wie ein Brot in den Backofen. Ich liege regungslos und warte darauf, dass das Rohr enger wird und mich einschließt.20 Unabhängig davon, ob das körperliche Erleben durch den sensomotorischen, den viszeralen oder den konnektiven Körper bedingt ist, ist es dem Subjekt bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit so fremd, dass es nicht in der Lage ist, sein Erleben mit Hilfe seiner Vorerfahrungen einzuordnen oder in einen vertrauten Zusammenhang zu bringen. Das Subjekt sucht nach Erklärungen, die das, was in seinem Körper geschieht, verstehbar machen sollen. Aber da es keine Antwort findet, bleibt das Geschehen unverständlich. Mein Körper zittert und es schüttelt mich, wie ich es noch nie erlebt habe. Meine Röhrenknochen, besonders die Unterschenkelknochen, tun so weh, dass ich wimmern

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Lürssen 2005: 28. Balmer 2006: 82. Balmer 2006: 37. Härtling 2007: 24.

2. Die unterbrochene Kohärenz

muss. Ich drehe und wälze mich im Bett vor Schmerzen und Unwohlsein. Mir ist sehr übel und ich schwitze. Ob ich Fieber habe?21 Aufgehobene Passung des Körperschemas: Wenn das körperliche Erleben infolge von Unfall, Verletzung oder Erkrankung ungewohnt ist, wird die körperliche Kohäsion dadurch verringert, dass somatischer Körper und neuropsychologisches Körperschema nicht mehr zusammenpassen. Dem Subjekt gelingt die Orientierung an seinem eigenen Körper nicht mehr. Was die Rezeptoren der Oberflächen- und Tiefensensibilität, der kinästhetischen Wahrnehmung oder die Sinnesorgane über den somatischen Körper melden, stimmt nicht mit dem Wissen zu seiner Lage, Form, Ausdehnung und Bewegung überein, das es in seinem psychischen Körper gespeichert hat. Auch wenn durch andere Umstände als durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Passung zwischen dem somatischen Körper und dem neuropsychologischen Körperschema aufgehoben ist, kann damit ein erheblicher Leidensdruck verbunden sein. Bei der Anorexia nervosa führen die anhaltenden Bemühungen des Subjekts, die fehlende Passung der verschiedenen Dimensionen der Körperlichkeit zu überwinden, dazu, dass es durch Verzicht von Nahrung und Flüssigkeit, durch absichtlich herbeigeführtes Erbrechen oder eingenommene Abführmittel nicht nur sich selbst schädigt, sondern bisweilen auch sein Leben zerstört. Der starke Wunsch des Subjekts, in einem somatischen Körper zu leben, der dem vorhandenen Körperschema entspricht, kann bei der Body Integrity Identity Disorder (BIID) (vgl. Stirn et al. 2010) das Identitätsempfinden beherrschen. Da auf Grund des Körperschemas der somatische Körper als unvollkommen erlebt wird, solange er nicht erblindet, gehörlos oder gelähmt ist oder ihm ein Glied fehlt, versucht das Subjekt, ihn durch gezielte Eingriffe dem inneren Bild anzupassen und heil zu werden. Wenn die Passung von somatischem Körper und neuropsychologischen Körperschema aber dadurch aufgehoben ist, dass der somatische Körper durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung verändert ist, bleibt das vertraute neuropsychologische Körperschema oft noch lange erhalten, auch wenn es nun vom tatsächlichen Körper abweicht. Nach der Amputation einer Extremität kommt es häufig zu Phantomschmerzen, nämlich zu stechenden und brennenden Schmerzen, oder auch zu Phantomsensationen, nämlich zu nicht ganz so schmerzhaften Empfindungen von Bewegung, Temperatur, Druck oder Lage im nicht mehr vorhandenen Körperglied. Erst durch ständigen Umgang mit dem veränderten somatischen Körper wird das Körperschema allmählich dem tatsächlichen Körper angepasst, wobei das Phantomglied in seinem Mittelteil oft kleiner wird, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Aber nicht nur der Verlust eines Körperglieds führt dazu, dass die bisherige Passung zwischen somatischem Körper und Körperschema aufgehoben wird. Sie kann auch durch andere körperliche Veränderungen beeinträchtigt werden. So wird dann die nicht mehr vorhandene körperliche Funktion lange noch weiter so eingesetzt, als würde sie nicht fehlen. Ich habe immer noch das Gefühl, daß ich sehen kann. Im rechten Auge, dem zuletzt erblindeten, habe ich immer noch ein Maculaempfinden, und ich kann meine Augen auch noch von einer Seite zur anderen bewegen. Oft bewege ich sie automatisch in die Richtung, aus der Klänge kommen. In gewissem Sinn weiß ich also noch, wie man 21

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sieht. Ich habe sogar das Gefühl, daß ich Ausschau halte, forschend durch die Schwärze starre, falls doch etwas in Sicht kommen sollte.22 Aus der verringerten körperlichen Kohäsion infolge der aufgehobenen Passung von neuropsychologischen Körperschema und tatsächlicher Körperlichkeit folgt bisweilen, dass der somatische Körper weiter geschädigt wird. Die schon bestehende Inkohärenz wird dadurch weiter vergrößert. Ich streckte automatisch das linke Bein aus, um mich zu stützen, und fiel auf den Stumpf. Der Schmerz trieb mir Tränen in die Augen. Im Oktober fiel ich noch mehrere Male, und jedesmal machte ich denselben dummen Fehler. Ich vergaß einfach, daß es mein linkes Bein nicht mehr gab, und versuchte mich damit abzufangen. […] Diese Stürze beförderten den Heilungsprozeß natürlich nicht gerade. Es wurde immer schlimmer, und bald darauf mußte ich wieder ins Krankenhaus, um die Höhlung drainieren und mit Jod behandeln zu lassen.23 Umgekehrt kann durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit auch nur das Körperschema verändert sein, ohne dass sich die Gestalt des somatischen Körper verändert hat. Wenn das innere Bild des Körpers durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung geschädigt ist, nimmt das Subjekt mit Entsetzen ein eigenes Körperteil als fremd wahr, als ob es nicht zu seinem eigenen Körper gehöre. In diesem freundlichen, warmen Bett spürte ich plötzlich im Halbschlaf, wie mir eine fremde Hand ins Gesicht faßte. Für einen Moment packte mich Panik, die Hand ließ sich nicht wegschubsen. Sie war an meinem eigenen linken Arm festgewachsen.24 Spaltungen im Körperselbst: Neben dem ungewohnten körperlichen Erleben und neben der aufgehobenen Passung zwischen somatischem Körper und neuropsychologischem Körperschema ist bei einem körperlichen Umbruch die körperliche Kohäsion durch Spaltungen im Körperselbst verringert. Im Körperbewusstsein kommt es zu Dissoziationen, weil das bewusste Erleben des somatischen Körpers das Subjekt zu sehr schmerzt, ängstigt oder beschämt, als dass es diese Affekte auszuhalten vermöchte. Wie bei körperlicher, sexueller und emotionaler Misshandlung scheinen dabei verschiedene Formen der Spaltung im Körperselbst möglich zu sein (vgl. Joraschky 2000: 148–153): Der Körper als Ganzes wird vom Selbst verlassen und die Affekte, die aus ihm herrühren, werden nicht mehr gespürt. Es besteht die Vorstellung, dass der eigene Körper als ganzes oder Teile von ihm tot sind. Das Körperbewusstsein ist fragmentiert, sodass der Körper nicht mehr als Ganzheit wahrgenommen wird, sondern zu zerbersten scheint und einzelne Teile von ihm entfremdet sind. Dem somatischen Körper werden gute und schlechte Bereiche zugeschrieben bzw. gilt bei paarigen Körperteilen das eine als gut und das andere als schlecht; dann kann sich Aggression gegen das böse Körperteil richten, um das gute zu bewahren. Schließlich kann das subjektive Empfinden für die

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Hull 1992: 187f. Mills 1996: 242. Peinert 2002: 25.

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Körpergrenzen verloren gegangen sein, so dass der somatische Körper Bereiche hat, wo er offen erscheint oder sich aufzulösen droht. Von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, und in geringerem Maße auch von funktionellen, ist bekannt, dass das erkrankte Organ im Körperbewusstsein vom übrigen Körper abgespalten wird. Indem auf diese Weise die Kohäsion des Körperselbst verringert wird, wird das allgemeine Wohlbefinden gestärkt; bei denen, die ihr erkranktes Organ in ihrem Erleben abspalteten, wird der Körper als ganzes positiver beschrieben und ist die körperliche und seelische Befindlichkeit insgesamt besser als bei denen, die es nicht taten (vgl. Posch 1997: 249f.). Bei dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit erfasst das Subjekt bisweilen bewusst den Augenblick, in dem es zur Dissoziation kommt. Ich lerne sterben. Mein Bewusstsein bereitet mich darauf vor, meinen ganzen Körper. Ich hocke, kaure und spüre, wie sich eine Haut zwischen draußen und mir bildet, dafür sorgt, dass ich mit meiner Angst für mich bin.25 Das Subjekt erlebt die Spaltung als Schutz. Dadurch wird es davor bewahrt, durch den Schmerz, der den körperlichen Umbruch begleitet, überwältigt zu werden. Die Krankheit vervielfältigt mich. Ich liege neben mir. Nein, ich halte es allein aus, mumifiziert in meinem Bewusstsein, drinnen. Draußen werden Sätze gestanzt und gestapelt. Ich krümme mich. Nicht weil sie mich verletzen, beleidigen – weil ich unerreichbar bin, drinnen.26 Erleichtert nimmt das Subjekt wahr, dass sich sein Körperbewusstsein gespalten hat. Drinnen und draußen. Drinnen wachsen die Gedanken und Erwartungen zusammen zu Knoten. Drinnen ziehen Schmerzen Spuren. Drinnen schrumpft die Scham auf Kindergröße, wenn es sein muss, in diese unsinnige Flasche zu urinieren, und ›es danebengeht‹. Draußen geben sie Urteile ab und benennen das Elend von drinnen: ein Vorderwandinfarkt mit Lungenödem.27 Die Dissoziation des Körperbewusstseins bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit kann auch nur das betroffene Körperteil umfassen. Seine Abspaltung führt dazu, dass das Subjekt es ohne Affekte sachlich wie einen fremden Gegenstand betrachtet. Dadurch wird erleichtert, dass das getan werden kann, was getan werden muss, um die Schädigung des somatischen Körpers zu verringern oder dem Schmerz abzuhelfen. Diese Einbuchtung war auch ein pflegerisches Problem, denn die Wunde versuchte sich zu schließen, mußte aber offengehalten werden, damit sie von innen heraus verheilte und austrocknete. Das bedeutete, daß man immer wieder Watte und Gaze hineinstecken mußte, die anschließend wieder entfernt wurde. Ich hatte erwartet, zu zimperlich zum Zuschauen zu sein, war es aber zu meiner Überraschung nicht. Recht bald half ich bei der Versorgung der Wunde mit.28 25 26 27 28

Härtling 2007: 8. Härtling 2007: 39. Härtling 2007: 11. Mills 1996: 228.

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Veränderte Einstellung zum Körper: Im Körperselbst verringert sich die Kohäsion auch dadurch, dass sich durch den körperlichen Umbruch die Körpereinstellung verändert. Es kommt dazu, dass durch das Überleben des Unfalls, der Verletzung oder der Erkrankung der Körper nicht mehr die Eigenschaften aufweist, die ihn zuvor auszeichneten, er nicht mehr so aussieht wie zuvor und er auch nicht mehr die Funktionen, mit denen er bisher im Austausch mit der Welt stand, erfüllt. Unabhängig davon, ob die Veränderungen im sensomotorischen, viszeralen oder konnektiven Körper liegen, ob sie Ausdruck eines schnell erfolgten körperlichen Umbruchs sind oder eines langsam eingetretenen, verunsichern sie das Subjekt. Es verliert das Vertrauen in seinen Körper. Zuerst ging es gemütlich über blühende Almwiesen zum Steilhang und dann runter im Zickzack. Links Abgrund, rechts Fels, dazwischen ich und nirgends eine Möglichkeit, mich festzuklammern. Mir wurde so schwindlig wie noch nie in meinem Leben. Die extrem steilen Passagen rutschte ich in Angstschweiß gebadet auf dem Hosenboden – im Rock – zu Tal. Nie wieder in hohen Bergen spazieren gehen, schwor ich mir. Trotzdem fand ich diese Schwindelattacke recht merkwürdig. Nur wenige Jahre zuvor hatte ich ähnliche Situationen mühelos gemeistert. All diese rätselhaften, körperlichen Irritationen; ich konnte mich nicht mehr auf meinen Körper verlassen, das machte mich unsicher.29 Der Selbstwert des Subjekts leidet, weil es alltägliche körperliche Abläufe nicht mehr wie gewohnt vollzieht und es sich darin nun von der Alterität unterscheidet. Meine Blase meldete sich ziemlich dringend und verlangte die morgendliche Erleichterung. Jetzt war guter Rat wirklich teuer, denn weder Bein noch Arm gehorchten mir und gestatteten mir aufzustehen. […] Ich klingelte notgedrungen nach der Schwester und fragte verschämt, wo denn hier die Toiletten seien. »Na, da können Sie ja wohl nicht selber hingehen«, war die wenig sensible Auskunft. Statt dessen drückte sie mir die »Ente« in die Hand und verzog sich diskret. Die Natur erzwang ihren Lauf. Geduld half hier gar nichts, und ich fühlte mich gedemütigt und meiner Souveränität beraubt.30 Der Selbstwert des Subjekts wird auch dann herabgesetzt, wenn ihm bewusst wird, dass es in seinem veränderten Körper unvorteilhaft auf die Alterität wirkt und ihr nicht mehr gleicht. Einmal sollte ich per Rollstuhl nur über den Hof in ein näher gelegenes Labor geschafft werden. Es schneite draußen, und ich hatte mich nicht rechtzeitig witterungsgerecht anziehen können, ja ich hatte weder Wintermantel noch Wintermütze von zu Hause mit in die Klinik gebracht. So schützte der fürsorgliche Pfleger, ein mir völlig unbekannter freundlicher älterer Mann, meinen baren Kopf vor den Schneeflocken, indem er mir einfach ein Handtuch um den Kopf wand. Ich machte durchaus eine lächerliche Figur im Rollstuhl, war andererseits aber dankbar für den Schutz vor der Witterung.31

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Lürssen 2005: 25f. Peinert 2002: 29f. Peinert 2002: 65.

2. Die unterbrochene Kohärenz

2.4

Körperlich bedingte zeitliche Diskontinuität

Kontinuität des Erlebens und Körperlichkeit: Der körperliche Umbruch ist dadurch bestimmt, das durch ihn die Kontinuität des Erlebens unumkehrbar aufgehoben ist. Durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung verändert sich die Körperlichkeit in ihrer somatischen, sozialen und psychischen Dimension: Dem somatischen Körper geschieht etwas, was ihm nie zuvor geschah, und dieses Geschehen schmerzt, ängstigt und beschämt das Subjekt in einer Heftigkeit, wie es sie zuvor nicht erlebte. Im sensomotorischen, im viszeralen oder im konnektiven Körper kommt es zu einer Vielzahl von Empfindungen, die das Subjekt nicht kennt und die es deshalb nicht einzuordnen weiß. Auch die Körpergrenzen und der Austausch des somatischen Körpers mit seiner Umwelt sind durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit verändert. Der soziale Körper verortet das Subjekt nicht mehr zuverlässig in den vertrauten sozialen Systemen. Deren Mitglieder verhalten sich ihm gegenüber anders als zuvor, und das körperliche Geschehen verlangt vom Subjekt so viel Aufmerksamkeit, dass es sich nicht wie gewohnt in seine Beziehungen einbringen kann. Dazu ist es körperlich den Spezialisten des Gesundheitswesens ausgesetzt, ohne deren Tun sachgerecht bewerten zu können, oder auf die Fachleute aus Institutionen des Sozialwesens angewiesen, um notwendige Ressourcen bewilligt zu bekommen. Der psychische Körper verfügt nicht über das nötige Wissen, um das körperliche Geschehen mit früheren Erfahrungen zu verknüpfen. Das bisher gültige neuropsychologische Körperschema stimmt in wesentlichen Teilen nicht mehr mit dem somatischen Körper überein, wie er durch den zurückliegenden körperlichen Umbruch geworden ist, und das Körperselbst passt nicht mehr. Das bisherige Maß an Vertrautheit mit dem Körper ist geschwunden. Die Erzählungen, mit denen das Subjekt sein Handeln bis dahin erklärte und sich seines Selbst versicherte, gelten nicht mehr. Auch wenn im weiteren Verlauf der unwiederbringliche Verlust, der anfangs den körperlichen Umbruch kennzeichnet, zurücktreten mag, bleibt durch die körperlichen Veränderungen die Kontinuität des Erlebens davon bestimmt, dass etwas nicht mehr oder nur noch anders als zuvor geht. Beeinflussung des Zeiterlebens: Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit bewirkt nicht nur, dass ein klar unterscheidbares Vorher und Nachher entsteht. Sondern die körperlichen Veränderungen beeinflussen auch das Zeiterleben. Das Empfinden für die Dauer der Zeit ist verändert. Meistens erscheint dem Subjekt die Zeit gedehnt. Ich schaue auf meine Uhr. Die Zeit scheint langsamer zu vergehen, als sie es tatsächlich tut.32 Solche Dehnungen der Zeit scheinen deren Begrenztheit aufzuheben und lassen sie unendlich erscheinen.

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Balmer 2006: 82.

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Und dann diese Zeit. Diese Unendlichkeit. Irgendwie schien die Zeit immer langsamer zu vergehen. Minuten wurden zu Stunden, Stunden zu Tagen, Tage zu Wochen, Wochen zu Monaten …33 Das Bewusstsein für das Vergehen der Zeit kommt dem Subjekt ganz abhanden. Die Zeit scheint ganz still zu stehen. Ich sitze auf dem Bettrand, warte, traue der Zeit nicht, die mir entgeht, weil ich nicht atmen kann, merke ich sie nicht.34 Wenn die Zeit im Augenblick ihres Erlebens als verlangsamt erscheint, wird sie im Rückblick auf ihren Verlauf gleichzeitig als beschleunigt empfunden. Der kleine Kalender von der öffentlichen Fürsorge an der Wand, von dem Tag für Tag ein Blatt abgerissen wird, zeigt schon August. Was ist das für ein Paradox: die Zeit steht still – und rast zugleich in wildem Tempo? In meiner eingeengten Welt dehnen sich die Stunden, und die Monate vergehen wie der Blitz. Ich kann es nicht fassen, daß schon August ist.35 Durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit ist auch das Zeitgitter beeinträchtigt. Dadurch geht dem Subjekt die zeitliche Ordnung verloren. Mir fehlt die Chronologie, mir fehlt der Ablauf. Bagatellen stören meine Erinnerung. Einbrüche von Müdigkeit nehmen mir den Überblick. […] Ich versuche mich einzufädeln. Doch schon fällt mein Gedächtnis aus, ich erinnere mich nicht mehr, wie und wann ich geholt wurde.36 Um die zeitliche Kontinuität trotz der körperlichen Veränderungen zu bewahren, muss das Subjekt sich besonders anstrengen. Meine Sauerstoffwerte sanken schon während Stunden immer wieder völlig in den Keller, nein in tiefsten Boden. Ich nahm Unruhe, Unsicherheit und Hektik um mich wahr, während meine Gedanken bedrohlich ruhig wurden und ich nur eines wollte: wach bleiben und leben.37 Das Zeiterleben wird auch durch die Maßnahmen beeinflusst, welche die Spezialisten des Gesundheitswesens eingeleitet haben, um die Ursachen des körperlichen Umbruchs abzuklären oder um dessen Folgen zu beheben. Während des Eingriffs verliere ich zwar mein Zeitgefühl, bleibe aber bei Bewusstsein.38

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Lesch 2002: 135. Härtling 2007: 8. Bauby 1997: 100f. Härtling 2007: 39f. Balmer 2006: 74. Huth 2003: 24.

2. Die unterbrochene Kohärenz

Mitunter ist es von den Spezialisten des Gesundheitswesens sogar beabsichtigt, dass sie durch ihre Maßnahmen gezielt die Dauer der Zeit verkürzen und die zeitliche Kontinuität unterbrechen. Man gab mir starke Beruhigungsmittel, so daß ich nach dem ersten kurzen Aufwachen mehrere Tage lang ständig zwischen Wachen und Ohnmacht schwebte. Nur Schmerzen weckten mich auf.39 Verlorene Ausdehnung in die Vergangenheit: Durch die körperlich bedingte Unterbrechung der zeitlichen Kontinuität ist die Ausdehnung des Körpers in die Vergangenheit betroffen. Weil die körperlichen Voraussetzungen sich änderten, lassen sich nun auf einmal Fähigkeiten und Fertigkeiten, die das Subjekt früher mit Mühe erwarb, um sich besser in der Welt zurechtzufinden, nicht mehr nutzen. Als ich im September 1980 aus der Augenklinik, in der ich Patient gewesen […] war, in mein Büro zurückkehrte, war ich mit einer merkwürdigen Situation konfrontiert. Das Semester sollte in weniger als einem Monat beginnen, und die Wände meines Zimmers waren mit Ordnern voller Notizen bedeckt, die die Arbeit von Jahren darstellten und die für mich nun nicht mehr zugänglich waren.40 Nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ist das Subjekt nicht in der Lage, fortzusetzen, was bis dahin sein Leben ausmachte. Zum ersten Mal ahnte ich, was es für den Rest meines Lebens hieß, ein Glied verloren zu haben. Natürlich würde ich nie wieder als Model arbeiten. Da brauchte ich mir gar nichts vorzumachen. Ich würde weder wieder tanzen, Ski fahren, noch Tennis spielen oder schwimmen können. Ich würde nie wieder kurze Röcke tragen können. Kein Mann, kein Bauarbeiter würde mehr hinter mir herpfeifen und rufen: »Was für Beine!«41 Das Subjekt muss auch lieb gewordene Gewohnheiten aufgeben. Ich rauche nicht mehr, nein, ich rauche nicht mehr. Dann muss der Infarkt schlimm gewesen sein. Es ist wahr, er hat mir Packungen von Zigaretten aus der Hand geschlagen und mir eine lebenslange Sucht verdorben.42 Daraus ergibt sich, dass das Subjekt nicht mehr auf Verhaltensweisen zurückzugreifen vermag, die ihm lange halfen, Selbstwert zu empfinden und seine zwischenmenschlichen Beziehungen befriedigend zu gestalten. Rauchen. Risikoursache Nummer eins. Ich war noch nicht wirklich aus der Betäubung zurück, da hat mir die Schwester schon geflüstert, als die Marlboro aus der Tasche fielen: Das wär dann wohl vorbei. Nach 19 Jahren. Ich habe lange geraucht. Ich habe gerne geraucht. Ich habe viel geraucht. Ich habe angefangen, da war ich gerade 14 Jahre alt, und es war Peter Stuyvesant, der mindestens 950 meiner 1000 Frühpubertätsängste 39 40 41 42

Mills 1996: 220. Hull 1992: 27. Mills 1996: 226. Härtling 2007: 16.

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verscheucht hat. Ich habe aufgehört zu schwitzen. Ich habe aufgehört, an den Nägeln zu kauen. Ich habe aufgehört, dumm rumzustehen. Ich habe aufgehört, Blödsinn zu reden. Ich sah plötzlich cool aus. Ich hatte einen Zauberstab zwischen meinen Fingern, der mich zu einem Mann machte in dem Alter, in dem es so wichtig war, einer zu sein.43 Verlorene Ausdehnung in die Zukunft: Neben der zeitlichen Ausdehnung in die Vergangenheit ist auch die in die Zukunft betroffen. Dadurch, dass das Subjekt nicht mehr wie gewohnt über den somatischen und sozialen Körper verfügt, vermag es seine Vorhaben nicht in die Tat umzusetzen. Es erlebt bewusst, dass es die zeitliche Ausdehnung des Körpers in die Zukunft verloren hat. Was hatten wir für dieses Weihnachtsfest alles geplant! Morgen wären wir über den großen Teich geflogen. Die Tickets liegen immer noch auf meinem Schreibtisch. Und plötzlich bin ich einfach nur noch müde, müde, müde. Gute Nacht, meine Lieben. Gute Nacht, Heiligabend. Gute Nacht, Hochzeit in Florida. […] Statt Hitze in Miami, statt Flitterwochen in Palm Beach gab es Infusionen.44 Der Verlust kann aber auch unbewusst geschehen. Das Neonlicht der Flure blendet mich. Im Aufzug [des Krankenhauses; B.R.] überschütten mich Unbekannte mit Ermutigungen, und die Beatles machen sich an das Finale von A day in the life. Das Klavier, das aus dem sechzigsten Stock fällt. Bevor es aufschlägt, habe ich Zeit für einen letzten Gedanken. Ich muß im Theater absagen. Wir wären ohnehin zu spät gekommen. Wir gehen morgen abend. Übrigens, wo ist eigentlich Théophile? Und ich versinke im Koma.45 Erst später vermittelt die Alterität dem Subjekt, dass es die zeitliche Ausdehnung des Körpers in die Zukunft verloren hat. [Mechthild; B.R.] macht mir klar, wie alles nach dem Infarkt durcheinandergeraten ist, alle Pläne, alle Verabredungen, sie habe Termine absagen müssen, und die Ferien, die wir auf Hiddensee verbringen wollten, sind ebenfalls fraglich geworden.46 Dieser Verlust kann genauso dazu führen, dass eine Zusammenkunft unterbleibt wie dass ein Abschied nicht stattfindet. Meine letzte Erinnerung an diesen Tag, den 8. August 1993, ist, wie ich mit Raffaele an der Kreuzung von De Vere Gardens und Kensington Road stehe. Bislang hatte ich nur wenig mit ihm gesprochen. Ich wollte warten, bis wir im Park waren. […] Ich wollte ihm sagen, er gefiele mir zwar sehr, aber ich hätte absolut nicht die Absicht, wieder mit ihm zusammenzusein. Wir seien zu unterschiedlich, unsere Kulturen paßten nicht zueinander.47

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Huth 2003: 38. Lesch 2002: 61, 63. Bauby 1997: 124f., Kursivierung im Original. Härtling 2007: 15. Mills 1996: 216.

2. Die unterbrochene Kohärenz

Der Verlust betrifft bisweilen Identitätsprojekte, deren Umsetzung das Subjekt schon fast abgeschlossen oder mit denen es gerade erst begonnen hat. Bei unserer Rückkehr fingen auch wir an, konkret über unsere Verlobung zu reden. Vor allem ich, die ich den Gedanken Heirat immer weit nach hinten – im Anschluss an Viktors Studium – gestellt hatte, fing an, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Wir planten die Gästeliste, überlegten uns den Ort der Feier und wie wir es unseren Eltern sagen sollten. Aber im April 1988 ging es mir schlechter: vor allem Geh- und Gleichgewichtsstörungen waren die Symptome. So musste ich also nach Ostern ins Krankenhaus, da die Cortisonspritzen nicht mehr halfen.48 Dass die zeitliche Ausdehnung des Körpers in die Zukunft nicht mehr gegeben ist, wirkt sich auf Identitätsentwürfe aus, deren Umsetzung das Subjekt erst für später im Leben vorgesehen hat. Als ich noch mit Viktor zusammen war, wollte ich schon Kinder. Zwei sollten es sein, aber erst mit 28 Jahren. Damals war ich 25 und fühlte mich noch viel zu jung, außerdem war ich ja gerade erst drei Jahre in meinem Beruf als Krankengymnastin tätig. Aber dann kam alles anders.49 Die Auswirkungen betreffen das Privatleben ebenso wie den Beruf. Eigentlich sollte ich ja gar nicht hier sein. Mit diesen verdammten Schmerzen. Eigentlich sollten wir doch in Berlin sein. Wir sind zur Verleihung der »Goldenen Kamera« eingeladen, wie jedes Jahr.50 Umgang mit der zeitlichen Diskontinuität: Dass die Kontinuität des Erlebens beeinträchtigt ist, wird bisweilen vom Subjekt zuerst einmal gar nicht wahrgenommen. Solange es abwehrt zu erkennen, was dem somatischen Körper geschehen ist und welche Folgen sich daraus ergeben, nimmt das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit zuerst einmal an, dass sein Leben unverändert weitergeht. Dadurch bewahrt es vorübergehend sein Wohlbefinden. Ich ging immer noch davon aus, daß ich eines Tages wieder als Model arbeiten würde, und zwar nicht nur für normale Mode, sondern auch für Badeanzüge. In den vergangenen zehn Tagen war das der einzige Gedanke gewesen, der mich hochhielt. Ich hatte nie den geringsten Zweifel daran zugelassen.51 Wenn das Subjekt die Diskontinuität dann doch wahrnimmt, hofft es, dass die Kontinuität des Erlebens bald wieder hergestellt sein wird. Das Subjekt geht noch davon aus, dass es auf frühere Vorlieben zurückkommen und noch nicht verwirklichte Absichten künftig umsetzen wird. Niemand hatte mir bisher ein genaues Bild von meiner Situation vermittelt, und aus hier und da aufgesammeltem Klatsch hatte ich mir die Gewißheit zurechtgezimmert, 48 49 50 51

Ruscheweih 2005: 16. Ruscheweih 2005: 59f. Lesch 2002: 91. Mills 1996: 224.

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daß ich sehr schnell Beweglichkeit und Sprache wiederfinden würde. Mein umherschweifender Geist entwarf sogar tausend Pläne: einen Roman, Reisen, ein Theaterstück und die Kommerzialisierung eines von mir erfundenen Fruchtcocktails.52 Mitunter vergehen Jahre, ohne dass das Subjekt bewusst wahrnimmt, wie umfassend die Veränderungen sind, die sich durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergaben. So setzt das Subjekt über lange Zeit hinweg sein Leben fort, als sei das Wesentliche, mit dem es umzugehen hat, nicht durch die veränderte Körperlichkeit bedingt. Dadurch vermag es zuerst einmal sein gewohntes Selbstverständnis beizubehalten. Im Juni 1983, ungefähr zweieinhalb Jahre nachdem ich als Blinder registriert worden war, begann ich meine täglichen Erfahrungen auf Kassette aufzuzeichnen. Das war zu einem Zeitpunkt, als die Tatsache meines Blindseins mich wie ein Schlag traf. Sie fragen sich vielleicht, warum das so lange gedauert hat, aber die ersten Jahre waren ganz mit aufregenden Problemen ausgefüllt, die gelöst werden mußten. Erst danach begann sich bei mir der Übergang von einem Sehenden, der nicht sehen konnte, zu einem Blinden zu vollziehen.53 Wenn das Subjekt dann doch merkt, dass der Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Kontinuität seines Erlebens betrifft, gewinnt es diese Erkenntnis manchmal plötzlich, aber mitunter auch ganz allmählich. Durch seine Erkenntnis wird ihm dann bewusst, wie sich die Veränderungen des somatischen Körpers auf sein Leben und seine Identität auswirken und wie sie seine Zukunft beeinflussen. Die Monate vergingen, und langsam begriff ich, dass ich im Alter von 39 Jahren, kurz vor dem Höhepunkt meiner beruflichen Karriere und kurz vor der Geburt unseres dritten Kindes, tatsächlich an Parkinson erkrankt war und dass diese Krankheit über kurz oder lang meine Lebenspläne durchkreuzen würde.54

2.5

Gestörte Flexibilität der Körpergrenzen

Veränderungen der Körpergrenzen: Zur gestörten Flexibilität der Körpergrenzen kann es dadurch kommen, dass durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Körpergrenzen verändert sind und ein Teil des somatischen Körpers vom restlichen Körper abgetrennt ist. Raffaele ging einen Schritt auf mich zu und trat fast auf etwas, das vor ihm auf der Straße lag. Es war mein Trainingsschuh. Und in diesem Schuh steckte mein Fuß. An dem Fuß hing etwas Rotes, Blutiges.55 Das Subjekt betrachtet die veränderte Grenze des somatischen Körpers oft mit Entsetzen.

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Bauby 1997: 9. Hull 1992: 11f. Todes 2005: 16. Mills 1996: 217.

2. Die unterbrochene Kohärenz

Mein »Restbein« wurde nun jeden Tag gesäubert und mit dicken, weißen Verbänden neu gewickelt. Das Bein war insgesamt noch stark geschwollen, und der Stumpf sah furchtbar aus: eine Wunde voller Eiter und Blut.56 Die Veränderung der Körpergrenzen kann auch dadurch erfolgen, dass von außen etwas an den somatischen Körper angefügt ist, das sonst nicht zu ihm gehört. Als mein Kopf kahl geschoren war, injizierte [Dr. Kenny; B.R.] eine Lokalanästhesie in meinen Kopf und bohrte dann vier Löcher in meinen Schädel, um darin anschließend einen viereckigen Rahmen aus rostfreiem Stahl zu befestigen, den der technische Experte Bill erstellt hatte.57 Um ein Teil fest mit dem Körper zu verbinden, wird die Grenze des somatischen Körpers an einer Stelle geöffnet, wo ansonsten keine Verbindung mit der Außenwelt besteht. [Die Ärzte; B.R.] stechen mir ein Loch in die Innenseite des rechten Beines und treffen so die Arterie.58 Über eine künstlich geschaffene Öffnung wird von außen etwas in den Körper eingeführt. Dann band mir die Krankenschwester einen Stauschlauch um den Arm und legte die Nadel am Ende des langen Schlauchs, der aus der Infusionsflasche führte, in meine Armvene oberhalb meines Ellbogens.59 Die Veränderungen der Grenzen des somatischen Körpers wirken sich darauf aus, wie das Subjekt seinen Körper erlebt. Sie tragen dazu bei, dass sich auch die psychische Dimension der Körperlichkeit verändert und dadurch die Kohäsion des Körperselbst geringer wird. Der Körper ist dem Subjekt fremd. Ich spürte einen kalten Metallgegenstand wie einen Schraubstock an meinen Rippen, der von Gestalten in weißen Kitteln hineingeschraubt wurde. Man steckte Nadeln und Drähte und Röhrchen in mich hinein und entfernte sie wieder, bis ich mich wie ein Nadelkissen fühlte.60 Ungewohnter Austausch über die Körpergrenze: Falls bei dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Körpergrenzen verändert sind, erfolgt auch der Austausch zwischen dem somatischen Körper und der Umwelt nicht mehr wie zuvor. Die Veränderungen der Körpergrenzen des sensomotorischen Körpers führen dazu, dass nicht mehr wie gewohnt Reize von außen durch die Sensorik in den Körper gelangen oder die Motorik auf die Umwelt einwirkt. Zwei Tage nach der Operation überredete ich die Schwestern, mir einen Stützrahmen zu geben, damit ich ins Bad gehen konnte. »Gehen« war allerdings kaum der richtige

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Mills 1996: 227f. Todes 2005: 141. Huth 2003: 23. Todes 2005: 106. Mills 1996: 220.

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Körperlicher Umbruch

Ausdruck. Mir wurde bald klar, daß ich nie mehr einfach irgendwohin gehen würde. Ich konnte bestenfalls hoppeln oder schlurfen.61 Wenn die Veränderungen der Körpergrenzen den viszeralen Körper betreffen, beeinflussen sie, wie etwas von außen in den viszeralen Körper hinein gelangt. Während es vor dem körperlichen Umbruch einer Tätigkeit des sensomotorischen Körpers bedurfte, um Nahrung, Flüssigkeit oder Sauerstoff in den Körper einzuführen, geschieht es nun ohne sein Mitwirken. Mittels einer Sonde in den Magen sichern zwei oder drei Flaschen einer bräunlichen Substanz mein tägliches Kalorienquantum.62 Die Aufnahme in den viszeralen Körper erfolgt dabei an Stellen, die dafür eigentlich nicht vorgesehen sind. Zu diesem Zweck schaffen die Spezialisten des Gesundheitswesens künstliche Öffnungen. Durch sie wird ein Stoff eingeführt, der das Einwirken des viszeralen Körpers auf die Welt beeinflusst. Und dann kamen sie: Zunächst legten sie mir eine Kanüle in eine Vene meines linken Armes. Dann ließen sie aus einem Tropf eine Lösung mit einem so genannten Antiemetikum in meine Blutbahnen fließen.63 Wenn der viszerale Körper seine gewohnten Grenzen verloren hat, betrifft es ebenso sein Einwirken auf die Welt. Nun werden die Absonderungen des viszeralen Körpers, die sonst im Verborgenen bleiben zu haben und beschämen, offen sichtbar. Ich schiebe die Decke weg. Und dann sehe ich diesen Plastikbeutel. Das war der Punkt, an dem ich an allem verzweifelte. Der Punkt, an dem ich mir sagte: »Jetzt reicht’s. Jetzt ist Schluss! Nicht das! Nicht ein Beutel, der an mir hängt! Das nicht!« Du hast einen Schnitt durch die Bauchdecke, da ist ein Loch, da kommt der Darm raus. Mit Verlaub: Da kommt deine Scheiße raus. Drum herum ist mit Klebstoff eine Platte befestigt, und auf diese Platte wird der Beutel geschraubt. Am anderen Ende des Beutels ist eine Klammer. Und immer, wenn dein Organismus etwas verdaut, entleert sich der Darm in diesen Beutel. Und wenn du den Beutel entleeren musst, öffnest du diese Klammer. Da ich einen Dünndarmausgang hatte, ging alles, was ich eine halbe Stunde vorher gegessen hatte, sofort in den Beutel.64 Die zusätzlichen Öffnungen im Körper dienen den Spezialisten des Gesundheitswesens dazu, beim Subjekt zu überprüfen, ob sich sein somatischer Körper genügend mit der Welt austauscht. Nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit überwachen sie, ob er noch von sich aus in der Lage ist, zuverlässig das Zuviel und das Zuwenig auszugleichen, um das Überleben und Wohlbefinden zu sichern. Mein Körper wird mit mehreren Leitungen an technische Geräte angeschlossen. Die Schwester erklärt: Eines ist die Infusion, die mein Blut verdünnt. Ein Plastikfingerhut

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Mills 1996: 225. Bauby 1997: 37. Lesch 2002: 54. Lesch 2002: 98.

2. Die unterbrochene Kohärenz

wird über meinen Finger geschoben und strahlt Rotlicht aus, so wird der Sauerstoffgehalt in meinem Blut gemessen, wie auch immer das funktioniert. Dann gibt es drei EKG-Ableitungen auf meiner Brust, die mein Herz überwachen und die Ergebnisse sekundenschnell auf einen Monitor übertragen. Für alle Fälle hat man in meine rechte Hand noch ein Loch gebohrt, eine kleine Plastikzapfstelle montiert und mit vielen Verbänden festgeschnallt.65 Gestörter Austausch des somatischen Körpers: Selbst wenn sich die Körpergrenzen nicht verändert haben, kann die Art und Weise beeinflusst sein, wie sich der somatische Körper mit der Umwelt austauscht. Die Aufnahme durch den sensomotorischen Körper liefert andere Sinneseindrücke als sonst und macht das Subjekt unsicher. Etwa drei Monate später schienen morgens zwei Sonnen ins Schlafzimmer. Die ganze Welt war voller verwirrender Doppelbilder. Besonders unangenehm, weil ich Illusion und Wirklichkeit nicht unterscheiden konnte: Welcher der beiden Personen, die ich sah, sollte ich die Hand geben?66 Weil der sensomotorische Körper die Umwelt nicht wie gewohnt aufnimmt, kommt es zu anderen Affekten als sonst. Was dem Subjekt früher Freude bereitete, ist ihm nun gleichgültig. Selbst mein Geschmackssinn verließ mich zeitweilig, alles schmeckte gleich scheußlich. Essen machte keinen Spaß mehr.67 Neben der Aufnahme der Welt in den sensomotorischen Körper ist auch sein Einwirken auf die Welt beeinträchtigt. Ja, ein Körperteil, der linke Arm, tut dagegen, was er will, meist völlig gegen die eigenen Absichten. Er rutscht einfach vom Tisch und hängt leblos herab, er baumelt beim Gehen fast obszön vorm Bauch und gibt einen so offen als Schlaganfallopfer preis. Er fällt plötzlich in die Kaffeetasse oder den Suppenteller […].68 Daraus, dass der sensomotorische Körper seine Funktionen nicht wie gewohnt auszuführen vermag, ergibt sich im Weiteren, dass der Austausch des viszeralen Körpers mit der Welt eingeschränkt ist. Das geht manchmal so weit, dass das Subjekt das lebensnotwendige Gleichgewicht zwischen Aufnahme und Ausscheidung, das Gesundheit ausmacht, nicht mehr selbst herzustellen vermag. Die Aufnahme in den viszeralen Körper kann gestört sein. Durch die zunehmende Lähmung der Schlundmuskulatur verlor ich nachts zu viel Beatmungsluft durch den Mund, die ich unbedingt tagsüber zur Erholung gebraucht hätte. Zudem litt ich an Krämpfen der Schlundmuskulatur und bekam immer weniger Luft zum Atmen.69

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Huth 2003: 24f. Lürssen 2005: 26. Peinert 2002: 38. Peinert 2002: 36f. Balmer 2006: 25.

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Körperlicher Umbruch

Ebenso kann die Ausscheidung aus dem viszeralen Körper gestört sein. Ich habe Mühe, den angesammelten zähen Schleim auszuhusten. Selbst das direkte Absaugen bereitet Schwierigkeiten. Es bilden sich immer wieder zähe Schleimpfropfe, die meine Luftwege und Beatmungskanüle verstopfen.70 Nachdem sich der somatische Körper verändert, die psychische Dimension der Körperlichkeit aber noch nicht angepasst hat, hat es bisweilen ungeahnte Folgen, wenn das Subjekt die Welt bzw. einen Teil von ihr in den viszeralen Körper aufnimmt, wie es ihm bis zum Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit selbstverständlich war. Mit einem wahren Heißhunger stütze ich mich auf den Schokoriegel. Es war ein Genuss, sich diese klebrige, süße Masse in den Mund zu stecken und alles schnell aufzuessen. Doch dann ging es los! Und wie! Zuerst begann sich mein Magen zu winden, zu drehen, auf den Kopf zu stellen. Dann schoss mir die Kotze im wahrsten Sinnes des Wortes durch den Körper, in den Hals, aus dem Mund. […] Und dann habe ich gekotzt wie noch nie in meinem Leben. Ich habe mich nicht übergeben – ich habe mich kotzend entleert. Ich habe gekotzt, gekotzt, gekotzt. Alles, wirklich alles kam hoch. Alles, was sich in meinem Körper befand.71 Veränderte Grenzen des sozialen Körpers: Wie sich durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Grenzen des somatischen Körpers verändert haben und der gewohnte Austausch mit der Umwelt nicht mehr möglich ist, kann auch der soziale Körper in der Beziehung zur Alterität versagen. Das subjektive Befinden verschlechtert sich dadurch zusätzlich. Ich sah das Gesicht der Pflegerin doppelt, als sie erneut meine Augendeckel hob. Mein rechtes Auge schielte massiv. Meine Sauerstoffwerte waren absolut normal, der Blutdruck ebenfalls. Mein Puls stieg an, was sich damit erklären liess, dass ich mich nach Aussen nicht mehr mitteilen konnte und innerlich fast verzweifelte. Hören konnte ich jedoch in dieser ungewohnten Situation nur teilweise. Die Stimmen waren so weit weg.72 Durch die körperlichen Veränderungen verschieben sich die Grenzen in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Unweigerlich kommt es dazu, dass für Diagnostik, Pflege oder Therapie fremde Hände den somatischen Körper berühren. Sie fassen dabei an solche Stellen, die man üblicherweise nur selbst berührt oder die man nur von denen berühren lässt, denen man zugetan ist. Wenn eine intime Nähe zu einem sonst unbekannten Körper entsteht, ist es von unterschiedlichen Affekten begleitet. Zum Beispiel kann ein alltägliches Ereignis wie das Gewaschenwerden ganz verschiedene Gefühle in mir erregen. An einem Tag finde ich es spaßig, mit vierundvierzig Jahren gesäubert, umgedreht, abgewischt und gewindelt zu werden wie ein Säugling. In voller infantiler Regression empfinde ich dabei sogar eine vage Lust. Am nächsten

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Balmer 2006: 40. Lesch 2002: 56. Balmer 2006: 52f.

2. Die unterbrochene Kohärenz

Tag kommt mir das alles im höchsten Maße erschütternd vor, und eine Träne rollt in den Rasierschaum, den ein Pfleger auf meinen Wangen verteilt.73 Bei den Verrichtungen am Körper kommt es mitunter zu Übergriffen, die das Subjekt seelisch verletzen. Bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit kann auch der soziale Körper seine Grenzen verlieren. Sie hat mich während der Pflege missbraucht. Sie nahm mir meine Intimität und hat mir gezeigt, wie abhängig und wehrlos ich bin.74 Auswirkungen auf das Selbst: Die Veränderungen der Körpergrenzen und des Austauschs des somatischen Körpers mit der Umwelt beeinflussen unweigerlich den psychischen Körper. Das ungewohnte Geschehen an den Grenzen des somatischen Körpers fordert besondere Aufmerksamkeit ein und verändert damit das Körperbewusstsein. Ich liege im Bett, konzentriere mich auf meine Atmung und lausche auf die Geräusche meiner Beatmungsmaschine. Ich höre jeden Atemzug: Ein leises »Gdag« und ich weiss, die Maschine bereitet sich vor, einen Atemzug zu liefern. Ein leiser Luftstrom und ich spüre, wie der Blasbalg meine Lunge (nicht mit Sauerstoff, sondern mit normaler Zimmerluft) füllt. Zwei Sekunden bleibt die Luft in den Lungen, um sich zu verteilen. Das laute, gut hörbare »Tsch« bei der Ausatmung. Dazwischen fast drei Sekunden Atempause, während denen ich auf den nächsten Atemzug warte.75 Auch wird die Stimmung des Subjekts beeinflusst. Ich habe über vier Wochen lang an jenem lebenssichernden Tropf gehangen. Dieser Zeitraum war sicher der deprimierendste in all den Monaten. Ich war buchstäblich mit Schläuchen an das Rollgestell mit der Infusionsflasche gefesselt und hilfsbedürftiger denn je.76 Das ungewohnte Geschehen löst starke Affekte aus, die dem Subjekt in ihrer Entstehung unverständlich sind. Der psychische Körper scheint seine Grenzen verloren zu haben. Nachts wache ich häufig mit heftigster Atemnot und Herzklopfen, in Panik schweissgebadet auf. Verwirrt taste ich nach meiner Beatmungskanüle, reisse den Beatmungsschlauch ab und habe sogar das Bedürfnis, mich von der Beatmungskanüle zu befreien und diese aus meinem Luftröhrenschnitt zu reissen. In solchen Momenten frage ich mich, weshalb ich Atemnot verspüre, obschon ich genügend beatmet werde und objektiv eigentlich gar keine Atemnot verspüren kann.77

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Bauby 1997: 18. Balmer 2006: 95. Balmer 2006: 36f. Peinert 2002: 41. Balmer 2006: 41.

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3. »Ein Mann nähte mit Nadel und Faden mein rechtes Augenlid zu.« – Die veränderte Alterität

Die Alterität gibt dem Subjekt vor, wer es sein kann; und wer das Subjekt ist, zeigt sich, wenn es zur Alterität in Beziehung tritt. Die Gesamtheit der Anderen, auf die das Subjekt bezogen ist, bildet durch wechselseitige Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen die Grundlage, auf der die Identität als psychische Repräsentation des Selbst bestimmt, verändert, erweitert oder beschädigt wird. Sein Selbstverständnis erhält das Subjekt aus den verschiedenen gruppendynamischen Positionen in den sozialen Systemen, an denen es teilhat, den Rollen, die es ausübt, den Modi seiner Beziehungen zu den Anderen und der Qualität der Alterität. Wie sich durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Alterität verändert, wird im Folgenden ausgeführt. Da sich das Subjekt bei einem ungewohnten körperlichen Geschehen üblicherweise zuerst an Ärzte wendet, wird einleitend deren Selbstverständnis vorgestellt (2.1). Danach wird veranschaulicht, wie das Subjekt durch seine Aufnahme ins Krankenhaus zum Patienten wird (2.2). Um verstehbar zu machen, wie sich der körperliche Umbruch auf die Selbstbezogenheit des Subjekts auswirkt, werden einige Formen sozialen Interagierens beschrieben (2.3). Danach wird aus Sicht des Subjekts geschildert, was es heißt, sich in der Rolle des Patient zu befinden (2.4), und wie anders sich selbst die vertrauten Anderen auf den kranken Körper beziehen (2.5). Damit vermittelt dieses Kapiteln, wie die Veränderungen der Alterität dazu beitragen, dass das Subjekt bei einem körperlichen Umbruch seinem bisherigen Selbst entfremdet wird.

3.1

Der Arzt: Die erste äußere Ressource

Das Spezialistentum des Arztes: Wenn das ungewohnte körperliche Geschehen mit Schmerz, Angst und Scham das Selbst zu überwältigen droht, wendet sich das Subjekt in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende an einen Arzt. Als der allgemein anerkannte, ranghöchste Spezialist zur Abklärung von der Norm abweichender körperlicher Befindlichkeiten wird er als erste äußere Ressource aufgesucht, wenn innerhalb des eigenen sozialen Mesosystems keine Abhilfe mehr möglich ist. Da sich der Arzt

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Körperlicher Umbruch

in langjährigem Studium theoretisches Wissen und praktische Erfahrung aneignete und in einem Staatsexamen seine Kompetenz nachwies, scheint er von allen Mitgliedern des sozialen Makrosystems am besten in der Lage zu sein, die subjektiven Beschwerden, die ihm mitgeteilt werden, zu objektivieren. Ihm kommt die Aufgabe zu, beunruhigende körperliche Veränderungen zu erfassen und in ihrem Wesen zu bezeichnen. Dafür ordnet er die von ihm durch eigene Untersuchung erhobenen Befunde ein und erkennt sie als Hinweise auf eine Krankheit. In seinem Tun leitet den Arzt die Annahme, dass die zu findende und zu benennende Krankheit nicht nur an der Oberfläche des Körpers, sondern auch jenseits des Sichtbaren auszumachen ist. Ihm stehen bei Ausübung seiner Tätigkeit weitere Spezialisten des sozialen Subsystems zur Seite, dem er angehört und das als Gesundheitswesen bezeichnet wird, nämlich Krankenschwestern und pfleger, Rettungssanitäter, Logopäden, Physiotherapeutinnen, Medizinisch-Technische Assistentinnen, Psychologen, Ergotherapeuten und viele andere mehr; dazu gehören auch diejenigen, die mit der Organisation des sozialen Subsystems, seiner Finanzierung oder seiner Logistik, beschäftigt sind. Als einzigem kommt dem Arzt das Recht zu, die körperlichen Veränderungen als Krankheiten zu bestimmen, und er hat die Pflicht, geeignete Maßnahmen zu treffen, damit die Beeinträchtigungen des somatischen Körpers entweder ganz beseitigt oder möglichst gering gehalten werden. Indem der Arzt zwischen krank und gesund unterscheidet, weist er der Krankheit im Körper einen Ort zu, an dem sie entstanden ist und von dem sie sich in andere Bereiche des Körpers ausgebreitet haben mag. Ebenso weist der Arzt dem Kranken einen Ort zu, an dem er sich aufzuhalten hat, nämlich etwa im Bett zu Hause in der Wohnung oder im Krankenhaus in der Fachabteilung, auf einer speziellen Isolier- oder einer Intensivstation. Durch den Vergleich mit anderen Körpern, die dieselbe Krankheit aufwiesen, weiß der Arzt vorherzusagen, was dem Subjekt zukünftig voraussichtlich geschehen und ob von ihm eine Gefahr für die übrigen Mitglieder des sozialen Systems ausgehen wird. Da der Arzt aus seinem Wissen und aus seiner Erfahrung heraus bestimmten Annahmen zu Ursache und Wirkung einer Krankheit folgt, legt er gegenüber dem erkrankten Subjekt, dessen Angehörigen und den anderen Spezialisten des Gesundheitswesens fest, was im Einzelnen zu tun ist, um das ungewohnte körperliche Geschehen zu beherrschen. Oberstes Ziel seines Handelns ist dabei stets die Gesundung dessen, der sich ihm in seiner Not anvertraute; unausgesprochen geht es aber auch darum, größeren Schaden von den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems abzuwenden, die mit dem Kranken zu tun haben. Bei seinem Handeln geht der Arzt davon aus, dass der Kranke bereit ist, sich ohne großen Widerspruch seinen Anweisungen zu fügen und vorübergehend auf einen Teil der ihm zustehenden bürgerlichen Rechte zu verzichten. Dabei werden in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende die Dienste eines Arztes oder von anderen Spezialisten des Gesundheitswesens meistens in dem Wissen in Anspruch genommen, dass die Kosten der von ihnen durchgeführten Maßnahmen ganz oder teilweise von einer Krankenversicherung oder einer Krankenkasse übernommen werden (vgl. Foucault 1976: 8–154). Hinwendung zum Arzt: Wer sich in seiner Not an einen Arzt wendet, um seine körperliche Unversehrtheit zurückzugewinnen, dem ist allein wichtig, dass der für ihn zu-

3. Die veränderte Alterität

ständige Spezialist sich entsprechend seiner beruflichen Rolle verhält. Ohne es sich bewusst zu machen, geht das Subjekt davon aus, dass der Arzt ihm gegenüber die Normen seines Berufes einhält (vgl. Siegrist 2005: 239). Dazu gehört als erstes die funktionale Spezifität; das heißt, das Subjekt erwartet, dass das Handeln des von ihm gewählten oder zufällig angetroffenen Arztes auf das Organsystem beschränkt bleibt, für das er seine spezifische Qualifikation erworben hat. Der Universalismus des ärztlichen Handelns beinhaltet als zweites, dass der Arzt den Kranken ohne Ansehen seiner Person oder von persönlichen Merkmalen ausschließlich problem- bzw. krankheitsorientiert behandelt. Die vom Arzt verlangte affektive Neutralität gibt als drittes dem Subjekt die Sicherheit, dass das Handeln des Arztes nicht durch dessen emotionale Bedürfnisse ihm gegenüber beeinflusst, sondern allein an sachlichen Erwägungen seines Spezialistentums ausgerichtet ist. Auf Grund der Kollektivitätsorientierung schließlich kann das Subjekt als viertes davon ausgehen, dass sein Wohl über den kommerziellen Interessen des Arztes steht. Da es auch bei dem ungewohnten körperlichen Geschehen, das mit Schmerz, Angst und Scham einhergeht, eines besonderen Vertrauens braucht, sich an einen anderen zu wenden, wird, falls möglich, der Arzt zu Rate gezogen, der sich schon bei früheren Gelegenheiten bewährt hat, als das körperliche Befinden gestört gewesen ist. Ich rief unseren Hausarzt Dr. Modell an.1 Die Wahl kann auch gleich auf einen Facharzt fallen. Durch die Art seiner theoretischen und praktischen Spezialisierung scheint der Facharzt besonders dazu geeignet, der Not abzuhelfen, die ein Körperteil oder ein Organsystem hervorruft. Also ging ich zum Augenarzt und zum Neurologen.2 Im Wunsch zu wissen, was die Beschwerden ausmacht, schlägt das leidende Subjekt dem ihm bereits vertrauten Arzt bisweilen Maßnahmen vor, die nach seiner Auffassung angebracht sind, seine unklaren Beschwerden zu deuten. Zu Hause angekommen, suchte ich sofort meinen Neurologen auf und bat ihn um eine Kernspintomographie […].3 Wenn der körperliche Zustand so sehr beeinträchtigt ist, dass es dem Subjekt nicht mehr möglich ist, sich selbst an einen Arzt zu wenden, bittet es andere, ihn an seiner Stelle zu benachrichtigen. Ich bin mir nicht sicher, ob mir dieser eine Satz gelingt, ich wende mich ins Zimmer, erstaunt über die Übermacht und Dauerhaftigkeit der Schmerzen, und höre mich zu meiner Frau sagen: Kannst Du bitte den Notarzt rufen.4

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Todes 2005: 14. Lürssen 2005: 26. Ruscheweih 2005: 16. Härtling 2007: 7f.

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Bei der Qual, die das ungewohnte körperlichen Geschehen hervorruft, weckt es neue Hoffnung, wenn es möglich war, einen Arzt zu erreichen, und sein Kommen in Aussicht steht. Sie sagt: »Äh, ja, hallo, ich brauche einen Arzt in St. Pauli. Hier hat einer Atembeschwerden und kriegt keine Luft mehr. Nein, seit einer Stunde. Ja, danke, bis bald.« Ich bin richtig stolz, weil sie das so gut gemacht hat, und lächle sie an. Mein Schmerz wird schlimmer, aber meine Laune besser, weil ich weiß, dass gleich jemand kommt, der sich auskennt, und ich zumindest nicht sterben muss. Hoffentlich.5 Manchmal kommt ein Arzt auch zufällig vorbei und bietet von sich aus sein Wissen und seine Erfahrung an, ohne darum gefragt worden zu sein. Niemand schien zu wissen, wie man die Blutung zum Stillstand bringen konnte. Man sprach von Druckverbänden und Abbinden, aber niemand hatte den Nerv, tatsächlich etwas zu tun. Dann schob sich plötzlich ein Mann durch die Menge und sagte: »Ich bin Arzt.« Das muß der Augenblick gewesen sein, in dem mein Schutzengel wieder seinen Dienst antrat.6 Das ungewohnte körperliche Geschehen erscheint so bedrohlich, dass es das Subjekt erleichtert, wenn Ärzte sich um den beeinträchtigten Körper bemühen. Ich weiss nicht, was das bedeutet. Mir geht es so übel, dass ich mich einfach auf die Kompetenz der Ärzte verlasse. Ich mag gar nicht über irgendetwas diskutieren und bin dankbar, wenn ich schlafen kann.7 Dabei kann es gerade ein Hinweis sein, dass es um die körperliche Befindlichkeit schlecht bestellt ist, wenn mehrere Ärzte verständigt wurden und erschienen sind. In kürzester Zeit waren dann vier Ärzte herbeigerufen und um mich herum, was mir bestätigte, daß eine bedrohliche Situation eingetreten war, die sofortiger Beachtung bedurfte.8 Da die Hoffnung, die auf den Arzt gerichtet ist, so groß ist, beeinflusst all das, was er tut oder lässt, die Stimmung dessen, der ihn aufsucht. Allein die kurze Anwesenheit des Arztes vermag die Angst, wie sie sich aus der ungewohnten Körperlichkeit ergibt, zu verringern. Ich vertraue seiner Ruhe, seiner Sicherheit. Er steht neben mir auf dem Gang, in dem immer wieder Patienten, Schwestern, Ärzte vorbeikommen. Ich mag ihn, möchte noch mehr von ihm hören – er wird verschwinden.9 Dementsprechend ist das Subjekt enttäuscht, wenn der vertraute Arzt nicht erscheint.

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Huth 2003: 15. Mills 1996: 218. Balmer 2006: 84. Peinert 2002: 104. Härtling 2007: 32.

3. Die veränderte Alterität

Die Visite wurde an diesem Morgen von Dr. Kenny geleitet, der im Team des Professors seine Ausbildung als Facharzt absolvierte. Vier andere Mitarbeiter waren zugegen, die regelrecht hölzern wirkten und wenig Interesse und überhaupt keine Begeisterung zeigten.10 Da es angesichts des ungewohnten körperlichen Geschehens vor allem darauf anzukommen scheint, dass rasch etwas gemacht wird, was der Not abzuhelfen vermag, nimmt das Subjekt vieles willig hin, wozu es sich unter anderen Umständen niemals bereit finden würde. So erklärt es sich sogar damit einverstanden, dass eine ihm ganz unbekannte Person die Grenzen seines somatischen Körpers verletzen wird. Mein Operateur, der mich pflichtgemäß auf die Operation an folgenden Tag vorbereiten wollte, entschuldigte sich im letzten Augenblick sehr freundlich und mit der Bitte um mein Verständnis. Er könne dies nicht selber tun, weil er ein Staatsexamen durchzuführen habe. Sein Assistent werde mir alles genauso eingehend und kompetent erklären. Das tat dieser dann auch und erhielt meine Einverständniserklärung für die Operation durch seinen Chef. Dadurch habe ich den Mann, dem ich wenige Stunden später mein Leben unter seinem Skalpell anvertrauen mußte, kaum kennengelernt.11 Wenn das ungewohnte körperliche Geschehen das Subjekt zu sehr beunruhigt, aber kein Arzt zur Abklärung erreichbar ist, entscheidet es sich dafür, zuerst einmal die Beziehung zu einem anderen Spezialisten des Gesundheitswesens einzugehen und sich dessen Sachverstands zu bedienen. Ich kann kaum gerade stehen. Ich lasse mich auf den Rücksitz fallen. Ich habe nur eine fixe Idee: zurück ins Dorf zu fahren, wo auch meine Schwägerin Diane wohnt, die Krankenschwester ist. Halb bewußtlos, bitte ich Théophile, sie schnell zu holen, sobald wir vor ihrem Haus ankommen. Einige Sekunden später ist Diane da. Sie untersucht mich in weniger als einer Minute. Ihr Urteil lautet: »Er muß in die Klinik. So schnell wie möglich.«12 Manchmal ist es sogar notwendig, sich zuerst an einen anderen, im Rang niedriger stehenden Spezialisten zu wenden, um dann von ihm die Beziehung zum Arzt vermittelt zu bekommen. Ich rufe die Nachtpflegerin. »Könnten Sie den Arzt verständigen, bitte?«, frage ich sie. »Ja, das hätte ich jetzt auch gleich getan. Das ist ja kein Zustand!«, antwortet die Pflegerin. Sie geht ins Stationsoffice und ruft den Arzt an. Der Assistenzarzt ist schnell da. Er hört nochmals meine Lunge ab und erklärt, dass er nun doch brodelnde Geräusche von angesammeltem Schleim in tieferen Lungenabschnitten hört. »Morgen müssen wir sicher ein Röntgenbild machen«, erklärt er […].13 Asymmetrische Beziehung: Sobald jemand wegen seiner körperlichen Beschwerden einen Arzt an dessen Wirkungsstätte aufgesucht oder dieser sich ihm zugewandt hat, entsteht 10 11 12 13

Todes 2005: 137. Peinert 2002: 49. Bauby 1997: 123f. Balmer 2006: 82f.

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Körperlicher Umbruch

zwischen ihnen eine Beziehung, die ihrem Wesen nach asymmetrisch ist. Gegenüber dem Kranken hat der Arzt eine dreifache Macht (vgl. Siegrist 2005: 251): Zum Ersten hat der Arzt die Expertenmacht, da er als Spezialist ein Wissen über den veränderten Körper hat, über das der Kranke als Laie selbst nicht verfügt. Zum Zweiten verfügt der Arzt über die Definitionsmacht, wenn er das Vorliegen einer Krankheit feststellt, sie mit einer Diagnose bezeichnet und Folgemaßnahmen wie eine Therapie einleitet oder eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, und der Kranke unter Umständen dazu verpflichtet ist, ihn in Anspruch zu nehmen und seinen Anweisungen zu folgen. Zum Dritten übt der Arzt Handlungsmacht aus, weil er auf Grund seiner Position im sozialen System sowohl der Gesellschaft als auch des Gesundheitswesens die Beziehung zum Kranken bestimmt und die Einzelheiten der medizinischen Behandlung ebenso festlegt wie Inhalt und Verlauf ihres Gesprächs. Idealerweise ist die Beziehung von Arzt und Krankem trotz des Ungleichgewichts zwischen ihnen von Liebe und Fürsorge auf Seiten des Arztes und von Hoffnung und Vertrauen auf Seiten des Kranken getragen, praktisch ist ihr Verhältnis juristisch geregelt. Auch ohne ausdrückliche Erklärung kommt zwischen ihnen ein Behandlungsvertrag zustande, der die jeweiligen Rechte und Pflichten in ihrer Beziehung bezeichnet und sie letztlich einklagbar macht. Durch den Behandlungsvertrag ist vorgegeben, was zwischen ihnen auf jeden Fall mindestens geschehen muss, was billigerweise zwischen ihnen geschehen sollte und günstigenfalls zwischen ihnen geschehen könnte, aber auch was nicht zu erwarten ist. So hat der Arzt als erstes abzuklären, inwieweit den Beschwerden, die ihm geschildert werden, wirklich ein Krankheitswert zukommt. Dem ersten Gespräch, der sog. Anamnese, folgt die körperliche Untersuchung. Freundlich und resolut hebt die Ärztin den Altersabstand zwischen uns auf. Das hilft. Sie lässt mich, wie einen Trunkenbold, der Auto fahrend erwischt wurde, auf einer Linie gehen. Ihr aufforderndes Lächeln erlischt, als ich mehrfach abweiche und abstürze.14 Manchmal ist danach für den Arzt schon klar, dass es sich bei den geschilderten Beschwerden um eine Krankheit handelt und mit welchem Namen sie zu belegen ist. Michael Modell hörte mir mitfühlend zu und führte dann eine verkürzte neurologische Untersuchung durch: Er klopfte meine Reflexe ab, ließ mich meine Arme parallel zum Fußboden ausstrecken und verfolgte alles genau. Dann beendete er das Ganze mit einer Untersuchung meiner Augen und versicherte mir, es gebe keinerlei Anzeichen eines erhöhten Drucks im Gehirn, der auf eine raumfordernde Läsion deuten ließe. Er erklärte, er sei sich sicher, dass es sich hier um die Parkinson-Krankheit in einem frühen Stadium handelte.15 Nicht selten sieht der Arzt sich genötigt, technische Hilfsmittel einzusetzen, um auf diese Weise den Befund zu ergänzen, den er mit seinen Sinnen erhoben hat. Was medizinisch wirklich mit mir los war, registrierte ich nur schrittweise, auch die Ärzte mußten dies erst mit Hilfe gezielter Untersuchungen herausfinden. Dazu ge-

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Härtling 2007: 22. Todes 2005: 14.

3. Die veränderte Alterität

hörten so technische und komplizierte Verfahren wie Computertomographie, DopplerSonographie, Magnet-Resonanz-Tomographie u.ä.16 Mit Hilfe verschiedenster Apparate dehnt der Arzt seine Wahrnehmung zweifach aus: Mit ihnen überschreitet er sowohl die von seinem eigenen Körper gesetzten Grenzen als auch die Grenzen des von ihm zu untersuchenden Körpers. Mit apparativer Hilfe dringt der Arzt in eine Tiefe des Körpers vor, die ansonsten seinen Sinnen nicht zugänglich ist, um dort selbst etwas zu sehen oder um von dort etwas hervorzuholen und es sichtbar zu machen. Ich liege im Untersuchungszimmer des Lungenfacharztes. Der Facharzt führt eine Bronchoskopie durch und stellt fest, dass mein linker Lungenflügel sehr rot ist und gar blutet. Er entnimmt Schleim zur Laboranalyse.17 Der Blick in die Tiefe des Körpers des Not Leidenden findet oft an einem Ort statt, der von anderen Orten abgesondert ist. Bei der spezifischen Untersuchung des Hirninfarkts oder, genauer, der Erkundung des Hirns lernte ich einen jener Dienstleistungsbetriebe kennen, ein phänomenal ausgerüstetes Fachlabor, durch das in einem ausgeklügelten System Patientenströme geleitet werden.18 Dem Subjekt wird verwehrt zu beobachten, wie der Arzt in die Tiefe seines Körpers blickt. Ich frage mich, was ist ein Herzkatheterlabor? Eine letzte Tür geht auf, und sie heben mich schnell, aber behutsam auf eine Liege. Über mir: eine OP-Lampe mit vier Leuchten. Vor mir: Maschinen, Drähte, Kabel, Apparate. Aber nicht lange. Jetzt stellt ein Mann eine Blende auf meinen Bauch.19 Diesem Blick in die Tiefe des Körpers ist eigen, dass er oft mühevoll ist. Das gilt dann gleichermaßen für den, der seinen Blick dorthin richtet, wohin sonst nicht geschaut wird, als auch für den, der diesem Blick ausgesetzt ist. Der Angiologe bestellt mich in den Keller – ein zierlicher, sich heftig bewegender Mann, klein, von Leidenschaft gekrümmt, einer, der auf seine inneren Stimmen horcht, er flucht auf den Doppler, den die Klinik ihm jedes Mal zur Verfügung stellt, ein Gerät, das ihm alles abverlange. Mit dem gelklebrigen Kopf des Geräts fährt er meinen Adern nach, bis er an den Hals gelangt und wütend in der Höhle unterm Kiefer bohrt, mir suchend Schmerzen bereitet.20 Wenn das Subjekt selbst zu betrachten vermag, was im Inneren seines Körpers gesehen wurde, merkt es, dass die gewonnenen Bilder von einer Art sind, dass sie nicht von ihm, sondern nur von den Spezialisten gedeutet werden können. 16 17 18 19 20

Peinert 2002: 33f. Balmer 2006: 83. Härtling 2007: 23. Huth 2003: 23. Härtling 2007: 18.

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Körperlicher Umbruch

Die Reparatur des NMR-Gerätes war endlich fertig gestellt, und ich wurde auf die »bewegliche Einheit«, eine verstellbare Liege, gelegt und mein Kopf in den »Tunnel« der Röhre geschoben. Knirschende, rumpelnde Geräusche umgaben mich. Die Bilder, die ich anschließend mit nach Hause nahm, waren bunt und sahen aus wie die nächtliche Skyline einer Großstadt. Ich konnte mit ihnen nichts anfangen […].21 Nur schwer gelingt es dem Subjekt, das Abbild vom Blick in die Tiefen seines Körpers mit seinem Befinden zusammenzubringen. Mir jedoch ist der Kopf wichtiger. Immerhin habe ich in ihn hineinsehen können, haben die Röhrenbeherrscher mir ein Bildchen von ihm gemacht, genauer gesagt: mehrere Bilder, und mir gezeigt, wie schräg die Einschläge in dieser grisseligen Struktur aussehen, wie bösartige Graffiti. Welcher Gedanke zeichnet sich auf diese Weise ab? Diese minimale Einschwärzung (die auch farbig wiedergegeben werden kann) sorgt dafür, dass meine Finger blöd und taub werden, ich nicht mehr die Tasten der Schreibmaschine treffe? Diese Fehlfarbe setzt mich außer Betrieb? Wirft mich aus meinem Beruf?22 Bezeichnung und Behandlung der Krankheit: Aus der Befragung des Körpers und aus der Deutung seiner sichtbaren und unsichtbaren Zeichen erfährt der Arzt, ob den ihm geklagten Beschwerden ein Krankheitswert zuzuschreiben ist. Mit seiner Diagnose gibt der Arzt der Krankheit einen Namen, macht er das Subjekt zum Kranken und bezeichnet er dessen Nähe zum Tode. Sein Urteil kommt zustande, indem er all das, was er über die Funktionen der Körperteile und Organsysteme erkundet und gemessen hat, mit der Norm vergleicht, die besagt, wie ein gesunder Körper zu sein hat. Wie häufig und wie gefährlich die von ihm diagnostizierte Krankheit für den Kranken und für die übrigen Mitglieder des sozialen Systems ist, objektiviert der Arzt in den wissenschaftlich belegten Zahlenangaben zu Morbidität, Mortalität und Letalität. Die von ihm als Krankheiten bezeichneten Veränderungen der gewohnten Körperlichkeit, die das Subjekt so schmerzen, ängstigen und beschämen, sind für ihn Lebensvorgänge, bei denen der somatische Körper an die Grenze kam, was ihm an Anpassung an die Umwelt möglich ist (vgl. Eder/Gedigk 1977: XXXVf.). Weil die Zellen als die kleinsten Bauteile der Organe oder die Substanzen zwischen den Zellen geschädigt sind, ist nach Auffassung des Arztes der Körper als Ganzes oder sind einzelne von dessen Organsystemen wie Kreislauforgane, Blut und blutbildende Organe, das Nervensystem und die Sinnesorgane oder der Bewegungsapparat in ihrer sonst üblichen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Aus der allgemeinen Ätiologie weiß der Arzt, dass sich an den Organen eines Körpers unter dem Einfluss krankmachender Bedingungen stets ähnliche Antworten finden lassen, nämlich Zell- und Gewebeschäden, örtliche und allgemeine Störungen des Kreislaufs, Entzündungen, Störungen der Immunreaktion und Störungen des Wachstums und der Differenzierung. Um den Ablauf der von ihm festgestellten Krankheit zu

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Todes 2005: 137. Härtling 2007: 28f.

3. Die veränderte Alterität

bezeichnen, unterscheidet der Arzt zwischen einer kausalen und einer formalen Pathogenese: In der kausalen Pathogenese werden Krankheiten auf innere Ursachen wie genetische Abweichungen, Alterungsprozesse oder körperliche Anlagen und auf äußere Ursachen wie Störungen der Aufnahme von Stoffen in den Körper, mechanische Einwirkungen, Schädigungen durch Kälte und Hitze, Luftdruck, Strahlen und chemische Stoffe oder Lebewesen wie Viren, Bakterien, Pilze und Würmer zurückgeführt. In der formalen Pathogenese wird der bisheriger Verlauf der Krankheit erklärt. Durch den Vergleich mit anderen Fällen vermag der Arzt zu sagen, wie sich die körperlichen Veränderungen zukünftig entwickeln werden. In seiner Prognose teilt der Arzt mit, ob der Kranke wieder ganz gesund werden und denselben körperlichen Zustand erreichen wird wie zuvor, ob er an der Krankheit sterben wird oder ob es zu einer Defektheilung mit einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit kommen wird. Die Bewertung des körperlichen Befundes kann so ausfallen, dass das weitere Handeln der Spezialisten schnell erfolgen muss. Sie fahren mich eilig durch die Flure der Klinik. Schwestern vorne schlagen die Türen auf, Pfleger bugsieren mein Bett von hinten durch die Gänge. Häufig stoßen wir an. Es ist wie im Vorspann von »Die nackte Kanone«.23 Mit seinem Handeln versucht der Arzt, den von ihm angenommenen natürlichen Verlauf der Krankheit günstig zu beeinflussen. Dann beginnen die Ärzte mit ihrer Arbeit. Ich bekomme mehrere Spritzen gleichzeitig. Eine Betäubungsspritze für mein Bein. Ein Kontrastmittel, um auf einem Echoschirm die Operation überwachen zu können. Während die Spritzen gesetzt werden, machen sich weitere Ärzte an meinem Bein zu schaffen.24 Nicht alle Handlungen, die darauf abzielen, die körperliche Schädigung zu beheben, müssen von einem Arzt vorgenommen werden. Andere Spezialisten des Gesundheitswesens stehen ihm bei. Diese Spezialisten sind durch ihre Ausbildung befähigt, die Anweisungen des Arztes in die Tat umzusetzen. Ihnen allen ist gemein, dass es ihnen im Wesentlichen nicht darum geht, den Kranken zu behandeln, sondern die Krankheit. In Ausübung ihrer Rollen wird für sie der kranke Körper zu einem Objekt, über das sie selbstverständlich verfügen. Die Männer gehen mit mir um. Sie fragen mich nicht. Sie wenden sich nicht an mich. Er muss sitzen bleiben, fordert die eine Stimme. Ich darf meine Hockerstellung bewahren, in mich hineinkriechen, obwohl es meiner Atmung nicht hilft.25 In der Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt kommt diesem auf Grund ihrer jeweiligen Rollen das Recht zu, zu bestimmen, was jenem geschehen soll. Obeso beschloss, die Lisurid-Dosis am nächsten Tag zu erhöhen.26

23 24 25 26

Huth 2003: 22. Huth 2003: 23. Härtling 2007: 8. Todes 2005: 87.

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Körperlicher Umbruch

Zu den Rollen, die sie ausüben, gehört auch, dass der Arzt dem Kranken nicht unbedingt sagen muss, was er vorhat, um dessen verlorene Gesundheit wiederherzustellen. Ich erfahre nicht, was mit mir geschehen wird.27 Auch Handlungen, die die Grenzen des somatischen Körpers verändern, werden von Ärzten vollzogen, ohne dass sie vorab dem Kranken erklärt wurden. Ich bin schon auf sanftere Weise geweckt worden. Als ich an jenem Morgen Ende Januar zu mir kam, stand ein Mann über mich gebeugt und nähte mit Nadel und Faden, wie man ein Paar Socken stopft, mein rechtes Augenlid zu. Ich wurde von einer unsinnigen Angst gepackt: Wird mir der Augenarzt, einmal in Schwung, auch das linke Auge zunähen, meine einzige Verbindung mit der Außenwelt, das einzige Oberlicht meines Kerkers, das Bullauge in meiner Taucherglocke? Zum Glück wurde ich nicht ins Dunkel getaucht. Er verstaute seine kleinen Geräte sorgsam in mit Watte ausgekleidete Blechdosen und ließ im Ton eines Staatsanwalts, der für einen Rückfälligen eine exemplarische Strafe fordert, knapp verlauten: »Sechs Monate.«28 Da mit Übernahme der Rollen von Arzt und Krankem festgelegt ist, wer die Macht hat, wissen beide, dass es vom Kranken hinzunehmen ist, wenn der Arzt in einer Weise in seinen Körper eingegriffen will, wie es ihm eigentlich nicht entspricht. Ich bitte Sie, die Dame führt mir den Schlauch vor. Er ringelt und reckt sich in ihrer Hand wie eine Schlange, und mein Schlund probiert vorsorglich aus, sie zu schlucken, macht sich rund. Das bitte nicht, flehe ich mit ausgehöhlter Stimme, und ich weiß, dass sie den Schlauch benützen werden, schließlich werde ich ohne Bewusstsein sein, sie wird das Ding in mich hineintreiben, den Schlund hinunter […].29 Selbst wenn der Arzt begründet, warum er die körperlichen Grenzen verletzen wird, vermag der Kranke nicht von sich aus zu überprüfen, ob es wirklich in seinem Sinne geschieht. Als Laie werden dem Kranken von den Spezialisten des Gesundheitswesens immer wieder Maßnahmen vorgeschlagen, deren Wertigkeit er aus seinen Erfahrungen heraus nicht beurteilen kann, die ihm aber als wichtig genannt werden, um Ursache und Ausmaß der körperlichen Veränderung zu erkennen beziehungsweise um deren Folgen zu beheben. Seine Not nimmt dem Kranken die Wahl, etwas Anderes zu tun, als dem Rat der Spezialisten zu folgen. Da mir deutlich gemacht worden war, daß diese Untersuchung unbedingt nötig sei, hatte ich natürlich überhaupt keine Alternative, besonders, da ich in dem Spannungszustand vor der unbekannten Untersuchung gar nicht ruhig überlegen oder abwägen konnte. Ich mußte mich dem Urteil der Ärzte unterwerfen und unterschreiben, ich konnte gar nicht anders, und ich war damit auch zufrieden!30

27 28 29 30

Härtling 2007: 56. Bauby 1997: 55. Härtling 2007: 38. Peinert 2002: 67f.

3. Die veränderte Alterität

Angesichts der Angst, die von einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ausgeht, wird das Handeln des Arztes aber oft geradezu ersehnt. Abwarten zu müssen, bis der Arzt endlich bereit ist, einzugreifen, wird dann für den Kranken zu einer zusätzlichen Qual. Es gab nichts, was ich so sehnlich herbeiwünschte wie die Operation, die mich von der Damoklesbedrohung befreien sollte. Erst wenn die Stenose operativ ausgeräumt war, konnte man sicher sein, daß nicht erneut Blutgerinnsel abgelöst und ins Gehirn gespült würden. So wurde ich in den letzten Stunden innerlich immer ruhiger, je näher die Operation rückte. Jede Störung dieses Zeitplans empfand ich dagegen als akute Bedrohung.31 Bisweilen sieht der Kranke, wie die Spezialisten einen für heilsam erklärten Eingriff in seinen Körper vorbereiten, und erlebt es bei vollem Bewusstsein mit. Ich beobachtete, wie der Professor zu einem OP-Rolltisch hinüberging, wo sich das »Material« befand. Mit einer Spritze zog er eine bestimmte Menge davon auf. Man bohrte ein weiteres Loch in meinen Schädel, dieses Mal ganz vorne. […] Viel geredet wurde jetzt nicht mehr, nur Hitchcock und Kenny besprachen die genauen Winkel für die Injektion der fötalen Zellen.32 In der Erwartung, dass es Aufgabe und Anliegen des Arztes ist, das ungewohnte körperliche Geschehen zu beheben oder zumindest zu lindern, willigt der Kranke ein, ungewöhnliche Anweisungen, die an ihn ergehen, zu befolgen. Er hat vor, mich von der Drainage und dem Katheter zu befreien, kniet, ohne dass ich mich auf die Attacke einstellen kann, neben dem Bett und formuliert die gemeinsame Verhaltensregel: »Ich zähle bis drei, und gleich danach schreien Sie.« Eins, zwei, drei, zählt er, und ich schreie, ohne mich zu hören.33 Der Verlauf zeigt dann vielfach, dass das ärztliche Handeln dem Subjekt dienlich war. Die umgehende Versorgung hat bei mir sicherlich verhindert, daß noch mehr Gehirnzellen geschädigt wurden. Auch die Tatsache, daß schon sehr bald mit neurogener Krankengymnastik durch Fachkräfte begonnen werden konnte, hat wohl sichergestellt, daß ich nicht allzuviel an Muskelbewegung verlernte oder daß Abbau von Muskelmasse und Verkürzung von Muskeln und Sehnen durch Untätigkeit einsetzte.34 Zurückweisung durch den Arzt: Nach Anamnese, klinischer und apparativer Untersuchung und Bewertung der Befunde kann der Arzt dazu kommen, die ihm angetragene Beziehung zurückzuweisen. Das kann in der funktionalen Spezifität seiner Rolle begründet sein. Denn der Arzt stellt fest, dass für das erkrankte Körperteil oder Organsystem nicht er zuständig ist, sondern ein Kollege.

31 32 33 34

Peinert 2002: 105. Todes 2005: 142f. Härtling 2007: 59. Peinert 2002: 81.

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Körperlicher Umbruch

Meine Freundin und Nachbarin Birgid meinte, ich würde ganz schrecklich hinken und schickte mich zum Orthopäden. Der ließ mich dreimal kommen und nach allen möglichen Untersuchungen wieder der Rat: »Gehen Sie zum Neurologen.«35 Der Arzt weist die Beziehung auch zurück, wenn er feststellt, dass seine Fähigkeiten nicht ausreichen, um die körperlichen Veränderungen in dem Umfang zu beherrschen, wie es die Lebensumstände des Subjekts verlangen. Also rief ich den ärztlichen Notdienst an, der dann auch am späten Nachmittag kam. Die Ärztin sah, dass ich alleine war und wies mich ins Krankenhaus ein.36 Die Zurückweisung der Beziehung steht dem Arzt auf Grund der Definitionsmacht zu, die ihm in seiner Rolle zukommt. Nachdem er den somatischen Körper des Subjekts befragt und dessen sichtbare und unsichtbare Zeichen gedeutet hat, kann er zum Ergebnis kommen, dass keine Krankheit vorliegt. »Es tut mir beim Atmen so weh und ich verspüre einen Druck in meinem linken Lungenflügel«, erkläre ich dem Assistenzarzt. […] Der Druck im linken Lungenflügel ist so ausgeprägt, dass ich Schlimmeres als eine Erkältung vermute. Der Assistenzarzt hört mit dem Stethoskop meine Lungen ab. »Ich kann nichts hören. Da ist nichts.«37 Als gesellschaftlich anerkannter Spezialist zur Bewertung ungewohnter und abweichender Körperlichkeit bezweifelt der Arzt mitunter die gemachten Angaben zu den Beschwerden. Er verweigert dem Subjekt die Anerkennung als Kranken. Dann spricht der Notarzt, der das Sagen zu haben scheint. »Ja, wir können hier nichts finden. Jetzt gibt es zwei Alternativen: Entweder wir bringen Sie in ein Krankenhaus, und da wird dann noch mal nachgeguckt, was da ist, oder Sie ruhen sich noch etwas aus und gehen dann später am Tag zu Ihrem Hausarzt.« Abgesehen davon, dass ich keinen Hausarzt habe: Ich höre wohl nicht recht. »Wissen Sie, ich habe Sie nicht gerufen, weil ich einsam bin.« »Bitte?« »Ich habe ziemliche Schmerzen, ich kann mich kaum bewegen, und ich brauche jetzt wirklich Hilfe.« Sie glauben mir kein Wort. Sie denken, ich bin ein Koks-Yuppie, der sich beim Vögeln übernommen hat.38 Wenn der Arzt den geschilderten Beschwerden keinen Krankheitswert beimisst, vermag die Zurückweisung der Beziehung Wut auszulösen. Ich lag hilflos im Bett und wäre am liebsten schreiend auf den Flur gerannt. Ich hatte innerlich getobt in meinem Bett, was meinen Blutdruck in die Höhe schnellen liess und meinen Puls beinahe unmessbar machte. Aber nicht einmal dieser Zustand veranlasste die Ärztin, meinen Zustand festzuhalten. Die geschilderte Diskussion fand vor meiner offenen Tür statt, ohne dass die Ärztin auch nur einen Fuss in mein Zimmer getan, geschweige denn mich untersucht hätte.39

35 36 37 38 39

Lürssen 2005: 27. Ruscheweih 2005: 20. Balmer 2006: 81. Huth 2003: 17. Balmer 2006: 54.

3. Die veränderte Alterität

Für das Subjekt, das unter seinen Beschwerden leidet, ergeben sich schwerwiegende Nachteile, wenn der Arzt die erwünschte Beziehung zurückweist, weil seiner fachlichen Meinung nach kein körperlicher Zustand vorliegt, der sein Handeln erfordert, und wenn er sich dabei irrt. Erstmals hörte ich damals von den Ärzten den Begriff »psychogene Gangstörung«. Psychogen, also eingebildet? Also lag es nur an mir, die ganze Leidensgeschichte, die im Juni 1972 begonnen hatte, zu beenden? Ich fing an, auf meine Weise Selbstheilung zu betreiben. Treppe hoch, Treppe runter, auch wenn jeder Schritt wie Messer in den Leib schnitt, Tränen in die Augenwinkel drückte. Ich bin auf den Stuhl raufgeklettert und runtergesprungen, um mir selbst zu beweisen, daß meine Schmerzen nur eingebildet seien. Eine Einbildung, die partout nicht schwinden wollte, sondern immer realer und bedrohlicher wurde. Das Gefühl, wann ich eine Toilette brauchte, ging allmählich verloren. Die Folgen waren fatal, und schwer zu überspielen.40 Es kommt auch vor, dass ein Arzt auf Grund der ihm von Dritten gemachten Angaben nicht bereit ist, die ihm angetragene Beziehung einzugehen. Dieses Mal wurde mir gesagt, dass [der behandelnde Arzt namens; B.R.] Obeso nicht erreichbar sei, ihn aber ein anderer Arzt gerade suche […]. Tatsächlich kam kurz ein Arzt herein, und ich trug ihm auf Obeso mitzuteilen, dass ich kein Narr sei und sehr wohl wisse, dass ich mehr Lisurid bekommen hatte, als ausgemacht gewesen war. Obeso kam immer noch nicht. Er hatte es offensichtlich auch gar nicht vor, und ich war sehr verärgert.41 Für das zurückgewiesene Subjekt kann es sich lohnen, sich nicht der Definitionsmacht des Arztes zu beugen. Wenn es sich nicht mit der Zurückweisung abfindet, sondern hartnäckig darauf besteht, besonderer ärztlicher Maßnahmen zu bedürfen, erreicht es bisweilen, dass ihm die notwendige Beziehung zu einem Arzt doch zugestanden wird. Ich berichtete einem ziemlich ungläubigen Praktischen Arzt von dem Problem. Der untersuchte mich gründlich und schickte mich mit der Versicherung fort, daß er nichts sehen könne. Nach mehreren drängenden Telefonanrufen willigte er ein, mich in die Augenklinik zu überweisen. Hier wurde sofort eine Diagnose gestellt […].42 Das Wissen um die genaue Kenntnis des eigenen somatischen Körpers hilft dem Subjekt, sich bei den Spezialisten des Gesundheitswesens durchzusetzen und von ihnen mit den angegebenen Beschwerden ernst genommen zu werden. »Kann ich bitte Fieber messen?«, frage ich die für mich zuständige Pflegerin. »Denken Sie, dass Sie Fieber haben? Ihre Stirn fühlt sich aber kalt an.« »Ich weiss, dass ich Fieber habe. Schliesslich kenne ich meinen Körper«, erkläre ich ungeduldig. Die Pflegerin nickt: »Ja, das ist wahr. Niemand kennt Ihren Körper so gut wie Sie.« Das Thermometer zeigt 38,7°.43 40 41 42 43

Buggenhagen 1996: 37f. Todes 2005: 90. Hull 1992: 25. Balmer 2006: 84.

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Körperlicher Umbruch

Auch wenn es dem Subjekt gelingt, eine Beziehung zum Arzt herzustellen, bleibt es ihm gegenüber oft allein. Es geschieht dann, wenn der Arzt nicht bereit ist, Gefühle mit dem Kranken zu teilen. Das kann die Freude sein angesichts einer in Aussicht stehenden Behandlung, die den Kranken erfüllt und die der Arzt abwehrt. Dass ich ein Mensch mit Gefühlen und sogar ganz enthusiastisch war, als »Pionierpatient« möglicherweise einem ganz neuartigen chirurgischen Experiment zu dienen, fand bei den anderen [Ärzten auf der Visite; B.R.] keine Resonanz.44 Oder es kann die Angst vor einem Eingriff sein, die der Arzt nicht mit dem Kranken teilen will. Ein Arzt stellt sich neben mich. »Ich bin Dr. Rainer. Ich werde nun den Katheter einführen, und das kann ein wenig wehtun.« […] »Haben Sie diese Operation schon oft durchgeführt?« »Wir haben keine Zeit für Scherze.«45

3.2

Eintritt ins Exosystem Krankenhaus

Wandlung zum Patienten: Bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung von einem Arzt als Kranker anerkannt zu werden, weist dem Subjekt in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende eine Position im institutionalisierten sozialen System Gesundheitswesen zu: Es wird zum Patienten. Was ihm bis dahin ein fernes und weitgehend fremdes Exosystem war, das es selbst als Kranker meist nur kurzzeitig nutzte, dessen reines Vorhandensein es aber gleichermaßen beruhigte wie mit Schrecken erfüllte, bestimmt nun seine Alterität und beeinflusst seine Identität. Als Institution erfüllt das Gesundheitswesen eine gesellschaftlich bedeutsame Aufgabe und ist in seinem Verhältnis zur Außenwelt ebenso festgelegt wie in seinem inneren Aufbau. Das Gesundheitswesen umfasst einen produktiven Bereich, in dem die Leistungen erbracht werden, für die es als Institution geschaffen ist, und einen reproduktiven Bereich, in dem das betrieben wird, was dem Erhalt der Institution dient; dieser ist jenem nachgeordnet, doch wenn sich ihre Abhängigkeit umkehrt, kann sich letzterer auf Kosten des ersten ausdehnen (vgl. Schülein 1987: 140–150). Wie in jeder Institution geben auch im Gesundheitswesen Normen und Rollenerwartungen vor, wie die Mitglieder sich zu verhalten haben bzw. wie sie handeln können; sie gewinnen dadurch Sicherheit im Umgang miteinander, selbst wenn es ihre Freiheit einschränkt. Um auf Dauer zu bestehen, ist die Institution Gesundheitswesen darauf angewiesen, dass sowohl diejenigen, die sie in Anspruch nehmen, als auch diejenigen, die sie betreiben, daran glauben, dass ihre Vorgaben richtig und mögliche Sanktionen berechtigt sind (vgl. Wilken 2010: 31–45). Zur Institution Gesundheitswesen gehört neben der Praxis des Arztes oder anderer niedergelassener Spezialisten als weiteres Subsystem das Krankenhaus; in ihm halten

44 45

Todes 2005: 137. Huth 2003: 23.

3. Die veränderte Alterität

sich die schwer Kranken auf. Indem sie aus dem sozialen Mesosystem, dem sie ansonsten angehören, ausgegrenzt werden, erhalten sie ihren besonderen Ort, wo sie von den Gesunden geschieden sind. Dem Subjekt wird ein stationärer Aufenthalt in einem Krankenhaus verordnet, wenn etwa die ambulant, in den Praxen von den Spezialisten betriebene Medizin nicht ausreicht, um das Wesen der Beschwerden grundlegend zu erfassen und eine Diagnose zu stellen. Außerdem kann eine Körperlichkeit krankheitsbedingt so erheblich von der Norm abweichen, dass sie besonderer Maßnahmen bedarf, um überhaupt am Leben gehalten zu werden. Schließlich kann es auch darum gehen, den gesunden Teil der Gesellschaft vor dem Kranken zu schützen, damit er die übrigen Mitglieder des sozialen Systems nicht zu sehr mit seiner Krankheit und deren Folgen beeinträchtigt. So geschieht sozial dasselbe wie somatisch: Hier wird die Krankheit im Körper des Kranken verortet und vom übrigen Körper abgegrenzt, dort der Kranke ins Krankenhaus gebracht und aus dem sozialen System ausgesondert. In ein Krankenhaus aufgenommen zu werden und dessen produktive Leistungen zur Abklärung und zum Erhalt der veränderten Körperlichkeit zu nutzen, liegt nicht in der Hand des Subjekts. Auch wenn es noch so sehr unter seiner Körperlichkeit leidet, hat es stets die Entscheidung eines Spezialisten des Gesundheitswesens einzuholen. Selbst in dem Fall, dass ein Arzt von außerhalb des Krankenhauses das Subjekt dorthin einwies, bleibt es einem Mitglied des sozialen Systems Krankenhaus vorbehalten, zu bestimmen, welcher Patient ihm wie lange angehören darf. Die hiesige Neurologenpraxis war zur Zeit nicht besetzt, also ging ich zur Uniklinik […]. Auf die ambulante Untersuchung folgte eine stationäre Aufnahme für zunächst drei Tage.46 Den Zugang zu einem Krankenhaus zu finden, kann schon vom Weg her nicht einfach sein. Allein die Aufnahme in diese Riesenklinik erwies sich als schwierig. […] Schon die Anfahrt, diesmal von zu Hause aus und daher im privaten PKW, war für meine Frau als Ortsfremde ungemein schwierig. Erst nach längeren Irrfahrten fanden wir schließlich einen Klinikeingang, der den richtigen Zugang zur Station zuließ, aber keine Parkmöglichkeit. Wir hielten schließlich einfach in der Nähe eines Tors, das ich mit meiner Gehbehinderung und mit Hilfe meiner Frau irgendwie erreichen konnte, waren dort aber den anrollenden Krankentransporten im Wege. Als weitgehend hilfloser und bewegungsunfähiger Patient gelangte ich zu dem festgelegten Termin in einen unter Schwierigkeiten auffindbaren Rollstuhl zunächst nur in die riesige Wartehalle der Klinik.47 Die bevorstehende Aufnahme in ein Krankenhaus macht Angst.

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Lürssen 2005: 27. Peinert 2002: 46f.

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Körperlicher Umbruch

Um 8.00 Uhr muss ich in der Klinik sein. Auf dem Weg dorthin reden wir nicht. Ich komme mir vor wie ein zum Tod Verurteilter auf dem Weg zur Hinrichtung. Was erwartet mich?48 Unterwegs zu sein, um in Kürze in ein Krankenhaus aufgenommen zu werden, weckt auch Hoffnung. »Wir bringen Sie in die Klinik«, sagt der Sanitäter. Ich verfolge die Straßen bis nach St. Georg, ich weiß, das ist unser Ziel. Hoffentlich sind wir bald da.49 Zunehmende Fremdheit: Wer als Kranker in ein Krankenhaus aufgenommen wird, verliert mehr und mehr seine gewohnte soziale Rolle (vgl. Goffman 1972: 25–48). Durch die Art, wie mit ihm dort umgegangen wird, beginnt für das Subjekt die Wandlung zum Patienten und, falls die körperlichen Veränderungen sich nicht völlig zurückbilden, sondern einen körperlichen Umbruch bedingen, endet sie mit der zum chronisch Kranken oder Behinderten. Irgendwann während seines Eintritts in das bisherige Exosystem kommt der Zeitpunkt, wo auch die letzten vertrauten Angehörigen, die das Subjekt bis dahin begleiteten, von den dort tätigen Spezialisten aufgefordert werden zurückzubleiben. [Dr.; B.R.] Kenny sagte Lili, sie solle einen langen Spaziergang machen, und machte sich an die Arbeit.50 Stattdessen ist das Subjekt jetzt von ihm gänzlich fremden Menschen umgeben. Ohne dass es gefragt wurde, ob es damit einverstanden ist, sich ihnen anzuvertrauen, versammeln sie sich um seinen erkrankten Körper. Sie erbringen an ihm die Leistungen, für die das Krankenhaus als Institution geschaffen wurde. Noch nie zuvor hatte ich so viele weiße Kittel in meinem kleinen Zimmer gesehen. Die Krankenschwestern, die Pfleger, die Heilgymnastin, die Psychologin, der Ergotherapeut, die Neurologin, die Assistenzärzte und sogar der große Chef, das ganze Krankenhaus hatte sich für den besonderen Anlaß herbegeben.51 Erst wenn sich der körperliche Zustand des Kranken über ein bestimmtes, aber von ihm selbst nicht zu bestimmendes Maß gebessert hat, wird es dem Subjekt wieder gestattet, mit den Menschen zusammen zu sein, die ihm vertraut sind und die es selbst gewählt hat. Inzwischen durfte ich öfter und länger Besuch empfangen. Anfangs hatte man nur Fiona und Raffaele zu mir gelassen, und das auch nur für kurze Zeit. Jetzt besuchte mich Raffaele nicht mehr, und Fiona blieb fast den ganzen Tag bei mir.52 Der Kranke gerät in ein soziales System, das gruppendynamisch gesehen gespalten ist, in die dort tätigen Spezialisten des Gesundheitswesens einerseits und die auf Gesundung hoffenden Patienten andererseits. An Äußerlichkeiten lässt sich meist einfach 48 49 50 51 52

Lesch 2002: 54. Huth 2003: 19. Todes 2005: 141. Bauby 1997: 9. Mills 1996: 227.

3. Die veränderte Alterität

ablesen, wer zu welcher Untergruppe gehört. So erkennt der Kranke die Spezialisten des Gesundheitswesens an ihrer Kleidung, wenn er zu ihnen gebracht wird. Im Raum sind fast ein halbes Dutzend Personen in grüner OP-Kleidung und mit Mundschutzmasken aus Papier.53 Andere betreten in ihrer besonderen Kleidung den Raum, wo der Kranke sich aufhält. Ich schaue zur Tür. Zwei Personen betreten mein Zimmer. Sie tragen Gummihandschuhe, gelbe Roben und gelben Mundschutz.54 Auch die Patienten des Krankenhauses tragen ihre besondere Kleidung, die sie kennzeichnet. Mit seiner Aufnahme muss der Kranke seine Alltagskleidung ablegen und entweder sein übliches Nachtgewand oder eine vom Krankenhaus gestellte Bekleidung anziehen. Es ist 9.00 Uhr. Ich ziehe mich in einem kleinen, fensterlosen Raum aus. Hänge die Hose auf den Haken, das Hemd, das Jackett, lege die Socken auf den kleinen Stuhl, stelle die Schuhe darunter. Dann bekomme ich wieder eines dieser OP-Hemden an. Vorne zu, hinten offen. Ich schäme mich, wie ich so dastehe. So klein, so hilflos, in diesem Raum, in diesem Hemdchen.55 Wer die besondere Kleidung nicht selbst anzulegen vermag, wird angezogen. Ich bekomme von einer Schwester eines dieser grässlichen OP-Hemden übergestülpt.56 Auch im weiteren Verlauf fallen die Patienten durch ihre Kleidung auf. Ich war jetzt einer der Rekonvaleszenten, der Patienten, die grüne Kittel und grüne Kappen trugen.57 Für manche geht die Aufnahme in ein Krankenhaus damit einher, dass sie sich als einzige in der Anwesenheit von anderen ganz entblößen müssen. Solches tun zu müssen, muss nicht unbedingt beschämen. Ich bin nun wieder ganz nackt, und eine hübsche Ärztin rasiert mir mit einem Einwegrasierer die Innenseite meiner Schenkel. Sie sieht meinen Schwanz. Unsere Blicke treffen sich. Sie sieht, dass ich weiß, dass sie ihn sieht. Ich schäme mich nicht.58 Die Kleidung ist nicht das einzige äußere Zeichen der Identität, das einem Kranken durch seinen Eintritt in das soziale System Krankenhaus genommen wird. Nach und nach verliert er auch all die anderen Gegenstände, in denen sich ansonsten seine Subjektivität ausdrückt, aus seiner unmittelbaren Nähe. Der Kranke wird aufgefordert,

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Huth 2003: 23. Balmer 2006: 86. Lesch 2002: 25. Lesch 2002: 91. Todes 2005: 144. Huth 2003: 23.

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Körperlicher Umbruch

seinen unmittelbar am Körper getragenen Schmuck, einen Ehering oder ein religiöses Symbol, gegebenenfalls auch ihm eigene Körperhilfen und prothesen wie Brille oder Zahnersatz zu entfernen, damit es möglich wird, die erforderlich werdenden Maßnahmen zur Abklärung oder zur Behandlung seiner veränderten Körperlichkeit auszuführen. Ferner wird dem Kranken mit Verweis auf die Gefahr eines möglichen Diebstahls geraten, seine Wertgegenstände wegzuschließen oder gegen Quittung der Verwaltung zu übergeben. Auch allgemeine Gewohnheiten und Vorlieben, in denen sich ansonsten eine Identität der Alterität zu erkennen gibt, können im Alltag des Krankenhaus nur schwer aufrecht erhalten werden. Wenn sie dort nicht erwünscht sind, weil sie den Ablauf stören, prallen das Bedürfnis des Subjekts, auch als Kranker seine Eigenheiten zu bewahren, und das Bestreben des sozialen Systems Krankenhaus, vertreten durch einen seiner Mitarbeiter, aufeinander. Die heftigste Auseinandersetzung hatte ich mit einer Krankenschwester, die in rüdem Ton von mir verlangte, die Temperatur rektal zu messen, und mir zu untersagen versuchte, über diese ihre Entscheidung noch zu sprechen. »Hier wird nicht diskutiert!«59 Wenn der Kranke anerkennt, dass er sich infolge seiner veränderten Körperlichkeit in einer Lage befindet, wo andere über ihn bestimmen und seine Möglichkeiten, eigenständig zu handeln, begrenzt sind, beginnt er zu bitten, seine Bedürfnisse umsetzen zu dürfen. Ihm kann seine Bitte von denjenigen, die ihm gegenüber Handlungsmacht haben, gewährt werden. Morgens früh wünschte ich, mich noch duschen zu können. Die Pflegerin versuchte mich zu motivieren, das völlig unästhetische, hinten offene weisse »Schlachthemd«, das Spitalnachthemd, anzuziehen. Doch mein grüngestreifter Pyjama gefiel mir viel besser. Da ich mich bereits einige Stunden vor dem Eingriff zu waschen hatte, durfte ich vorerst auf das weisse Laken von Spitalnachthemd verzichten.60 Je länger der Aufenthalt im Krankenhaus andauert, desto schwerer wird es für den Kranken, nicht nur den äußeren Vorgaben zu folgen und seine bisherige Identität nicht ganz aufzugeben. Langsam fand ich es immer schwieriger, mein eigenes Leben zu leben und gleichzeitig den Schwestern Raum zu lassen, ihre Aufgaben zu erledigen. Ich tat mein Bestes, um meinen kleinen Lebensraum zu erhalten: Meine Bücher, Tonbänder, Arzneimittel, Grußkarten und Zeitschriften waren in farbigen und beschrifteten Kunststoffbehältern verstaut, die ihren festen Platz in meiner Ablagehierarchie hatten.61 In der Anpassung an die vermeintlichen Erfordernisse des sozialen Systems Krankenhaus geht die Aufgabe von Bedürfnissen mitunter so weit, dass der Kranke selbst die Freiräume, die ihm auf seine Bitte von einem Vertreter des Krankenhauses gewährt wurden, nicht mehr nutzt.

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Peinert 2002: 65. Balmer 2006: 111. Todes 2005: 136.

3. Die veränderte Alterität

Ich habe zu Hause zum Essen immer gern ein Glas Bier getrunken. Obwohl mir die Schwestern auf meine Frage hin gesagt hatten, daß man in der Klinik zum Essen von der Küche auch alkoholfreies Bier bekommen könne, fragte ich fast mit schlechtem Gewissen auch noch den Arzt. Ich bat ihn gewissermaßen um Erlaubnis und habe angesichts seiner zurückhaltenden Reaktion dann in einer Art vorauseilenden Gehorsams in Zukunft auf mein Bier von vorneherein verzichtet und weiter fraglos den ungeliebten Tee getrunken.62 Verfügen über die Zeit: Zur zumindest vorübergehenden Aufgabe der Identität und der allmählichen Wandlung zum Patienten trägt während des Aufenthalts in einem Krankenhaus bei, dass das soziale System, dem der Kranke nun angehört, selbstverständlich über seine Zeit verfügt. Im wiederkehrenden Warten zeigt sich, wer das Handeln bestimmt. Das Warten beginnt schon vor dem Eintritt. Also warten wir auf den Notarztwagen und können uns irgendwie beide nicht so richtig gut vorstellen, was nun passiert.63 Das Warten setzt sich nach der Aufnahme fort. So kann es dauern, bis der Kranke von den Mitarbeitern des Krankenhaus den Platz zugewiesen erhält, an dem er sich im Folgenden aufzuhalten hat. Das Zimmer ist noch nicht fertig, und so müssen wir wieder einmal warten. […] Endlich werde ich in ein Krankenzimmer geführt, ziehe mich aus, lege mich ins Bett und warte.64 Des Weiteren muss gewartet werden, bevor eine ärztliche Maßnahme durchgeführt wird. Ein großer schwarzer Pfleger mit einer schwarzen Stimme holt mich hinunter ins Souterrain zum »Eingriff«, reiht mich ein in die Warteschleife vor dem Operationsraum.65 Gewartet werden muss auch, nachdem eine ärztliche Maßnahme durchgeführt worden ist. Im Warten zeigt sich nicht nur, wer in der Beziehung das Sagen hat und an wem es ist zu folgen, sondern es weckt auch Ängste. Aber danach stand ich etwa eine halbe Stunde im Rollstuhl auf dem leeren Flur, mit den Röntgenfotos in zwei riesigen Umschlägen auf dem Schoß, die mir immer wieder von den Knien zu rutschen drohten und die ich mit meinem lahmen Arm kaum halten konnte. Meine Fahrbereitschaft war verschwunden, war auch nicht ohne weiteres heranzurufen, während inzwischen zwei Pfleger meiner Station an mir vorbeigingen, aber offenbar nicht klar genug auf mich angesetzt worden waren und mich daher verpaßten. Wenn nicht schließlich zwei andere zufällig vorbeikommende Schwestern mich

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Peinert 2002: 66f. Huth 2003: 15. Lesch 2002: 54. Härtling 2007: 12.

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Körperlicher Umbruch

einfach mitgenommen hätten, hätte ich vielleicht die Nacht auf diesem Flur verbringen müssen, der zufällig vor dem OP war.66 Auch dann muss der Kranke warten, wenn er vom Arzt erfahren will, wie dieser nach der Befragung seines Körpers den Zustand seiner Körperlichkeit beurteilt. Diese Warterei ist furchtbar. Seit Tagen warten wir auf meinen Befund.67 Da dieses Urteil für ihn und sein weiteres Leben so bedeutsam ist, vermag der Kranke sich keiner anderen Tätigkeit zuzuwenden. Wieder schaue ich auf meine Uhr. Die Zeit will nicht vergehen. […] Ich kann vor lauter Anspannung kaum noch atmen und schaue wieder auf die Uhr. Wann endlich würde die Visite beginnen? Wann, verdammt noch mal, kommt Professor Schoenemann mit den Ergebnissen?68 Es sind aber nicht nur ärztliche Maßnahmen und Urteile, auf die der Kranke im Krankenhaus zu warten hat. Ebenso muss er darauf warten, dass eine dringend erforderliche pflegerische Maßnahmen ausgeführt wird. Und um das Ganze zu krönen, ist auch noch mein Blasenkatheter herausgerutscht. Ich liege in einer Überschwemmung. Während ich auf Hilfe warte, summe ich im stillen einen alten Schlager von Henri Salvador: »Ach komm, Baby, das alles ist doch nicht so schlimm.«69 Es ist möglich, dass der Kranke bei dem Mitarbeiter des Krankenhauses, der sich ihm zuwendet, mit seinem Anliegen zuerst einmal kein Gehör findet, so dass er darauf warten muss, ob ihm eine weitere Gelegenheit gegeben wird, sich dann bei einem zweiten Versuch verständlich zu machen. [Die Krankenschwester; B.R.] sagte nur »No me interesa« und ging fort. Ich klingelte noch einmal und mußte sehr lange warten.70 Angesichts des andauernden Wartens muss der Kranke erkennen, dass er aus der Beziehung gefallen ist. Voller Erstaunen setze ich das neue und ungewohnte Bild zusammen. Ich bin vergessen worden.71 Als Mitglied des sozialen Systems Krankenhaus erfährt der Kranke nicht nur, wie im Warten über seine Zeit verfügt wird, sondern es ist sein gesamter Tagesablauf, der ihm von anderen vorgegeben ist.

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Peinert 2002: 48. Lesch 2002: 32. Lesch 2002: 120. Bauby 1997: 59. Todes 2005: 90. Härtling 2007: 51.

3. Die veränderte Alterität

Auch ohne Uhr weiß man, wie spät es ist. Fiebermessen, Verbände, Reinigungsfrauen, Schwestern-Rundgänge – jedes Krankenhaus hat seinen Rhythmus, den man notgedrungen mit annimmt.72 Nicht er selbst, sondern eine unbestimmte Alterität hat für den Kranken festgelegt, wann es für ihn hell werden und er aufwachen, wann er sich der Körperpflege hingeben oder wann er Neuigkeiten aus der Außenwelt aufnehmen soll. Sieben Uhr dreißig. Die diensthabende Krankenschwester unterbricht meinen Gedankengang. Nach einem eingespielten Ritual zieht sie den Vorhang auf, kontrolliert Luftröhrenschnitt und Tropf und stellt den Fernseher für die bevorstehenden Nachrichten an.73 Der von außen vorgegebene regelmäßige Tagesablauf gibt Halt. Schwestern kommen und gehen, sie messen Fieber, sie verteilen die täglichen Tablettenrationen.74 Sein Beginn wird mit Sehnsucht erwartet. So warte ich regelmäßig ungeduldig auf die frühe Morgenwäsche, zu der die Nachtwache gegen fünf Uhr morgens die Patienten in der Regel aus dem Tiefschlaf wecken mußte und empfing das Morgengrauen mit großer Erleichterung, wenn ich als erstes den Umriß eines großen Baumes gegen das frühe Morgenrot am Himmel erkennen konnte. Dann mußten die Schwestern ja in wenigen Minuten kommen.75 Auch dahingehend wird über die Zeit des Kranken verfügt, dass es für ihn nicht überschaubar ist, wann genau die einzelnen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen an ihm vollzogen werden. In der Institution wird für selbstverständlich gehalten, dass der Kranke dann, wenn es soweit ist, bereit ist, sein eigenes Handeln sofort abzubrechen. Später beim Mittagessen unterhielten wir uns gerade mit einem Parkinson-Patienten von der Birmingham University, als die Tür zum Speisesaal plötzlich aufflog und Dr. Kenny hereinstürmte, alle anderen Leute beiseite schob und zu mir sagte: »Jetzt sind Sie dran!« Ich spürte, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. Auf diesen Moment hatte ich so lange gewartet und war nun doch nicht richtig darauf vorbereitet.76 Selbst wenn ein Zeitpunkt mitgeteilt wird, kann der Kranke nicht davon ausgehen, dass er wirklich eingehalten wird. Die Ereignisse überfallen einen schlagartig und ohne weiteren Erklärungen oder Ankündigungen. Plötzlich sind da zum Beispiel unvermittelt ein Pfleger oder eine Krankenschwester im Zimmer; gelegentlich sogar bevor man sein Frühstück vollendet hat.

72 73 74 75 76

Buggenhagen 1996: 42. Bauby 1997: 8. Lesch 2002: 120. Peinert 2002: 43f. Todes 2005: 141.

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Körperlicher Umbruch

Der Besucher kommt mit der überraschenden Aufforderung, man möge sich bereitmachen. Man sei angemeldet für die Computertomographie oder ein EKG oder irgendeine andere Untersuchung, von der man vorher keine Ahnung hatte. Dann erscheinen plötzlich, manchmal erst nach Stunden leeren Wartens, fremde Träger, schaffen einen auf eine Trage, und man wird per Krankenwagen in die zuständige Spezialklinik transportiert.77 Es gibt nur ein untrügliches Anzeichen, das auf das Kommende verweist. Immer wenn es ernst wird, fängt das Bett an zu rollen.78 Der Zeitpunkt, zu dem etwas geschieht, ist oft so bedeutsam, dass er bewusst erfasst wird. Um 18.20 Uhr kam eine OP-Schwester, im chirurgischen Grün gekleidet, und ein Gepäckträger und fuhren mich die langen Gänge zum OP-Raum hinunter, wo der Chirurg und sein Team warteten.79 Verfügen über den Raum: Wie vom sozialen System Krankenhaus über die Zeit des Kranken verfügt wird, so geschieht es auch mit dem Raum. Das Ungleichgewicht in der Beziehung zwischen denen, die ihre gewohnte Körperlichkeit verloren, und denen, die es sich zur Aufgabe machten, diesen Verlust zu erklären und seine Auswirkungen zu lindern, äußert sich darin, dass diese bestimmen, wo jene sich aufzuhalten haben. Mit seinem Eintritt wird dem Kranken ein Ort zugewiesen, an dem er von nun an – üblicherweise liegend – zu bleiben hat, bis er von dort abgeholt oder weggerufen wird. Selbst wenn der Kranke einer Tätigkeit seines viszeralen Körpers nachgehen will, über die ansonsten unter Erwachsenen schamhaft geschwiegen wird, muss er um Erlaubnis fragen, ob er den ihm zugewiesenen Ort vorübergehend verlassen darf. Ich muss aufs Klo, kann niemanden fragen, ob es mir gestattet ist, die Liege zu verlassen, von ihr herunterzurutschen, mit den Zehenspitzen den kühlen, glatt gewischten Klinikboden zu ertasten. Aufstehen, Atem holen.80 Bisweilen entschließen sich die im Krankenhaus tätigen Spezialisten des Gesundheitswesens, den Kranken infolge der von ihnen erhobenen Befunde seines Körpers und ihrer Deutung von dessen sichtbaren und unsichtbaren Zeichen an einen Ort zu bringen, wo er fast völlig von den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems abgesondert ist und nur noch in mittelbarer Beziehung zu einigen wenigen anderen steht. Ich kam auf die Isolierstation, wurde in ein steriles Zimmer gelegt, da der kleinste Hauch von Bakterien oder Viren mich sofort umgebracht hätte. Draußen an der Tür hing ein Schild: Zutritt strengstens verboten! […] Ich lag da. Allein. Hermetisch abge-

77 78 79 80

Peinert 2002: 64. Härtling 2007: 38. Todes 2005: 142. Härtling 2007: 51.

3. Die veränderte Alterität

riegelt. Wer zu mir kam, trug diese grünen Kutten, grünen Mundschutz, weiße Handschuhe. Und keiner durfte sich mir wirklich nähern.81 Solange der Kranke sich im Krankenhaus aufhält, um seinen erkrankten Körper untersuchen und behandeln zu lassen, hat er in dem Zimmer zu verbleiben, das ihm zugeteilt wurde. Dabei ist nicht für das soziale System Krankenhaus, sondern allein für ihn von Belang, ob er als Subjekt mit den Mitpatienten zurechtkommt, die mit ihm im selben Raum untergebracht sind. Dieses Mal hatte ich zwei sehr unterschiedliche Zimmergenossinnen. Mit der ersten lebte ich vierzehn Tage in Harmonie, und wir verbrachten trotz Krankenhaus eine angenehme Zeit zusammen. Nach ihrer Entlassung wurde ich mit einer alten Dame zusammengelegt, mit der kein Auskommen war. Nach drei Tagen waren meine Nerven vollkommen ruiniert und ich weinte nur noch bis zu meiner Entlassung.82 Wenn das Subjekt sich als Patient im sozialen System Krankenhaus befindet, wird nicht nur der Ort innerhalb des Krankenhauses bestimmt, an dem es sich aufzuhalten oder an den es sich zu begeben hat, sondern auch, ob es sich aus dem Krankenhaus entfernen darf. Zum einen wird über den Kranken bestimmt, wann er zu bleiben hat, auch wenn er selbst lieber gehen will. Ich möchte heim. […] Ich muss noch bleiben. Die Ärzte reden auf mich ein, über mich weg.83 Zum anderen wird über den Kranken bestimmt, wann er das Krankenhaus endgültig zu verlassen hat. Dass die Mitarbeiter des Krankenhauses dabei über ihn in einer Weise verfügen, wie es zwischen gleichwertigen Erwachsenen nicht angebracht ist, ist ihnen durchaus selbst bewusst. »Wie ich gehört habe, hat man mit Ihnen das Austrittsdatum besprochen«, sagte der Klinik-Chefarzt. »Man hat mir gesagt, wann das Austrittsdatum ist«, erwiderte ich. Der Chefarzt lachte und meinte, besprechen und sagen seien wirklich zwei verschiedene Dinge. Das Austrittsdatum musste wegen mehrerer Blutvergiftungen verschoben werden. […] Später wurde ein neues Austrittsdatum festgelegt. Ich wusste wie üblich vorerst mal nichts, bis man es mir mitteilte.84 Auch ob es angebracht ist, das Krankenhaus einmal vorübergehend zu verlassen, ist etwas, das der Kranke nicht von sich aus entscheidet, sondern das ihm eigens von einem der Mitarbeiter erlaubt wird. Nach all den Wochen Aufenthalt in verschiedenen Kliniken durfte ich mit Erlaubnis des Arztes für ein Wochenende nach Hause.85

81 82 83 84 85

Lesch 2002: 128. Lürssen 2005: 30. Härtling 2007: 15. Balmer 2006: 54, Kursivierung im Original. Peinert 2002: 63.

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Körperlicher Umbruch

Die Verfügung, das Krankenhaus auch nur vorübergehend verlassen zu dürfen, macht Freude. Donnerstag früh war Prof. Hitchcock bei der Visite damit einverstanden, dass ich am Wochenende nach Hause fahren durfte. »Es hat keinen Sinn, ihn zu institutionalisieren«, sagte er Lili. Vor Freude hüpften wir praktisch hinaus, meine schmutzige Wäsche unter dem Arm.86 Auch weit reichende Entscheidungen über den künftigen Aufenthaltsort werden bisweilen von den im Krankenhaus tätigen Spezialisten des Gesundheitswesens getroffen, ohne den Kranken einzubeziehen. Davon sind bisweilen wesentliche Teilbereiche seiner Identität betroffen. Später stellte sich heraus, dass ich nie mehr nach Hause, in meine Wohnung gehen konnte. Die Pflege zu Hause sei nicht mehr sicher genug, hat man mir nach einer Sitzung mitgeteilt. An einer Sitzung, die über meine Zukunft entschieden hatte, an der ich nicht hatte teilnehmen können.87 Verlust der Subjekthaftigkeit: Da im Verständnis der modernen Medizin der Kranke lediglich das Medium ist, durch den die Krankheit in seinem Körper zu lesen ist (vgl. Foucault 1976: 74f.), hat er für die im Krankenhaus tätigen Spezialisten des Gesundheitswesens als erlebendes und handelndes Subjekt oft keinerlei Bedeutung. So wie er den Spezialisten als Person gleichgültig ist, gelingt es ihm meist ebenso wenig, zu ihnen eine persönliche Beziehung aufzunehmen. Da sie sich nur in ihrer Rolle auf ihn beziehen, werden für den Kranken die Spezialisten des Gesundheitswesens als Subjekte nicht fassbar. Ich kam in einen modernen Großbau mit steriler, klinisch sauberer Umgebung und entsprechend auch distanzierterem, unpersönlicherem Klinikpersonal. Ich glaube, ich habe hier keine einzige Schwester wirklich mit Namen kennengelernt, so daß ich sie wiedererkennen würde.88 Zwar kennt der Kranke einige der Spezialisten des Gesundheitswesens namentlich, doch das heißt nicht, dass sie ihm dadurch als Personen bedeutsam werden oder dass es mit ihnen zu einer zwischenmenschlichen Begegnung kommt. Auch wenn sich die Spezialisten um eine Verbesserung seiner körperlichen Beschwerden bemühen, bleiben sie in ihrer Rolle. Manche erfüllen dabei nicht nur die Normen und Erwartungen, die sie erfüllen müssen, sondern weit darüber hinausgehend auch diejenigen, die sie freiwillig erfüllen können. Auf dem Namensschild an Sandrines weißem Kittel steht: Logopädin, aber es müßte heißen: Schutzengel. Sie war es, die den Kommunikationscode eingeführt hat, ohne den ich von der Welt abgeschnitten wäre.89

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Todes 2005: 138. Balmer 2006: 54. Peinert 2002: 45f. Bauby 1997: 41.

3. Die veränderte Alterität

Da sich die Spezialisten des Gesundheitswesens vor allem dem kranken Körper zuwenden, aber kaum dem erkrankten Subjekt, kann es sein, dass sie den Kranken gar nicht wahrnehmen, wenn sie nicht mit seinem Körper befasst sind. Das führt dazu, dass der Kranke für sie unsichtbar wird, obwohl er sich mitten unter ihnen befindet. Durch die Krankheit besteht das Subjekt für die Alterität nicht mehr. Auf meiner Liege werde ich zur Verkehrsinsel. Ständig eilen Schwestern, Pfleger, Ärzte an mir vorüber, weichen aus, als gebe es dieses Hindernis schon einige Tage. Ich starre zur Decke, schrumpfe vor Müdigkeit, entferne mich aus dem Trubel und werde wahrscheinlich darum nicht angesprochen. Zu meiner Rechten tröstet ein junger Arzt mit Assyrerkopf jemanden, dem eine Maschine offenbar die Hand abgerissen hat. […] Die Wanduhr, weiß und rund, mit der Zeit schonend umgehend, zeigt, dass inzwischen drei Stunden verstrichen sind. […] Ich beginne, nach den Vorübereilenden zu haschen, sie zu rufen: Hallo, Herr Doktor! Hallo, Schwester! – sie hören mich nicht. Sie strafen mich. Ein zweifacher Infarkt, in Herz und Hirn, und ein paar Wochen in der Klinik sorgten dafür, dass ich verkümmerte. Hallo? Ich bitte Sie! Wie einer, der an der Autobahn steht und mitgenommen werden möchte, halte ich die Mappe auf meiner Brust, womöglich ist da abzulesen, wohin ich soll, wohin ich will. Bitte, Frau Doktor. Der Assyrer bringt seinen Patienten vorbei, ohne mich zu bemerken. Bitte, Herr Doktor.90 Bei aller Sorgfalt, die ein Arzt oder die anderen Spezialisten des Gesundheitswesens aufwenden, um die produktiven Leistungen der Institution zu erbringen, ist ihnen anzumerken, dass sie auch anderes bewegt. Erkennen zu müssen, dass die Spezialisten dem Kranken nicht nur dafür zur Verfügung stehen, damit er wieder gesund wird, beeinträchtigt dessen Befinden. Alles Notwendige wurde effizient, kompetent und insgesamt auch flüssig abgespult, ohne daß sich ein persönlicher Kontakt entwickeln konnte. Dabei waren besonders die Ärzte durchaus freundlich, voll informationsbereit. Sie gingen auf Fragen ein, nahmen sich Zeit für den einzelnen Patienten, jedoch wurde man den Eindruck einer gewissen allgemeinen Gehetztheit nicht los. Organisation, ja Überorganisation schien hier das eigentliche Problem zu sein. Ein Gewusel, in dem ich mir fremd und oft verlassen vorkam.91 Die Beziehungen zwischen dem Kranken und den im Krankenhaus tätigen Spezialisten des Gesundheitswesens sind auch durch die reproduktiven Leistungen bestimmt, die sie als seine Mitglieder erbringen müssen. Dazu gehört nicht nur die eigene Verwaltung: Als Klinikum einer Universität kommt einem Krankenhaus die Aufgabe zu, medizinische Forschung zu betreiben. Auch hat das Krankenhaus neben seinen produktiven Leistungen die Weiterbildung von Ärzten oder die Ausbildung von anderen im Gesundheitswesen tätigen Spezialisten durchzuführen. Schließlich fließen auch persönliche Anliegen der Spezialisten in ihre Beziehung zum Kranken ein. Das führt dazu, dass sie ihm gegenüber die affektive Neutralität verlieren, zu der sie eigentlich von ihrer Rol-

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Härtling 2007: 49f. Peinert 2002: 46.

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Körperlicher Umbruch

le her verpflichtet sind. So dient der Kranke den Spezialisten des Gesundheitswesens auch für deren Zwecke. Nebst aufrichtigen Medizinern gab es leider auch solche, die mich nicht uneigennützig untersuchten. Es gab experimentelle Studien, an denen ich teilnahm, teils in Kenntnis der Studie und ihrer Folgen, teils aber auch in Unwissenheit gelassen.92 Ohne sein Einverständnis eingeholt zu haben, wird der Kranke benutzt, um das berufliche Vorankommen dessen zu fördern, an den er sich in seiner Not wandte. Zufällig erfuhr ich, dass Obeso unter dem Druck stand, die Ergebnisse seines Projekts in einem Vortrag auf dem Internationalen Kongress, der in der darauffolgenden Woche in Atlanta/Georgia stattfand, präsentieren zu können.93 Es ist möglich, dass der Kranke lange gar nicht mitbekommt, dass seinen behandelnden Arzt ihm gegenüber noch etwas Anderes beschäftigt als die Sorge um den erkrankten Körper. Professor A. bleibt souverän. Ich ahne nichts von der Spannung, in die ich geriet, die Auseinandersetzung, die mich zum Thema werden lässt […].94 Was einen Arzt oder andere Spezialisten des Gesundheitswesens außerhalb ihrer Beziehung zum Kranken bewegt, ergibt sich auch aus den anderen Bereichen ihres Lebens. Es sind vergangene Ereignisse, die in ihre Beziehung zum Kranken hineinwirken. An diesen Tagen versetzen die Nachwirkungen der Samstagsgelage, verbunden mit der Sehnsucht nach Familienpicknicks, Tontaubenschießen oder Krabbenfangen, worum sie durch ihren Dienstplan gebracht werden, das Pflegepersonal in eine mechanische Stumpfheit, und die Reinigungsprozedur hat mehr mit Kadaververwertung zu tun als mit Thalassotherapie.95 Ebenso können es zukünftige Ereignisse sein, die ein Arzt vorhat. Doch der Arzt, der den Katheter setzen soll, möchte in Urlaub gehen. Ich könnte seine Pläne durchkreuzen.96 Weil die Spezialisten des Gesundheitswesens für sich privat anderes vorhaben, verdeutlicht es dem Kranken einmal mehr, dass an ihm eine Rolle vollzogen wird. Meine beiden Begleiter verabreden sich für den Nachmittag. Ich bin offenbar ihr letzter Auftrag.97 Manchmal bleibt auch unklar, was die Alterität zu ihrem Verhalten gegenüber dem Kranken veranlasst, sodass vom Subjekt eigene Versäumnisse gemutmaßt werden.

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Balmer 2006: 79. Todes 2005: 88. Härtling 2007: 33. Bauby 1997: 99f. Härtling 2007: 11. Härtling 2007: 47.

3. Die veränderte Alterität

Die sehr junge Stationsärztin erkundigt sich regelmäßig nach meinem Befinden. Sie verhält sich eigentümlich verschlossen, abweisend, so, als hätte ich sie irgendwann, als ich nicht bei mir war, verletzt.98

3.3

Einige Formen sozialen Interagierens

Gruppendynamik: Indem das Subjekt bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit das Gesundheitswesen beansprucht, wird es als Patient Mitglied dieses sozialen Systems, aber auch vieler sozialer Subsysteme wie des Krankenhauses, der Praxis des niedergelassenen Spezialisten oder der Selbsthilfegruppe. Wie alle größeren und kleineren sozialen Systeme weisen sie eine kollektive Identität mit Normen, Werten, Traditionen und Konventionen auf. Unabhängig davon, welche Organisationsform sie haben, welchem Zweck sie dienen und wie viele Mitglieder sie umfassen, funktionieren sie alle nach gruppendynamischen Regeln (vgl. Oehler 1999: 66–72). Je nach dem, welchen Prozess ein soziales System gerade durchmacht, ob es sich neu bildet oder ob es sich auflöst, ob seine Abläufe erstarrt sind oder ob in ihm darum gerungen wird, wer zu ihm gehört und wie verlässlich die Beziehungen sind, prägt es das Subjekt, das ihm angehört, bis in seine Körperlichkeit, gestaltet es seine Beziehungen zu den übrigen Mitgliedern und beeinflusst es seine Selbstbezogenheit. Auch lassen sich in jedem sozialen System bestimmte gruppendynamische Positionen finden, die entweder formal festgelegt sind oder die sich informell ergeben: Der Leiter sorgt mehr als alle anderen Mitglieder dafür, dass das soziale System zusammenbleibt, seine Grenzen gewahrt und seine Ziele eingehalten werden. Manche Mitglieder stehen auf seiner Seite und unterstützen seine Anliegen. Andere Mitglieder haben besondere Aufgaben und sind Spezialisten, auf die nicht zu verzichten ist. Wiederum andere Mitglieder lassen sich als Mitläufer einordnen. Der Gegenleiter führt die Opposition an und lehnt sich gegen den Leiter auf. Die Grenzperson steht dem sozialen System als solchem kritisch gegenüber, und je nach Stärke der Leitung wird sie entweder einbezogen oder jenseits von dessen Grenzen verortet oder ganz vernichtet. Der Sündenbock wird dafür verantwortlich gemacht, dass vereinbarte Ziele nicht eingehalten werden, und stellvertretend für alle anderen kann er für den Erhalt der Gemeinschaft geopfert werden. Der Außenfeind wird von einer schwachen Leitung geschaffen, um die Mitglieder hinter sich zu sammeln. Unabhängig davon welche gruppendynamische Position das Subjekt in einem sozialen System innehat, ist es durch eine unbewusste Matrix mit den übrigen Mitgliedern verbunden. Sie bildet den gemeinsamen Boden aller wirksamen Beziehungen und ergibt sich zugleich aus ihnen, ohne dass sich genau angeben lässt, wer was in sie hineingegeben hat (vgl. Foulkes 1992: 165, 237). Je nach dem, was die Matrix ausmacht, gestaltet ist sie in einem sozialen System den gruppendynamischen Prozess, nämlich ob er eher die Zusammenarbeit ihrer Mitglieder fördert oder die einen gegen die anderen ausspielt, ob er ihnen Freiheit gewährt oder sie in Abhängigkeit hält, ob er gegenüber anderen sozialen Systemen offen ist oder gegen sie ankämpft und anderes mehr. 98

Härtling 2007: 46.

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Körperlicher Umbruch

Jedes Subjekt gehört gleichzeitig mehreren sozialen Systemen; außerdem wirkt sich seine Position in dem einen auf seine Stellung in dem anderen aus, und kann es in den einzelnen sozialen Systemen, an denen es teilhat, unterschiedliche Positionen innehaben. Im sozialen System Gesundheitswesen ist der Patient, der sich heute darüber freut, dass er von seinem Arzt einen günstigen Befund mitgeteilt bekam, anderntags Leiter eine Selbsthilfegruppe und schimpft zusammen mit deren Mitglieder auf den Sachbearbeiter einer Krankenkasse, der notwendige Hilfsmittel nicht bewilligen will, und dabei gleichzeitig mit allen unbewusst in der Abwehr von Todesangst verbunden. Soziale Rollen: Dadurch, dass ein Arzt dem mit Schmerz, Angst und Scham einhergehenden körperlichen Geschehen einen Krankheitswert zubilligt und dieses Geschehen nach medizinischem Wissen in den Institutionen des Gesundheitswesens behandelt wird, erhält das Subjekt neue soziale Rollen: Es wird zum Kranken und zum Patienten. Wie bei allen Rollen (vgl. Wiswede 1977: u.a. 37f., 57, 115–117) wird durch die Zuschreibung der Kranken- und Patientenrolle und durch ihre Annahme die Komplexität der Beziehungen erheblich verringert. Denn dadurch müssen die Identitäten der Mitglieder eines sozialen Systems nicht jeweils aufs Neue intersubjektiv ausgehandelt werden. Bei einem körperlichen Umbruch weiß das Subjekt durch seine Rollen des Kranken und Patienten, wie es sich der Alterität gegenüber zu verhalten hat, und ebenso, wie sie ihm gegenüber handeln wird. Die Normen, die sich aus den Werten des sozialen Systems ergeben, geben vor, welche Aufgaben das Subjekt in seiner Rolle erfüllen muss, um dieser zu entsprechen, und was die Alterität von ihm erwarten kann. Weil das Subjekt von klein auf den verschiedensten sozialen Systemen angehört, macht es sich zu eigen, welche Normen bei welchen Rollen zu befolgen sind und welche Sanktionen ihm drohen, sobald es ihnen nicht entspricht. Durch Identifizierung und Identifikation wächst das Subjekt so in seine Rollen hinein, dass sie sich im Laufe der Zeit in seinen somatischen Körper einschreiben, seinen sozialen Körper bilden und als Rollenrepertoire und Rolleninventar ein verinnerlichter Bestandteil seines psychischen Körpers werden. Das gilt gleichermaßen für situationsbezogene Rollen wie die eines Patienten beim Arzt oder die des Reisenden im Zug, für soziale Rollen wie die eines Ehepartners, Psychoanalytikers, Modells, Journalisten oder Rentners oder für kulturelle Rollen wie die eines Christen, Schwaben oder Franzosen. Da sich aus jeder Rolle unterschiedliche und womöglich gegensätzlichen Anforderungen ergeben, erlebt das Subjekt bisweilen Interrollenkonflikte, die sich auf seine Beziehungen zur Alterität auswirken. Seine Beziehungen zu den Anderen sind auch nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit davon beeinflusst, dass die Aufgaben und Erwartungen, die sich für das Subjekt aus einer Rolle herleiten, höchst widersprüchlich sein können, je nach dem, gegenüber wem sie erfüllt werden müssen, sodass sich ihm Intrarollenkonflikte ergeben können. Schließlich ist das Subjekt der Alterität gegenüber auch davon beeinflusst, wie es die Normen, die einzuhalten seine Rollen von ihm verlangen, mit seiner Identität vereinbart. Wie sehr das Subjekt in seinem Selbst von den Rollen geprägt ist, die es wählte oder die ihm auferlegt wurden, und wie sehr die Alterität dadurch auf es einwirkt, erkennt es vielfach erst dann, wenn Umstände eintreten, die es daran hindern, die übernommenen Rollen weiter auszuführen, oder die von ihm verlangen, neue Rollen zu erlernen, wie es bei ökologischen Katastrophen,

3. Die veränderte Alterität

körperlichen Veränderungen, sozialen Umwälzungen, kulturellen Brüchen oder psychischen Krisen der Fall sein kann. Insofern stellt auch die Rolle des Kranken oder des Patienten das Subjekt vor psychische Herausforderungen. Sie entbindet es zwar von manchen Pflichten, doch legt sie ihm neben der Kooperation mit dem Arzt neue Normen auf, die es einzuhalten hat, wenn es sich rollenkonform verhalten will (vgl. Siegrist 2005: 40): Die Norm der Eigenverantwortung verlangt vom Subjekt, seinen Zustand im Rahmen der ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten zu verbessern, also seine Gesundheit wiederherzustellen bzw. seine eingeschränkte Gesundheit zu erhalten, und die Norm der Legitimation verpflichtet das Subjekt dazu, seinen Zustand durch das Aufsuchen eines Arztes zu rechtfertigen. Modi der Alterität: In der Beziehung zwischen dem Kranken und den übrigen Mitgliedern eines sozialen Systems oder zwischen dem Patienten und den Spezialisten des Gesundheitswesens finden sich wie in jeder Beziehung zwischen dem Subjekt und den Anderen vier Modi der Alterität (vgl. Mitchell 2003: 99–124): Im Modus der Intersubjektivität ist das eigene Selbst und das der Anderen geschieden und als eigene Identität und als die der Alterität psychisch repräsentiert. Es ist möglich, dass es zwischen dem Selbst und den Anderen zu einer Begegnung kommt, in der sie sich in ihrem Wesen, in ihrer Andersheit und in ihrer Gleichheit erkennen. Im Modus der Selbstobjekt-Beziehung wird dann die Alterität vom Subjekt nur insoweit als eigenständig erlebt, wie sie bestimmte Funktionen zur Verfügung stellt, die den Zwecken des eigenen Selbst dienen. Bisweilen wird von den Anderen die ständige Anwesenheit im Außen verlangt, damit sie in den Funktionen nutzbar sind, die dem Selbst fehlen oder die es nicht in sich zu behalten vermag. Die Alterität kann auch verinnerlicht sein, so dass das Subjekt sie als Introjekt in sich hat und sich so behandelt, wie es davor von ihr behandelt worden ist, oder es kann mit ihr identifiziert sein, so dass es so handelt, als wäre es selbst die Anderen, oder es kann sie so internalisiert haben, dass es von den Anderen immer wieder auf dieselbe Weise behandelt wird. Im Modus der affektiven Durchlässigkeit wandern außerdem starke Affekte von dem Selbst zu den Anderen, ohne dass sich dabei sagen lässt, von wem sie ausgegangen sind. Durch die im Unbewussten erfolgende affektive Ansteckung werden die Grenzen zwischen dem Selbst und der Alterität aufgehoben und es kommt zu einem gemeinsamen Erleben, das die Beteiligten miteinander verbindet. Im Modus des nicht-reflexiven Verhaltens verschränken sich schließlich das Selbst und die Anderen in ihrem Handeln, ohne sich dessen bewusst zu sein oder ohne wahrzunehmen, wie es geschieht. In einer nicht aufzulösenden Wechselseitigkeit erzeugen sie gemeinsam ihr jeweiliges Verhalten. Ihr Austausch ist so eng und so fein aufeinander abgestimmt, dass sich nicht sagen lässt, wer ihn womit begonnen hat. Die vier Modi der Alterität unterscheiden sich darin, inwieweit Grenzen zwischen dem Selbst und den Anderen, zwischen innen und außen sowie zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft bestehen. Während die ersten beiden Modi von symbolischer Repräsentation und sprachlicher Erzählung bestimmt sind, sind es die letzten beiden von sensomotorischer Aktion und körperlicher Handlung; dabei sind diese prozedural und daher nicht dem Bewusstsein zugänglich, jene aber deklarativ und daher bewusstseinsfähig.

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Körperlicher Umbruch

Da die vier Modi der Alterität stets nebeneinander bestehen, begegnen sich auch der Kranke und die übrigen Mitglieder eines sozialen Systems oder der Patient und die Spezialisten des Gesundheitswesens gleichzeitig in ihrer Eigenständigkeit, nutzen sich dabei wechselseitig für ihre Zwecke, fühlen dasselbe gemeinsam und verhalten sich gemeinsam zu- und miteinander. Nie lässt sich in einer Beziehung das Selbst völlig von den Anderen trennen. Sobald sie sich aufeinander beziehen, sind diese vielmehr ein Teil von jenem wie jener ein Teil von diesen ist, ohne dass sie ganz ineinander aufgehen. Der Kranke und die Gesunden, der Patient und die Spezialisten des Gesundheitswesens gehören untrennbar zusammen. Sie brauchen sich wechselseitig und schaffen sich gemeinsam ihre Wirklichkeit. Qualitäten der Alterität: Die Alterität des Subjekts in seinen Beziehungen zu einem einzelnen Anderen, zu den vielen Anderen in den sozialen Systemen und zu den sozialen Systemen als ganzen lässt sich nach ihrer Qualität unterscheiden:99 Ist die Qualität der Alterität konstruktiv, wird die Identität des Subjekts durch sie wachsen und sich entfalten. Die Alterität differenziert und integriert die Körperlichkeit des Subjekts in ihrer somatischen, sozialen und psychischen Dimension; sie achtet seine körperlichen Grenzen und erweitert sie durch die Vermittlung der kulturell üblichen Fähigkeiten und Fertigkeiten; sie vermittelt dem Subjekt die kollektive Identität mit ihren Normen, Werten, Traditionen und Konventionen, nach der die Affekte und die Motivationen gelebt werden; sie führt es über Individuation und Separation zu lebendigen Beziehungen mit den Anderen; und sie hilft ihm, fortlaufend sein Selbst und das der Anderen sowie das Wesen der Welt zu erkennen und die Freiheit seines Handelns zu vergrößern. Ist die Qualität der Alterität dagegen destruktiv, beeinträchtigt oder zerstört sie die Identität des Subjekts. Dazu gehören als erstes die Formen der Alterität, bei denen dem Subjekt innerhalb des sozialen Systems, dem es angehört, bestimmte Rechte verwehrt werden; dadurch, dass ihm die Teilhabe verweigert wird, bestreiten diese Formen seine moralische Zurechnungsfähigkeit und beeinträchtigen sie seine Selbstachtung. Eine destruktive Qualität findet sich weiterhin in den Formen der Alterität, welche die Lebensweise des Subjekts und seine Überzeugungen für minderwertig und mangelhaft erklären; indem sie seine Fähigkeiten und Fertigkeiten entwerten und seinen Weg der Selbstverwirklichung ablehnen, untergraben sie die Selbstschätzung des Subjekts. Schließlich sind die Formen der Alterität destruktiv, bei denen dem Subjekt die freie Verfügung über den eigenen Körper genommen wird; wenn zum körperlichen Schmerz die Demütigung kommt, fremdem Willen schutzlos ausgesetzt zu sein, vernichten sie das Vertrauen in das Selbst und in die Welt und nehmen sie dem Subjekt seine Selbstsicherheit (vgl. Honneth 1994: 213–219). Ist die Qualität der Alterität defizitär, kommt es gar nicht dazu, dass das Subjekt in eine Beziehung zu den Anderen tritt. Sei es durch flüchtige Unaufmerksamkeit, sei es durch gestörten Narzissmus oder durch absichtsvolles Hindurchsehen, das Subjekt wird nicht wahrgenommen. Da das Subjekt den Anderen unsichtbar bleibt, wird es in seinem Selbst nicht erkannt, und es kann selbst nicht erkennen, was sein Wesen ausmacht (vgl. Honneth 2003: 12–14). 99

Die Unterscheidung der Alterität in eine konstruktive, destruktive und defizitäre Qualität lehnt sich an eine entsprechende Unterscheidung der Identität bei Ammon 1982: 115f. an.

3. Die veränderte Alterität

Wenn der Kranke nicht mehr darauf hofft, in Beziehungen zu den Anderen seine Identität zu bewahren oder weiterzuentwickeln, weil es von destruktiver und defizitärer Alterität umgeben ist, ist sein Weiterleben bedroht. Denn von klein auf bis an sein Lebensende braucht das Subjekt immer ein gewisses Maß an konstruktiver Alterität, um zu überleben, gewinnt es doch erst dadurch eine positive Selbstbezogenheit. Ohne die geringste Anerkennung seiner Körperlichkeit in der somatischen, sozialen und psychischen Dimension wird bei einem körperlichen Umbruch das Subjekt den Mut verlieren, sein Leben fortzusetzen. Begegnung mit der Alterität: Die Anderen, die das Subjekt auch nach einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit braucht, um sich in seiner Identität zu bestimmen, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie anders sind als es selbst bzw. dass es sie als anders erlebt. Denn wäre es nicht so, wären sie nicht anders, sondern gleich. In der Begegnung mit denen, die das Subjekt als mit sich gleich erlebt, vermag es zwar seine Identität zu bestätigen, weil es sich in ihnen wiederfindet, oder sie zu erweitern, indem es in Identifikation mit ihnen deren Eigenschaften und Fähigkeiten so erlebt, als seien es die eigenen. Damit das Subjekt erkennt, wer es ist und was sein Wesen ausmacht, braucht es aber ein Gegenüber mit einem eigenständigen Bewusstsein seiner selbst, das grundsätzlich wie seines und doch zugleich unvorstellbar anders ist (vgl. Schmid 1994: 116–155). Nur in der Begegnung mit solch einer eigenständigen Alterität kommt das Subjekt dazu, sich seiner selbst bewusst zu werden und sein Selbst in einer Weise zu erfahren, wie es ihm zuvor nicht möglich war. Der Andersheit der Alterität zu begegnen, stellt ein Wagnis dar, dessen Ausgang im Voraus nicht zu überblicken ist. Nur wenn das Subjekt bereit ist, das Scheitern der Begegnung einzugehen und sich von den Anderen enttäuschen und verletzen zu lassen, wird es sich in der Alterität neu und wieder finden. Damit die Begegnung gelingt, muss das Subjekt offen für deren Wirklichkeit sein. Es muss bereit sein, der unbekannten Alterität ein Vertrauen entgegenzubringen, das auf der vorerst noch unbestätigten Annahme beruht, sie sei gut. In ihrer Begegnung gleichen sich beide in ihrem Wunsch, den jeweils Anderen in seinem inneren Wesen zu erreichen, von ihm wahrgenommen zu werden und auf ihn einzuwirken; beiden ist aber auch die Neigung nicht fremd, ihn zu zerstören, falls er durch seine Andersheit ihr Selbst zu sehr bedroht. Wenn es dem Subjekt und der Alterität gelingt, die Last und die bisweilen große Spannung, die mit jeder Begegnung einhergeht, anzunehmen und zu tragen, erkennt sich der eine im anderen, und zugleich erfahren sie, wie verschieden sie voneinander sind. Erst wenn in der Begegnung die Andersheit ausgehalten wird, werden die Anderen für das Subjekt bedeutsam. Indem sie in ihrem Selbst erhalten bleiben und das Subjekt trotz der Unterschiedlichkeit an ihrem Sein teilhat, entsteht in ihrer Begegnung eine Alterität, die über das einzelne Selbst hinausgeht. Nur der Andere, der sich bewegen, aber nicht zwingen lässt, vermag das Subjekt in seinem Sein zu stützen und ihm einen Teil dessen abzunehmen, was es allein nicht tragen kann (vgl. Benjamin 2002: 87–117). Erst in der Trennung wird bewusst, wer was in die Begegnung einbrachte und wie dadurch das Selbst beeinflusst wurde. Wie in einer endlosen Schleife verändert die durch die Beziehung veränderte Identität wieder die Beziehung, aus der heraus sie sich bildete, was wiederum die Identität verändert, die sich in ihr bildet.

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Körperlicher Umbruch

In dem Lächeln, das bei einem körperlichen Umbruch dem Kranken geschenkt wird, zeigt sich die Wertschätzung der übrigen Mitglieder des sozialen Systems, dem er angehört, ebenso wie deren Bereitschaft, sich ihm zuzuwenden und seine Andersheit anzuerkennen, ihr Wissen um die eigene Verschiedenheit und das Bedürfnis, sich in der Begegnung mit dem Subjekt erkennen und verändern zu wollen.

3.4

In der Rolle des Patienten

Als Patient im Krankenhaus: Als Patient der Institution Krankenhaus anzugehören, ist für das Erleben des Subjekts so umfassend, dass seine gesamte Identität davon betroffen ist. Ihm ist eine Teilnahme an anderen Lebensbereichen nicht mehr möglich, weder räumlich, da ihm ein Aufenthalt an einem anderen Ort nicht gestattet ist, noch zeitlich, da es sich Tag und Nacht im Krankenhaus aufhalten muss. Durch die Aufnahme in das Krankenhaus sind dem Subjekt plötzlich all die Beziehungen entzogen, in denen es sich in seinem üblichen Alltag seines Selbst versichert. Solange es im Krankenhaus verbleibt, fehlt ihm die Alterität, die ansonsten sein Leben ausmacht, und bleibt es einer anderen Alterität ausgesetzt, die ihm fremd ist, die es nicht selbst auswählt und von der es in einer ungewohnten Qualität angesprochen wird. Das Subjekt wird nun vor allem von den Erwartungen bestimmt, die sich aus seiner Rolle als Patient ergeben. Es erlebt bewusst, was daraus folgt. Kaum weile ich jedoch im Spital, muss ich eine bestimmte Verantwortung abgeben. Ob müssen oder dürfen sei dahingestellt.100 Der Gegensatz zwischen der bisherigen Identität und ihren Bedürfnissen einerseits und der nun bestimmenden Alterität andererseits ruft oft starke Spannungen hervor. Deshalb versucht das Subjekt, möglichst nicht als Patient in ein Krankenhaus aufgenommen zu werden, selbst wenn es damit auf eine mögliche Besserung seines körperlichen Befindens verzichtet. Es ist für mich jedes Mal eine wirkliche Überwindung, ins Krankenhaus zu gehen und darum schiebe ich den Termin immer wieder hinaus, obwohl ich weiß, dass es hilft. Leider erwarten die meisten Krankenhäuser immer noch, dass der Patient am Eingang sein Gehirn abgibt, Gott ergeben zu allem Ja und Amen sagt, nie nachfragt und geduldig auf den Tag der Entlassung wartet. Es ist diese Behandlung als »armer«, »nichtwissender« Patient, die mir so auf die Nerven geht.101 Daher erleichtert es das Subjekt, wenn es ihm erlaubt wird, vorübergehend der Institution entkommen zu dürfen, die sein Leben beherrscht. Trotz der medizinischen Einschränkungen beziehungsweise Instabilitäten rät mir mein behandelnder Arzt, übers Wochenende nach Hause zu gehen. Ich bin begeistert: grüne Karte, um mich mental vom Krankenhaus zu »erholen«.102 100 Balmer 2006: 81. 101 Lürssen 2005: 35. 102 Balmer 2006: 87.

3. Die veränderte Alterität

Genauso ist es aber auch möglich, dass sich das Subjekt ohne inneren Widerspruch in die ihm zugewiesene Rolle des Patienten einfindet. Ich gewöhne mich an das Leben im Krankenhaus. Ich mag die Schwestern, ich mag die Pfleger.103 Das Subjekt macht sich seine Rolle als Patient zu eigen, passt sich ihr an und fühlt sich als ein Mitglied der Institution Krankenhaus wohl. Weil Verfahrensweisen standardisiert sind, sind die täglichen Abläufe geregelt: Jeder der Spezialisten des Gesundheitswesens scheint zu wissen, was er zu tun hat. Es ist hell, die Klinik funktioniert rundum mit all ihren Geräuschen, den Kontrollbesuchen der Schwestern, den geschwätzigen Einbrüchen der Putzfrauen. Professor A. erscheint zu einer kurzen Visite, wirft einen Blick unter die Decke und erwägt, mich zu entlassen.104 Angesichts des ungewohnten körperlichen Geschehens gibt der Aufenthalt im Krankenhaus dem Subjekt Halt. Die an den Patienten gerichteten Rollenerwartungen sind eindeutig, und die Routine, die sich dort ausbildet, vermittelt Sicherheit. Der Umzug aus der inzwischen vertrauten Umgebung der Neurologie in das Neuland der Chirurgischen Universitätsklinik bedeutete eine weitaus stärkere Veränderung, als ich vermutet und für möglich gehalten hätte. Es war nicht nur ein Auszug aus einem alten, aber überschaubaren und in vieler Hinsicht auch freundlichen Milieu. Wie mir später klar wurde, hatte ich hier geradezu ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit entwickelt.105 Auch geschieht dem Subjekt als Patienten des Krankenhauses in seiner Not Gutes. Von den dort tätigen Spezialisten begegnet ihm Verständnis. Sie lindern sein Leiden. Nachts – es ist die zweite Nacht vor dem Eingriff, vor dem Katheter – erscheint ein Wesen, das ich, wenn es sich nähert, vor der Wand wie einen Scherenschnitt sehe: einen zierlichen Kopf und Locken wie Ornamente. Es durchstößt meine Schutzhaut, seine Hände ziehen eine kühle Spur, behutsam wäscht es mich. »In dieser Hitze!«, sagt es, ein Vorwurf, der den anderen gilt, draußen.106 Identitätsverlust: Der Institution Krankenhaus angehörend erlebt das Subjekt bewusst, dass ihm seine bisherige Identität entgleitet und sein ängstliches Bemühen, sie zu wahren, nicht fruchtet. Das Subjekt muss hinnehmen, dass es jetzt nicht mehr unbedingt durch seinen Namen erkannt, sondern nach seiner körperlichen Befindlichkeit eingeordnet wird. »Und wie heißen Sie?« Härtling mit ä, sage ich, mit der Sturheit des Computers rechnend. Sie tippt den Namen ein: »Da sind Sie!« Da bin ich. Sie schaut mich nicht an, sie schaut auf den Bildschirm. Dort bin ich, in eine andere Wirklichkeit getreten. »Sie 103 104 105 106

Huth 2003: 50. Härtling 2007: 45. Peinert 2002: 45. Härtling 2007: 11.

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Körperlicher Umbruch

kommen ja aus der Neurologie.« Ja! Ich stimme ihr zu und rufe mich zur Ordnung: Das hätte ich vorher schon sagen müssen. Aber sie beruhigt mich: »Na ja, jetzt haben wir Sie mal gefunden.« Es gibt mich. Mir wird übel, und ich setze mich.107 Es kommt vor, dass dem Subjekt zusätzlich Angst gemacht wird, damit es sich bereitwillig den Anweisungen der Spezialisten fügt. Auf Grund ihrer Expertenmacht drohen sie ihrem Patienten an, dass sich das ihn schon jetzt überwältigende, schmerzende, ängstigende und beschämende körperliche Geschehen zukünftig noch weiter verschlechtern wird, sollte er sich nicht mit dem einverstanden erklären, was sie für seinen erkrankten Körper als gut erachten. Gleichzeitig wurde mir eine Cortisontabletten-Stoßtherapie mit folgenden Worten empfohlen: »Wenn Sie das jetzt nicht nehmen, sind Sie spätestens in 10 Jahren im Rollstuhl.«108 Zu seinem eigenen Staunen stellt das Subjekt fest, dass es sich als Patient im Krankenhaus von den dort tätigen Spezialisten in einer Weise behandeln lässt, wie es eigentlich nicht seiner gewohnten Identität entspricht. Da ich der Kernspintomographie zugeteilt war, wurden mir ein dorthin führender Warteraum zugewiesen und Tabletten, die dem Kontrast der Aufnahme dienen sollten, überreicht. Gehorsam schluckte ich sie und fragte mich, ob ich zu jeder Zeit bereit wäre, jede Tablette zu schlucken.109 Das Subjekt ist davon beschämt, dass es sich als Patient den Spezialisten gegenüber in einer Weise verhält, dass es sich selbst nicht wiedererkennt. Es sei Blutplasma, das ich brauche, erklärt sie. Ich falle ihr ins Wort, überzogen locker: Also Aids möchte ich mir hier nicht holen. Sie geht, ich schaue ihr beschämt nach. Warum, frage ich mich heute, habe ich damals nicht gefragt, weshalb das Blut aufgefrischt werden müsse?110 Erst wenn das Subjekt die Institution Krankenhaus verlassen hat, fällt ihm auf, wie bereit es war, sich einem fremden Willen zu unterwerfen und die eigene Identität aufzugeben. Ich frage mich heute zum Beispiel, warum ich eigentlich grundlos darauf verzichtet habe, mir über die Medikamente, die ich täglich in einem Plastikbecher und ohne nähere medizinische Angaben vorgesetzt bekam, genaue Informationen zu holen, oder nach dem Beipackzettel zu fragen, den ich sonst immer erst auf Nebenwirkungen hin studiere, bevor ich ein Medikament einnehme? Oder warum habe ich meine Menüs beim Essen nicht wie in einem Restaurant so selbstverständlich selbst zusammengestellt, wie ich das draußen gewohnt war? […] Warum zögerte ich Dienstleistungen der

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Härtling 2007: 54. Lürssen 2005: 27. Härtling 2007: 23f. Härtling 2007: 46.

3. Die veränderte Alterität

Krankenhausangestellten in Anspruch zu nehmen? Für all dies bezahlte ich doch, und weiß Gott nicht wenig!111 Vom Kranken zum Behinderten: Wenn die Spezialisten des Gesundheitswesens zur Auffassung gelangen, dass sie es trotz der von ihnen veranlassten Maßnahmen nicht schaffen werden, den körperlichen Umbruch rückgängig zu machen und den unversehrten körperlichen Zustand wiederherzustellen, erhält das Subjekt von ihnen nach der Rolle des Kranken und der des Patienten die des Behinderten zugewiesen. Als ich fertig angezogen war, konnte das Ritual beginnen. Zwei Muskelmänner haben mich ohne viel Schonung bei den Schultern und den Füßen gepackt, aus dem Bett gehoben und in den Rollstuhl gesetzt. Vom bloß Kranken war ich zum Behinderten geworden, so wie im Stierkampf der Novillero zum Torero wird, wenn er zum ersten Mal den Kampf mit einem großen, ausgewachsenen Stier wagt.112 Wenn sich abzeichnet, dass die körperlichen Veränderungen für längere Zeit bestehen oder auf Dauer bleiben werden, empfehlen die Spezialisten ihrem Patienten, sich die von ihnen festgestellte körperliche Schädigung als Behinderung anerkennen zu lassen und einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen. Ohne es weiter auszuführen, weisen sie damit auch darauf hin, dass der Kranke von seiner Körperlichkeit her nicht mehr die Voraussetzung erfüllt, um länger der Institution Krankenhaus anzugehören: Neben der Heilung und dem Tod stellt die Behinderung den dritten Weg dar, auf dem die Rolle des Patienten zu verlieren ist. Sie wird durch die Rolle des Behinderten abgelöst, wenn sich mit weiterer medizinischer Behandlung der Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht beheben lässt. Wenige Tage nach einer beidseitigen Brustamputation wegen Krebs trat der Sozialdienst auf, um meine »Wiedereingliederung« in die Gesellschaft zu besprechen. […] Ich verlangte also Auskunft, was die Vorteile eines solchen Ausweises seien, der doch kaum zur Wiedereingliederung behilflich sein könne, wenn er nichts tat als mich zu stigmatisieren. Und richtig, die Dame war nach dieser ersten schwierigen Situation ganz im kompetenten Fahrwasser staatlicher Hilfestellung. Ich erfuhr zu meiner Befriedigung, dass es Steuererleichterungen gebe, eine Hilfe im Haushalt mitfinanziert werden könne, ebenso eine Schreibkraft, da ich als Professorin glaubwürdig auch zur Rückkehr in den Beruf viel schreiben müsste, Erleichterungen und Hilfe bei öffentlichen Verkehrsmitteln und schließlich die Vergünstigungen des Parkens auf Schwerbehindertenplätzen, die es ja gibt.113 Begegnungen mit Mitpatienten: Durch seine Zugehörigkeit zum sozialen System Gesundheitswesen ist es für das Subjekt unvermeidlich, dass es auch denen begegnet, deren Körperlichkeit ähnlich der seinigen beeinträchtigt ist. Zur veränderten Alterität gehören auch die Mitpatienten.

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Peinert 2002: 66. Bauby 1997: 10. Haug 2002: 6.

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Ich liege im Wartezimmer, gemeinsam mit einem älteren Herrn, wobei ich mich frage, wie ich als älterer Mann dazu komme, ältere Männer stets als ältere Männer einzuschätzen.114 Die Mitpatienten erstmals bewusst wahrzunehmen, löst mitunter Entsetzen aus, scheint ihr Anblick doch wie in einem Spiegel das Bild der eigenen Zukunft aufzuzeigen. Ich sehe es noch heute vor mir: Ich komme durch die Tür. Mit Christina, die meine Hand hält. Ich sehe Menschen ohne Haare. Ich sehe wachsbleiche, ausgemergelte Gesichter. Ich sehe Frauen, die Kopftücher tragen, weil sie keine Haare mehr haben. Ich sehe Menschen jeden Alters, denen der Tod in den Gesichtern, den Augen steht. Und ich denke mir in dieser Sekunde: Jetzt gehörst Du dazu. Du siehst zwar noch ein bisschen besser aus. Aber du gehörst zu ihnen. Du bist einer von ihnen.115 Vor allem das Krankenhaus zwingt das Subjekt in eine Gemeinschaft mit seinen Mitpatienten. Ihr zu entkommen, ist schon allein deshalb unmöglich, weil das Subjekt den Ort nicht verlassen darf, der ihm von der Institution zugewiesen wurde. Die Vorlieben und Gewohnheiten der Mitpatienten werden zur Belastung und wecken im Subjekt eine zerstörerische Wut. Dann gibt es noch die schrecklichen Patienten. Ich kenne welche, deren einziges Vergnügen darin besteht, immer wieder dieselbe Kassette zu hören. Ich hatte einen sehr jungen Zimmernachbarn, dem man eine Plüschente mit einem raffinierten Alarmsystem geschenkt hatte. Sobald jemand das Zimmer betrat, das heißt achtzigmal am Tag, gab die Ente eine schrille, durchdringende Melodie von sich. Zum Glück ist der kleine Patient entlassen worden, bevor ich meinen Plan zur Entenvernichtung verwirklichen konnte.116 Die Wahrnehmung der Mitpatienten mit ihrer veränderten Körperlichkeit kann jedoch dem Subjekt auch einen ihm bis dahin fehlenden Maßstab geben, wie es seine veränderte Körperlichkeit zu bewerten hat. Wenn im Vergleich mit ihnen das eigene Schicksal weniger schwer zu wiegen scheint, bessert sich das Befinden. In dieser Reha-Klinik bekam ich den ersten Kontakt mit einer ganzen Reihe von anderen Schlaganfallpatienten. Ich konnte erst hier vergleichen und feststellen, wieviel schlimmer ein Schlaganfall für den Betroffenen sein kann, als ich es erleben mußte. […] Für mich war das vielleicht an dieser Stelle der wichtigste Therapieerfolg mit Langzeitwirkung: Wenn ich später zu Hause unzufrieden mit meinem Zustand und ungeduldig wurde, rief ich mir die Bilder meiner Mitpatienten aus der Reha-Klinik ins Gedächtnis.117 Zu dem, was dem Subjekt bei seinen Mitpatienten zu schafft macht, gehört deren Abwehr von Beziehung. Wie es selbst davor zurückschrecken mag, die Gemeinsamkeit 114 115 116 117

Härtling 2007: 30. Lesch 2002: 47. Bauby 1997: 95f. Peinert 2002: 52.

3. Die veränderte Alterität

mit ihnen zuzulassen und sich mit ihnen zu identifizieren, muss es erleben, dass sie vermeiden, mit ihm in Kontakt zu kommen. Die Haltung der Mitpatienten macht dem Subjekt deutlich, wie schwer sein Schicksal wiegt und dass es selbst unter ihnen auffällt. Ich kenne das leichte Unbehagen zu gut, das wir hervorrufen, wenn wir, still und steif, eine Gruppe von weniger benachteiligten Kranken durchqueren. […] Unter mir wird gelacht, gescherzt, gerufen. Ich würde gerne an all dieser Fröhlichkeit teilhaben, aber sobald ich mein einziges Auge auf sie richte, wenden alle, der junge Mann, die Mammi, der Clochard, den Kopf ab und haben das dringende Bedürfnis, den Branddetektor unter der Decke anzusehen.118 Wie die Beziehung unterbleibt, solange die verbindende Erfahrung des Verlusts abgewehrt wird, entsteht sie, sobald andere, die einen vergleichbaren körperlichen Umbruch erlebten, bereit sind, sich mit dem Kranken und seiner Not identifizieren. Bisweilen treten völlig Unbekannte an das Subjekt heran, weil sie sich in ihm erkennen. Sie bieten eine Beziehung von gleich zu gleich an. Sehr geehrter Herr Lesch, der Bericht über Ihre Morbus-Hodgkin-Diagnose berührte mich aus einem ganz besonderen Grund: Genau zeitgleich wie Sie, lediglich ein Jahr früher, am 21. 12.1998, hatte ich genau dieselbe Diagnose. Heute, ein Jahr später, liegt alles hinter mir und erscheint mir oft schon sehr weit weg. […] Der Grund, warum ich Ihnen diesen Brief schreibe, ist mein ganz starkes Bedürfnis, Ihnen wirklich Mut zu machen. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute […]. Scharren Sie Familie und Freunde um sich, wenn Ihnen danach ist, und verlieren Sie nicht den Mut – dazu gibt es keinen Grund!119 Schicksalsgemeinschaft: Das Verhältnis zu den Mitpatienten ist nicht nur von Abwehr geprägt, zu ihnen kann vielmehr auch Beziehung entstehen. Das wird dadurch erleichtert, dass der Kranke anerkennt, mit den Mitpatienten schicksalshaft verbunden zu sein. Gleich ihnen ist er von denen, deren Körperlichkeit sich nicht durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung auf unbestimmte Zeit oder auf Dauer veränderte, jenseits der Grenze des zuvor gemeinsamen sozialen Systems verortet. Ob gewollt oder nicht, wird ihm die Nähe zu seinen Mitpatienten spürbar. Jetzt gehöre ich zu einer Gruppe von Aussätzigen.120 In der Beziehung zu den Mitpatienten wird die Einzigartigkeit des körperlichen Umbruchs aufgehoben. Es bildet sich ein Gefühl von Gemeinschaft. Wir sind sechs, wir treten in die Pedale und konzentrieren uns total darauf, nicht zu schwitzen. Die Blicke fliegen hin und her, wir gucken uns auf die Gesichter und auf unsere behaarten Brüste mit den schlappen Bäuchen. Bloß nicht zugeben, dass man sich anstrengt. Bloß nicht der Beste sein. Wir sind eine jämmerliche Truppe von Nach-

118 Bauby 1997: 34, 35. 119 Lesch 2002: 72, 73, 74. 120 Lesch 2002: 52.

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Körperlicher Umbruch

Infarkt-Patienten und Bypassmännern auf Ergometern, Trimmfahrrädern mit angeschlossenen EKG-Ableitungen.121 Diejenigen, die ebenfalls einen körperlichen Umbruch verarbeiten müssen, werden zu Verbündeten. Mit ihnen behauptet das Subjekt gegenüber den Spezialisten des Gesundheitswesens seinen Selbstwert, nachdem er durch ihr Handeln in Frage gestellt worden ist. Sie können uns die Brustdecke aufschneiden, sie können uns zu Herzkranken erklären, aber unseren Stolz und unseren Ehrgeiz brechen sie nicht!122 Mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet das Subjekt, was den anderen Kranken geschieht. Es nimmt wahr, wie die Spezialisten des Gesundheitswesens mit deren Zeit umgehen. Am Tag davor war ich Zeuge geworden, wie eine Bekannte aus meinem Heimatdorf, die als Patientin dort war, einen ganzen Nachmittag lang auf dem Flur im Krankenbett auf ihren Transport in ein Krankenhaus in einer anderen Stadt gewartet hatte.123 Das Subjekt nimmt zudem wahr, dass infolge des körperlichen Umbruchs das Leben von Mitpatienten endet. Als die Schwestern kamen, um die Tür zum Gang zu schließen, wusste ich, dass der Patient gestorben war. Es folgte das sanfte, klackende Geräusch, mit dem sich alle anderen Türen der Station schlossen. Anderen potenziellen »Kandidaten« wurde das Vorbeiziehen des Todes erspart, und das ominöse Bett bewegte sich schnell durch das Spalier der Wandschirme, die aneinander gereiht als Abschirmung dienten.124 Das Subjekt bekommt schließlich auch mit, dass beim Verlust der gewohnten Körperlichkeit bisweilen nicht das körperliche Geschehen tödlich ist, sondern die Alterität und deren Haltung. Meine Bekanntschaft mit Ulf war mein erster Kontakt mit einem MS-Patienten. Seine Familie redete nur vom »armen Ulf«. […] Mitleid brauchte Ulf sicher nicht und das hat er auf recht grausame Art der Familie gezeigt. Alle waren bei der Geburtstagsfeier von Ulfs Schwiegervater. Nur Ulf war nicht dabei, ob es sein eigener Entschluss war, nicht mitzufeiern, weiß ich nicht. Ich kenne nur das Ende. Zu Hause hatte er sich, während alle fröhlich den Geburtstag begingen, durch einen Kopfschuss getötet.125

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Huth 2003: 55f. Huth 2003: 56. Peinert 2002: 48. Todes 2005: 136. Lürssen 2005: 59.

3. Die veränderte Alterität

3.5

Fremde Beziehungsqualitäten

Fremdheit in vertrauten Beziehungen: Wenn die gewohnte Körperlichkeit verloren geht, kommen nicht nur die Beziehungen zu den Spezialisten des Gesundheitswesens und den Mitpatienten zur Alterität neu hinzu, sondern infolge der veränderten Körperlichkeit enden auch lange bestehende vertraute Beziehungen zu Angehörigen, Bekannten, Freunden, Nachbarn oder Kollegen. Selbst wenn sie fortbestehen, ändert sich die Alterität dadurch, dass die vertrauten Beziehungen oft eine Qualität erhalten, die ihnen zuvor fremd war. Vielfach sind die Beziehungen jetzt von Angst und deren Abwehr oder Bewältigung geprägt. Die Mitglieder des gemeinsamen sozialen Systems belastet es emotional, wenn sie miterleben müssen, dass die gewohnte Körperlichkeit des Subjekts, so wie sie sie kannten, gefährdet ist. Bisweilen können sie nicht verhindern, dass sich ihre Angst demjenigen mitteilt, dessen Körperlichkeit sich gerade im Umbruch befindet und der darüber selbst Schmerz, Angst oder Scham empfindet. Sie tragen mich sitzend die Treppe hinunter. Mechthild kommt hinter mir her, und im Vorbeigehen sehe ich, oben im Flur vor dem Gästezimmer, Friederike stehen, den Schreck wie eine Maske vorm Gesicht.126 Die Angst der Alterität wirkt sich auf die Beziehung aus. Derjenige, bei dem ein Arzt eine schwerwiegende Krankheit feststellte, kann bisweilen gar nicht mehr über sein Empfinden sprechen. Stattdessen muss er die Alterität in ihrem Kummer beruhigen. Ich hatte meine Mutter erst nach dem endgültigen, positiven Befund über meine Krankheit informiert. Es war mir nicht leicht gefallen, aber ich wollte sie nicht unnötig aufregen. Um so geschockter war sie, als wir sie kurz vor Weihnachten in Solingen besuchten. »Heißt das, dass du sterben musst?«, fragte sie tränenüberströmt. »Mama, die Ärzte geben mir eine Überlebenschance von 95 Prozent! Du kennst mich doch. So leicht gebe ich nicht auf.«127 Doch wird die Angst der Alterität dem Kranken nicht nur ersichtlich, wenn die Veränderungen seiner Körperlichkeit von den Spezialisten des Gesundheitswesens mit einer Diagnose belegt wurden, die allgemein Schrecken verbreitet. Sie wird ihm auch mitgeteilt, wenn die Ärzte Maßnahmen zur Behandlung des körperlichen Umbruchs vorschlagen, um die verlorene Gesundheit wiederherzustellen. Lili hatte zudem wieder ernsthafte Bedenken wegen der Operation und versuchte, mich auf einige Probleme aufmerksam zu machen, die ihr während ihres Aufenthaltes im Krankenhaus aufgefallen waren. Sie hatte vor allem Angst, ich könne wieder nur als Versuchskaninchen dienen […].128 Die Angst lässt diejenigen, die zum Zeugen eines körperlichen Umbruchs werden, oft bemüht sein, eine Beziehung mit dem betroffenen Subjekt ganz zu vermeiden. Falls sie

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Härtling 2007: 9. Lesch 2002: 60. Todes 2005: 138.

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Körperlicher Umbruch

doch eine Beziehung eingehen, sieht der Kranke ihnen an, wie sehr sie sich überwinden mussten, um ihm zu begegnen. Durch die offenstehenden Türen sieht man nur Liegende und ans Bett Gefesselte, die das Schicksal an die äußeren Grenzen des Lebens zurückgeworfen hat. Bei diesem Anblick bleibt manchen die Luft weg. Sie müssen erst einmal ein bißchen herumlaufen, ehe sie mit festerer Stimme und weniger feuchten Augen bei mir ankommen. Wenn sie sich endlich getrauen, könnte man meinen, es seien Taucher mit Atemnot. Ich weiß sogar von welchen, die hier vor meiner Tür die Kräfte verließen: sie haben kehrtgemacht und sind nach Paris zurückgefahren.129 Unterstützende Alterität: Die Alterität zeigt aber nicht nur Angst, sie ist auch hilfreich. Gerade wenn die Körperlichkeit sich sehr schnell verändert und ein unmittelbares Eingreifen verlangt ist, kann sich das Bewusstsein bei den Angehörigen auf die notwendige Hilfeleistung verengen. Ohne zu überlegen, was sich schickt, tut die Alterität alles, um eine weitere Schädigung zu verhindern. Sie setzt sich über Normen, Werte, Traditionen und Konventionen hinweg und versucht, das bedrohte Leben zu retten. »Ich habe nicht nachgedacht«, erklärte er später. »Ich konnte nicht danach fragen. Ich wußte nur, daß ich die [Tischdecken; B.R:] brauchte.« Dafür schlug er einen Kellner, der ihn davon abhalten wollte, zu Boden. Während der Kellner sich wieder aufrappelte, stopfte Raffaele sich die Tischdecken unter den Arm, rannte zu mir und deckte mich damit zu.130 Andere zeigen unaufgefordert ihre Anteilnahme, auch wenn sie den Kranken persönlich nicht besuchen. Mein Chefredakteur ruft an. Der Verlagsdirektor ruft an, der Anzeigenchef ruft an. Hier wird ein Anruf aus dem Senat durchgestellt. Dort erkundigt sich der Justizchef, da klingelt es wieder – der Leiter der Journalistenschule. Freunde und Bekannte rufen an, die ich fast vergessen hatte. Der Herzinfarkt – wie ein Lauffeuer über Noch-Bekannte, erkaltete Job-Seilschaften verbreitet.131 Angesichts der Angst, die die Veränderung einer gewohnten Körperlichkeit bei den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems auslöst, sind diejenigen besonders unterstützend, die sich nicht davon ergreifen lassen und es verstehen, Zuversicht zu vermitteln. Einer der ersten Besucher nach meiner Verlegung war Grandma. Ihre Heiterkeit und ihr gesunder Menschenverstand waren genau das, was ich zu diesem Zeitpunkt brauchte. Manche Besucher waren von meinem Beinstumpf so verstört, daß ich am Ende sie trösten mußte, aber Grandma war ein so starker Charakter, daß dazu keine Notwendigkeit bestand.132

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Bauby 1997: 93. Mills 1996: 218. Huth 2003: 50. Mills 1996: 227.

3. Die veränderte Alterität

Bisweilen löst die Alterität Verwunderung mit dem aus, was sie dem Kranken an Hilfe anbietet. Angesichts der Not, in der sie ihn wähnt, will sie ihm die übersinnlichen Kräfte zur Verfügung stellen, über die sie ihrer Meinung nach verfügt, damit sein umbrochener Körper wieder gesundet. In einer Kirche in der Innenstadt von Birmingham waren Marilyn und ich schon mehrfach einem Mann begegnet, den ich Mr. Cresswell nennen will. Vor ein paar Wochen kam Mr. Cresswell an einem Sonntag nach dem Morgengottesdienst auf mich zu, schüttelte mir herzlich die Hand und erzählte mir, daß Gott ihm mitgeteilt hatte, daß er beabsichtigte, mich von meiner Blindheit zu heilen. Mr. Cresswell mußte noch auf ein Zeichen des Herrn warten, daß die Zeit gekommen sei, aber sobald der Herr ihm Nachricht gäbe, würde er bereitstehen und mich aufsuchen.133 Oder um seine Gesundheit wiederherzustellen, bringt die Alterität dem Kranken Gaben mit, die ihr selbst wichtig sind und sie ihrer Meinung nach vor Krankheit bewahren. Jasmin kommt. Jasmin hieß früher Blümchen. Sie stellt einen Karton auf den Tisch. Ich packe aus und gucke ratlos. Vor mir steht ein Gemüsesaft. Jasmin erklärt: Man kann ihn nur bestellen. Man muss jeden Tag einen Fingerhut voll trinken. Sie tut das schon seit Monaten und ist seitdem nicht mehr krank geworden. Wenn diese Flasche leer ist, gibt sie mir natürlich die Adresse, wo ich ihn weiterhin beziehen kann. […] Der Saft sieht aus wie das, was Möhren pinkeln würden, wenn Möhren pinkeln würden. Jasmin mag ich allerdings wirklich gern. Eine Kollegin hatte mir gestern eine kleine Flasche Jägermeister mitgebracht. So gehen die Meinungen über Therapie auseinander.134 Andere wiederum tragen mit ihrer Unterstützung dazu bei, die Angst des Subjekts vor einer weiteren Schädigung seines Körpers zu verringern, wenn es bewusstlos einem ärztlichen Eingriff ausgesetzt ist. Am Morgen vor der Operation bat ich Fiona, mir eine Bikinihose mitzubringen. Sie half mir, mich hineinzuwinden, und malte dann auf meine Anweisung mit Filzstift eine Linie um den Außenrand. »Und jetzt schreib: ›Nicht über diese Linie schneiden‹, um meinen Po herum«, sagte ich, und Fiona gehorchte kichernd.135 Veränderung vertrauter Beziehungen: Schließlich ändern sich bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit auch die vertrauten Beziehungen. Das ungewohnte körperliche Geschehen führt dazu, dass mehr Nähe zur vertrauten Alterität gesucht wird, als es sonst üblich gewesen ist. Die mir seit Jahren vertraute Gegend, die mir bekannten Ärzte. Mechthild wird in den ersten Tagen bei mir sein. Seit der Nacht, in der ich an den Rand geriet, lassen wir uns nicht mehr aus den Augen.136

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Hull 1992: 89. Huth 2003: 53. Mills 1996: 228f. Härtling 2007: 15.

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Körperlicher Umbruch

Zwar wirkt es anfangs oft noch so, als habe der körperliche Umbruch die vertraute Beziehung unberührt gelassen. Aber mit der Zeit, in der der Verlust der gewohnten Körperlichkeit andauert, zeigen sich dessen Auswirkungen. Meine Frau und ich hatten zu Anfang meiner Krankheit die Folgen zunächst noch eine ganze Weile lang seelisch ganz gut im Griff. Typisch dafür war, wie wir mit meinen ersten unbeholfenen Gehversuchen umgingen. Meine Frau beobachtete mich dabei im Krankenzimmer und scherzte: »Du gehst aber komisch!« Ich konnte den Scherz aufgreifen und lachen […].137 Das selbstverständliche Miteinander, wie es davor zwischen den Mitgliedern eines sozialen Systems bestand, lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Angesichts seiner Affekte kommt im Subjekt das Bedürfnis auf, sich von den Anderen zurückzuziehen, auch wenn sie ihm noch so vertraut sind. Es will ihnen nicht sein wahres Befinden zeigen. Später, als Brigitte und Gerhard gegangen waren, ging ich auf die Toilette und schlug die Hände vor mein Gesicht. Ich wollte nicht, dass Christina mich weinen sieht.138 Auch die Beziehung zu den Kindern ist infolge des körperlichen Umbruchs verändert. Das Zusammensein mit ihnen ist nicht mehr ungezwungen, sondern von der Sorge belastet, dass sich für sie nachteilig auswirkt, was sie miterleben müssen. Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Freude, [die Kinder; B.R.] ein paar Stunden lang leben, sich bewegen, lachen oder weinen zu sehen, und der Befürchtung, daß der Anblick dieses ganzen Leids, bei meinem eigenen angefangen, nicht gerade die ideale Unterhaltung für einen zehnjährigen Jungen und seine achtjährige kleine Schwester ist, auch wenn wir in der Familie die weise Entscheidung getroffen haben, nichts zu verharmlosen.139 Neben der Sorge um das seelische Wohlergehen kann es auch die um die Körperlichkeit der Kinder sein, die das Subjekt beschäftigt. Seitdem ich mich mit MS beschäftige, habe ich Angst, auch meine Kinder könnten MS bekommen. Rational weiß ich, dass diese Möglichkeit bei zwei oder nur einem Prozent liegt, aber die Angst ist da.140 Schließlich sind durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit auch vertraute Beziehungen im Beruf beeinträchtigt. Die langjährige Zusammenarbeit wird von den übrigen Mitgliedern des bis dahin gemeinsamen sozialen Systems in Frage gestellt. Sie wollen den kranken Kollegen lieber jenseits als diesseits von dessen Grenzen verortet wissen. Ich geriet unter den zunehmenden Druck meiner Kollegen, aus Gesundheitsgründen meinen Rücktritt einzureichen. Die Kollegen, mit denen ich eng zusammenarbeitete, beriefen eine Sitzung ein, um mir mitzuteilen, dass meine Gegenwart im Paddington 137 138 139 140

Peinert 2002: 69. Lesch 2002: 42. Bauby 1997: 72. Lürssen 2005: 58.

3. Die veränderte Alterität

Centre ihrer Ansicht nach das weitere Bestehen der Klinik negativ beeinflusse. Ich möge entweder meine Stelle aufgeben oder meine Arbeitseignung durch die »Drei Weisen« begutachten lassen.141

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Todes 2005: 78f.

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4. »Das Restbein darf unter keinen Umständen naß werden.« – Die aufgehobene Narration 

In der Narration legt das Subjekt sein Verhältnis zur Umwelt, zu den Anderen und zu sich selbst sowie seinem Körper sinnhaft aus. Was das Subjekt erlebt, macht es durch sein Erzählen seiner Identität verfügbar, und zugleich gibt es sich damit der Alterität zu erkennen. Auf welche Weise beim Erzählen einzelne Ereignisse aufeinander bezogen werden und ob das Erzählen gelingt, ergibt sich aus dem Selbst des Erzählers, seiner Beziehung zu den Zuhörern und deren Bereitschaft, sich auf seine Geschichte einzulassen. Beim Zuhören erfährt die Alterität aber nicht nur, was die Person des Erzählers ausmacht, sondern wird selbst in ihrer Identität bestätigt oder herausgefordert. Im Folgenden wird zuerst das Erzählen als sprachliche Form und soziales Handeln sowie der Zusammenhang von Narration und Identität allgemein beschrieben (4.1). Im Anschluss daran wird mit den Erfahrungen des Subjekts dargestellt, wie bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit die bisherige Narration aufgehoben (4.2), in den Beziehungen zu den Spezialisten des Gesundheitswesens ein bis dahin fremdes Sprechen über den Körper vermittelt (4.3) und in der Interaktion eingeübt wird (4.4). Abschließend wird ausgeführt, dass das Subjekt auch an Grenzen kommt, wo ein Erzählen nicht mehr möglich ist (4.5). Das Kapitel zeigt auf, wie schwer es bei einem körperlichen Umbruch für das Subjekt ist, sein bisheriges Selbstverständnis erzählend aufrechtzuerhalten, weil über seinen veränderten Körper eine neue Geschichte erzählt wird und die alte ihre Gültigkeit verliert.

4.1

Erzählen und Identität

Bedeutung des Erzählens: Erzählen – auch vom körperlichen Umbruch – ist sprachliche Form und soziales Handeln zugleich (vgl. Quasthoff 1980: 12–28). Menschen lieben es, sich Geschichten zu erzählen und einander zuzuhören. Wann immer sie aufeinandertreffen, beginnen sie, sich zu erzählen, was sie erlebt haben. Sie schaffen sich immer wieder von Neuem Gelegenheiten, um zusammenkommen und sich über ihre Erlebnisse austauschen zu können. Erzählen schafft Gemeinschaft, und wer einer Geschichte

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Körperlicher Umbruch

zuhört, ist mit den Anderen verbunden. Das Erzählen kennzeichnet sich dadurch, dass eine besondere expressive Sprache verwendet, das Präsens eingesetzt und die direkte Rede benutzt wird, dass in Stimmführung und Formulierung reale Figuren oder auftauchende Geräusche nachgeahmt und einzelne Begebenheiten detailliert geschildert werden. Daraus entsteht eine jeweils einzigartige Geschichte, in der vom eigenen Selbst erlebte Ereignisse und Handlungen den Anderen weniger sachlich dargestellt als vielmehr szenisch vorgeführt werden. Um sich ganz zu entfalten, bedarf eine Geschichte der Muße und einer Beziehung zu Gleichen. Sozial hat das Erzählen einer selbst erlebten Geschichte eine mehrfache Bedeutung: Es beruhigt Beziehungen und stellt Gleichheit her. Es schafft Vertrauen, weil es den subjektiven Menschen und nicht die objektive Sache in den Mittelpunkt stellt. Das Erzählen vermag die Einsamkeit aufzuheben, weil sich in einer Geschichte Erzähler und Zuhörer wiederfinden (vgl. Boothe/Wyl 1999: 7–43). Außerdem macht es aus den einzelnen Mitgliedern eines sozialen Systems eine Gemeinschaft und verortet das Subjekt mit seinen Erfahrungen in einem sozialen System. Aber jedes Erzählen ist ein Risiko: Wer der Alterität eine selbst erlebte Geschichte wie des Verlusts der gewohnten Körperlichkeit erzählt, öffnet seine Innenwelt und macht sie seinen Zuhörern zugänglich. Es ist möglich, dass er dann in solch einem Maße seinen Affekten begegnet, dass er von ihnen überwältigt wird, oder dass von der Alterität nicht angenommen wird, was er ihnen sagt. Deshalb kündigt, wer erzählen will, seine Absicht mit einer entsprechenden Wendung an und erhält von den Anderen einen Hinweis, dass sie bereit sind, ihm zu folgen und sich auf seine Geschichte einzulassen. Wer sich zum Zuhören bereit erklärt, weiß, was damit einhergeht. Es verlangt, dem Erzähler die volle Aufmerksamkeit zu schenken und emotional nachzuvollziehen, was er darlegt. Gute Zuhörer nehmen ihr eigenes Selbst zurück und stellen sich in den Dienst des Erzählers, denn seine Geschichte stellt ihn in den Mittelpunkt. Sie führt aus, was er erlebt und gefühlt hat, wie er sich verhalten oder wie er das Geschehene bewertet hat, aber auch was er erwünscht und ersehnt, befürchtet und erhofft. In ihrem Fortgang verbindet eine Geschichte Vergangenes mit Gegenwärtigem und begründet die Erwartung von Zukünftigem, aber sie beansprucht nicht, wie ein Bericht die Wahrheit wiederzugeben. Da ein jedes Erzählen durch das, was es von den Zuhörern verlangt, an sich unbescheiden ist, verpflichtet sich, wer heute erzählt, stillschweigend, später einmal zuzuhören, und erwerben sich die, die heute zuhören, das Recht, später der Alterität ihre subjektive Sicht auf die Ereignisse und Handlungen, in die sie verwickelt sind, darzulegen. Auch wenn das Erzählen auf Gegenseitigkeit beruht und es sich nicht schickt, einen Erzähler zu unterbrechen, ist das Subjekt nie sicher, das Rederecht bis ans Ende seiner Geschichte zu behalten. Denn um überhaupt erzählenswert zu sein, muss seine Geschichte gewisse Minimalbedingungen von Ungewöhnlichkeit (vgl. Quasthoff 1980: 27) erfüllen. Sie muss einen Bruch aufweisen und in irgendeiner Weise von den Erwartungen abweichen, welche die an der Geschichte Beteiligten zuvor für sich gehabt haben oder welche auf Grund der allgemeinen Normen, Werte, Traditionen und Konventionen anzunehmen sind. Zur sprachlichen Form: Das Erzählen als sprachliche Form ist durch mehr als die Ankündigungs- und Schlussformel bestimmt, mit denen der Erzähler seine Geschich-

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te rahmt. Sie weist verschiedene Elemente auf, die sie an der Oberfläche strukturieren (vgl. Quasthoff 1980: 32): Zur Orientierung gehören zunächst alle Angaben, die es braucht, damit die Zuhörer die Geschichte verstehen. In ihr werden Ort und Zeit bezeichnet, in der sie spielt, und das soziale System und seine Mitglieder, auf das sie sich bezieht, ebenso benannt wie die Affekte und Motivationen des Erzählers, mit denen er den kommenden Ereignissen und Handlungen entgegen sah, sowie seine Vorwegnahmen, die er in das erzählte Geschehen einbrachte. In der Komplikation wird dann thematisiert, was die Geschichte ausmacht und sie erzählenswert sein lässt. Hier wird geschildert, was an Ungewöhnlichem und Unvorhergesehenem dem Erzähler geschehen ist, seine Erwartungen als Handelnder oder Beobachter gebrochen hat oder mit den Erwartungen seiner Zuhörer bricht. In der Lösung wird ermittelt, wie der Erzähler mit diesem Bruch umgegangen ist. In der Evaluation schließlich wird das Geschehene bewertet und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Auf einer tieferen Ebene ergibt sich die sprachliche Form des Erzählens durch den Erzähler und aus seiner Beziehung zu den Zuhörern (Quasthoff 1980: 46–84). Da die sprachliche Form vom Erzähler stets aufs Neue geschaffen wird, gibt es keine fertige, immer abrufbare Geschichte, die das Subjekt zu jeder Zeit von sich zu geben vermag. So ist das, was in der Geschichte erzählt wird, durch den Erzähler und seine Wechselbeziehung mit Umwelt und Alterität bedingt,und werden die einzelnen Begebenheiten vom Erzähler erst im Angesicht seiner Zuhörer aus der Gesamtheit dessen ausgewählt, was ihm wirklich geschehen ist. Auch nimmt das Subjekt, bevor es zu erzählen beginnt, in seinen Gedanken vorweg, wie seine Zuhörer seine Geschichte voraussichtlich auffassen werden. Durch die Einstellungen und Erwartungen, die der Erzähler bei seinen Zuhörern annimmt, wird nicht nur beeinflusst, welche Inhalte er für seine Geschichte auswählt, sondern viel umfassender, welche von ihm überhaupt erinnert werden. Begebenheiten, von denen das Subjekt mutmaßt, dass sie seinen Zuhörern nicht entsprechen, werden gekürzt, bewusst weggelassen oder unbewusst verdrängt, ehe sie in die Narration gelangen können. Beim Erzählen ist das Subjekt bemüht, ein Unverständnis, das entweder von ihm selbst oder von seinen Zuhörern als verletzend und vernichtend erlebt wird, möglichst zu vermeiden. Je nach dem, welches Vorwissen der Erzähler bei seinen Zuhörern vermutet, gestaltet er in der erzählten Geschichte dann die Orientierung. Auch wie detailliert er die Komplikation erzählt, ist von den Überlegungen geleitet, wie er Vorwissen, Einstellungen und Erwartungen seiner Zuhörer einschätzt; dasselbe gilt für die Evaluation. Darüber hinaus folgt die sprachliche Form des Erzählens auch dem, was der Erzähler mit seiner Geschichte bei seinen Zuhörern erreichen will. Erzählen in Beziehung: Ohne Alterität kommt es nicht zum Erzählen. Denn die, denen erzählt wird und die dadurch zu Zuhörern werden, sind stets die Anderen. Denn wären sie nicht anders, sondern gleich, dann müsste ihnen nicht erzählt werden. Manchen Erzähler verletzt es in seiner Selbstbezogenheit, dass es überhaupt eine Geschichte braucht, um die Alterität am eigenen Erlebens teilhaben zu lassen, denn diese Notwendigkeit zeigt erst auf, dass er anders, ihnen also nicht gleich ist. Das Erzählen vermag aber den Abstand zu überbrücken, der zwischen dem Subjekt und der Alterität besteht. Sich den Erinnerungen hinzugeben, aus denen sich die zu erzählende Geschichte er-

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gibt, wird in Beziehungen zu den Anderen erleichtert, die als gleichwertig angesehen werden und die ihrerseits bereit sind, das Gehörte in Identifikation mitzuerleben. Von der Alterität ist weiterhin die Erzählstruktur vermittelt, die zwar jeweils in einer Geschichte neu ausgebildet wird, deren Vorgaben aber ein Subjekt einhalten muss, wenn es mit seiner Geschichte verständlich bleiben will. Auch unterliegen die Inhalte, die beim Erzählen mitgeteilt werden, einer ständigen sozialen Bewertung (vgl. Keupp et al. 1999: 103). Sie ist sogar dann wirksam, wenn sie nicht unmittelbar ausgesprochen wird oder wenn das Subjekt allein über sich nachdenkt; sie gibt vor, wie vergangenes Erleben erinnert wird. Damit eine Geschichte überhaupt erzählt werden kann, muss sie innerhalb des sozialen Systems, dem der Erzähler und die Zuhörer angehören, auch erzählbar sein. Zwar bietet sich der Erzähler den Zuhörern als erlebendes Subjekt an, aber es sind die Zuhörer, die den Ablauf der Geschichte steuern, indem sie ihn in seiner Mitteilung bestätigen oder missbilligen. Dadurch, dass die Zuhörer sich auf die Welt des Erzählers einlassen und seiner Geschichte folgen, sich von ihr affektiv berühren lassen und sie in ihrer Phantasie mitvollziehen, tragen sie wesentlich dazu bei, dass der Erzähler sich seinem Inneren gegenüber öffnet und erzählend seine Welt gestaltet und sich ihrer versichert. Damit eine Geschichte zustande kommt, dass sie aufrecht erhalten und abgeschlossen wird, bedarf es also einer ständigen Abstimmung zwischen dem Erzähler und seinen Zuhörern. Außerdem erwächst die Fähigkeit zum Erzählen aus zwischenmenschlicher Beziehung. Bei Kindern wird sie dadurch entwickelt, dass die Zuhörer würdigen und anerkennen, was jene von sich geben, und dass sie durch ihr Nachfragen, Spiegeln und (Re)Strukturieren das Erzählte so gestalten, dass es verstehbar und nachvollziehbar wird. Durch stetes Wiederholen wird mit der Zeit die Fähigkeit zum Erzählen so eingeübt, dass sie sich allmählich verinnerlicht und unabhängig von äußerer Führung wird (vgl. Hausendorf/Quasthoff 1996). Vergleichbares geschieht in der analytischen Psychotherapie, wo der Psychotherapeut je nach Entwicklung des Selbst seines Patienten dessen Geschichte bestätigt, spiegelt und (re)strukturiert, damit dieser lernt, auch außerhalb der therapeutischen Situation zu erzählen, was ihn beschäftigt und bewegt. Schließlich bestimmt die Alterität, welches Subjekt von sich erzählen darf. Unbewusst wählt sich jedes soziale System entsprechend seiner kollektiven Identität einen zu ihm passenden Erzähler. Demjenigen wird Aufmerksamkeit zuteil und zugehört, der auf Grund seiner verkörperten Erfahrungen am ehesten in der Lage ist, die kollektive Identität eines sozialen Systems aufzugreifen und ihm sein Unbewusstes zu erschließen. Den Zuhörern wird in den Geschichten des Erzählers nicht nur die gemeinsame Matrix erfahrbar, die sie als Mitglieder des sozialen Systems verbindet, sondern durch sein Erzählen und ihr Zuhören können auch soziale Konflikte erkannt und überwunden werden. Funktionen des Erzählens: Das gelingende Erzählen dient dem Erzähler, den Zuhörern und dem Gespräch selbst. Dabei kommen ihm mehrere Funktionen zu (vgl. Quasthoff 1980: 148–169): Bei der primär sprecher-orientierten Funktion des Erzählens bleiben dem Erzähler von ihm erlebte Ereignisse und vollzogene Handlungen lebendig und werden ihm vergangene gegenwärtig. Diese Funktion des Erzählens verhindert das Vergessen und lässt selbst weit zurückliegende Affekte in solcher Heftigkeit wach werden,

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dass sie den Erzähler ganz ergreifen. Ebenso wie diese Form des Erzählens das eigene Erleben heranholt, schafft sie aber auch inneren Abstand. Sie fördert das Verarbeiten von belastenden Ereignissen und Handlungen, denn der Erzähler vermag sie von außen zu betrachten, indem er sie in einer Geschichte der Alterität mitteilt. Auch kann im Erzählen, wenn ein Geschehnis das Subjekt überwältigt hat, das Widerfahrene mit Vorerfahrungen verknüpft oder, wenn sein Verhalten ihm nicht genügt, es befriedigender als in der Wirklichkeit gestaltet werden. Vom Erzähler lässt sich das Erzählen dazu nutzen, sich gegenüber der Alterität durch eine Geschichte so darzustellen, wie er von ihr gesehen werden will. Durch seine Geschichte kann er seinen Zuhörern das eigene Verhalten erklären und deuten; in ihr vermittelt er ihnen Eigenschaften, die er im Alltag handelnd nicht unmittelbar zu zeigen vermag; und mit ihr zeichnet er das Bild von sich, das er selbst gern von sich hätte, auch wenn dem seine wirklichen Handlungen widersprechen. Allerdings kann bei aller Selbstdarstellung der Erzähler nicht verhindern, dass seine Zuhörer durch seine Geschichte mehr in ihm erkennen, als ihm selbst bereits bewusst ist. Bei der primär hörer-orientierten Funktion des Erzählens erkennen die Zuhörer durch eine Geschichte, was den Erzähler in seinem Wesen ausmacht. Im geselligen Beisammensein werden sie durch Geschichten unterhalten; was sie zu hören kriegen, kann sie erheitern oder beunruhigen, bestätigen oder verwirren. Ebenso gewinnen sie gerade in hierarchischen Beziehungen dadurch Informationen, dass sie zuhören, die sie anderweitig nicht erhalten hätten, wobei Geschichten, die zu diesem Zweck angeregt sind, am ehesten unterbrochen werden. Bei der primär kontext-orientierten Funktion des Erzählens wird das Gespräch an sich erweitert. Durch eine selbst erlebte Geschichte soll eine Behauptung oder Annahme belegt werden, um ihren Wahrheitsgehalt zu steigern, da als Augenzeuge der Erzähler mit besonderer Glaubwürdigkeit zu vermitteln weiß, was wirklich geschah. Seine Geschichte soll die Zuhörer überzeugen, einen bestimmten von ihm erwünschten Schluss zu ziehen; durch sie wird ein Vorwurf, den er erhebt, gestützt, oder vor den Zuhörern das eigene Verhalten gerechtfertigt. Durch das Erzählen einer Geschichte werden auch bis dahin außenstehende Dritte in das Gespräch einbezogen, da sie ihnen veranschaulicht, was den Anderen bereits vertraut ist. Erzählen des körperlichen Umbruchs: Was das Subjekt bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit erlebt, das kann es durch die Narration seiner Identität verfügbar machen. Indem es seiner Alterität erzählt, was ihm geschehen ist und wie es sich dazu verhält, und indem es dazu von seinen Zuhörern Rückmeldungen bekommt, gewinnt es eine Selbstbezogenheit, die die veränderte Körperlichkeit einbezieht. Das Subjekt wird sich gewiss, was seine Identität nach dem körperlichen Umbruch ausmacht, indem es durch sein Erzählen fortlaufend Teilidentitäten aus Lebensbereichen wie Beruf, Freizeit, Familie, Sexualität oder Spiritualität aushandelt, sie bestätigt, verwirft oder umbaut. In den einzelnen Elementen der Erzählstruktur wird dabei jeweils ein eigener Beitrag zur Identitätsarbeit geleistet: In der Orientierung bezieht das Subjekt sich auf sein Selbst vor dem körperlichen Umbruch und fasst es ebenso in Worte wie die gegenwärtige Struktur seiner Identität und den Prozess, in dem es sich nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit befindet, seine wesentlichen Vorerfahrungen und seine über-

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geordneten Identitätsziele. In der Komplikation wiederum veranschaulicht das Subjekt sich und der Alterität, wie die für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden körperlichen Veränderungen es daran gehindert haben, seine Vorstellungen umzusetzen, wie sie Identitätsentwürfe und -projekte unterbunden haben und bisherige Lebensziele fragwürdig werden ließen. In der Lösung zeigt das Subjekt dann nicht nur seinen Zuhörern, sondern auch sich selbst, wie es ihm möglich war, mit der veränderten Körperlichkeit umzugehen, wie es sie einem retrospektiv- und prospektiv-reflexiven Identitätsprozess zugänglich gemacht und mit der bisherigen Identitätsstruktur verbunden hat. In der Evaluation seiner Geschichte stellt das Subjekt schließlich klar, welchen Wert die gefundene Lösung seines Lebens mit dem umbrochenen Körper in Hinblick auf wichtige übergeordnete Identitätsziele hat. Die Narration vom körperlichen Umbruch ist auch deshalb für die Identitätsarbeit des Subjekts bedeutsam, weil es damit seine Alterität gestaltet. Mit den Geschichten über den Verlust der gewohnten Körperlichkeit und dessen Folgen stärkt es seine Verbindung zu den Anderen und beeinflusst es ihre Einstellung ihm gegenüber. Indem das Subjekt der Alterität erzählt, was ihm nahegeht und was es innerlich bewegt, was es als wichtig auswählt und wie seine Wirklichkeit mit dem veränderten Körper aussieht, gibt es ihr zu erkennen, wie es sich jetzt selbst versteht. Nicht immer muss eine Geschichte aber der Alterität das wahre Selbst zeigen. Da es die Identität nur in der Fassung gibt, die das Subjekt von ihr erzählt (vgl. Schafer 1995: 52f.), kann die Geschichte auch bei einem körperlichen Umbruch auf einem falschen Selbst oder einem idealen beruhen, ohne dass es von den Anderen bemerkt wird. Da umgekehrt die Alterität mit ihrem Zuhören bestimmt, was dem Subjekt erzählbar ist, bezeichnet ihm seine Narration den Rahmen, in dessen Grenzen sich seine Identität mit dem umbrochenen Körper entwickeln lässt. Wenn das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit etwas erlebt oder sich verhält, wie es sich nicht in diesen Rahmen einfügt, ist dieses Erleben und Verhalten von der Identitätsbildung ausgeschlossen. Doch ist es dem Subjekt möglich, diesen Rahmen, der seine Entwicklung begrenzt, bewusst wahrzunehmen und zu überwinden. So geben die Narrative von chronischer Krankheit und Behinderung, mit denen in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende das ungewohnte körperliche Geschehen eingeordnet wird, dem Subjekt vor, was es bei einem körperlichen Umbruch der Alterität erzählen kann. In Auseinandersetzung mit ihr kann das Subjekt aber darum ringen, abweichend von diesen Narrativen sein Selbst einschließlich des Körperselbst, wie es von ihm erfahren wird, erzählbar zu machen. Oder das Subjekt kann sich auf den Weg machen, sich eine neue Alterität zu suchen, die ihm ein Erzählen erlaubt, das es ihm ermöglicht, mit seinem umbrochenen Körper authentisch zu leben. Wirkung auf die Zuhörer: Jede Narration wirkt stets auch auf die Identität der Zuhörer. Allein dadurch, dass ihnen die Geschichte des körperlichen Umbruchs erzählt wird, bestätigt das von ihnen Gehörte sie in in ihrem Selbstverständnis und fordert sie darin heraus. Unabhängig von ihrem Inhalt weist die ihnen erzählte Geschichte die Zuhörer darauf hin, dass sie vom Erzähler als anders und doch als gleich wahrgenommen werden. Denn würde derjenige, der ihnen als krank oder behindert gilt, die Anderen nicht als anders erleben, müsste er ihnen nichts erzählen, und würde er sie nicht als gleich ansehen, könnte er nicht annehmen, von ihnen verstanden zu werden. Sobald das Sub-

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jekt der Alterität von seinem körperlichen Umbruch erzählt, zeigt es ihr, dass sie ihm wichtig ist, so wie sie ist, dass es zu ihr eine Beziehung wünscht und dass sie ihm als genügend vertrauenswürdig erscheint, Anteil an seinem Empfinden zu nehmen. Weil eine Narration es den Zuhören erlaubt, ihr eigenes Erleben und Verhalten mit dem des Erzählers abzugleichen und sich mit ihrer Identität in seiner wiederzufinden, erfahren sie in ihrem Zuhören, dass sie mit ihrem Selbstverständnis nicht einzigartig oder verrückt sind. Die Geschichte, die sie von einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung erzählt bekommen, vermittelt den Zuhörern daher nicht nur, welche Identität der Erzähler hat und wie er mit dem ungewohnten körperlichen Geschehen, das sein Selbst überwältigt hat, umgegangen ist, sondern auch, wer sie selbst sind. Da sie seiner Geschichte aus den Erfahrungen ihrer Vergangenheit heraus zuhören müssen, um sie zu verstehen, ist von ihnen verlangt, dass sie sich ihr Selbst bewusst machen, ihr Wesen wahrnehmen und ihr Verhältnis zu Krankheit und Gesundheit bedenken. Unweigerlich werden in den Zuhörern Gefühle und Erinnerungen geweckt, mit denen sie sich befassen müssen, ob sie ihnen nun willkommen sind oder nicht. Es ist möglich, dass sie im Zuhören von sich selbst überrascht werden, da sie nie im Voraus wissen, was eine solche Geschichte über das Erleben des körperlichen Umbruchs und das Handeln mit dem umbrochenen Körper in ihnen hervorrufen wird. Es kommt vor, dass das, was die Zuhörer hören, sie an ihrem Selbstbild zweifeln lässt oder es sogar erschüttert. Um tatsächlich der Geschichte vom Verlust der gewohnten Körperlichkeit zuhören zu können, muss die Identität der Zuhörer deshalb genügend stark sein, damit sie wohlwollend anzunehmen vermögen, was der Erzähler ihnen zumutet. Solange er von seinem körperlichen Umbruch erzählt, müssen sie bereit sein, sich mit seinem Erleben zu identifizieren und sich selbst zurückzunehmen. Es kann dabei geschehen, dass die Zuhörer ihre inneren Grenzen soweit öffnen, dass sie ganz mit dem Erzähler verschmelzen; es kann aber auch sein, dass seine Geschichte so heftige Spannungen in ihnen hervorruft, dass sie an sich halten müssen, um ihm nicht Gewalt anzutun. Denn indem die Zuhörer dem Erzähler zugestanden haben, sich ihnen gegenüber mitzuteilen, haben sie sich bereit erklärt, für sein Wohlergehen verantwortlich zu sein. Dabei ist das Einlassen auf den Erzähler kein selbstloses Handeln der Zuhörer. Es beruht vielmehr auf einem Mangel, den sie eher unbewusst als bewusst in sich spüren. Indem die Zuhörer einem, der als krank oder behindert bezeichnet wird, zuhören, hoffen sie, durch die Geschichte des körperlichen Umbruch bei sich etwas zu verstehen, was sie sich in ihrem Selbst noch nicht voll und ganz erschlossen haben, von dem sie aber vermuten, dass sie es im Erzähler finden können (vgl. Caruth 1996: 56). Aus dem Wunsch, sich durch das Zuhören in der Identität zu vervollkommnen, ergibt sich, welchen Teilen der Geschichte von den Zuhörern mit erhöhter Aufmerksamkeit gefolgt wird und welche dann von ihnen als wesentlich in ihrem Gedächtnis abgespeichert werden. Auch bei einem körperlichen Umbruch ist die Geschichte, die die Zuhörer hören und die sie in Erinnerung behalten, nie diejenige, die ihnen wirklich über den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erzählt wurde, sondern stets diejenige, die sie auf Grund ihres Selbst daraus gemacht haben.

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4.2

(Re)Strukturieren der Körpergeschichte

Fragen des Arztes: Wer sich an einen Arzt oder andere Spezialisten des Gesundheitswesens wendet, gibt ihnen das Recht, nach ihrem Gutdünken seinen Körper nach dessen Befindlichkeit zu befragen. In seiner Not erhofft sich das Subjekt, dass ihm der Arzt mit seinem standardisierten medizinischen Wissen über Krankheiten etwas erklärt, was er selbst nicht versteht. Der Arzt wiederum ist entsprechend seiner beruflichen Rolle bereit, sich vorübergehend von einem Kranken zum Selbstobjekt machen zu lassen und sein Wissen in dessen Dienst zu stellen. Aus der Art der Beziehung zwischen Arzt und Kranken ergeben sich für ihr Gespräch besondere Bedingungen, die es dem Kranken ermöglichen, auch Einzelheiten seines viszeralen Körpers wie dessen Einwirken auf die äußere Welt durch Kot und Urin zu erwähnen, über die ansonsten unter Erwachsenen schamhaft geschwiegen wird, Bedingungen, die es außerdem dem Arzt erlauben, gezielt danach zu fragen. Es ist vor allem die somatische Dimension der Körperlichkeit seines Patienten, über die sich der Arzt kundig machen will. In der Anamnese versucht er, durch zwei verschiedene Arten von Fragen das Wissensdefizit zu füllen, das ursprünglich nur auf Seiten des Kranken bestand, das aber inzwischen durch ihre Beziehung zu seinem wurde (vgl. Rehbein 1993: 342–360). Wenn das Wissensdefizit klein ist, stellt der Arzt eher Fragen, die den Kranken dazu anregen, seinen Körper selbst genauer als zuvor zu beobachten. Die Fragen veranlassen das Subjekt, möglichst objektiv seine Beschwerden mit Ort, Zeitpunkt und Dauer zu benennen, die besonderen Umstände zu erkunden, unter denen sie auftreten, Vergleiche zu finden, durch die sie sich veranschaulichen lassen, oder sie beschreibend nachzuahmen. Oft sind es Ergänzungs- oder Entscheidungsfragen, die der Arzt stellt, welche die möglichen Antworten schon enthalten, sodass das Subjekt nur auszuführen braucht, was ihm nahegelegt ist. Wenn das zu füllende gemeinsame Wissensdefizit aber noch groß ist, fragt der Arzt eher so, dass das Subjekten mit Hilfe von Geschichten darzustellen beginnt, wie es seine Beschwerden erlebt. Dann schildert es, in welchen Zusammenhang es selbst seine Beschwerden einordnet, wie es sie versteht, was es bereits gegen sie unternommen hat und welche Bedeutung es ihnen gibt. Da solche Erzählungen über die soziale und psychische Dimension des veränderten Körpers für den Arzt meist eher unergiebig sind und sich von ihm mit seinem medizinischen Wissen für die Befunderhebung nur verwerten lassen, wenn er sich seinem eigenen subjektiven Erleben öffnet, um sie in Symptome übersetzen zu können, werden die Geschichten, die das Subjekt zu erzählen begonnen hat, häufig abgebrochen, sobald sie die Information lieferten, für die sie erbeten wurden. Indem der Arzt den subjektiven Gehalt der Antworten verwirft, bekommt er ein immer genaueres Bild vom veränderten Körper seines Patienten; seine Fragen führen zudem beim befragten Subjekt dazu, dass es für seine Beschwerden eine sprachliche Form findet, die es sonst nicht gewonnen hätte. Die Fragen des Arztes geben dem Subjekt eine Sichtweise vor, wie es seinen Körper zu betrachten hat, und sie veranlassen es, seinen Körper selbst entsprechend dem medizinischen Wissen zu befragen, aus dem heraus sie gestellt sind (vgl. Rehbein 1993: 330). Um in seiner Not vom Arzt verstanden zu werden, passt der Kranke seine Ausführungen unwillkürlich dem an, was von ihm vermeintlich erwartet wird.

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Die Anamnese: Wenn ein Arzt bei einem Patienten die Anamnese erhebt, befragt er ihn nicht nur nach den aktuellen Beschwerden. In ihrem Gespräch erkundigt er sich bisweilen zusätzlich nach dessen früheren Krankheiten einschließlich denen der Kinderzeit und denen seiner Eltern und Geschwister, nach der Häufigkeit von Geschlechtsverkehr, Stuhlgang und Wasserlassen, nach Schlaf, Durst und Appetit, nach Gebrauch von Tabletten, Alkohol und Nikotin, nach Familie und Beruf. Während der Arzt den fachlich angezeigten Fragenkatalog abarbeitet, reiht sich übergangslos Frage an Frage. Er hört gleichermaßen Gegenwärtiges wie Vergangenes, wobei die Antworten des Patienten mit nicht-sprachlichen Äußerungen wie plötzlichem Schweigen, tiefem Atmen, Stöhnen oder Seufzen begleitet sind. Wie der Arzt seine Erzählung bewertet, erfährt das Subjekt meist nicht. Ohne auf den Gesprächsverlauf wesentlich einwirken zu können, befindet es sich in einer Abfolge von Frage-Antwort-Sequenzen, deren Zusammenhang sich ihm nicht erschließt, weil es das Schema nicht kennt, nach dem der Arzt bei der Anamnese vorgeht (vgl. Lalouschek 1993, 2002a, 2002b). Nicht da, wo das Subjekt von sich aus Informationen gibt, wird auf sie eingegangen, sondern die Art, wie das Gespräch geführt wird, verlangt von ihm, sie dort zu liefern, wo sie vom Arzt erfragt werden. Vor allem die Erzählungen, in denen das Subjekt seine körperlichen Veränderungen und sein Selbstverständnis darstellt, also von der sozialen und psychischen Dimension seines Körpers berichtet, bleiben als Ganzes ungehört und werden in dem Maße zerteilt, wie der Arzt in der Regel nur die Beschwerden, die auf medizinisch fassbare Symptome verweisen, aufgreift. Damit vermittelt die Anamnese dem Subjekt, dass in der für es lebenswichtigen Beziehung zum Arzt dieser bestimmt, was geschieht, dass seine eigenen Möglichkeiten, sprachlich zu handeln, äußerst gering sind und dass seine bisherige Identität wenig gilt. Weil der Arzt zwar allgemein um Krankheiten weiß, aber diese eine Krankheit, wegen der er in Anspruch genommen wird, im Unterschied zum Kranken nicht an seinem eigenen Körper erlebt, setzt er seine Fragen fort, auch wenn er auf Grund seines medizinischen Wissens in Verbindung mit den Antworten des Kranken schon bald mehr über den veränderten Körper weiß als der Betreffende selbst. Was der Arzt vom Kranken an subjektiven Beschwerden hört, übersetzt er in seinen Gedanken in ihm bekannte objektive Symptome, gleicht den daraus gewonnenen Blick auf den somatischen Körper mit seinem theoretischen Wissen und seinen praktischen Erfahrungen ab, stellt für sich Vermutungen an, um welche Krankheit es sich handeln könnte, und gewinnt daraus die nächste Frage, die er an den Kranken richtet, bis er schließlich sicher ist, genügend zu wissen, um bei diesem Fall weitere Maßnahmen einzuleiten. Bei all dem geht es dem Arzt darum, sein Wissensdefizit zu schließen, das sich ihm in der Konsultation aufgetan hat, und zu erreichen, dass die Krankheit mit genügender Klarheit zu ihm spricht, oder dass er zumindest weiß, mit welchen apparativen Untersuchungen er den somatischen Körper zusätzlich befragen muss, um die richtige Diagnose stellen zu können. Dabei sind die Fragen an den Kranken nur insoweit wichtig, als der Arzt die erforderlichen Angaben nicht schon anderweitig erhalten hat (vgl. Lalouschek 1993: 179). Falls der Arzt bereits vor dem Gespräch mit dem möglichen Patienten Angaben über dessen veränderten Körper bekam, verringert sich, was er in der Anamnese von ihm erfahren will.

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[Prof. Birkmeyer; B.R.] führte uns in den Behandlungsraum. Sein Schreibtisch befand sich in der Mitte des Raumes, ringsherum waren vier durch Vorhänge abgetrennte Kabinen. Er forderte mich auf, mich direkt neben ihn zu setzen, und bat mich, ihm den Verlauf meiner Erkrankung zu beschreiben und die aktuelle Medikation mit der jeweiligen Dosis zu nennen, die er sich notierte.1 Wenn die Angaben des Kranken über seine Beschwerden eindeutig genug aufzeigen, welche Krankheit zu vermuten und wo im Körper sie zu verorten ist, ist es möglich, dass die angebrachten apparativen Untersuchungen des Körpers auch von weiteren Spezialisten des Gesundheitswesens durchgeführt werden. Die beiden stellen sich ganz kurz als Rettungssanitäter vor und sagen: »Notarzt kommt auch gleich. Wo ham Se denn Schmerzen?« Ich schildere alles, und der jüngere von beiden, der aussieht wie Marc, schließt ein EKG-Gerät an mich an, fühlt mir den Puls und misst den Blutdruck.2 Die Diagnose: Was der Arzt in der Anamnese aus der Befragung des Körpers, in der körperlichen Untersuchung aus der Betrachtung seiner Oberfläche und in der apparativen Untersuchung aus dem Blick in seine Tiefe an Erkenntnissen gewonnen hat, fasst er in der Diagnose zusammen. Dazu bedarf es vier geistiger Vorgänge (vgl. Lain Entralgo 1969: 204): Bei der Objektivierung wird für den Arzt erstens die gegebene somatische Körperlichkeit des Kranken in festgelegter Methodik zum Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis und technischer Manipulation. Bei der Induktion schließt er zweitens vom Einzelfall des Kranken auf das Allgemeine der Krankheit. Bei der Interpretation verleiht er drittens den von ihm erhobenen Befunden eine Bedeutung. Und bei der Empathie ist es ihm schließlich viertens möglich, aus seinen Erfahrungen heraus mitzuempfinden, was ein Kranker in seiner Krankheit darstellt. Des Öfteren stellt nicht ein Arzt allein die Diagnose. Gerade bei schwierigen Fällen geschieht es im Austausch mit weiteren Ärzten oder Spezialisten des Gesundheitswesens. Der Arzt bespricht mit ihnen die erhobenen Befunde. Ich werde aus der Röhre gezogen und liegen gelassen, wie ein Stück Fleisch zum Abkühlen. Sie sparen mich aus, versammeln sich vor einem Bildschirm, debattieren, telefonieren abwechselnd. Sie teilen mit, was sie gesehen, erkundet haben. Nur mir nicht.3 Die Diagnose bezeichnet stets dreierlei (vgl. Lain Entralgo 1969: 202f.); sie stellt nämlich allgemein fest, dass das Subjekt nach Auffassung des Arztes wirklich krank ist, nennt spezifisch den genauen Namen der Krankheit und auf der individuellen Ebene beschreibt sie alles, was die Krankheit bei einem bestimmten Subjekt einzigartig macht. Früher oder später wird die Diagnose dem Kranken eröffnet.

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Todes 2005: 104. Huth 2003: 16. Härtling 2007: 44.

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»Herr Lesch, Sie haben Tumorstadium drei, das ist Krebs im relativ weit fortgeschrittenen Stadium, aber Ihre inneren Organe sind Gott sei Dank nicht befallen.« »Das ist ja schön.« Ich versuche, sarkastisch zu sein, aber es gelingt mir nicht so recht.4 Für den Kranken bekommt durch die Diagnose sein Leid einen Namen. Sie ordnet das ungewohnte Geschehen in seinem Körper, das ihn emotional überwältigt hat, in einen Zusammenhang ein, der zumindest für andere verstehbar und handhabbar zu sein scheint. Es gab also keine Diagnose, die alle Krankheiten zusammen umschrieb, sondern drei Hauptkrankheiten, die sich gegenseitig beeinflussen und wiederum weitere Diagnosen und deren »Kinder« mit sich bringen: progrediente Tetraparesen, Muskelschwäche und Muskelatrophien, progrediente Kau-, Schluck- und Sprechschwäche, pseudobulbäres Lachen/Weinen, PEG-Sonde, progrediente Atemmuskelinsuffizienz, Tracheotomie mit invasiver 24-Stunden-Beatmung, Status nach chronischer Bronchialinfektion mit Serratia marescens, Neuralgie des Nervus occipitalis rechts bei cranio-cervikaler Instabilität und Muskelatrophie, Cystofix, Port-à-cath-Implantat, Status nach mehrfacher Sepsis bei Port-à-cath-Katheterinfekt mit Serratia marescens, Status nach mehreren Im- und Explantationen des Port-à-cath, Status nach MRSA-Infektion der Lunge, rheumatoide chronische Polyarthritis mit Polyserositis, Medikamentenunverträglichkeiten, Allergie-Bronchialobstruktion, chronische Hypokaliämie, chronische Anämie, chronischer Eisenmangel, leicht erhöhter Blutdruck und hoher unregelmässiger Puls, Kataplexie, irreversible bilaterale Vestibulopathie (Vestibularisausfall) aufgrund Antibiotikanebenwirkung, spastisches leicht prolongiertes Kolon, Koprostasen, verminderte Peristaltik des Oesophagus und verzögerte Mageneintrittspassage, medial betonte breitbasige Bandscheibenhernie L5/S1.5 Die Diagnose gibt nicht nur dem körperlichen Geschehen einen Namen, sondern auch dem veränderten Körper eine neue Geschichte. Auch wenn sich ihre Bedeutung oft nur den Spezialisten vollständig erschließt, wird durch die Diagnose dem Kranken und den übrigen Mitgliedern der sozialen Systeme, denen er angehört, mit einem Kürzel erzählt, was die Schädigung des Körpers hervorrief, welche Beschwerden dazu passen und welche nicht, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um dem Zustand abzuhelfen, und welcher Ausgang zu erwarten ist, nämlich ob mit vollständiger Heilung, bleibender Beeinträchtigung oder Tod zu rechnen ist. Das weitere Geschehen ist mit der Diagnose vorgegeben. Sollte sich die schreckliche Diagnose bestätigen, wird der Krebs mein wirklicher Drehbuchautor.6 Die Erzählung des Körpers: Die richtige Diagnose gestellt zu bekommen, erleichtert den Kranken selbst dann, wenn sie erwarten lässt, dass die Geschichte, die sein somatischer Körper jetzt erzählt, tödlich enden wird.

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Lesch 2002: 48. Balmer 2006: 78f. Lesch 2002: 29.

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Körperlicher Umbruch

Die Zeit, als die erste Diagnose nach entsprechenden Untersuchungen gestellt wurde, war für mich längst derart bedrohlich, dass mich das »Urteil« einer tödlich verlaufenden Krankheit nicht weiter erschreckte.7 Da erst die richtige Diagnose Gewissheit gibt, was weiter zu tun ist, kann der Kranke von sich aus seinen Arzt fragen, ob stimmt, was er annimmt, erhofft oder befürchtet. Noch während wir durch die Tür gehen, nehme ich ihm den Wind aus den Segeln: »Komm Gerd, Butter bei die Fische: Ich habe Krebs. Richtig?« […] »Ja, Michael! Es ist Krebs. Das ist die schlechte Nachricht. Aber es ist Morbus Hodgkin. Das ist die gute Nachricht. Es ist eine Krebsart, die relativ gut zu therapieren ist.« Nun habe ich also endlich Gewissheit. […] Dieser Seiltanz der Gefühle zwischen Hoffen und Bangen, zwischen »Scheiß drauf« und »Verdammt! Das bedeutet Tod!« – dieser seelische Trapezakt, diese Ungewissheit war weg! Das war es also. Krebs!8 Allerdings kann es den Kranken auch zutiefst erschüttern, wenn er die Diagnose erfährt, die seine körperlichen Beschwerden aus medizinischer Sicht erklärbar macht. Die mit ihr einhergehende neue Körpergeschichte unterscheidet sich so grundlegend von seiner bisherigen, dass ihm all seine Identitätsvorhaben nicht mehr durchführbar zu sein scheinen. Hier las ich den Grund der Einweisung: Verdacht auf entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Durch meine Ausbildung wusste ich, was das bedeutete: Ich war genauso geschockt wie nach der früheren Äußerung des Urologen. Es bedeutete: Verdacht auf Multiple Sklerose. Vor mir lag plötzlich ein Scherbenhaufen. Tränen, Ängste, Wut, alle möglichen Gefühle stürmten auf mich ein. Mein Job, mein Freund, meine Lebensvorstellung bzw. -planung, alles wurde von einer Sekunde zur anderen in Frage gestellt.9 Angesichts des zu erwartenden Verlaufs und möglichen Ausgangs kommen Arzt und Patient in gemeinsamen Handeln bisweilen darin überein, sich eine andere Geschichte zu erfinden. Diese erfundene Geschichte hilft ihnen, sich die unangenehme Wahrheit und die mit ihr verbundenen Gefühle nicht zumuten zu müssen. Nur zufällig erfuhr ich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus durch meinen Hausarzt die Diagnose Multiple Sklerose, wobei er mir im gleichen Atemzug versicherte: »… das glaube ich nicht.« Ich habe mich ihm angeschlossen und wurde für die nächsten Jahre ein Meister im Verdrängen. Auf Fragen nach meinem offensichtlichen Hinken log ich etwas von Rückenproblemen.10 Auch kommt es vor, dass die Spezialisten des Gesundheitswesens davor zurückscheuen, den Zustand des veränderten Körpers zu benennen und dem Kranken seine Diagnose zu eröffnen. Denn sie wissen, dass die damit verbundene Geschichte Komplikationen haben wird, die ihrer eigenen Bewertung nach unangenehm sind. 7 8 9 10

Balmer 2006: 78. Lesch 2002: 41, 42. Ruscheweih 2005: 14. Lürssen 2005: 28.

4. Die aufgehobene Narration

Es ist Montagmorgen. Meine Tür ist offen. Ich höre, wie Leute leise sprechen. Mir wird komisch, mein Herz pocht wie wild. »Oh nein, die Arme!«, höre ich eine Frau flüstern. »Verdammt! Etwas stimmt mit mir nicht. Die verheimlichen mir etwas«, denke ich.11 Wenn allerdings die Geschichte, die durch die Diagnose angeboten wird, nicht zu dem passt, was der veränderte Körper tatsächlich erzählt, vergrößert sich das Leid des Kranken. Das geschieht, wenn der Arzt die Krankheit nicht zutreffend erkennt, nämlich wenn er die Beschwerden seines Patienten nicht richtig als Symptome objektiviert oder die von ihm selbst erhobenen Befunde bei der Befragung des Körpers falsch interpretiert. Zunehmende Gehbeschwerden, Blaseninkontinenz, eine mir unerklärliche körperliche Schwäche, Abgeschlagenheit und Energieverlust ließen mich verschiedene Ärzte besuchen, aber die diagnostizierten immer nur psychosomatische Beschwerden, ganz normal bei einer jungen Mutter mit dieser Belastung.12 Ebenso wie die spezifische Diagnose kann auch die vom Arzt gestellte allgemeine Diagnose falsch sein. Dann wird ein Gesunder für krank, aber auch ein Kranker für gesund erklärt. Dieses Mal war die Diagnose schwieriger. Woche um Woche verging, und der ärztliche Berater weigerte sich, mit mir zu sprechen, während mir Hausärzte und Studenten versicherten, daß alles in Ordnung sei. Erst nachdem ich einen Protestbrief per Einschreiben an seine Privatadresse geschickt hatte, gewährte mir der Berater die Gunst eines Gesprächs. Nach einer langwierigen Untersuchung teilte er mir mit, daß ich sofort operiert werden müßte.13 Die Prognose: Die Diagnose beinhaltet zumeist eine Aussage, wie es mit dem veränderten Körper weitergehen wird. In Hinblick auf die Geschichte, die in der Diagnose erzählt wird, bezeichnet die Prognose die Lösung, die sich in der kommenden Zeit angesichts der gegenwärtigen Komplikationen ergeben wird. Tränen schossen mir in die Augen. Ich musste an das Geschehene denken, an die Diagnose und die Prognose, die mir mein betreuender Arzt vor ein paar Stunden eröffnet hatte. Die Sonne verschwand hinter einem Schleier. Es schien mir, als schwämmen meine Augen in einem Meer von Tränen. Endlich, endlich konnte ich weinen.14 Genaugenommen, sind es jeweils zwei Prognosen, die sich aus einer Diagnose ergeben: Eine Prognose bezeichnet den Ausgang, der zu erwarten ist, wenn die von den Ärzten verordneten und von ihnen und den anderen Spezialisten des Gesundheitswesens durchgeführten Maßnahmen der Therapie erfolgreich sind. »Herr Doktor … eine Frage … die vielleicht wichtigste Frage …« »Ich weiß, ich erwarte diese Frage.« »Welche Chancen geben Sie mir?« »Herr Lesch, wenn Sie das alles über-

11 12 13 14

Balmer 2006: 86. Lürssen 2005: 27. Hull 1992: 25f. Balmer 2006: 11.

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leben, und immer vorausgesetzt, dass keine großen Komplikationen auftreten, dann gebe ich Ihnen eine Heilungschance von 90 vielleicht sogar 95 Prozent.«15 Die andere Prognose bezeichnet den Ausgang, der sich nach medizinischem Wissen dann ergeben wird, wenn der natürliche Verlauf der Krankheit stärker ist. Ich hatte aber auch gefragt, was mit mir geschehen würde, wenn man den Krebs nicht stoppen könne. Dann würden die Lymphknoten größer und größer werden, wie ein Ballon, den man aufbläst. Diese unzähligen Lymphknoten würden lebenswichtige Organe, wie zum Beispiel Lunge oder Leber, infiltrieren, einen mechanischen Druck auf sie ausüben und sie damit außer Funktion setzen. Im Falle der Lunge würde man qualvoll ersticken.16 Bei ein und demselben Krankheitsbild wird die sich daraus ergebende Prognose dem Kranken ganz unterschiedlich mitgeteilt. Es kann ihm in einer Situation in Aussicht gestellt werden, dass sich sein körperliches Befinden verbessern wird: Der ungünstige Ausgang wird dabei lediglich als eine nicht näher zu bestimmende Möglichkeit erwähnt. Eine Computertomographie […] diagnostiziert eine Reihe von Entzündungen entlang der Wirbelsäule, die ihre Spuren hinterlassen haben oder noch akut sind. Sie werden, sagt man mir zurückhaltend, aber offen, möglicherweise im Rollstuhl sitzen: Morgen, in zehn Jahren, nie. Prognosen eines exakten Termins sind nicht möglich. Ich halte mich fest, wie könnte es anders sein, wie mit Krallen fest am »Nie«.17 In einer anderen Situation wird dem Kranken die Prognose so unmissverständlich klar mitgeteilt, dass sie seine falschen Hoffnungen zerstört: Der befürchtete ungünstige Ausgang wird als die Möglichkeit dargestellt, die mit größter Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Dr. Annalena Schmidt, Chefärztin der Querschnittgelähmten-Station in Buch, die später meine Freundin wurde, riet mir damals: »Marianne, quäle dich nicht mit dem Laufen, gewöhne dich an den Rollstuhl.«18 Das Wissen und die Erfahrung des Arztes über den anzunehmenden Verlauf einer Krankheit vermag aber dem Kranken auch Zuversicht zu geben. Das geschieht oft dann, wenn sich der Kranke selbst auf Grund seines eigenen Vorwissens eine ungünstige Prognose stellte. Ich hatte einmal gelesen, daß Gehirnzellen bei Blut- und Sauerstoffmangel in kürzester Zeit absterben und, anders als andere Zellen, auch nicht die Fähigkeit haben, sich zu regenerieren. Demnach hätte ich keine Aussicht gehabt, den Schaden auszuheilen. Ich wäre also zur endgültigen Resignation verurteilt gewesen! Zum Glück konnte mich

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Lesch 2002: 50f. Lesch 2002: 46. Buggenhagen 1996: 40. Buggenhagen 1996: 41.

4. Die aufgehobene Narration

mein Arzt in dieser Hinsicht etwas beruhigen und mir die Hoffnung machen, andere Zellen würden lernen, die Funktion der geschädigten zu übernehmen.19 Manchmal versucht ein Arzt, die als wenig verheißungsvoll bewertete Körpergeschichte, die er seinem Patienten mit der Diagnose überbrachte, dadurch abzumildern, dass er ihm aufzeigt, welche günstige Prognose sie auch beinhaltet. Er tröstete mich, indem er einen angeblichen Vorteil dieser Erkrankung nannte, nämlich die statistisch geringere Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt zu erleiden.20 Wenn der Arzt Maßnahmen vorschlägt, um der Komplikation, von welcher der veränderte Körper seiner Meinung nach erzählt, zu einer guten Lösung zu verhelfen, erzählt er oft seinerseits eine Geschichte, die von sich aus einen ungünstigen Ausgang hat. Denn die aufgezeigte Lösung beinhaltet manchmal, dass zwar die veränderte Körperlichkeit wiederhergestellt werden wird, dass aber als Nebenwirkung andere Organsysteme möglicherweise durch die medizinischen Maßnahmen dauerhaft beeinträchtigt werden. Dann nimmt Dr. Staib das Gespräch wieder auf: »Sie wissen, dass die Chemotherapie gewisse andere Auswirkungen haben kann?« »Nein, das weiß ich nicht.« »Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Substanzen das Langzeitgedächtnis angreifen können oder auch das Kurzzeitgedächtnis. Es gibt solche Fälle.« »Wird sich mein Charakter verändern?« »Man hat beobachtet, dass es bei manchen Menschen durch die Chemotherapie tatsächlich zu Charakterveränderungen kommen kann.« Christina laufen die Tränen übers Gesicht. Ich selbst bin in meinem Stuhl zusammengesunken.21

4.3

Die Sprache der Spezialisten

Die medizinische Fachsprache: Für den Umgang mit dem veränderten Körper wird in dem Teil des Gesundheitswesens, der dem produktiven Bereich der Institution entspricht, die medizinische Fachsprache benutzt. Sie ist über die Jahrhunderte hinweg in der Ärzteschaft gewachsen und in ihrer Bedeutung eindeutig festgelegt. Sie verfügt über eine umfangreiche Nomenklatur, die sich aus dem Griechischen, Lateinischen, Arabischen und neuerdings auch Englischen ableitet und etwa 10.000 verschiedene Bezeichnungen von Körperteilen, Organen und Organteilen, 20.000 Wörter für Organfunktionen und 60.000 Begriffe für Krankheiten kennt (vgl. Löning 1985: 22–24). Indem die Spezialisten des Gesundheitswesens die Fachsprache verwenden, werden von ihnen Krankwerden und Kranksein bezeichnet bzw. von der Norm abweichende körperliche Zustände als Krankheiten benannt, sodass sich von allen weiteren im Gesundheitswesen Tätigen nachvollziehen lässt, was gemeint ist. Die medizinische Fachsprache wird sowohl schriftlich als auch mündlich angewandt und dient vor allem der Verständigung der Spezialisten untereinander. 19 20 21

Peinert 2002: 57. Todes 2005: 14. Lesch 2002: 50.

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Sie reden, ich höre nur halbe Sätze, Sätze mit Löchern. Sie reden über mich. Ich versuche mich aus diesem elenden Zustand zu befreien. Kein Wort gelingt mir, es geht in der Kehle ein. Der Arzt telefoniert mit der Klinik, dem Rotkreuzkrankenhaus in Frankfurt.22 Die medizinische Fachsprache wird auch gegenüber der Öffentlichkeit und im Gespräch mit dem Kranken eingesetzt und verbindet das Denken, Wissen und Handeln der Spezialisten mit der Gesellschaft, in der die Medizin Anwendung erlangt. Wie alle Sprachen dient die medizinische Fachsprache nicht nur dem sprachlichen Austausch, sondern prägt sie auch das Wahrnehmen und Erleben derer, die sie benutzen. Genauso wie sich in ihren Begriffen die medizinischen Erfahrungen niederschlagen, gibt sie durch ihre Terminologie der Alterität vor, wie von einem veränderten Körper zu sprechen ist. Indem die medizinische Fachsprache benutzt wird, vermittelt sie eine bestimmte Ideologie mit einem bestimmten Krankheitsbegriff und mit bestimmten Vorstellungen von Gesundheit (vgl. Schipperges 1976: 6–12, 23–25). Sie folgt dem naturwissenschaftlichen Modell der Medizin und erfasst überaus genau die somatische Dimension des veränderten Körpers. Da sie das subjektive Körpererleben des Kranken und die psychosomatischen Zusammenhänge seiner Erkrankung häufig nicht berücksichtigt, fehlen ihr Begriffe für die soziale und die psychische Dimension des Körpers. Mit medizinischer Fachsprache lässt sich daher nicht gut beschreiben, welche Affekte einen Körper bewegen und welche Motivationen ihn in der Beziehung zur Alterität antreiben oder mit welchen Empfindungen das Subjekt ihn erlebt. Die Sprache des Arztes: Wie der Arzt mit seinem Patienten spricht, weist einige Besonderheiten auf, die der medizinischen Fachsprache zuzurechnen sind (vgl. Löning 1985: 145f.). Zusammen mit den äußeren Bedingungen des ärztlichen Gesprächs, nämlich der asymmetrischen Beziehung und dem institutionellen Rahmen, führen sie dazu, dass eine einzigartige Form entsteht, die sich klar von anderen Gesprächsformen unterscheiden lässt. Das zeigt sich in der Wortwahl. Neben vielen Fremdwörtern, die aus dem allgemeinen Wortschatz stammen, aber nicht zur eigentlichen medizinischen Fachsprache gehören, werden – wenn auch nicht so oft, wie erwartet – spezielle Fachwörter benutzt, deren Inhalt in der Medizin verbindlich festgelegt ist und sich ohne Fachkenntnisse nicht erfassen lässt. Aber [die Ärztin; B.R.] redet sich nicht heraus, erklärt mir, es handle sich um einen Hirninfarkt. […] Kein schwerer, erklärt sie, und es sei mit einer Dilatation abzuhelfen und einem Stent in der Carotis.23 Häufiger benutzt ein Arzt gegenüber dem Kranken allgemeinverständliche Fachwörter oder sogenannte Grenzwörter, die aus dem medizinischen Bereich stammen und auch Laien benutzen, die aber von einem Patienten anders verstanden werden als von einem Spezialisten. Vielfach werden die speziellen Fachwörter auch in allgemein bekannte Begriffe übersetzt.

22 23

Härtling 2007: 9. Härtling 2007: 22, 23, Kursivierung im Original.

4. Die aufgehobene Narration

»Was haben Sie entdeckt, Herr Professor?« Er räusperte sich, als habe er jetzt Probleme mit den Stimmbändern: »Sie haben Lymphknoten im Brustbereich, die in Anzahl und Größe da nicht hingehören.« »Was heißt das auf gut Deutsch?« Professor Schoenemann sah mir offen ins Gesicht: »Herr Lesch, meiner Ansicht nach haben Sie Morbus Hodgkin, eine bösartige tumorhafte Lymphknotenerkrankung. Im Volksmund wird diese Krankheit auch fälschlicherweise als Lymphknotenkrebs bezeichnet.«24 Die Übersetzung gelingt dem Arzt in seinem Gespräch mit dem Patienten nicht immer. Oft ist der Spezialist nicht in der Lage, sich in der Alltagssprache verständlich zu machen. »Das ist egal. Sie haben sich ruhig zu verhalten, wenn sie nicht sterben wollen. Sie sind schwer, aber wirklich schwer krank!«, faucht [die diensthabende Assistenzärztin; B.R.] mich an. »Ich verstehe nicht. Was hab ich denn? Ich weiss doch gar nicht, was eine Infektion im Blut ist«, erkläre ich. »Eine Sepsis!« »Und was ist Himmel nochmal eine Sepsis?« Ich bin wütend über die Assistenzärztin. […] »Sie haben eine schwere Blutvergiftung!«, erklärt sie und verlässt mein Zimmer, schmeisst die Tür zu. »Päng! Und jetzt sitzt du wieder alleine da. Was bedeutet das für mich, eine Blutvergiftung zu haben?«, frage ich mich.25 Schließlich verwendet der Arzt oder die anderen Spezialisten des Gesundheitswesens in den Gesprächen mit dem Patienten oft auch vage Wörter, die allgemein sprachlich verbreitet sind und die sich auf den Bereich Krankheit übertragen lassen. Das ist der Fall, wenn versucht wird, dem Subjekt gegenüber unangenehmen Stellungnahmen zu entgehen oder emotional belastende Wörter zu vermeiden. »Versuchen Sie ja nicht zu baden oder zu duschen, Heather«, warnten mich die Schwestern. »Das Restbein darf unter keinen Umständen naß werden.« Die Schwestern sprachen immer über mein »Restbein«. Vermutlich klang das etwas sanfter als »Stumpf«.26 Weitere Besonderheiten des ärztlichen Gesprächs: Weiterhin unterscheidet sich das ärztliche Gespräch von anderen Formen des Gesprächs durch seinen Stil. In ihm finden sich sprachliche Besonderheiten, die im Alltag wenig üblich sind (vgl. Löning 1985: 150f.). Stereotype wie »Man wird sehen« oder »Es kommt, wie es kommt« gliedern das Gespräch oder gewichten es in einem Maße, wie es in der Umgangssprache nicht geschieht. Der Oberarzt berührt meine Schulter und tröstet mich, dass sicher alles gut komme.27 Die Stereotype werden mit fachsprachlichen Begriffen verbunden. [N]ach kurzer Zeit sah es so aus, als würde das Transplantat vom Körper abgestoßen. Der Grund sei, so Dr. Morgan, wahrscheinlich eine darunterliegende Restinfektion.

24 25 26 27

Lesch 2002: 21. Balmer 2006: 85. Mills 1996: 225. Balmer 2006: 83.

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»Solche Dinge dauern lange«, sagte er. »Versuchen Sie, Geduld zu haben. Wir schaffen es schon.«28 Kennzeichnend für den Stil der Fachsprache ist auch, dass im Gespräch mit dem Patienten die Spezialisten des Gesundheitswesens häufig die Personalpronomina »wir« und »man« verwenden. »Da wird man mit einer Sonde, die durch die Speiseröhre eingeführt wird, einen Eingriff in Ihr Mediastinum, den oberen Brustbereich, vornehmen. Man wird eine Gewebeprobe aus einem der Lymphknoten entnehmen. Und wenn wir dann den Laborbefund haben, wissen wir, ob meine Vermutung zutreffend ist«.29 Es hat zur Folge, dass verunklart wird, wer wirklich verantwortlich ist. Der Oberarzt kann mich gerade noch halten. »Himmel! Sie müssen aber ganz stark husten. Hat man das abgeklärt?«, fragt er den Assistenzarzt.30 Durch die Art, wie die Personalpronomina verwandt werden, kann eine falsche Gemeinschaft geschaffen werden. Lässig steht [der Chefarzt; B.R.] neben dem Bett. »Wie geht es uns denn heute?«, fragt er die Pflegerin und schaut auf das Pflegeverlaufsblatt.31 Wissenschaftliche oder auch schriftsprachliche Wendungen werden meist dann unbewusst angewandt, wenn die emotionale Belastung für den Arzt oder andere Spezialisten des Gesundheitswesens hoch ist. Unmittelbar in Verbindung mit speziellen Fachwörtern werden gegenüber dem Patienten auch unbestimmte Wendungen benutzt, die inhaltlich wenig aussagen. »Sie sehen«, zeigt er auf den Bildschirm. Ich kann nichts sehen! Was er da sehen wolle, frage ich ihn. »Die Carotis«, erklärt er, »sie könnte Ihnen Ärger bereiten!«32 Zum besonderen Stil des ärztlichen Gesprächs gehört schließlich auch, dass es in ihm zu lockeren Wendungen kommt, die nicht zum Anlass des Gesprächs passen. [Dr. Kenny; B.R.] setzte mich in einen Frisierstuhl und band mir ein riesiges Laken um. Dann rasierte er mir mit einem simplen elektrischen Rasierapparat, der abwechselnd schnitt und an meinem Haar zog, alle Haare ab, während er mir alle möglichen lahmen Witze erzählte, um mich abzulenken.33 Die Fachsprache und der Patient: Indem der Arzt im Gespräch mit anderen Spezialisten im Gesundheitswesen, mit dem Patienten oder gegenüber der Öffentlichkeit die medizinische Fachsprache nutzt, um über den veränderten somatischen Körper zu sprechen, gibt er dem Kranken eine Möglichkeit vor, wie dieser selbst über seinen veränderten 28 29 30 31 32 33

Mills 1996: 229f. Lesch 2002: 23. Balmer 2006: 83. Balmer 2006: 61, Kursivierung im Original. Härtling 2007: 18. Todes 2005: 141.

4. Die aufgehobene Narration

Körper sprechen kann. Oft haben ihn Affekte wie Schmerz, Angst und Scham so überwältigt, dass er nicht fähig ist, dem Geschehen schon selbst einen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Die medizinische Fachsprache gibt seinen von ihm als sinnlos erlebten Beschwerden eine Bedeutung, erklärt sie und macht sie scheinbar verstehbar und handhabbar. Sie macht seine Not zu etwas, was zwar in seinem Körper besteht, aber auch unabhängig von ihm vorhanden ist. Auch bietet sie dem Kranken an, durch Objektivierung seiner Beschwerden Abstand von seinem unmittelbaren Leid zu nehmen und in Identifikation mit dem Arzt und den anderen Spezialisten des Gesundheitswesens seinen somatischen Körper sachlich von außen zu betrachten. Sie erlaubt es ihm, sein Selbst zu vergessen und über seine körperlichen Beschwerden unabhängig von seiner Identität zu sprechen. Denn die medizinische Fachsprache fragt den Kranken nicht, wer er ist, sondern sagt ihm, was er hat bzw. was seinem somatischen Körper fehlt. Insofern macht die Krankheit und die Fachsprache, mit der sie bezeichnet wird, alle in ihrem Kranksein gleich. Dadurch, dass der Kranke der Sprache der Spezialisten des Gesundheitswesens ausgesetzt ist, wird ihm ein Verständnis seiner veränderten somatischen Körperlichkeit vorgegeben, die von ihm auszuübende soziale Rolle des Patienten mit Inhalt versehen und die psychische Dimension seines veränderten Körpers wie Körperbewusstsein oder Einstellung zu seinem Körper geformt. Wenn die Spezialisten des Gesundheitswesens in Anwesenheit des Kranken miteinander über ihn sprechen, als wäre er unsichtbar, hört er von ihnen Begriffe über seinen veränderten Körper, die ihn zwar betreffen, von denen er aber zuerst nicht weiß, was sie für seinen Körper, seine Beziehung zu den Anderen oder sein Selbstverständnis bedeuten. Erstmals tauchte das Wort »aufsteigende Querschnittslähmung« auf, mit dem ich noch nicht so viel anfangen konnte und dessen Konsequenzen ich erst recht nicht ahnte. Was bedeutet das, was sich so verharmlosend anhört, wo nur der Wortteil Lähmung etwas beängstigend Bedrohliches hat?34 Es dauert, bis es dem Subjekt gelingt, einen von ihm gehörten Begriff der medizinischen Fachsprache, mit dem etwas über seinen veränderten Körper ausgesagt wird, richtig mit den von ihm erlebten körperlichen Veränderungen zu verbinden. Es gibt kaum einen medizinischen Terminus, den ich während der Untersuchung und der Behandlung meines linken Armes oder auch meines linken Beines so oft gehört habe, wie das Wort Tonus. […] Was dies konkret bedeutet, ist mir lange nicht recht klar geworden. Wenn mein Bein einfach so dalag oder die Finger meiner linken Hand sich trotz größter Willensanstrengung nicht bewegen ließen, war dies offenbar durch die Abwesenheit von Tonus bedingt. Die geschädigten Nerven meines Gehirns konnten nicht mehr für den nötigen Tonus sorgen.35 Wenn das Subjekt verstehen lernt, was die Begriffe der medizinischen Fachsprache bedeuten, gewinnt es aus dem Gespräch der Spezialisten ein Bewusstsein für die veränderte somatische Dimension seines Körpers, das es zuvor noch nicht hatte. 34 35

Buggenhagen 1996: 38. Peinert 2002: 57.

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So machte der Klinikchef seine Studenten bei der Visite auch einmal auf das »faciale« aufmerksam, wie ich am Rande mitbekam, und dabei feststellen mußte, daß mein Gesicht wohl doch etwas schief geworden war.36 Folgt der Kranke dem Gespräch der Spezialisten über seinen Körper, hört er, wie sie ihn sachlich als ein Objekt beschreiben, das von ihnen zu behandeln ist. Auch wenn sie dabei allgemeine Fachwörter benutzen, die ihm vertraut sind, wird ihm wieder einmal vermittelt, dass er in diesem Augenblick als Subjekt nicht anwesend ist. Die Stimme wird lauter, meint nicht mich, sondern ein paar Unsichtbare, die offenbar beobachtend helfen: »Verflixt, jetzt hat der auch noch einen Pilz in der rechten Leiste. Soll ich links rein?«, fragt er mich, sich, die andern.37 Der Arzt als Doktor: Um den Kranken dazu zu bringen, in die Verletzung seiner körperlichen Grenzen einzuwilligen, wie sie vielfach mit einer medizinischen Behandlung verbunden ist, muss der Arzt seinen Patienten davon überzeugen, dass die von ihm geplante Maßnahme dem Anliegen dient, das ihre Beziehung begründete. Um sein Ziel zu erreichen, kann der Arzt verschiedenes tun. Beispielsweise erzählt er seinem Patienten von sich und der Anerkennung, die ihm in seiner Berufsrolle zukommt. In ernsterem Ton beschrieb Prof. Birkmeyer mir dann seine neue Medikation, die intravenös verabreicht wurde. Er erklärte nicht sehr viel, sondern skizzierte seine Theorie in seiner für ihn typischen, leicht großspurigen Art blitzschnell auf einem Blatt Papier und erwähnte, er werde im Oktober einen Vortrag zu seiner Behandlungsmethode halten und eine amerikanische wissenschaftliche Zeitschrift habe einen von ihm verfassten Artikel zu dieser Methode bereits angenommen.38 Als gesellschaftlich anerkannter Spezialist für veränderte körperliche Zustände veranschaulicht der Arzt dem Kranken außerdem, was er in der Tiefe von dessen Körper fand. Wenn er davon überzeugt ist, dass die von ihm geborgenen Objekte für sich sprechen, belegt er seine Auffassung damit, dass er seinem Patienten diese Objekte konkret vor Augen führt. »Ich habe zwei Tumore entfernt. Wenn du willst, kannst du sie sehen.« »Ja.« Und er zeigt mir die beiden Dinger. Sie schwimmen in einem relativ großen Reagenzglas. Sie schimmern bläulich-rot und haben die Größe von Pflaumen. Und ich denke mir: »Ganz schön groß und dick, diese Lymphknoten.«39 Auch kann der Arzt die Bilder, die er beim Blick in die Tiefe des veränderten Körpers gewann, in einer Weise erklären, dass sein Patient affektiv berührt wird. »Das Herz«, sagt er. »Sehen Sie.« Ich sehe den Draht, die Schlange, die schwarzen Wolken, die sie voraussendet. »Da ballt es sich. Da ist es zweimal zu. Kein Spaß.« Der kleine Ballon an der Spitze des Strangs weitet sich, ein wütendes Köpfchen drückt den Kalk

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Peinert 2002: 36. Härtling 2007: 12f. Todes 2005: 104. Lesch 2002: 39.

4. Die aufgehobene Narration

an die Wand der Ader. Jetzt kann das Blut wieder fließen. Eine Narbe bleibt. »Nur« – die Pause weitet sich drohend und die Angst fördernd aus –, »nur die zweite Stauung können wir erst beim nächsten Mal dilatieren. Ja?«40 Um den Kranken von den von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen zu überzeugen, setzt der Arzt ferner sein Fachwissen ein. Er verweist darauf, was für langfristige Vorteile sich daraus ergeben, wenn der Kranke seiner Auffassung folgt, auch wenn die Behandlung, die er auf Grund des von ihm erhobenen Befundes vorschlägt, zuerst einmal erschreckt. »Ich habe das Gefühl, die Infektion ist auf den Knochen übergegangen«, sagte Dr. Angel, als er mich untersuchte. »Wenn das stimmt, ist das sehr gefährlich. Es sieht so aus, als müßten wir weiter amputieren.« »Noch mal?« Ich starrte ihn ungläubig an. »Wieviel werden Sie denn abnehmen?« »Ein paar Zentimeter reichen vermutlich«, meinte er. »Wir stehen hier in einem Dilemma, weil das Bein verheilen könnte, auch wenn ich nicht weiter schneide. Aber vielleicht tut es das nicht, und erst wenn es verheilt ist, können Sie Ihre Prothese bekommen.« Mir gefiel der Gedanke nicht, noch mehr von meinem Bein zu verlieren, aber Dr. Angel beruhigte mich. »In gewisser Hinsicht ist es sogar ein Vorteil. Mit einem kürzeren Stumpf kann die Prothese leichter angepaßt werden.«41 Mitunter nutzt der Arzt die Asymmetrie in der Beziehung zum Patienten, um das Subjekt dazu zu bringen, den ihm vorgeschlagenen Maßnahmen zuzustimmen. Der Arzt betont die Ungleichheit zwischen ihnen und hält aus seiner Rolle heraus dem Kranken vor, sich nicht entsprechend den Pflichten verhalten zu haben, die er als Patient zu erfüllen hat. Nach dem Telefon besucht mich die an diesem Wochenende diensthabende Assistenzärztin. Sie schimpft mit mir, ohne mich zu grüssen: »Sind Sie noch bei Trost. Sie sollten sich möglichst ruhig verhalten und nicht noch herumtelefonieren.«42 Mit der Asymmetrie ihrer Beziehung kann der Arzt auch derart umgehen, dass er die Ungleichheit zwischen ihnen aufhebt und auf eine vermeintliche Gleichheit zwischen ihnen verweist. Er verleugnet ihre unterschiedliche Haltung zu der von ihm vorgeschlagenen Körperverletzung und fordert seinen Patienten auf, sich mit ihm zu identifizieren und seine Angst zu überwinden. Das Risiko einer Hirnblutung, eines Hirnschlags oder beides zusammen erhöhte sich seiner Einschätzung nach von 0,5 auf 2 Prozent. Andererseits konnte diese Operation effektiver sein. Der Professor war gern zu ihr bereit, wenn ich den Mut habe, zuzustimmen. Dies hatte er herausfordernd und mit dem Selbstvertrauen eines international anerkannten, hochbegabten stereotaktischen Chirurgen geäußert. Ohne auf eine Antwort von mir zu warten, brauste er davon, nachdem er erklärt hatte, er komme später, um meine Entscheidung zu erfahren.43

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Härtling 2007: 13. Mills 1996: 243f. Balmer 2006: 85. Todes 2005: 140f.

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Dadurch, dass der Arzt seinen Patienten darauf verweist, wie dringlich es angesichts der körperlichen Veränderung ist, sofort zu handeln, entzieht er sich einem weiteren Gespräch über den Sinn der von ihm geplanten Maßnahme. »Jetzt zählt jede Sekunde. Wir bringen Sie ins Katheterlabor. Sind Sie einverstanden?« Los!44 Von Seiten des Kranken wird schließlich auf ein weiteres Gespräch mit dem Arzt über den richtigen Umgang mit seinem veränderten Körper verzichtet. Der Professor fragte, ob ich mich jetzt festlegen wolle. Zu Lilis Entsetzen antwortete ich: »Entscheiden Sie, nur sagen Sie mir bloß nicht, wofür!«45

4.4

Sprachliches Einüben

Die Krankenakte: Die Geschichte, die der Arzt oder die übrigen Spezialisten des Gesundheitswesens im veränderten Körper finden, wird von ihnen in der Krankenakte schriftlich aufgezeichnet. Dort wird in der medizinischen Fachsprache festgehalten, was bei der Befragung des Körpers und ihrem Blick in seine Tiefe an Erkenntnis gewonnen, mit welcher Diagnose sein Zustand bezeichnet und mit welchen Maßnahmen sein Befinden beeinflusst wird. Wie jede Geschichte erzählt auch diese Geschichte nicht die Wahrheit, sondern nur das, was der Erzähler seinen Zuhörern vermitteln will. Die Krankenakte schafft ein bereinigtes Bild dessen, was stattgefunden hat, verdichtet das Geschehen um den kranken Körper und stellt es in eine Ordnung, die medizinisch sinnvoll erscheint. Durch ihr Vorhandensein schafft die Krankenakte neue Tatsachen, auf die sich andere beziehen. Die Spezialisten des Gesundheitswesens entnehmen aus ihr, was bisher getan worden ist und was weiter getan werden sollte, und Juristen können anhand der Geschichte, die in der Krankenakte erzählt wird, überprüfen, ob an dem veränderten Körper so gehandelt worden ist, wie es nach aktuellem medizinischen Wissen angemessen ist. Für alle in der Institution Gesundheitswesen tätigen Spezialisten bildet sie die sachliche Grundlage, auf der sie den Kranken ansprechen und seinen Körper behandeln (vgl. Berg 2008: 80f.). In den Beziehungen zu den Ärzten und den anderen Spezialisten des Gesundheitswesens merkt der Kranke, dass es Informationen über ihn und seinen Körper geben muss, die ihm zwar nicht mitgeteilt wurden, ihnen aber wohl vertraut sind. Ich müsse mich sowieso dringend neurologisch untersuchen lassen. Weshalb, erklärt [mein Hausarzt; B.R.] mir nicht. Alle, an die ich mich wende, halten sich zurück, sind vorsichtig.46 Während der Kranke nicht weiß, was die Anderen über ihn wissen, weil er nicht weiß, was über ihn geschrieben steht, beeinflussen die Informationen über ihn, die der Alterität zugänglich sind, die Art und Weise, wie sie mit ihm umgeht. 44 45 46

Huth 2003: 22. Todes 2005: 142. Härtling 2007: 22.

4. Die aufgehobene Narration

Es mußte einen entsprechenden Vermerk in meiner Patienten-Akte gegeben haben, denn neue Schwestern, besonders diejenigen im Nachtdienst, beschworen mich regelmäßig, ihnen doch bitte keine Schwierigkeiten zu machen.47 Die Geschichte über seinen kranken Körper begleitet das Subjekt, wenn es sich von einem Spezialisten zum nächsten begibt. Einer der Männer legte mir die ›die Akte‹ auf die Brust, den Laufzettel, auf dem alles steht, was ich nicht weiß.48 Oft gelangt sie auch unabhängig vom Subjekt dorthin, wohin es gebracht wird. Meine Begleiter schieben mich über die Grenze. Wahrscheinlich sind mir die Papiere vorausgeeilt. Die Befunde.49 Die Krankenakte kann zudem den Arzt begleiten, wenn er mit seinem Patienten sprechen will. Der jüngere, etwas gedrungene, sich gelassen bewegende Mann kommt auf mich zu, im Gang vor seinem Zimmer, da bleiben wir und ziehen uns nicht zurück für die wichtige Besprechung. In einer Mappe bringt er die mir inzwischen bekannten Aufnahmen aus dem Kernspin mit.50 Wenn die Botschaft der Krankengeschichte empfangen wird, vermag sie unmittelbar ein weiteres Handeln der Spezialisten veranlassen. Der Assyrer blättert en passant in dem Faszikel und wird mit einem Mal schneller. »Augenblick. Bleiben Sie stehen und verschwinden Sie mir auf keinen Fall. Ich muss telefonieren.«51 Die Kontrolle der Krankengeschichte: Die Geschichte, welche die Spezialisten des Gesundheitswesens über seinen Körper verfassen, ist dem Kranken nicht zugänglich. Nur wenn er ausdrücklich danach fragt, ist es ihm erlaubt, selbst Einsicht in seine Krankenakte zu nehmen und zu lesen, was über seinen Körper geschrieben steht; solches Ansinnen wird allerdings von den Spezialisten nicht gerne gesehen. Auch vermag der Kranke nicht zu beeinflussen, was in in seiner Krankengeschichte über ihn und seinen Körper festgehalten wird. Was sie beinhaltet, erfährt er nur in Ausschnitten, wenn er zufällig dem Gespräch der Spezialisten über seine beeinträchtigte Körperlichkeit beiwohnt oder wenn sie das Gespräch mit ihm suchen. Den Bedingungen der Institution folgend ist es ein Gespräch zwischen ungleichen Partnern: Auf der eine Seite steht der Kranke, vereinzelt und losgelöst aus seinen gewohnten sozialen Beziehungen, in Leid und Sorge wegen seiner veränderten Körperlichkeit und auf Abhilfe durch die Spezialisten hoffend, denen er sich hingab, auf der anderen Seite der Arzt, in vertrauter Rolle eingebunden in seine Bezugsgruppe, als anerkannter Spezialist für veränderte körperliche 47 48 49 50 51

Peinert 2002: 30. Härtling 2007: 47. Härtling 2007: 41. Härtling 2007: 31. Härtling 2007: 55.

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Körperlicher Umbruch

Zustände in voller Entscheidungs- und Handlungskompetenz dem kranken Körper gegenüber und einen Fall gleich dem anderen mit objektivierendem Blick behandelnd. Die Ungleichheit zwischen Arzt und Krankem führt dazu, dass zum größten Teil der Arzt die Themen ihres Gesprächs setzt und der Kranke von sich aus allenfalls noch Details ansprechen kann. Das ist unabhängig davon, ob das Gespräch inhaltlich mehr sachinformativ, organisatorisch, beziehungsrelevant oder psychologisch ausgerichtet ist. Die Ungleichheit zwischen ihnen erlaubt es dem Arzt zudem auszuweichen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, falls es ihn emotional belasten sollte, dem Kranken Inhalt und Bedeutung seiner Körpergeschichte zu vermitteln. In seiner Rolle steht es dem Spezialisten frei, Fragen des Patienten zu übergehen oder nicht zu beachten, das Thema zu wechseln, auf dessen Äußerungen nicht inhaltlich einzugehen, sondern dessen Verhalten in ihrer Beziehung anzusprechen oder vorzugeben, über wichtige Informationen noch nicht zu verfügen. Die Ungleichheit in der asymmetrischen Beziehung von Arzt und Patient wirkt sich dabei nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form ihres Gesprächs aus. Im klinischen Alltag läuft es weitgehend ritualisiert ab. Der Beginn und das Ende des Gesprächs werden üblicherweise vom Arzt bestimmt, und er ist es auch, der meistens spricht. Sein Redeanteil liegt zwischen mehr als 60 und weniger als 85 Prozent, außerdem unterbricht er seinen Patienten viel häufiger, als er von ihm unterbrochen wird (vgl. Löning 1985: 156). Bei der täglichen Visite am Bett des Kranken, die ungefähr drei bis vier Minuten dauert, spricht der Arzt etwa die Hälfte der Zeit, die begleitende Krankenschwester etwa ein Viertel und der Patient ebenfalls ein Viertel. Nur in 40 Prozent seiner Redezeit ist der Arzt dabei auf den Kranken bezogen, in den übrigen 60 Prozent auf die ihn begleitenden Spezialisten (vgl. Siegrist 2005: 256). Der Patient wird nur insoweit befragt, als die benötigten Angaben zu seinem Körper nicht anderweitig zu bekommen sind. Es klopft. Der Chefarzt betritt mit sämtlichen Therapiedisziplinen und Pflegeangestellten mein Krankenzimmer. Lässig steht er neben dem Bett. »Wie geht es uns denn heute?«, fragt er die Pflegerin und schaut auf das Pflegeverlaufsblatt. »Ehm, nun ja, sie …«, antwortet die für mich zuständige Pflegerin verlegen. Ich koche vor Wut: »Wie es Ihnen geht, weiss ich nicht. Mir geht es jedenfalls nicht besonders.«52 Indem die im Gesundheitswesen tätigen Spezialisten in Anwesenheit des Patienten über dessen veränderten Körper sprechen, bestätigen sie sich auch darin, wie gut sie ihre berufliche Rolle auszuüben wissen. [Der Professor; B.R.] legte den Kopf zur Seite, stemmte die Arme in die Hüfte, schaute mich, seinen Patienten, an, und sagte zu seinem Assistenzarzt, dem Hausmeister, den Ordensschwestern, den Krankenschwestern und, zur Sicherheit, seiner Sekretärin: »Eigentlich wollte ich es nicht sagen müssen, aber was seht ihr?« Von allen Seiten kam Zustimmung: »Das Gesicht ist lebendiger!« – »Das Lächeln ist so viel schöner!« Alle sahen irgendwo etwas Positives.53

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Balmer 2006: 61, Kursivierung im Original. Todes 2005: 146.

4. Die aufgehobene Narration

Im Gespräch der Spezialisten über den kranken Körper bleibt bisweilen unbeachtet, was der Kranke ihnen mitzuteilen hat, selbst wenn er es eindringlich vorbringt. »Ich habe keine Kraft mehr!«, schrieb ich in grossen Buchstaben und von der Anstrengung völlig durchnässt auf, während die Assistenzärztin sich mit ihrem Arztkollegen unterhielt.54 Um unter sich bleiben zu können und um nicht mit dem Kranken sprechen zu müssen, wird von den Spezialisten des Gesundheitswesens bisweilen auch die Unwahrheit gesprochen. Kommt nun der Doktor?, fragte ich in die unruhige Runde. Einer von ihnen lügt beherzt: »Er wird Sie auf dem Zimmer besuchen.« Dorthin bringen sie mich.55 Informationen durch den Arzt: Durch das ungewohnte körperliche Geschehen im eigenen Selbst verunsichert und verloren in der Komplikation seiner Körpergeschichte, verlangt es den Kranken nach dem klärenden Gespräch mit dem Arzt. Gerade wenn das verletzte, verunfallte oder erkrankte Subjekt sich als Patient im Krankenhaus aufhält, ist das Sprechen beinahe die einzige Möglichkeit sozialen Handelns, die ihm verblieben ist, um zu klären, wer es in seiner Identität ist. Um seine Sprachlosigkeit angesichts der von ihm nicht einzuordnenden Veränderungen seines somatischen, sozialen und psychischen Körpers zu überwinden und die durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit aufgehobene Narration doch fortzuführen, ist das Subjekt darauf angewiesen, von den Spezialisten, die es aufgesucht hat, Informationen zu seinem veränderten Körper zu erhalten. Es geht dabei um drei Aspekte (vgl. Siegrist 2005: 254): In kognitiver Hinsicht sind es Informationen, die den Kranken die durch die Krankheit entstandene Lage verstehen und annehmen lassen. Außerdem können Informationen auf emotionaler Ebene ihm in der zu verarbeitenden Belastung Halt geben. Schließlich zeigen ihm Informationen über die Prognose auf, wie er sich gegenüber seiner Krankheit angemessen verhält. Im Gespräch mit dem Arzt erfährt das Subjekt, dass die Veränderung seines Körpers die Zeit beschleunigt hat und dass sie auch den Ort bestimmt, an dem es sich aufzuhalten hat. Ganz ernst sagt der Professor: »Herr Lesch. Sie kennen jetzt meinen Verdacht. Sollte er sich bestätigen, dürfen wir keine Zeit mehr verlieren! Dann zählt jeder Tag.« »Was schlagen Sie vor?« »Na ja. Sie bleiben jetzt erst mal hier bei uns in der Klinik und kurieren Ihre Lungenentzündung aus. Donnerstag schicke ich Sie dann in eine Spezialklinik nach Wuppertal.«56 Das Subjekt hört vom Arzt, dass die Geschichte, die sein Körper jetzt erzählt, nicht nur die Zeit und den Raum seines Erlebens beeinflusst, sondern auch seine Beziehung zur Alterität. Dem Kranken wird mitgeteilt, dass er selbst im Krankenhaus von den übrigen Mitgliedern der Institution abgesondert werden muss und eine besondere Kleidung zu tragen hat, da sein Körper für andere zur Gefahr wurde. 54 55 56

Balmer 2006: 74. Härtling 2007: 44f. Lesch 2002: 23.

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Körperlicher Umbruch

»Die Laboruntersuchung vom Lungensekret letzten Freitag hat ergeben, dass Sie MRSA (Multi-Resistenter-Staphylococcus-Aureus) haben. Sie müssen nun in Isolation leben, bis der Keim nicht mehr nachweisbar ist«, erklärt die Stationsärztin und schliesst die Tür hinter sich. »Was ist MRSA?«, frage ich. »Das Bakterium ist sehr resistent, und greift vor allem Menschen mit geschwächtem Immunsystem an. Der Keim kommt fast nur in Krankenhäusern vor, und wurde im Laufe der Entwicklung wegen der übertriebenen, aber notwendigen Hygiene gegen fast alle existierenden Antibiotika resistent. Deshalb muss man eine Verbreitung in Krankenhäusern verhindern«, erklärt die Ärztin. »Wie lange geht das, bis die Antibiotika wirken?« »Wochen bis Monate. Manchmal bringt man ihn gar nie mehr weg. In dem Fall müssen die von MRSA betroffenen Patienten bei Kontrollen oder Besuchen im Krankenhaus andere Patienten schützen, indem sie Mundschutz, Handschuhe und Roben tragen.« Die Ärztin nimmt sich sehr viel Zeit, um mir auf alle meine Fragen zu antworten.57 Indem der Arzt die fachsprachlichen Begriffe in Alltagssprache übersetzt, wird dem Subjekt dargelegt, dass die Maßnahmen, die den Spezialisten des Gesundheitswesens angebracht erscheinen, um sein körperliches Leid zu lindern, sich auch auf seine Körperlichkeit in ihrer somatischen, sozialen und psychischen Dimension auswirken und mögliche Vorhaben beeinträchtigen. »Sie werden jetzt von uns nach unserer bewährten Beacopp-Methode behandelt.« […] »Herr Doktor, was heißt das konkret für mich?« »Sie werden acht ChemotherapieZyklen bekommen. Das funktioniert so: Sie müssen pro Zyklus jeweils drei Tage ins Krankenhaus und erhalten dort die verschiedenen Infusionen der Zellgifte. Danach können Sie für eine Woche nach Hause. Dann bekommen Sie noch einmal eine Infusion, die zirka anderthalb Stunden dauert. Das kann man ambulant machen. Und die ganze Prozedur wiederholen wir dann, im Abstand von jeweils drei Wochen, acht Mal hintereinander.« Dr. Staib sieht mich eindringlich an: »Herr Lesch, Ihr Leben wird sich verändern. Sie werden Ihre Haare verlieren – als äußeres Zeichen. Sie werden möglicherweise unfruchtbar werden. Zwar erlangen viele Patienten nach der Chemotherapie ihre Zeugungsfähigkeit wieder, aber manche auch nicht. Sollte bei Ihnen noch ein Kinderwunsch bestehen, sollten Sie vorher noch Sperma einfrieren lassen.«58 Sprechen und Handeln gegenüber dem Kranken: Was über den veränderten Körper erzählbar ist und wie es geschehen kann, bekommt das Subjekt als erstes von den Spezialisten des Gesundheitswesens aufgezeigt. Jedes Mal, wenn sie ihm erklären, wie sie sein körperliches Befinden bezeichnen und welcher Maßnahmen es ihres Wissens und ihrer Erfahrung nach bedarf, um den beeinträchtigten Zustand seines Körpers zu bessern, geben sie dem Subjekt ihren objektivierenden Blick auf seinen Körper vor. Sobald es dem Arzt gelungen ist, für sich in der Anamnese zu erschließen, was der Kranke über seinen veränderten Körper weiß, sich durch seinen Blick in dessen verborgene Tiefe zusätzliche Erkenntnisse verschafft und sein Wissen mit den anderen Spezialisten des

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Balmer 2006: 86. Lesch 2002: 48, 49.

4. Die aufgehobene Narration

Gesundheitswesens geteilt hat, steht dem Subjekt eine Sprache zur Verfügung, mit der es die ihm selbst nicht fassbare Veränderung seiner gewohnten Körperlichkeit zu benennen vermag. In der Arzt-Patient-Beziehung geschieht es täglich immer wieder neu, dass der Kranke hört, wie von den Spezialisten des Gesundheitswesens die Geschichte seines veränderte Körpers erzählt wird. Das Subjekt nimmt auf, wie sie seiner veränderten Körperlichkeit begegnen, wenn sie ihm ankündigen, welche Handlung sie in Kürze an seinem Körper vollziehen werden. Ich werde aufgerufen, angesprochen. »Sie bekommen jetzt die zwei Spritzen. Sie kennen das ja. In die Leiste.«59 Wenn es eine Handlung ist, die dem Patienten schon bekannt ist, ist es den Spezialisten möglich darauf zu verweisen, dass sie einer Vorerfahrung gleichen wird. Wenn die Handlung, die die Spezialisten vornehmen wollen, unbekannt ist, müssen sie sprachlich genauer erklären, was zu tun ihrer Meinung nach der veränderte Körper verlangt. »Es ist doch etwas mit dem Herzen«, sagt [die Ärztin; B.R.], »wir müssen sofort eine Katheteruntersuchung durchführen.« Ich verstehe nicht. »Was bedeutet das?«, frage ich. »Was ist ein Katheter?« Sie erklärt: Ein Schlauch wird durch eine Vene am Bein bis zum Herzen geführt. Dort wird der Verschluss mit einem Ballon aufgesprengt.60 Dazu gehört, dass die Spezialisten dem Kranken in ihrem Gespräch so gut, wie es ihnen möglich ist, die Begriffe ihrer Fachsprache in die Alltagssprache übersetzen. Dadurch lernt das Subjekt die ihm gegenüber verwendeten Fremdworte verstehen. »Lieber Herr Lesch«, erwidert Professor Schoenemann. »Jetzt müssen wir erst einmal noch ein paar Voruntersuchungen machen. Als Erstes eine Beckenkammstanze.« »Wozu das?«, frage ich ihn genervt. »Was ist das überhaupt?« »Wir entnehmen aus Ihrem Beckenknochen Knochenmarksubstanz und sehen nach, ob es schon von Krebs befallen ist. Das ist wichtig für die Chemotherapie. Außerdem müssen wir noch Ihre Leber punktieren. Aus dem gleichen Grund.«61 In der Beziehung zwischen Arzt und Patienten kann aber auch auf das Gespräch verzichtet werden. Der somatische Körper ist bisweilen so schwerwiegend verändert, dass es dem Subjekt nicht wichtig ist, eine sprachliche Erklärung zu erhalten, sondern tatkräftige Hilfe. »Ich glaube, mich hat eine Grippe erwischt«, sage ich, und meine Zähne klappern. »Ja, das glaube ich auch. Trotzdem machen wir zur Sicherheit noch eine Blutentnahme, um ein systemisches Geschehen auszuschließen«, erklärt der Oberarzt. »Was auch immer ein ›systemisches Geschehen‹ ist, Hauptsache man unternimmt endlich etwas«, denke ich.62

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Härtling 2007: 12. Huth 2003: 22. Lesch 2002: 44. Balmer 2006: 84.

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Auch kommt es vor, dass der Arzt es von sich aus für unnötig hält, vorab zu erklären, was dem Subjekt bevorsteht. Manchmal vollzieht er Handlungen am kranken Körper oder leitet weitere Maßnahmen ein, ohne dass er sie vorab seinem Patienten ankündigte. Dieses Mal, erfahre ich, braucht es den Krankenwagen. Die Fahrt führt weg von der Neurologie, ins Zentrum, auf den Campus. Wieso, erfahre ich nicht. Eine weitere Untersuchung. Sie halten mich dumm und dumpf.63 Bei anderen Maßnahmen, die der Arzt am veränderten Körper durchführen ließ, teilt er seinem Patienten nicht mit, was sie erbrachten. [Bei der Kernspintomographie; B.R.] erfuhr ich lediglich, dass weiße Punkte zu sehen seien, aber definitive Äußerungen bekam ich weder von dem Radiologen (Röntgenarzt) noch von meinem Neurologen.64 Zum Einüben der Fachsprache, zu dem es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit im Krankenhaus und den übrigen Institutionen des Gesundheitswesens tagtäglich kommt, gehört schließlich, dass auch die Angehörigen in ihre Erzählung gegenüber dem Kranken aufnehmen, was sie von den Spezialisten des Gesundheitswesens über seinen veränderten Körper erfahren haben. Manchmal öffnete ich die Augen und sah Raffaele, Ruth oder Fiona neben meinem Bett. Sie teilten mir dann die letzten Neuigkeiten mit, die ihnen die Schwestern über meinen Zustand gegeben hatten.65

4.5

An den Grenzen des Erzählens

Nicht Erzählbares: Als sprachliche Form und soziales Handeln setzt das Erzählen dem Erzähler Grenzen und kann es die Zuhörer an ihre Grenzen bringen, es kann aber auch selbst begrenzt sein. Für psychotische Zustände ist es kennzeichnend, dass das Selbst des Subjekts nicht genügend ausgebildet oder in sich zu inkohärent ist, als dass es fähig wäre, Geschehnisse und eigenes Verhalten beobachtend mitzuteilen. Die Identitätsarbeit mittels Narration ist dann aufgehoben. Dasselbe ist der Fall, wenn etwas geschehen ist, das für den Erzähler oder die Zuhörer das Maß an Ungewöhnlichkeit übersteigt, als dass es von ihnen noch zu verarbeiten wäre. Solange ein Geschehnis das Selbst überwältigt, lässt es sich nicht erzählend in die Identität einbauen. Der Erzähler bleibt sprachlos, unfähig zu fassen, was er mitteilen will. Er kann sein Selbst nicht mehr erzählend entäußern, weil ihm entweder die Worte fehlen oder er von Worten überfließt, ohne mit ihnen etwas zu sagen. Im Bemühen, sich zu vermitteln, versucht der Erzähler, seine Schilderung mit der Wiedergabe von Lauten und wörtlicher Rede zu ergänzen. Oder er schafft Inszenierungen, um handelnd darzustellen, was er nicht zu erzählen vermag. In nicht narrativen Elementen wie im Versagen seiner Stimme, im

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Härtling 2007: 46f. Ruscheweih 2005: 16. Mills 1996: 220f.

4. Die aufgehobene Narration

Stottern, im Abbrechen eines Satzes, im Verstummen oder in anderen Auffälligkeiten des Sprechens drückt sich aus, was das Subjekt nicht benennen kann. Jenseits der Grenzen dessen, was die Zuhörer mit ihrem Selbst anzuhören vermögen, unterbinden sie eine Geschichte, indem sie sich vom Erzähler abwenden oder ihm die Zeichen der Anteilnahme verweigern, die er braucht, um sich ihnen gegenüber zu öffnen, oder indem sie ihm sein Erzählen ganz verbieten. Weiterhin verhindern die Zuhörer ein Erzählen dadurch, dass sie in sich erst gar nicht den Raum geteilten Erlebens und gemeinsamen Fühlens entstehen lassen, den wie jede Geschichte auch die des körperlichen Umbruchs braucht, um sich zu entfalten. Wenn in der Alterität nicht erzählt werden kann, muss aber nicht unbedingt geschwiegen werden. In scheinbarer Narration wird die Leere fehlender Geschichten durch Gerede ersetzt; oder es wird gelogen, womit jeweils der sozialen Verpflichtung des Erzählens entsprochen wird. Denn wer schweigt, macht sich verdächtig. Er weckt bei den Anderen Fantasien und regt sie zu der Frage an, was er wohl zu verbergen habe. Aus welchen Gründen auch immer die Narration aufgehoben ist, führt ihr Fehlen dazu, dass weder das Subjekt sein Wesen und die Ganzheit und Vielfalt seines Lebens in den von ihm erzählten Geschichten für sich erfahren oder den Anderen erfahrbar machen kann noch diese sich zuhörend in seinen Geschichten erkennen. Das Subjekt wird einsam, weil es den Bezug zu sich und den Anderen verliert, während den sozialen Systemen der Zusammenhalt abhanden kommt, sobald das Erzählen misslingt oder unterbleibt. Wenn das Subjekt mit seinem Erzählen die Alterität überhaupt nicht mehr erreicht, ist sein Leben gefährdet. Unterlassenes Zuhören: Wenn das Subjekt sich infolge der schwerwiegenden Veränderungen seiner gewohnten Körperlichkeit entschließt, den produktiven Bereich des Gesundheitswesens für sich in Anspruch zu nehmen, bringt es sich weitgehend um die Möglichkeit, der Alterität von sich zu erzählen oder den von ihr erzählten Geschichten zuzuhören. Obwohl das Zuhören allgemein als wesentliche Bedingung gilt, die von den Ärzten oder den übrigen Spezialisten des Gesundheitswesens erfüllt sein sollte, damit sie gut mit ihren Patienten umgehen können, sieht es das soziale System, dem sie alle angehören, nicht vor, dass der Kranke all das Ungewöhnliche, das er nun jeden Tag mit sich, seinem Körper und den Anderen erlebt, in Geschichten entäußert. Außer zu den Mitpatienten, von denen er aber häufig wegen des besonderen Zustandes seines somatischen Körpers getrennt ist, gibt es für das kranke Subjekt keine Beziehung auf gleicher Ebene, aus der heraus ein Erzählen und Zuhören möglich wäre. Nur wenige der im Gesundheitswesen tätigen Spezialisten achten wirklich genau auf die Sprache desjenigen, dessen Körper sich verändert hat, und auf seine Erzählungen (vgl. Broom 2000). Da die Geschichte, der sie zuhören, für die Spezialisten des Gesundheitswesens nur so weit von Bedeutung ist, wie sie dazu dient, den Umgang mit dem Patienten zu steuern, endet ihre Bereitschaft zur Identifikation, die es braucht, um ihn zu verstehen, oft, sobald der Zweck ihres Zuhörens erreicht ist. Zu einer sie berührenden zwischenmenschliche Begegnung mit dem Subjekt, das sich ihnen in seiner Not anvertraut, kommt es meist nicht. In der Beziehung zu den mit seinem Körper befassten Spezialisten des Gesundheitswesens erlebt der Kranke immer wieder, dass seine Subjektivität wenig zählt; sein Bedürfnis nach Narration wird kaum erfüllt. Das Subjekt,

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das darauf besteht, sich der Alterität, auf die es nach Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit bezogen ist, mitzuteilen, löst eher Ärger aus. Ein Weg, es am weiteren Erzählen zu hindern, besteht darin, dass die Spezialisten des Gesundheitswesens aus der Überlegenheit ihrer beruflichen Rolle den Patienten für psychisch gestört erklären. Ich zupfte am Ärmel der Ärztin und schrieb noch einmal: »Ich habe keine Kraft mehr!«, und unterstrich meine niedergeschriebenen Worte auf dem Papier. Die Assistenzärztin verlor […] die Nerven. Sie schrie mich und den Pfleger, der ja nur mein Bestes wollte, an. Sie wolle jetzt schlafen, ich solle mich entspannen und auch versuchen zu schlafen. Der Pfleger solle einfach nicht mehr ins Zimmer kommen, um nach mir zu schauen, die Krise würde von selbst vorübergehen, ich würde mich dann schon »beruhigen«.66 Ein anderer Weg, den die Spezialisten des Gesundheitswesens wählen, um dem Kranken nicht zuhören zu müssen, besteht darin, dass sie seine Geschichte als inhaltlich unberechtigt darstellen. Mit der Zeit sah man mir die Überdosis an, und was eine vollständige Heilung hatte bewirken sollen, erzeugte ein Übermaß an Grimassen und überschießende Bewegungen. Spätabends kam Obeso endlich vorbei und fragte gereizt: »Was ist denn los?« Ich erzählte, wie furchtbar das ganze Erlebnis gewesen war. Für ihn gab es jedoch keinen Anlass zur Sorge. Er erklärte es als eine Dosisschwankung und erläuterte, er wolle die »schwarzen Gebiete« in meinem Verlaufsprotokoll, das heißt die Off-Zeiten, beseitigen.67 Nur selten findet das Subjekt unter den Spezialisten des Gesundheitswesens Zuhörer, die bereit sind, seine Geschichte mitfühlend anzunehmen. Bisweilen wird von ihnen sein weiteres Erzählen so feinfühlig verhindert, dass der Patient denkt, es geschehe zu seinem Besten. Das Subjekt fängt gar nicht an zu vermuten, dass es den institutionellen Ablauf gestört haben könnte, als es sich mit seinem Bedürfnis durchsetzte, seine Geschichte zu erzählen. Einmal konnte ich dies Gefühl, zur Passivität verurteilt, ja gefesselt zu sein, nicht mehr aushalten, und ich klingelte so gegen Mitternacht nach der Schwester. Was hätte ich ihr als Grund für meinen Notruf nennen können? Ich entschied mich für die Wahrheit und beichtete meine unruhigen Ängste. Sie hat mich aufgerichtet und dann etwa eine Stunde auf meiner Bettkante gesessen und mir zugehört. Das erleichterte mich, und ich war selten so dankbar für Verständnis und Hilfe. Seitdem erhielt ich ein Schlafmittel und habe dann die Nächte ruhiger und besser überstanden.68 Wenn bei Spezialisten des Gesundheitswesens die Bereitschaft fehlt, dem Kranken zuzuhören und sich auf sein Erleben einzulassen, begründen sie es ihm gegenüber mitunter damit, dass es für sein Befinden besser sei, wenn er sich nicht mitteile. Dass es bei dieser Begründung eher darum geht, den institutionellen Ablauf oder das Wohlergehen der Spezialisten zu sichern, lässt sich vom Kranken allenfalls mittelbar erschließen. 66 67 68

Balmer 2006: 75. Todes 2005: 90. Peinert 2002: 44.

4. Die aufgehobene Narration

Die Assistenzärztin verbot mir dann gänzlich die schriftliche Kommunikationsform mit allen Personen und nahm mir mein Notizbuch weg. Sie meinte, ich dürfe nichts mehr schreiben, weil ich mich erholen müsse, das habe vorhin der Chefarzt verordnet. Sie erkannte nicht, dass das Mitteilungsverbot mich noch ohnmächtiger und schwächer machte. Mit dem Verbot erhoffte sie, ihre nächtliche Ruhe zu bekommen. Sie hatte die »mühsame Patientin« zum Schweigen und damit zur Resignation gebracht. Ich litt leise in der Seele, im Körper laut röchelnd vor mich hin.69 Geringes Vertrauen: Innerhalb des sozialen Systems Gesundheitswesen ist das Erzählen sowohl für diejenigen erschwert, die es als Kranke aufsuchen, als auch für diejenigen, die in ihm als Spezialisten tätig sind. Denn in der Institution ist eine wesentliche Voraussetzung nicht gegeben, die jedes Erzählen braucht, nämlich das Vertrauen zueinander. Die Beziehungen seiner Mitglieder sind in hohem Maße dadurch gekennzeichnet, dass ein offener Umgang miteinander nicht möglich ist und dass sie sich wechselseitig untereinander über ihre wahren Affekte und Motivationen täuschen (vgl. Baecker, 2008: 45): So täuschen die Spezialisten des Gesundheitswesens die Patienten, indem sie ihnen unzutreffende Angaben über eine mögliche Heilung machen. Überwacht und unterstützt von der Verwaltung des Krankenhauses, in dem die Ärzte tätig sind, täuschen sie wiederum die Krankenkassen über die Notwendigkeit medizinischer Maßnahmen. Die Kranken täuschen ihrerseits die Spezialisten über das Ausmaß ihrer Bereitschaft, den von ihnen getroffenen Anordnungen zu folgen. Die Krankenkassen schließlich täuschen die Kranken über den Umfang ihrer Finanzierungsbereitschaft. Auch die Zeichen der Anteilnahme, welche die Spezialisten von sich geben, sind oft unecht. Dem Kranken teilt sich dadurch mit, dass sie letztlich nicht gewillt sind, sich auf sein Erleben einzulassen. Die Schwester bestätigt mich: »Das hat Sie sehr angestrengt«, sagt sie, nah an meinem Ohr. Es ist eine andere, nicht der milde Trost der Nacht. Sie haben es gelernt zu beschwichtigen, zu trösten.70 Der Kranke zieht es vor, den Spezialisten des Gesundheitswesens nicht die Wahrheit über sein körperliches Befinden zu sagen. Um ihnen zu entkommen, wird ihnen eine Besserung der körperlichen Beschwerden angezeigt. Ich wurde entlassen, obwohl beträchtliche Schmerzen blieben, obwohl es mit dem Laufen schlechter geworden war, was ich vor den Ärzten verheimlichte, stattdessen sogar Besserung vorlog. Es sollte nicht sein, was nicht sein durfte. Die Lähmung des linken Beins, die Blasenschwäche – ich behielt für mich, was ich für Schwäche hielt, die niemanden außer mir selber etwas anging. In meinem Beruf konnte ich so gut wie gar nicht mehr arbeiten, nur tageweise.71

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Balmer 2006: 75f. Härtling 2007: 14. Buggenhagen 1996: 36.

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Ist die Befürchtung, mit der zu erzählenden Geschichte nicht angenommen zu werden, groß, weil die Spezialisten nicht zum Zuhören bereit sind, ist das Verstummen des Patienten eine andere mögliche Folge, die sich ergeben kann. Oft musste ich schweigen, um massive Konflikte zu vermeiden, und zugleich wegschauen, um mich nicht über eine falsche Handhabung ängstigen zu müssen. »Und …«, ich wagte kaum auszusprechen, was ich dachte. »Ja?«, fuhr mein Arzt fragend dazwischen. »Nichts.« Ich hatte nicht den Mut, nicht einmal demjenigen Menschen, dem ich so viel anvertraue, zu sagen, dass ich überzeugt war, sterben zu müssen.72 Ohne zwischenmenschlichen Raum: Beim Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung geschieht dem Subjekt innerhalb des Gesundheitswesens wie auch außerhalb dieses sozialen Systems Vergleichbares. Hier wie dort wird der zwischenmenschliche Raum des geteilten Erlebens und gemeinsamen Fühlens, den seine Geschichte braucht, um sich zu entfalten, von den Zuhörern verschlossen. Es geschieht dadurch, dass sie das subjektive Erleben des Kranken grundsätzlich in Frage stellen oder es relativieren. »Denk doch an die armen schwarzen Kinder in Afrika. Sie müssen so Hunger leiden!«, versucht mich ein Pfarrer mit der Berufsbezeichnung Seelsorger zu trösten.73 Hier wie dort weigern sich die Zuhörer vorne herein, in ihrem Gespräch das subjektive Erleben des Kranken überhaupt zuzulassen. »Wie geht es Ihnen?«, fragt mich die Frau. Ich halte an, atme tief ein und … »Ach wie schön, Ihnen geht es gut; Sie sehen ja auch gesund aus«, fährt mir die Frau dazwischen, bevor ich ein Wort aussprechen kann.74 Hier wie dort kann der veränderte somatische Körper des Kranken die Alterität so entsetzen, dass für seine Zuhörer das Maß an Ungewöhnlichkeit überschritten ist, das sie noch aushalten. Vielfach sind bei einem körperlichen Umbruch selbst vertraute Angehörige so sehr mit sich beschäftigt, dass sie gar nicht in der Lage sind, die Geschichte des veränderten Körpers anzunehmen. Statt dessen brauchen sie selbst Zuspruch. Gestern Abend hat mich Christina weinend gefragt: »Warum? Warum hat es dich erwischt? Warum ausgerechnet du?« »Liebling, es hat keinen Sinn, sich darüber zu beklagen. Wir müssen jetzt einfach stark sein. Es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser ganzen gottverdammten Welt. Es ist Schicksal. Und dem können wir nicht entfliehen. Da ist irgendwo jemand, der hat dieses Buch geschrieben. Und in diesem Buch steht drin: Lesch überlebt, oder Lesch überlebt nicht. Wir haben nur eine bestimmte Zeit auf Erden.«75 Unabhängig davon, ob der Körper in seiner somatischen oder in seiner sozialen Dimension so verändert ist, dass die Geschichten, die mit ihm erlebt werden, nicht mehr er-

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Balmer 2006: 139. Balmer 2006: 90. Balmer 2006: 59f. Lesch 2002: 81.

4. Die aufgehobene Narration

zählbar sind, führt die Unmöglichkeit, sich erzählend des eigenen Selbst zu versichern, dazu, dass sich das Identitätsempfinden des Subjekts verringert. Es vermag nicht mehr, mit Gewissheit etwas über sich auszusagen. Wie gern würde ich diesen liebevollen Anrufen etwas anderes als mein Schweigen entgegensetzen. Die sanfte Florence spricht nie mit mir, wenn ich nicht vorher laut in den Hörer geatmet habe, den Sandrine an mein Ohr hält. »Jean-Do, bist du da?« fragt Florence beunruhigt am anderen Ende. Ich muß sagen, daß ich es manchmal selbst nicht mehr so recht weiß.76 Besondere Momente: Jedoch ist auch bei einem körperlichen Umbruch die Narration nicht völlig aufgehoben. In vertrauten Beziehungen gibt es Augenblicke, in denen erfüllt ist, was es braucht, damit der Kranke sich der Alterität mitteilen kann. Lili saß auf einem Stuhl mir gegenüber und sah angewidert aus. Sie lehnte jede Teilnahme an einer Operation, die derart unerprobt war und solche unvorhersehbaren wie auch irreversiblen Effekte auslösen konnte, entschieden ab. Ich dagegen spielte mit dem Gedanken, es zu riskieren. Wir diskutierten sehr lange miteinander.77 Aber auch in solchen Gesprächen ist der veränderte Körper mitunter so gegenwärtig, dass es nur möglich ist, mit innerem Abstand über ihn zu sprechen, aber nicht unmittelbar zu erzählen, was der Kranke subjektiv mit ihm erlebt. Am Morgen rufe ich meine Eltern an und erzähle ihnen von meiner Infektion im Blut. »Was genau ist eine Infektion im Blut?«, fragt mein Vater.78 Ebenso gibt es Augenblicke, wo das Subjekt sein Selbst erfährt, weil ihm die Alterität mitteilt, was für sie gerade bedeutsam ist. Ihren Geschichten zuzuhören, beruhigt den Kranken. Es vermittelt ihm, dass trotz des körperlichen Umbruchs sich nicht das ganze Leben verändert, sondern dass auch manches seinen gewohnten Gang beibehält. Ich nutze Sandrines Anwesenheit, um mit einigen Nahestehenden verbunden zu sein und Lebensbruchstücke aufzuschnappen, so wie man einen Schmetterling einfängt. Meine Tochter Céleste erzählt von ihren Spazierritten auf dem Pony. In fünf Monaten wird sie neun. Mein Vater erklärt mir seine Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Er macht tapfer sein dreiundneunzigstes Lebensjahr durch. Das sind die beiden äußersten Glieder der Kette aus Liebe, die mich umgibt und schützt.79 Falls das erkrankte Subjekt in seiner Körperlichkeit wahrgenommen und ihm ein Raum zum Erzählen angeboten wird, ist es dann oft so überrascht, dass es die Möglichkeit, von sich erzählend seine Gegenwart mit seiner Zukunft zu verbinden, gar nicht zu nutzen weiß. Schnell dreht [die siebenjährige Lia; B.R.] sich und kommt sicheren Schrittes auf mich zu. »Du! Wenn du einmal gestorben bist, möchtest du lieber verbrannt oder mit gan76 77 78 79

Bauby 1997: 43. Todes 2005: 141. Balmer 2006: 84f. Bauby 1997: 43.

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zem Körper begraben werden?« »Ehm, das weiss ich ehrlich gestanden noch nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden«, antworte ich verblüfft und unsicher. Wieder wendet sie sich von mir ab und geht auf den Balkon hinaus, als sei für sie die Frage beantwortet und erledigt. Ich diskutiere mit ihrer Mutter. Kurze Zeit später steht Lia wieder neben mir, streicht meinen Arm, hält ihren Kopf verlegen schräg. »Hast du dich nun entschieden?«, fragt sie weiter und fummelt an meinen Unterarmhaaren.80 Auch innerhalb des Gesundheitswesens findet sich bisweilen eine Alterität zum Zuhören bereit, sodass es dem Subjekt möglich ist, durch sein Erzählen das gegenwärtige Erleben mit vergangenen Erfahrungen zu verbinden. Bei diesem Aufenthalt im Leverkusener Klinikum hatte ich glücklicherweise eine sympathische Bettnachbarin. Jeden Abend erzählten wir uns Teile unserer Lebensgeschichten […].81 Selbst zu den Spezialisten des Gesundheitswesens können Beziehungen entstehen, die dem Kranken helfen, das überwältigende körperliche Geschehen durch Erzählen zu verarbeiten. Da ihm von den Spezialisten des Gesundheitswesens meist nicht zugehört wird, wenn er über die Belastungen spricht, die sich durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergeben, werden ihm die Begegnungen um so bedeutsamer, in denen er eine echte Anteilnahme erfährt. Es war wohl am folgenden Tag, daß ich einer freundlichen Krankenschwester, die bereit war, dem etwas redseligen Patienten zuzuhören, das Erlebnis mit der fremden Hand erzählte. […] Ich habe während meiner Krankheit immer wieder erlebt, wie wichtig einem solche Menschen werden. Sie helfen durch ihr offenes Ohr und die Anteilnahme, die sich darin ausdrückt, aus Angst und Unruhe heraus.82

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Balmer 2006: 130. Lürssen 2005: 36. Peinert 2002: 26.

5. »Ich bin in einer Krise.« – Moratorium für das überwältigte Selbst

Wenn dem Subjekt etwas geschieht, das sein Selbst überwältigt, kann es in eine Krise geraten. Es weist in seinem Verhalten Auffälligkeiten auf, die als psychiatrisch krank gelten und bis zur Suizidalität reichen, und ist in seiner Fähigkeit, im Alltag angemessen zu handeln, beeinträchtigt. In der gewohnten Selbstbezogenheit verunsichert erscheint es zudem narzisstisch gestört. Damit sich das Subjekt mit dem Geschehen auseinandersetzen und die Identität neu bestimmen kann, gesteht die Alterität ihm ein Moratorium in Form einer besonderen Zeit und eines besonderen Ortes zu; dabei ist es vorübergehend von seinen üblichen Verpflichtungen entlastet. Indem es eine Einstellung findet, wie auf das Geschehen zu antworten ist, lassen die psychischen Spannungen nach. Im Folgenden wird zunächst geschildert, wie das Subjekt durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit in die Krise gerät (5.1). Danach wird bezogen auf sein Erleben beschrieben, welche psychiatrischen Auffälligkeiten bei einem körperlichen Umbruch bestehen (5.2), was die beeinträchtigte Handlungsfähigkeit ausmacht (5.3) und wie die narzisstische Störung zu verstehen ist (5.4). Schließlich wird dargelegt, was das Moratorium kennzeichnet und wie zu seinem Ende die Identitätsarbeit wieder aufgenommen wird (5.5). Damit zeigt das Kapitel, wie der Verlust der gewohnten Körperlichkeit und seine Folgen sich psychisch auswirken und das Selbst bewusst werden lassen.

5.1

Der Weg in die Krise

Mögliche Anlässe: Wenn das ungewohnte körperliche Geschehen und dessen Folgen das Selbst überwältigen oder wenn die für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden Veränderungen der gewohnten Körperlichkeit das Kohärenzempfinden so vermindern, dass dem Subjekt nicht nur die Krankheit, sondern sein ganzes Leben als sinnlos erscheint, dann ist es in einer Krise. Grundsätzlich können alle Ereignisse eines Lebens, die für das Subjekt nicht zu erwarten oder vorherzusehen waren, die Identität in eine Krise führen (vgl. Filipp/Aymanns 2010: 13–49). Der Weg in die Krise ist ähnlich,

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unabhängig davon, was für ein Ereignis ihn angestoßen hat. Es kann sich um ein äußeres Geschehen handeln, um einen Todesfall, eine Beförderung, eine Krankheit, eine Eheschließung, eine Gewalttat, einen Lottogewinn oder eine Naturkatastrophe. Oder aber es verändert sich etwas im Selbst, dem Subjekt ist etwa auf einmal bewusst geworden ist, wie stark sein Selbst- und Fremdbild auseinanderfallen oder wie sehr sein Leben von dem abweicht, was es sich vorgenommen hat. Meist tritt die Krise nicht unvermittelt auf. Oft gehen ihr Veränderungen voraus, die das Subjekt zwar wahrnimmt, auf die es aber nicht angemessen antwortet. Bei einem körperlichen Umbruch lassen sich diese Veränderungen in der somatischen, sozialen und psychischen Dimensionen der Körperlichkeit ausmachen: In der somatischen Dimension betreffen sie, wie die Umwelt in den sensomotorischen und den viszeralen Körper aufgenommen wird und wie er auf sie einwirkt. Aber bis ich im Wagen war – Pia, es war schrecklich. Die Treppe zu nehmen – eine Katastrophe. Links das Geländer, rechts ein Sanitäter und einer hinter mir, um mein linkes Bein auf die nächste Stufe zu setzen. Von der Haustür zum Krankenwagen mussten sie mich mehr tragen, als dass ich gelaufen bin. Es war einfach furchtbar wieder so hilflos zu sein.1 Auch Wohlbefinden und willentliche Steuerung des somatischen Körpers sind nicht mehr so, wie sie vor dem Unfall, der Verletzung oder der Erkrankung gewesen sind. Das alles gab mir das Gefühl, daß ich mich in einer Umgebung befand, die außer Kontrolle gerät. Ich hatte das Gefühl, daß um mich herum alles verschwimmt, daß das Unvorhersagbare mir auf Schritt und Tritt begegnet.2 Ebenso ist der Umgang mit Raum und Zeit einschließlich ihrer Erweiterung durch die bis dahin geschulten Fähigkeiten und erworbenen Fertigkeiten und das Erleben von Grenzen mit den dazu gehörenden Affekten anders geworden. Zudem schmerzte es mich, meine Wohnung völlig meinen Eltern zu überlassen, die diese kündigen, räumen und renovieren mussten.3 In der sozialen Dimension der Körperlichkeit kommt es zu Veränderungen bei den Beziehungen zur Alterität und bei den Formen der Hinwendung zu den Anderen. Eine Welle von Kummer hat mich überwältigt. Théophile, mein Sohn, sitzt brav neben mir, sein Gesicht ist fünfzig Zentimeter von meinem entfernt, und ich, sein Vater, habe nicht das simple Recht, mit der Hand über sein dichtes Haar zu streichen, ihn in seinen flaumigen Nacken zu zwicken, seinen glatten, warmen kleinen Körper ganz fest zu umarmen. Was soll ich dazu sagen? Ist es ungeheuerlich, ungerecht, eine Sauerei oder entsetzlich? Plötzlich bringt es mich um. Tränen steigen auf, und meiner Kehle entringt sich ein krampfhaftes Röcheln, bei dem Théophile erschauert. Keine Angst, kleiner Mann, ich liebe dich.4 1 2 3 4

Ruscheweih 2005: 20. Hull 1992: 69. Balmer 2006: 33. Bauby 1997: 73.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

Die Fähigkeit zum Einhalten von Normen, Werten, Traditionen und Konventionen, die Ausübung von sozialen Rollen und die Verortung in den sozialen Systemen ist nicht mehr möglich wie zuvor, ebenso der Umgang mit Gleichheit und Verschiedenheit und das Erkennen der Alterität. Vielleicht sollte ich mich ändern und mich in meiner Beurteilung von Frauen weniger von meiner männlichen Konditionierung leiten lassen, aber es tut weh, daß mir diese Veränderung allein durch mein Blindsein aufgezwungen wird.5 In der psychischen Dimension der Körperlichkeit schließlich erstrecken sich die Veränderungen bei einem körperlichen Umbruch auf das neuropsychologische Körperschema, das psychodynamischen Körperselbst und die Körperidentität. Sie wirken sich auf das Selbst als Ganzes aus, auf das Einssein mit sich und auf die Geborgenheit in der Welt. Dieses Grübeln nahm mir alle Zuversicht, selbst die Freude, mich an die vielen schönen Erlebnisse meines Lebens zu erinnern. Erinnerungen taten mir weh. Ich empfand es als unerträglich, daß ich solches nie wieder erleben würde.6 Des Weiteren verändert sich die Haltung gegenüber der Begrenztheit des Lebens und der eigenen Sterblichkeit und das Maß an Freiheit gegenüber den Umständen, die das Leben bestimmen. In den verschiedenen Dimensionen der Körperlichkeit geschieht dem Subjekt etwas, das ihm fremd ist. Wenn dieses Geschehen deutlich über das hinausgeht, was von ihm ansonsten in seinem Alltag aus den bisherigen Erfahrungen heraus verarbeitet werden kann, weiß es nicht, wie es damit umzugehen hat. Wenn dazu noch die Ressourcen in den sozialen Systemen, auf die das Subjekt üblicherweise zurückgreift, unzureichend sind, wird das Geschehnis kritisch. Präkritische Phase: Präkritisch engt sich das subjektive Erleben auf das eine Ereignis ein, bis es in der Krise das ganze Selbst beherrscht (vgl. Kick 2005: 74–79). Wenn das Subjekt seine gewohnte Körperlichkeit durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung verliert, passt sein Körper mehrfach nicht mehr, nämlich zu der Umwelt, die es geprägt und die es gestaltet hat, zu den sozialen Systemen, in denen es mit der Alterität gelebt hat, sowie zu seinem Selbst und zu seiner Identität mit ihrer Lebensgeschichte und ihren übergeordneten Lebenszielen. Daß ich im Schwesternhaus auf der 5. Etage wohnte, machte jeden Weg zur Qual, das verneinende Lächeln auf die Frage, ob mir etwas fehle, erst recht. Ich war überfordert. Mit der Situation, mit meiner Umwelt, vor allem mit mir selbst.7 Das Ansinnen des Subjekts ist präkritisch vor allem darauf ausgerichtet, den Zustand wieder herzustellen, der davor bestand und der verglichen mit dem drohenden Verlust jetzt als besser erachtet wird. Da der Blick auf andere Lebensbereiche verloren geht, nimmt das Subjekt nur noch wahr, was mit dem Geschehnis an sich zu tun hat; sein 5 6 7

Hull 1992: 38. Peinert 2002: 43. Buggenhagen 1996: 36.

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Körperlicher Umbruch

gesamtes Fühlen, Denken und Begehren ist darauf bezogen. Es empfindet, dass etwas grundlegend anders ist, ohne schon bestimmen zu können, was ihm widerfahren ist, geschweige denn es bewusst erfassen, also mit seinen Vorerfahrungen vergleichen und anderen Lebensbereichen verbinden zu können. Das Subjekt ist in sich verunsichert, denn die Identität, wie sie bis dahin entstanden ist, reicht nicht aus, um das Geschehnis zu verarbeiten, und die Verunsicherung wird allgemein. In diesen Tagen begann sich mein Leben langsam irgendwie aufzulösen. Alles wirkte bedrohlich. Ich war da in etwas hineingeraten, das ich selbst nicht mehr so recht steuern konnte.8 Die gewohnte Körperlichkeit verloren zu haben, weckt im Subjekt heftige Affekte. Da hat mich eine seltsame Euphorie erfaßt. Ich war nicht nur exiliert, paralysiert, stumm, halb taub, aller Freuden beraubt und auf ein Quallendasein herabgemindert, sondern obendrein war ich auch noch gräßlich anzusehen. Ich habe den nervösen Lachanfall bekommen, den eine Serie von Katastrophen auslöst, wenn man nach einem letzten Schicksalsschlag beschließt, diesen als Scherz aufzufassen.9 Angesichts der Erschütterung des gewohnten Selbst empfindet das Subjekt Angst. Mitte Dezember 1981 geriet ich das erste Mal im Zusammenhang mit meiner Blindheit in Panik. […] Ich ging aus dem Haus, aber schon nach wenigen Metern spürte ich, wie mich wachsende Zweifel überkamen. Ich wurde mir hochgradig der Tatsache bewußt, daß ich durch ein Nichts ging. Es war ein sehr interessantes, kaltes Nichts. Ich arbeitete mich an den Zäunen entlang vorwärts, wollte sogar die Handschuhe ausziehen, damit ich sie besser spüren konnte, wußte aber, daß das zu kalt sein würde. Das Empfinden, daß ich nirgendwohin kam, wurde stärker. Ich war allein und ging in die Nacht eines endlosen Tunnels tiefer Kälte. Ich wußte, daß ich, wenn ich in ihn eintrat, nie mehr herausfinden würde. Ich wäre verloren. Ich hatte das Gefühl, daß mein Untergang unmittelbar bevorstand.10 Das Subjekt empfindet Wut. Es richtet seine Wut als Zorn, Bitterkeit und Rache nach außen und macht die Alterität verantwortlich für das Geschehen. Ich hasse diese Ärzte. Ich hasse alle Schwestern! Ich hasse mein Leben. Ich hasse diesen Beutel. Verdammt, wie ich diese Krankheit hasse!11 Oder es richtet seine Wut als Selbsthass und Selbstbezichtigung nach innen, wenn das Ereignis auf eigenes Versäumnis zurückgeführt wird. Es kommt vor, dass die Wut sich mit Trauer mischt. Als ich mich unter Schmerzen an dem Haltegriff wieder hochzog, kämpften viele Gefühle in mir miteinander. Ich war schockiert und wütend, fühlte mich betrogen. Aber

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Lesch 2002: 45. Bauby 1997: 26f. Hull 1992: 61f. Lesch 2002: 105.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

am meisten empfand ich Trauer. […] Unvermittelt erschien der Verlust all dieser Dinge, so trivial manche auch waren, unerträglich, und die Tränen liefen mir übers Gesicht.12 Das Selbstwertempfinden schwankt zwischen Großartigkeit und Minderwertigkeit. Die Identität droht, ganz von der lähmenden Vorstellung bestimmt zu werden, einem scheinbar nicht beeinflussbarem Geschehen hilflos ausgesetzt zu sein. Der von den Spezialisten des Gesundheitswesens als krank bezeichnete Teil des Körpers beherrscht das Körperselbst, und der von der Krankheit in Besitz genommene Körper besetzt seinerseits wiederum das Selbst. Das war die Zeit, in der ich tief verzweifelt war. Das waren die Jahre, in denen mein Schlaf von schrecklichen Träumen heimgesucht und mein waches Leben von dem Bewußtsein erdrückt wurde, daß ich unaufhaltsam immer tiefer in das Blindsein hineingetragen wurde.13 Doch noch ist es dem Subjekt möglich, die Spannungen aus eigener Kraft zu lösen. Dafür muss es sich eingestehen, wie gefährdet jetzt in diesem Augenblick sein Selbst ist und dass es in seinem Wesen anders ist, als es von sich dachte. Es muss grundlegende Fragen zu seinem Selbstverständnis zulassen und die Mühe auf sich nehmen, die es braucht, um die Einstellung zu sich, seinem Körper und seiner Alterität zu ändern. Auch ist es dem Subjekt noch möglich, die Überwältigung seines Selbst abzuwenden, indem es sich dem Ereignis durch Flucht zu entziehen versucht oder indem es sich Normen, Werten, Traditionen und Konventionen zuwendet, die ihm in seiner Verunsicherung Halt geben. Wenn das Subjekt weiterleben will, als sei ihm nichts geschehen, wenn es unverändert fortsetzen will, was es davor begonnen und geplant hat, und wenn es nichts unternimmt, die aufgekommenen Spannungen in seiner Identität zu verringern, wächst seine Verzweiflung. Das ganze Leben gerät aus dem Gleichgewicht. Das Verhältnis zwischen dem Körper, der Alterität und dem Selbst, wie es sich bis dahin ausgebildet hat, mag dieses Verhältnis vielleicht auch unbefriedigend gewesen sein, besteht nicht mehr. Die Jahre 1974 bis 1976 blieben ein körperliches und psychisches Auf und Ab, ein Chaos ohne Konstanten, an denen man sich festhalten konnte, ein krampfhafter Versuch, mit strampelnden Beinen Boden unter den Füßen zu gewinnen – und dennoch wähnte ich mich im ständigen freien Fall. Ich kam mit der ganzen Situation nicht klar.14 Dann spürt das Subjekt Gegensätze in sich, die es in unterschiedliche Richtungen drängen und die es nicht vereinbaren kann. Das Subjekt bleibt im Zweifel, was das Richtige ist, und haftet an überwertigen Vorstellungen, die es nicht aufzugeben vermag. Selbst jetzt ist ihm noch ein Heraustreten aus der Verzweiflung möglich, nämlich wenn es einen Entschluss fasst, der zugleich Verzicht ist. Erleben der Krise: Auch wenn ein Geschehnis zu einem kritischen Ereignis wird – etwa dadurch, dass es in den sozialen Systemen, denen das Subjekt angehört, selten

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Mills 1996: 226. Hull 1992: 208. Buggenhagen 1996: 39.

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Körperlicher Umbruch

oder außergewöhnlich ist –, hängt es nicht allein von dessen Merkmalen und Eigenschaften ab, ob es das Selbst überwältigt und eine Krise auslöst. Vielmehr ist es das erlebende Subjekt, das dem Geschehnis erst seine Bedeutung gibt und es zu dem Ereignis macht, dass es in die Krise führt. Ein und dasselbe Geschehen wird von verschiedenen Subjekten jeweils anders wahrgenommen und gedeutet und hat damit für jedes seine unterschiedlichen Folgen. Je nach dem, in welchen Lebensumständen oder in welchem Lebensalter das Subjekt von dem Ereignis betroffen ist, wird es das Geschehen unterschiedlich auffassen. Jedes Subjekt verfügt zudem in seinem Selbst über andere Möglichkeiten, wie es damit umgehen kann, und hat einen anderen Zugang zu den Ressourcen in den sozialen Systemen, abhängig davon, welcher Epoche, welcher Kultur oder welcher Gesellschaftsschicht es angehört. Doch sobald ein Geschehnis kritisch geworden ist, hebt es das Subjekt von der Alterität ab und macht ihm bewusst, wie einzigartig sein Erleben gerade ist. Während das Subjekt sonst in seinem Alltag seine Gewohnheiten und Überzeugungen anwendet, um sein Leben in möglichst gutem Befinden führen zu können, und es seine angeborenen Fähigkeiten und erworbenen Fertigkeiten dafür einsetzt, befindet es sich nun in einer Lage, wo seine eigenen Kräfte nicht ausreichen, um der Spannungen in seiner Identität Herr zu werden. Weil das Geschehnis sein Selbst überwältigt hat, fühlt sich das Subjekt ihm schicksalhaft ausgeliefert. Ein Handeln, das über den Augenblick hinausgeht, ist ihm in der allumfassenden Gegenwärtigkeit des kritischen Ereignisses nicht mehr möglich. Das Subjekt kann nicht länger vermeiden, seine Begrenztheit wahrzunehmen. Es muss erkennen, was menschliche Existenz grundlegend kennzeichnet, nämlich ins Leben geworfen, verletzbar und sterblich zu sein. Mag das Subjekt diese Tatsache zuvor noch so sehr verdrängt haben, erlebt es sie nun am eigenen Körper. Unfähig, sein Erleben in Erzählungen zu fassen und es sich selbst und der Alterität zu vermitteln, bleibt es, ohne sich seines Selbst sicher zu sein, mit seiner Verzweiflung allein. Beherrscht von dem, was ihm passiert ist, wird ihm bewusst, dass einzelne Maßnahmen nicht genügen, um die Überwältigung seines Selbst rückgängig zu machen. Um die Krise zu lösen, ist das Subjekt auf äußere Kräfte angewiesen. Doch über sie vermag es nicht einfach zu verfügen, sie tauchen auf. Das Subjekt braucht andere, die bereit sind, sich in sein Erleben einzufühlen und ihm zu geben, was ihm fehlt, was es selbst aber noch nicht zu bezeichnen weiß. Solange die Spannungen bestehen, ist das Subjekt in seiner Identität erschüttert. Es weiß nicht, ob, wann und wie seine Krise enden wird. Bleibendes Unglück, anhaltende Vereinsamung oder Tod sind als ihr Ausgang ebenso vorstellbar, wie es möglich ist, dass sich die Identität grundsätzlich wandelt, sich das Selbst- und Weltverständnis umfassend ändert und Werte neu gesetzt werden. Katastrophe und Transzendenz, beides ist als Potentialität des Kommenden in der Krise enthalten. Aber noch ist im Selbst des Subjekts nichts entschieden, die eigene Wahrheit angesichts des körperlichen Umbruchs noch nicht gefunden und die innere Auseinandersetzung um sein Menschsein noch nicht abgeschlossen: Die Unerträglichkeit des ungewohnten körperlichen Geschehens dauert an, solange die Besinnung auf das Wesentliche noch nicht stattgefunden hat. Überwältigtes Selbst: Zur Überwältigung des Selbst und zur Krise der Identität kommt es nur, wenn das Widerfahrnis das Subjekt nicht umgebracht hat. Auch ist es, falls es zu Tode kommt, der Notwendigkeit enthoben, dem Geschehenen zu antworten.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

Aber beim Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung hat das zu Grunde liegende körperliche Geschehen weder zum Tode des Subjekts geführt noch ist es von den Spezialisten des Gesundheitswesens geheilt worden. Selbst wenn das Subjekt nicht zu verstehen vermag, was ihm im Einzelnen geschah und welche Bedeutung das Geschehene für sein Selbstverständnis hat, kommt der Augenblick, wo es bewusst erkennt, dass es einen körperlichen Umbruch erlebt. Zum zweiten Mal fiel ich in ein tiefes Loch: definitive Diagnose MS und Trennung vom Partner nach siebenjähriger Beziehung. Verzweiflung, Trauer, aber auch Angst vor der Zukunft waren groß.15 Nun versteht das Subjekt: Es gibt ein Weiterleben, es muss weiterleben und es muss mit dem veränderten Körper weiterleben. Solange das Subjekt sich wehrt, seine Identität dem anzupassen, was seinem Körper geschehen und nicht mehr zu ändern ist, bleibt es in einen Zwiespalt. Wenn ich mich mit dieser Sache abfände, wenn ich mich einfach fügte, dann würde ich sterben. Meine Fähigkeit, dagegen anzukämpfen, mein Wille, Widerstand zu leisten, wären dann gebrochen. Andererseits ist es zwecklos, mich nicht abzufinden, nicht zu akzeptieren. Das, was zu akzeptieren ich mich weigere, ist eine Tatsache. Darin also besteht das Dilemma: Ich bin in eine unannehmbare Wirklichkeit gestellt.16 Das Subjekt weiß genau, dass sich sein gewohntes Leben nicht fortführen lässt. Ich brauche nicht lange nachzudenken, um zu wissen, wo ich bin, und um mich zu erinnern, daß mein Leben am Freitag, den 8. Dezember 1995 aus den Fugen geraten ist.17 Aber das Subjekt hat keine Ahnung, wie es weiterleben soll, und bleibt von dem Geschehen in seinem Körper überwältigt. Heftige Spannungen bestimmen sein Selbst. Ich werde immer weiter hinabgezogen, in etwas Unvorstellbares, aus dem es keine Wiederkehr gibt. Eine Welt wird verschwinden. Die andere Welt, in die ich mit meinen Lieben gezogen werde, wird uns verschlingen. Eine Wiederkehr wird es nicht geben. Die Blindheit ist von Dauer und unumkehrbar. Ich weiß jetzt, daß mein träumendes Ich sich doch nicht täuschen läßt. Ich bin in einer Krise.18 In der Krise ist die bisherige Einheit des Subjekts mit seinem Körper aufgehoben. Es ist in seinem Erleben weniger denn zuvor Körper, vielmehr hat es nun einen Körper. Nicht länger verfügt das Selbst über den Körper, sondern der Körper verfügt über das Selbst. Er ist so verändert, dass er sich nicht weiter zuverlässig kontrollieren lässt. Vielmehr zeigt der Körper nun Eigenheiten, die dem Subjekt unbekannt sind, die es in ihrem Ablauf nicht vorherzusehen vermag und in ihrer Bedeutung nicht einzuschätzen weiß.

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Ruscheweih 2005: 17. Hull 1992: 67. Bauby 1997: 6. Hull 1992: 49.

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Körperlicher Umbruch

Was ist, wenn ich einfach so gehe und die Lebensmittel in den Einkaufswagen packe? Ich bin schon an der Kasse, und dann löst sich der Beutel von der Platte! Eine winzige Unachtsamkeit beim Säubern der Platte, eine ungeschickte Bewegung von mir, ein unbeabsichtigtes Anrempeln meiner Person – und schon ist es passiert. Es durchtränkt meine Hose und läuft über meinen Schuh auf den Fußboden. Nein, nein, niemals! Auch wenn es wahrscheinlich nie passieren würde: Allein die Vorstellung verursacht mir Albträume.19 Die eigene Schwäche, die sich aus dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergibt, beschämt das Subjekt. Wir fuhren mit dem Stadtbus zum Busterminal. Ich hatte wieder angefangen zu grimassieren, was mir äußerst peinlich war.20 Auch fordert der veränderte, als krank geltende Körper in einem hohen, lange nicht mehr gekannten Maße Aufmerksamkeit ein. Was dem Subjekt selbstverständlich war, mit ihm zu tun, muss nun von ihm bedacht werden. Ich konnte mich ja nicht mehr normal auf die Toilette setzen. Ich mußte eine eigene Technik entwickeln. Da saß ich dann auf der Toilette, im Damensitz, wie auf einem Pferd. Seitlich leerte ich den Inhalt des Beutels in die Toilette. Und dann klammerte ich alles wieder zu, putzte den Beutel ab, zog mir den Bademantel darüber – und fühlte mich dreckig, stinkend, beschissen.21 Dem Subjekt ist es nicht mehr möglich, aus seinem Körper herauszutreten. Sein Körper dient ihm nicht mehr, sondern kommt mit seinem Eigenleben dem Subjekt in die Quere, widersetzt sich ihm und behindert es. Der Körper wurde zu einem äußeren Objekt, das dem Selbst fremd, beunruhigend und bisweilen sogar feindlich gegenübersteht. Morgens im Zug nach Frankfurt schlief ich beim Lesen immer wieder ein, das Buch fiel mir aus der Hand. Aus Scham sorgte ich dafür, dass es nicht auf den Boden polterte, sondern lautlos mir über den Bauch rutschte, in den Schoß.22 In der Krise vollzieht sich der bisher übliche Wechsel zwischen dem Körper als erlebendem und handelndem Subjekt einerseits und dem Körper als erlebtem und behandeltem Objekt andererseits nicht mehr. Da der veränderte Körper Aufmerksamkeit verlangt, fehlt sie dem Subjekt dann, wenn es sich der Außenwelt zuwendet. Während in gesunden Tagen die scheinbare Abwesenheit des Körpers die Welt mit ihren Gegenständen oder der Alterität in den sozialen Beziehungen hervortreten ließ, weicht sie nun zurück. Durch die veränderte Körperlichkeit erhöht sich der Bezug auf das eigene Selbst und verringert sich die Verbindung zu den Anderen. Nebst der Eifersucht überkamen mich auch Schuldgefühle gerade wegen dieser Eifersucht auf meine Mitmenschen. Schliesslich hatten und haben sie ein Recht darauf, ihr

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Lesch 2002: 109f. Todes 2005: 88. Lesch 2002: 108. Härtling 2007: 90.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

Leben fortzuführen. Denn ihr Leben ging auch nach meinem Tod weiter. Ich lebte in der Welt der Sterbenden und die Menschen um mich in der der Lebenden.23 Mit dem kranken Körper vermag das Subjekt nicht mehr nach außen zu gehen. Sein Körper vermittelt nicht mehr zwischen innen und außen, zwischen dem Selbst und der Alterität, sondern er zeigt nun Grenzen auf, wo zuvor keine waren. Der Körper trennt, wo er zuvor verbunden hat. Wenn eine vertraute Alterität anwesend ist, findet das Subjekt dadurch Halt, sodass es die Krise, in die es geraten ist, überstehen kann. Was bin ich glücklich, daß Christina immer da ist. Sie war bei mir. In diesen furchtbaren Nächten. In diesen endlosen, grausamen Nächten, in denen ich nur noch mit Schlaftabletten ein bisschen Ruhe fand.24 Schon die Hoffnung, dass irgendwann Antwort von außen kommen wird, hilft dem Subjekt, die Spannung in seiner Identität, die es selbst nicht zu lösen weiß, zu ertragen. Auf einem Tisch voll leerer Becher ruht eine Schreibmaschine mit einem quer eingespannten rosa Blatt Papier. Wenn das Blatt vorläufig auch jungfräulich bleibt, bin ich doch sicher, daß eines Tages eine Botschaft für mich darauf stehen wird. Ich warte.25

5.2

Psychiatrisch auffällig

Psychische Störungen nach einem Geschehnis: Wenn dem Subjekt wie beim Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung etwas geschieht, das ihm mit der bisherigen Identität zu verarbeiten nicht möglich ist, und es darüber in die Krise gerät, kann es Verhaltensweisen zeigen, denen aus psychiatrischer Sicht Krankheitswert zukommt. Es gibt psychische Störungen, die ursächlich auf das Geschehnis bezogen sind (vgl. Dilling et al. 1993: 167–173, 234–236): Bei einer akuten Belastungsreaktion beginnen die Beschwerden innerhalb von Minuten bis zu zwei oder drei Tagen nach dem Geschehnis und gehen oft schon innerhalb von Stunden wieder zurück. Das Subjekt wirkt wie betäubt, ist in seinem Bewusstsein eingeengt, in seiner Aufmerksamkeit desorientiert und unfähig, Reize zu verarbeiten; dazu kommen Unruhe und Überaktivität bzw. Starre bis zum Stupor und vegetative Zeichen panischer Angst wie Herzrasen, Schwitzen oder Erröten. Neben mir hüpfte ein bis zum Knie in einem weißen Ball steckender Mann auf seinem Bett, angefeuert von seiner Frau. Ich hörte, wie die Dame dem Kugelmann aus der Bibel vorlas, mit Ausdruck, wenn ich mich nicht täuschte: Johannes, die Apokalypse. Er habe, das erfuhr ich von einer Schwester, einen Motorradunfall erlitten.26 Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung treten die Beschwerden mit einer Latenz von bis zu sechs Monaten nach dem Geschehnis auf, halten längere Zeit an oder

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Balmer 2006: 128. Lesch 2002: 110. Bauby 1997: 107. Härtling 2007: 57.

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Körperlicher Umbruch

werden unter Umständen auch chronisch. In aufdrängenden Erinnerungen oder Träumen erlebt das Subjekt das Geschehnis immer wieder neu, erscheint emotional stumpf und gleichgültig den Anderen gegenüber, fürchtet und vermeidet alles, Aktivitäten, Situationen, selbst Stichworte, was die Erinnerungen wieder wecken könnte; dazu kommt eine vegetative Übererregbarkeit mit gesteigerter Vigilanz, übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit; häufig sind auch Angst und Depression, ebenso Suizidgedanken, Drogeneinnahme und übermäßiger Alkoholkonsum. Bei einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung bestehen die Beschwerden nach einem schwerwiegenden Geschehnis dauerhaft fort und führen zu einem Verhalten, das die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinträchtigt. Das Subjekt zeigt sich feindselig und misstrauisch der Welt gegenüber, zieht sich von der Alterität zurück und fühlt sich selbst leer und hoffnungslos, ständig bedroht und entfremdet. Handelt es sich nicht um ein Geschehnis, das einmalig und begrenzt ist, das mit seinem Eintritt zwar den gewohnten Lebensverlauf unterbrach, dann aber endete und sich nicht wiederholte, sondern um eines, das andauert und bleibend die Lebensbedingungen ändert, kann ein Subjekt Beschwerden empfinden, die als Anpassungsstörung gelten. Sie zeigt sich im Allgemeinen innerhalb eines Monats und hält nicht länger als sechs Monate an. Das Subjekt erscheint ängstlich oder depressiv oder beides zusammen, fürchtet, nicht mit seinem Leben zurecht kommen, vorausplanen oder mit dem Begonnenen fortfahren zu können, und weist sowohl Störungen des Affekts als auch seines sozialen Verhaltens auf. Es bereitete mir regelrechte Depressionen, zusehen zu müssen, wie sich mein Zustand verschlechterte, und wieder einmal stellte ich mir die gleiche Frage: Warum muß ich das ertragen? Die Hoffnung, alles würde sich von selbst regeln und wieder so werden wie in den längst vergessenen, grauen Vorzeiten, als ich auf die Bäume kletterte, um zu sehen, wie der Hecht steht, hatte ich längst aufgegeben.27 Nicht immer beruhen die psychischen Störungen auf einem Geschehnis. Sie können auch unabhängig davon auftreten. Oder ein belastendes Geschehen verschlimmert eine psychische Störung, die schon länger bestand. Ebenso ist es möglich, dass ein Geschehnis, das das Selbst überwältigt, durch eine psychische Störung bedingt ist oder durch sie verstärkt wird oder dass sich diese in jenem ausdrückt. Psychische Störungen bei körperlichen Krankheiten: Auch der Verlust der gewohnten Körperlichkeit kann mit psychiatrischen Auffälligkeiten einhergehen. So wurden in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende bei Depressionen folgende Daten erhoben (vgl. Arolt/Rothermund 2003: 1036–1047): Etwa 15 Prozent derjenigen, die als Patienten dem sozialen System Krankenhaus angehören, weisen Depressionen auf, wobei etwa 30 bis 50 Prozent als schwer und 50 bis 70 Prozent als leicht einzustufen sind; bei etwa 30 bis 40 Prozent bestehen die Beschwerden auch noch ein Jahr nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. Wenn die Häufigkeit auf einzelne Diagnosen bezogen wird, findet sich die höchste Morbidität für Depression bei Krebserkrankungen; hier liegt die Rate bei bis zu 60 Prozent. Bei einem Morbus Parkinson liegt sie im Mittel bei 40 Prozent; 27

Buggenhagen 1996: 39.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

bei einem zerebralen Insult nach zwei Wochen bei etwa 25 Prozent und nach einem Jahr noch bei 20 Prozent. Nach einem überstandenen Herzinfarkt weisen etwa 20 Prozent der Patienten eine schwere Depression auf und weitere 20 Prozent eine leichte, von denen zwei Drittel auch über mehrere Monate hinweg andauern. Der Umstand, dass körperliche Krankheiten und psychische Störungen gleichzeitig bestehen, sagt erst mal nichts darüber aus, wie sie zusammenhängen. Meistens sind sie unabhängig voneinander. Doch sind folgende Zusammenhänge denkbar: So kann eine Depression durch eine Krankheit, die das Gehirn erfasst, verursacht sein; sie gilt dann als eine hirnorganische Schädigung. Es ist aber auch möglich, dass eine Depression durch die Behandlung bedingt ist; sie wird dann als Nebenwirkung einer Medikation oder anderer Therapiemaßnahmen betrachtet. Schließlich kann es infolge der Krankheit zu einer Depression kommen; sie wird dann als somatopsychische Störung bezeichnet und als ein Scheitern der Krankheitsverarbeitung angesehen oder auf eine psychische Traumatisierung zurückgeführt. Umgekehrt kommt es auch vor, dass eine Depression eine körperliche Krankheit bedingt oder zumindest in ihrer Entstehung befördert; das wird beispielsweise bei koronarer Herzerkrankung angenommen und bei mancher Krebserkrankung vermutet. Ebenso vermag eine Depression den Verlauf einer körperlichen Krankheit ungünstig zu beeinflussen, wie es wiederum bei koronarer Herzerkrankung nachgewiesen und bei mancher Krebserkrankung für möglich gehalten wird. Allgemein verringert eine Depression die Bereitschaft des Kranken, ärztlichen Anordnungen zu folgen (vgl. Arolt/ Rothermund 2003). Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass chronische Krankheiten das Risiko für einen Missbrauch von Suchtmitteln erhöhen. Dagegen reicht der Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung allein wohl nicht aus, damit in seiner Folge das Subjekt einen Suizid begeht. Zwar liegen in jedem dritten Fall von Suizidalität und noch häufiger bei Suizidversuchen schwerwiegende körperliche Krankheiten vor, doch scheint es noch zusätzliche Umstände zu brauchen, damit die Bedingungen seines Lebens für das Subjekt so unerträglich werden, dass es seinem Leben ein Ende setzen will; diese Umstände können sich entweder infolge der Krankheit ergeben oder schon zuvor bestanden haben. In Hinblick auf eine mögliche Suizidalität bei einem körperlichen Umbruch ist in Betracht zu ziehen, was das Subjekt selbst annimmt, wie sich durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit sein Leben verändern wird; seine Einstellung wiederum ist davon geprägt, wie sein körperlicher Umbruch in den sozialen Systemen, an denen es teilhat, bewertet wird (vgl. Wolfersdorf et al. 1991: 14–23). Depressionen: Unabhängig davon, wie Ereignis und psychische Störung zusammenhängen, wird ein Subjekt dann als depressiv diagnostiziert (vgl. Dilling et al. 1993: 139–141), wenn es über mehr als zwei Wochen seinen gewohnten Interessen nicht mehr nachgeht und Freudlosigkeit sein Empfinden beherrscht, die Stimmung gedrückt und der Antrieb vermindert ist. Häufig kommen weitere Beschwerden hinzu, nämlich verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle, negative und pessimistische Vorstellungen über die Zukunft, Gedanken an Suizid bzw. bereits erfolgte Selbstverletzungen und Suizidhandlungen oder Störungen von Schlaf und Appetit. Bei manchen herrschen auch Angst, motorische Unruhe und Gequältsein vor. Die niedergeschlagene Stimmung kann durch

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Körperlicher Umbruch

Reizbarkeit, exzessiven Alkoholgenuss, histrionisches Verhalten, Verstärkung bereits früher vorhandener phobischer und zwanghafter Symptome oder hypochondrische Grübeleien verdeckt sein. Dabei vermögen üblicherweise auch als angenehm erlebte äußere Umstände das innere Befinden kaum zu beeinflussen. Eine depressive Episode wird nach ihrem Schweregrad eingeteilt (vgl.: Dilling et al. 1993: 141–144): Die Episode wird als leicht eingestuft, wenn sie zwei der drei erstgenannten und mindestens zwei der weiteren Symptome aufweist. Sie gilt als mittelgradig, wenn mindestens drei oder besser vier der weiteren häufigen Symptome bestehen; dann kann das Subjekt nur mit erheblichen Schwierigkeiten seine sozialen, häuslichen und beruflichen Aktivitäten fortsetzen. Eine schwere Episode besteht, wenn sie alle drei der erstgenannten und mindestens vier der weiteren häufigen Symptome aufweist; sie ist psychotisch, wenn ein Wahn in Form von nicht korrigierbaren Ideen der Versündigung, der Verarmung oder einer bevorstehenden Katastrophe, Halluzinationen in Form von diffamierenden oder anklagenden Stimmen und eine schwere psychomotorische Hemmung bis hin zu einem Stupor dazukommen. Damit ein Ereignis wie ein körperlicher Umbruch eine depressive Episode auslöst, bedarf es bestimmter Vorerfahrungen auf Seiten des erlebenden Subjekts. Im wesentlichen ist es ein Mangel an Halt, Spiegelung, Wertschätzung und Anerkennung durch die Alterität, den es in frühester Kindheit erlitt und den es von klein auf bemüht ist auszugleichen, indem es bei den Anderen innige Nähe und Verständnis sucht bzw. indem es für sie Leistungen erbringt, durch die es sich seinen Platz bei ihnen sichert. Wenn dem Subjekt nun in der Gegenwart etwas widerfährt, das die Kompensation seines Mangels verhindert, kommt es zum Zusammenbruch seiner Identität. Insofern ist jede Depression ein verzweifelter Schrei nach Zuwendung, bedingt durch einen vermeintlichen oder tatsächlichen Verlust, der das Selbst bedroht (vgl. Rado 1951: 51–55). Die Depression zeigt, dass das Subjekt die Affekte, die das Ereignis in ihm hervorrief, nicht selbst zu begrenzen versteht, sondern ihnen ausgeliefert ist, dass es nicht auf seine eigenen Fähigkeiten oder verbliebenen äußeren Ressourcen zurückgreifen kann, um das Geschehen zu bewältigen, sondern die Lösung von der Alterität erhofft, und dass es sich nicht in seinem Selbst anzupassen vermag, um an dem Geschehen zu wachsen, sondern verlangt, dass die Anderen sich zu seinem Wohlbefinden ändern müssen. Von Zeit zu Zeit bin ich deprimiert, und es ist am schlimmsten, wenn ich beim Spielen mit den Kindern frustriert bin. Ich fühle mich, als sei ich ein Nichts geworden, unfähig als Vater zu handeln, ohnmächtig, unfähig, etwas einzuschätzen, zu bewundern, ein Urteil oder eine Unterscheidung zu treffen. Ich habe das sonderbare Gefühl, tot zu sein.28 Suchterkrankungen: Bei einem kritischen Ereignis kann es zu einem Missbrauch von Alkohol, Medikamenten und anderen Suchtmitteln kommen. Der Missbrauch lässt sich in Hinblick auf seinen Schweregrad unterscheiden, nämlich zuerst die gelegentliche bis regelmäßige Einnahme, um sich zu entspannen, dann eine Einnahme mit anfangs vorübergehenden, später länger bestehenden nachteiligen Auswirkungen auf das Selbst, die Beziehungen und den Körper und schließlich der zwanghafte Konsum. Im Zustand 28

Hull 1992: 79.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

der Abhängigkeit beherrscht das Subjekt das Verlangen nach dem gewohnten Suchtmittel nicht mehr, sodass es sein Handeln allein auf dessen Beschaffung ausrichtet und unter Entzugserscheinungen leidet, wenn es ihm nicht gelingt. Der Missbrauch kann ferner nach seinem Zweck unterschieden werden. Zum Ersten dient er dazu, Empfindungen von Unlust und Unzufriedenheit zu unterdrücken, die sich ansonsten im Alltag unweigerlich bemerkbar machen würden, einer äußeren Wirklichkeit zu entfliehen, die ansonsten unerträglich zu sein scheint, und sich zumindest ein vorübergehendes Glück zu verschaffen. Zum Zweiten wird das Suchtmittel dazu eingesetzt, um dem eigenen Selbst zu entkommen, das als so schrecklich empfunden wird, dass es nicht als Identität angenommen werden kann. Zum Dritten soll mittels periodischer oder chronischer Vergiftungen durch eine zentralnervöse wirksame Substanz das eigene Selbst vernichtet werden. Über die Zeit kann sich der Zweck ändern, bzw. lässt sich der eine nicht immer völlig vom anderen abgrenzen. Der Missbrauch unterscheidet sich schließlich auch darin, welches Suchtmittel eingenommen wird. Gerade Alkohol hilft dem Subjekt, seine Angst zu lösen, den gehemmten Antrieb zu heben, seine Stimmung zu lockern, die Hinwendung zur Alterität zu erleichtern und die an ihr erlebte Enttäuschung erträglicher zu gestalten. Damit ein körperlicher Umbruch oder ein anderes Ereignis zum schädlichen Gebrauch eines Suchtmittels führt, bedarf es wiederum bestimmter Vorerfahrungen auf Seiten des erlebenden Subjekts (vgl. Rost 1987: 130–139). Meist wuchs es unter Umständen auf, in denen es ihm verwehrt war, seine Bedürfnisse im eigenen Selbst zuzulassen und gegenüber der Alterität zu vertreten, ohne darüber Schuld zu empfinden. Es waren Umstände, die das Selbst schwach bleiben ließen und dem Subjekt nicht genügend innere und äußere Grenzen vermittelten, sodass es durch die Affekte, die es bei Enttäuschung und Kränkung erlebt, in seinem Selbst bedroht wird und ihnen ohnmächtig ausgeliefert ist. Statt Halt zu bekommen, erfuhr das Subjekt Vernachlässigung und Gewalt. Aus Verzweiflung habe ich Trost aus der Flasche gesucht, mußte bei einem Klinikausgang, der bis 20 Uhr gewährt hätte, abends nach zehn aus der nahen Gaststätte abgeholt werden – reichlich betrunken, wie ich ehrlicherweise eingestehen muß. Für den Moment hat mir der Alkohol psychisch sehr geholfen, mich über bestimmte Sachen zu stellen.29 Suizidalität: Wenn bei einem kritischen Ereignis eine psychischen Störung eingetreten ist, kann sie mit Suizidalität einhergehen. Während beabsichtigter Suizid, versuchter Suizid oder vollendeter Suizid bezeichnen, wie weit das Subjekt in der Zerstörung seines Körpers ging, werden die Handlungen, die es zwar gegen seinen Körper richtet, mit denen es aber nicht sein Leben beenden, sondern die Alterität treffen will, als parasuizidal bezeichnet. Dabei kann, selbst wenn es nicht beabsichtigt ist, auch ein Parasuizid zum Tode führen. Jeder Suizidalität kommt die Funktion von Autoaggression und Appell zu, darüber hinaus zeigt sie den Wunsch nach einer Zäsur. Sie verweist auf eine Enttäuschung, die davor an der Identität oder der Alterität erlebt wurde. Stets beinhaltet die Suizidalität auch ein Moment der Wahrheit. Es ist jedoch eine Erkenntnis, die 29

Buggenhagen 1996: 38.

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Körperlicher Umbruch

das Subjekt in seinem Narzissmus so sehr erschüttert, dass es mit dieser Kränkung nicht weiterleben zu können meint. Insofern lassen sich innerhalb eines sozialen Systems verschiedene Dynamiken unterscheiden, aus denen heraus ein Suizid begangen wird (vgl. Stech 1994: 130–159): Wenn erstens etwas geschehen ist, was das Subjekt von seinem Selbst enttäuscht, soll durch die tödliche Suizidhandlung das Selbstbild gerettet und die Identität bewahrt werden. Die subjektive Katastrophe ist nicht der somatische Tod, sondern der psychische; die Furcht vor dem weiteren Leben ist größer als die vor seinem Ende. Mit der Suizidhandlung will das Subjekt zweitens sich und der Alterität zeigen, dass es selbst die Bedingungen seines Lebens bestimmt und ihnen nicht in vermeintlicher Schwäche ausgeliefert ist. In der Suizidhandlung versucht es, die Ohnmacht, in die es durch das Ereignis stürzte, zu überwinden, und die erlittene Kränkung auszumerzen. In seiner schon davor bestehenden Unsicherheit richtet das Subjekt seine Wut gegen das Selbst, das versagt hat. Wenn dagegen drittens etwas geschehen ist, das das Subjekt von der Alterität enttäuscht, sollen durch die tödliche Suizidhandlung diejenigen, die die Enttäuschung auslösten, getroffen werden. Um weiter verleugnen zu können, wie sehr es die Anderen braucht, um von ihnen Sicherheit und Geborgenheit zu bekommen, bestraft sie das Subjekt. Mit der Suizidhandlung will das Subjekt viertens nicht sein Selbst vernichten, sondern die Alterität anklagen und ihr die Schuld für sein Elend geben. In der Suizidhandlung versichert sich das Subjekt der Stärke, die es aus den Anderen, die es als einen Teil seines Selbst ansah, gezogen hat. Sie sollen leiden, damit es selbst nicht leiden muss. Dem Subjekt kann fünftens etwas widerfahren sein, das ihm zu bestätigen scheint, wie sehr es andere enttäuscht und belastet. Durch die tödliche Suizidhandlung setzt es in die Tat um, was es meint, dass die Alterität von ihm erwartet, ohne es ausdrücklich zu sagen oder tatsächlich zu verlangen. Die eigene bereits gewohnte Enttäuschung über das eigene Selbst scheint nun der der Anderen zu entsprechen. Mit der Suizidhandlung zeigt das Subjekt schließlich sechstens sich und der Alterität, dass es bereit ist, die ihm zugewiesene Schuld anzunehmen. Es opfert sich, um sie von sich zu erlösen oder um als Sündenbock das soziale System, dem es angehört, vor seinem Zerfall zu retten. In der Suizidhandlung kann sich das Subjekt mit der Alterität ganz eins fühlen, weil es von sich aus sein Selbst aus der Welt schafft und die Zumutung beendet, die es in seinem Erleben für sie, aber auch für sich selbst darstellt. Aus dem Überleben eines Suizidversuchs ergeben sich für das Subjekt verschiedene mögliche Folgen für sein Selbstverständnis und seine Selbstbezogenheit (vgl. Stech 1994: 84–91): So kann das Subjekt sein Überleben der Autoaggression als eine Art Gottesurteil bewerten und sich dazu veranlasst sehen, sein Leben fortzuführen. Außerdem verändern sich manchmal die Beziehungen zwischen Subjekt und Alterität, wenn sie die Botschaft hinter der Tat aufgreift. Zudem kann das Subjekt durch das Überleben dieser Zäsur gestärkt einen Neuanfang versuchen. Schließlich verändern sich Identität und Alterität des Subjekts, wenn es ihm gelingt, abgespaltene Lebensbereiche, die davor ihre Bedeutung verloren oder nie eine hatten, nun in das Selbst aufzunehmen, Es kommt bei einem Ereignis wie einem körperlichen Umbruch jedoch nur zur Suizidalität, wenn das Subjekt bestimmte Vorerfahrungen aufweist. Sie reichen von Todes-

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

wünschen durch Mutter oder Vater, über nicht verarbeitete Verluste in der Kindheit bis hin zu familiären Traditionen von Suizid oder Gewalt. Das Subjekt beginnt, den Suizid als Lösung zu erwägen, wenn sich sein Erleben auf das enttäuschende gegenwärtige Ereignis einengt. Ich sage zu Christina: »Unter diesen Voraussetzungen habe ich keinen Bock mehr zu leben. Ich gehe in ein anderes Krankenhaus. Heute noch. Wenn die mir diesen Beutel nicht wegnehmen, dann lasse ich das woanders machen. Ich will so nicht leben!«30 Wenn die Belastung andauert und sich die Einengung nicht überwinden lässt, kann sich das Subjekt in einem inneren, nicht unbedingt bewussten Kampf dazu entschließen, sein Leben zu beenden. Das macht alles keinen Sinn mehr, gärte es in mir. Erst als leises Flüstern, dann als anhaltender murmelnder Geräuschteppich, schließlich als laut formulierte Kurzschlußreaktion: Mach’ Schluß! Ostern, das Fest, das die Christen als das der Auferstehung Jesu feiern, sollte für mich die Erlösung von allem Übel bringen.31 Der Entschluss wird schließlich auch in die Tat umgesetzt. Als Krankenschwester hatte ich Zugang zu dem, was ich brauchte, mich aus der Welt zu verabschieden. Ich mixte mir aus allerlei Arzneien einen Trunk, dessen Wirkung wohl bedacht auf den tödlichen Effekt war, zumal am Feiertags-Wochenende das Schwesternhaus fast völlig leer war. Eine simple Nebenwirkung, über die man heute lachen kann, rettete mir das Leben. Ich muß so mörderisch geschnarcht haben, daß man aufmerksam wurde – und mich auf dem Marsch ins Jenseits aufhielt und auf den Rückweg schickte.32

5.3

Stillstand im Werden

Krise in allen Lebensbereichen: Die Krise, in die das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit geraten ist, umfasst alle Lebensbereiche. Was bis dahin im Verhältnis von Körper, Alterität und Selbst stimmig zusammengefügt war, passt nicht mehr. Automatismen, mit denen sonst viele Aufgaben erledigt wurden, ohne dass sie im Einzelnen bewusst erfasst wurden, greifen nicht mehr. Die vertraute Deutung der Welt zählt nicht mehr. Als ich an einem noch späteren Tag abends von der Arbeit nach Hause gehe, stelle ich fest, daß das ganze Haus von einer schwarzen Wolke umgeben ist. […] Alles im Haus ist in Schwarz getaucht, aber nur für mich, für keinen sonst. Am folgenden Tag ist die ganze Welt von der Wolke geschwärzt. Diese Fantasie beunruhigt mich. Ich habe mir immer wieder gesagt, daß ich kein Blinder bin, sondern ein Sehender, der nicht sehen

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Lesch 2002: 100. Buggenhagen 1996: 36. Buggenhagen 1996: 36.

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Körperlicher Umbruch

kann. In dieser Fantasie muß ich mich damit auseinandersetzen, daß die Blindheit in mir ist. Die schwarze Wolke ist in meinem Gehirn. Sie umhüllt mein Bewußtsein.33 Das Geschehen macht dem Subjekt deutlich, dass sein Leben nicht mehr das ist, was es zuvor war, und seine Identität nicht mehr so sein kann, wie sie bis dahin gewesen ist (vgl. Filipp/Aymanns 2010: 42). Aber eine Anpassung ist noch nicht erfolgt, und selbst eine Antwort noch nicht vorstellbar. Solange keine neue Ordnung entstanden ist, bleibt das Subjekt handlungsunfähig. Die Krise ergibt sich geradezu daraus, dass das Subjekt noch von Motivationen angetrieben wird und von ihm Ziele verfolgt werden, die sich nicht mehr mit seiner veränderten Körperlichkeit vereinbaren lassen. Doch ist es ihm unmöglich, diese Anpassung jetzt zu leisten, weil das Geschehen und seine Folgen noch gar nicht bewusst zu erfassen sind. Immer wieder findet sich das Subjekt in Abläufen wieder, die es überraschen, weil sie von ihm nicht vorherzusehen sind, und sieht es sich vor Anforderungen gestellt, die es nicht versteht. In einer Lage, die es nicht zu überblicken vermag, bleibt dem Subjekt unklar, wie es sich neu bestimmen könnte. Da sein Selbst von dem ungewohnten körperlichen Geschehen besetzt ist, scheint es sich von außen betrachtet in einem Stillstand zu befinden. Aber der Eindruck vermeintlicher Untätigkeit täuscht. Gerade weil das Subjekt durch das Geschehnis gehindert ist, wie gewohnt seinen Alltag zu leben, erfährt es in zuvor nicht gekanntem Maße, wer es ist und was sein Wesen ausmacht, d.h. wird sein Selbst psychisch repräsentiert (vgl. Honneth 1994: 115–117). Die ihm fremden Erlebnisse, mit denen es sich auseinandersetzen muss, geben ihm ein vertieftes Bewusstsein seiner selbst. Erst durch sie erlebt das Subjekt sich als getrennt von seiner Wirklichkeit, sodass nun auch in dem Lebensbereich ein Innen und ein Außen entsteht, wo es zuvor die Unterscheidung nicht gab. Im Moratorium: Wenn sich das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit in einer Krise befindet, erhält es von der Alterität vielfach eine besondere Zeit oder einen besonderen Ort zugewiesen, um sich neu zu ordnen. Das Subjekt befindet sich dann in einem Moratorium (vgl. Marcia 1993: 23–33).34 Der Akutbehandlung im Krankenhaus folgt nun vielfach die Rehabilitation. Acht Tage nachdem ich einen schweren Vorderwandinfarkt erlitten hatte, wurde ich mit den besten Wünschen aus der stationären Behandlung entlassen. Ich hatte eine Empfehlung für die Curschmann-Klinik in der Tasche […].35 Die Rehabilitation wird von den Spezialisten des Gesundheitswesens beantragt oder auch von den Angehörigen veranlasst. Fabian überrascht mich und legt mich fest. Er hat mich zu einem Reha-Aufenthalt in der Lauterbacher Mühle angemeldet.36 Während dieses Moratoriums außerhalb der gewohnten sozialen Beziehungen wird vom Subjekt allerdings verlangt, dass es alles tut, um die Spannungen in seiner Identi33 34 35 36

Hull 1992: 57. Dort wird das Moratorium als eine Phase des Übergangs bei der Identitätsbildung von Jugendlichen beschrieben. Huth 2003: 35. Härtling 2007: 15.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

tät zu lösen. Dabei befindet sich die Identität in einem besonderen Zustand, der durch dreierlei gekennzeichnet ist (vgl. Keupp et al. 1999: 78–80): Erstens findet sich eine Diffusion in der Beziehungsfähigkeit, so dass es dem Subjekt schwierig bis unmöglich ist, überhaupt Beziehungen zur Alterität aufzunehmen und zu halten. Es unterlässt jegliche Begegnung. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich einfach keinen fremden Menschen um mich haben.37 Zweitens besteht eine Diffusion der Zeitperspektive, sodass das Subjekt Zeit nur schwer als eine Dimension des Lebens zu erleben vermag. Inzwischen ist ein Tag vergangen. Ich schreibe diesen Satz, als hätte ich Zeit erfahren. Hier vergeht sie mir nicht. Ich entgehe ihr. Mein Zeitgefühl ist erbärmlich. Ich falle durch die Stunden. Jetzt, schon wieder jetzt.38 Die Zeit wird zu einem Feind, der zu bezwingen ist. Und wie schlägt man die Zeit tot? Mit Lesen? Das fiel mir immer schwerer. Wegen der Gifte in meinem Körper.39 Oder die Zeit kehrt sich um. Bald waren meine Nächte wie Tage und die Tage wurden zu Nächten. Außerdem wurde ich immer schwächer. Es war die Zeit von zehn Quadratmetern Deutschland: Bett, Bad, Tisch, Sessel.40 Drittens gibt es schließlich in der Identität eine Diffusion des Werksinns, sodass es dem Subjekt erschwert ist, sich auf eine Sache einzulassen; das kann so weit führen, dass es überhaupt nichts mehr machen will. Ich will nicht mehr. Ich mag diese Scheiße nicht! Jetzt bin ich wirklich nicht mehr ich. Jetzt habe ich keine Möglichkeit mehr, nach draußen zu gehen. Mit diesem Beutel ist mein Leben nicht mehr lebenswert. Ich liege nur apathisch da.41 Oder eine Sache bekommt für das Subjekt eine so große Bedeutung, sodass ihr seine ganze Aufmerksamkeit gilt. Ich will nichts. Ich will nichts lesen, nichts wissen, nichts sehen, nichts hören. Ich will nur noch eines: Ich will, dass dieser Beutel wegkommt!42 Auch wenn dem Subjekt, das durch die Defektheilung zu einem chronisch Kranken oder Behinderten wurde, während des Moratoriums zugestanden ist, die gewohnten Verpflichtungen des Alltags nicht zu erfüllen, sich aus den sozialen Systemen, denen es vor dem körperlichen Umbruch angehörte, zurückzuziehen und den Erwartungen

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Lesch 2002: 111. Härtling 2007: 43. Lesch 2002: 108. Lesch 2002: 110. Lesch 2002: 99. Lesch 2002: 100.

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an die kulturell übliche Körper- und Affektkontrolle nicht zu entsprechen, ist seine Anspannung und Unsicherheit groß. Das Subjekt befindet sich weiterhin in der Krise. Es leidet selbst daran, dass es sich nicht wie bisher der Alterität zuwenden, sein Leben gestalten oder sich einer Aufgabe hingeben kann. Die ganze Identität ist während des Moratoriums diffus. Auf dem Weg zum Rollstuhl, in den drei, vier Jahren, ehe der vorläufige Endpunkt meiner Krankheitsgeschichte die Rückkehr ins Leben markierte, war mir zumute, als sei ich weder Fisch noch Fleisch.43 Identitätsentwürfe und -projekte, die der veränderten Körperlichkeit angepasst sind, entstehen nicht. Wenn Wünsche aufkommen, werden sie nicht umgesetzt. In meiner Fantasie gehe ich mit diesem Einkaufszettel durch unseren Supermarkt. Aber ich verlasse das Haus nicht mehr. […] Ich fühle mich doch gut, und ich habe Appetit auf das, was ich auf meinem Einkaufszettel geschrieben habe. Also, was hindert mich? Nichts! Außer meiner Angst!44 Aufenthalt in der Rehabilitation: Wenn die Alterität dem Subjekt ein Moratorium zugesteht, hofft sie ihrerseits auf einen günstigen Ausgang. Das bedeutet für sie, dass das Subjekt aus der Krise gestärkt in seine bisherigen Rollen zurückkehrt, dass es sich wieder in sozial anerkannter Weise verhält und dass es die übrigen Mitglieder des sozialen Systems möglichst wenig belastet oder daran hindert, ihren Aufgaben nachzugehen. Während des Moratoriums findet das Subjekt je eher eigenständige Lösungen, desto stärker schon vor der Krise das Empfinden für die eigene Identität war (vgl. Marcia 1993: 6); und je größer seine Suchaktivität ist (vgl.Rotenberg/Korosteleva 1990), desto reifer wird es aus der Krise hervorgehen. Denn unbewusst greift das Subjekt auf vergangene Erfahrungen in ähnlichen Krisen zurück und wiederholt im Umgang mit dem ungewohnten körperlichen Geschehen ein früheres Scheitern oder ein erfolgreiches Bewältigen. Zur Suche des Subjekts nach Lösungen kommt hinzu, dass ihm während des Moratoriums die Alterität Möglichkeiten aufzeigt, wie es ihrer Meinung nach seine Krise überwinden soll. Die Rehabilitation stellt dabei die institutionalisierte Form des Moratoriums dar. Sie wird den Mitgliedern des sozialen Systems angeboten, die von chronischer Krankheit betroffen sind oder spät eine Behinderung erworben haben, und soll dem Subjekt, das durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit zu einem chronisch Kranken oder Behinderten wurde, einen Platz in der Gesellschaft sichern, der seinen Neigungen und Fähigkeiten entspricht. Das heißt also, dass die Rehabilitation an erster Stelle bezweckt, dem Subjekt zu ermöglichen, unabhängig und eigenverantwortlich einen Arbeitsplatz auszufüllen. An zweiter und dritter Stelle soll das Subjekt dazu befähigt werden, den häuslichen und familiären Verpflichtungen zu genügen und die Freizeit nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Die Rehabilitation umfasst die Vermittlung all jener Hilfen, die notwendig sind, um die Behinderung, die sich infolge der körperlichen Schädigung einstellt, abzuwenden 43 44

Buggenhagen 1996: 45. Lesch 2002: 109.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

bzw. sie zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder mögliche weitergehende Folgen zu vermeiden. Da die Rehabilitation im Gesundheitswesen stattfindet, belässt diese Form des Moratoriums das Subjekt in dem sozialen System, dem es seit der Diagnose einer Krankheit angehört. Beim Querschnittsgelähmten ist der ganze Sicherungskasten kaputt, da geht nichts mehr, da wird kein Licht, auch durch eine noch so erstklassige Sicherung nicht. Zwei Tage vor Weihnachten 1973 wurde ich in Buch operiert, verbrachte das Fest in einem Einzelzimmer. Drei Wochen danach nach Hause überwiesen, dann später zur Nachbehandlung ins Berlin-Weißenseer St.-Josephs-Krankenhaus – meine Stationen blieben die (Kranken)Stationen.45 Die in der Rehabilitation durchgeführten Maßnahmen richten sich nach dem körperlichen Befund. Ich werde am Ostersee anders empfangen als die beiden vorhergehenden Male, zähle zu den Geschlagenen, gerettet durch Bypass oder Stent (die Stents nehmen zu). Lauter Vorsichtige, Rücksichtsvolle. Selbst beim Radfahren im Stand schont mich der Therapeut, die Laktatwerte passen nicht in seine Erinnerung an mich.46 Die Maßnahmen können dazu beitragen, die Körperlichkeit in ihrer somatischen Dimension zu bessern. Es folgten darauf fünf Wochen Rehabilitation in einer dafür vorgesehenen Spezialklinik mit Krankengymnastik, Ergotherapie, Massagen, Bewegungsbad und Diät. […] Alle dort vorgesehenen Maßnahmen waren hilfreich und haben dazu beigetragen, daß ich vorbereitet wurde auf die Wiederaufnahme eines Lebens in Freiheit und zu Hause.47 Da es in der Rehabilitation darum geht, eine weitere körperliche Schädigung zu verhindern und das Ausmaß des körperlichen Umbruchs zu begrenzen, gibt bisweilen die Einsicht in die Rolle dem Subjekt vor, was es zu tun hat. Ich stelle mich der Therapie, weiß, in den Adern bröselt es, die ›zunehmende Verkalkung‹, und der Schlag, der mich traf, in der rechten Kopfhälfte, streifte mich wohl nur, er drohte sich aber zu wiederholen und mit Folgen, die nicht weitergedacht zu werden brauchen. Ende also. Schluss. Punkt.48 Entsprechend dem in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende verbreiteten Narrativ, dass chronisch Kranke und Behinderte in Krankengymnastik, Logopädie oder Ergotherapie an sich arbeiten müssen, um die Schädigung ihrer Körperlichkeit zu verringern und dadurch mehr Lebensqualität zu erreichen, wünscht sich das Subjekt zuerst und vordringlich, die Beherrschung über seinen nicht mehr beherrschbaren somatischen Körper zurückzugewinnen.

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Buggenhagen 1996: 38. Härtling 2007: 16. Peinert 2002: 51. Härtling 2007: 28.

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Körperlicher Umbruch

Meine Hoffnung für die Zukunft stützt sich nun auf zweierlei: Einmal darauf, daß es der erfahrenen neurologischen Physiotherapie gelingen möge, ungewollte Spasmen weiter abzubauen. […] Zum zweiten hoffe ich, daß ich verstärkt auch die linke Körperhälfte wieder in meine Alltagsbewegungen einbauen kann, so daß mein Körper sich an einmal beherrschte Bewegungsabläufe erinnert und diese dann wieder »automatisch« einsetzt, wenn ich ein bestimmtes Ziel durch eine Bewegung erreichen will.49 Im Allgemeinen wird während dieser institutionalisierten Form des Moratoriums nicht nur von den Spezialisten des Gesundheitswesens, sondern auch von den Angehörigen vermieden, das Subjekt auf seinen sozialen oder psychischen Körper anzusprechen. Es wird auch selten nach seiner künftigen Identität gefragt, nämlich wie seiner Meinung nach sein weiteres Leben nach dem körperlichen Umbruch aussehen soll. Der zwischen Tod und Leben geklemmte Konjunktiv. Alles wiederholt sich, die so genannten Anwendungen. Die wunderbaren Entspannungsübungen nach dem Essen, der Spaziergang über die Gänsewiese zum See. Die Wiederholung wird zur Therapie. Mit Freunden, die ›nach mir sehen wollen‹, treffe ich mich auf der Caféterrasse, und der Blick auf den See, die Wiese und die den Horizont beherrschenden Berge erspart mir Auskunft zu geben über meinen Zustand. Es geht mir gut.50 Bisweilen zweifelt das Subjekt, ob es ausreicht, sich in der Rehabilitation allein auf die Körperlichkeit in ihrer somatischen Dimension zu beziehen. Was können die Ärzte? Sie haben mein Leben gerettet. Sie versorgten die Wunden. Sie pflegten mich, und sie haben mich entlassen. Sie haben mir erzählt, wie alles ganz anders werden muss. Habe ich gelernt, alles anders zu machen? Ich habe auf einem Rad getreten wie ein Hamster. Ich durfte zehn Minuten täglich schwimmen. Ich habe mit einem Psychologen gesprochen. Ich habe eine Stunde Qui-Gong gelernt, drei Stunden autogenes Training und eine Stunde Raucherentwöhnung. Ich habe vier Wochen in einer Klinik verbracht, tausend Dinge angefangen und nichts zu Ende geführt. Ich bin zornig.51 Die aufkommenden Gedanken, Empfindungen und Gefühle werden nicht unbedingt mit der Alterität geteilt, selbst wenn es sich um eine Gemeinschaft von Mitpatienten handelt. Die Gespräche am Tisch, morgens, mittags und abends, wiederholen sich, unversehens werfen die Zukunftsängste einen Schatten, sechs Wochen hier und die lange Zeit in der Klinik jenseits des Bewusstseins.52 Das Subjekt merkt am Ende des Moratoriums, dass trotz der ihm zugestandenen besonderen Zeit oder des besonderen Orts nicht alle Spannungen in der Identität gelöst sind. Doch muss das Moratorium deswegen nicht gescheitert sein. In dem Fall, dass es institutionalisiert als Rehabilitation stattfand und vor allem auf die Verbesserung 49 50 51 52

Peinert 2002: 55. Härtling 2007: 16. Huth 2003: 122f. Härtling 2007: 16.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

des körperlichen Befindens ausgerichtet war, kann sich das Subjekt auf das, was ihm geschah und was noch kommen wird, eingestellt haben. Verglichen mit den ersten Wochen meiner Krankheit hatte ich nach der Rehabilitationsbehandlung enorme Fortschritte gemacht. […] In der Zwischenbilanz zum Jahresende 1995 wird deutlich, wie unendlich langsam der Fortschritt voranschreitet und daß immer wieder auch Rückfälle zu verkraften waren.53 In dem anderen Fall, dass das Moratorium nicht institutionalisiert war und das Subjekt den besonderen Ort oder die besondere Zeit dafür nutzen wollte, pathogene Lebensgewohnheiten zu überwinden, sieht es vor der Rückkehr in den Alltag, welchen Gefahren es möglicherweise wieder begegnet. Ich weiß, dass ich nur noch ein paar Stunden und ein paar hundert Kilometer von Hamburg entfernt bin, und vor allem von der Freiheit, die ich in den vergangenen Wochen so genossen habe. Angst? Ja. Vor den Verlockungen aus dem alten Leben, das mich praktisch auf Schienen so einfach und so bequem bis in die Klinik geführt hat.54

5.4

Narzisstisch gestört

Veränderte Ansprache durch die Alterität: Wenn sich im Verlauf der medizinischen Behandlung abzeichnet, dass sich die durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung verlorene gewohnte Körperlichkeit nicht wiederherstellen lässt und dass die körperlichen Veränderungen auf unbestimmte Zeit bestehen oder auf Dauer bleiben werden, bekommt das Subjekt von der Alterität, sowohl von den Spezialisten des Gesundheitswesens als auch von den übrigen Mitgliedern seines sozialen Mesosystems, die Narrative von chronischer Krankheit oder Behinderung angeboten. Indem es von ihnen als chronisch Kranker oder als Behinderter angesprochen wird, verändert sich sein Narzissmus, d.h. die durch die Anderen vermittelte Selbstbezogenheit. Als chronisch krank gilt, wer mehr als vier Wochen lang eine regelmäßige medizinische Versorgung braucht, damit sich seine Krankheit nicht lebensbedrohlich verschlimmert, die Lebenserwartung vermindert oder die Lebensqualität eingeschränkt wird. Für die Selbstbezogenheit des Subjekts beinhaltet das Narrativ von chronischer Krankheit, dass es von nun an bis auf weiteres als Patient dem Gesundheitswesen angehören wird und der Macht der Spezialisten ausgesetzt bleibt, dass sein Körper unverändert als Objekt behandelt wird und dass die Alterität, auf die es bezogen ist, dazu neigt anzunehmen, mehr über seinen kranken Körper zu wissen als es selbst. Auch ist es kaum mehr aufgefordert, aus seinem körperlichen Erleben heraus über sich zu erzählen. Vier Wochen will ich nach der Zeit in Timmendorf nach Hamata, ganz im Süden von Ägypten. 150 Kilometer von Bir Shalatain, der verbotenen Stadt. 151 Kilometer vor dem

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Peinert 2002: 54. Huth 2003: 122.

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Körperlicher Umbruch

Sudan, dem verbotenen Land. Ruhe finden. Doch die Ärzte lachen mich aus. Tauchen? Vielleicht in einem Jahr! Mir stehen Tränen in den Augen.55 Neben dem Narrativ chronischer Krankheit bietet die Alterität dem Subjekt das der Behinderung an. Als behindert wird bezeichnet, wer mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von der für sein Lebensalter typischen körperlichen, seelischen oder geistigen Befindlichkeit negativ abweicht und darin beeinträchtigt ist, am Leben der Gesellschaft teilzuhaben. Das kann doch nicht alles gewesen sein, sagte ich mir. Doch was konnte noch kommen? Wo sollte der Anfang nach dem Ende gefunden werden? Wer brauchte schon einen »Krüppel« – und wozu? Und das Gebrauchtwerden war doch für mich das Wichtigste. Krankenschwester, das war klar, konnte ich im klassischen Sinne mit meiner Schädigung nicht mehr sein.56 Durch das Narrativ von Behinderung wird die Selbstbezogenheit des Subjekts beeinflusst, denn von nun an bis auf weiteres ist es von den üblichen sozialen Erwartungen und Verpflichtungen entbunden. Gleichzeitig erhält es besondere Rechte, welche die Nachteile, die aus seiner veränderten Körperlichkeit herrühren, ausgleichen sollen. Dazu kommt aber auch, dass es dauerhaft jenseits der Binnengrenzen des sozialen Systems als ein relativ Anderer verortet wird, dass es sich selbst und der Alterität als minderwertig und unattraktiv gilt und dass es sich oft rechtfertigen muss, überhaupt noch am Leben zu sein. 1974 wurde ich erstmals berentet. Invalidenrentner – ein Wortungetüm, das mich bedrückte und nun doch meine Wirklichkeit geworden war. Was ich von Beruf war, das konnte ich noch mit einigem Stolz angeben: Krankenschwester. Bei der Frage nach der ausgeübten Tätigkeit hatte ich größere Probleme: Rentner? War das überhaupt eine Tätigkeit, oder war es nicht vielmehr Untätigkeit?57 Beide Narrative verheißen dem Subjekt, die Spannungen seiner Identität zu lösen und die Krise seiner Identität zu überwinden. Indem die Narrative ihm und der Alterität vorgeben, wie über den Körper nach dem Umbruch zu denken und zu sprechen ist, ordnen sie das noch ungewohnte körperliche Erleben des Subjekts und zeigen ihm auf, wie es künftig handeln kann. Indem die Narrative dem Subjekt und der Alterität außerdem bestimmte Rollen zuteilen, scheinen sie den Umgang miteinander berechenbar und erträglich zu machen. So wird die Peinlichkeit vermindert, die es für das Subjekt und die Alterität mitunter bedeutet, einen Körper wahrnehmen zu müssen, der nicht dem gesellschaftlichen Ideal genügt. Doch wird das Peinliche dadurch nicht vollends aufgehoben. Wir müssen unseren Puls messen und marschieren dann in gemächlichen Tempo durch Timmendorf. Das ist uns extrem peinlich, weil wir wirklich aussehen wie das, was wir sind: Patienten. Voran marschiert eine sehr dicke, aber sehr freundliche 55 56 57

Huth 2003: 89. Buggenhagen 1996: 38f. Buggenhagen 1996: 39.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

Therapeutin mit permanent ehrlich guter Laune. Unsere Wegstrecke ist vielleicht ein Kilometer: Wir schämen uns schon wieder.58 Weiterhin tragen die Narrative von chronischer Krankheit oder Behinderung dazu bei, die Angst, die von solcher Körperlichkeit ausgeht, zu verringern. Da die beiden Narrative weit verbreitet und allgemein anerkannt sind, ist das Subjekt, das seine gewohnte Körperlichkeit verlor, bereit, sie, wenn auch bisweilen unwillig, für sich zu übernehmen. Das geht aber erst, nachdem es sich eingestanden hat, dass es seine gewohnte Körperlichkeit auf unbestimmte Zeit oder auf Dauer verloren haben wird. Verdammt, ich bin krank, schwer krank!59 Beide Narrative beinhalten die Annahme, dass der veränderte Körper das Subjekt und die Alterität eher trennt als zusammenführt und dass er das Subjekt davon abhält, sich in seinem Selbst zu verwirklichen. Wegen dieser Annahmen kann das Subjekt, das einen körperlichen Umbruch erlebt, auch dagegen sein, die Narrative für sich zu übernehmen. Es missbilligt, wenn Mitpatienten sich einem von ihnen anpassen. Also »Gut leben nach dem Herzinfarkt«. Auf dem Titel [des Buches; B.R.] zwei radelnde Senioren in Freizeitdress und mit Kukident-Grinsen, die zeigen, dass das tatsächlich möglich ist. Die meisten meiner Mitpatienten in der Curschmann-Klinik hatten sich vorgenommen, genauso auszusehen, genauso zu leben, genauso nach Hause zurückzukommen.60 Das Subjekt wehrt sich gegen die Alterität, die von ihm verlangt, sich rollenkonform zu den Narrativen von chronischer Krankheit oder Behinderung zu verhalten. Ich habe mich laufend an der mir gegen meinen Willen aufgezwungenen Rolle des kranken Patienten gerieben und heftig reagiert, wenn ein Ausbrechen aus dieser Rolle nicht gelang. Das richtete sich sowohl gegen mich selbst, wenn meine physischen Grenzen sicheres und selbständiges Handeln verhinderten […]. Es konnte sich aber auch gegen meine Frau richten, wenn sie mir – meinem Empfinden nach – unerträglich bedrückend in der Rolle des Arztes und der Krankenschwester entgegentrat oder besonders in der Rolle des Chefs der Familie.61 Aus der Weigerung, die Rolle des chronisch Kranken oder Behinderten anzunehmen, ergeben sich Spannungen im Verhältnis zur Alterität. Auf der Fahrt zum Ostersee reißt zu meinem Verdruss der Tagesfaden wieder, verschlafe ich die Hälfte der Fahrt neben Mechthild im Wagen. Ich rede mich heraus: mein Nickerchen. Sie schiebt diese Einbrüche auf meine Schlafapnoe. Weil ich mich weigere, über Nacht die Atemmaske anzulegen. Das nicht, nein, das nicht!62

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Huth 2003: 56. Lesch 2002: 111. Huth 2003: 40. Peinert 2002: 72. Härtling 2007: 15.

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Körperlicher Umbruch

Da es aber innerhalb des sozialen Systems fast unmöglich ist, den Narrativen von chronischer Krankheit oder Behinderung zu entkommen, wird das Subjekt ratlos, wenn es sie nicht in seine Selbstbezogenheit übernehmen will. Dann weiß es zuerst mal nicht, wie es die veränderte Körperlichkeit in seine Identität einbeziehen kann. Ich kann mich nie mehr davon befreien. Herzpatient für den Rest meines Lebens, vielen Dank! Und mein dummer Versuch, die Sache selber in die Hand zu nehmen, fürchte ich, ist gescheitert. Was soll ich nun machen? Auf den zweiten Infarkt warten […]?63 Narzissmus und Krankheit: Der Narzissmus, also die Selbstbezogenheit des Subjekts, wird nicht nur durch die Ansprache der Alterität vermittelt (vgl. Altmeyer 2000), sondern ihn beeinflussen auch alle Ereignisse, die das Selbst berühren. Allgemein, nicht nur bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit gilt: Ereignisse, die viel Aufmerksamkeit beanspruchen, um handhabbar zu sein, beeinträchtigen das Verhältnis des Subjekts zu seiner Umwelt und zu den sozialen Systemen, denen es angehört. Zudem verhält sich die Alterität anders gegenüber dem Subjekt, das sich mit einem kritischen Lebensereignis auseinandersetzen muss, und spricht es anders als zuvor an. Aus klinischer Erfahrung ist bekannt, dass eine Krankheit die Selbstbezogenheit des Subjekts beeinträchtigt. Es heißt (vgl. Freud 1999: 148), durch körperliche Störungen gehe die Bereitschaft zum Lieben verloren und werde durch völlige Gleichgültigkeit ersetzt; der von Schmerz und Missempfindungen Gepeinigte gebe sein Interesse an Dingen der Außenwelt auf, soweit sie nicht sein Leiden betreffen; von seinen bisherigen Liebesobjekten ziehe er sich zurück und höre ganz auf, sie zu lieben, solange er leide. In einer wissenschaftlichen Untersuchung wird nahezu dasselbe gesagt (vgl. Posch 1997: 244–246): Es sei belegt, dass die narzisstische Überbesetzung des Körpersymptoms und der Besetzungsentzug der Objektrepräsentanzen sich wechselseitig bedingten, und zwar je mehr, desto stärker die Krankheit umrissen und auf ein bestimmtes Körperorgan beschränkt sei; es gebe einen Rückzug auf das Körpersymptom, und der wiederum sei reaktiv auf die Krankheit. Dabei bleibt unbeachtet: Wer einen körperlichen Umbruch erlebt, ist nicht nur deshalb weniger auf die Alterität bezogen als sonst, weil das ungewohnte körperliche Geschehen soviel von seiner Aufmerksamkeit verlangt, vielmehr wird sein Narzissmus auch dadurch gestört, dass die Anderen sich auf ihn als Kranken oder Behinderten anders bezieht. Als wir neulich die Straße vom Parkplatz zum Flughafengebäude überquerten, […] antwortete die Familie einfach nicht auf meine Frage. Das war vollkommen richtig, denn in diesem Augenblick ging es nur darum, sicher den Fußweg zu erreichen […]. Trotzdem fühlte ich mich plötzlich wie nicht da […]. Ich war nichts als ein Klumpen Fleisch, der herumgekarrt wurde.64 Gesunder Narzissmus: Neben den gegenwärtigen Erfahrungen ist der Narzissmus immer auch durch Vorerfahrungen bedingt, nämlich wie sich von klein auf die Alterität auf das Subjekt bezog. Um als Erwachsener einen gesunden Narzissmus zu besitzen, muss das Subjekt bereits als Säugling in seinem Verhältnis zur Mutter erlebt haben, von ihr 63 64

Huth 2003: 123. Hull 1992: 109f.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

gehalten, gespiegelt, gebraucht und in seinem Wesen anerkannt worden zu sein. Damit die positive Selbstbezogenheit erhalten bleibt, ist das Subjekt außerdem darauf angewiesen, diese Erfahrung in seinem weiteren Leben zu bestätigen. Auch ein Erwachsener muss sich in der Alterität gehalten fühlen. Es geschieht im jeweiligen Mesosystem meist so selbstverständlich, dass das Subjekt erst dann bemerkt, welchen Halt es täglich bekommen hat, wenn es ihn verlor, sei es dass eine Familie zerbrach, dass ein Arbeitsplatz gekündigt oder dass eine Kultur mit der in ihr üblichen Körper- und Affektkontrolle gewechselt wurde. Weiterhin muss sich auch, wer erwachsen ist, von seiner Alterität gespiegelt fühlen. Das ereignet sich in den sozialen Systemen meist ebenso selbstverständlich, dass dem Subjekt erst dann auffällt, welches Bild des Selbst durch die Anderen aufrecht erhalten wird, wenn es in ein ihm bis dahin nicht vertrautes Exosystem eintritt und dessen Mitglieder ihm auf einmal ein anderes Bild seines Selbst widerspiegeln. Ebenso ist, wer erwachsen ist, darauf angewiesen, von der Alterität gebraucht zu werden. Wiederum wird dem Subjekt oft erst dann bewusst, wie bedeutsam es für das eigene Wohlergehen ist, als Selbstobjekt von den Anderen für ihre Zwecke gebraucht zu werden, wenn es durch Krankheit, Arbeitslosigkeit oder andere Umstände nicht mehr möglich ist; es kann dadurch zur sozialen Marginalisierung bis hin zum somatischen Tod kommen. Schließlich braucht, wer erwachsen ist, für einen reifen Narzissmus auch die soziale Anerkennung der Alterität. Sie erfolgt dadurch, dass sie ihm Rechte und Pflichten zuteilt, seine Fähigkeiten und Leistungen wertschätzt und sich mit ihm in Liebe zusammenfindet. In dem Maße, wie das Subjekt sich von seiner Alterität gehalten, gespiegelt, gebraucht und anerkannt fühlt, wird es in der Lage sein, sich auf sich sein eigenes Selbst zu beziehen und den Anderen zuzuwenden. Bei einem reifen Narzissmus vermag das Subjekt seinerseits der Alterität Halt zu geben und sie zu spiegeln, kann sie für sich gebrauchen, um sein Selbst zu erweitern, und kann ihr intersubjektiv von gleich zu gleich begegnen. Gestörter Narzissmus: Ein gestörter Narzissmus, unabhängig davon, ob er durch einen körperlichen Umbruch bedingt oder auf andere Weise entstanden ist, beeinflusst das Erleben und Verhalten des Subjekts. Es lassen sich folgende Auffälligkeiten seiner Selbstbezogenheit finden (vgl. Altmeyer 2000): Das Selbsterleben des Subjekts ist durch anhaltende Selbstzweifel, ein falsches Selbstbild und einen nicht steuerbaren Wechsel von Minderwertigkeit und Großartigkeit ebenso gekennzeichnet wie durch Selbstbezichtigung und Selbsthass. Das Subjekt ist gleichermaßen unfähig, sich auf sein Selbst zu beziehen, wie ihm der Abstand fehlt, aus dem ihm heraus bewusst wird, was sein Selbst ausmacht. Dazu kann es nicht mit sich allein sein, hat Angst, sich selbst zu begegnen, und unternimmt alles, um das zu vermeiden. In seinen Beziehungen zur Alterität ist das Subjekt darauf aus, in völliger Symbiose mit ihr zu verschmelzen; und es fühlt sich vollkommen, nachdem es mit ihr eins geworden ist, ohne sich Grenzen zum eigenen Selbst bewahrt zu haben. Da das Subjekt ein eigenes Selbst nicht erlebt, ist es existentiell darauf angewiesen, dass die Alterität da ist und es mit ihr verbunden ist; es klammert sich an sie, um sie nicht zu verlieren. Umgekehrt kann das Subjekt darauf aus sein, in scheinbarer Autonomie die Alterität überhaupt nicht mehr zu brauchen;

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und, weil keine Anderen mehr da sind, die ihm seine Grenzen vermitteln, hält es sich für allmächtig. Ihm geht es einzig um das eigene Erleben, Fühlen und Handeln, in der Gegenwart, in der Vergangenheit oder in der Zukunft, ohne sich auf die Alterität zu beziehen. Infolge einer schweren Enttäuschung durch die Anderen verzichtet das Subjekt darauf, von seiner Alterität überhaupt eine Selbstbezogenheit vermittelt zu bekommen; in der Verschmelzung mit den Anderen wird die Begegnung nicht mehr gesucht, weil sie alles sind, im Rückzug von ihnen, weil sie nichts sind. Um der Alterität nicht doch eine Bedeutung für das eigene Selbst geben zu müssen, wird sie als unerheblich und auswechselbar angesehen oder für feindselig erklärt. Der Narzissmus wird dauerhaft gestört, wenn die Alterität dem Subjekt die freundliche Selbstbezogenheit unmöglich macht. Es ist der Fall, wenn die Anderen ihm zu wenig Halt geben oder wenn sie es zu viel halten, wenn sie ihm ein verzerrtes Bild seines Selbst spiegeln oder gar keines, wenn sie es für sich als wertlos erachten und nicht für sich gebrauchen oder wenn sie es umgekehrt zu sehr für sich gebrauchen, überfordern und ausnützen, und wenn sie es entrechten oder verachten oder ihm körperliche oder seelische Gewalt antun. Kränkender Spiegel der Alterität: Mit dem Eintritt in das institutionalisierte soziale System Gesundheitswesen ist das Subjekt mit seinen Kenntnissen nur noch insoweit wichtig, wie es der Alterität damit Aufschluss gibt, was seinem Körper fehlen mag. Auch sein Begehren zählt nur noch insoweit, wie es gewillt ist, den Vorgaben der Spezialisten zu folgen, um seine Gesundheit zurückzugewinnen. Deren Handeln und Sprechen zeigt dem Subjekt, dass ihnen sein Körper zu einem Objekt geworden ist. Es hat ihnen erlaubt, über ihn zu verfügen, ihm selbst hingegen ist sein Körper so fremd geworden ist, dass es ihn gar nicht mehr als einen Teil seines Selbst empfindet. Der Narzissmus des Subjekts ist verändert, weil ihm durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit die vertrauten Formen der Begegnung weitgehend abhanden kamen, ohne schon durch neue gleichwertig ersetzt worden zu sein. Ohne scheinbar selbst die Alterität halten zu können, bekommt das Subjekt Halt von ihr für seine körperlichen Bedürfnisse, auf die nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit sein Erleben eingeengt ist, aber zugleich wird ihm aufgezeigt und vorgeschrieben, wie es sich als Patient verhalten muss, um auch weiter von der Alterität gehalten zu werden. Außerdem erblickt das Subjekt im Spiegel der Alterität vor allem sein Bild als hilfsbedürftiger Kranker, während es in seiner Not bereit ist, den Anderen, schon um ihre Zuwendung nicht zu verlieren, zuerst und vor allem einmal zu spiegeln, wie wichtig sie ihm sind. Ferner steht das Subjekt nicht wie bisher im Austausch mit der Alterität, um sie für sich zu gebrauchen oder von ihr gebraucht zu werden. Stattdessen ist das Subjekt lebensnotwendig auf die Spezialisten des Gesundheitswesens angewiesen, die vermeintlich seiner aber nicht bedürfen, um ihr Leben zu erhalten; auch seinen Angehörigen scheint es in seiner veränderten Körperlichkeit nutzlos geworden zu sein. Selten kann das Subjekt schließlich in der Alterität entdecken, dass sie sich in seinem Leid wiederfindet; und sein Affekt bleibt von ihr oft unerwidert. Vielmehr nimmt es in der Hinwendung zu den Anderen seine Begrenztheit und Sterblichkeit wahr, während die Anderen über Leben und Tod zu stehen scheinen. Was beim körperlichen Umbruch geschieht, ist für das Subjekt und die Alterität gleichermaßen sinnlos; Sinn scheint sich nur noch aus dem zu ergeben, wie die Spe-

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

zialisten des Gesundheitswesens ihm gegenüber handeln und sprechen. In der Krise muss das Subjekt erkennen, wie existentiell abhängig es von den Anderen ist und wie bedroht sein Selbst, aber auch, wie sehr es bereit ist, sich ihnen anzupassen, um zu überleben. Diese Erkenntnis kränkt. Der Blick in den Spiegel der Anderen schmerzt. Nach dem Verlust der vertrauten Alterität auch noch das Selbst zu verlieren, ängstigt. Sich aufgegeben zu haben, beschämt. Wenn das Subjekt eigene Versäumnisse für sein Befinden verantwortlich macht, fühlt es sich schuldig. Die Selbstbezogenheit des Subjekts ändert sich weiterhin, wenn zum Rückzug des Selbst vom Körper bzw. zu dessen Besetzung durch das ungewohnte körperliche Geschehen der Rückzug der Alterität vom Subjekt bzw. dessen Verschmelzen mit ihr kommt. Indem beim körperlichen Umbruch das Subjekt seinen Körper der Alterität als ein von ihr zu behandelndes Objekt überlässt, kann es mit seinem Selbst auch nicht mehr handelnd die Welt und die Alterität für sich besetzen. Da das Subjekt nicht mehr über seinen Körper verfügt, vermag es den Anderen nicht mehr stimmig von seinem Erleben zu erzählen. MS zu haben, diese Einsicht hat mich seelisch verletzt. Ich sah meine Selbstständigkeit in Gefahr. Um mich vor Enttäuschungen zu schützen, ließ ich kaum jemanden an mich ran. Im Prozess der Auseinandersetzung mit der Krankheit fiel mir auf, dass ich meine Geschichte unterschiedlich erzählte, je nachdem wie ich meine Geschichte interpretieren wollte.65 Stattdessen werden dem Subjekt von der Alterität mit den Narrativen von chronischer Krankheit oder Behinderung Angebote gemacht, wie es sein Erleben ordnen soll. Auch sie beeinflussen das Subjekt in seiner Selbstbezogenheit. Mit ihnen geht einher, dass dem Subjekt, das als chronisch krank oder behindert gilt, ein Verhalten entgegengebracht wird, das sich von früheren deutlich unterscheidet. Das Subjekt hört, wie Eigenschaften, mit denen sich sein veränderter Körper beschreiben lässt, übermäßig betont und auf seine Identität als ganzes bezogen werden. Es erlebt, dass für die Alterität nicht nur sein Körper chronisch krank oder behindert ist, sondern es selbst. Auch bemerkt es, wie vermieden wird, mit ihm in Beziehung zu treten, oder, falls es sich nicht umgehen lässt, dass dann vermieden wird, seine besondere Körperlichkeit zu erwähnen oder seiner Erzählung über das Ungewöhnliche, das der körperliche Umbruch mit sich bringt, zuzuhören. Der Narzissmus des als chronisch krank oder behindert angesprochenen Subjekts wird durch die Alterität schließlich dadurch gestört, dass ihm Hilflosigkeit unterstellt wird. Es erscheint stets als ein Nehmender, nie als ein Gebender, und dauerhaft an Wohlbefinden, Lebensglück, Macht, Erfolg und Zufriedenheit gehindert. Ihm wird daher paternalistisch Fürsorge entgegengebracht oder, wenn es dem Bild widerspricht, offene Feindseligkeit (vgl. Rommelspacher 1999: 205). Für seine Selbstbezogenheit übernimmt das Subjekt, dass sein veränderter Körper sozial gering geschätzt wird, selbst wenn es die Alterität ihm nicht eigens vermittelt. Dann entwertet es sich selbst.

65

Anonym [Tanja] 2005: 125.

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Während des kurzen Schlafes seit meinem letzten bewußten Gedanken war aus mir ein Krüppel geworden.66

5.5

Vor der Rückkehr in den Prozess

Mögliche Einstellungen zum Verlust: Wie das Subjekt mit der Krise umgeht, in die es durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit geriet, und ob es die psychiatrischen Auffälligkeiten, den Stillstand im Werden und die narzisstische Störung aufheben wird, hängt davon ab, wie es auf das Geschehen, das sein Selbst überwältigte, zu antworten vermag. Drei grundsätzlich verschiedene Einstellungen sind möglich: Bei einer eher konstruktiven Einstellung kann das Subjekt sich durch das, was ihm geschehen ist, herausgefordert fühlen. In einem offenen Prozess zieht es alle ihm verfügbaren Ressourcen herbei, um die Spannungen seiner Identität auf eine neue, nicht vorhersehbare und nicht aus Gewohnheiten und Vorerfahrungen ableitbare Weise zu überwinden (vgl. Boothe et al. 1998: 44–49). Letztlich geht das Subjekt aus der Krise gestärkt hervor. Bei einer eher destruktiven Einstellung hingegen lehnt das Subjekt es ab, dem Geschehen eine Bedeutung zu geben. Vielmehr setzt es alles daran, so weiterzuleben, als habe sich nichts Besonderes ereignet. Es lässt die Vorstellung nicht zu, dass es betroffen ist, und blendet Widersprüche, die sich zu seiner Wirklichkeit ergeben, aus. Dennoch wird es von dem Geschehen beeinflusst; denn um die Abwehr aufrechtzuerhalten, braucht es Kraft, die ihm an anderer Stelle fehlt. Bei einer eher defizitären Einstellung – und das ist die dritte Möglichkeit – vermag das Subjekt seine Ohnmacht nicht aufzugeben. Sein Selbst bleibt von dem Geschehen beherrscht, das die Krise hervorrief. Ihm erscheint es zwecklos, etwas zu beginnen. Allenfalls verlangt es von seiner Alterität, dass sie etwas unternimmt, das seine Lage verbessern könnte. Das Geschehen ist traumatisch geworden. Auch wenn das Subjekt in seinem Leben noch keinen körperlichen Umbruch erlebte, kann es auf Vorerfahrungen zurückgreifen, die ihm helfen, das Geschehen als Herausforderung anzunehmen. Zum einen dürfte das Subjekt selbst schon Krisen gemeistert haben, sodass es weiß oder zumindest ahnt, welch ein innerer Prozess danach möglich wird. In seinem Selbst findet es Wege, die es bereits einmal in vergleichbarer Lage mit Erfolg gegangen ist. Den Rest des Tages war ich sehr weinerlich und traurig. Es dauerte bis zum Abendessen, bis ich von diesem Selbstmitleid genug hatte. Da wußte ich, daß ich mich zusammenreißen mußte. Selbstmitleid hatte ich noch nie gemocht. Nach allem, was ich erlebt hatte, kam man aus dieser Falle nicht mehr heraus, wenn man einmal damit anfing.67 Zum anderen kann das Subjekt – vielleicht mehr unbewusst als bewusst – bei der Alterität mitbekommen haben, wie sie in der Vergangenheit mit einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung umging. Indem es 66 67

Mills 1996: 220. Mills 1996: 226.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

sich an diesem Beispiel ausrichtet, erhält es eine Vorlage für sein Handeln. Nachdem dem Subjekt einmal verstanden hat, wie die Krise seines Selbstverständnisses und die Veränderungen seiner gewohnten Körperlichkeit zusammenhängen, wird es ihm möglich, sich auf den körperlichen Umbruch einstellen. Es beginnt, sich dazu zu verhalten. Mir schoss durch den Kopf: »Sollen all die Schmerzen, all die Qualen, all das, was du bisher durchgemacht hast – soll das jetzt wirklich umsonst gewesen sein? Oder musst du einfach begreifen, akzeptieren, dass dir in den nächsten Wochen und Monaten ein anderes Leben bevorsteht? Ein sehr begrenztes Leben!«68 Dabei sind grundsätzlich zwei Antworten auf das ungewohnte körperliche Geschehen vorstellbar: Erstens, das Subjekt wünscht sich, in den früheren Zustand zurückzukehren. Es hofft, die Spannungen in der Identität zu überwinden, indem es ihm gelingt, die körperliche Schädigung zu beheben. Wenn ich mein altes Selbst wiederfinden wollte, mußte ich zunächst wieder lernen, sicher auf meinen Beinen zu stehen, auch auf dem beschädigten linken, und sicher meinen linken Arm einzusetzen. […] Erst wenn ich meinen Körper wieder voll beherrschen gelernt habe, kann ich mein altes Selbstvertrauen wieder voll erlangen und mein Leben gestalten, wie ich es mir vorstelle.69 Oder, und das ist die zweite vorstellbare Antwort, das Subjekt findet sich damit ab, dass es unmöglich ist, den früheren Zustand wiederzugewinnen. Wenn es seine Hoffnung aufgibt und die körperlichen Veränderungen als gegeben annimmt, verringern sich ebenfalls die Spannungen in der Identität. Mit jedem Tage, der verstrich, sank meine Hoffnung, wieder als Model zu arbeiten. Ich wurde immer realistischer. Gleich, wie gut ich mit meinem künstlichen Bein fertigwurde, es würde immer ein Handicap bedeuten.70 Wechselspiel zwischen innen und außen: In einem merkwürdigen, immer wieder anderen, scheinbar widersprüchlichen Wechselspiel zwischen innen und außen gewinnt das Subjekt allmählich seine Einstellung zu dem Geschehen, das sein Selbst überwältigte. In diesem Prozess sind anfangs die Grenzen nach innen zum eigenen Unbewussten weit offen oder starr geschlossen: Mit heftigem Affekt wird das Subjekt von Erinnerungen an früher Geschehenes und noch nicht Verarbeitetes heimgesucht oder es hat durch das kritische Ereignis im Gegenteil den Zugang zu seinen Empfindungen verloren, sodass es nicht mehr zu sagen weiß, was ihm wesentlich ist. In derselben Weise beinhaltet anfangs die Hinwendung zur Alterität Gegensätzliches: Misstrauisch gegenüber allem, was ihm von außen angeboten wird, fühlt sich das Subjekt verlassen, wenn die Rettung nicht von außen kommt, oder es übernimmt vertrauensselig unter Aufgabe seines Selbst alles für sich, was ihm von den Anderen vorgeschlagen wird. Gerade weil das Subjekt nach dem Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit oft verzweifelt ist, ist seine Suche in hohem Maße nach außen gerichtet. Und zugleich wird es nach und 68 69 70

Lesch 2002: 104f. Peinert 2002: 87. Mills 1996: 236.

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nach für sich und für die Alterität aufmerksamer als zuvor. Es merkt, dass ihm manche hilfreich sind, andere nicht, dass manche es ernst meinen, wenn sie mit ihm sprechen, andere dagegen vor allem etwas sagen, um sich selbst zu beruhigen. Der Rückhalt, den das Subjekt von der Alterität bekommt, ist nicht immer einfach anzunehmen. Durch den Schlaganfall hatte ich die Basis meiner Selbstbestimmung verloren und habe sie bis heute nicht voll zurückgewonnen. Ohne die Hilfe von anderen, besonders von meiner Frau und meinen Kindern, von guten Freunden und Nachbarn, kann ich nicht existieren. Es hat lange gedauert, bis ich diesen Zustand akzeptieren konnte, er gibt immer wieder Anlaß zu starken inneren Spannungen.71 Auch die Hilfsmittel, die als Ressourcen in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende vorhanden sind, tragen dazu bei, dass das Subjekt seine Krise zu überwinden beginnt. Ich spüre häufig so ein Zucken in der linken Seite. Manchmal ein Stechen, oft schrecke ich nachts auf und bin panikwach. […] Jetzt bin ich repariert und guter Hoffnung. Das Zucken ist noch da, aber ich vertraue den Medikamenten.72 Bei aller Suche im Außen wird dem Subjekt mit der Zeit deutlich, dass es nur in sich finden kann, was es braucht, und dass es seinen Weg letztlich alleine gehen muss. Womit sich das Subjekt bei einem körperlichen Umbruch innerlich auseinandersetzt, drückt sich in seinen Träumen aus. Konkret, symbolisch und metaphorisch verdichten sie sein Erleben mit dem veränderten Körper. Bildhaft zeigen sie ihm, wie es die Spannungen in seiner Identität verringern kann. Da sich während des Schlafes das Gehirn in anderen Aktivitätszuständen befindet als im Wachen, wird ein im Gedächtnis gespeichertes Wissen abgerufen, das dem Subjekt bewusst nicht zugänglich ist (vgl. KoukouLehmann 1995: 102–117). Das führt dazu, dass Träume dem Subjekt helfen, eine Antwort auf den körperlichen Umbruch zu finden. Sie machen ihm begreiflich, was ihm geschehen ist, und bestärken das durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit verminderte Kohärenzempfinden, indem sie unbewusste Bedingungen des Selbst darstellen (vgl. Fiss 1995: 13–19). Selbst wenn das Subjekt nicht versteht, was seine Träume bedeuten, organisieren und interpretieren sich in ihnen Gegenwärtiges und Vergangenes wechselseitig und integrieren sie dabei, was zukünftig sein wird. Trotz dieser Ungereimtheiten markiert dieser Musiktraum eine wichtige Stufe. Zum ersten Mal bin ich in einer Situation, in der zugegeben wird, daß das Blindsein die Ursache für eine Krise ist. In dem Traum wußte ich, daß mein Blindsein der Grund dafür war.73 Grenzüberschreitung: Wenn das Subjekt es schafft, den Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit als gegeben anzunehmen, überschreitet es die Grenze, die den körperlichen Umbruch von den vorübergehenden Veränderungen der Körperlichkeit unterscheidet, wie sie bei einer akuten Krankheit, bei Erschöpfung, bei Hunger und Durst, im Fieber 71 72 73

Peinert 2002: 39. Huth 2003: 48. Hull 1992: 59.

5. Moratorium für das überwältigte Selbst

oder während einer Schwangerschaft eintreten. Damit geht dem Subjekt zwar endgültig verloren, wie gewohnt über das eigene Selbst zu verfügen, aber zugleich wird ihm eine neue Sichtweise auf sein Leben zuteil. Indem es seine Hoffnung aufgibt, alles werde wieder so gut, wie es davor gewesen sei, gewinnt es Kraft, um seine Identität der veränderten Körperlichkeit anzupassen. Der Rollstuhl, den ich so gefürchtet hatte, war am Ende wie eine Erlösung, eine Befreiung für mich. Die Endstation meiner vielen Stationen, das, was unterm Schlußstrich von drei, vier Jahren, in den ich nur ein Leben gelebt zu haben schien, übrig geblieben war. Schlechter konnte es im Grunde nicht mehr werden, ich war angekommen. Ganz unten, wie die einen mitleidig-bedauernd meinten. Am Punkt Null, der Startlinie für ein zweites, anderes Leben, wie ich mir trotzig sagte. Ich hatte abgehakt, was nicht zu ändern war, und endlich den Kopf frei für das, was vor mir lag. Nach hinten zu schauen, das brachte nichts mehr, davon konnte ich nichts mitnehmen, ohne daß es mich noch mehr behinderte. Da vorn, da lag mein Leben, von dem ich keine Ahnung hatte, wie es sein würde, was es bereithielt, wohin es führen kann. Ich wußte es nicht, aber ich wußte, daß ich die Jahre davor nicht noch einmal erleben möchte.74 Während das Subjekt in der Krise sein Dasein als sinnlos erlebt und über seine Lage verzweifelt ist, blickt es nun wieder nach vorne. Es fängt an, sein Verhältnis zu seiner Umwelt, zu den sozialen Systemen, denen es angehört, und zu seinem Selbst zu ordnen. Es setzt Lösungen in die Tat um, die ihm entsprechen, auch wenn sie bisweilen nicht dem entsprechen, was ihm geraten wurde. Nicht nur versteht das Subjekt sein gegenwärtiges Erleben mit dem veränderten Körper besser, sondern auch frühere Erfahrungen. Es beginnt, die Ganzheit des Selbst, die durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung zerbrach, in neuer Gestalt zusammenzufügen (vgl. Kick 2005: 79–83). Was gewesen ist, muss nicht verworfen werden, sondern wird in der angepassten Identität bewahrt. Frühere Anliegen, die das Subjekt schon vor seiner Krise bewegten, sind aufgehoben und werden, abgewandelt durch neu gewonnene Erkenntnisse, fortgeführt. Wenn sich das Subjekt dem ungewohnten körperlichen Geschehen und dessen Folgen hilflos ausgesetzt fühlte und oft nur ohnmächtig hinnahm, was ihm geschah, handelt es nun wieder, erzählt es von sich und gewinnt es vertiefte Erkenntnisse über sich und die Alterität. Damit das Subjekt vom Stillstand in den Prozess der Identitätsarbeit zurückkehrt, muss es die Angst aushalten, die es macht, überkommene Denkmuster zu verwerfen. Aber das ist nicht mehr die rückwärts gewandte Angst vor dem Verlust dessen, was es bis dahin im Leben erreichte oder was ihm Sicherheit gab, sondern angesichts des Unbekannten, das der umbrochene Körper mit sich bringt, eine existentielle Angst vor dem Tod, vor Auflösung, bleibender Leere, Schuld, sozialer Ausgrenzung und andauernder Entfremdung vom eigenen Selbst und von der Alterität. Die Arbeit, mit der das Subjekt seine bisherige Identität den körperlichen Veränderungen anpasst, kommt voran, wenn es sie mit Neugier angeht. Es ist möglich, dass das Subjekt bewusst erfassen will, wie der Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit seine Sexualität beeinflusst.

74

Buggenhagen 1996: 41f.

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Wie wirkt sich das Blindsein auf den Liebesakt aus? Muß der blinde Partner nicht primitiver werden? […] Ist es andererseits nicht denkbar, daß ein Blinder, der in so starkem Maße auf Berührung, Geruch und Geschmack angewiesen ist, in dieser Situation, in der die körperliche Wahrnehmung alles ist, eine neue Zärtlichkeit und ein neues Empfindungsvermögen entwickeln kann?75 Auch kann das Subjekt verstehen wollen, wie sich der körperliche Umbruch auf die Alterität oder auf sein Unbewusstes auswirkt. Mich interessierte, wie meine Kinder allmählich entdecken würden, was es bedeutete, einen blinden Vater zu haben […]. Mich interessierte, was mit meinen Träumen passieren würde.76 Bisweilen geht es dem Subjekt dabei um spezifische Fragen, die sich aus dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergeben haben, die es aber nur zu beantworten vermag, wenn es sein Leben mit dem umbrochenen Körper fortsetzt. Wie lange muß man blind sein, bevor man anfängt, nicht mehr in Farben zu träumen? Träumt man immer weiter in Bildern?77 Mit Neugier kann das Subjekt erfahren wollen, welch allgemeines Identitätsempfinden sich nach dem körperlichen Umbruch herausbilden wird. Ich mußte positiv sein. Wieder einmal sollte sich die Richtung meines Lebens ändern, darum kam ich nicht herum. Das war schon öfter geschehen, und ich war immer damit fertiggeworden. Warum betrachtete ich es nicht einfach als Abenteuer? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie dieses neue Leben aussehen würde, aber wer wollte sagen, daß nicht noch etwas Lohnenderes dabei herauskam als das Modeldasein?78 Schließlich kann es dem Subjekt ein Anliegen sein herauszufinden, wie sich nach dem körperlichen Umbruch authentisch leben lässt. Ein Selbstmord würde mich von meinem momentanen unendlich tiefen Seelenschmerz erlösen. Oder auch nicht. Ich würde aber durch eine Selbsttötung nie erfahren, wie es ist, bei vollständig intakter geistiger und psychischer Verfassung Arme und Beine nicht mehr bewegen zu können. Nie erfahren, wie es ist, von Menschen und Maschinen physiologisch abhängig zu sein. Soziale, finanzielle Nöte erleben zu müssen. Oder zu dürfen und damit eine lehrreiche Lebensreise zu beginnen.79

75 76 77 78 79

Hull 1992: 71. Hull 1992: 12. Hull 1992: 28. Mills 1996: 227. Balmer 2006: 11f.

Zweiter Teil

Die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch

Nachdem im ersten Teil die Geschichte des körperlichen Umbruchs erzählt worden ist, bis das Subjekt die infolge der körperlichen Veränderungen eingetretene psychische Krise zu überwinden beginnt, wendet sich der zweite Teil der Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch zu. Dafür wird im ersten Kapitel das Konstrukt der Identität eingeführt. Die bestehende Struktur der Identität einschließlich der Körperidentität wird so beschrieben, dass sich daraus innere Bedingungen für die weitere Identitätsarbeit ableiten lassen. Aber erst wenn das Subjekt das körperliche Geschehen infolge von Unfall, Verletzung oder Erkrankung deutet und mit Vorerfahrungen verknüpft, ergibt sich der eigentliche körperliche Umbruch, auf den mit der Identitätsarbeit geantwortet wird. Das zweite Kapitel schildert die Identitätsarbeit als einen reflexiven Prozess, bei dem das Subjekt gleichermaßen zurück wie nach vorne blickt. Im Unterschied zur Krankheitsbewältigung werden unter Wahrung übergeordneter Identitätsziele Identitätsentwürfe zu Identitätsprojekten verdichtet und in die Tat umgesetzt, welche die veränderte Körperlichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen einbeziehen. Da die Identitätsarbeit nicht allein aus sich heraus erfolgt, sondern stets von den sozialen Systeme abhängig ist, denen das Subjekt angehört, befasst sich das dritte Kapitel mit den ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen, die es sich dafür erschließt, sowie deren Transformation in das Selbst. Im Prozess der Identitätsarbeit entsteht ein allgemeines Identitätsempfinden, das der veränderten Körperlichkeit angepasst ist. Es wird im vierten Kapitel im Einzelnen vorgestellt; des Weiteren behandelt dieses Kapitel die entstandene Körperidentität, das Verhältnis des umbrochenen Körpers zu den verschiedenen Teilidentitäten und die umgedeutete Vergangenheit, aber auch die Ausrichtung der Identitätsarbeit an den Vorgaben der Alterität. Das fünfte Kapitel veranschaulicht schließlich, wie das Subjekt der Alterität von seiner veränderten Körperlichkeit erzählt und mit ihr im sozialen System handelt; dabei wird auch betrachtet, wie das Subjekt mit den Grenzen des sozialen Systems umgeht, auf die es mit dem umbrochenen Körper stößt. Mit dem umbrochenen Körper im sozialen System befasst sich dann der dritte Teil.

1. »Das wöchentliche Bad taucht mich zugleich in Jammer und Glückseligkeit.« – Struktur der Identität und Ereignis

Die Identität des Subjekts bestimmt als psychosoziale Struktur sein bewusstes Erleben und sorgt für ein Gleichgewicht bei seinen inneren Prozessen. Aus der Struktur der Identität lässt sich ableiten, wie das Subjekt mit den Geschehnissen, die ihm widerfahren, umgehen wird. Denn mit der Struktur der Identität wird unter lebensweltlicher, zeitlicher und inhaltlicher Perspektive das Geschehen verknüpft, das vom Subjekt zuvor wahrgenommen und gedeutet worden ist. Im Folgenden wird zuerst das theoretische Konstrukt Identität eingeführt und gegenüber Konzepten wie Selbst und Charakter abgegrenzt (1.1). Bezugnehmend auf Vorerfahrungen aus der Kindheit werden danach verschiedene Bedingungen weiterer Identitätsarbeit herausgearbeitet (1.2); denn sie machen verständlich, wie das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erlebt und wie im Weiteren der körperliche Umbruch verläuft. Eine entsprechende Bedeutung kommt der bisherigen Körperidentität zu, die als nächstes dargestellt wird (1.3). Wahrnehmung und Deutung der veränderten Körperlichkeit durch das Selbst und die Verknüpfung des körperlichen Umbruchs mit der Identität werden kurz beschrieben (1.4), ehe die verschiedenen Perspektiven der Verknüpfung aus Sicht des Subjekts ausführlich geschildert werden (1.5). Damit wird deutlich, dass die körperlichen Veränderungen und ihre unmittelbaren Folgen, welche die Identität erschüttert haben, zu einem Ereignis werden, worauf das Subjekt mit Bewusstheit antworten kann.

1.1

Exkurs zum Konstrukt Identität

Begrifflichkeit: Die Identität des Subjekt bezeichnet, was dessen besonderes Wesen ausmacht – sowohl zum gegebenen Zeitpunkt als auch über die Zeit hinweg. Was im Einzelnen genau gemeint ist, wenn von Identität gesprochen wird, lässt sich unter drei verschiedenen Blickwinkeln näher bestimmen (vgl. Ferrara 1998: 78f.): Zum Ersten beschreibt das Konstrukt Identität phänomenologisch gesehen, was das Subjekt angesichts eines Ereignisses erlebt und wie es sich ihm gegenüber verhält. Dieses subjekti-

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ve Erleben und Verhalten geht mit einer einzigartigen Mischung von Empfindungen, Gefühlen und Gedanken, von Absichten und Erwartungen, von Wünschen und Bedürfnissen einher. Es ist beeinflusst von den Vorerfahrungen des Subjekts, die im deklarativen Gedächtnis gespeichert sind, sich bewusst als Erinnerungen abrufen lassen und sich zu einer zusammenhängenden und erzählbaren Lebensgeschichte fügen können, und von solchen Vorerfahrungen, die im prozeduralen Gedächtnis gespeichert, dem Bewusstsein entzogen sind und das unbewusste Selbst ausmachen. Zudem ist das gegenwärtige Erleben und Verhalten durch die auf die Zukunft gerichteten Hoffnungen und Befürchtungen des Subjekts und durch den von ihm angestrebten Zustand seiner zukünftigen Identität beeinflusst. In der soziologischen Perspektive erfasst das Konstrukt Identität zum Zweiten, was das Subjekt mit der Alterität in den sozialen Systemen verbindet. Aus gemeinsamen kulturellen Wurzeln und der Verbindung zu einer gemeinsamen Geschichte entsteht ein Empfinden von Zugehörigkeit. Die Handlungen, die das Subjekt in den sozialen Systemen vollzieht, geben ihm in dem Maße Teilhabe, wie sie an dessen Zielen ausgerichtet sind. Aus den Rollen, die das Subjekt übernimmt, die ihm zugeschrieben werden oder die es ausführt, ergeben sich Erwartungen, die von der Alterität an das Subjekt gerichtet werden; und sie wiederum geben vor, inwieweit es mit den von ihm erbrachten Leistungen wert geschätzt wird. Aus psychodynamischer Sicht erklärt das Konstrukt Identität, was das Subjekt infolge der psychischen Repräsentation des Selbst in seinem Bewusstsein kennzeichnet. Unabhängig davon, inwieweit eine psychische Struktur als körperlich gegeben oder als sozial geprägt angesehen wird, gehören zur psychischen Repräsentation des Selbst die angeborenen Begabungen und die erworbenen Fähigkeiten des Subjekts, seine Motivationen, die sich aus dem Wunsch nach Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse, nach emotionaler Beziehung oder nach sozialer Anerkennung ergeben, und seine Ideale und übergeordneten Ziele, die wiederum nicht zu trennen sind von den verinnerlichten früher gemachten unbewussten Beziehungserfahrungen. Somit entspricht phänomenologisch, soziologisch und psychodynamisch das Konstrukt Identität der Bewusstheit des Selbst in Beziehung zur Alterität. In der Identität ist dauerhaft, aber doch in stetem Wandel das gefasst, was das Subjekt über sein Selbst denkt, und das, was es annimmt, dass die Alterität über sein Selbst denkt. Selbstbild und Fremdbild kommen in der Identität zusammen, entweder stimmig passend, spannungsvoll aufeinander bezogen oder unvereinbar auseinanderfallend. Konstrukt mit Gegensätzen: Wenn darüber gesprochen wird, was Identität bedeutet, kommen unterschiedliche Auffassungen zusammen. Sie lassen sich in fünf Gegensatzpaaren darlegen (vgl. Keupp et al. 1999: 63–70): Als erstes ist es der Gegensatz von Universalität versus Aktualität. Für die Einen ist die Frage, die das Subjekt stellt, um seine Identität zu klären, nämlich »Wer bin ich?«, eine, die weit über die heutige Zeit hinausgehe, da sie doch in der Antike schon die Menschen beschäftigte. Für die Anderen ist es dagegen eine Frage, die vor allem von den Mitgliedern der westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende verhandelt werde, während sie ihrer Meinung nach in anderen Kulturen ohne Belang sei und oft nicht einmal verstanden werde. Diese gegensätzlichen Auffassungen lassen sich mit der Annahme überbrücken, dass es erst in der Moderne zur besonderen Aufgabe des Subjekts wurde, seine Identität immer wieder von Neuem

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zu bestimmen, während sie in der Vormoderne durch die sozialen Rollen vorgegeben war und wenig abgeändert werden konnte. Weil außerdem in der Postmoderne die sozialen Institutionen zerfallen, die es bis dahin vermochten, Identität zu stiften, wird es für das Subjekt noch dringlicher, sich individuell eine Identität zu bilden. Zum Zweiten beinhaltet das Konstrukt Identität den Gegensatz von Struktur versus Prozess. Als bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts von Soziologen wie George Mead (vgl. Mead 1967) und Psychoanalytikern wie Erik Erickson (vgl. Erickson 1959) ausgearbeitet wurde, was Identität bedeutet, wurde sie als etwas angesehen, das während der Jugend einmal gefunden werden müsse, dann aber zeit Lebens unverändert beibehalten und ausgelebt werde. Dagegen wird um die Jahrtausendwende mehr betont, dass die äußeren Veränderungen, die das Subjekt während seines Lebens bewältigen muss, es erfordern, immer wieder neu Einflüsse aus der Umgebung und Bedürfnisse des Selbst stimmig miteinander zu vereinbaren, damit die Identität nicht in eine Krise gerät. Der Gegensatz zwischen diesen Auffassungen kann dadurch überwunden werden, dass behauptet wird, Identität sei einerseits bleibende Struktur und müsse andererseits in einem dauernden Prozess der Identitätsarbeit lebenslang angepasst und umgebaut werden. Das verlangt vom Subjekt, wiederkehrend Spannungen in seiner Identität einzugehen und auszuhalten sowie zugleich seine Identität in Projekten zu entwerfen und diese erzählend und handelnd in die Tat umzusetzen. Zum Dritten gehört zur Identität der Gegensatz von Einheitlichkeit versus Vielfalt. Die eine Ansicht besagt, dass es eine Aufgabe des Subjekts sei, die unterschiedlichen Lebenswelten, in denen es sich aufhält, in sich zusammenzufügen, da die Gesellschaften der Moderne in sich vielfältig seien. Demnach hat es einen hohen Stellenwert, wenn es dem Subjekt gelingt, seine verschiedenen Teilidentitäten, die sich aus nationalen und ethnischen Zugehörigkeiten, konfessionellen Bindungen, sozialen Beziehungen in Familie, Arbeit und Freizeit, sexueller Orientierung, Geschlecht und Körperlichkeit ergeben, kohärent zusammenzufügen. Dem gegenüber vertritt die andere Ansicht, dass es angesichts der zersplitterten Wirklichkeiten der postmodernen Gesellschaft dem Subjekt unmöglich sei, eine einheitliche Identität zu erzeugen, und dass es vielmehr seine Handlungsfähigkeit im Alltag erhöhe, wenn die Identität dissoziiert. Ein Versuch, diesen Gegensatz aufzuheben, führt zu der Überlegung, dass es für das Subjekt zwar erforderlich ist, sich immer wieder um Kohärenz zu bemühen, um zu verhindern, dass sich seine Identität auflöst, dass der notwendige Grad an Kohärenz für die einzelnen Subjekte aber unterschiedlich ist. So haben manche das Bedürfnis, ihre Identität als zusammenhängendes Ganzes zu entwickeln, und verstehen es, unterschiedliche Lebenserfahrungen zu integrieren, während andere es vorziehen, die verschiedenen Teilidentitäten an einen Identitätskern lose anzugliedern. Zum Vierten bringt das Konstrukt den Gegensatz von Singularität versus Alterität auf. Die eine Seite besagt: Die Identität des Subjekts ergibt sich allein aus seinem Bezug zu sich selbst und sie wird in ihrer Einzigartigkeit unabhängig von sozialen Beziehungen aufrecht erhalten. Dagegen besagt die andere Seite: Ein Empfinden für das eigene Selbst ist ohne die Alterität überhaupt nicht denkbar und wird gerade erst durch deren Verhalten, Erwartungen und Zuschreibungen und die Auseinandersetzung damit geschaffen. Wenn jedoch angenommen wird, dass die Identität die Alterität braucht, um sich in unverwechselbarer Eigenheit zu entwickeln, bewahren und fortführen zu kön-

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nen, verliert dieser Gegensatz seine Schärfe. Identität wird demnach in einem bisweilen spannungsvollen Austausch mit der Alterität ausgehandelt, bestätigt oder verworfen. Zum Fünften schließlich verweist Identität auf den Gegensatz von Substanz versus Narration. Für manche braucht das Subjekt die Sprache nur, um über die in seinem Inneren verankerte Identität zu berichten, die sich infolge der von Natur aus gegebenen Körperlichkeit unabhängig von kulturellen Prägungen ergab, während für andere sich Identität als ein Bewusstsein des eigenen Selbst erst dann bildet, wenn der Alterität vom eigenen Erleben und Verhalten erzählt wird. Diese gegensätzlichen Standpunkte lassen sich vereinbaren, indem beide Ansätze miteinander verschränkt werden und das Subjekt von sich erzählen muss, um ein Verhältnis zu seinem Selbst, seinem Körper und seiner Umgebung zu finden, sich seiner Identität zu versichern und sie gegenüber der Alterität zu entäußern. Diese Gegensätze, die das theoretische Konstrukt Identität kennzeichnen, lassen sich in jedem Subjekt finden. Doch da sie von jedem wieder in einer ganz eigenen Weise überwunden sind, ergibt sich gerade dadurch die Verschiedenheit der einzelnen Mitglieder eines sozialen Systems. Psychosoziale Funktion: Zusammengefasst stellt sich die Identität als eine psychosoziale Struktur dar, die Innenwelt und Außenwelt des Subjekts ebenso miteinander verbindet wie seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie beruht geradezu darauf, dass das Subjekt sowohl zu zwei verschiedenen Zeitpunkten seinen Körper als Einheit erlebt als auch sein Selbst zwischen den zwei Zeitpunkten. Als ein einzigartiges und einigermaßen zusammenhängendes Ganzes (vgl. Erikson 1959) sorgt die Identität des Subjekts einerseits für ein Gleichgewicht bei seinen inneren Prozessen und legt andererseits fest, welche äußeren Ereignisse das Selbst als wichtig empfindet und wie es sie aus den Vorerfahrungen heraus handhabt (vgl. Marcia 1993: 3). Auf einmalige und unverwechselbare Weise verortet die Identität das Subjekt in den sozialen Systemen, an denen es teilhat, und weist ihm die Richtung seiner weiteren Entwicklung. Auch wenn die Identität eine Struktur ist, die über die Lebenszeit bestehen bleibt und zu deren Aufgaben es gehört, ein Kohärenzempfinden zu gewährleisten, ist sie zugleich dynamisch. Während des ganzen Lebens von der Geburt bis zum Tod muss sie in Begegnungen und Auseinandersetzungen mit der Alterität stets neu errungen, bestimmt, verteidigt, umgebaut oder erweitert werden. Sprachlich wird die Identität immer wieder in den Erzählungen gefasst und fortgeführt, welche sich die Subjekte in ihren Begegnungen mitteilen. Durch ein bewusstes Erfassen der gemachten vergangenen und der gewünschten oder befürchteten zukünftigen Erfahrungen, durch deren Verknüpfung unter zeitlicher, lebensweltlicher und inhaltlicher Perspektive und durch Wahrnehmung und Inanspruchnahme von vorhandenen äußeren Ressourcen findet im Alltag die Identitätsarbeit statt (vgl. Keupp et al. 1999: 190–217). Sie ist erforderlich, damit das Subjekt möglichst gut an seine inneren und äußeren Bedingungen angepasst leben kann. Das Ergebnis der prozesshaften Arbeit an der Identität zeigt sich nach außen in den Kernnarrationen und in den Handlungen, in denen sich das Subjekt gegenüber der Alterität zu erkennen gibt. Die Identitätsarbeit zielt nicht nur darauf ab, dass unter verschiedenen Lebensbedingungen das Kohärenzempfinden gesichert, sondern auch darauf, dass Authentizität erreicht und soziale Anerkennung gewonnen wird. Wenn es dem Subjekt

1. Struktur der Identität und Ereignis

gelingt, in den sozialen Systemen, denen es angehört und auf die es mit seiner Identität bezogen ist, diese übergeordneten Identitätsziele zu erreichen, weist es im Verständnis der westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende ein gelingendes Leben auf. Eine erfüllte Identität wirkt über das eigene Selbst hinaus, bereichert auch die Alterität und führt zu einer vertieften Erkenntnis des eigenen Daseins und der Welt. Sie bleibt dafür offen, sich stets weiter zu entwickeln, und kann sich für diese Weiterentwicklung bewusst Ereignissen zuwenden wollen oder sie geradezu suchen. Eine erfüllte Identität ist bestrebt, sich in der Auseinandersetzung mit einem Geschehen auch in jenen Bereichen des Selbst bewusst zu erfahren, die dem Subjekt bisher reflexiv nicht zugänglich gewesen sind. Begriffliche Abgrenzungen: Das Konstrukt Identität unterscheidet sich in seiner Bedeutung von dem des Selbst, der Persönlichkeit oder des Charakters, ohne dass sie sich vollständig voneinander abgrenzen lassen. Während Identität auf die Frage verweist »Wer bin ich und wer will ich sein?« und das Selbst auf die Frage »Was treibt mich an und was bewegt mich?«, führen Persönlichkeit und Charakter zur Frage »Was macht meine Art des Umgangs mit den Anderen aus?«. Persönlichkeit oder Charakter bezeichnen also eher den jeweiligen Stil der Beziehung zur Alterität, der sich über die Zeit hinweg durchzieht. Das Selbst macht dabei den Kern einer Persönlichkeit aus, aber jede Persönlichkeit wiederum ist mehr als ihr Kern (vgl. Ferrara 1998: 76–78). Auch wenn die Identität des Subjekts sich aus seinem Selbst ergibt, ist sein Selbst mehr als seine Identität. In das Selbst fließt die Körperlichkeit in ihrer somatischen und sozialen Dimension ein, nämlich genetische Anlagen und ökologische Bedingungen sowie vor allem auch kulturelle Prägungen oder Internalisierungen früherer Beziehungs- und Gruppenerfahrungen, die sich einer bewussten Wahrnehmung entziehen. Identität wiederum ist mehr als das Selbst, weil sie immer auch die Alterität abbildet und die verschiedenen Rollen des Subjekts in den sozialen Systemen beinhaltet. Das Selbst umfasst die Art und Weise, wie das Subjekt mit seinem Körper äußere Objekte wahrnimmt und wie es mit ihm auf sie einwirkt, während in seiner Identität das Subjekt bewusst um diese Art und Weise weiß. Die Identität des Subjekts als das psychisch repräsentierte Selbst entspricht dem Selbstbewusstsein, also dem Wissen des Selbst von seinem eigenen Dasein, von seinen zeitübergreifend konstanten und einzigartigen Merkmalen, von seinen eigenen Seinszuständen, Motivationen, Auffassungen oder Standpunkten und von seiner Stellung in den verschiedenen sozialen Systemen. Zur Identität gehören unter anderem auch Eigenschaften wie die Selbstachtung, die Anerkennung des Subjekts für sich selbst, die Selbstbezogenheit, das von der Alterität vermittelte Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und das Selbstbild, die Gesamtwahrnehmung des eigenen Selbst. Die Identität bezieht auch die Selbsteinschätzung, die Einstellung des Subjekts gegenüber seiner Unwiederholbarkeit und Einzigartigkeit, mit ein, die Selbstregulation, das Herstellen eines inneren Gleichgewichts, und die Selbstreflexion, das Nachdenken über das Selbst und dessen Veränderungen. Schließlich ist noch das Selbstwertempfinden, die Wertschätzung der Fähigkeiten und Fertigkeiten und der erbrachten Leistungen für die Alterität, Teil der Identität. In der Identität als Struktur ist sich das Subjekt seines Selbst und dessen Wechselwirkung mit äußeren Objekten, also der Umwelt einschließlich der Alterität, bewusst,

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und in der Identität als Prozess der Art und Weise, wie sein Selbst diese Wechselwirkung vollzieht.

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Innere Bedingungen weiterer Identitätsarbeit

Qualitäten der Identität: Wie im Konstrukt Identität Prozess und Struktur zusammengedacht werden, ist im subjektiven Empfinden von Identität das gegenwärtige Erleben nicht zu trennen von der Erinnerung an Vergangenes und der Gestaltung von Zukünftigem. Bezogen auf die Prozesshaftigkeit lassen sich der Struktur der Identität verschiedene Qualitäten zuordnen. Damit lässt sich bezeichnen, wie die künftige Identitätsarbeit des Subjekts ausgerichtet sein wird (vgl. Ammon 1982: 115f.): Die Qualität der weiteren Prozesshaftigkeit gilt als konstruktiv, wenn die Identität Beziehungen zur Alterität und damit auch ihre eigene weitere Entwicklung fördert. Ich hatte begonnen, ein erziehungswissenschaftliches Magisterseminar auf dem Gebiet der Religionspädagogik zu unterrichten, und das füllte mich intellektuell aus. Auf häufigen Vortragsreisen in verschiedene Länder lernte ich zur gleichen Zeit eine immer größer werdende Anzahl von Kollegen kennen und drang immer tiefer in den Zusammenhang zwischen religiöser Bildung und moderner Kultur ein.1 Konstruktive Identität führt dazu, dass das Subjekt selbstbestimmt und schöpferisch mit den Anderen zusammenlebt, seine zwischenmenschlichen Beziehungen belastbar sind und Gefühle wie Angst oder Wut in Auseinandersetzungen ausgehalten werden können. Die Qualität der weiteren Prozesshaftigkeit ist dagegen destruktiv, wenn die Identität zwar Beziehungen zur Alterität ermöglicht, den Anderen aber nicht wirklich begegnet und damit die Bedingungen für eine weitere Entwicklung der Identität zerstört werden. Hallo, hallo. Alle da. Küsschen. Aha, was ist denn das für ein hübsches Lächeln? Noch einen Champagner? Immer. Ein betrunkenes Gespräch mit einem Bekannten. Wir lehnen an der Bar, gucken auf die Alster. Reden immer wieder das Gleiche.2 Destruktive Identität bewirkt, dass das Subjekt mit den Anderen lieblos umgeht, sie mit Verboten, Bestrafungen, Entwertungen oder Gewalt behandelt oder sie in ihrem Wesen kränkt. Die Qualität der weiteren Prozesshaftigkeit gilt als defizitär, wenn die Identität nicht bestimmt ist und eine Hinwendung zur Alterität unterbleibt bzw. die Beziehungen zu ihr oberflächlich bleiben. Eine weitere Entwicklung des Subjekts wird dadurch erst gar nicht angeregt. Irgendwie war ich dem allen nicht gewachsen, kriegte mein Leben einfach nicht in den Griff. Ich hetzte von einer Sache zur anderen und machte das meiste nur halb richtig.

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Hull 1992: 26. Huth 2003: 71.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Freizeit hatte ich nicht, und wenn es Geld gab, habe ich mir irgendwelches sinnloses Zeug gekauft. Mein schmuckloses Zimmer jedenfalls blieb schmucklos – Bett, Schrank, keine Vase, kein Radio, kaum ein Buch.3 Defizitäre Identität zeigt sich darin, dass es dem Subjekt an Wärme, Fürsorge und Achtsamkeit mangelt und all die zwischenmenschlichen Voraussetzungen fehlen, um die Identität weiter wachsen zu lassen. Dabei weist das Subjekt nie eine einheitliche Qualität in der Prozesshaftigkeit der Identität auf, sondern in ihrer Struktur sind die verschiedenen Anteile gleichzeitig und nebeneinander vorhanden. In dem Maße, wie die Prozesshaftigkeit der Identität konstruktiv, destruktiv oder defizitär angelegt ist, wird bestimmt, wie das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erlebt und wie der körperliche Umbruch verläuft. Sie erlaubt auch eine Aussage darüber, wie das Subjekt das ungewohnte körperliche Geschehen in seine Beziehungen einbringen wird. Risiko- und Schutzfaktoren: Aus den Vorerfahrungen des Subjekts lassen sich Risiko- und Schutzfaktoren ableiten, die eine Aussage darüber erlauben, wie es mit künftigen Ereignissen umgehen wird (vgl. Egle/Hoffmann 2000: 6–21). Das Risiko, dass infolge der Erfahrungen aus der Kindheit sich durch das Erleben unerträgliche Spannungen ergeben und das Wohlbefinden des Subjekts erheblich beeinträchtigt wird, vergrößert sich, wenn Zeugung und Geburt außerhalb einer festen Beziehung erfolgten oder die Schwangerschaft affektiv belastet war. Jahre später entdeckte ich, dass die Schwangerschaft meiner Mutter schwierig gewesen war. Zu Beginn war ihr Vater gestorben, was sie wahrscheinlich traurig und depressiv zurückgelassen hatte. Im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft hatte sie einen Unfall, der sie noch zusätzlich entkräftete und mutlos machte. Mein Vater, ein unerfahrener Fahrer, hatte sich mit unserer (eher einem Leichenwagen ähnelnden) Limousine bei einem Familienausflug überschlagen. Alle überlebten, aber als ich geboren wurde, war meine Mutter geschwächt und hatte große Mühe, mich zu stillen.4 Das Risiko ist auch vergrößert, wenn der Abstand zum nächst jüngeren oder älteren Geschwisterkind weniger als eineinhalb Jahre betrug oder wenn die Eltern sehr jung oder sehr alt waren oder wenn sie bleibende körperliche oder seelische Schädigungen aufgewiesen. Und natürlich gab es für mich als Kind Momente, in denen ich alles wegwischen wollte wie einen bösen Traum, und doch nicht träumte. Augenblicke, in den ich litt, Angst hatte, traurig war. Mein Vater, der später als Krankenpfleger arbeitete, versuchte seine Probleme – eingebildete wie echte – durch Zuspruch aus der Flasche zu mildern. Er trank oft und viel, was nicht ohne Auswirkungen auf das Familienleben blieb. Meist waren diese undramatisch, aber es war belastend zu sehen, wie sehr er sich damit einmauerte, die anderen um ihn herum nicht an sich heranließ und ihnen wehtat. Ich habe als Kind viel mit ihm gespielt, damit er nicht losgeht in die Schänke, wo er doch

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Buggenhagen 1996: 29f. Todes 2005: 24.

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nur das eine tat, von dem er glaubte, daß es ihm half. Mensch-ärgere-Dich-nicht wurde für mich zu einem kindlichen Versuch, meiner Mutter zu helfen.5 Das Risiko ist auch vergrößert, wenn in der Kindheit wichtige Bezugspersonen verloren gingen. Ich sah [meinen Vater; B.R.] noch einmal, als ich an der Pestsäule wartete, um ihm ein Medikament gegen die Ruhr zuzustecken, zuzuwerfen. Die Wachsoldaten jagten mich fort. Ein Jahr später, wir mussten als reichsdeutsche Flüchtlinge Österreich verlassen, erhielten wir die Nachricht, er sei im Lager gestorben. Meine Mutter nahm sich das Leben.6 Ebenso ist das Risiko vergrößert, wenn die sozioökonomischen Bedingungen schlecht waren, also wenn das Einkommen der Eltern niedrig und ihre Bildung gering war, sich ihr sozialer Status deutlich verschlechterte oder die Wohnverhältnisse beengt waren. Vermutlich war es kein Zufall, daß bald darauf wieder regelmäßig der Gerichtsvollzieher erschien. Das war nichts Neues. Im Laufe der Jahre waren sie für uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden. In unserem Haus hielt sich nichts über längere Zeit. Die Sachen wurden zur Vordertür hereingebracht und an der Hintertür wieder abgeholt, noch ehe wir uns daran gewöhnen konnten.7 Schließlich ist das Risiko noch vergrößert, wenn die Herkunft der Eltern belastet war wie durch ungleichen sozialen Stand oder eigene Verlusterlebnisse aus ihrer Kindheit (vgl. Dührssen 1984). Grandma war eigentlich gar nicht meine richtige Oma. Sie und Grandpa hatten meinen Vater adoptiert, als er acht Jahre alt war, nachdem sich herausgestellt hatte, daß sie selbst keine Kinder bekommen konnten. Dads echte Mutter war ein unverheiratetes, achtzehnjähriges Mädchen gewesen, und sie starb, als er noch sehr klein war. Ehe er bei meinen Großeltern landete, hatte Dad in mehreren Pflegefamilien gelebt.8 Die Erfahrungen aus der Kindheit können aber den weiteren Prozess der Identitätsarbeit nicht nur gefährden, sondern das Subjekt auch schützen und befähigen, selbst schwere Belastungen zu ertragen. Kindheitserfahrungen wirken schützend, wenn es innerhalb der Familie zumindest zu einem Elternteil oder außerhalb zu einer anderen Bezugsperson eine verlässliche Beziehung gab, die von Wärme, Achtung und Fürsorge gekennzeichnet war, vor allem wenn sie während der ersten 18 Lebensmonate bestand. Ich hatte als Kind eine sehr innige Beziehung zu meiner Großmutter.9 Solch eine Beziehung kann die Erfahrung vermitteln, wichtig für die Alterität zu sein.

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Buggenhagen 1996: 21f. Härtling 2007: 101. Mills 1996: 77. Mills 1996: 14. Balmer 2006: 148.

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Meine Großeltern waren die herzlichsten Menschen, die ich kannte. Immer hatten sie Zeit für uns Kinder.10 Dabei sind auch kurze Begebenheiten von bleibender Bedeutung und die Erinnerungen sind bisweilen eng mit einem Gegenstand verbunden. Eine unregelmäßig geformte Lyoner Salami, sehr trocken und grob gehackt. Jede Scheibe schmilzt ein bißchen auf der Zunge, bevor man sie kaut, um ihr volles Aroma herauszuholen. Diese Wurst ist für mich beinah etwas Heiliges, ein Fetisch, dessen Geschichte fast vierzig Jahre zurückreicht. Ich war noch im Alter der Bonbons, aber ich zog ihnen schon Fleisch und Wurst vor, und der Pflegerin meines Großvaters mütterlicherseits war aufgefallen, daß ich bei jedem meiner Besuche in der finsteren Wohnung am Boulevard Raspail mit reizendem Lispeln Wurst von ihr verlangte. […] Vom Großvater habe ich nur ein ziemlich verschwommenes Bild in Erinnerung […]. Viel deutlicher sehe ich die Wurst vor mir, die zwischen meinen Spielsachen und meinen Bilderbüchern unpassend herumliegt.11 Die Erfahrungen aus der Kindheit wirken auch schützend, wenn sich außerhalb der Familie in sozialen Systemen wie der Schule oder der Kirche, beim Sport oder der Musik Personen fanden, die das Kind in seinem Selbst wahrnahmen und in seinen Möglichkeiten förderten, die seinem Leben eine Bedeutung gaben oder von ihm erbrachte Leistungen anerkannten. Damit konnte man leben, zumal ich zunehmend besser wegkam in den Zeugnissen. »Marianne leistet eine gute FDJ-Arbeit. Sie fuhr dafür nach Karl-Marx-Stadt« (heute wieder Chemnitz), oder »Marianne zeigt ein einwandfreies Verhalten. Ihre Leistungen sind gestiegen«, schließlich »Marianne ist strebsam, zuverlässig. Sie hat progressiv auf das Kollektiv eingewirkt.«12 Ebenso wirkt es schützend, wenn das Leben in der Kindheit so sicher war, dass es in der Beziehung zu Erwachsenen möglich war, genügend mit der Realität zu spielen, um unterschiedliche Sichtweisen auf ein und denselben Sachverhalt zu gewinnen (vgl. Bruns 2008: 15f.). Wir zogen mit den Eltern aufs Feld, tobten uns aus, fielen müde ins Stroh und wachten wieder auf, wenn der Hunger die Mägen knurren ließ. Daheim forderten uns Kuh Ina, Schwein August, später die Hofente »Schnattchen« und zig Hühner, Gänse mit arbeitsintensiver Zuwendung. Tiere habe ich immer geliebt, auch wenn meine Erfahrungen mit ihnen durchaus wechselhaft waren.13 Schließlich wirkt es schützend, wenn es dem Subjekt in den Beziehungen seiner Kindheit möglich war, Intelligenz, kommunikative Fähigkeiten und interne Kontrollüberzeugungen auszubilden.

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Mills 1996: 19. Bauby 1997: 39. Buggenhagen 1996: 17. Buggenhagen 1996: 15.

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Ich interessierte mich bereits als Kind für das Verhalten der Tiere, beobachtete sie und notierte alles, was sie taten oder eben nicht taten.14 Das gilt auch dann, wenn zeitweilig diese Eigenschaften der Alterität eher nachteilig erschienen. Ein Jahr später hatte sich die Dringlichkeit des Problems ganz offenbar verschärft. »Sie schwatzt während der Stunden«, wurde da für die Nachwelt festgehalten, um in Klasse 3 jedoch bereits Lernfähigkeit festzustellen: »Mariannes Schwatzhaftigkeit hat sich gelegt.«15 Die Ausprägung von Risiko- und Schutzfaktoren beeinflusst ebenfalls, wie das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erleben und wie der körperliche Umbruch verlaufen wird (vgl. Weimert et al. 2021).16 Ihr Verhältnis zeigt an, inwieweit das Subjekt das ungewohnte körperliche Geschehen als Herausforderung annimmt und wie groß die Gefahr ist, dass der körperliche Umbruch traumatisch wird. Erworbene, übernommene oder diffuse Identität: Je nach dem, wie der bisherige Prozess der Identitätsarbeit verlief, lässt sich unterscheiden, ob das Subjekt die Bewusstheit des eigenen Selbst in den Beziehungen mit der Alterität eher in Auseinandersetzung mit ihren Vorgaben selbst erworben oder eher ohne innere Auseinandersetzung übernommen hat (vgl. Marcia 1993: 22–33): Eine erworbene Identität geht aus Krisen und aus Zeiten der Suche hervor, und in ihr sind die früheren Erfahrungen entsprechend den heutigen Bedürfnissen umgeformt. In den Ferien fuhren wir per Anhalter durch ganz Europa und den Mittleren Osten. Ich durchlebte eine Glaubenskrise und kam zu dem Schluß, daß ich nicht guten Gewissens ein priesterliches Amt antreten könne. Ich beschloß, in England zu bleiben und meine Tätigkeit als Lehrer wiederaufzunehmen.17 In ihrem Gewordensein lässt sich die erworbene Identität auf Beziehungen zur Alterität zurückführen, deren Dynamik dadurch gekennzeichnet ist, dass das betreffende Subjekt von klein auf geachtet, feinfühlig in seiner Entwicklung begleitet und nahezu gleichwertig an wichtigen Entscheidungen beteiligt war. Da die erworbene Identität mit einem hohen Kohärenzempfinden einhergeht, macht sie das Subjekt flexibel in seinem Erleben und Verhalten und erlaubt ihm ein komplexes Denken; sie lässt es empfinden, an selbst gelenkten Prozessen teilzuhaben. Mit seinen Fragen versucht das Subjekt heute wie früher Zusammenhänge zu erkunden, die sich nicht gleich erschließen. Schon als kleines Kind machte ich mir Gedanken über das Leben. Denn trotz meiner humorvollen, sehr heiteren Art war ich keineswegs nur ein unbeschwertes Kind und

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Balmer 2006: 124. Buggenhagen 1996: 17. Dort wird untersucht, wie sich das Vorhandensein von Risiko- und Schutzfaktoren auf das Erleben einer Unfallverletzung auswirkt. Hull 1992: 23.

1. Struktur der Identität und Ereignis

stellte mir tiefschürfende Fragen: Wie entsteht ein Leben? Warum stirbt ein Lebewesen? Hat unser Leben einen Sinn? Gibt es einen Lebensplan? Und dergleichen.18 Die erworbene Identität lässt das Subjekt der Anpassung an die Alterität widerstehen und macht es bereit, auch soziale Enttäuschungen auszuhalten. Das Subjekt versucht, die eigene Freiheit und das Wohlergehen der Alterität miteinander zu vereinbaren, und erkennt sie an, auch wenn es sich nicht eigens um sie bemüht. Eine übernommene Identität beruht auf frühen Identifikationen mit den bedeutsamen Anderen, die verinnerlicht, aber nicht verarbeitet wurden. Vor allem wollte ich immer so wie meine Mutter Erika sein. […] Krankenschwester, den Berufswunsch hatte mir, unbewußt und ohne zu drängen meine Mutter – einfach durch ihr Vorbild – eingepflanzt.19 Diese Identifikationen prägen das Rollenverhalten ebenso wie den Charakter. Von meinem Vater habe ich den Dickkopf, der seine positiven und negativen Seiten haben kann. Vielleicht auch die Härte gegen sich selbst. »Marianne, wenn du mal weinend nach Hause kommst, hau ich dir zusätzlich noch eine runter«, hat er mir mal als kleines Mädchen gesagt. Er brauchte niemals Schläge, ich habe nie geweint. Weinen, sage ich mir, ist Schwäche, und bemühe mich, so gut es eben geht, mit dem dicken Kloß im Hals fertig zu werden.20 Dem Subjekt fehlen die Zeiten der Suche. Es ging den vorgezeichneten Weg und musste dabei nicht kämpfen. Im Jahre 1953 schrieb ich mich an der Universität von Melbourne ein und beschloß, Geisteswissenschaften zu studieren. Der Gedanke, ein Honours Degree anzusteuern und eine akademische Spezialausbildung zu durchlaufen, kam mir nicht – ich war dazu bestimmt, methodistischer Priester zu werden und suchte nach einer breitgefächerten Allgemeinbildung, mit der ich mich auf ein Studium am Queen’s College vorbereiten konnte, um dann in die Fußstapfen meines Vaters zu treten.21 Die übernommene Identität ist in Beziehungen zur Alterität entstanden, wo das betreffende Subjekt von klein auf darin bestätigt wurde, die gewohnten Normen und Werte zu übernehmen und dadurch Sicherheit zu gewinnen. Obwohl die übernommene Identität ebenfalls mit innerer Kohärenz einhergeht, macht sie das Subjekt rigide in seinem Erleben und Verhalten, sein Denken bleibt einfach. Bei kreativen Aufgaben war ich unfähig, meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Stattdessen machte ich Kompromisse und produzierte befangene, hölzerne Muster. Als zum Beispiel unser Kunstlehrer jedem von uns eine Keramikfliese zum Dekorieren gab, fiel mir nichts Besseres ein, als meine Initialen draufzupinseln, sauber und mit einem Li-

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Balmer 2006: 121. Buggenhagen 1996: 23, 25. Buggenhagen 1996: 22f. Hull 1992: 21.

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neal genau ausgemessen. Mein pragmatisches Denken unterdrückte jedes unvorhersehbare oder sinnenfreudige Element in mir.22 Die übernommene Identität lässt das Subjekt in seinem Handeln einem Plan folgen, den es von den Eltern oder von anderen Autoritäten übernahm. Es findet Befriedigung darin, ihn möglichst gut zu erfüllen, denn es hinterfragt die Werte der Kindheit nicht. Gegenüber der Alterität ist das Subjekt unfähig, seine Angst zu spüren und seine Fehler zuzugeben. Weil ihm eine Öffnung zum eigenen Inneren fehlt, ist es stark der Alterität zugewandt. Gegenüber Mächtigeren bedingt eine übernommene Identität ein unterwürfiges Verhalten und gegenüber Schwächeren ein aggressives. Es kann jedoch auch sein, dass das Subjekt aus den Beziehungen zur Alterität noch kein bleibendes Wissen über sein Selbst gewann, also weder über eine erworbene noch über eine übernommene Identität verfügt. Seine Identität ist vielmehr diffus. Diese Ausprägung der Identität verweist auf Beziehungen zur Alterität, deren Dynamik dadurch bestimmt war, dass das betreffende Subjekt von klein auf nach Bindung suchte, aber letztlich immer wieder zurückgewiesen wurde. Bei einer diffusen Identität ist das Subjekt unfähig, Kohärenz zu empfinden, und ihm fehlt eine zeitliche Kontinuität, die aus der Vergangenheit verlässlich in die Zukunft weist. [A]ls ich zum Altar schritt, hatte ich viele Zweifel. Es war zu früh. Ich fühlte mich sehr unsicher und verwirrt. Bei jedem Schritt wuchs meine Panik. Liebte ich Alfie wirklich genug, oder sehnte ich mich einfach nach Sicherheit? Was wird geschehen, wenn ich die Sicherheit endlich habe? Werde ich mich ebenso in der Falle fühlen wie mit Stephen? Ob Liebe wohl jemals andauert?23 Das Denken des Subjekts erscheint äußerst komplex bis desorientiert. Da das Subjekt früheres Erleben wenig zu bleibenden Erfahrungen verarbeiten konnte, also kaum Struktur in der Identität aufweist, führt es ein Leben, das auf die Gegenwart bezogen ist und das als planlos und zufällig erlebt wird, das aber gut geeignet ist für gesellschaftliche Bedingungen, die von Unverbindlichkeit und Beliebigkeit geprägt sind. Das in seinem Wesen weitgehend unbestimmte Subjekt wird nicht von eigenen Überzeugungen geleitet und ist auch nicht über deren Mangel besorgt. Gegenüber der Alterität fehlt es ihm an Autonomie. Das Subjekt bleibt auf die Anderen bezogen und ist willfährig gegenüber äußerem Druck. Dabei weist das Subjekt nie durch und durch ausschließlich eine erworbene, übernommene oder diffuse Identität auf, sondern stets sind die verschiedenen Ausprägungen gleichzeitig und nebeneinander vorhanden. Während des gesamten Lebens kann das Subjekt in seinen Beziehungen zur Alterität günstige Bedingungen vorfinden, die es von einer übernommenen oder diffusen Identität zu einer erworbenen gelangen lassen; genauso kann es auch widrigen Umständen ausgesetzt sein, die es dazu bringen, eine erworbene Identität zu verlieren, sich der Alterität anzupassen oder die Bestimmung seines Wesens aufzugeben.

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Todes 2005: 30. Mills 1996: 164.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Die Überlegung, ob eine Identität eher erworben, übernommen oder diffus ist, verweist nach den Qualitäten der Identität und den Risiko- und Schutzfaktoren auf eine dritte Bedingung, wie das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erleben und wie der körperliche Umbruch verlaufen wird: Demnach wird das Subjekt entweder über die vorgegebenen sozialen Rollen des chronisch Kranken oder Behinderten hinauswachsen oder die gesellschaftlich üblichen Narrative von chronischer Krankheit oder Behinderung für sein Selbstverständnis übernehmen oder gar keine Antwort auf den Verlust der gewohnten Körperlichkeit finden. Prozedurale und deklarative Ebene: Auf zwei Ebenen erwirbt das Subjekt in seiner Beziehung zur Alterität ein Wissen um das Selbst, nämlich auf der prozeduralen und auf der deklarativen (vgl. Prinz 2013: 156–161). Sensomotorische Aktion und körperliche Handlung einerseits sowie symbolische Repräsentation und sprachliche Erzählung andererseits sind dabei sich ergänzend aufeinander bezogen. Auf prozeduraler Ebene nimmt das Subjekt die Bewegungen der Alterität durch Beobachtung wahr und spiegelt sie in seinem Selbst, als seien es die eigenen. Es gibt ihnen Bedeutung als zweckgerichtete Handlungen, bezieht die Handlungen der Alterität und seine eigenen Handlungen aufeinander und lässt mit der Alterität einen wechselseitigen Handlungsdialog entstehen. Das Subjekt führt ihn direkt, indem es die einzelnen Handlungen unmittelbar erwidert oder fortsetzt, oder indirekt, indem es sie mittelbar durch Lächeln bestätigt oder durch Abwenden missbilligt. Aus dem Handlungsdialog heraus gibt das Subjekt auch seiner Handlung Bedeutung. So leicht ließ ich mir die Butter nicht mehr vom Brot nehmen, und wenn es nötig war, konnte ich mich schon mal mit einem Jungen prügeln, um ihm das zu verdeutlichen. Als mich einer meiner Schulkameraden […] mal bezichtigte, ich sei »zu blöd zum Abschreiben«, da steckte ich ihn kraft meiner Wassersuppe im besten Anzug einfach in die Mülltonne. Das hinterließ Eindruck! Im Revier rund ums Krankenhaus war ich die »Chefin«, gab das Kommando an.24 Dasselbe wie auf der prozeduralen Ebene geschieht auf der deklarativen, nur dass hier statt der Handlungen nun Mitteilungen über Handlungen aufeinander bezogen sind. Indem zur Bewegung die Sprache tritt, sind die Voraussetzungen gegeben, dass das Subjekt vom Selbst zur Identität, also dem psychisch repräsentierten Selbst, gelangt. Die Sprache verortet außerdem das Subjekt in einem sozialen System, denn mit den Begriffen übernimmt es, was dort für die Alterität Bedeutung hat. Die Sprache stellt die auf die Gegenwart bezogenen körperlichen Handlungen schließlich in eine zeitliche Kontinuität, wenn das Subjekt von sich erzählend vergangene Erfahrungen mit Erwartungen an Künftiges verbindet. Während prozedural das unbewusste Selbst entsteht, wobei das Subjekt durch die Handlungen mit der Alterität verschränkt ist, bildet sich deklarativ die Identität, wobei das Subjekt bewusst durch die sprachlichen Mitteilungen über die Handlungen mit der Alterität verschränkt ist. Indem das Subjekt sich in der sensomotorischen Aktion und der symbolischen Repräsentation, durch sein Bewegen und sein Sprechen, handelnd und erzählend den Anderen mitteilt, erkennt es nicht nur die Alterität in ihrem Wesen, 24

Buggenhagen 1996: 20.

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Körperlicher Umbruch

sondern gewinnt auch Selbsterkenntnis. Dadurch, dass sich das Subjekt mit der Alterität in strukturierten Bewegungen körperlich austauscht und sprachlich über geistigseelische Zustände verständigt, erhält es sowohl Zugang zur eigenen Sichtweise seines Selbst und zu der des Selbst der Anderen als auch Zugang zu der Sichtweise, die die Anderen über ihr eigenes Selbst und über das seinige haben. In den Beziehungen zur Alterität entsteht für das Subjekt ein Empfinden seiner Identität. Dieses Empfinden stellt das zur psychischen Struktur gewordene Ergebnis der prozesshaften Verinnerlichung eines prozesshaften äußeren, sozialen Geschehens dar. Dass die Bildung eines Identitätsempfindens gelingt, setzt voraus, dass prozedural und deklarativ, also auf den beiden Ebenen, auf denen das Subjekt und die Alterität in Beziehung stehen, im Wesentlichen dieselben Inhalte kommuniziert werden. Falls diese Inhalte nicht zueinander passen oder sogar gegensätzlich sind, ist die Bildung dieses Identitätsempfindens gestört. Ein Beispiel für solch eine Störung ist die sog. DoubleBind-Kommunikation, bei der das Subjekt im Widerspruch zwischen den gleichzeitig mitgeteilten Inhalten gefangen bleibt, ohne ihm entkommen zu können (vgl. Bateson 1985: 276f.). Wie prozedurale und deklarative Ebene zueinanderstehen, erlaubt ebenfalls eine Aussage darüber, wie das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erleben und wie der körperliche Umbruch verlaufen wird. Denn daraus lässt sich ableiten, wie kohärent das Subjekt die körperlichen Veränderungen in sein allgemeines Identitätsempfinden einfügt. Prozess der Identitätsbildung: Der Prozess, in dem bisher die Identität entstanden ist, wirkt sich schließlich ebenfalls auf das Erleben des Verlusts der gewohnten Körperlichkeit und den Verlauf des körperlichen Umbruchs aus. Gerade weil das körperliche Geschehen so ungewohnt ist, aktualisieren sich dabei vielfach unbewusst frühere Muster des Erlebens. Auch beinhaltet die bisherige Identitätsbildung die Vorerfahrungen, auf die das Subjekt bewusst zurückgreifen kann, um die Krise, in die es durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit geraten ist, zu lösen. Selbst wenn sich der Prozess der Identitätsbildung bis in die früheste Kindheit zurückverfolgen lässt (vgl. Bohleber 1992), wird auch dem erwachsenen Subjekt das Wissen um sein Selbst von der Alterität vermittelt, auf die es bezogen ist, sowie durch die sozialen Systeme, denen es angehört. In der Identitätsbildung greifen mehrere Schritte ineinander: Um zu erfahren, was sein Wesen ausmacht, muss das Subjekt in einem ersten Schritt sich auf die Alterität beziehen, sich mit ihr auseinandersetzen und sich ihren Zuschreibungen öffnen. Damit das Subjekt sich seines Selbst gewiss werden kann, braucht es als zweites die Empathie der Alterität, damit sie in ihrer Einfühlung erfasst, was ihm selbst noch unbewusst ist. Das Subjekt muss sich zum Dritten mit der Alterität identifizieren, denn bevor es sich in seinem Selbst erkennen kann, muss es zuerst die Anderen in ihrem Wesen erkannt haben. Doch in einem vierten Schritt muss sich das Subjekt aus der Identifikation lösen, die Verschiedenheit der Alterität anerkennen und auf sich beziehen, was sie mit ihren Handlungen und Erzählungen auf sein ihm unbewusstes Selbst geantwortet hat. Aus den Antworten der Alterität auf seine ihm unbewussten Mitteilungen kann das Subjekt in einem fünften Schritt zu einer erweiterten Selbsterkenntnis gelangen und bewusst erfahren, was sein Selbst ausmacht. Was die Alterität dem Subjekt über sein Selbst zu verstehen gegeben hat, muss es zum Sechsten in

1. Struktur der Identität und Ereignis

einem längeren retrospektiv- und prospektiv-reflexiven Prozess mit seinem bisherigen Wissen über sein Selbst abgleichen. Um zu dem zu werden, als den die Alterität ihn richtig wahrgenommen hat, muss siebtens das Subjekt in sich vereinen, was es bereits in früheren Identifikationen mit und in vorausgegangenen Zuschreibungen von den Anderen zu seinem Selbst erfuhr. Den achten Schritt macht es aus, dass das Subjekt in einem Coming-out sein Selbstverständnis handelnd und erzählend gegenüber der Alterität entäußert und ihr zeigt, wie es sich selbst sieht. Durch die Anerkennung der Alterität wird neuntens dem Subjekt die Gültigkeit seiner prozesshaften Identitätsarbeit bestätigt. In der sicheren Gewissheit seines Selbst vermag das Subjekt schließlich in einem zehnten Schritt wiederum seine Alterität auch in den Anteilen wahrzunehmen, die ihr selbst unbewusst sind. Bei all diesen Schritten der Identitätsbildung kann es zu Störungen kommen, sodass die Fähigkeit des Subjekts, mit den Widerfahrnissen des Lebens umzugehen, beeinträchtigt ist. In westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende kann die Identitätsbildung dadurch gestört werden, dass dem Subjekt, das nicht weiß, heterosexuell, männlich, erwachsen oder gesund, sondern von nichtweißer Hautfarbe, LGBTQIA+, weiblich, jung bzw. sehr alt oder chronisch krank und behindert ist, von den Anderen mit Rassismus, Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie, Sexismus, Kinder- und Altenfeindlichkeit oder Ableismus begegnet wird und es sich, weil seine Körperlichkeit negativ von der Norm abzuweichen scheint, mit Diskriminierung und Marginalisierung auseinandersetzen muss. Eine andere Ursache für eine Störung der Identitätsbildung kann darin liegen, dass das Subjekt von klein auf mit seinem Erleben, Denken und Fühlen allein bleibt oder dass es früh ihm bedeutsame Andere verloren hat. Meine Mutter starb 1938, in dem Monat, als Hitlers Panzer in Wien einrollten. […] Niemand hatte daran gedacht, mich über die Schwere der Krankheit meiner Mutter auf dem Laufenden zu halten, noch hielt man es für nötig, mich nach der Operation zu ihr zu bringen. Im Alter von gut sechs Jahren blieb ich im Dunkeln darüber, was passiert war.25 Weiterhin stört es die Identitätsbildung, wenn das Subjekt von der Alterität, auf die es bezogen ist, nicht feinfühlig gespiegelt oder gar vernachlässigt wird, wenn es ihm nicht möglich ist, sich aus der eingegangenen Identifikation zu lösen, oder wenn es abwertende oder falsche Zuschreibungen zu seinem Selbst erhält, ohne dass die Anderen sie auf seine Erwiderung hin richtig stellen wollen. Immer war ich die Längste, die Bohnenstange, die aus dem Rahmen fiel. Dauerhaftes Stehen bekam mir nicht. Beim Fahnenappell bin ich ein paarmal umgekippt, weil ich einfach zu schnell gewachsen bin. Und dabei wäre ich gerne unauffällig gewesen.26 Schließlich kommt es auch dann zu Störungen der Identitätsbildung, wenn ein Geschehen das Subjekt so überwältigt, dass es ihm nicht gelingt, sein heutiges Erleben mit seinen früheren Erfahrungen zu verknüpfen, oder wenn seine Identität in einzelne 25 26

Todes 2005: 27. Buggenhagen 1996: 19f.

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Körperlicher Umbruch

Fragmente aufgespalten bleibt. Auch wenn das Subjekt nicht den Mut aufbringt, sich den Anderen in seiner Einzigartigkeit zu zeigen, es seiner Alterität unsichtbar bleibt oder von ihr auf die Entäußerung seiner Identität Gewalt entgegengebracht bekommt, beeinträchtigt es den Prozess der Identitätsbildung. Doch ich war nicht das einzige Opfer von Dads Demütigungen. Shane und Fiona behandelte er genauso. Er mußte einfach zwanghaft immer alles kritisieren. Für ihn war nie etwas gut genug, was immer wir auch machten. Diese emotionalen Mißhandlungen setzten sich ebenso fort wie die körperliche Gewalt. Wenn wir ihn irgendwie ärgerten oder aufbrachten, konnte er sich einfach nicht beherrschen. Ganz gleich, ob wir mit schmutzigen Schuhen ins Haus kamen, vergaßen, etwas auszurichten, oder eine Tonbandaufnahme vermasselten – die Folgen waren immer die gleichen. Er riß die Missetäter an den Haaren, stieß sie in die Rippen und schlug sie auf den Kopf. Nach Mutters Fortgehen lebten wir fast fünf Jahre lang in ständiger Angst, und alles, was wir taten, wurde durch die Notwendigkeit bestimmt, Frieden zu wahren. Stehlen, lügen – alles war uns recht, nur damit er uns nicht schlug.27

1.3

Teilidentität Körperlichkeit

Konstruktive Körperidentität: Wie es beim allgemeinen Identitätsempfinden möglich ist, lässt sich auch bei der Teilidentität der Körperlichkeit eine konstruktive Qualität bestimmen. Das bedeutet, dass die psychische Repräsentation des Körperselbst so gestaltet ist, dass sie die Beziehungen zur Alterität und die weitere Entwicklung der Identität fördert. Was den somatischen, sozialen und sozialen Körper angeht, lässt sich dabei im Einzelnen feststellen: Das Subjekt sieht den somatischen Körper in solch einer Wechselwirkung mit der Umwelt, dass Mangel ausgeglichen, Begehren befriedigt und Wohlbefinden geschaffen wird. Das Subjekt verlässt sich zudem darauf, dass der sensomotorische Körper Sinneseindrücke angenehm vermittelt und Bewegungen macht, die ihren Zweck gut erfüllen, während es mit dem viszeralen Körper in genügender Menge Nährstoffe aufnehmen und Schadstoffe ausscheiden kann und vom konnektiven Körper das richtige Maß des Austausches bestimmt wird. Es herrscht ein Zustand, der subjektiv als Gesundheit erlebt wird. Das Subjekt kennt die räumlichen und zeitlichen Grenzen, die dem Körper gesetzt sind, und dort, wo es notwendig ist, nimmt es sie an – und überwindet sie da, wo es es möglich ist. Es erweitert sie durch den Erwerb von Fertigkeiten, die kulturell angeboten und erwünscht sind. Außerdem ist das Subjekt in der Lage, die beim Erleben von Grenzen ausgelösten Affekte zuzulassen und zu verarbeiten. Ich verliebte mich ins Skilaufen. Es war, als wäre ich wieder Kind, und ich entdeckte eine ganz neue Art von Freude. So aufgeregt war ich nicht mehr gewesen, seit ich in der Schule meinen ersten Wettlauf gewonnen hatte.28

27 28

Mills 1996: 68. Mills 1996: 172.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Das Subjekt weiß, dass die Alterität seinen sozialen Körper anerkennt, weil er der verlangten Körper- und Affektkontrolle genügt und über Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit und zur Überwindung von Grenzen verfügt, die in der kollektiven Identität geschätzt sind. Körperlich vermag das Subjekt freundliche Beziehungen zu den Anderen herzustellen, und sein Körper weckt in ihnen das Bedürfnis, sich mit ihm zu verbinden. Es ist sich dessen bewusst, was seine Körperlandschaft der Alterität mitteilt, und versteht mit den Zuschreibungen umzugehen, die sein Körper erhält. Das Subjekt betrachtet seinen psychischen Körper mit Zufriedenheit; in seinem Körperselbst hat es die Möglichkeiten seines Körpers verinnerlicht. Es ist offen dafür, sein körperliches Erleben in sein Selbst aufzunehmen und mit seinen Vorerfahrungen zu verknüpfen. Auch die Sterblichkeit als die letzte körperliche Grenze gehört für das Subjekt zu einem Leben, das es insgesamt als bereichernd empfindet. Destruktive Körperidentität: Weiterhin lässt sich auch bei der Körperidentität eine destruktive Qualität angeben, die sich nachteilig auf die Prozesshaftigkeit der Identität auswirkt. Obwohl das Wissen des Subjekts um seine Körperlichkeit und deren bewusstes Erleben Beziehungen zur Alterität ermöglicht, vermag das Subjekt nicht den Anderen zu begegnen, damit werden die Voraussetzungen für die weitere Entwicklung der Identität zerstört. In Hinblick auf die Körperlichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen kann beispielhaft angeführt werden: Das Subjekt empfindet die Wechselwirkung des somatischen Körpers mit der Umwelt nicht als angenehm, sondern als quälend. Ich kann mich nicht mehr an den Tag erinnern, an dem ich mich zuletzt wirklich wohl gefühlt habe. Ich glaube, es ist 20 Jahre her. Mindestens. Irgendwas war immer. Ein Schwindel. Ein Herzrasen. Eine Kurzatmigkeit. Ein Schwarz vor Augen. Ein Schmerz im Magen. Ein Zucken.29 Das Subjekt geht davon aus, dass es im Austausch von Körper und Welt das jeweilige Zuviel oder Zuwenig nicht auszugleichen vermag oder es sogar noch vergrößert. Da es den sensomotorischen Körper nicht angemessen einzusetzen versteht, ist das Selbst mit Sinneseindrücken über- oder untererregt; die Bewegungen sind ungehemmt, schlaff oder überschießend. Seit fünf Jahren tauche ich, so wie ich arbeite. Jeder Urlaub an einem tropischen Meer, jede Woche sieben Tauchtage. Jeden Tag drei Tauchgänge. Wenn Sie niemals unter Wasser gewesen sind, können Sie das nicht verstehen. Tauchen macht süchtig, mehr als Zigaretten, mehr als Haschisch.30 Nicht wissend, was gut tut, nimmt der viszerale Körper zu wenige Nährstoffe oder umgekehrt zu viele schädliche Stoffe auf bzw. verliert nützliche Stoffe oder behält Schadstoffe in sich, zugleich ist der konnektive Körper nicht in der Lage, den Austausch mit der Umwelt zu steuern. Subjektiv wird solch ein Zustand des Ungleichgewichts als Krankheit erlebt.

29 30

Huth 2003: 61. Huth 2003: 88.

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Körperlicher Umbruch

Der Schwindel kommt wieder. Er wird fünf Jahre lang mein Begleiter sein. Jeden Tag. Einmal. Garantiert. Ich weiß nie, wann er kommt. Ich weiß nie, wie lange er bleibt. Ich weiß nie, wie hart es wird.31 Bei seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt verletzt sich das Subjekt immer wieder körperlich an den Grenzen, auf die es stößt, und es verfügt nur unzureichend über die Befähigung, um Grenzen zu überwinden. Im Körper entstehen Affekte, die das Selbst nicht als Gefühle zu benennen vermag oder die nicht dem Anlass entsprechen, durch den sie ausgelöst worden sind. NACHTS. Zwei Stunden brauche ich. Minimum. Egal, wie müde ich bin. Ich kann nicht loslassen. Ich denke, überlege, analysiere. Ich gehe durch, ich visualisiere, ich phantasiere. Ich marschiere in Gedanken über Lösungswege, ich simuliere Situationen, ich entwickle Antwort-Alternativen. Ich gehe alles durch. Und ich gehe alles noch einmal durch. Mein Körper wälzt sich durch die Laken. […] Ich komme trotzdem nicht von den Gedanken los. Erst nach Stunden zittere ich mich in den Schlaf.32 Das Subjekt schafft es nicht, mit seinem sozialen Körper dem kulturell gültigen Ideal der Körper- und Affektkontrolle zu entsprechen. Es weiß, dass sein Körper in seiner Gestalt und in der Art, wie er mit der Außenwelt in Wechselwirkung tritt, negativ von der Norm abweicht und dass es deswegen jenseits der Grenzen des sozialen Systems verortet wird. Doch ist das Subjekt bereit, seinem Körper Gewalt anzutun, um sozial aufzusteigen, und sieht dessen Gestaltung nach den kulturellen Vorgaben als einen Ausdruck von Selbstbestimmung an. Angeregt von dem Gedanken an einen neuen Anfang entschloß ich mich zudem zu einer Brustreduzierung. […] Im Januar machte ich einen Termin in der Harley Street aus und ließ mir den Busen um zwei Größen auf 32 C verkleinern. Trotz der damit verbundenen Schmerzen habe ich das niemals bereut.33 Dem Subjekt ist klar, wie es seinen Körper am besten einsetzt, um damit möglichst viel Geld zu verdienen. Ich unterzeichnete Spitzenverträge mit »Marks & Spencer« und »River Island« und konnte einen weiteren Traumvertrag für Bademoden abschließen. Das war nun so etwas wie meine Spezialität geworden. Die meisten Models haben irgend etwas, das einen besonderen Marktwert besitzt, und das waren bei mir der Busen und die Beine. […] Die Natur hatte mich freundlicherweise mit einem recht kurzen Körper auf langen Beinen ausgestattet. Mein Beininnenmaß von fast dreiundachtzig Zentimetern bedeutete, daß meine Marktnische relativ sicher war; solange ich genügend trainierte, um meine Beine auch in Form zu halten.34 Mit seinem Körper ruft das Subjekt bei der Alterität Bewunderung oder Abscheu hervor. Aber weil es seinen Körper wie ein Objekt von außen betrachtet, vermag es nicht, 31 32 33 34

Huth 2003: 63. Huth 2003: 65, Versalien im Original. Mills 1996: 171. Mills 1996: 206f.

1. Struktur der Identität und Ereignis

den Anderen auf gleicher Ebene zu begegnen. Es bleibt einsam. Wenn das Subjekt mitbekommt, wie sein Körper die Alterität befremdet, ist es verunsichert, und mit den Zuschreibungen zu seinem Körper kann es nicht umgehen. Im psychischen Körper weicht sein Körperbild von der Wirklichkeit ab, und die Vorstellung, was sein Körper in der Alterität auszulösen vermag, ist unzutreffend. Das Subjekt lehnt ihn ab, führt sein Unglück auf seinen Körper zurück oder sieht sich durch ihn gestraft. Obwohl an Gehstörungen, Lähmung, Rollstuhl oder anderes noch keinen Moment zu denken war, hatte ich mich davor stets behindert gefühlt. Warum war ich zu groß und alle anderen normal gewachsen? Hatte ich diese Strafe verdient?35 Dem Subjekt gelingt es nicht, körperliche Erfahrungen zu verarbeiten und in das Selbst aufzunehmen. Ihm fehlt das Vertrauen zu seinem Körper. Mein Körper und ich. Wir haben kein gutes Verhältnis. Wenn ich an mir hinunterblicke, sehe ich den quadratischen Bauch, den ich auch an meinem Vater kannte, und sein eingefallenes Brustbein. Ob ich mich in mich selbst verlieben würde, wenn ich eine Frau wäre? Ich weiß nicht. Aber es ist sowieso nicht das Aussehen. Ich traue seinen Funktionen nicht. Da! Schwindel, ein Schwindel. Ja. Meistens ist es ein Schwindel. Ich bin Schwindelprofi, wissen Sie.36 Durch die Begrenztheit des Lebens ist das Subjekt so geängstigt, dass es dieses Wissen abwehren muss, aber gerade dadurch davon beherrscht wird. Defizitäre Körperidentität: Neben der konstruktiven und destruktiven Körperidentität lässt sich schließlich auch eine defizitäre Qualität ausmachen. In diesem Fall sind durch die bisherige Entwicklung die verschiedenen körperlichen Dimensionen so gestaltet, dass dem Subjekt ein Wissen um seine Körperlichkeit abgeht: Es kennt deren bewusstes Erleben nicht; subjektiv ist es ein totes Leben. Das Subjekt nimmt eine Wechselwirkung zwischen seinem somatischen Körper und der äußeren Welt nicht wahr. Es kann sich nicht vorstellen, wie es mit dem sensomotorischen Körper Sinneseindrücke empfängt oder Bewegungen ausführt, wie es mit dem viszeralen Körper Nährstoffe aufnimmt oder Stoffwechselendprodukte ausscheidet. Es ist ein Zustand, in dem es entweder keine Grenzen zwischen innen und außen gibt oder sie so undurchlässig sind, dass sie nicht überwindbar sind. Das Subjekt verfügt über keine kulturell anerkannten Fähigkeiten, um seinen somatischen Körper räumlich oder zeitlich zu erweitern. Da es nicht an Grenzen kommt, spürt es keine Affekte. Zu seinem sozialen Körper hat es nichts zu sagen, weil er von der Alterität keine Zuschreibungen erhält. Körperlich ist das Subjekt für die Anderen unsichtbar, und eine soziale Wirksamkeit geht ihm ab, da sein Körper in seinen Eigenschaften weder positiv noch negativ wahrgenommen wird. Durch den Körper entsteht keine Beziehung zur Alterität; vielmehr verliert sich das Subjekt in ihr, und mit ihm vermag es nichts zu erkennen. Im psychischen Körper hat das Subjekt kein Körperbild verinnerlicht; es erlebt seinen Körper nicht bewusst. Es weiß nicht, was eigene und was fremde Bedürfnisse sind, die befriedigt werden wollen. Da

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Buggenhagen 1996: 26. Huth 2003: 61.

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Körperlicher Umbruch

dem Subjekt der Körper bedeutungslos ist, hat es auch keine Vorstellung, welche Bedeutung er für die Alterität haben könnte. Was sie mit seinem Körper erleben, erfreut oder besorgt, versteht das Subjekt ebenso wenig aufzugreifen wie das, was ihm körperlich widerfährt. Unfähig, ein Geschehen mit Vorerfahrungen zu verknüpfen, kann das Subjekt sein Selbst nicht erweitern und bewusst nichts erlernen. Da in ihm keine Erinnerungen geweckt werden, erschließt es sich seine Vergangenheit nicht. Ohne Erwartungen an die Zukunft weiß das Subjekt nicht um seine Sterblichkeit. Körperidentität und Kindheit: Die zur Struktur gewordene Körperidentität beruht ähnlich wie das allgemeine Identitätsempfinden auf einem bis in die früheste Kindheit reichenden Prozess, in dessen Verlauf dem Subjekt in Beziehung zur Alterität sein Körperselbst bewusst geworden ist. Aus dem, was das Subjekt auf der prozeduralen Ebene verinnerlicht und auf der deklarativen Ebene symbolisch repräsentiert hat, ergibt sich, welche Qualität seine Körperidentität aufweist. So kann die Körperidentität konstruktiv für ihre weitere Prozesshaftigkeit sein, wenn sich die Alterität dem Subjekt in seiner Kindheit konstruktiv widmete. Dem Subjekt war erlaubt, den somatischen Körper lustvoll zu erfahren. Gelegentlich fand ein Ausflug auch in einem offenen Sportwagen statt, der von einem draufgängerischen Onkel gefahren wurde, der aussah wie Errol Flynn. Besser noch waren die Fahrten auf dem umklappbaren Rücksitz: Ich stieg in diesen umgebauten Kofferraum, und der Wind fegte auf der offenen Straße durch mein Haar. Wenn es mir gelang, das Rumpeln aus meinem Kopf zu verbannen, konnte ich mit den Göttern und Geistern des Windes kommunizieren.37 Oder das Subjekt wurde für seinen sozialen Körper anerkannt, weil es mit ihm entsprechend den Normen, Werten, Traditionen und Konventionen des sozialen Systems umging. Da kein Auto vorhanden war, hat mich mein Vater aufs Pferd gesetzt, ist mit seiner blutenden Tochter fünf Kilometer weit in die nächste Arztpraxis geritten, wo die Wunde genäht wurde. Ich habe nicht eine Träne geweint, für meine Tapferkeit eine runde Schachtel Bonbons mit nach Hause nehmen dürfen.38 Dem entsprechend destruktiv wirkt dann aber die Körperidentität für die weitere Prozesshaftigkeit, wenn sich die Alterität dem Subjekt als Kind destruktiv zuwandte. Dem somatischen Körper und dessen Besonderheiten begegneten die Andern zwar mit Fürsorge, aber auch mit Unverständnis. Ein paar Tage nach meiner Geburt bekam ich am ganzen Körper einen Hautausschlag. Damit begann ein Leiden, mit dem ich mich die erste Hälfte meines Lebens herumplagte. […] Was auch immer die Ursache gewesen sein mag, die Folgen waren einschneidend, und obwohl man als Kind alles fraglos als natürlich hinnimmt, hat dieser Teil meiner Kindheit und Jugend einen bleibenden Eindruck auf mich gemacht. Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören Verbände und Salben, Hemdsärmel, die vom

37 38

Todes 2005: 25. Buggenhagen 1996: 15.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Kratzen ganz dünn oder zerrissen waren, das Dreirad, mit dem ich mich als kleiner Junge fortbewegte, weil ich meine Beine nicht so strecken konnte, daß ich bequem hätte laufen können, die verwirrten Lehrer, die mich fragten, warum meine Fingernägel so eingerissen und poliert waren, und die fürsorgliche Liebe meiner Mutter.39 Das Subjekt erlebte, dass die Bemühungen der Alterität, seinem somatischen Körper etwas Gutes zu tun, nicht ausreichten, um sein Leid zu lindern. Die Schmerzen wurden immer schlimmer und oft musste mich mein Lehrer auf Wanderungen steile Berghänge hinuntertragen, was mich sehr beelendete. Das Wandern war mir die sinnvollste, wunderbarste Art, den Körper aktiv, sportlich herauszufordern.40 Die Alterität nahm das Subjekt in seinem Schmerz über das vermeintliche Ungenügen seines somatischen Körpers nicht wahr. Wie gebannt sah ich zu, wie meine Mutter sorgfältig Lippenstift vor dem winzigen Wandspiegel auflegte. Ich ging mit meinen zehneinhalb Jahren durch die pummelige Phase und wollte unbedingt so aussehen wie sie.41 Auch wertete die Alterität den somatischen Körper des Subjekts immer wieder ab oder sie scheute davor zurück, sich selbstverständlich auf ihn einzulassen. Abstehende Ohren und keine Haare auf dem Kopf, wie eine Käthe-Kruse-Puppe, so beschreibt meine Mutter ihren ersten Eindruck am 26. Mai 1953. Ein Malheur, was sie – zumindest, was die Ohren angeht – so schnell wie möglich beseitigen wollte. Ich bekam eine Binde um den Kopf, doch da die immer wegrutschte, wurde daraus kurz drauf eine Strickmütze, schön eng, die den Kopfschmuck richten sollten. Als ich ein Jahr alt war, hatte ich immer noch keine Haare und keinen Zahn. Daß bis zum ersten Schultag sechseinviertel Jahre darauf alles einigermaßen gerichtet war, versöhnte meine Mutter schließlich mehr oder minder. Damals war nur ein »Makel« übriggeblieben: meine Größe. Bei der Einschulung kam ich mir vor wie ein Sitzenbleiber, der die 1. Klasse zum dritten Mal absolvieren muß. Bohnenstenglig, stielig, ungelenk, so eine Art PippiLangstrumpf-Verschnitt ohne Sommersprossen – die Sympathien flogen mir nicht zu, ich mußte eher um Gunst werben.42 Der somatische Körper veranlasste die Alterität ferner zu Handlungen, die das Subjekt verletzten, weil sie nicht verstand, was ihm geschah. Die Zustände begannen in früher Jugendzeit. Damals zeigten sie sich in Form einer plötzlichen Muskelerschlaffung. Auf einen Schlag hatte ich für Sekunden bis wenige Minuten keine Kontrolle über meine Bewegungen beziehungsweise Muskeln mehr und sackte in mich zusammen, fiel unkontrolliert, kraftlos zu Boden. Oft wurde ich

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Hull 1992: 16. Balmer 2006: 77. Mills 1996: 55. Buggenhagen 1996: 14f.

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Körperlicher Umbruch

ausgelacht, was ich heute niemandem übel nehme, schliesslich hat es auch grotesk ausgesehen.43 Oder das Subjekt erfuhr von der Alterität körperliche Gewalt. Dad rastete völlig aus, verprügelte uns alle drei mit dem Gürtel, riß uns an den Haaren und boxte uns gegen die Brust, bis wir um Gnade flehten.44 Die Kindheit bedingt schließlich eine defizitäre Körperidentität, wenn das Verhältnis zur Alterität eine entsprechende Beziehungsqualität aufwies. Das Subjekt entbehrt in diesem Fall Erfahrungen, die für die Entwicklung der Körperlichkeit wesentlich sind. Damals in Wales hatte Mum mit den drei Kindern, Dad und dem Haushalt sehr viel zu tun. Aber sie war wohl nicht das geborene Hausmütterchen. Vermutlich hatte sie auch aufgrund ihrer Erziehung nie viel Sinn mit Schmusereien und Umarmungen.45 Wie beim allgemeinen Identitätsempfinden sind auch bei der Teilidentität der Körperlichkeit konstruktive, destruktive und defizitäre Qualitäten gleichzeitig vorhanden. Ihre Ausprägung ändert sich entsprechend der Lebensbedingungen, denen das Subjekt ausgesetzt ist. Mein Körper und ich sind keine besonders guten Freunde, jedenfalls nicht mehr. Als Kind habe ich Tennis gespielt, war im Schwimmverein und ganz erfolgreich im Langstreckenlauf. Ich konnte auch recht gut Ski fahren, aber das ist schon lange her. Erst hat man keine Zeit mehr, dann verliert man dazu noch die Lust, und dann ist Arbeit eine gute Ausrede.46 Um zu erfassen, wie das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erleben und wie der körperliche Umbruch verlaufen wird, spielt auch die Körperidentität eine Rolle. Sie gibt vor, mit welchen Vorerfahrungen das ungewohnte körperliche Geschehen, das dem Subjekt infolge von Unfall, Verletzung oder Erkrankung widerfährt, verknüpft wird.

1.4

Verknüpfungen von Ereignis und Struktur

Von der Deutung zur Verknüpfung: Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung gehört zu den Geschehnissen im Verlauf eines Lebens, die so schwerwiegen, dass das Subjekt nicht umhin kann, sie bewusst zu deuten und mit Vorerfahrungen zu verknüpfen. Denn bei solchen Widerfahrnissen, die das Selbst überwältigen und die Identität erschüttern, reichen bisher erworbene oder angenommene Automatismen der Verarbeitung nicht aus. Um die körperlichen Veränderungen einzuordnen, braucht es einen zweistufigen Prozess: Bereits wenn der Verlust der gewohnten

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Balmer 2006: 133. Mills 1996: 47. Mills 1996: 19. Huth 2003: 78.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Körperlichkeit geschieht, führt die erste Wahrnehmung der körperlichen Veränderungen unmittelbar durch Inhaltsfokus, Selektivität und Kategorisierung (vgl. Prinz 2013: 282) zu einer unbewussten Deutung; je nach der psychischen Struktur des Subjekts erhält das Geschehnis seine spezifische Bedeutung. Es wird dadurch von einem Geschehen, dem das Subjekt weitgehend ohnmächtig ausgeliefert ist und das sein Selbst beherrscht, zu einem Ereignis, auf das es aus seinen Vorerfahrungen heraus bewusst zu antworten vermag. Phänomenologisch kann das durch die Deutung geschaffene Ereignis heftige Spannungen in der Identität auslösen, psychodynamisch kann im Subjekt mit der Deutung ein früherer Konflikt aktualisiert werden, der abgewehrt, aber nicht ausreichend verarbeitet war. Nur im Vergleich mit seiner Alterität, die dasselbe Geschehen wahrgenommen und auf ihre Weise gedeutet hat, vermag das Subjekt zu erkennen, wie erst seine Struktur von Selbst und Identität das vermeintlich objektive Ereignis geschaffen hat. In diesem Ereignis sind äußeres Geschehen und innere Struktur aufgehoben, d.h. gleichermaßen bewahrt wie verändert. In der zweiten Stufe des Prozesses wird das wahrgenommene und subjektiv gedeutete Geschehen bewusst mit den in der Struktur der Identität bewahrten Vorerfahrungen verknüpft. Diese Verknüpfung von Ereignis und Struktur erfolgt im alltäglichen Prozess der Identitätsarbeit. Es lassen sich drei verschiedene Perspektiven der Verknüpfung ausmachen (vgl. Keupp et al. 1999: 190f.): In einer lebensweltlichen Perspektive werden Erfahrungen aus unterschiedlichen Lebensbereichen aufeinander bezogen. In einer zeitlichen Perspektive wird Gegenwärtiges mit Vergangenem und Zukünftigem verbunden. In einer inhaltlichen Perspektive wird erfasst, inwieweit das gegenwärtige Erleben bereits vorhandene Erfahrungen bestätigt, es ihnen widerspricht oder es neu ist. Wie das körperliche Geschehen und die Vorerfahrungen verknüpft werden, ist von den im Subjekt vorhandenen Möglichkeiten abhängig. Indem das körperliche Geschehen meist nicht nur einfach, sondern mehrfach unter den drei Perspektiven verknüpft wird, entsteht aus den körperlichen Veränderungen der körperliche Umbruch. Durch die Verknüpfung werden wie bereits zuvor durch die Deutung bestimmte Einzelheiten des körperlichen Geschehens ausgewählt, manche hervorgehoben und andere weggelassen. Immer sind die inneren Strukturen, mit denen das Geschehen gedeutet und das Ereignis verknüpft wird, verschränkt mit den Auswirkungen des Geschehnisses auf die inneren Prozesse. Denn wie das Geschehnis durch die Deutung verändert und zu einem Ereignis wird, verändert sich die innere Struktur durch die Deutung des Geschehens und die Verknüpfung des Ereignisses. Daher ist es nur theoretisch möglich, wirklich zwischen dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit als Geschehnis, das das Selbst überwältigt, und dem Ereignis, das das Subjekt bewusst erlebt, deutet und wahrnimmt, sowie dem körperlichen Umbruch, der mit Vorerfahrungen verknüpft wird, zu unterscheiden. Für das Subjekt fallen sie nahezu in eins zusammen. Denn sobald es wahrnimmt, was ihm geschieht, beginnt es, dem Wahrgenommenen eine Bedeutung zu geben, und durch die folgende Verknüpfung mit seinen Vorerfahrungen macht es das Ereignis einer möglichen Antwort verfügbar.

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Körperlicher Umbruch

Während der Unterhaltung fiel mir auf, dass ich schlecht artikulierte. Bei den Vokalen wurde mein Gaumen schwer, die Konsonanten sperrten die Lippen. Höhenluft! ging mir durch den Kopf. Sils-Maria-Stottern.47 Mögliche Selbsterfahrung: Die Deutung eines Geschehnis geht von dem aus, was im Selbst des Subjekts angelegt ist, sodass das Ereignis als Ergebnis dieser Deutung nicht nur vom Geschehen geprägt ist, sondern auch vom wahrnehmenden und deutenden Subjekt. Doch bevor ein Geschehnis wie der Verlust der gewohnten Körperlichkeit entsprechend der inneren Struktur des Subjekts gedeutet wird, hat auf diese das körperliche Geschehen bereits eingewirkt. Es hat die im Selbst und in der Identität vorhandenen Inhalte des deklarativen und prozeduralen Gedächtnisses, mit denen das Geschehen gedeutet und zum Ereignis gestaltet wird, erst geweckt. Zur Deutung der körperlichen Veränderungen kann es daher nur kommen, wenn von vorneherein die Möglichkeit dazu angelegt ist. Gerade wenn es dem Subjekt nicht möglich ist, ein Geschehnis in allen Einzelheiten bewusst wahrzunehmen, kann sich aus einer unbewusst dennoch stattgefundenen Deutung ergeben, dass sich das Subjekt auf einmal an früher und anderswo Erlebtes erinnert, was über das gegenwärtig Geschehene hinausgeht. In diesem Augenblick findet die Verknüpfung mit Vorerfahrungen statt. Als die Ärztin meine Kanüle auswechseln wollte, hatte ich fürchterliche Angst, sie wolle mir noch zusätzlich Largactil – ein antipsychotisches Medikament – verabreichen. Um mich an einem Stück Wirklichkeit festzuhalten, legte ich mich aufs Bett und schaute durch das Fenster in den Himmel. Ich hatte das Gefühl, wieder im Kinderwagen zu liegen.48 Wie alle Ereignisse lenkt der körperliche Umbruch die Aufmerksamkeit auf die inneren Strukturen von Selbst und Identität, von denen zuerst die Deutung und dann die Verknüpfung ausgegangen sind. Das Ereignis macht das Selbst bewusst und gibt dem Subjekt seine Identität. Bezogen auf die prozedurale Ebene können vier Körpertypen erfahren werden (vgl. Frank 1995: 40–52): Der erste Körpertyp will diszipliniert sein. Das Subjekt ist dabei auf sich bezogen und versucht, sein körperliches Erleben möglichst genau im Voraus festzulegen. Bei einem körperlichen Umbruch gerät das Selbst in Spannung, weil es den Körper nicht mehr kontrollieren kann. Das Subjekt bemüht sich, durch gezielte Behandlung die verlorene Herrschaft über seinen Körper zurückzugewinnen. Es spaltet den Körper von seinem Selbst ab und macht ihn zu einem ihm äußeren Objekt. Der zweite Körpertyp will spiegeln. Das Subjekt ist dabei ebenfalls auf sich bezogen, aber in diesem Fall bestrebt, durch seine schöne Gestalt für sich zu einzunehmen. Bei einem körperlichen Umbruch befürchtet es, körperlich und darüber hinaus in seinem Selbst entstellt zu sein, weil es Selbst und Körper nicht trennen kann. Im Unterschied zu diesen beiden Körpertypen ist der dritte auf die Alterität bezogen; er will sie dominieren. Das Subjekt bestimmt sich ihr gegenüber durch seine Kraft.

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Härtling 2007: 21f. Todes 2005: 92.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Der Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit macht es ohnmächtig, was in ihm die Wut erzeugt, die es dann gegen die Anderen richtet. Der vierte Körpertyp will kommunikativ sein. Das Subjekt bezieht sich auf auf die Alterität, doch führt es dabei sein Leben für sie. Bei einem körperlichen Umbruch erzählt es seine Geschichte und fordert die Alterität auf, sich in ihr wiederzuerkennen. Dabei gehört es für das Subjekt zur allgemeinen Unvorhersehbarkeit des Lebens, dass seine Körperlichkeit sich wandelt und dieser Wandel auch durch Krankheit geschieht. Neben der prozeduralen Ebene des Selbst, die sich bei einem körperlichen Umbruch bewusst erfahren lässt, können auf der deklarative Ebene beispielhaft Unterschiede benannt werden, wie die bisherige Identität infolge des Verlust der gewohnten Körperlichkeit bewertet wird (vgl. Beland 1985): Die körperlichen Veränderungen machen zum Ersten deutlich, dass das Subjekt stolz ist, in seinem bisherigen Leben vieles erreicht zu haben, und dass es mit Zuversicht nach vorne blickt. Ich machte mein Examen als Krankengymnastin. Mit 22 Jahren hatte ich meine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und konnte etwas später mein Anerkennungsjahr im Evangelischen Krankenhaus antreten. Außerdem fuhr ich am folgenden Wochenende zu meinem Freund nach Niedersachsen. Das Leben lag vor mir, ich musste nur zugreifen.49 Das Subjekt sieht in diesem Fall den körperlichen Umbruch als Bedrohung und Zerstörung einer als unbeschädigt erlebten Identität an. Die körperlichen Veränderungen können zum Zweiten dem Subjekt aufzeigen, dass es mit seinem bisherigen Leben unzufrieden ist. Der körperliche Umbruch erscheint dann als eine Möglichkeit, sich aus den Zwängen einer übernommenen Identität zu befreien. Nachdem ich so lange in Krankenhäusern, in schmucklosen, weißgetünchten Zimmern mit dem Charme einer Bushaltestelle zu Hause war, in denen meist nur ein colorierter Kunstdruck auf vergilbtem Papier oder ein Kruzifix als ablenkender Schmuck an den Wänden hing, wollte ich nun mein eigenes Leben beginnen. Dafür hatte ich ja bis dahin noch gar keine Gelegenheit gehabt. Als 16jährige aus dem beschaulichen Ueckermünde in die Metropole Berlin gezogen, dort als Teenager mit Beruf, Schule und Alltag überfordert, dann schließlich die jahrelange Krankheitsgeschichte mit dem zermürbenden Auf und Ab – eigentlich fing alles erst bewußt an, als es fast schon zu Ende schien.50 Zum Dritten lassen die körperlichen Veränderungen das Subjekt erkennen, dass es für weitere Entwicklungen offen ist, weil sein allgemeines Identitätsempfinden bisher diffus geblieben ist. Es nutzt den körperlichen Umbruch als ein Mittel zur Identitätsfindung im Sinne einer Selbstverwirklichung.

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Ruscheweih 2005: 14. Buggenhagen 1996: 42.

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Körperlicher Umbruch

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie dieses neue Leben aussehen würde, aber wer wollte sagen, daß nicht noch etwas Lohnenderes dabei herauskam als das Modeldasein?51 Dadurch, dass sich auf prozeduraler und deklarativer Ebene die körperlichen Veränderungen und die innere Struktur des Subjekts miteinander verknüpfen, nimmt das Kohärenzempfinden wieder zu, das durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit vermindert wurde: Die Verknüpfung unter lebensweltlicher Perspektive verstärkt die Kohäsion des Selbst, die unter zeitlicher Perspektive schafft wieder eine Kontinuität des Erlebens und die unter inhaltlicher Perspektive bewirkt, dass die Grenzen des Selbst ihre Flexibilität zurückgewinnen. Unterbleiben der Verknüpfung: Abgesehen davon, dass ein Geschehnis zu unbedeutend sein kann, als dass es mit der Struktur von Selbst und Identität verknüpft werden müsste, unterbleibt eine Verknüpfung noch in mindestens zwei weiteren Fällen: Zum einen können dem Subjekt in seiner Struktur die notwendigen Voraussetzungen fehlen, um ein Geschehen, von dem es betroffen ist, bewusst wahrzunehmen. Zum anderen unterbleibt die Verknüpfung dann, wenn das Geschehnis zu gewaltig ist, als dass ihm das Subjekt eine Bedeutung geben könnte. In manchen Fällen eines Verlusts der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung ist es möglich, dass das Subjekt das Geschehen in seinem Körper nicht wahrnimmt, obwohl weitreichende Veränderungen des sensomotorischen, viszeralen oder konnektiven Körpers eintreten. Unter Umständen stirbt das Subjekt sogar an diesen Veränderungen, ohne sie bewusst erlebt zu haben. In anderen Fällen besetzt das körperliche Geschehen das gesamte Selbst, sodass das Subjekt nicht mehr zu deuten weiß, was ihm gerade geschieht. Wie jedes Geschehnis, das stark genug ist, die gewachsenen Grenzen zwischen innen und außen einzureißen, wirkt der Verlust der gewohnten Körperlichkeit dann traumatisch (vgl. Freud 1999: 29). Gerade bei Krebs sehen die Spezialisten des Gesundheitswesens die psychischen Beschwerden oft als Folge einer Traumatisierung an (vgl. Alter et al. 1996, Kruse/Wöller 1995, Schmitt 2000); so diagnostizieren sie, wenn nicht dauerhaft, zumindest vorübergehend, bei 5 bis 22 Prozent der Krebspatienten eine posttraumatische Belastungsstörung, die im Verlauf der Erkrankung sogar bisweilen an Schwere zunimmt (vgl. Flatten et al. 2003). Infolge der alles umfassenden Gegenwärtigkeit der veränderten Körperlichkeit verliert bei einem Trauma das Subjekt den Bezug zu all dem, was es davor ausgemacht hat, wie zu seiner Alterität, zu seinen Leidenschaften und Interessen, zu seinen Erinnerungen an früher Erlebtes oder zu seinen Erwartungen an die Zukunft. Sein Selbst wird mit dem Unfall, der Verletzung oder der Erkrankung eins. Oder das Selbst spaltet sich in einen Teil, der durch das körperliche Geschehen zerstört ist, und einen anderen Teil, der davon weiß, aber nicht betroffen zu sein scheint. Wenn der Verlust der gewohnten Körperlichkeit traumatisch ist, kommt das Subjekt unwillkürlich immer wieder auf das Geschehen zurück, erlebt es mit Angst von Neuem und kann es wiederum nicht bewältigen. Auch kommt es vor, dass das Subjekt sich in seinem Alltag einengt, um dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht zufällig in einem Geschehen, das ihm

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Mills 1996: 227.

1. Struktur der Identität und Ereignis

ähnelt, zu begegnen. Vordergründig erscheint dem Subjekt das Leben sinnlos, aber insgeheim kann ihm die veränderte Körperlichkeit zu einem Sinnersatz werden. Um sich in seinem Leid zu spüren, sucht es unbewusst nach seiner Wiederholung. Während es die Alterität hasst, da es sich von ihr verlassen fühlt, bezichtigt es sich dafür, deren Verlust verursacht zu haben (vgl. Ehlert-Balzer 1996: 299–304). Solange die Traumatisierung anhält, werden die körperlichen Veränderungen dem Subjekt nicht zu einem körperlichen Umbruch, auf den es sich in Selbst und Identität beziehen kann. Auch ist es ihm nicht möglich, vom Stillstand des Werdens in den Prozess der Identitätsarbeit zurückzukehren oder sein Selbstverständnis der veränderten Körperlichkeit anzupassen. Wenn es dem Subjekt aber gelingt, das körperliche Geschehen zu deuten, sind die Voraussetzungen erfüllt, dass es den Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit unter lebensweltlicher, zeitlicher und inhaltlicher Perspektive mit seinen Vorerfahrungen zu verknüpfen vermag.

1.5

Perspektiven der Verknüpfung

Die lebensweltliche Perspektive: Der körperliche Umbruch weist eine bewusste Verknüpfung mit der Struktur der Identität unter lebensweltlicher Perspektive auf: Das Subjekt bezieht das körperliche Erleben auf Erfahrungen aus anderen Lebensbereichen wie Beruf, Familie, Sportgruppe, Kulturverein oder Glaubensgemeinschaft. Es kann sein, dass der körperliche Umbruch vom Subjekt etwas zu tun verlangt, was es schon in diesen anderen Lebensbereichen getan hat. Die Gewohnheit, mein Inneres zu beobachten und zu erforschen – ehemals ein großer Teil meiner Ausbildung als Psychoanalytiker –, wurde durch die Notwendigkeit verstärkt, Tagesprofile meines Zustandes nach der jeweiligen Medikamenteneinnahme und der Reaktion darauf zu erstellen.52 Ebenso kann es vorkommen, dass bedingt durch den körperlichen Umbruch sich das Subjekt wieder an Erfahrungen aus anderen Lebensbereichen erinnert, die längst vergessen waren. Ich schaffte es, dem Küken das Leben zu schenken. Das Bein des kleinen Hahnes blieb übergross, wodurch er humpelte. Ich nannte ihn »Hinkebein«. […] Als Hinkebein zwei Jahre alt war, wurde er immer aggressiver, führte in den letzten Wochen seines Lebens heftige Attacken gar auf meine Beine aus. Hinkebein lag eines Morgens nach Wochen der Verhaltensstörung tot im Hühnerstall am Boden. Ich lernte, dass man der Natur eigentlich nie reinpfuschen sollte. Doch was ist, wenn man einem Menschen hilft zu überleben, der zum Beispiel durch Krankheit zum Tode verurteilt ist – wie ich – ?53 Auf verschiedenen Wegen verknüpft sich der körperliche Umbruch mit Erfahrungen aus anderen Lebensbereichen. Wenn eine beiläufige Bemerkung aus einem ganz ande-

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Todes 2005: 49. Balmer 2006: 124.

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ren Zusammenhang das Subjekt die Verbindung herstellen lässt, entspringen daraus weitergehende Gedanken. »Für heute ist für dich Schluss, Michael«, höre ich aus der Ferne. Schluss? Für mich ist bald ganz Schluss, schießt es mir durch den Kopf. »Okay, Michael, dann sehen wir uns am Montag wieder. Zu den Schlusseinstellungen.« Die große Schlusseinstellung? Die hat doch das Leben längst für mich geschrieben.54 In seinen Gedanken verknüpft das Subjekt beiläufig etwas, weil es zeitliche Entsprechungen gibt. Deswegen wird sich das Subjekt einmal mehr der Lage bewusst, in der es sich infolge des körperlichen Umbruchs befindet. Ich war wieder in der Klinik. Und diese Infusion dauerte diesmal so lange wie der Pilotfilm von »Freunde fürs Leben«: 90 Minuten! Aber es schauten keine 7,8 Millionen Menschen zu.55 Es ist auch möglich, dass die Verknüpfung des körperlichen Umbruchs unter lebensweltlicher Perspektive aus einem Affekt entsteht, der in verschiedenen Lebensbereichen und -zeiten derselbe gewesen ist. Mitte Dezember 1981 geriet ich das erste Mal im Zusammenhang mit meiner Blindheit in Panik. […] Ein Gefühl der Panik erfaßte mich auch im Jahre 1982, während der Monate, als ich meiner Hautekzeme wegen warme Ölbäder machen mußte. […] Die dritte Form von Panik, die ich in den letzten Monaten erlebt habe, hängt mit der Atemnot beim Asthma zusammen.56 Aus der Verknüpfung ergeben sich bisweilen Identitätsentwürfe und -projekte. Durch meine psychoanalytische Arbeit war ich tief im Unbewussten mit der Schnittstelle von Körper und Geist befasst. Und in Zukunft sollte ich hinreichend Gelegenheit haben, eine Theorie zu überprüfen, die mich schon lange beschäftigte – nämlich die, dass meine Krankheit psychosomatisch war.57 Infolge des körperlichen Umbruchs können aber auch Lebensbereiche getrennt worden sein, die wieder zu verknüpfen dem Subjekt zuerst einmal unvorstellbar scheint. Die Menschen, die ich schon kannte, bevor ich das Augenlicht verlor, haben Gesichter, aber die Menschen, die ich erst danach kennengelernt habe, haben keine Gesichter. Früher fand ich den Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen von Menschen immer verwirrend. Ich wußte nicht, wie ich die eine Hälfte zu der anderen in Beziehung setzen sollte.58 Doch verbindet der körperliche Umbruch auch Lebensbereiche oder -zeiten, die für das Subjekt bis dahin getrennt gewesen sind.

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Lesch 2002: 29. Lesch 2002: 63. Hull 1992: 61, 62. Todes 2005: 17. Hull 1992: 33.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Die erste Diagnose einer schweren Lähmungskrankheit, nämlich ALS, sollte die Symptome der erst seit wenigen Jahren im Vordergrund stehenden Erkrankungen umschreiben und mir aufzeigen, wie aggressiv schnell sie inzwischen fortschreitet.59 Die zeitliche Perspektive der Vergangenheit: Indem das gegenwärtige körperliche Erleben auf frühere Erfahrungen bezogen wird, weist der körperliche Umbruch auch eine bewusste Verknüpfung mit der Struktur der Identität unter zeitlicher Perspektive auf. Der heutige Schmerz lässt das Subjekt daran denken, dass es schon einmal Ähnliches erlebte. Eine halbe Stunde später aber fühle ich, dass Schmerzen in meinen Bauch kriechen! Keine normalen Bauchschmerzen, sondern Schmerzen, die ich kenne … ja, ich hatte sofort eine böse Vorahnung: »Verdammte Scheiße! Nicht das … bitte nicht das!« Es ist verrückt! Aber wer, wie ich, schon so viele Schmerzen in seinem Leben erdulden musste, der entwickelt für so etwas ein ganz besonderes Gefühl. Ich bin kein Mediziner. Nur: In dieser Sekunde schießt mir sofort eine Erinnerung durch den Kopf: »Michael, das sind Schmerzen, wie du sie schon mal erlebt hast!« Es muss im Oktober 1985 gewesen sein.60 Das Subjekt erinnert sich, dass bei früheren Beschwerden, die vergleichbar waren mit seinen heutigen, die um Rat gefragten Spezialisten des Gesundheitswesens es lange nicht schafften, das körperliche Geschehen einzuordnen. Bereits als Jugendliche litt ich an Zuständen, in denen ich mich nicht bewegen konnte. Trotz der Unbeweglichkeit konnte ich alles um mich fühlen, hören, riechen und, wenn ich die Augen offen halten konnte, sehen. Eine Diagnose wurde erst Jahre später gestellt.61 Außerdem fällt dem Subjekt ein, dass ähnliche Behandlungen wie in der Gegenwart schon bei früheren Erkrankungen durchgeführt wurden. Ich werde in den OP-Raum geführt. In der Mitte der OP-Tisch. Bereit für mich. Ich lege mich darauf. »Verdammt noch mal«, denke ich, »die wievielte Operation ist das eigentlich in deinem Leben?« Ich halte dem Arzt meinen linken Arm hin, nicke ihm zu: »Ich weiß, wie das geht …« Mein Leben scheint mir eine muntere Abfolge von Operationen zu sein: Mit sechs Jahren wurde mir ein Leistenbruch operiert. Mit neun Jahren hatte ich einen Blinddarmdurchbruch, auf den eine Bauchhöhlenvereiterung folgte. Ich wurde zwei Mal operiert und musste vier Wochen im Krankenhaus bleiben. Die Sache stand so sehr auf der Kippe, dass ich sogar schon die Letzte Ölung erhielt. Es folgten Operationen an den Stimmbändern wegen Knotenbildung und zwei Eingriffe wegen eines komplizierten Schien- und Wadenbeinbruchs. Zweimal operierte mich Gerhard, einmal an den Nasenscheidewänden und einmal wegen eines gutartigen Kehlkopftu-

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Balmer 2006: 78. Lesch 2002: 86f. Balmer 2006: 52.

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mors, und dann hatte ich noch eine Operation wegen Darmverschluss. Alles in allem neun Eingriffe. Die Narben auf meinem Körper bilden eine interessante Landkarte.62 Das Subjekt denkt daran, wie es als Kind einmal menschlich von einem Spezialisten des Gesundheitswesen enttäuscht wurde. Jetzt sind wir also da. Ich bin zum zweiten Mal in meinem Leben in einem Krankenhaus. Das erste Mal: Ich hatte Polypen in der Nase, die rausgeholt werden mussten. Der Arzt belog mich. Er hielt mir die Betäubungsmaske vor die Nase und sagte: Einatmen, ausatmen, und die Sache ist vorbei. Als ich wieder aufwachte, schenkte mir mein Vater einen Eisenbahnwaggon von Lego. Ich wollte ihn sofort zusammenbauen und scheiterte total. Stoned mit sechs.63 Sein heutiger körperlicher Zustand erinnert das Subjekt an bedeutsame Andere, die früher körperliche Veränderungen erlebten, die seinen heutigen gleichen. Mein Großvater hatte drei Herzinfarkte. Mit seinem ersten lag er wochenlang in der Klinik. Ich war vielleicht vier Jahre alt und verstand nur Begriffe. HERZINFARKT – STERBEN? – OPERATION – KRANKENHAUS. […] Herzinfarkt war ein Familienwort. Den zweiten Herzinfarkt nahm er hin. Am dritten starb er mit 72 Jahren. Ich kann mich gut an die Beerdigung erinnern. Mein Vater litt unter Angina Pectoris. Der kleinen Schwester des Herzinfarkts. Chronische Vermüllung der Herzkranzgefäße, die sich zusammenkrampfen, wenn wieder ein dicker Müllbrocken angeschwommen kommt und die Ader verstopft. Dann kommt es zu: Beklemmungen in der Brust. Engegefühl. Kalter Schweiß. Angstattacken. Man muss immer ein rotes Nitrospray dabeihaben, wie die Gymnastiklehrerinnen in der Klinik. Wenn’s wehtut, sofort sprayen. Wenn man sein Spray vergessen hat: Herzinfarkt. Bei meinem Vater hat dann die Zeit wohl nicht mehr gereicht. Mein Vater ist ja nur 54 Jahre alt geworden.64 Sein heutiger Zustand ruft dem Subjekt in Erinnerung, dass Personen, die ihm viel bedeuteten, verstarben. Es beginnt die geschenkte Zeit. Ich müsste von nun an allen Warnungen der Ärzte, der Freunde, der Kinder entfliehen. Bloß kann ich nicht rennen. Mein Handicap sind die Schritte bis zur Schmerzgrenze. Mir fällt ein, damals oder jetzt, draußen oder drinnen, wie 1978 auf der Frankfurter Buchmesse bekannt wurde und einer nach dem anderen erschrak, erstarrte, dass sich Jean Amery in Salzburg das Leben genommen hatte. Ich bekam einen Moment lang keinen Atem mehr. In den drei Tagen an Mutters Totenbett habe ich diesen Schrecken vorausgenommen: In Gedanken nicht mehr hier zu sein, mit dem, der sich abwendet und verloren gibt. Wie weit bin ich jetzt?65 Wenn sich das heutige Geschehen und die Struktur der Identität unter zeitlicher Perspektive mit früheren Erfahrungen verbinden, löst diese Verknüpfung Affekte aus. Das

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Lesch 2002: 26. Huth 2003: 20. Huth 2003: 47f., Versalien im Original. Härtling 2007: 63.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Subjekt bekommt Angst davor, seine gewohnte Körperlichkeit zu verlieren, wie es das schon einmal bei ihm nahestehenden Anderen mitbekam. Meine Gedanken wanderten an einen anderen Ort, in eine frühere Zeit, die fast zwanzig Jahre zurücklag. […] Sie redeten über Mama, das begriff ich, und mir fielen ungewöhnliche Worte auf wie »Infusionen« und »Intensivstation«. Ich spitzte die Ohren, um mehr mitzubekommen. Da hörte ich die Worte, die mir dann zwanzig Jahre später wieder einfielen und mich in Panik versetzten. Die Polizistin sagte mit leiser Stimme zu Mrs. Wilson: »Man nimmt an, sie wird ihr Bein verlieren.«66 Das Subjekt befürchtet auch, seine Alterität so schmerzhaft zu verlieren, wie es sie schon früher einmal verlor. Ich winkte meiner Familie zum Abschied nach, als sie in den Bus stieg, aber als ich durch den mit Müll übersäten Bahnhof zurückging, überkam mich das Gefühl tiefer Depression, wie damals, als meine Mutter auf dem Hospital Hill gestorben war. Das Bewusstsein, mich nicht in meiner Muttersprache verständigen zu können, gab mir das Gefühl, plötzlich völlig hilflos und verloren zu sein, und mit dem Abschied von Lili kam die fürchterliche Angst, dass ich das auch nie wieder würde tun können.67 Doch die Verknüpfung unter zeitlicher Perspektive und die Erinnerung an frühere Erfahrungen vermag das Subjekt auch zu stärken. Sie tröstet. Durch das Fenster sehe ich die ockerbraunen Klinkerfassaden, die im Licht der ersten Sonnenstrahlen heller werden. Der Stein nimmt ganz genau die rosa Färbung der griechischen Grammatik von M. Rat an, eine Erinnerung an die vierte Klasse. Ich war bei weitem kein brillanter Hellenist, aber ich mag diesen warmen, tiefen Farbton, der mir noch immer ein Universum des Wissens eröffnet, in dem man auf Tuchfühlung mit Alkibiades’ Hund und den Helden der Thermopylen kommt.68 Aus der Verknüpfung gewinnt das Subjekt Zuversicht. Ärzte pflastern meinen Weg. Im wirklichen Leben, aber auch im Beruf. Als Schauspieler hatte ich schon eine ganze Reihe verkörpert. Ich war der Tierarzt Dr. Horst Nenner, ich war der Chirurg Dr. Peter Sander, ich war der Zahnarzt Dr. Jürgen Zimmermann, und ich war der Internist Dr. Stefan Junginger in der ZDF-Serie »Freunde fürs Leben«.69 Die Erinnerung an frühere Erfahrungen hält das Subjekt dazu an, gegenüber seinen jetzigem Erleben und dessen Deutung ein gesundes Misstrauen zu bewahren. Mehrere Male in meinem Leben hatte ich für eine gewisse Zeit nicht sehen können, häufig in Augenkliniken. Ich machte die seltsame Erfahrung, daß ich die Krankenschwestern an ihren Stimmen erkannte und mir unweigerlich ein geistiges Bild von ihnen machte, nur um dann, wenn ich wieder sehen konnte, feststellen zu müssen, daß ich völlig daneben lag. Daher habe ich guten Grund anzunehmen, daß die Bilder, 66 67 68 69

Mills 1996: 8, 11. Todes 2005: 88. Bauby 1997: 99. Lesch 2002: 123.

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die ich mir von Menschen gemacht habe, die ich erst als Blinder kennenlernte, wahrscheinlich ziemlich falsch sind.70 Die Verknüpfung unter zeitlicher Perspektive regt das Subjekt an, nach vorne zu schauen. Ist Sport nicht auch für Nichtbehinderte ein Mittel, sich selbst zu verwirklichen, Selbstbewußtsein und Stärke aufzubauen, Anerkennung zu finden? Ich hatte es doch erlebt, als ich von Ueckermünde als nicht selten verspottete dürre »Bohnenstange« nach OstBerlin gezogen war, unter den Volleyballerinnen beim SC Dynamo plötzlich meine »Behinderung« loswurde und mir ganz neue Ziele erschloß.71 Die zeitliche Perspektive der Zukunft: Bei der Verknüpfung der körperlichen Veränderungen unter zeitlicher Perspektive kommt dazu, dass aus dem gegenwärtigen Erleben auf das zukünftige geschlossen wird. Dabei geht es vielfach um das Erleben von Verlust. Das Subjekt nimmt an, dass es das, was es an Fertigkeiten verloren hat, nie mehr wieder erwerben kann. Der über Jahrzehnte eingeübte Mechanismus war gestört. Ich konnte nicht mehr schreiben. Ich werde nicht mehr schreiben können.72 Weil sein heutiges Befinden vom Verlust der gewohnten Körperlichkeit bestimmt ist, geht das Subjekt davon aus, überhaupt nicht mehr in die Lage zu kommen, selbständig zu leben. Schlimmer als dieses Verlustgefühl war das Wissen, daß meine Zukunft aus Abhängigkeit bestand. Den größten Teil meines Lebens war ich immer diejenige gewesen, die sich um andere gekümmert hatte. Als Mum uns verließ, hatte ich gelernt, unabhängig und nicht auf andere Leute angewiesen zu sein. Allein fertigzuwerden war für mich zu einer solchen Gewohnheit geworden, daß ich selbst dann, wenn ich jemanden kennenlernte, der sich um mich kümmern wollte, dies nicht zuließ. Ich wollte in einer Beziehung immer die Starke sein.73 Auch wenn das heutige Geschehen mit Erwartungen an die Zukunft verknüpft wird, löst es Affekte aus. Es schmerzt das Subjekt anzunehmen, dass der jetzt erlebte Verlust früherer Fertigkeiten auf Dauer bestehen bleibt. Meine Frau fuhr mich in unserem neuen Wagen nach Hause. Mir wurde dabei schmerzlich bewußt, daß ich ihn wahrscheinlich nie wieder selbst steuern könnte.74 Das Denken in der Gegenwart ist von der Angst vor der angenommenen Zukunft und dem weiteren Verlust von Fähigkeiten geprägt.

70 71 72 73 74

Hull 1992: 36. Buggenhagen 1996: 52. Härtling 2007: 25. Mills 1996: 226. Peinert 2002: 69f.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Neue Agonisten sollten jedoch ausprobiert werden, und ich stellte mich für die Versuche zur Verfügung. Obwohl ich motorisch beweglich war und nur eine geringe Beeinträchtigung verspürte, sorgte ich mich weiterhin über die zukünftige Entwicklung und eine mögliche Verschlechterung. Noch immer fühlte ich, dass die Zeit gegen mich lief.75 Die Angst vor der angenommenen Zukunft und dem Verlust des Lebens bestimmt das Empfinden in der Gegenwart. Nächte- und tagelang konnte ich trotz Beruhigungsmittel und Antidepressiva nicht richtig schlafen; und wenn, dann fiel ich nur kurz in einen Erschöpfungsschlaf, wonach ich mich keinesfalls erholt fühlte. Mich quälte, was nach meinem Ableben folgen würde. Ich hatte Vorstellungen, dass ich in die Hölle kommen würde, von Leiden und Qualen in unbeschreiblichen Dimensionen heimgesucht.76 Die inhaltliche Perspektive der Ähnlichkeit: Zum körperlichen Umbruch gehört ebenfalls eine bewusste Verknüpfung mit der Struktur der Identität unter inhaltlicher Perspektive: Der Vergleich des gegenwärtigen Erlebens mit den früher gemachten Erfahrungen macht dem Subjekt deutlich, wie sich beide ähneln. Das zum Vergleich herangezogene Dritte, der sogenannte Vergleichspunkt, ist dabei eine Eigenschaft, die dem jetzigen Erleben und den Vorerfahrungen gemeinsam ist, die unabhängig von beiden besteht und die schon vor dem Vergleich in ihren Merkmalen bezeichnet gewesen ist. Der Vergleichspunkt kann die körperliche Überwältigung durch den Schmerz sein, die früher schon einmal erlebt wurde. Dem Subjekt schwant, was sich daraus ergeben wird. Ich bin kein Mediziner. Nur: In dieser Sekunde schießt mir sofort eine Erinnerung durch den Kopf: »Michael, das sind Schmerzen, wie du sie schon einmal erlebt hast!« Es muss im Oktober 1985 gewesen sein. […] Und dann schnitten sie mir zum ersten Mal die Bauchdecke auf vom Nabel bis zur Scham auf.77 Der Vergleichspunkt kann auch die Aufnahme als Patient in ein Krankenhaus sein. Das Subjekt erwartet nichts Gutes. Nachdem meine Medikamente eingeschränkt und mir damit meine gesamte Autonomie genommen worden war, stellte ich mich darauf ein, wie ein Versuchskaninchen im Käfig im Krankenhaus gepflegt zu werden. Meine Frau stand als Mittlerin zwischen mir und den Anderen und beschützte mich. Ich hatte das Gefühl, dies sei der Beginn eines neuen Zeitalters oder könne es zumindest sein. Gleichzeitig spürten wir, dass wir das alles schon einmal erlebt hatten und dabei bitter enttäuscht worden waren.78 Zur Verknüpfung unter inhaltlicher Perspektive kommt die unter zeitlicher Perspektive. Das Subjekt erinnert einzelne Episoden aus der eigenen Biografie. Durch das ungewohnte körperliche Geschehen in Form eines Schwindels fühlt sich das Subjekt wie ein Kind. 75 76 77 78

Todes 2005: 74. Balmer 2006: 94. Lesch 2002: 86f., 88. Todes 2005: 128.

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Ich sah mich außerstande, mein Zimmer einzuordnen. Es hatte sogar die unangenehme Eigenschaft zu wandern, sich zu bewegen und damit die Ordnung in Frage zu stellen. Ich kam mir wie ein Kind vor, das sich mutwillig allzu lang um seine eigene Achse gedreht hatte, schwindelt, hinstürzt und nicht mehr weiß, an wen es sich wenden soll.79 Durch die veränderte Körperlichkeit muss das Subjekt an einen Kindheitstraum denken. Ich habe es als Kind nie geschafft, mehr als ein paar Minuten mit dem Kopf unter der Bettdecke zu bleiben. Einige Sekunden, bevor ich mich in panischer Angst befreien musste, um nach Luft zu schnappen, hatte ich immer das Gefühl, als würde ich wie ein prallvoller Ballon zerplatzen. Mehr als 25 Jahre später erwachte ich nach einem Luftröhrenschnitt unter meiner Bettdecke. Ich hatte sie unbewusst im Schlaf bis über meinen Kopf gezogen. Kein Herzklopfen, kein Schwitzen. Keine Frage: Ich hatte genügend Luft, um zu atmen. Die Beatmungsmaschine versorgte mich durch einen Schlauch mit Atemluft. Ich erinnerte mich an meine Kindheit und musste lächeln. Ein Kindheitstraum ging in Erfüllung. Wenn auch nur ein kleiner.80 Die Einrichtung des Zimmers im Krankenhaus weckt unangenehme Erinnerungen an die Kindheit. Über dem Bett hing ein rührselig leidender Christus am Kreuz, was mich an ähnliche Kruzifixe aus Kindertagen in den Räumen unserer Bediensteten in Johannesburg erinnerte. Damals wie heute verspürte ich beim Anblick eines solchen Kruzifixes einen Anflug von Unwohlsein.81 Das eigene Verhalten lässt den Tod eines Angehörigen bewusst werden. Mein Vater rauchte bis zum Morgen seines Todes. Und ich habe am Nachmittag seine halb volle Schachtel leer geraucht. Zigaretten töten mich. So oder so.82 Der heutige Verlust des Arztes, zu dem ein Vertrauensverhältnis bestanden hat, lässt das Subjekt an frühere Verluste von Ärzten und Therapeuten denken, denen es vertraut hat. Ein besonders intensives Gefühl persönlicher Hilflosigkeit wurde zu der Zeit durch den Tod eines älteren Kollegen verursacht, den ich nach Dr. Rubinsteins Tod um eine Behandlung gebeten hatte. […] Seit meinem Therapiebeginn, kurz nachdem ich 1954 von Südafrika nach England gekommen war, habe ich bereits vier Therapeuten durch Tod verloren. […] Die Übersiedlung meines Neurologen nach Amerika ließ eine weitere Saite des Verlusts in mir anklingen, und mein erstes Treffen mit seinem Nachfolger am Hammersmith Hospital machte die Dinge nur noch schlimmer.83

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Härtling 2007: 36. Balmer 2006: 36. Todes 2005: 81. Huth 2003: 40. Todes 2005: 53.

1. Struktur der Identität und Ereignis

Wenn das Subjekt als Vergleichspunkt wählt, wie es mit dem umbrochenen Körper die Welt in seinen Körper und sein Selbst aufnimmt, stellt es fest, dass der sensomotorische Körper die Welt nun anders aufnimmt als vor dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit. Es merkt, dass der Sinneseindruck aber mindestens genau so überwältigend ist. Ich glaube, daß dieses Erlebnis, bei Regen eine Tür zu einem Garten zu öffnen, mit dem vergleichbar sein muß, was ein Sehender empfindet, wenn er die Vorhänge aufzieht und die Welt draußen sieht. […] Der Regen enthüllt mir mit einem Mal die ganze Fülle einer Situation, und die ist dann nicht bloß erinnert, nicht antizipiert, sondern gegenwärtig und jetzt. Der Regen eröffnet mir die Welt nach vorn und zeigt mir die tatsächlichen Beziehungen eine Teils der Welt zu einem anderen. Wenn es in einem Zimmer regnen könnte, so würde mir das helfen zu verstehen, wo die Dinge in diesem Zimmer sind, würde mir ein Gefühl dafür vermitteln, daß ich in diesem Zimmer bin und nicht bloß auf einem Stuhl sitze. Das ist ein Erlebnis von großer Schönheit. Ich habe das Gefühl, als ob die Welt, die unter einem Schleier liegt, bis ich sie berühre, sich mir plötzlich enthüllt hat. Ich fühle, daß der Regen gütig ist, daß er mir ein Geschenk gemacht hat, das Geschenk der Welt. Ich bin nicht mehr isoliert, in meine Gedanken eingeschlossen, konzentriert auf das, was ich als nächstes tun muß. Ich muß mir keine Sorgen darüber machen, wo mein Körper sein und was ihm begegnen wird, ich bin mit einer Totalität beschenkt, einer Welt, die zu mir spricht.84 Oder das Subjekt erfasst, dass es noch nicht zu beurteilen weiß, ob die Sinneseindrücke gleichwertig sind. Ob meine ersten Eindrücke von Menschen jetzt weniger zutreffend sind als zu der Zeit, als ich noch sehen konnte, vermag ich nicht zu entscheiden.85 Die inhaltliche Perspektive der Verschiedenheit: Wenn das Subjekt das gegenwärtige körperliche Erleben mit den früher gemachten Erfahrungen vergleicht, kann es schließlich noch feststellen, wie verschieden sie voneinander sind. Als Vergleichspunkt dient der Aufenthalt im Krankenhaus. Ich sitze in der Krebsstation, Abteilung Professor Diehl. Ich spielte Ärzte in Serien. Im Fernsehen. In Filmen. Jetzt sitze ich da. Als Mensch. Nicht als Schauspieler, nicht als Serienheld, nicht als Quotenbringer, sondern als kranker Mensch. Ich werde diese Situation nie vergessen: Es war das erste Mal, dass ich in einem wirklichen Krankenhaus auf der Krebsstation saß. Nicht in einer von einem Bühnenbildner aufgebauten Kulisse.86 Der Vergleichspunkt ist die schon bekannte Behandlung durch die Spezialisten des Gesundheitswesens.

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Hull 1992: 47. Hull 1992: 37. Lesch 2002: 47.

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Körperlicher Umbruch

Vor Jahren habe ich, als in der Inneren in München der Katheter meine Herzwand berührte, einen eigentümlichen Lachreiz empfunden. Jetzt lerne ich atmen, muss trinken, entwässern, warten, bis die Lunge frei ist. Mir ist das Lachen vergangen.87 Ebenso kann der Vergleichspunkt in dem ungewohnten körperlichen Geschehen liegen, dass mit der frisch zurückliegenden körperlichen Überwältigung vergleichen wird. Das Subjekt ist erleichtert, wenn der Vergleich zeigt, wie verschieden sie sind. Ich horche in meinen Körper. Dieser Herzsprung – ist das schlimm? Nein, es geht. Alles wieder beruhigt. Dieser Atemaussetzer. Schlimm? Nein, schon wieder okay.88 Auch eine einzelne körperliche Fertigkeit gibt einen Vergleichspunkt ab. Die Erinnerung an die Kindheit zeigt, dass heute wegen der körperlichen Veränderungen eine Fertigkeit von damals nicht mehr besteht. Wir bleiben oben an einer breiten Treppe stehen, die zur Strandbar und einer schönen Anordnung von pastellfarbenen Badekabinen führt. Die Treppe erinnert mich an den großen Eingang der Metrostation Porte-d’Auteuil, die ich als Kind benutzte, wenn ich mit chlorumflorten Augen aus dem Schwimmbad kam. Das Molitor-Bad ist vor einigen Jahren abgerissen worden. Und Treppen sind für mich nur noch Sackgassen.89 Des Weiteren wird die Handlungsfähigkeit im Alltag als Vergleichspunkt herangezogen. Dadurch erkennt das Subjekt, was ihm jetzt nach dem körperlichen Umbruch alles nicht mehr möglich ist. Die Rückkehr ins eigene Haus war zuerst durch viele Unsicherheiten gekennzeichnet: Früher selbstverständliche, gewohnte Gänge, wie die Kellertreppe runter, schienen mir jetzt zunächst nicht zu bewältigen. Weder zu meinem Wein, zu den Vorräten, zur Heizung oder etwa in meine Sauna konnte ich gelangen noch in den Garten, zum Komposthaufen oder zur Mülltonne; ich konnte nicht zum Bäcker gegenüber und nicht an die vor dem Haus liegende Ostsee oder gar ins Wasser, wo sich alle bei den hochsommerlichen Temperaturen tummelten. An Radfahren war nicht zu denken, an Autofahren natürlich auch nicht. Ich konnte die höheren Borde im Schrank nicht erreichen, um Wäsche heraus zu nehmen, oder die oberen Reihen im Bücherbord.90 Wenn der Vergleichspunkt der selbstverständliche alltägliche Austausch mit der Alterität ist, verdeutlicht der Vergleich, dass dieser Austausch nicht mehr wie zuvor stattfindet. Ich lege meine Hände auf ihre Hände, früher war es umgekehrt, stellen wir fest, und der Satz wird zeitlich symmetrisch: Früher waren deine kalt, und ich musste sie wärmen.91 Oder der Vergleich weist darauf hin, dass dieser Austausch zwar bisweilen noch wie zuvor stattfindet, dass der Weg dorthin aber ein anderer geworden ist. 87 88 89 90 91

Härtling 2007: 10. Huth 2003: 61. Bauby 1997: 86f. Peinert 2002: 87f. Härtling 2007: 82.

1. Struktur der Identität und Ereignis

An guten Tagen ging ich zu Charly und Ilse, seiner Frau. Sie wohnen in der Nähe, und früher ging ich die Strecke in fünf Minuten. Jetzt musste ich mehrere Pausen einlegen, und so brauche ich eben 15 bis 20 Minuten. Aber ich freute mich auf diese Montage oder Dienstage, mal bei Charly, mal bei Horst, mal bei mir.92 Auch der Blick darauf, wie der der veränderte sensomotorische Körper die Welt wahrnimmt, macht dem Subjekt bewusst, was es verloren hat. Und die akustische Welt hat noch eine Eigenschaft: Sie bleibt immer gleich, wohin ich den Kopf auch drehe. Für die sichtbare Welt trifft das nicht zu. Sie verändert sich, wenn ich den Kopf drehe. Neue Gegenstände kommen in Sicht. Beim Blick in die eine Richtung bietet sich mir ein ganz anderes Bild als beim Blick in die andere Richtung. Bei Geräuschen ist das nicht so. Wenn ich den Kopf herumdrehe, kommen keine neuen Geräusche auf mich zu. Ich kann den Kopf matt auf die Brust sinken lassen; ich kann mich weit zurücklehnen und das Gesicht gen Himmel richten. Dadurch ändert sich nur wenig. Vielleicht kommt es zu einer winzigen qualitativen Abstufung, aber im wesentlichen ist die akustische Welt unabhängig von meiner Bewegung.93 Sobald das körperliche Erleben vor und nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit als Vergleichspunkt gewählt ist, geht der Vergleich vielfach mit Affekten einher. Und das wöchentliche Bad taucht mich zugleich in Jammer und Glückseligkeit. Auf den köstlichen Moment, wenn ich in die Badewanne sinke, folgt schnell die wehmütige Erinnerung an die großen Wassergelage, die der Luxus meines früheren Lebens waren. Versorgt mit einer Tasse Tee oder einem Whisky, mit einem guten Buch oder einem Stoß Zeitungen, ließ ich mich lange einweichen und bediente die Wasserhähne mit den Zehen. Es gibt nur wenige Momente, in denen ich meinen Zustand so grausam verspüre wie bei der Erinnerung an diese Freuden.94 Wegen der Affekte, die mit dem Verlust früherer Fähigkeiten und Fertigkeiten verbunden sind, lernt das Subjekt, den Vergleich besser nicht zu oft zu ziehen. Ich muß mich offensichtlich noch mehr daran gewöhnen, meinen derzeitigen Zustand nicht immer wieder an dem vor dem Schlaganfall zu messen, sondern an den kleinen Schritten, die meine Gesundheit seither stetig in die richtige Richtung macht.95 Nachdem der Vergleich aufzeigt hat, was durch den körperlichen Umbruch verloren ist, spornt er das Subjekt mitunter dazu an, den verlorenen Zustand wieder zu erreichen. Ich habe ja auch früher nicht über den isolierten Einsatz einzelner Muskeln nachgedacht, sondern ich wollte etwa ein Glas Wein an den Mund führen oder zur Tür gehen: Bein, Hand und Arm spulten dann von selber den komplexen und komplizierten Vor-

92 93 94 95

Lesch 2002: 140. Hull 1992: 101. Bauby 1997: 18f. Peinert 2002: 83.

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240

Körperlicher Umbruch

gang an Muskelbewegungen ab. Es gilt, diesen naiven selbstverständlichen Zustand wieder zu erreichen.96 Auch kommt es dazu, dass der Vergleich mit dem Zustand vor dem Verlust früherer Fähigkeiten und Fertigkeiten das Subjekt beglückt, denn es nimmt dankbar wahr, was ihm noch möglich ist. Als ich noch sehen konnte, arbeitete ich mit fiebernder Hast; an einem einzigen Vormittag korrigierte ich vierzig Fußnoten. Jetzt bin ich schon froh, wenn ich, mit Hilfe eines sehenden Vorlesers, am Ende des Vormittags zehn korrigiert habe. Ich denke dann nicht: »Ach, verdammt, nur zehn geschafft.« Ich denke: »Gut. Zehn sind geschafft. Nur noch drei andere Vormittage wie dieser, und die Sache ist erledigt.« Ich freue mich so, daß ich es überhaupt tun kann.97 Doch der Vergleich des gegenwärtigen Erlebens mit den früher gemachten Erfahrungen kann dem Subjekt ebenso vermitteln, dass das, was es jetzt erlebt, einfach neu ist. Ihm fehlt ein Vergleichspunkt. Die Erfahrung selbst ist ganz ungewöhnlich, und ich kann sie mit nichts vergleichen, was ich je erlebt habe. Es ist wie ein physikalischer Druck. Man möchte die Hand heben, um sich zu schützen, so intensiv ist die Wahrnehmung. Man schreckt vor allem zurück.98 Oder das Subjekt hat einen Vergleichspunkt, an dem es das Neue festmachen kann. Alles war anders, als ich es bisher erlebt hatte. Größer, gewaltiger, überwältigender. Man betrat das Stadion nicht wie bei irgendeinem Gartensportfest, man wurde hineinbegleitet. Es baute sich eine immense Spannung auf, die meine übliche Aufregung vor Wettkämpfen wie eine Fieberkurve nach oben trieb.99 Bisweilen beinhaltet das neue Erleben Gegensätze, die das Subjekt nicht stimmig zu vereinen weiß. Dagegen beinhaltete der Zustand bei meiner Rückkehr ein Neuland von unterschiedlichen, zum Teil geradezu gegensätzlichen Charakteristika, die jeweils auf spezifische Weise ihren Ursprung in den Ereignissen der vergangenen Wochen und Monate hatten.100 Es ist möglich, dass das Subjekt das Neue erst dann bewusst wahrnimmt und zu einem Teil seiner Identität werden lässt, wenn der Verlust vollkommen ist. Solange ich zumindest noch irgend etwas sehen konnte, nahm ich die Echoorientierung nicht wahr. Zuerst bemerkte ich, daß ich, als ich in der Abendstille über den Campus nach Hause ging, eine Anwesenheit spürte, die ich als Hindernis wahrnahm. Ich

96 97 98 99 100

Peinert 2002: 55. Hull 1992: 96. Hull 1992: 43. Buggenhagen 1996: 120. Peinert 2002: 75.

1. Struktur der Identität und Ereignis

entdeckte dann, daß ich, wenn bei diesem Gefühl stehenblieb und meinen weißen Stock herumschwenkte, auf einen Baumstamm traf. Er befand sich nicht weiter als einen oder anderthalb Meter von mir entfernt.101

101

Hull 1992: 41.

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2. »Ich begann mein zweites Leben, voll Festigkeit und Schwanken.« – Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

In einem alltäglichen und länger dauernden dialektischen Prozess vollzieht sich die Identitätsarbeit, bis die Spannung in der Identität auf ein erträgliches Maß verringert und eine stimmige Passung von innerem Erleben und äußerem Geschehen erreicht ist. Retrospektiv-reflexiv erfasst das Subjekt, wie sich das Ereignis auf die bisherige Struktur seiner Identität auswirkt, und prospektiv-reflexiv entwickelt es unter Wahrung seiner übergeordneten Identitätsziele den veränderten Bedingungen angepasste Identitätsentwürfe und -projekte. Dabei verbinden sich animatives Verhalten in Form von Bewältigung und Abwehr und agentives Verhalten in Form der Identitätsentwürfe und -projekte untrennbar im willentlichem Handeln. Im Folgenden wird zuerst allgemein die Identität als Prozess beschrieben (2.1). Daran schließt sich ein Überblick über die Vorstellungen zu Krankheitsbewältigung und Abwehr an (2.2). Im Einzelnen wird danach anhand vieler Beispiele dargestellt, wie beim körperlichen Umbruch das Subjekt im retrospektiv-reflexiven Prozess Identität und Körperidentität unter verschiedenen Gesichtspunkten bedenkt (2.3). Es wird weiter ausgeführt, wie das Subjekt im prospektiv-reflexiven Prozess Identitätsentwürfe zu Identitätsprojekten verdichtet, welche die veränderte Körperlichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen einbeziehen (2.4), und wie es die Identitätsprojekte in die Wirklichkeit umsetzt (2.5). Damit fasst dieses Kapitel die Identitätsarbeit zusammen, durch die sich das Subjekt ein allgemeines Identitätsempfinden erwirbt, dass zu seiner veränderten Körperlichkeit passt.

2.1

Durch Identitätsarbeit zur kohärenten Passung

Identität als Prozess: Identität als theoretisches Konstrukt, das durch Gegensatzpaare bestimmt ist, hilft nicht nur zu verstehen, wie aus dem ungewohnten körperlichen Geschehen, das das Selbst überwältigt, der körperliche Umbruch wird, auf den das Subjekt zu antworten vermag. Sondern da sich Identität auch als ein Prozess beschreiben lässt, kann damit des Weiteren gezeigt werden, wie sich das Selbstverständnis des Subjekt

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Körperlicher Umbruch

allmählich der veränderten Körperlich so anpasst, dass der umbrochene Körper als ein Teil des Selbst erfahren wird. Identität als einen Prozess zu begreifen, heißt (vgl. Keupp et al. 1999: 83–86): Obwohl die Identität gleich bleibt, nachdem sie in Beziehungen zur Alterität erworben worden ist, wandelt sie sich doch das gesamte Leben hindurch. Erst mit dem Tod endet dieser Prozess der beständigen oder wiederkehrenden Identitätsarbeit. Er wird nicht von allen gleich empfunden: Jüngere Menschen fassen ihre Identität eher als einen Prozess auf und geben an, durch äußere Ereignisse verändert worden zu sein, während ältere sie eher als eine Struktur ansehen und behaupten, im Verlauf ihres Lebens trotz aller Erfahrungen stets dieselben geblieben zu sein (vgl. McLean 2008: 254). Das Subjekt muss sich, um Kohärenz empfinden zu können, jedoch immer wieder irgendwelchen Bedingungen anpassen. Es ist gerade als wesentliches Kennzeichen der psychischen Gesundheit von Erwachsenen anzusehen, dass sie in der Lage sind, an ihrer Identität zu arbeiten und bestehende Strukturen fortlaufend umzubauen (vgl. Fischer 1996: 100). Denn immer wieder geschieht dem Subjekt etwas, sei es ökologisch, kulturell, sozial, körperlich oder psychisch bedingt, das es mit seinem Selbst bzw. mit seiner Identität nicht verstehen, angemessen handhaben oder als sinnhaft annehmen kann. Das Subjekt fühlt sich dabei in einer Weise heraus angerührt, die ihm unbekannt ist, die von ihm aber weder mit seinen Vorerfahrungen zu verarbeiten noch mit seiner bisherigen Identität zu gestalten ist. Da das erreichte Kohärenzempfinden im Verlauf des Lebens immer wieder verloren geht, kommt es in der Identität zeitlebens zu schmerzhaften Spannungen, die sie als Ganzes oder in Teilbereichen erfassen. Die dadurch bedingte Identitätsarbeit dient jedoch nicht dazu, die Spannungen in der Identität gänzlich zu vermeiden, sondern soll sie in einem Maß halten, dass sie dem Subjekt erträglich sind, und einen Zustand schaffen, der es ihm erlaubt, handlungsfähig zu bleiben (vgl. Keupp et al. 1999: 86). Bedingungen und Verlauf der Identitätsarbeit: Für den Verlauf der Identitätsarbeit ist es unerheblich, welches Ereignis sie erforderlich macht: Eine fortschreitende Entfremdung zwischen Eheleuten oder der überraschende Verlust eines nahen Angehörigen, die natürliche Alterung des Körpers oder ein Unfall mit bleibenden Schäden, ein schleichender Verlust von affektiven oder kognitiven Funktionen oder ein Residualzustand nach einer akuten Psychose können alle denselben Prozess anregen. Auch kann die Identitätsarbeit dadurch ausgelöst sein, dass die eigenen Vorstellungen des Subjekts und die Erwartungen der Alterität stark voneinander abweichen, sodass es heftige Spannungen hervorruft, dass Teilbereiche der Identität miteinander in Konflikt stehen oder dass dem Subjekt bewusst wird, wie sein jetziger Identitätszustand und seine angestrebte Identität auseinanderfallen (vgl. Keupp et al. 1999: 196–198). Unabhängig davon, welches Ereignis die Identitätsarbeit veranlasst, kann sie so schleichend erfolgen, dass das Subjekt sie selbst gar nicht bemerkt und sie erst mit Abstand erkennt, oder sprunghaft verlaufen und mit starken Affekten verbunden sein. Immer ist sie langwierig und mühsam, aber nur selten gradlinig. In ihrem Verlauf werden frühere Konfliktlösungen oder Kompromissbildungen hinfällig, oft erfolgt sie über Versuch und Irrtum. Damit es jedoch überhaupt zur Identitätsarbeit kommt, bedarf es einer optimalen Differenz (vgl. Piaget 1974: 17) zwischen dem Geschehnis, wie es subjektiv erlebt, d.h. wahrgenommen und gedeutet wird, und der inneren Struktur des Subjekts; das heißt,

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

dass das Geschehen für das Selbst weder zu gewaltig noch zu unwichtig sein darf. Um brauchbare Lösungen für die neue Passung zu finden, muss das Subjekt immer wieder Ansätze entwerfen, an der Wirklichkeit überprüfen und mit den übergeordneten Identitätszielen abgleichen. Wieder und wieder macht sich das Subjekt den unbewusst ablaufenden Prozess der Identitätsarbeit bewusst, indem es seiner Alterität von sich erzählt und darauf achtet, inwieweit sie seine Identitätsentwürfe und -projekte nachvollzieht. Auch versichert sich das Subjekt dadurch der Gültigkeit seiner Identitätsarbeit, dass es seine Handlungen darauf prüft, ob es damit etwas für das eigene Selbst Bedeutsames zu schaffen vermag (vgl. Fischer 1996: 113). Zu den Umwegen der Identitätsarbeit gehört, dass sich ein Identitätsentwurf oder -projekt, selbst wenn die Umsetzung erfolgreich zu sein scheint, deshalb als falsch erweisen kann, weil der Zeitpunkt seiner Verwirklichung nicht stimmt. Auch ergibt sich bisweilen die Notwendigkeit weiterer Identitätsarbeit daraus, dass trotz eines an und für sich guten Verlaufs die erreichten Ergebnisse das Subjekt nicht befriedigen. Dialektik der Identitätsarbeit: Als mögliche Antwort auf ein Ereignis wie den körperlichen Umbruch lässt sich die Identitätsarbeit in die drei Phasen eines dialektischen Prozesses einteilen; die einzelnen Phasen laufen dabei aber nicht nacheinander ab, sondern bedingen sich wechselseitig (vgl. Fischer 1996: 15–88):1 Die erste Phase ist vom Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung bestimmt. Indem das ungewohnte körperliche Geschehen die Kohärenz unterbricht, die Alterität verändert und die Narration aufhebt, kommt es zu Spannungen in der Identität. Aus seinen Vorerfahrungen heraus vermag das Subjekt mit den körperlichen Veränderungen nicht umzugehen oder sie als sinnhaft zu erleben. Es gerät in eine Krise. Zudem ist es in seinem Narzissmus gekränkt, weil seine Alterität es zu einem chronisch Kranken oder Behinderten erklärt. In einer ersten Negation wird an Stelle des Selbst das negiert, was dem Selbst geschehen ist, oder das, was das Selbst auf dieses Geschehen verweist. Das heißt: Um das Weiterleben zu sichern, wird das Geschehnis abgewehrt oder erfolgt ein Rückzug aus der Realität. Statt sich zu ändern, d.h. die Identität anzupassen, verzweifelt das Subjekt an sich selbst. Es hat keine Vorstellung davon, wie es die körperlichen Veränderungen annehmen kann. In der zweiten Phase zeigt sich der Widerspruch zwischen dem körperlichen Umbruch als Ereignis und der bisherigen Struktur von Selbst und Identität. Um weiterzukommen, gesteht sich das Subjekt in einer zweiten Negation die Begrenztheit seines Selbst ein, ohne sich länger dafür zu verurteilen, und überwindet seine bisherige Einstellung zum Geschehen in seinem Körper. Es dauerte geraume Zeit, bis ich, immer noch eingeschränkt, wieder sehen konnte und die Angst vor Augenproblemen begleitet mich seitdem. So lernte ich langsam, dass ich wirklich MS habe.2

1 2

Die Darlegungen bei Fischer beziehen sich auf die Dialektik der Veränderung in der Psychoanalyse; sie werden hier auf die Identitätsarbeit bei einem körperlichen Umbruch übertragen. Lürssen 2005: 28.

245

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Körperlicher Umbruch

Das Subjekt gibt die Hoffnung auf, dass es die körperliche Unversehrtheit zurückbekommen wird, und erkennt an, dass die Veränderung seiner gewohnten Körperlichkeit seine weitere Identität prägen wird. Zu schaffen macht mir die sich vertiefende Gewißheit über die Unausweichlichkeit des Blindseins.3 Aus dem Mut zum Faktischen beginnt das Subjekt, den infolge des körperlichen Umbruchs aufgetretenen Widerspruch zwischen seiner veränderten Körperlichkeit und seiner bisherigen Identität zu erkunden. Es macht sich daran, den Körper als den wahrzunehmen, der er geworden ist. Erst später vermißte ich zunehmend die mir sonst immer so selbstverständlichen und lieben ausgedehnten Spaziergänge. Mein linkes Bein erlaubt mir heute nur sehr eingeschränkte Bewegungsfähigkeit, und dies empfinde ich zunehmend als bedrückenden Mangel.4 Gleichzeitig fängt das Subjekt auch an wahrzunehmen, wie die körperliche Veränderungen sein Selbstverständnis beeinflussen. Die Kehrseite der Medaille war, daß ich es immer schwer gefunden hatte, etwas anzunehmen, oder in jemandes Schuld zu stehen. Ich haßte das. Und jetzt hatte ich keine andere Wahl. Von nun an würden mir bei jedem Schritt andere Leute helfen müssen, bis ich wiederhergestellt war. Ich war nicht sicher, wie ich damit fertigwerden sollte.5 Indem das Subjekt erkennt, dass es den Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit durch die Art, wie es ihn deutet und mit seinen Vorerfahrungen verknüpft, erst zu dem körperlichen Umbruch macht, der von ihm eine Antwort verlangt, lenkt es seine Aufmerksamkeit weg von der veränderten Körperlichkeit oder von der dauernden Beschäftigung mit seinem Selbst und dessen Versagen hin zu dem Bezug, der zwischen ihm und dem körperlichen Geschehen besteht. Retrospektiv-reflexiv erkennt das Subjekt allmählich mehr und mehr Teilbereiche, wo seine Identität körperlich, emotional, sozial, produktorientiert und kognitiv durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit verändert worden ist (vgl. Keupp et al. 1999: 192). Das ändert nichts daran, daß das Sich-Abfinden mit der schließlichen Unveränderbarkeit der Situation schwer, verdammt schwer ist.6 Die dritte Phase zeichnet sich durch die Suche nach Lösungen aus. Das Subjekt versucht, seine veränderte Körperlichkeit in seine Identität einzubeziehen, und geht dafür durch Unsicherheit und Zweifel hindurch. Prospektiv-reflexiv entwickelt es Identitätsentwürfe und -projekte, die unter Wahrung seiner übergeordneten Identitätsziele sowohl die bisherige Struktur seiner Identität als auch den körperlichen Umbruch auf eine neue Stufe der Kohärenz heben. Den Wert seiner Identitätsentwürfe und -projekte

3 4 5 6

Hull 1992: 110. Peinert 2002: 33. Mills 1996: 226. Buggenhagen 1996: 34.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

bemisst das Subjekt daran, dass es wieder in seinem Alltag handeln, also sich bewegen und sein Selbst zu den Anderen in Beziehung setzen kann. Natürlich ist das, was sich jetzt so stark, so sicher, so überzeugt anhört, nichts, was sofort da ist. Ich habe es über Jahre erlernt, in denen ich zunächst resignierte, dann verdrängte, dann unwirklich hoffte und schließlich akzeptierte. Mich selbst akzeptierte in meiner neuen Körperlichkeit, die so unvollkommen und weg von der Norm des »Gesunden« war.7 Dadurch, dass sich das Subjekt fortlaufend überdenkt, immer wieder neue Identitätsentwürfe und -projekte entwickelt und in die Tat umsetzt, bestätigt oder verwirft, gewinnt es Einsicht in sein Erleben, nämlich wie sehr es durch seine Wahrnehmung und seine Deutung beeinflusst ist, sowie Einsicht in sein Handeln, nämlich welche Bewegungen es machen muss, um bestimmte Pläne und Absichten umzusetzen. So kommt das Subjekt allmählich zu einem allgemeinen Identitätsempfinden, bei dem der körperliche Umbruch seinen Schrecken verliert. Animativ oder agentiv: Doch ist die Identitätsarbeit nur eine von zwei Möglichkeiten, mit denen das Subjekt auf ein Ereignis wie einen körperlichen Umbruch antworten kann; die andere Möglichkeit wird als Bewältigung bezeichnet; die eine ist dem agentiven Verhalten zuzuordnen, die andere dem animativen. Dabei besteht folgender Unterschied (vgl. Prinz 2013: 181–189): Das animative Verhalten ist von den gegebenen Umständen bestimmt und bleibt vielfach in dem unbewusst, was aus dem Selbst in die subjektive Deutung des Geschehnisses und in die Auswahl der Handlungen einfließt. Das agentive Verhalten beruht dagegen auf bewussten Entscheidungen und erfolgt willentlich. Es lässt sich aus der Identität des Subjekts mit ihren übergeordneten Identitätszielen ableiten und führt zu Identitätsentwürfen und -projekten. Beim animativen Handeln antwortet das Subjekt auf ein Ereignis wie den körperlichen Umbruch, indem es Kräfte einsetzt, die aus seinem Selbst stammen. Ohne vorgegebenen Plan folgt eine Handlung aus der vorherigen, sodass das Subjekt erst im Rückblick auszumachen vermag, welcher Richtung es gefolgt ist; wenn es sie als kohärent empfindet, erscheint sie ihm dann aber auch als sinnhaft. Obwohl sich das animative Handeln aus den gegebenen Umständen ergibt, kann das Subjekt zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wählen: Zum einen weist jedes Ereignis mehrere Bedeutungen auf, sodass es daher stets verschiedene Möglichkeiten beinhaltet, wie sich darauf antworten lässt, und zum anderen antwortet das erlebende Subjekt auf jedes Ereignis aus seinen Vorerfahrungen und kulturellen Prägungen. Dabei ist das animative Verhalten besonders geeignet, mit einem Geschehen umzugehen, dessen Bedeutung sich noch nicht vollständig erfassen lässt oder das die bisherige Identität in Frage stellt. Allerdings besteht beim animativen Verhalten die Gefahr, dass das Subjekt ganz in dem Ereignis, dem es zu antworten hat, aufgeht und den Bezug zu seinem Selbst verliert. Das agentive Verhalten befähigt das Subjekt dagegen dazu, einen Umgang mit einem Ereignis wie dem körperlichen Umbruch zu finden, der nach übergeordneten Identitätszielen wie sozialer Anerkennung, Kohärenz und Authentizität ausgerichtet

7

Buggenhagen 1996: 32.

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Körperlicher Umbruch

ist. Damit dem Subjekt agentives Handeln möglich wird, muss es über zwei Voraussetzungen verfügen, die wiederum je nach der Struktur der Identität bei jedem einzelnen unterschiedlich vorhanden sind (vgl. Prinz 2013: 204–215): Zum einen muss das Subjekt zu dualer Repräsentation in der Lage sein, nämlich das Erleben eines Ereignisses und seine Identitätsentwürfe und -projekte getrennt zu erfassen, und zum anderen muss es zu ideomotorischer Steuerung fähig sein; das heißt, um seine Identitätsentwürfe und -projekte in willentliche Handlungen umzusetzen, muss es eine Vorstellung davon haben, was es erreichen will, und dem zuwiderlaufende Handlungen unterdrücken. Animativät als eine Funktion des Selbst und Agentivität als eine Funktion der Identität arbeiten auf unterschiedlichen psychischen Ebenen, doch wirken sie zusammen, wenn es darum geht, auf ein Ereignis zu antworten. Während sich das Subjekt beim animativen Verhalten vor allem darüber bewusst werden kann, wie das Selbst durch die Deutung das Geschehen zu dem Ereignis macht, mit dem umzugehen ist, hat es beim agentiven Verhalten zusätzlich noch die Möglichkeit, sein Selbst, das durch das Geschehnis ausgedeutet wird, den Umständen anzupassen und zu einem Teil der Identität zu machen.

2.2

Krankheitsbewältigung und Abwehr

Formen der Krankheitsbewältigung: Wenn der körperliche Umbruch überlebt und sein Überleben für das Subjekt zur Krise geworden ist, hat die Angst, der Schmerz und die Scham, mit denen der Verlust der gewohnten Körperlichkeit einhergeht, das Selbst überwältigt und die Identität erschüttert. Das Subjekt ist mit dem körperlichen Geschehen eins geworden, ohne es sprachlich symbolisieren und psychisch repräsentieren zu können, es bestimmt nun sein gesamtes Erleben. Die körperlichen Veränderungen als eine chronische Krankheit zu begreifen oder als eine Behinderung anzusehen, das ist in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende die nächstliegende Möglichkeit, wie mit dem körperlichen Umbruch und seinen psychosozialen Folgen umzugehen ist. Ich hegte die Hoffnung, dieser sanfte, lebhafte Professor aus Wien, von dem drei kompetente Neurologen behaupteten, er habe sich noch nie geirrt, könne meine letzte Rettung vor der Zwangspensionierung sein. Er war in der Tat maßgeblich an der Entwicklung von Carbidopa und Deprenyl beteiligt gewesen und hatte in der Behandlung mit L-Dopa Pionierarbeit geleistet.8 Die Aufmerksamkeit des Subjekts wird damit vom körperlichen Geschehen und von der Überwältigung des Selbst ab- und zur Krankheitsbewältigung hingelenkt. Daraus können sich unterschiedliche Formen des Verhaltens ergeben (vgl. Lipowski 1970): Wenn das Subjekt die Krankheit als Feind ansieht, löst sie Wut oder Angst aus und bedingt ein Verhalten von Kampf, Unterwerfung oder Abwehr der Angst.

8

Todes 2005: 105.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Der Kampf gegen den Krebs konnte endlich losgehen! Gerhard hatte Adressen von Onkologen und Krebsfachleuten mitgebracht. […] »Junge! Du bist noch nicht am Arsch!«9 Wenn das Subjekt die Krankheit hingegen als Verlust erlebt, führt sie zum sozialen Rückzug. Auch kann das Subjekt die Krankheit als Schwäche betrachten und sich ihrer schämen; daraus folgen dann Verleugnung oder Überanpassung. Der [Neurologe; B.R.] gab mir Vitamin-B-Spritzen und murmelte etwas von Encephalomyelitis disseminata, was mir nichts sagte und mich auch nicht interessierte.10 Vermag das Subjekt wiederum aus der Krankheit Gewinn zu ziehen, klagt es anhaltend über die Beschwerden und verharrt in der Hilflosigkeit. Wenn das Subjekt die Krankheit allerdings als Strafe empfindet, bekommt es Schuldgefühle und nimmt es sie passiv hin. Im Fall aber, dass das Subjekt die Krankheit als Herausforderung annimmt, beginnt es nach einer angemessenen Trauer mit der Bewältigung. 1982 und 1983 widmete ich mich mit großer Energie der Schaffung eines funktionierenden Bürosystems. In dieser Zeit war das Blindsein eine Herausforderung.11 Bei der Krankheitsbewältigung besteht ein Verhalten, das im Wesentlichen animativ ist, also vom Ereignis ausgeht. Dabei bestimmen sich die Formen der Bewältigung nicht aus dem, was das Subjekt macht, sondern aus ihrem Zweck (vgl. Filipp/Aymanns 2010: S. 127–148). Alles, was dazu dient, ein Ereignis wie den körperlichen Umbruch zu verarbeiten, das heißt, die gestörte Passung von Subjekt und Umwelt bzw. sozialem System wieder herzustellen und das Selbst mit seinen Affekten wieder zu Wohlbefinden zu führen, ist Bewältigung. Sie kann Widersprüchliches umfassen, nämlich Beschäftigung mit dem Ereignis und Abwendung, Hoffnung und Befürchtung, Erinnerung an frühere bessere Zeiten und Ängste vor der Zukunft, Gleichgültigkeit und heftigen Affekt, Akkommodation und Assimilation, also Annahme des Geschehens und seiner Folgen mit Veränderung des Selbst und Beeinflussung des Geschehens mit Aufrechterhaltung des Selbst, Kontrolle der Umwelt und Kontrolle der Innenwelt. Es sind Widersprüche, die sich bei ein und demselben Subjekt nicht ausschließen und von denen sich im Voraus nicht sagen lässt, was richtig oder falsch ist, sondern nur im Nachhinein, was sich bewährt hat oder was nicht. Dabei ist bei einem körperlichen Umbruch von Subjekt zu Subjekt verschieden, was überhaupt bewältigt werden und was dem einen und was dem anderen dafür hilfreich ist. Vieles geschieht unbewusst, manches ist auf Grund einer Entscheidung gewählt, doch alles ist auf das zu bewältigende Ereignis ausgerichtet. Immer braucht Bewältigung Zeit. Ich entwickle die Kunst, mit den Händen zu schauen. Es gefällt mir, einen schönen Gegenstand in die Hand zu nehmen und ihn noch einmal in die Hand zu nehmen und ihn immer länger in der Hand zu halten und mich dabei mit jedem seiner Aspekte vertraut zu machen. […] Ich beginne, an unterschiedlichen Materialstrukturen Gefallen zu finden. Eine meiner Lehrerfreundinnen benutzt eine schwere Samttasche […]. Es gefällt 9 10 11

Lesch 2002: 42. Lürssen 2005: 26. Hull 1992: 208.

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Körperlicher Umbruch

mir, wie die Fasern sich biegen und zurückschnellen, wenn man mit den Händen über die Tasche streicht. Das ist ein wunderschöner Kontrast zu der glatten, klaren Kantigkeit des metallenen Rings, an dem man die Tasche aufklappt. Ich bin überrascht, daß es ungefähr fünf Jahre gedauert hat, bis ich Erfahrungen dieser Art schätzen gelernt habe.12 Stets haben diejenigen, die etwas bewältigt haben, nicht mehr dasselbe Selbstverständnis wie davor. Um an einem Ereignis wie dem körperlichen Umbruch zu wachsen und um in einen Alltag zurückzukehren, der nicht mehr vom Verlust gekennzeichnet ist, sondern der wieder um die Freude am Leben mit seinen Höhen und Tiefen weiß, braucht das Subjekt Mut: Es muss die Tatsachen anerkennen und gleichzeitig nach vorne blicken. Aber diesen Mut wird es nicht ohne Verzagtheit geben, die ebenfalls zu jeder Bewältigung dazugehört. Bewältigungsstrategien und Persönlichkeit: Auch wenn es kein Verhalten gibt, das an und für sich Krankheitsbewältigung darstellt und ihr letztlich jedes Verhalten dienen kann, lassen sich Bewältigungsstrategien ausmachen, die häufiger sind als andere, nämlich Aufmerksamkeitssteuerung, repetitive Gedanken, komparative Gedanken, Suche nach dem Warum und Wozu, Konsistenzsicherung und Verteidigung des Selbst, Abschied von unerreichbaren Zielen und falschen Hoffnungen sowie Unterdrückung negativer Gefühle und Gedanken (vgl. Filipp/Aymanns 2010: 149–204). Welche Bewältigungsstrategien das Subjekt zeigt, ist dabei nicht durch den körperlichen Umbruch bestimmt. So wirkt sich das Lebensalter auf die Krankheitsbewältigung aus: Ältere Menschen erleben ein und dieselbe Krankheit anders als jüngere. Außerdem ist die Lebenssituation von Bedeutung: Es finden sich deutliche Unterschiede im Verhalten zwischen denen, die einsam sind, und denen, die in befriedigenden Beziehungen stehen (vgl. Schüßler 1993: 29). Neben den sozialen Ressourcen ist für die Art der Krankheitsbewältigung schließlich nicht unerheblich, ob das Subjekt materielle Ressourcen wie Vermögen oder kulturelle Ressourcen wie Bildung in Anspruch nehmen kann. Welche Bewältigungsstrategie vorherrscht, verweist zudem auf die innere Struktur von Selbst und Identität. Von der inneren Struktur hängt auch ab, was mit einem Verhalten der Bewältigung erreicht werden kann. Für die Krankheitsbewältigung hat sich günstig erwiesen, wenn das Subjekt über Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstwertgefühl, Optimismus, zwischenmenschliches Vertrauen, religiöse Überzeugung und Intelligenz verfügt (vgl. Beutel 1988). Aus einem tief im Selbst verinnerlichten Bedürfnis nach Eigenständigkeit heraus kann das Subjekt die Schwierigkeiten angehen, die sich aus dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergeben haben, und die angebotene Hilfe annehmen. Ich erinnere mich, daß die Krankengymnastin mich schon nach einigen Tagen erfolgreich auffordern konnte, einmal ein paar Schritte allein bis zur Tür zu versuchen. Es hat ohnehin immer meinem Selbstbild entsprochen, unabhängig zu sein, selbst zu bestimmen, meinen Intimbereich zu wahren und mich zu beherrschen.13

12 13

Hull 1992: 199. Peinert 2002: 31.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Dem Subjekt wird bewusst, wie wichtig es ist, sich angesichts schwieriger Lebensumstände selbst zu behaupten. Selbstmitleid hatte ich noch nie gemocht. Nach allem, was ich erlebt hatte, kam man aus dieser Falle nicht mehr heraus, wenn man einmal damit anfing. »Komm schon, Heather«, befahl ich mir. »Bisher bist du mit allem fertiggeworden, was das Leben dir angetan hat. Laß dich auch jetzt nicht unterkriegen.«14 Das Subjekt sieht, wie sich seine Eigenheiten auf seine Krankheitsbewältigung auswirken. Daher kann ich seit einiger Zeit über mich nachdenken, ohne in Depressionen zu verfallen, aber auch ohne schon sichere Klarheit über mich gewonnen zu haben. Im Gegenteil, mein gewohnter Optimismus gewann wieder die Oberhand. So konnte ich mir vor meinem entscheidenden Arztbesuch bald nicht mehr vorstellen, daß die vorgesehene Untersuchung auch die Notwendigkeit ergeben könnte, daß ich mich erneut einer Operation der Karotis unterziehen müßte. Ich frage mich also, war das schon wieder die frühere naive Scheinsicherheit, die mich seinerzeit blind machte für die Vorzeichen der nahenden Katastrophe?15 Bei der Krankheitsbewältigung muss das Subjekt bisweilen Widersprüchliches in sich vereinbaren. Es erfährt sich dabei selbst, sodass es sein Handeln an seinen übergeordneten Identitätszielen auszurichten vermag. Es ist diese Balance zwischen Selbständigkeit bewahren und in meiner Behinderung mit allen Leiden ernst genommen zu werden, die ich täglich finden muss. Selbständigkeit war mir als Kind ausserordentlich wichtig, ohne dass mich meine Eltern dazu gedrängt hätten. Ich setzte immer all meine zur Verfügung stehenden Kräfte in Bewegung, um möglichst viele Dinge selbständig verrichten zu können, um möglichst gut auszusehen.16 Andere Persönlichkeitseigenschaften wirken sich wiederum ungünstig auf die Krankheitsbewältigung aus. Wenn das Subjekt schon vor der Erkrankung zu Hoffnungslosigkeit, Angst, Verzweiflung oder mangelndem Selbstwertempfinden neigte, wird es die Auseinandersetzung mit dem körperlichen Geschehen und dessen Folgen eher abwehren und es vermeiden, sich mit der Wirklichkeit des körperlichen Umbruchs auseinanderzusetzen (vgl. Weisman 1979). Ich hatte nie Angst vor einem Herzinfarkt und nehme mir vor, auch in Zukunft keine Angst davor zu haben. Mein Infarkt war ein Betriebsunfall. Nicht mehr. Nicht weniger. Ich war im Krankenhaus. Ich hatte Beschwerden. Die Ärzte haben die Ursache gefunden. Sie haben die Ursache weggesprengt mit dem Katheter, und sie haben einen Stent eingesetzt. Sie haben ordentliche Handwerkerarbeit verrichtet. Ich bin repariert. Ich bin gesund.17 14 15 16 17

Mills 1996: 226. Peinert 2002: 76f. Balmer 2006: 92. Huth 2003: 36.

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Körperlicher Umbruch

Formen der Abwehr: Zu jedem Verhalten der Bewältigung gehört die Abwehr. Um nicht der Verzweiflung zu erliegen, ist es für das Subjekt erforderlich, sich im Hinblick auf sein Selbstwertempfinden, sein Befinden oder seine Handlungsfähigkeit im Alltag vorübergehend mit einem Ereignis wie dem körperlichen Umbruch nicht weiter zu befassen. Beispielsweise lässt das Subjekt die Erkenntnis nicht zu, dass sich seine Körperlichkeit verschlechtert hat. Mit dem Beginn meiner Parkinson-Erkrankung im Jahre 1971 kehrte ich zu meinem Analytiker Dr. Lothair Rubinstein zurück, in der Annahme, er würde aufgrund seiner langen Erfahrung mit mir ein gewisses Verständnis für die Bedeutung meines Zustandes erkennen lassen. Überraschenderweise war er mehr am organischen Aspekt interessiert, während ich mir vormachte, dass keinerlei physische oder organische Mängel vorhanden seien.18 Auch kann das Subjekt die Erkenntnis abwehren, dass es sich bei den von ihm wahrgenommenen körperlichen Veränderungen um eine Krankheit handelt. Am Tag nach der Geburt konnte ich fast nicht laufen. Im Geheimen vermutete ich, man hätte mir während der Narkose ein Bein ausgerenkt. Heute bin ich ziemlich sicher, dass die Geburt einen unerkannten Schub ausgelöst hat.19 Außerdem kommt es vor, dass das Subjekt die Alterität abwehrt, die es zu der Erkenntnis bringen will, dass es sich mit dem körperlichen Umbruch auseinandersetzen muss. Ich plane die nächsten Monate. »Passen Sie auf sich auf«, warnt mein Arzt in der Mühle. »Schonen Sie sich.« Ich möchte mich nicht schonen. Vielleicht können wir doch nach Hiddensee in die Ferien reisen. Über den Berg auf die Insel.20 Durch die Abwehr, die auf verschiedenen Ebenen des Bewusstseins erfolgt, also unabsichtlich oder willentlich geschieht, gewinnt das Subjekt Zeit, um dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht völlig zu erliegen; sie vermindert unerträgliche Affekte auf ein subjektiv beherrschbares Maß. Indem das Subjekt sich zuerst einmal nicht mit dem körperlichen Umbruch befasst, vermag es die Erschütterung der Identität aufzuschieben, bis es bereit ist, sich ihr auszusetzen, oder seine Affekte soweit aufzuteilen, dass es sie nach und nach bewältigen kann. Abwehrmechanismen und Strukturniveau: Wie es kein Verhalten gibt, das an und für sich eine erfolgreiche Bewältigungsstrategie darstellt, gibt es keinen Abwehrmechanismus als solchen: Jedes Verhalten kann der Abwehr dienen (vgl. Schüßler 1993: 41–52, 66). Welcher Abwehrmechanismus eingesetzt wird, ist dabei nicht durch den körperlichen Umbruch bestimmt, sondern vom Selbst des Subjekts. Zum Ersten gibt es Abwehrmechanismen, die einem hohen psychischen Strukturniveau zugeordnet sind und daher als reif gelten. Bei der Verdrängung vermeidet es das Subjekt, sich bewusst mit einem belastenden Ereignis zu befassen. Darin wird es manchmal auch von der Alterität unterstützt. 18 19 20

Todes 2005: 43f. Lürssen 2005: 26. Härtling 2007: 17.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

So setzte bei mir ein Verdrängungsprozess ein, unterstützt durch wohlmeinende Ratschläge meiner Eltern: Du brauchst es keinem zu erzählen. Dabei wäre es mir sicher von Anfang an besser gegangen, hätte ich darüber reden können […].21 Bei der Intellektualisierung abstrahiert das Subjekt das Geschehen und analysiert es theoretisch, um nicht von seinen Affekten berührt zu werden. Einige Jahre blieb ich blind für jegliches Anzeichen, dass die Symptome auf die andere Seite überwechseln könnten. Ich versuchte zu enträtseln, warum meine Krankheit nur auf die linke Seite beschränkt bleiben sollte, und begann mir diffus Gedanken über psychosomatische Verbindungen zwischen Depression und dem frühen Verlust von Bezugspersonen zu machen. […] Ich hoffte, die Dominanz der linken Gehirnhälfte werde nachlassen, sobald tiefsitzende Konflikte geklärt seien, und die rechte Hälfte, die für das Gefühl von Raum und Zeit verantwortlich ist, werde die linke mit ihrer Begabung für Sprache und Mathematik dominieren können.22 Durch die Rationalisierung findet das Subjekt logische Erklärungen und schafft es damit, den Affekt zu beherrschen, der mit dem Ereignis verbunden ist. Für jede Störung fand ich eine mehr oder minder plausible Erklärung. Während einer Woche mit sehr störendem »Nebel«-Sehen erfand ich eine vermutliche Augenreizung durch Chemikaliendämpfe, was bei meiner damaligen Tätigkeit absolut im Bereich des Möglichen lag.23 Zum Zweiten gibt es Abwehrmechanismen, die einem mittleren Strukturniveau entsprechen. Dazu gehört die Affektisolierung, bei der das Ereignis an sich bewusst bleibt, aber der Affekt vom Subjekt nicht mehr empfunden wird. Am Morgen nach meinem Herzinfarkt habe ich geweint. Danach nie mehr. Ich spreche so viel darüber, dass es nicht meine Geschichte ist, sondern eine Geschichte. Ich habe keine Angst mehr.24 Auch kann das Subjekt durch Verschiebung den wirklichen Zusammenhang des Ereignisses ausblenden und einen neuen herstellen, der es weniger belastet. Ich […] wurde die nächsten Jahre ein Meister im Verdrängen. Auf Fragen nach meinem offensichtlichen Hinken log ich etwas von Rückenproblemen.25 Wenn das Subjekt durch Idealisierung abwehrt, nimmt es nur einen Teil des Geschehens wahr, der dann verklärt wird.

21 22 23 24 25

Ruscheweih 2005: 15. Todes 2005: 50f. Lürssen 2005: 25. Huth 2003: 50, Kursivierung im Original. Lürssen 2005: 28.

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Körperlicher Umbruch

Noch immer klammerte ich mich an das idealisierte Bild meines Körpers in Bewegung, ungeachtet fortschreitender Immobilität und Depression als Folge meiner Erkrankung.26 Im Fall der Bagatellisierung tut das Subjekt so, als sei unerheblich, was ihm geschieht. Immer noch wehrte ich mich dagegen, verdrängte, log. Ich bin oft hingefallen, lehnte aber Hilfe ab, tat vielmehr so, als sei es reine Ungeschicklichkeit gewesen.27 Mit dem Ungeschehenmachen behandelt das Subjekts das Ereignis so, als habe es nicht stattgefunden. Du bist davongekommen, rede ich mir ein, angespornt von der Lauterbacher Laune.28 Bei der Regression schließlich zeigt das Subjekt ein Verhalten, das einer früheren Stufe seiner psychischen Entwicklung entspricht. Schon seit einigen Jahren litt ich immer wieder an anfallartigen Zahnschmerzen im Oberkiefer. An diesen Tagen fühlte ich mich richtig krank, hatte zusätzlich noch Kopf- und Ohrenschmerzen und verzog mich mit Schmerztablette und Wärmflasche für Stunden ins Bett.29 Zum Dritten finden sich Abwehrmechanismen, die auf ein niederes Strukturniveau verweisen; die psychischen Funktionen erscheinen dabei unreif. Dazu ist die Verleugnung zu zählen; bei ihr streitet das Subjekt ab, dass es überhaupt ein Ereignis gab. Fiona ging auf die andere Seite des Bettes. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Du hast ein Bein verloren, Heather. Das linke. Unterhalb des Knies. Es mußte amputiert werden.« Ich starrte sie an, ohne es zu begreifen, wollte es nicht begreifen. […] Fiona sagte später, ich hätte laut »Nein!« geschrien, als sie mir dies mitteilte, aber daran kann ich mich nicht erinnern.30 Auch Spaltung und Dissoziation sind Abwehrmechanismen auf niedrigem Strukturniveau. Während bei der Spaltung ein und dasselbe Ereignis in gut und böse aufgeteilt wird und die beiden Teile voneinander getrennt gehalten werden, wird bei der Dissoziation ein Teil vom Ganzen abgespalten. Ich krümme mich, die Schutzhaut wird undurchlässig. In Gedanken wiederhole ich Reisen. Nach dem Kalender müßten wir mit Rolf und Elisabeth auf dem Weg nach Florenz sein, zu den beiden Mädchen vom Podere del Leone: Ich fürchte mich vor der Durchfahrt durch Scandicci, bis zum Fuß des Hügels. Die grauen, provisorisch erscheinenden, durch Plakate aufgeregten Straßenzeilen, die mich vor einem Jahr abschreckten und mir jetzt vertraut scheinen. Auf einmal kann ich Italienisch verstehen. Nicht bloß das kindliche über die Schuhspitzen hinausreichende Buon giorno. Es ist so, als ob ich

26 27 28 29 30

Todes 2005: 58. Buggenhagen 1996: 41. Härtling 2007: 19. Lürssen 2005: 27. Mills 1996: 8.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Klavier spielen könnte, unerwartet, und aus Übermut entschließe ich mich für die fMoll-Phantasie zu vier Händen von Schubert.31 In der Antwort auf ein schwerwiegendes Ereignis wie den körperlichen Umbruch sind Abwehr und Bewältigung keine Gegensätze. Vielmehr ergänzen sie sich einander und sind miteinander verschränkt: Bei der Bewältigung ist die Aufmerksamkeit auf das Ereignis gerichtet, bei der Abwehr davon abgezogen. Beides hat Vor- und Nachteile: Wenn sich das Subjekt mit einem Ereignis beschäftigt, ist es affektiv belastet, verringert dadurch aber seine Unsicherheit, wie es mit ihm umgehen kann. Dagegen ist das Subjekt affektiv entlastet, wenn es sich nicht mit dem Ereignis befasst, aber zugleich unsicherer, wie es sich dazu verhalten soll. Insofern wird das Subjekt, das besser affektive Belastung aushält, sich eher dem Ereignis hinwenden, und das Subjekt, das besser Unsicherheit erträgt, eher von ihm abwenden (vgl. Filipp/Aymanns 2010: 152f.). Da zur Bewältigung Annäherung und Vermeidung gehört, dauert die Abwehr nicht an. Das magische Gefühl, ich hätte in allen Situationen die völlige Körperkontrolle, verbarg meine wahre Hilflosigkeit. Diese verleitete mich wiederum zu einer unaufhörlichen Suche nach psychologischen Elementen aus meiner Kindheit, immer mit der Hoffnung verbunden, sie werde sich mithilfe neuer Einsichten zu meinen Gunsten entwickeln. Als die Krankheit auf die rechte Körperseite übergriff und ihr Schweregrad zunahm, konnte dieser Ansatz immer weniger verteidigt werden.32 Sobald die Abwehr nachlässt, nehmen die affektiven Spannungen wieder zu, und das Subjekt muss sich der fehlenden Passung von Körper und Selbst widmen. Diese Panikattacken bringen mich auf den Gedanken, daß das Blindsein, obwohl ich es nur zögernd zugebe, für mich eine religiöse Krise ist. Die Ruhe und vertrauensvolle Ergebenheit, die angeblich zur Erfahrung der Menschen gehören, die im Glauben leben, ist mir fremd.33 Das Subjekt kann erkennen, dass es sich auf sich selbst beziehen muss, um eine Antwort auf die körperlichen Veränderungen zu finden. Ich bin das nicht. Ich bin kein Moslem, ich bin kein Christ. Ich bin kein Buddhist, ich bin kein Hindu. Ich würde so gerne glauben, und ich würde so gerne etwas loslassen, und ich würde so gerne eine Anleitung haben, eine Bibel, einen Koran, einen Guru. Eine Hoffnung, einen Anker, eine Gebrauchsanweisung. Ein Rezept. Die Lösung. Aber ich bin allein. Ich kann mich auf nichts verlassen, als auf mich. Na und? Ist das schlecht?34 Dreifache Ausrichtung von Bewältigung und Abwehr: Um ihren Zweck zu erreichen, nämlich das Ereignis des körperlichen Umbruchs zu verarbeiten, die gestörte Passung von Subjekt und Umwelt bzw. sozialem System wieder herzustellen und das Selbst mit seinen Affekten wieder zu Wohlbefinden zu führen, lassen sich drei Ausrichtungen von Krankheitsbewältigung und Abwehr ausmachen. Zum Ersten können Bewältigung und 31 32 33 34

Härtling 2007: 34. Todes 2005: 62f. Hull 1992: 67. Huth 2003: 124.

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Körperlicher Umbruch

Abwehr darauf abzielen, dass das Subjekt versucht, sich an die veränderte Körperlichkeit anzupassen. Weil das Subjekt erkannt hat, dass sich der körperliche Umbruch nicht mehr rückgängig machen lässt, strebt es an, möglichst gut mit der Krankheit umgehen zu können. Vielleicht finden manche mein Verhalten egoistisch, aber für mich stand nach der Trennung von Viktor fest, dass ich lernen muss, mit meiner MS so gut wie möglich zu leben, denn das ist wichtig: Ich lebe mit ihr und sonst niemand, ich muss alleine mit meinen Schüben klarkommen.35 Um die Folgen des körperlichen Umbruchs zu begrenzen und wieder mit Erfolg Leistungen zu erbringen, ist es aber auch möglich, dass das Subjekt sein Leben dem veränderten Körpers anpasst. Ich muß mich mit kleinen Antworten zufriedengeben. Das erfordert sorgfältige Planung jedes einzelnen Tages, der in kleine Etappen aufgeteilt werden muß. Jede Stunde benötigt ihre besonderen Fertigkeiten, ihre unterschiedlichen Techniken, ihre kleinen Routinevorrichtungen, durch die es möglich wird, etwas erfolgreich zu Ende zu führen.36 Das Subjekt ändert seine Gewohnheiten, um sich trotz der veränderten Körperlichkeit wie gewohnt mit den Anderen verbunden zu fühlen. Es stimmt zwar, daß Sehende am Gesicht des Blinden dessen wechselnde Gefühle ablesen können, aber nur zu oft stelle ich fest, daß meine Freunde denken, ich schliefe, wenn ich ihnen in Wirklichkeit ganz genau zuhöre. Wenn sie meine innersten Gedanken erfahren sollen, muß ich sie aussprechen.37 Zum Zweiten können Bewältigung und Abwehr das Subjekt dazu bringen, die veränderte Körperlichkeit nach seinen Vorstellungen zu beeinflussen. Vorerst wäre ich der glücklichste Mensch, wenn es mir gelänge, den übermäßigen Speichel herunterzuschlucken, der ständig in meinem Mund zusammenläuft. Der Tag ist noch nicht angebrochen, und schon übe ich mich darin, die Zunge hinten über den Gaumen gleiten zu lassen, um den Schluckreflex auszulösen.38 In diesem Zusammenhang steht auch, wenn das Subjekt nicht seine Körperlichkeit beeinflusst, sondern ein Verständnis seiner Krankheit zu gewinnen versucht, das ihm mehr zusagt. Ich war noch immer dabei, meine Krankheit im Rahmen psychoanalytischer Konzepte verstehen zu wollen, und verband diese gleichzeitig mit Theorien, die ich der Neurobiologie entlehnt hatte.39

35 36 37 38 39

Ruscheweih 2005: 61. Hull 1992: 67. Hull 1992: 83. Bauby 1997: 14. Todes 2005: 68.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Durch die Inanspruchnahme geeigneter Hilfsmittel ist das Subjekt bestrebt, die Folgen zu verringern, die sich aus dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergeben. Zwei Wochen nach Abholung meines neuen Beins fuhr ich mit Ruth nach Val d’Isère, um meinen ehrgeizigsten Traum zu erfüllen – eine schwarze Piste hinabzurasen. Es dauerte eine Weile, bis ich soweit war. Am ersten Tag begann ich die Skischule wieder ganz von vorn, aber am dritten war ich schon in der Zwischenstufe und am fünften endlich wieder auf der schwarzen Piste.40 Schließlich kann das Subjekt darauf aus sein, die Affekte beherrschen zu lernen, die in ihm infolge der veränderten Körperlichkeit aufkommen. Wenn ich gleichmäßig und bewußt atme und dabei einen kleinen Gegenstand in den Händen halte, vergehen diese Panikgefühle innerhalb weniger Minuten. Wenn sie vorüber sind, zittere ich und bin den Tränen nahe.41 Zum Dritten sollen durch Bewältigung und Abwehr Bedingungen in der Umwelt bzw. in den sozialen Systemen geschaffen werden, damit die veränderte Körperlichkeit ihre Bedeutung für das Subjekt verliert. Die Möglichkeit, ein Auto zu fahren, ist enorm wichtig, weil damit Mobilität verbunden ist – das, was einem Querschnittsgelähmten am meisten fehlt. Ich wußte frühzeitig, daß ich unbedingt »wollte«, und machte mich Ende der 70er Jahre daran, Fahrtüchtigkeit zu erwerben. Nachdem der Medizinische Dienst geprüft hatte, ob ich dazu physisch und psychisch überhaupt in der Lage wäre und diese Frage positiv beschieden hatte, wurden mir »für den Fall der Fälle« folgende Auflagen erteilt: Sicherheitsgurt – damals noch keine Pflicht –, kompletter Umbau für Behinderten-Bedürfnisse, Gleitschutz am Lenkrad, rechter Außenspiegel. Es war ein biberbrauner Wartburg Tourist, der mir schließlich auf den Leib geschneidert wurde.42 Zum Ändern der Bedingungen gehört auch, sich eine ganz neue Umgebung zu suchen, bei der die veränderte Körperlichkeit keine Bedeutung hat. Die Vorstellung, beim Fernsehen zu arbeiten, war für mich in vieler Hinsicht attraktiv, nicht zuletzt, weil meine Behinderung dabei kaum eine Rolle spielte. […] Liebend gerne würde ich Gastgeberin in einer Talkshow sein. Jeden Abend andere Gäste. Die verschiedensten Themen, in die man sich einarbeiten mußte … das wäre eine echte Herausforderung.43 Schließlich kann die veränderte Körperlichkeit dadurch ihre Bedeutung verlieren, dass das Subjekt sich in der vertrauten Umgebung nur solchen Tätigkeiten zuwendet, bei denen es die Folgen des körperlichen Umbruchs nicht spürt. Acht Tage nachdem ich einen schweren Vorderwandinfarkt erlitten hatte, wurde ich mit den besten Wünschen aus der stationären Behandlung entlassen. Ich hatte […] 40 41 42 43

Mills 1996: 253f. Hull 1992: 64. Buggenhagen 1996: 94. Mills 1996: 236, 236f.

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Körperlicher Umbruch

durch Nichtstun 450 Euro Krankenhaus-Tagegeld verdient. Das gab ich nach über einer Woche Konsumentzug stante pede bei Saturn für DVD-Filme wieder aus. Zu Hause fütterte ich meine Leguane und ließ mir von ihnen die Unterarme zerkratzen, sodass ich aussah, als ob ich einen Selbstmordversuch hinter mir hätte. Bis zu meiner Abreise nach Timmendorf verließ ich die Wohnung nur, um Rucolasalat für die Tiere zu holen und einmal, um mit meinen Freunden auf den Dom zu gehen und Bier zu trinken.44 Bei aller Antwort auf den körperlichen Umbruch in Form von Bewältigung und Abwehr gilt die Aufmerksamkeit des Subjekts dem Ereignis. Es hofft weiterhin, eines Tages die körperliche Schädigung durch Ressourcen von außen zu überwinden. Und sicher wird die Zukunft das richtige Medikament zur Heilung unserer Krankheit bringen – bitte schnell.45

2.3

Im Prozess retrospektiv-reflexiv

Körperbezogene Gesichtspunkte: Wenn das Subjekt in der Identitätsarbeit nach einer Antwort auf den körperlichen Umbruch sucht, erfasst es im retrospektiv-reflexiven Prozess als erstes körperbezogene Gesichtspunkte. Es bedenkt, wie es ihm infolge von Unfall, Verletzung oder Erkrankung ergeht und was nun sein körperliches Befinden ausmacht. Dabei betrachtet es den somatischen, sozialen und psychischen Körper. Bei der somatischen Dimension der Körperlichkeit wird dem Subjekt bewusst, was jetzt nicht mehr geht. Durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit ist der Körper zum Objekt geworden: Das Subjekt ist nicht mehr Körper, aus dem heraus es selbstverständlich lebt und handelt, sondern es hat nun einen Körper, dem es ausgeliefert ist. Die Wechselwirkung mit der Umwelt besteht nicht mehr so wie gewohnt. Immer wieder bricht die bewusste Verbindung ab. Seither hören diese Anfälle nicht auf: Schlaf, unerwartet, während ich lese, sogar schreibe, während ich warte, auf jemanden warte, im Zug fahre, in der U-Bahn, Schlaf nach dem Schlaf am Morgen, Schlaf, der Teile von mir auffrisst, vernichtet, sich in meinem Kopf bläht, Schlaf, der mich müde macht, mich für den Tod bereitet, ein Gift, eine Bewusstlosigkeit.46 Der Austausch des sensomotorischen Körpers mit der Umwelt macht dem Subjekt deutlich, welchen Umfang die körperliche Schädigung hat. Mit ihren warmen Fingern fährt Brigitte über mein ganzes Gesicht, über die taube Zone, die mir die Konsistenz von Pergament zu haben scheint, und die innervierte Partie, in der ich noch eine Augenbraue runzeln kann. Die Demarkationslinie geht durch den Mund, mit dem ich nur halb lächeln kann, was meinen Stimmungsschwankungen so ziemlich entspricht.47 44 45 46 47

Huth 2003: 35. Lürssen 2005: 24. Härtling 2007: 14. Bauby 1997: 18.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Der Austausch mit der Umwelt befriedigt das Subjekt nicht mehr. Auch wenn der viszerale Körper die Umwelt in sich aufnimmt, um einem Mangel abzuhelfen, schafft es kein Wohlbefinden. Oft langweilt mich das Essen, ich merke, daß ich das Interesse daran verliere oder mich nicht zum Essen aufraffen kann. Zur gleichen Zeit habe ich den normalen, bohrenden Hunger. Obwohl ich Hunger habe, bleibe ich selbst dann noch ungerührt, wenn Essen naht.48 Das Befinden ist herabgesetzt, weil der konnektive Körper geschädigt ist. Das Herumlaufen war immer noch sehr schmerzhaft, denn durch die Schwerkraft sank das Blut in meinen Stumpf und pulsierte dort heftig.49 Das Subjekt vermag den sensomotorischen Körper nicht mehr willentlich zu steuern. In ihm geschieht etwas, was es nicht zu kontrollieren vermag; auch kann es mit ihm nicht mehr wie gewohnt auf die Welt einwirken. Ich beherrschte weder den linken Arm noch das linke Bein wie gewohnt. Mein Bein war müde, ich schlich eher als daß ich ging oder ausschritt. Hemmend waren die krampfartigen Schmerzen im Arm, wenn ich gähnte, oder aber den Arm gezielt einsetzen wollte. Hemmend waren auch krampfhafte Verspannungen im linken Bein, die spontan bei Kälte oder bei Anstrengungen einsetzten und ganz allgemein das natürliche Ausschwingen des Spielbeins verhinderten.50 Das Subjekt erlebt bewusst, dass der sensomotorische Körper seine kennzeichnende Eigenschaft verloren hat und ihm nicht mehr zu Willen ist. So ist es nicht in der Lage, die Bewegungen auszuführen, die es machen will. Bevor ich das Flugzeug verlasse, beginnt der Kampf mit dem Ärmel, dem linken Ärmel. Seit dem Einschlag in der rechten Hirnhälfte gelingt es mir nicht, den Arm so zu bewegen, dass ich in den Ärmel schlüpfen kann. Sobald ich ihn spanne, schmerzt er. Ich stehe wie in die Luft gefesselt, grotesk und lächerlich. Bis mein Arm den Ärmel findet.51 In dem Maße, wie der Körper geschädigt ist, muss er beachtet werden. Mir tun die Fersen weh, mein Kopf dröhnt wie ein Amboß, und eine Art Taucheranzug schließt meinen ganzen Körper ein.52 Auch Teile des Körpers, die ansonsten meist unbemerkt bleiben, verlangen Aufmerksamkeit. Auch die Haare fielen mir langsam büschelweise aus. Wo immer ich ging oder stand, verlor ich meine Haare.53 48 49 50 51 52 53

Hull 1992: 66. Mills 1996: 237. Peinert 2002: 54. Härtling 2007: 77. Bauby 1997: 6. Lesch 2002: 71.

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Körperlicher Umbruch

Raum und Zeit sind verändert. Der sensomotorische Körper vermag es nicht mehr, den Körper in den Raum hineinzugeben, sodass das, was zuvor nah gewesen ist, unerreichbar wird. Der viszerale Körper verringert seine Tätigkeit, sodass von ihm nicht mehr Beständigkeit ausgeht, sondern er die Begrenztheit der Zeit vermittelt. Meine Atem- und Oberarmmuskeln haben sich verschlechtert: Ich konnte an manchen schlechten Tagen nicht mehr selber essen und musste mich »füttern« lassen. Ich konnte nur noch zwei Stunden pro Tag sprechen. Die restliche Zeit war ich sprachlos, da man meine Beatmungskanüle blockieren musste. Wenn ich mich nicht an diese für mich sehr schwer zu verkraftenden Grenzen hielt, büsste ich. Ich wurde beim Husten, Lachen und bei Überanstrengungen für Sekunden bewusstlos, weil meine Muskeln einfach keine Kraft mehr hatten, um eine effiziente Atmung sicherzustellen.54 Raum und Zeit sind auch dadurch verändert, dass für das Subjekt früher beherrschte Fertigkeiten des sensomotorischen Körpers nicht mehr oder nur eingeschränkt verfügbar sind. Ich gehe unsicher, ängstige mich vor Treppen, und als ich mich das erste Mal nach dem Desaster an die Schreibmaschine setzte, traf ich die Tasten nicht, haute daneben. Nie mehr! Nie mehr! hämmerte ich, verbissen zielend, aufs Papier. Die Wörter verweigerten sich der Hand. Der über Jahrzehnte eingeübte Mechanismus war gestört. Ich konnte nicht mehr schreiben.55 Da dem Subjekt der Raum um den Körper abhanden kommt, ist es unfähig, sein Erleben zu verorten. Ich wußte, ich war irgendwo gewesen und hatte mit bestimmten Menschen Verschiedenes gemacht, aber wo? Ich konnte die Gespräche, die ich geführt hatte, in keinen Kontext einordnen. Es gab keinen Hintergrund, keine Merkmale, mit deren Hilfe ich den Ort hätte identifizieren können.56 Der konnektive Körper ist so umfassend geschädigt, dass das Leben bedroht ist. Die Vorstellung von dem, was noch kommen wird, macht Angst. Ich liege in meinem Krankenbett, geschwächt von hohem Fieber. Ich spüre meine Beine brennen und weiss, dass mich innert weniger Stunden wieder ein Blutvergiftungsschub heimsuchen würde. Mein Herz sticht, ich habe Angst. Bald würde die Nacht wieder kommen. Schlaflos, zitternd vor Angst und Fieber würde ich im Bett liegen.57 In der sozialen Dimension der Körperlichkeit ist die Verbundenheit mit der Alterität verloren gegangen. Das Subjekt bekommt nicht mehr die Bestätigung, die ansonsten bei einer Begegnung wechselseitig erfolgt ist. Fast jedes Mal ist mir, wenn ich lächle, das auch bewußt. Ich nehme die Muskelbewegungen wahr; nicht daß ich mich etwa zum Lächeln zwänge, so als heuchelte ich es nur, 54 55 56 57

Balmer 2006: 87. Härtling 2007: 24f. Hull 1992: 198. Balmer 2006: 131.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

trotzdem ist es zu einer mehr oder weniger bewußten Anstrengung geworden. Warum ist das so? Es hat wohl damit zu tun, daß mein Lächeln nicht bekräftigt wird.58 Das gewohnte Vertrautsein mit den Anderen besteht nicht mehr. Die Alterität wird fremd. Es fällt mir immer schwerer, mir vorzustellen, daß Menschen irgendwie aussehen, der Idee, daß sie ein Aussehen haben, irgendeine Bedeutung beizumessen. In den letzten Wochen habe ich mich dabei beobachtet, daß ich mich in dem Gedanken übe, daß Menschen ein Aussehen haben.59 Die sozial anerkannte Körper- und Affektkontrolle ist für das Subjekt bedeutungslos geworden. Es hält sie nicht mehr ein. Früher trug ich immer Hose und Hemd. Jetzt trug ich nur noch einen Bademantel.60 Da der Austausch mit der Umwelt mühsam ist, löst der Körper bei der Alterität, die zu seinem Zeugen wird, Mitleid aus. Sie sieht sich veranlasst, Worte zu finden, mit denen die Peinlichkeit des Geschehens verringert werden soll. Ich pfiff hörbar aus dem letzten Loch, als ich mich in den Wagen quälte, und machte mich lächerlich, indem ich mich für die pfeifenden Bronchien entschuldigte. Der Fahrer tröstete mich mit einem Satz, den ich so erwartet hatte: »Man wird nicht jünger.« Er trug mir die Tasche bis zum Bahnsteig. Ich musste, dachte ich mir, einen ziemlich hinfälligen Eindruck machen.61 Wenn der Körper der sozial erwünschten Körper- und Affektkontrolle nicht genügt, fällt er der Alterität auf. Um sich zu erklären, was nach den kulturellen Gepflogenheiten eigentlich nicht sein dürfte, geht sie von den Möglichkeiten aus, die ihr vertraut sind. Ohne zu überprüfen, ob zutrifft, was sie vermutet, schreibt sie dem Subjekt Negatives zu seiner körperlichen Erscheinung zu. Wenn der Körper sich in einer Weise zeigt, die üblicherweise durch ein Verhalten entsteht, das sozial missbilligt wird, kann das Subjekt auf Ablehnung stoßen. Gleichgewichtsstörungen ließen mich laufen wie betrunken, schlechtes Sehen ließ mich die Bordsteinkante übersehen, immer hörte ich die Leute hinter mir tuscheln. Es war grauenvoll. Bauarbeiter hielten mich für betrunken und boten mir an, mit ihnen zu saufen. Der ekelhafte Höhepunkt war, dass man mich festhielt und mir die Bierflasche an den Mund setzte.62 Gerade die Anderen, die sich ihres Körper unsicher sind, heben oft die Gemeinschaft mit einem sozial auffallenden Körper auf. Dann betonen sie eigens, was sie unterscheidet. Die Kränkung kann allein durch Wohlwollen Dritter nicht behoben werden.

58 59 60 61 62

Hull 1992: 50. Hull 1992: 40. Lesch 2002: 108. Härtling 2007: 87. Anonym [Gisela] 2005: 128.

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Körperlicher Umbruch

Vor zwei oder drei Jahren, als ich noch ein klein wenig sehen konnte, bummelte ich eines Abends durch die Geschäfte in der Selly Oak und wollte gerade eine Seitenstraße überqueren, als ein Junge ein paar Schritte hinter mir plötzlich schrie: »Paß auf, Mann, ein Auto! Stop!« Ich blieb mit einem Ruck stehen und war verwirrt, weil ich nichts hatte kommen hören. Ich machte einen Schritt rückwärts auf den Gehsteig, von dem ich gerade herabgetreten war. Eine zweite Stimme sagte: »Es ist nichts, Mann, er macht bloß Spaß. Kannst ruhig rübergehen.« Ich sah mich nicht um und machte keine Geste der Erkenntlichkeit oder des Danks, sondern nahm meinen Weg über die Straße mit, wie ich hoffte, wenigstens einem Anflug von Würde wieder auf. Das waren einfach junge Burschen, die ein bißchen Spaß haben wollten.63 In der psychischen Dimension der Körperlichkeit haben sich die Veränderungen noch nicht oder nur ansatzweise im neuropsychologischen Körperschema niedergeschlagen. Der Traum enthält viele ungeklärte Widersprüche. Es ist ausgeschlossen, daß ein Blinder, der auf einen Stock angewiesen ist, vergißt, ihn mitzunehmen. Ich wollte auch die Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit, die es mir ermöglichte, mein Rendezvous mit Marilyn in dem Restaurant einzuhalten, das Blindsein aber nahm mir diese Freiheit. Darum hatte ich ja den weißen Stock, und trotzdem hatte ich ihn nicht. Ohne irgendeinen Ersatz für den Stock konnte ich nicht gehen, aber ich konnte die Reaktionen der Menschen um mich herum sehen.64 Das Wissen um die räumliche Ausdehnung des Körpers und um seine Grenzen ist noch nicht der veränderten Körperlichkeit angepasst. Bei unbewusster Bewegung wird der Körper so eingesetzt, als sei er unversehrt. Leider war die Treppe vor ihrem Haus nicht nur sehr steil, sondern oft auch glitschig vom Herbstlaub, und eines Tages glitt ich beim Herunterkommen mit der Krücke aus. Ich streckte automatisch das linke Bein aus, um mich zu stützen, und fiel auf den Stumpf. Der Schmerz trieb mir Tränen in die Augen.65 Die bewusste Wahrnehmung des veränderten Körpers erschrickt das Subjekt. Sein verinnerlichtes Körperbild ist noch nicht überschrieben. Und dann, eines Nachmittags, als ich ihrem Bildnis meinen Kummer anvertraute, hat sich ein unbekanntes Gesicht zwischen sie und mich geschoben. In einer Spiegelung der Vitrine ist ein Männergesicht aufgetaucht, das in einem Dioxinfaß verweilt zu haben schien. Der Mund war schief, die Nase uneben, das Haar zerzaust, der Blick von Entsetzen erfüllt. Ein Auge war zugenäht und das andere aufgerissen wie das Auge Kains. Eine Minute lang habe ich diese erweiterte Pupille angestarrt, ohne es zu begreifen, daß es ganz einfach ich war.66

63 64 65 66

Hull 1992: 108f. Hull 1992: 30. Mills 1996: 242. Bauby 1997: 26.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit muss das Subjekt dem Körper, wie er nun ist, im Körperselbst eine erhöhte Aufmerksamkeit entgegenbringen. Das Vertrauen in den Körper ist gestört. Viel gesprochen wurde über diese Sachen nicht. Und auch nicht viel nachgedacht. Denn ehrlich gesagt: Trauen Sie Ihrem Herzen? Ich meinem nicht. Noch nie. Ein großer Muskel, der sich 24 Stunden am Tag zusammenzieht und dann wieder entspannt, im Sekundentakt, auf Lebenszeit. Kennen Sie Muskelkrämpfe? Eben. Warum nicht auch an dieser Stelle? Ich habe kein Vertrauen – jetzt erst recht nicht. Er hat ausgesetzt. Das kann jederzeit wieder passieren, oder nicht?67 Doch das Subjekt stellt im retrospektiv-reflexiven Prozess unter körperbezogenen Gesichtspunkten auch fest, dass sich beim körperlichen Umbruch nicht alles in seinem Körper zum Nachteil verändert. Der somatische Körper nimmt die Umwelt nun in einer Weise in sich auf, wie es ihm zuvor bewusst nicht möglich war. Das Subjekt fühlt sich dadurch bereichert, denn es empfängt bisher nicht gekannte Eindrücke. Ich bin eine Weile im Freien gewesen und habe versucht, mich auf die Besonderheiten der akustischen Welt einzustimmen. Ich bin beeindruckt von den vielen unterschiedlichen Aspekten der Wirklichkeit, von der Vielfalt und Intensität der Berührungspunkte zwischen mir und dem durch Klänge Geschaffenen.68 Der soziale Körpers erfährt nicht überall Ausgrenzung. Die Miturlauber waren sehr nett, mit meiner Behinderung stieß ich hier nie auf Ablehnung, sondern auf viel Hilfsbereitschaft.69 Auch mit dem veränderten Körper scheint es noch möglich zu sein, die Grenzen zwischen den Körpern aufzuheben. Dr. Belham war der einzige, der mich mißbilligend ansah, als er erfuhr, daß Raffaele die Nächte bei mir verbrachte. »Es ist Ihnen hoffentlich klar, daß Sie erst in einigen Monaten wieder Sex haben können, nicht wahr?« sagte er. »Im Moment würde dabei viel zu viel Druck auf die Hüfte ausgeübt.« […] Raffaele und ich hatten ohnehin noch nicht wieder miteinander geschlafen, aber Dr. Belhams Warnung hatte mir diese Möglichkeit eindeutig nähergebracht.70 Wesentliche Teile des Körpers können unverändert mit dem eigenen Willen gesteuert werden. Erleichtert war dagegen bald festzustellen, daß der Schlaganfall mein Sprachzentrum kaum beschädigt hat. Ich konnte von Anfang an bis heute lebhaft und weitgehend unverändert sprechen.71

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Huth 2003: 48. Hull 1992: 98. Ruscheweih 2005: 20. Mills 1996: 231. Peinert 2002: 33.

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Körperlicher Umbruch

Soziale Gesichtspunkte: Wenn das Subjekt in der Identitätsarbeit nach einer Antwort auf den körperlichen Umbruch sucht, erfasst es im retrospektiv-reflexive Prozess nach den körperbezogenen als zweites soziale Gesichtspunkte. Welche Rückmeldungen erhält es von der Alterität auf der prozeduralen und deklarativen Ebene zu sich und zu den auf unbestimmte Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden körperlichen Veränderungen? Es erkennt, dass die Veränderungen des somatischen Körpers auch die Alterität verändert haben. Das Subjekt erlebt jetzt die Anderen, die Beziehungen, die Anderen in der Beziehung, aber auch das Selbst in der Beziehung bewusst, weil sie ungewohnte Aufmerksamkeit verlangen. In der Begegnung mit der Alterität ist der ansonsten übliche alltägliche Austausch, der Wohlwollen vermittelt, nicht mehr möglich. Es kommt kein antwortendes Lächeln zurück. Ein strahlendes Lächeln kann mich nicht mehr überraschen. Ich erlebe es nicht mehr, wie sich auf dem Gesicht eines Fremden plötzlich Schönheit und Freundlichkeit ausbreiten. Für mein Bemühen bekomme ich anscheinend nie etwas zurück.72 Dass die Anderen anders sind als das Subjekt selbst, führt zu Spannungen, die es aushalten muss. Es wird sich dadurch bewusst, wie verschieden die Wirklichkeiten sind, in denen ein jeder gerade lebt. Dies gilt sogar für die zahlreichen gut gemeinten, oft recht pauschalen Ratschläge von Freunden und Verwandten nach dem Muster: »Du mußt Geduld haben, du mußt ordentlich mitziehen und dich bemühen, das geht alles nicht so schnell, und der und der hat es doch auch geschafft, du wirst es ebenfalls schaffen.« Ich kann manchmal in solchen Situationen nur mühsam die Form wahren und mit dem Anschein von Dankbarkeit Freude über die Anteilnahme heucheln. Ich bin in solchen Augenblicken undankbar, gelegentlich grundlos unfreundlich oder werde gar aggressiv.73 Um die Verschiedenheit zu überbrücken und eine Verständigung zu erreichen, muss das Subjekt der Alterität gegenüber viel mehr als zuvor sprachlich vermitteln, was es erlebt. Es muss ihr sagen, was es bedeutet, dass es die Welt nicht mehr in derselben Weise in den Körper aufnimmt wie sie. Für mich hat der Wind den Platz der Sonne eingenommen, und ein schöner Tag ist ein Tag mit einer sanften Brise. Sie läßt alle Geräusche in meiner Umgebung ertönen. […] Das Mißverständnis zwischen mir und den Sehenden entsteht, wenn es ein milder, sogar warmer Tag ist, mit einer leichten Brise, aber bedeckt. Für Sehende wäre das kein schöner Tag, denn der Himmel ist nicht blau. Ich werde mich, wenn ich mich zum Wetter äußere, präziser ausdrücken müssen. Ich muß daran denken zu sagen, daß es heute schön ist und mild oder daß die Brise angenehm ist.74 Indem das Subjekt die Spannung im Verhältnis zur Alterität eingeht, wird ihm bewusst, was sein Selbst jetzt ausmacht, nachdem sich die Körperlichkeit verändert hat.

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Hull 1992: 50. Peinert 2002: 68f. Hull 1992: 31.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Michael sagt mir, daß sich in meiner Wahrnehmung der Zeit eine Veränderung vollzogen hat, seitdem ich nicht mehr sehen kann. Er meint, daß von allen Leuten in der Fakultät ich der einzige sei, der offenbar immer viel Zeit hat. Alle anderen hasten herum, drehen sich im Kreis, versuchen, jede Minute mit nützlichen Aufgaben auszufüllen und den letzten Tropfen aus der Zeit herauszuquetschen. Ich allein habe anscheinend alle Zeit der Welt. Michael betonte auch, daß ich in meiner Arbeit nichts weglasse; ich mache einfach weiter, tue, was getan werden muß, bis es fertig ist. Bei seinen eigenen Arbeiten muß er den ganzen Tag lang bestimmte Dinge einfach weglassen, um seine Arbeit fertigzubekommen.75 Weil das Subjekt nicht mehr über die gewohnte Körperlichkeit verfügt, ergeben sich in seinen Beziehungen veränderte Modi der Alterität. Den Umgang, den das Subjekt und die Anderen miteinander haben, gab es so davor nicht. Heimlich beobachte ich meine Kinder, zusammengesunken in meinem Rollstuhl, den ihre Mutter durch die Krankenhausflure schiebt. Ich bin zwar ein etwas zombiehafter Vater geworden, aber Théophile und Céleste sind ganz wirklich, ständig in Bewegung und am Meckern, und ich werde nicht müde, sie gehen, einfach nur neben mir gehen zu sehen, wobei sie das Unbehagen, das auf ihren kleinen Schultern lastet, mit selbstsicherem Getue kaschieren. Im Gehen wischt Théophile die Speichelfäden, die aus meinem geschlossenen Mund rinnen, mit Papierservietten ab. Seine Geste ist verstohlen, zugleich zärtlich und furchtsam, so als habe er ein Tier mit unvorhersehbaren Reaktionen vor sich. Sobald wir langsamer werden, legt Céleste ihre nackten Arme um meinen Kopf, bedeckt meine Stirn mit schallenden Küssen und sagt wieder und wieder: »Das ist mein Papa, das ist mein Papa«, wie einen Zauberspruch.76 Im Modus der Intersubjektivität kommt es zu einer Begegnung, bei der das Subjekt sich in seinem Wesen erkennt, weil die Beteiligten ihre jeweilige Andersheit zulassen. »Ich verstehe Sie!«, sagte mir der Arzt, als ich ihm von der Angst, wieder sterbenskrank zu werden, erzählte. Wie sehr wünschte ich das erste Mal in meinem Leben, dass der Arzt mich anlügen und mir sagen würde: »Ach, was denken Sie auch! Alles wird gut.« Aber er war ehrlich und sagte mir, dass die Gefahr hoch sei, wieder dem Sterben nahe zu sein.77 Im Modus der Selbstobjektbeziehung übernehmen nun wegen der veränderten Körperlichkeit die Anderen Aufgaben, die zu erledigen dem Subjekt nicht mehr möglich ist. Im Garten wucherte das Unkraut, die Hecke mußte geschnitten werden, die Blumenbeete brauchten dringend Wasser. Meine Schwiegertochter bot an, den Garten mit zu versorgen. Zum Friseur mußte ich von meiner Frau im Auto gefahren werden.78 Dabei wird auch der Kranke für die Alterität zum Selbstobjekt. Er hat etwas zu erzählen, was für sie ungewöhnlich ist. 75 76 77 78

Hull 1992: 94f. Bauby 1997: 71. Balmer 2006: 94. Peinert 2002: 88.

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Körperlicher Umbruch

Ich bekomme irrsinig viel Besuch. Die meisten sind jünger als vierzig. Jeder denkt sich: Und morgen erwischt es dich. Und jeder will von mir hören, worauf er achten muss am Morgen. Ob es ein Kribbeln ist oder ein Ziehen? Wie die Schmerzen sich anfühlen, wie die Operation verläuft. Wie lange man in der Klinik bleibt und wie es dann weitergeht. Der Große Stellvertretende Herzinfarkt hält Hof. Hören auch Sie seine Geschichte. Ich erzähle meine Geschichte tausendmal.79 In den Modi der affektiven Durchlässigkeit und des nicht-reflexiven Verhaltens entsteht eine Gemeinschaft, bei der der veränderte Körper nicht mehr trennt. Ich bin berührt. So klein Nuria auch ist – sie kann ja kaum sprechen –, realisiert sie bereits genau, wie es um mich steht, ich kann ihr nichts vormachen. Umso mehr Mitgefühl und Liebe kann ihr Herzchen vermitteln. Ich bewundere sie, mit welcher Offenheit und Selbstverständlichkeit sie mir und meiner Krankheit begegnet. Wie gelassen sie mit meinem Beatmungsschlauch, meiner Kanüle, meinem Loch im Hals, meiner Magensonde, meinem grossen Elektrorollstuhl, meinen elektronischen Türen umgeht, während Erwachsene mein Leben als eine Leidensqual vorverurteilen.80 Das Subjekt merkt, dass die bisherigen sozialen Rollen ihre gewohnte Bedeutung verloren haben; es sind statt dessen neue hinzugekommen, die jetzt bedeutsam sind. Dem Subjekt kommt dadurch das Wissen, wie es sich in vertrauten sozialen Systemen angemessen verhält, abhanden. Was bisher festgelegt war, um das Zusammenleben zu erleichtern, gilt angesichts der körperlichen Veränderungen nicht mehr. Die beiden vorher souveränen und aufeinander abgestimmten Partner waren durch die Ereignisse in neue Rollen geschlüpft. Ich fand mich vor meiner Haustür plötzlich in der verhaßten Rolle des Patienten wieder, der ich aus den genannten Gründen gerade zu entkommen gehofft hatte. Meine Frau dagegen hatte in ihrer Sorge um mich die Rolle von Arzt und Krankenschwester übernommen und war für mich vom Partner zum einzig handelnden Chef der Familie geworden, während mir in diesen Minuten klar wurde, daß ich das als nicht handlungsfähiger Patient im Augenblick gar nicht sein konnte.81 Es entstehen Interrollenkonflikte, die gelöst werden müssen. Aus der Rolle des Kranken, die nun den Alltag bestimmt, ergeben sich für das Subjekt Konflikte mit seinen anderen Rollen. Ich wusste ja, was auf Christina und mich zukommen würde. […] Schlafen? Das wurde ein Fremdwort. Da halfen nur noch starke Schlaftabletten, um wenigstens stundenweise wegzudämmern. Das alles wollte ich Christina nicht zumuten. Nein, das kann ich ihr nicht zumuten.82

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Huth 2003: 50. Balmer 2006: 28. Peinert 2002: 71. Lesch 2002: 106.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Der Rollenwechsel, der durch die körperlichen Veränderungen bedingt ist, wird der Alterität bisweilen schon rasch so selbstverständlich, dass sie gar nicht mehr bedenkt, welch kurze Zeit er zurückliegt. Imogen, die jetzt ungefähr zehneinhalb Jahre ist, hat anscheinend vergessen, daß ich noch vor kurzer Zeit sehen konnte. Sie erwähnte, daß ich als kleiner Junge sehen konnte. Sie wirkte überrascht, als Marilyn und ich lachten und ihr widersprachen. Marilyn erinnerte sie daran, daß ich auch als Erwachsener noch sehen konnte. Erst vor ein paar Tagen sprachen Imogen und ich über etwas, was wir gemeinsam getan hatten, und das war nur möglich gewesen, weil ich da noch sehen konnte.83 Das Subjekt merkt, wie unterschiedlich sich die Anderen in den Beziehungen zeigen. Nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ist die Qualität der Beziehung zur Alterität konstruktiv, wenn sie das Subjekt ermutigt, wo ihm selbst die Zuversicht abhanden gekommen ist. Besonders die Menschen in meiner Umgebung scheinen Verbesserungen zu beobachten und kommentieren sie mir gegenüber sogar, wenn ich sie selbst noch nicht so zufriedenstellend konstatieren kann wie ich mir das manchmal wünsche.84 Die Qualität der Beziehung zur Alterität ist destruktiv, wenn die Anderen das Subjekt entwerten oder ausgrenzen, sobald es mit seiner veränderten Körperlichkeit in Erscheinung tritt. Sie ist defizitär, wenn die Anderen dem Subjekt nicht beistehen, wo die Verzweiflung sein Erleben beherrscht. Ich bin dem Weinen nah. »Warum reagiert keiner, wenn ich doch weiss, dass es sich nicht nur um eine Erkältung, sondern um eine ernstere Situation handelt?«, denke ich.85 Produktorientierte Gesichtspunkte: In der Identitätsarbeit erfasst das Subjekt im retrospektiv-reflexiven Prozess neben körperbezogenen und sozialen als Drittes produktorientierte Gesichtspunkte. Dabei geht es darum, welche Leistungen das Subjekt früher mit seiner gewohnten Körperlichkeit erbrachte und welche es nun mit der veränderten Körperlichkeit erbringt. Es stellt fest, dass seine Leistungsfähigkeit in den verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich ist. Sie ist so herabgesetzt, dass es den Lebensunterhalt nicht mehr verdienen kann. Jetzt dämmerte mir allmählich die rauhe Wirklichkeit meiner Lage. Ich hatte schon wochenlang keinen Pfennig verdient, und es würde vermutlich Monate dauern, ehe wieder etwas hereinkam.86 Das Subjekt kann zwar Leistungen erbringen, doch sind sie nicht zu verwerten.

83 84 85 86

Hull 1992: 58f. Peinert 2002: 82f. Balmer 2006: 82. Mills 1996: 234.

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Körperlicher Umbruch

In meinem Bewusstsein sammeln sich Reste, Fragmente. Das Hirn arbeitet gleichsam ohne meinen Impuls. Ich kann nicht mehr nach meinem Muster denken.87 In einzelnen Teilbereichen der Identität vermag das Subjekt nichts zu leisten, aber die Anderen merken es nicht. Mit den zu schnellen Wechseln geriet mein Ortsgedächtnis durcheinander. Wir begannen uns zu streiten an der Abbiegung, triumphierten über die vermeintlich falsche Ansicht des anderen, bis mir klar wurde, dass ich nicht helfen konnte. Eine Fähigkeit, auf die ich stets gesetzt hatte, löste sich auf und verließ mich. Alles, was ich für durchschaubar hielt, wurde zum Vexierbild.88 Oder in einzelnen Teilbereichen ist das Subjekt nicht leistungsfähig, aber die Anderen wissen darum. Einzig mit der Zeit hatte ich Probleme. Zunächst konnte ich die Uhrzeit nicht mehr von der Stellung der Uhrzeiger ablesen, genau wie auch mein Bettnachbar hier Schwierigkeiten hatte.89 Mit großer Mühe ist es dem Subjekt möglich, kulturell übliche Fertigkeiten zu erbringen. Heute konnte ich mich nicht daran erinnern, in welche Richtung die arabische Ziffer drei zeigt. Ich mußte sie nacheinander mit dem Finger in die Luft malen, eins, zwei, drei. Jetzt weiß ich es wieder. Sie zeigt nach links. Wenn sie nach rechts zeigt, hat sie Ähnlichkeit mit dem Buchstaben E.90 Auch wenn die kulturell üblichen Fertigkeiten mit Einschränkungen fast so wie früher erbracht werden können, ist der Unterschied schmerzhaft. Es geht wieder, ich tippe die Sätze schnell und ohne Komplikation – aber ich bin langsamer geworden. Gegen die gewünschte Geschwindigkeit des Aufbruchs. Ich rechnete nicht mit der Müdigkeit, hoffte kleine Pausen zu überspringen, nur das Tempo hat nachgelassen, ich bin umständlich geworden, vergesse, was ich mir vorgenommen habe, verlege Bücher, Zettel, Gegenstände. In meiner Verzweiflung verschwinden sie und lösen sich auf.91 Das Subjekt stellt zufrieden fest, dass auch mit dem umbrochenen Körper die Leistungsfähigkeit voll gegeben ist. Die Oper war wundervoll, aber auch wenn sie furchtbar gewesen wäre, hätte es keine Rolle gespielt. Für mich reichte es einfach, dort zu sein. Es bewies mir, daß ich immer noch Spaß haben konnte. Mein Leben war nicht vorbei. Ich konnte immer noch gut aussehen. Ich konnte ausgehen und mich amüsieren wie alle anderen.

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Härtling 2007: 43. Härtling 2007: 36. Peinert 2002: 34f. Hull 1992: 180. Härtling 2007: 65.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Affektive Gesichtspunkte: Der retrospektiv-reflexive Prozess erfasst als Viertes affektive Gesichtspunkte. Das Subjekt bedenkt, wie es sich vor dem körperlichen Umbruch gefühlt hat und wie es sich nun fühlt. Es hat Angst. In der somatischen Dimension der Körperlichkeit ist das Vermögen des sensomotorischen Körpers, auf die Welt einzuwirken, gefährdet. Ich sorgte mich auch darum, daß die Muskeln in meinem linken Oberschenkel immer weiter schwanden, weil sie nicht benutzt wurden. Ich machte jeden Tag isometrische Übungen, um sie fit zu halten, aber es reichte einfach nicht. Ich mußte bald ein neues Bein bekommen, sonst würde ich nie wieder ohne Hinken gehen können.92 Der viszerale Körper verlangt mit Störungen Aufmerksamkeit. Das ist mit Angst verbunden. Ich spüre häufig so ein Zucken in der linken Seite. Manchmal ein Stechen, oft schrecke ich nachts auf und bin panikwach. Was für eine Ironie: Nur an dem Morgen, als ich tatsächlich einen Herzinfarkt hatte, habe ich an alles Mögliche gedacht, aber nicht daran.93 Der Raum scheint für den veränderten Körper zu groß geworden zu sein, als dass er von ihm noch beherrscht werden könnte. Ich wohnte für die eine Nacht in der Akademie im Hansaviertel in der vertrauten Umgebung, versuchte, einen Rhythmus für die kommenden Tage zu finden, wurde aber von den Fragen, die mich ängstlich einkreisten, abgelenkt und aufgehalten. Immer waren es Gedanken, die sich mit meinen neuen Schwächen und Gewohnheiten auf den Reisen beschäftigten: Wie weit war das Hotel vom Veranstaltungsort entfernt? Wie würde ich den Weg schaffen?94 Die Sicherheit besteht nicht mehr, dass der Austausch des Körpers mit der Umwelt andauern wird. Die vom sensomotorischen Körper aufgenommene Welt erscheint dem Subjekt nicht mehr zuverlässig, und die von ihm vermittelten Gefühle nicht mehr beständig. Mehrere Blutvergiftungen, die genauso gut letal hätten sein können, lösen bei mir unvorstellbare Ängste aus: Die Angst, nicht mehr erwachen zu können, wenn man sich nachts zum Einschlafen hinlegt. Die Angst, es würde nie mehr hell werden, wenn es draussen anfängt einzunachten. Die Angst, wieder Angst zu verspüren, wenn die Angst in den frühen Morgenstunden kommt. Die Angst, Freude zu verspüren, eh sie wieder durch eine Lebensbedrohung zerschlagen wird.95 In der sozialen Dimension der Körperlichkeit ist dagegen die Zugehörigkeit zum sozialen System gefährdet. Das Subjekt hat Angst, dass es ausgegrenzt wird, falls die Identifikation von gleich zu gleich unterbleiben sollte.

92 93 94 95

Mills 1996: 244. Huth 2003: 48. Härtling 2007: 72. Balmer 2006: 93.

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Körperlicher Umbruch

»Daddy«, fragte er mich jetzt, »bist du blind?« Ich nahm ihn in die Arme und sagte: »Wer hat dir das erzählt?« Das war eine dumme, ausweichende Antwort, und ich weiß nicht recht, warum ich das sagte. Aus einem unerfindlichen Grund schämte ich mich. Ich befürchtete, daß eine Veränderung in meiner Beziehung zu ihm eintreten konnte.96 Die langjährig eingeübten kulturellen Fähigkeiten, mit denen die Zugehörigkeit zum sozialen System hergestellt wird, scheinen nicht mehr gewährleistet zu sein. Ich übertreibe, mache mir etwas vor, erfinde Ängste, besonders die Angst, nicht mehr schreiben zu können. Mir laufen die Wörter weg, oder ich bilde es mir ein.97 In der psychischen Dimension der Körperlichkeit ist schließlich die Sicherheit gefährdet. Der Körper ist zu einem Objekt geworden, dem das Subjekt nicht mehr vertraut. Horchen Sie in Ihren Körper! Wo schlägt das Herz? Etwas links von der Brust. Klar. Aber auf welcher Höhe? Wie tief in Ihrem Körper? Also, mir macht das Angst.98 Auch die veränderten Grenzen des Körpers lösen Zweifel aus. Das Subjekt weiß nicht, ob die Ressourcen zuverlässig sind, auf die es angewiesen ist. Obschon mich die Beatmungsmaschine zuverlässig weiter beatmet, fühle ich mich bedroht. Zahlreiche Gedanken flitzen durch meinen Kopf: »Was, wenn die Maschine versagt? Wie komme ich aus dem Haus, wenn es brennt? Funktioniert der Schwesternruf noch? Und der Alarm der Beatmungsmaschine, geht der noch raus? Und der Filter meines Aquariums?«99 Das selbstverständliche Vertrauen in das Leben besteht nicht mehr. Das alles ist nicht wirklich dramatisch, aber für eine 33-jährige Frau mit zwei Kleinkindern schon eine nervliche Belastung. Und immer wieder die Frage: Was bringt die Zukunft? Es blieb, wie es war.100 Die Begrenztheit des Lebens ist unübersehbar geworden. Das Eindösen lässt mich auch schon wieder schweissgebadet, mit heftigem Herzklopfen in Panik aufwachen. »Meine Güte! Ich habe Angst vor dem Einschlafen. Angst davor, nie mehr aufzuwachen«, erkenne ich und schlage meine Hände vors Gesicht.101 Doch kommt es auch zu anderen Gefühlen. Das Subjekt spürt Glück. Auch der veränderte Körper kann in eine Wechselwirkung mit der Umwelt treten, die erfüllt. Ich sprang einfach ins Tiefe, kam wie ein Korken wieder an die Oberfläche und schwamm ein paar Züge. Es war ein komisches Gefühl, weil ich nicht in einer geraden Linie schwimmen konnte, sondern nur irgendwie wackelig. Kraulen war leichter als

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Hull 1992: 74. Härtling 2007: 75. Huth 2003: 48. Balmer 2006: 43. Lürssen 2005: 28f. Balmer 2006: 63.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Brustschwimmen. Es war ein großartiges Gefühl. Ich fühlte mich wie ein gestrandeter Wal, der endlich wieder das offene Meer erreicht hat.102 Das Subjekt versteht es, seinen Körper willentlich in eine Umgebung zu bringen, die gut für ihn ist. Diese Umgebung gibt ihm das, was es jetzt braucht. Zum ersten Mal ging ich begeistert schwimmen. Das hoteleigene Schwimmbad war optimal temperiert, das Wasser nicht zu heiß, keine hohe Luftfeuchtigkeit. Ich habe es genossen. Hier gab es auch ein Fitnessstudio, in dem ich entsprechende Übungen machen konnte.103 Der Austausch mit der Welt ist nicht mehr gestört. Ich war glücklich, mich selbst zu entdecken. Glücklich, meinen Körper zu spüren, der doch mehr als ein Wrack oder Ersatzteillager war. Ich war glücklich, nach dem Training erschöpft und müde zu sein. Ich war glücklich, wenn ich am nächsten Tag Muskelkater hatte.104 Auch das Nachlassen von Gefühlen, die davor das Selbst überwältigt haben, macht das Subjekt glücklich. Alle diese Ängste haben, sobald sie durchschaut und bewältigt sind, etwas von einer Droge – vermutlich wirkt das überschüssige Adrenalin –, und eine wunderbar weiche Gleichgültigkeit tritt an ihre Stelle, ein Zustand, mit dem ich enden möchte.105 Das Subjekt spürt auch Zorn. Es ärgert sich über die fehlende Empathie der Alterität. Auf dem Weg zum Restaurant, in das uns die Veranstalter geladen haben, gerate ich außer Atem. Es sei nicht weit, wurde mir versichert. Wenn solche Beteuerungen laut werden, gesellt sich zur Schwäche die Wut.106 Oder es ärgert sich über die fehlende Verlässlichkeit der Alterität. »Der Lieferant kann die Kanülen erst Ende August, also in vier Wochen, liefern. […] Die Firma hat Betriebsferien.« Wutentbrannt knallte ich den Telefonhörer auf die Gabel. Röte stieg mir in den Kopf, mein Herz schlug heftig und ich spürte eine Hitze bis in meine Zehen. »Herrgott nochmal!«, schrie ich. »Ich soll wohl meinen Luftröhrenschnitt vorübergehend zunähen lassen, bis ich wieder Kanülen bekomme.«107 Das Subjekt ekelt sich, wenn etwas Widerliches von außen in den Körper eindringt, ohne wieder entfernt werden zu können, oder wenn etwas Widerliches aus seinem Körper herauskommt, ohne wieder zurückgenommen werden zu können. Das Subjekt kann zudem traurig sein. Durch den körperlichen Umbruch hat es unwiederbringlich etwas verloren, das ein Teil seines Selbst war. Der Verlust betrifft den Alltag. 102 103 104 105 106 107

Mills 1996: 249. Ruscheweih 2005: 20. Buggenhagen 1996: 54. Härtling 2007: 64. Härtling 2007: 75. Balmer 2006: 91.

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Körperlicher Umbruch

Früher saß ich oft weinend in der Küche, unfähig vor Überanstrengung weiter zu machen und unglücklich, wenn mein Mann mir die Arbeit dann abnahm. Meine Aufgaben wollte ich selber erledigen, nicht nutzlos in der Ecke sitzen.108 Der Verlust bezieht sich auf langfristige Identitätsentwürfe und -projekte. Nach der Trennung sah ich in der Stadt und überall, wo ich ging und stand, nur junge Frauen, entweder schwanger, mit Kinderwagen oder mit kleinen Kindern. Überall frisch verliebte Pärchen auf der Straße, im Fernsehen oder im Freundeskreis. Ich musste mir damals immer meine Tränen verkneifen, zu sehr schmerzte mich der Gedanke, dass ich ohne MS auch hätte so glücklich sein können.109 Das Leben an sich kann verloren gehen. Die gerade noch so behutsame, beruhigend mit einer Sterbenden redende Pflegerin verliess mein Zimmer und lachte auf dem Flur über einen Witz, den ihr ein Patient erzählte. Traurig sah ich zur offenen Zimmertür und wurde masslos eifersüchtig, neidisch auf all jene Menschen, die nicht in diesem verdammten Zimmer sterben mussten.110 Das Subjekt spürt Überraschung, wenn dem Körper von außen oder innen etwas geschieht, das unvorhergesehen ist und sich zuerst einmal nicht in Kategorien einordnen lässt. Ich bemerke, daß ich versuche, mir alte Fotografien von mir ins Gedächtnis zu rufen, um mich daran zu erinnern, wie ich aussehe. Mit einem Schock entdecke ich, daß ich mich nicht mehr erinnern kann. Muß ich selber ein leerer Fleck an der Wand meiner eigenen Galerie werden?111 Kognitive Gesichtspunkte: Schließlich erfasst der retrospektiv-reflexive Prozess als Fünftes kognitive Gesichtspunkte. Welches Bild hat das Subjekt vor dem überwältigenden körperlichen Geschehen und seinen psychosozialen Folgen von sich gehabt und welches Bild hat es nun von sich, seinem umbrochenen Körper und den Anderen? Das Subjekt beobachtet, wie es nun von seinem Körper beherrscht wird. Somit demonstriert der Arm die gravierendste Folge, die der Schlaganfall für mich gehabt hat. In gewisser Weise hat er mir für eine Weile meine autonome Persönlichkeit geraubt. Ich wurde durch den Arm zu einem Menschen, dem sein eigener Körper nicht mehr gehorchte, ja, ihm teilweise nicht einmal mehr mehr gehörte. Der Arm tat, was er wollte.112 Das Subjekt bemerkt die Gewohnheiten, die es unbewusst entwickelt hat, um dem körperlichen Geschehen nicht ausgeliefert zu sein.

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Lürssen 2005: 58. Ruscheweih 2005: 60. Balmer 2006: 128. Hull 1992: 40f. Peinert 2002: 37.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Oft möchte ich das Kinn auf einen meiner ausgestreckten Finger stützen, so als wollte ich mich ermahnen, mein Gesicht immer in die Richtung zu wenden, aus der der Klang oder die Stimme kommt. Dieses Bedürfnis habe ich sogar dann, wenn ich mich angeregt mit einem Menschen unterhalte. Fürchte ich, daß ich anfangen werde, mit dem Kopf zu wackeln, wie es für Blinde typisch ist?113 Das Subjekt sieht, dass es dem körperlichen Geschehen nichts entgegenzusetzen weiß. Was sich dagegen jetzt ereignete, waren marionettenhafte Zuckungen. Diese entsprangen zwanghaft gewissermaßen fremden Willensakten. Es stellte sich mir die Frage, ob ich nunmehr wie eine Marionette der Willkür von bloß mechanisch gereizten Nervenbündeln unterworfen war und damit kein bißchen autonomer als vorher.114 Infolge des körperlichen Geschehens scheint dem Subjekt ein verlässliches Erkennen nicht mehr möglich zu sein. Manchmal habe ich das Gefühl, in der Blindheit begraben zu sein. Ich werde immer tiefer in sie hineingetragen. Das Gewicht drückt mich nieder. Die Erkenntnis, die ich habe, verschwindet, sie ist so begrenzt, so zerbrechlich, ich kann sie nur flüchtig fassen.115 Das Denken geschieht unwillkürlich. Und dann, als es wieder einzunachten begann, überfiel mich eine geistige Nacht: Ich fing an zu grübeln, was mir noch alles geschehen könnte. Schliesslich wusste ich medizinisch zu gut Bescheid. Medizinisch schien ich die Blutvergiftungen überstanden zu haben, jedoch musste ich mit einer grösseren Wahrscheinlichkeit rechnen, dass mich die Lebensbedrohung wieder einholen würde. Ich stellte fest, dass ich zu viel weiss: welches Symptom, welcher Ausschlag, welcher Schmerz spricht für welche Diagnose.116 Gefühle werden unkontrolliert geäußert. Bei diesem ersten Besuch war ich so entnervt, unglücklich und schmerzbeladen, dass ich in Tränen ausbrach. Das ist mir glücklicherweise nie wieder passiert.117 Das Gedächtnis verändert seine Inhalte. Seit drei Jahren habe ich nun keinen Menschen mehr gesehen. Merkwürdigerweise habe ich ziemlich deutliche Bilder von vielen Menschen, die ich im Verlauf dieser drei Jahre nicht mehr getroffen habe, doch die Bilder der Menschen, denen ich täglich begegne, verschwimmen.118 Das ganze Erleben ist fremd geworden. 113 114 115 116 117 118

Hull 1992: 72. Peinert 2002: 60. Hull 1992: 85. Balmer 2006: 93. Lürssen 2005: 30f. Hull 1992: 34.

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Körperlicher Umbruch

Ich stellte weiter, ebenfalls ernüchtert und erschlagen, fest, dass ich panische Angst vor dem Sterben hatte. Ich verstand mich nicht mehr: Ich, die ich immer über das Sterben spreche und schreibe, hatte neu eine panische Angst davor.119 Die Abwehr des körperlichen Umbruchs geschieht lange unbewusst. Als ich entdeckte, daß ich allmählich vergaß, wie Marilyn und Imogen aussehen, beunruhigte mich das sehr. Ich hatte das Blindsein nicht zulassen wollen.120 Und die Bewältigung des körperlichen Umbruchs geschieht unbewusst. Das Hauptthema des Traums ist die Furcht, durch das Blindsein Marilyn zu verlieren. Sie wird durch die spätere Einsicht, daß nichts geschehen wird, offenbar ausgeräumt. So jedenfalls sagt es mein Traum.121 Das Subjekt merkt, dass ihm die frühere Gewissheit seines Selbst und von dem der Anderen, aber auch vom Bild seines Selbst in den Anderen abhanden gekommen ist. In welchem Ausmaß führt der Verlust des Bilds vom eigenen Gesicht auch zum Verlust des Selbstbilds? Ist das einer der Gründe dafür, daß ich so oft glaube, ein bloßer Geist, ein Gespenst, eine Erinnerung zu sein? Andere Menschen sind zu körperlosen Stimmen geworden, sprechen aus dem Nirgendwo, gehen ins Nirgendwo. Bin ich jetzt, wo ich meinen Körper verloren habe, nicht genauso?122 Es meint, sich im Spiegel der Alterität zu sehen und deren Wertschätzung verloren zu haben. Aber auch mein Selbstbewusstsein war auf einem derartigen Nullpunkt angelangt, dass ich mir hinsichtlich einer eventuellen Beziehung nichts mehr zutraute. Wer wollte schon mit einer Frau, die MS hat und aufgrund ihres Medikaments keine Kinder bekommen sollte, eine Partnerschaft eingehen?123

2.4

Im Prozess prospektiv-reflexiv

Verbindung von retrospektiv- und prospektiv-reflexiv: Um in der Identitätsarbeit eine Antwort auf den körperlichen Umbruch zu finden, braucht das Subjekt nicht nur eine Bewusstheit dessen, was ihm jetzt passiert ist und was seine Identität in der Vergangenheit prägte, sondern auch eine Vorstellung von dem, worauf es in der Zukunft ausgerichtet ist. Zum retrospektiv-reflexiven Prozess muss der prospektiv-reflexive kommen. Während Vorerfahrungen dem Subjekt ein Ereignis wie den körperlichen Umbruch verstehbar und handhabbar machen, kann es ihm durch seine übergeordneten Identitätsziele sinnhaft werden. Aus diesen Zielen entstehen unter Berücksichtigung

119 120 121 122 123

Balmer 2006: 93. Hull 1992: 34. Hull 1992: 102. Hull 1992: 41. Ruscheweih 2005: 60.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

der gegebenen Umständen infolge des körperlichen Umbruchs die Identitätsentwürfe, die das Subjekt erwägt, und die Identitätsprojekte, die es im Alltag mit dem umbrochenen Körper in die Tat umsetzt (vgl. Prinz 2013: 252–277).124 Im prospektiv-reflexiven Prozess bedenkt das Subjekt, wer es angesichts der körperlichen Veränderungen zukünftig sein will, und versucht, die Spannungen in der Identität zu überwinden, die der Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit hervorgerufen hat, ohne seiner bisheriger Identität untreu zu werden oder die soziale Anerkennung zu verlieren. Zum prospektiv-reflexiven Prozess fügen sich die Erkenntnisse der Retrospektion: Weder kann das prägend Vergangene erinnert werden, ohne in die Zukunft zu verweisen, noch das künftig Kommende bestimmt werden, ohne Vorerfahrungen zu berücksichtigen (vgl. Keupp et al. 1999: 192–195). Die retrospektive und prospektive Reflexion ist dabei kein einmaliges Geschehen, sondern hat immer wieder aufs Neue die gegebenen Umstände zu beachten und darauf bezogene Identitätsentwürfe und -projekte zu entwickeln. In zahllosen Durchläufen erfasst das Subjekt zurückblickend, wie weit es in seiner Identitätsarbeit bereits gekommen ist, sich an den körperlichen Umbruch anzupassen, und nach vorne schauend, wie es unter Wahrung seiner übergeordneten Identitätsziele zu weiteren Identitätsentwürfen findet, die der veränderten Körperlichkeit noch besser entsprechen, und wie es sie dann zu noch stimmigeren Identitätsprojekten verdichten kann. Es gibt Zeiten, in denen Lösungen sozusagen in Sicht zu kommen scheinen, aber es gibt auch ständig Rückschläge, wo es den Anschein hat, als ob nichts gewonnen oder dazugelernt worden sei. Wenn Wiederholungen auftreten, dann deshalb, weil die gleichen Probleme und Erfahrungen immer wieder auftauchten und von verschiedenen Seiten beleuchtet wurden.125 Übergeordnete Identitätsziele: Auch wenn die übergeordneten Identitätsziele von Subjekt zu Subjekt verschieden sind, ergeben sie sich aus einem allgemeinen Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, Kohärenz und Authentizität, also nach bleibender Wertschätzung durch die Alterität, nach innerem Zusammenhang des Erlebens über Ort und Zeit hinweg und nach innerer Wahrhaftigkeit. Auch bei einem körperlichen Umbruch leiten die übergeordneten Identitätsziele das Handeln des Subjekts im Alltag. Sie weisen das Subjekt darauf hin, welche Identitätsentwürfe und -projekte zu einem bestimmten Zeitpunkt oder über die Zeit hinweg wahrscheinlich angemessen sind, wenn bestimmte Ereignisse eintreten. Ich arbeite. Ich muss arbeiten. Ich bin Schauspieler. Ich lebe davon. Und ich will meinen Beruf nie und nimmer aufgeben. Bloß weil da einige Lymphknoten außer Rand und Band geraten sind.126 Wenn das Subjekt aber erkennen muss, dass der körperliche Umbruch dazu geführt hat, dass es seine übergeordneten Identitätsziele nicht mehr in Identitätsentwürfe und -projekte herunterzubrechen vermag, wird es ratlos. 124 Dort wird in ähnlicher Weise von Regeln, Plänen und Absichten gesprochen. 125 Hull 1992: 12. 126 Lesch 2002: 32.

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Körperlicher Umbruch

So, wie ich es hier tat, reagiert also nur jemand, der sein seelisches Gleichgewicht nicht hat und daher nicht ruhig überlegt. Wie aber gewinnt man sein seelisches Gleichgewicht wieder, wenn man wesentliche physische Fähigkeiten verloren hat? Das war jetzt die Frage.127 Da das Subjekt die übergeordneten Identitätsziele nicht mehr verfolgen kann, fehlt ihm etwas. Doch allein dadurch, dass es sich seiner übergeordneten Identitätsziele erinnert, wird es dazu angeregt, über seine Lage nachzudenken. Das Subjekt bedenkt prospektiv, wie es ihnen gerecht werden und seine Wirklichkeit gestalten kann. Es erfasst dazu retrospektiv die Bedingungen seines Erlebens. Ich kann mich auch dadurch zur Wehr setzen, daß ich mir klar mache, unter welchen Umständen das Auftreten von Panik wahrscheinlich ist. Mal sehen, ob ich das hinkriege. In meinem Büro gerate ich nie in Panik. Ich habe immer das Gefühl, in einer geordneten Umgebung zu sein, ich weiß, wo alles steht und liegt, und ich habe etwas, was ich erledigen muß. Ich bin zwar manchmal müde und bedrückt, so als könnte ich mich zu nichts aufraffen, aber ich gerate nie in Panik.128 Indem das Subjekt retrospektiv die Umstände berücksichtigt, die sich nach dem körperlichen Umbruch ergeben haben, und zugleich seine übergeordneten Identitätsziele beibehält, gewinnt es prospektiv Identitätsentwürfe und -projekte, deren Umsetzung seine Wirklichkeit verändern kann. Was wollte ich noch in diesem Land? War ich undankbar, wenn der Gedanke, wegzugehen, immer stärker wurde? Ich wollte meine Grenzen ausloten, im Beruf, im alltäglichen Leben, vor allem aber im Sport. Daß mir geographische Grenzen eben das unmöglich machen sollten, konnte ich nicht akzeptieren. […] Bei Bekannten und WestVerwandten erkundigten wir uns, ob es möglich war, finanziell zu überleben. Aus 120 Mark Unterstützung im Osten wären auf der anderen Seite der Elbe 1200 geworden, mit den Renten die Absicherung garantiert.129 Auch wenn das Subjekt sich vornimmt, seinen übergeordneten Identitätszielen trotz widriger Umstände treu zu bleiben, müssen sich daraus nicht unbedingt Identitätsentwürfe und -projekte ergeben, die es sofort in die Tat umsetzt. Das Subjekt zieht es bisweilen vor, darauf zu vertrauen, dass sein Vorsatz wirken und zu einer Handlung führen wird. Diese Niederlage wollte ich nicht noch ein zweites Mal erleben! Ich nahm mir also fest vor, von jetzt an immer in »freier Selbstbestimmung« selbständig zur Toilette zu gehen. Es ist wahrscheinlich bezeichnend für mich, daß ich dazu tatsächlich bald Mittel und Wege fand.130

127 128 129 130

Peinert 2002: 71. Hull 1992: 68f. Buggenhagen 1996: 60. Peinert 2002: 30.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Indem das Subjekt Vorerfahrungen aufgreift, die schon einmal erfolgreich gewesen sind, entstehen unter Wahrung der übergeordneten Identitätsziele aus der Retrospektion Identitätsentwürfe und -projekte. In meinem Kopf hatten sich meine berufliche Arbeit und meine Krankheit vermischt, zum Nachteil für beide, und ich erkannte: Um dieses Durcheinander zu lösen, würde ich nach Abschluss meiner formalen Lehranalyse eine weitere Selbstanalyse benötigen.131 Auch können Identitätsentwürfe und -projekte entstehen, zu denen das Subjekt nur deshalb gelangt ist, weil es mit einem umbrochenen Körper lebt. Durch ihn hat es übergeordnete Identitätsziele gefunden, die ihm so viel bedeuten, dass es sie seiner Alterität vermitteln will. Dieses Gefühl, den Moment zu genießen, möchte ich meinem Patenkind Carolin nahe bringen. Noch ist es ja zu klein, aber wenn es größer wird, älter ist, möchte ich für mein Patenkind da sein, um ihm dieses Gefühl zu vermitteln.132 Die Entstehung von Entwürfen und Projekten: Wenn das Subjekt auf ein Ereignis wie einen körperlichen Umbruch zuerst mit Identitätsentwürfen antwortet, die teilweise noch realitätsfern und utopisch sind, und nach deren Verdichtung mit Identitätsprojekten, die nicht mehr nur spielerisch entwickelt werden, sondern innerlich bereits beschlossen sind, ist dreierlei zusammen gekommen: Zuerst ist das Subjekt von seinen übergeordneten Identitätszielen ausgegangen und hat sich bei verschiedenen möglichen Verläufen des Ereignisses vorgestellt, wie sich seine Bedürfnisse, die sich aus seinen übergeordneten Identitätszielen ergeben, unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände am besten erfüllen ließen. Dann kann das Subjekt Identitätsentwürfe und -projekte von den Anderen, auf die es bezogen ist, übernommen haben, nämlich durch ein Lernen an ihrem Beispiel, ein Beobachten und Nachahmen ihres Verhaltens oder Zuhören ihrer Erzählungen über ihr Erleben, ihre Wahrnehmungen, Deutungen, Handlungen, Absichten und Pläne. Schließlich stellt das Subjekt bei jedem Ereignis Vermutungen an, wie es sich im weiteren fortsetzen wird, wobei das Subjekt nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine ganze Palette von Möglichkeiten bedenkt und diese sowohl in Hinblick auf Bedürfnisse als auch auf die Vorgaben der Alterität bewertet. Wie Identitätsentwürfe und -projekte ausgestaltet sind, ist weiter davon beeinflusst, ob das Subjekt mehr auf seine Vergangenheit oder mehr auf seine Zukunft bezogen ist. Überwiegt die retrospektive Sicht, so sind die Identitätsprojekte und -entwürfe im Wesentlichen von den früheren Erfahrungen des Subjekts bestimmt; überwiegt die prospektive Sicht, sind sie von seinen Erwartungen an das Kommende bestimmt und wird in der Erinnerung die Vergangenheit erfunden, die dazu passt. Unabhängig davon, ob die Identitätsentwürfe und -projekte die durch den körperlichen Umbruch gegebenen Umstände berücksichtigen oder nicht, leiten sie sich weitgehend aus dem ab, was das Subjekt früher beschäftigte.

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Todes 2005: 63. Ruscheweih 2005: 60.

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Körperlicher Umbruch

Dort bin ich der größte Filmregisseur aller Zeiten. In der Stadt drehe ich noch einmal die erste Einstellung von Im Zeichen des Bösen. Am Strand wiederhole ich noch einmal die Kamerafahrten in Ringo, und auf hoher See erschaffe ich noch einmal den Sturm, in den die Schmuggler in Moonfleet geraten. Oder ich löse mich einfach in der Landschaft auf, und nichts verbindet mich mehr mit der Welt als eine Freundeshand, die meine tauben Finger streichelt.133 In jedem Fall verbinden sich in den Identitätsentwürfen und -projekten die Umstände, die durch den körperlichen Umbruch gegeben sind, die Vorerfahrungen des Subjekts und seine übergeordneten Identitätsziele auf einzigartige Weise. Die Entlassung aus dem Krankenhaus nährte vermehrt meine Hoffnung, die Forschung werde etwas Brauchbares hervorbringen, etwa eine Ergänzung zu L-Dopa. Ich wollte mich mit soviel Energie, wie ich aufbringen konnte, bemühen, bedeutende Leute in der Feldforschung zu treffen, die ich motivieren wollte, den Prozess zu beschleunigen.134 Ob die durch den körperlichen Umbruch gegebenen Umstände, seine Vorerfahrungen oder seine übergeordneten Identitätsziele jeweils angemessen gewichtet sind, ist für das Subjekt anfangs oft nicht abzusehen. Es kann Identitätsentwürfe und -projekte entwickeln, die seine veränderte Körperlichkeit überhaupt nicht berücksichtigen und daher völlig realitätsfern und utopisch sind. Niemand hatte mir bisher ein genaues Bild von meiner Situation vermittelt, und aus hier und da aufgesammelten Klatsch hatte ich mir die Gewißheit zurechtgezimmert, daß ich sehr schnell Beweglichkeit und Sprache wiederfinden würde. Mein umherschweifender Geist entwarf sogar tausend Pläne: einen Roman, Reisen, ein Theaterstück und die Kommerzialisierung eines von mir erfundenen Fruchtcocktails. Fragen Sie mich nicht nach dem Rezept, ich habe es vergessen.135 Oder die Identitätsentwürfe und -projekte sind so stark von den Bedürfnissen des Subjekts bestimmt, dass sie sogar gegen die Wirklichkeit entwickelt werden. Hinweise auf Gefahren, die aus der fehlenden Berücksichtigung seiner Körperlichkeit entstehen können, bleiben vom Subjekt unbeachtet, selbst wenn die Spezialisten des Gesundheitswesens darauf hingewiesen haben. Ich plane die nächsten Monate. »Passen Sie auf sich auf«, warnt mein Arzt in der Mühle. »Schonen Sie sich.« Ich möchte mich nicht schonen. Vielleicht können wir doch nach Hiddensee in die Ferien fahren.136 Umgekehrt kann der körperliche Umbruch mit seinen Folgen im Subjekt so gegenwärtig sein, dass es gar nicht mehr seinen übergeordneten Identitätszielen zu folgen vermag. Das Subjekt versucht nicht mehr, seine Bedürfnisse unter den gegebenen Umständen selbst in nur unbestimmte Identitätsentwürfe umzusetzen, und Identitätsprojekte, die

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Bauby 1997: 31, Kursivierung im Original. Todes 2005: 60. Bauby 1997: 9. Härtling 2007: 17.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

es bereits vor dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit hatte, verfolgt es nicht mehr, ersehnt aber weiter ihre Verwirklichung. In diesen Momenten wird mir immer klar, was mich von meinen Freundinnen unterscheidet und was mir fehlt: eine eigene Familie. Ich würde lügen, wenn ich sage ein Partner fehlt mir nicht. Sicherlich wäre es schön, mit einem Partner gemeinsame Unternehmungen zu veranstalten, manchmal über die MS zu reden, über neue Medikamente, eine Rehabilitation. […] Mit Freundinnen und Freunden auszugehen macht natürlich Spaß, aber mit einem Partner bekommen diese Unternehmungen doch ein ganz anderes Gewicht. Außerdem könnte man dann auch spontane Unternehmungen machen, meine Freundinnen haben eine Familie und sind daher auch anders eingespannt. Natürlich hätte ich gern eine konstante Beziehung.137 Unabhängig davon, ob Identitätsentwürfe und -projekte beim körperlichen Umbruch eher erworben oder eher übernommen sind, sind sie oft plötzlich da. Auf einmal weiß das Subjekt ganz genau, was es zu tun hat, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen. Das war es! Die Antwort traf mich wie ein Blitz. Das konnte ich nach Kroatien bringen: Prothesen! Sie hatten mein Leben völlig verändert. Ich stellte mir vor, wie sie das Leben von Hunderten von Kroaten veränderten, deren Arme oder Beine von Granaten und Minen abgerissen worden waren.138 Ebenso können Identitätsentwürfe und -projekte über lange Zeit hinweg vage bleiben. Marrakesch ist Afrika. 52 Tagesetappen bis Timbuktu. Meine Ziele: mein Leben neu organisieren und ein Chamäleon kaufen. Das ist alles, was ich weiß, als ich ankomme.139 Wenn Identitätsentwürfe die durch den körperlichen Umbruch gegebenen Umstände aufgreifen und vom Subjekt als zu seinen übergeordneten Identitätszielen passend empfunden werden, verdichten sie sich beinahe von selbst zu einem Identitätsprojekt. Nachdem so lange jedes Träumen schon durch das Motto »Teilnehmen ist alles« befriedigt gewesen zu sein schien, wollte ich nun mehr als einfach nur »Mitläufer« sein. Dafür brauchte ich einen Trainer, der wußte, wie man Spitzenleistungen aus einem herauskitzeln konnte. Der mich als Athletin mit der Ambition, die Beste zu sein, annahm, und nicht als Behinderte, der ein bißchen Rehabilitationssport ja nicht schaden könnte.140 In dem Fall, dass das Subjekt sich entschließt, seine Identitätsentwürfe und -projekte mit dem Mut, den es für jedes Handeln braucht, in die Tat umzusetzen, sind sie von ihm darauf geprüft, ob sie seinem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, Kohärenz und Authentizität entsprechen. Dem Entschluss zur Tat sind mitunter zahllose Durchläufe retrospektiver und prospektiver Reflexion vorausgegangen. Wie fast jeden Tag sagte mir Fiona auch an diesem Morgen, in der Halle unten säßen Reporter, die mit mir sprechen wollten. »Soll ich sie wegschicken?«, fragte sie. Bis zu 137 138 139 140

Ruscheweih 2005: 41f. Mills 1996: 261, Kursivierung im Original. Huth 2003: 89. Buggenhagen 1996: 62.

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Körperlicher Umbruch

diesem Tag hatte ich das immer bejaht, aber jetzt hatte ich es mir anders überlegt. Wenn die Presse meine Geschichte sowieso drucken würde, konnte ich ihnen auch ein echtes Interview geben. Immerhin würde ich dafür bezahlt. Es war an der Zeit, meine unternehmerischen Fähigkeiten wieder ins Spiel zu bringen. »Sag ihnen, sie können heraufkommen.«141 Nachdem das Subjekt dazu entschlossen ist, seine Identitätsentwürfe und -projekte in die Tat umzusetzen, hält es auch dann daran fest, wenn es mit Widrigkeiten rechnet. Bleierne Hitze. Ich würde trotzdem gern ausfahren. Es ist Wochen, vielleicht Monate her, daß ich aus dem Krankenhausbezirk hinausgekommen bin, um meine rituelle Promenade auf der Esplanade am Meer zu machen. Beim letzten Mal war es noch Winter.142 Ebenso bleibt das Subjekt dabei, seine Identitätsentwürfe und -projekte in die Tat umzusetzen, wenn es auf Schwierigkeiten stößt. Ich reise oft, lese abends aus meinem Erinnerungsbuch vor. In Gedanken bin ich mir voraus, teile meinen Atem ein, frage mich, wie weit ich mit dem kaputten Bein komme, lange Wege zwischen Bahnsteigen versuche ich über die Reiseausdrucke im Reisebüro herauszubekommen.143 Nach Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte kommt es aber auch dazu, dass das Subjekt sich dazu entschließt, auf die Umsetzung seiner Identitätsentwürfe und -projekte zu verzichten. Es stellt sich einfach für mich die Frage, ob ich mit dem Wissen, MS zu haben, die Gefahr der genetischen Disposition für mein Kind auf mich nehmen kann und will. Die MS ist keine Krankheit, die vererbt wird, aber die Veranlagung kann weitergegeben werden – ähnlich wie bei einer Krebserkrankung: hier kann es manchmal zu einer familiären Häufung kommen, aber auch sie ist nicht vererbbar. Mir war daher damals und auch später klar, dass ich dieses Risiko nicht eingehen wollte.144

2.5

Willentlich in die Umsetzung

Vom Projekt zur Tat: Die Identitätsentwürfe und -projekte, mit denen das Subjekt in der Identitätsarbeit auf den körperlichen Umbruch antwortet, sind von der gleichzeitig ablaufenden Bewältigung der körperlichen Veränderungen bzw. deren Abwehr nicht wirklich zu trennen. Identitätsentwürfe und -projekte in die Tat umzusetzen, entspricht insofern einem willentlichen Handeln des Subjekts, bei dem Animativität und Agentivität stimmig zusammengefügt sind. Je nach Identität des Subjekts geht die Antwort auf den körperlichen Umbruch mehr animativ vom Ereignis aus oder mehr agentiv von den

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Mills 1996: 234. Bauby 1997: 85. Härtling 2007: 66. Ruscheweih 2005: 61f.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

übergeordneten Identitätszielen. Die Antwort, die animativ am Ereignis ansetzt, kann wiederum mehr von der Bewältigung oder mehr von der Abwehr bestimmt sein, und bei der, die agentiv aus der Identitätsarbeit folgt, lässt sich zwischen Identitätsentwürfen und -projekten unterscheiden, die auf die Vergangenheit bezogen sind, und solchen, die stärker auf die Zukunft ausgerichtet sind. Während beim animativen Verhalten das Ereignis die Richtung weist, in der das Subjekt antwortet, gibt beim agentiven Verhalten das allgemeine Identitätsempfinden vor, welche Handlungen willentlich ausgeführt werden; während bei ersterem das Handeln dazu dient, ein gegebenes Ereignis günstig zu beeinflussen, handelt bei letzterem das Subjekt, um ein beabsichtigtes Ergebnis herbeizuführen; während bei ersterem das Subjekt gelernt haben muss, welche Folgen sich aus welchen seiner Handlungen ergeben, muss es bei letzterem darum wissen, welche seiner Identitätsentwürfe und -projekte sich mit welchen Handlungen verwirklichen lassen. Da es sowohl beim animativen als auch beim agentiven Verhalten nie um eine Handlung an sich geht, sondern um die dadurch zu erreichende Veränderung, kann dafür mal mehr dieses, mal mehr jenes Verhalten angezeigt sein (vgl. Prinz 2013: 195–199, 219–221). Im wörtlichen Sinne muss sich das Subjekt bewegen, um im Alltag das Identitätsprojekt in die Tat umzusetzen, das es entworfen hat. Es kommt vor, dass ihm plötzlich gelingt, was ihm zuvor lange unmöglich erschienen ist. Eines Tages habe ich mir selbst zum Nachmittagskaffee ein Stück Kuchen vom Bäcker geholt. Bin allein in die Stadt gefahren, bin durch die Kaufhäuser und Buchhandlungen gegangen und habe eingekauft wie früher. Abends habe ich den Gartenschlauch Stück für Stück entrollt und meinen dürstenden Blumen das erste Wasser nach Wochen gegönnt.145 Auch im übertragenen Sinne kann das Subjekt von einem Identitätsprojekt bewegt werden, das sich ihm aus dem körperlichen Umbruch ergeben hat. Worin besteht die Bedeutung des Blindseins? Es ist seltsam, daß ich vier Jahre nach der Registrierung und zwei Jahre nach meiner völligen Erblindung immer noch diese Frage zu ergründen versuche.146 Wenn das Subjekt in seiner Identitätsarbeit ein in die Zukunft weisendes Identitätsprojekt gefunden hat, das es als sinnvoll ansieht, ist es bereit, große Mühen auf sich zu nehmen, um es zu verwirklichen, und dafür frühere Gewohnheiten aufzugeben. Nach der letzten Operation wußte ich auch, daß ich ihn wollte, den Anfang, den neuen Anfang. Das gab die Kraft und Geduld, langwierige Übungen auf sich zu nehmen. Das Umsetzen vom Bett in den Rollstuhl und umgekehrt, das Umdrehen, um gefährliche Druckstellen am Körper zu vermeiden, das Training von Blase und Darm – das kostet Zeit, Geduld, Nerven, und die Aufgabe falscher Schamgefühle. Es darf einem nicht peinlich sein, Windeln zu tragen, auch für simple Verrichtungen Hilfe zu brauchen.147

145 Peinert 2002: 88f. 146 Hull 1992: 162. 147 Buggenhagen 1996: 42.

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Auch wenn das Subjekt ein Identitätsprojekt gefunden hat, von dem es überzeugt ist, vergeht mitunter viel Zeit, bis es willentlich zu handeln beginnt. Das geht nun so ein Jahr lang, bis heute, bis zu diesem Abend, bis zu dieser Zeile mit der Schreibmaschine, an die ich mich nicht wie sonst selbstverständlich setze, sondern nach einer längeren Überredung, nachdem ich der Angst nachgegeben habe, ins Schweigen einzugehen.148 Um zu erreichen, was mit dem Handeln beabsichtigt ist, braucht das Subjekt oft Ausdauer. Es muss Handlungen vielfach wiederholen oder viele verschiedene Einzelhandlungen ausführen, bis es dort anlangt, wo es sein will. Daß damit noch lange kein perfekter Umgang mit dem Rollstuhl erreicht sein konnte, daß er quasi erst ein Teil meines Körpers werden mußte, das stand auf einem ganz anderen Blatt. Das wie auch andere Probleme eines Querschnittgelähmten zu erlernen, die für einen Nichtbehinderten keine Sekunde des Nachdenkens wert sind, erfordert mühseliges, wochen-, ja monatelanges Training, um Lebensqualität für sich zu erwerben.149 Gerade weil das willentliche Handeln oft mühsam ist, muss das Subjekt genau wissen, was es mit dem Identitätsprojekt erreichen will. Es befriedigend in die Tat umzusetzen, kann viel Zeit benötigen. Ich brauchte viele Monate, um zu verarbeiten und genügend Vertrauen zu finden, dass ich einen solchen Zustand alleine verbringen und die Pflegerin das Zimmer ohne schlechtes Gewissen verlassen kann.150 Auswahl von Projekten: Wenn das Subjekt in der Identitätsarbeit wählen muss, mit welchem Identitätsprojekt es agentiv am besten auf den körperlichen Umbruch antwortet, um seinen übergeordneten Identitätszielen treu bleiben zu können, oder ob es diesem Ereignis nicht doch besser animativ mit Bewältigung oder Abwehr antwortet, benötigt es Kriterien, an Hand derer es sich entscheiden kann: Das Subjekt braucht zum Ersten Präferenzen; es muss sich darüber klar sein, welche seiner übergeordneten Identitätsziele ihm wie viel bedeuten. Das Subjekt muss zum Zweiten über Handlungswissen verfügen, nämlich welche seiner verschiedenen Identitätsprojekte sich mit welchen Handlungen in die Tat umsetzen lassen und welche Folgen mit welchen Handlungen einhergehen. Das Subjekt benötigt zum Dritten eine Kenntnis der gegebenen Umstände, in denen es sich befindet; es muss sich darüber bewusst sein, in welchem Kontext das Ereignis stattgefunden hat, welche Folgen es bereits gezeitigt hat und wie es sich vermutlich fortsetzen wird. Die Entscheidung fällt dem Subjekt manchmal schwer. Wollte ich in der Stadt bleiben, in der mich alles an Viktor erinnerte, oder wollte ich wieder nach Hause? Ich entschied mich nach langem Abwägen für meine alte Heimat.151 148 149 150 151

Härtling 2007: 43. Buggenhagen 1996: 42. Balmer 2006: 134. Ruscheweih 2005: 17.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Um sich entscheiden zu können, muss das Subjekt für sich klären, was es mit seiner willentlichen Handlung aus welchem Grund und zu welchem Zweck verändern will. Denn eine Entscheidung hat Folgen, die mehrere Lebensbereiche betreffen und weit in die Zukunft reichen. Hier […] informierte man mich über eine für mich neue Medikation: Imurek. Ich sollte es zwei Jahre nehmen, mit der Auflage einer guten Kontrazeption (Schwangerschaftsverhütung). Wollte ich schwanger werden, müsste ich Imurek ein halbes Jahr vorher absetzen. […] Zum damaligen Zeitpunkt wollte ich noch keine Kinder, ich empfand mich mit 25 Jahren noch als viel zu jung, um Mutter zu werden. Mit 28 Jahren hätte ich mir die Mutterrolle gut vorstellen können – aber jetzt? Daher war für mich klar, dass ich Imurek als vorläufige Medikation nehmen wollte, denn es sollte die Schubschwere mindern und den Abstand zwischen den Schüben verlängern. Ich entschied mich also für Imurek, mein Freund entschied sich gegen mich, da er unbedingt Kinder wollte.152 Die Entscheidung für ein Identitätsprojekt ist mit Affekten verbunden, und oft ist es geradezu eine Wahl zwischen verschiedenen Gefühlen, die das Subjekt zu treffen hat. Schon in den ersten »Aktiv«-Ausgaben fand ich das angebotene Seminarprogramm anziehend, aber die Idee da mitzumachen, beängstigend.153 Es ist nicht ungewöhnlich, dass widerstreitende Gefühle die Umsetzung begleiten. Ich begann mein zweites, mein bewußtes Leben. Ein Anfang voller Kraft und Schwäche, voller Mut und Angst, voll Festigkeit und Schwanken.154 Auch nach der Entscheidung für ein Identitätsprojekt und dessen Umsetzung in die Tat hat das Subjekt ambivalente Gefühle. Gleichzeitig sind sie schmerzhaft und beglückend. Denn die Folgen seines Handelns zeigen ihm auf, was es durch den körperlichen Umbruch verloren hat, wie sie ihm bestätigen, dass die bisherige Identität nicht völlig verloren ist. Da ich den vom Haus empfohlenen, schaurigen Jogginganzug abgelehnt habe, trage ich wieder meine Klamotten eines verbummelten Studenten. Genauso wie das Bad könnten meine alten Sachen schmerzliche Bahnen in meinem Gedächtnis auftun. Aber ich sehe darin eher ein Symbol, daß das Leben weitergeht. Und den Beweis dafür, daß ich noch ich selbst sein will.155 Durch die Umsetzung eines Identitätsprojekts vermag das Leben wieder sinnhaft zu werden. Wenn die Leute in meinem Zimmer aus- und eingingen, wurde ich zwar immer sehr müde, aber das war die Sache wert. Statt mich auf die Phantomschmerzen zu konzen-

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Ruscheweih 2005: 17. Lürssen 2005: 66. Buggenhagen 1996: 45. Bauby 1997: 19.

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trieren oder den Druck in der Hüfte, wachte ich jeden Morgen mit dem Gedanken auf: »Und was liegt heute an?«156 Aber die Hoffnung, die sich aus der erfolgreichen Umsetzung eines Identitätsprojekts ergibt, kann trügerisch sein. Nun hatte ich erst einmal Ruhe – eine Atempause. Mir ging es gut. Ich fühlte mich pudelwohl und sah neugierig in die Zukunft. Zu neugierig. Vor allem in Anbetracht eines neuen Medikamentes, von dem ich mir viel versprach.157 Manchmal ist die Zeit für eine Entscheidung noch nicht reif. Und ich weiss immer noch nicht, ob ich als Asche oder ganzer Körper beerdigt werden will.158 Bewertung der Umsetzung: Nachdem das Subjekt mit willentlichem Handeln auf den körperlichen Umbruch geantwortet hat, gehört es zur Identitätsarbeit, im reflexiven Prozess die erreichten Ergebnisse immer wieder aufs Neue zu bewerten. Bei seiner Bewertung hat das Subjekt unter anderem festzustellen, ob die Umsetzung seiner Identitätsprojekte den von ihm präferierten Identitätszielen entspricht und die Bedingungen seiner veränderten Körperlichkeit in ihrer somatischen, sozialen und psychischen Dimension genügend berücksichtigt. Es kann dabei feststellen, das beabsichtigte Ergebnis mit seinem Handeln nicht erreicht zu haben. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Wenn sich das beabsichtigte Ergebnis nicht erzielen ließ, kann es daran liegen, dass das Subjekt ein Identitätsprojekt wählte, mit dessen Umsetzung das Erhoffte nicht unbedingt zu verwirklichen war. Ende Oktober zogen wir um. Ich hatte gehofft, mit diesem Szenenwechsel auch eine Änderung zu mehr Glück herbeizuführen, aber zwei Wochen später flammte die Infektion wieder auf.159 Lange Zeit mag das Subjekt nicht merken, dass es mit dem gewählten Identitätsprojekt das gewünschte Ergebnis nicht erreichen wird, und unbeirrt fortfährt, es umzusetzen. Nun stürzte ich mich beharrlich in Nachforschungen, um alles herauszufinden, was es über die Krankheit zu wissen gab. Die Tatsache, dass bislang kein Fall bekannt war, der geheilt worden war, trieb mich zu manischen, größenwahnsinnigen Gedanken an. Es kam mir sogar in den Sinn, ich könnte für meine Forschung den Nobelpreis erhalten.160 Wenn die Bemühungen erfolglos blieben, kann es auch daran liegen, dass das Subjekt die veränderte Körperlichkeit nicht genügend berücksichtigte. Die Müdigkeit steigt in mir, als versänke ich im Moor. Ich bin kaum fähig, mich zu rühren, denke träg, nehme den kleinen Raum in Besitz, indem ich den Koffer abstelle, ins

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Mills 1996: 236. Ruscheweih 2005: 19. Balmer 2006: 131. Mills 1996: 244. Todes 2005: 17.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

Bad schaue und mich aufs Bett lege. Vielleicht habe ich mir doch zu viel vorgenommen.161 Dadurch, dass das Subjekt die veränderte Körperlichkeit und ihre Folgen zu wenig einplante, beginnt es an einem eigentlich sinnhaften Identitätsprojekt zu zweifeln. Nach der zweiten Amputation war ich sehr niedergeschlagen. Ich schien nicht weiterzukommen. Manchmal fragte ich mich, ob ich jemals eine Prothese bekommen würde. All meine Träume, wieder Tennis zu spielen, Ski zu laufen und zu tanzen, schienen vollkommen unrealistisch zu sein.162 Das Subjekt kann sogar in Lebensgefahr geraten, wenn es die veränderte Körperlichkeit nicht genügend in Betracht zieht. Dann ging ich allein zum Strand, mit vielen Ängsten, die durchaus berechtigt waren, wie ich bald spüren mußte, als ich mich im Wasser nicht halten konnte. Es drehte mich hilflos um die eigene Achse, ich geriet mit dem Kopf unter Wasser, zu meinem Glück war es an dieser Stelle sehr flach. Mit Hilfe kam ich schnell wieder auf die Beine und mit der Nase an die Luft.163 Wenn das Subjekt das angestrebte Ziel nicht erreicht, kann es schließlich daran liegen, dass die Umsetzung des Identitätsprojekts in die Tat nicht gelungen ist. So führt es seinen Misserfolg darauf zurück, dass es die veränderte Körperlichkeit in ihrer somatischen Dimension nicht genügend einbezog. Aber Mike hatte recht gehabt. Es war zu früh. Ich hatte übersehen, daß es ja nicht nur mein Bein war, sondern auch meine Hüfte. Als ich am nächsten Tag mit Fiona einkaufen ging und wieder ins Auto steig, hörte ich ein Klicken und merkte, daß ich meine Hüfte nicht bewegen konnte.164 Oder das Subjekt erklärt sich sein Scheitern damit, dass es die veränderte Körperlichkeit in ihrer sozialen Dimension unterschätzte. Noch am selben Tag hab’ ich den Betreuer angerufen, gefragt, ob ich mitmachen darf. »Komm vorbei«, lautete die knappe Auskunft. Ich kam und mußte um meine Akzeptanz kämpfen. Mein erster Versuch fand während der Arbeitszeit statt, ich trug einen weißen Kittel – und wurde erstmal ignoriert. Wollte da etwa eine Schwester mitspielen? Kein Wort, keine Beachtung, statt dessen Skepsis – ich trollte mich enttäuscht von dannen.165 Auch kann das Misslingen damit zu tun haben, dass das Subjekt die psychische Dimension der veränderten Körperlichkeit falsch beurteilte.

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Härtling 2007: 78. Mills 1996: 244. Peinert 2002: 89. Mills 1996: 239f. Buggenhagen 1996: 54.

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Ich will so viel und erreiche so wenig. Überall sehe ich Dinge, die ich gerne regeln möchte, ändern oder ordnen sollte, aber ich schaffe es nicht.166 Die Umsetzung des Projekts gelingt manchmal deshalb nicht, weil die körperlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind und ein Handeln an sich nicht geht. Ich werde müde, immer müder. Die Luft zum Atmen entwicht zwischen Luftröhre und Beatmungskanüle, die in meinem Luftröhrenschnitt sitzt. Ich spüre, dass mir wiederum ein Zustand der Bewegungslosigkeit, des Sich-nicht-Mitteilen-Könnens bevorsteht. Meine Arme und Beine werden immer schwerer, bis ich sie überhaupt nicht mehr bewegen kann. Mein Rumpf fühlt sich an, als würde er in die Bettmatratze versinken. Ich versuche mit aller Energie, das Schliessen meiner Augenlider zu verhindern, damit ich nicht völlig von meiner Umwelt ausgeschlossen werde. Es gelingt mir aber nicht. Mein Herz schlägt heftig und schnell, während mich Gedanken quälen, ob ich jemals wieder aus diesem lethargischen Zustand erwachen werde. Obschon ich weiss, dass ich wieder erwachen werde. Innerhalb weniger Sekunden kann ich mich nicht mehr bewegen und es ist dunkel. Ich höre, fühle und rieche alles um mich.167 Oder die Umsetzung des Projekts in die Tat glückt nicht, weil die sozialen Voraussetzungen nicht gegeben sind und die nötigen Ressourcen fehlen. Aber während dieses Krankenhausaufenthaltes hatte ich mich für einen Rollstuhl und gegen einen Rollator entschieden. Leicht und faltbar sollte der Rollstuhl sein. Auf den Vertreter der Firma, an die mich meine Krankenkasse verwiesen hatte, glaubte ich mich verlassen zu können. Aber bei dem Herrn war ich verlassen. Ich hatte ihm meine Vorstellungen deutlich gemacht – dachte ich. Das Ergebnis war eine Katastrophe.168 Es kommt vor, dass das Subjekt mehrere Durchläufe des reflexiven Prozesses benötigt, bis es versteht, warum es das beabsichtigte Ziel nicht erreichte. Manchmal dauert es lange, bis das Subjekt bei der Bewertung seiner Handlungen das richtige Ergebnis findet. Bisweilen stößt ihm plötzlich etwas zu, das ihm schlagartig bewusst macht, dass es falsch handelte. Diese Erkenntnis wirkt befreiend. Letzten Endes war der Rollstuhlschock heilsam. Die Dinge wurden klarer. Ich entwarf keine tollkühnen Pläne mehr […].169 Das Subjekt gibt das Identitätsprojekt auf, das zu nichts führte. Nach der Erholung im Krankenhaus gab ich mein Streben nach Selbstheilung und die dahinterstehende Theorie von Hysterie und Regression auf.170 Im Rückblick vermag das Subjekt den Fehler zu finden, der es zu einem Identitätsprojekt verleitete, das nicht gut zu verwirklichen war.

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Lürssen 2005: 43. Balmer 2006: 131. Ruscheweih 2005: 18. Bauby 1997: 13. Todes 2005: 58.

2. Bewältigung, Abwehr und der Prozess der Identität

So endete meine Erkundung eines Weges, der sich letztlich als Sackgasse entpuppte. Ich hatte mich selbst dort hineinmanövriert, indem ich einer Annahme gefolgt war, die sich als falsch erweisen sollte – dass Dopamin ein Botenstoff sei, der gleichermaßen bei Schizophrenie wie auch bei Parkinson auf entscheidende Art wirke.171 Mitunter erreicht das Subjekt das von ihm gewünschte Ergebnis erst, nachdem es über Versuch und Irrtum herausgefunden hat, was die dazu geeigneten Handlungen sind. Vier Jahre lang habe ich mich nun mit dem Problem herumgeschlagen, wie ich ohne Notizen in der Öffentlichkeit sprechen kann. […] Nachdem ich mein Augenlicht verloren hatte, probierte ich verschiedene Methoden aus, um eine Lösung für dieses Problem zu finden. Ich experimentierte mit einer auf eine Mikrokassette gesprochene Zusammenfassung, die ich wie einen Stichwortzettel benutzte. […] Manchmal sprach ich eine kurze Zusammenfassung dessen, was ich sagen wollte, in Abschnitte gegliedert auf Band. Diese Zusammenfassung spielte ich meinen Zuhörern vor und baute dann die einzelnen Abschnitte beim Sprechen weiter aus. […] Ich versuchte, mir selber zu soufflieren, indem ich die ganze Vorlesung oder eine Zusammenfassung auf Band aufnahm und einen Kopfhörer benutzte. […] Ich versuchte, in Braille geschriebene Stichworte zu verwenden. […] Am Ende gewöhnte ich mir an, eine Synopse aufzuzeichnen und mir die Kassette bis unmittelbar vor Vorlesungsbeginn immer wieder anzuhören.172 Durch seine Ausdauer oder durch die Unterstützung der Alterität erreicht das Subjekt trotz eines Fehlschlages doch noch das Ergebnis, das es mit seinem Handeln beabsichtigte. Alles ging [bei den heimlichen Testfahrten im Ueckermünder Wald; B.R.] bestens, bis ich [den Wartburg Tourist; B.R.] in ein Modderloch fuhr, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gab. Zwei Rollstuhlfahrer im Wald im Morast – was tun? Wir waren der Verzweiflung nahe. Zweige und Äste und schließlich tatkräftige Anschubhilfe meiner Mutter sorgten dafür, dass wir nach zwanzigminütigem Schlammbad – der Wartburg sah aus wie nach einem Geländecross – wieder »flott« waren.173 Seine übergeordneten Identitätsziele lassen das Subjekt auch Fehlschläge ertragen. Vielleicht habe ich nach der Diagnose den für mich richtigen Vorsatz gefunden. Damals schwor ich mir, dass ich meine beiden Kleinen selber großziehe. Unbewusst wurde MS zur Herausforderung, ich zog dagegen in den Kampf und kämpfe weiter. Damit meine ich, das Leben mit MS irgendwie in den Griff zu bekommen, danach zu leben. Für mich und meine Familie tragfähige Lösungen für all die Alltagsprobleme zu finden und testen.174 Doch selbst wenn die Umsetzung seiner Identitätsentwürfe und -projekte gelingt, kann das Subjekt unbefriedigt bleiben. Denn es hat noch übergeordnete Identitätsziele, die 171 172 173 174

Todes 2005: 66. Hull 1992: 142f. Buggenhagen 1996: 95. Lürssen 2005: 57.

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Körperlicher Umbruch

bis jetzt mit seinem willentlichen Handeln nicht verwirklicht sind. Dem Subjekt ist bewusst, dass es nach weiteren Identitätsentwürfen und -projekten suchen muss, auch wenn es anfangs gar nicht zu sagen weiß, wonach es sucht. Das war eine große Ehre, aber zugleich war mir die allgemeine Lobhudelei irgendwie unheimlich. Ich war mir nicht sicher, wo das Problem eigentlich lag. Es machte doch Spaß, wenn einem Auszeichnungen verliehen wurden und die Leute einen auf der Straße erkannten und ansprachen. Nicht, daß ich nicht dankbar dafür gewesen wäre, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß etwas fehlte.175

175

Mills 1996: 259.

3. »Urvertrauen zu einer Beatmungsmaschine?« – Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Für seine Identitätsarbeit ist das Subjekt auf Ressourcen angewiesen, die außerhalb seines Selbst liegen. Sie lassen sich als ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen näher beschreiben. Bei einer sicheren Bindung dient eine Ressource dem Subjekt als Selbstobjekt, das heißt die Ressource erweitert, stärkt oder stützt das Selbst. Sie lässt sich von außen nach innen transformieren, indem sie in eine andere Ressource überführt wird oder indem sie dem Subjekt Optionen für sein Handeln aufzeigt, ihm Relevanz vermittelt oder Halt gibt. Die Identitätsarbeit wird erleichtert, wenn Ressourcen reichlich, und erschwert, wenn sie gering vorhanden sind. Allein schon dadurch, dass das Subjekt nach Ressourcen zu suchen beginnt, verringern sich die Spannungen in der Identität. Mit Verweis auf die Bindungstheorie und die Objektpsychologie wird einleitend erläutert, wie bei einem körperlichen Umbruch die verschiedenen Ressourcen von außen nach innen transformiert werden (3.1). Mit vielen Beispielen aus den Erfahrungen des Subjekts wird im Weiteren dargelegt, welche Bedeutung dabei ökonomischen (3.2), kulturellen (3.3) und sozialen (3.4) Ressourcen zukommt. Zum Schluss wird noch darauf eingegangen, auf welche Weise sich das Subjekt Ressourcen für seine Identitätsarbeit erschließt (3.5). Das Kapitel zeigt, das das Subjekt die Identitätsarbeit bei einem körperlichen Umbruch nicht allein aus sich heraus zu leisten vermag, sondern stets auf die sozialen Systeme angewiesen ist, denen es angehört.

3.1

Von außen nach innen

Inanspruchnahme von Ressourcen: Ohne fortlaufend Ressourcen für sich in Anspruch zu nehmen, die außerhalb des Selbst liegen (vgl. Ahbe 1998: 212f., mit Bezug auf Bourdieu), vermag kein Subjekt sein Leben zu erhalten; nur narzisstisch Gestörte meinen, sie nicht zu brauchen. Wie das Subjekt darauf angewiesen ist, ständig Inneres nach außen geben zu können, muss es auch dauernd Äußeres nach innen nehmen, wenn es nicht sterben will. All die Ressourcen, die es heute für sein Über- und Weiterleben be-

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Körperlicher Umbruch

ansprucht, entstanden über die Zeit hinweg und wurden von ihm oder der Alterität zu einem Zeitpunkt angelegt, als die Notwendigkeit, sie zu nutzen, noch nicht abzusehen war. Gerade wenn die Ressourcen von der Alterität angelegt wurden, beachtete das Subjekt sie oft gar nicht, bevor es sie in Anspruch nehmen musste. Unabhängig davon, wer sie anlegte, ob es durch das Subjekt geschah oder durch die Alterität, bedeutet es, um die Vergänglichkeit und Begrenztheit des Seins zu wissen und sich in einer zeitlichen Kontinuität zu erleben. Denn die Anlage von Ressourcen verlangt die Bereitschaft, in der Gegenwart auf etwas zu verzichten, um gegen eine mögliche Unbill in der Zukunft gewappnet zu sein. Allen Ressourcen, ob sie materiell, kulturell oder sozial sind, ist weiterhin gemeinsam, dass auch sie begrenzt und damit irgendwann einmal erschöpft sind. Häufig begegnete ich aber Ärzten, die mir einige Möglichkeiten aus Resignation, Egoismus (Angst, für meine Entscheidung zu sterben verantwortlich zu sein), eigener Verdrängung und Mitleid gegenüber der schwerkranken Patientin vorenthalten haben.1 Auch sind die Ressourcen bisweilen zu schwach, als dass sie wirklich Abhilfe schaffen könnten. Wochenlang war ich krankgeschrieben, Untersuchung auf Untersuchung erfolgte, doch auch das komplette ärztliche Arsenal – »physiotherapeutische Behandlungen mit Fangopackungen, Kurzwellen, Kurzwellen-Massage, Extensionen am Perl’schen Gerät und selektive Reizstrombehandlung«, wie ein Protokoll attestierte – besserte meinen Zustand nicht.2 Oder die Ressourcen sind von zu minderem Wert. Und ich sah fern. Das war dann eine Hölle der ganz anderen Art. Ich wusste ja gar nicht, welch unerträglicher Irrsinn am Nachmittag ausgestrahlt wird. Egal wohin ich zappte, überall erbärmlicher Schrott.3 Wie sehr die Ressourcen fortlaufend die alltägliche Identitätsarbeit beeinflussen und gestalten, ist dem Subjekt meist kaum bewusst. Üblicherweise wirken sie, ohne dass ein Bewusstsein dafür besteht, dass sie es tun und wie sie es tun. Die Bedeutung, die die Ressourcen für den Erhalt der Identität oder, falls erforderlich, auch für deren Umbau haben, ist oft nur daraus zu erschließen, dass das Subjekt es unmittelbar als Bedrohung erlebt, wenn etwas ihre Verfügbarkeit einschränkt. Es gefährdet sein Leben. Die Folge der unterlassenen Hilfeleistung war fatal, fast letal: Mich holte innerhalb weniger Wochen die vierte schwere Blutvergiftung ein.4 Die Begrenztheit der Ressource löst Affekte aus. Während die Monate langsam verstrichen, wuchs in mir ein Gefühl der Enttäuschung. Meine Hoffnungen auf einen Erfolg der Operation waren groß gewesen. […] Alle drei 1 2 3 4

Balmer 2006: 57f. Buggenhagen 1996: 34. Lesch 2002: 109. Balmer 2006: 54.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Monate, später halbjährlich, fuhr ich zum Krankenhaus. Trotz der Versuche des Professors, mir Mut zu machen, und seinen Ermahnungen, ihn nicht »im Stich zu lassen«, waren meine Hoffnungen mittlerweile fast auf dem Nullpunkt.5 Transformation von Ressourcen: Um Ressourcen außerhalb des Selbst für die Identitätsarbeit zu nutzen, muss das Subjekt sie von außen nach innen transformieren. Dabei lassen sich zwei Möglichkeiten unterscheiden (vgl. Keupp et al. 1999: 201–204): Zum einen lassen sich die verschiedenen Ressourcen ineinander überführen. Das Subjekt, das durch seine Alterität über soziale Ressourcen verfügt, erhält dadurch, dass es sie in Anspruch nimmt, beispielsweise Zugang zu ökonomischen Ressourcen. Einige gut betuchte Freunde boten mir sofort das Geld für einen Flug an.6 Ebenso erschließen soziale Ressourcen kulturelle Ressourcen. Die Schwester auf der Intensivstation ist sehr nett und fachlich absolut auf der Höhe. Soweit ich das beurteilen kann. Sie kommt mit einer ziemlich dicken Spritze, in der eine farblose Flüssigkeit ist, und zieht sie zu einem Drittel auf. Dann öffnet sie das Tankstellenventil auf meiner rechten Hand, klemmt die Spritze an und drückt mir die Medizin in den Arm. […] Dann schwappt mir eine Welle SCHÖN und GUT und MEHR durch das Hirn. Dann bekomme ich eine Erektion. Dann glühen alle meine großen und kleinen Adern und mein Fleisch lebt. Dann ist mein Kopf voller Musik (Life on Mars von David Bowie). Dann registriere ich mit einem Gedankenwinkel diesen typischen metallischen Geschmack auf meiner Zunge, den ich von Kokain kenne. Hahaha, jetzt weiß ich, was das für ein Schmerzmittel ist.7 Oder soziale Ressourcen führen zu anderen sozialen Ressourcen. Ein mehrwöchiger Aufenthalt in einer süddeutschen Fachklinik und die dortige physiotherapeutische Behandlung durch ein Team von neurologisch geschulten Fachkräften, zu der meine hiesige Therapeutin nachdrücklich geraten hatte, hat sich als besonders hilfreich erwiesen.8 Zum anderen können die verschiedenen Ressourcen auf drei Arten in den Identitätsprozess einwirken: Erstens zeigen Ressourcen dem Subjekt Optionen für sein weiteres Handeln auf. Sie regen es zu Identitätsentwürfen und -projekten an. Da ich vorhatte, viel Sport zu treiben, empfahl mir Bob zusätzlich einen flexiblen Fuß mit einem »aktiven« Knöchel, den man zweifach benutzen konnte, je nach Sportart. »Zum Schwimmen stellt man ihn auf locker, aber zum Eislaufen etwa muß man ihn feststellen«, erklärte er. Oder zum Rollschuhlaufen, dachte ich.9 In der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer Ressource erhält das Identitätsprojekt die Gestalt, in der das Subjekt es zu verwirklichen versteht. Das Identitäts5 6 7 8 9

Todes 2005: 148. Todes 2005: 116. Huth 2003: 25f., Versalien und Kursivierung im Original. Peinert 2002: 91. Mills 1996: 252.

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projekt wird dadurch bereichert und geht über die anfängliche Vorstellung des Subjekts hinaus. Zuerst telefonierte ich mit meiner besten Freundin Dana, die mich zu Hause an zwei Tagen wöchentlich morgens pflegt. Spontan stellt sie sich zur Verfügung, Samstag ab 18.00 Uhr bis Sonntagnachmittag bei mir in meiner Wohnung zu bleiben. Ich rufe Ella, eine andere Pflegerin, an. Auch sie freut sich mit mir, dass ich übers Wochenende endlich mal wieder nach Hause kann. Sie übernimmt die Zeit von Samstagmittag bis Samstagabend inklusive Kochen meines Lieblingsmenus.10 Zweitens vermitteln Ressourcen dem Subjekt Relevanz. Die von ihm genutzten Ressourcen beinhalten einen Maßstab, der es ihm zu beurteilen erlaubt, was von einer Identitätsarbeit als wertvoll anzusehen ist und was die Alterität anerkennt. Ich erinnere mich gut, wie sorgfältig der Pfleger C. und Schwester A. immer wieder darauf aufmerksam machten, daß Arm und Fuß besser gelagert werden müßten, während ich die beiden Gliedmaßen gar nicht spürte. Wie oft hat C. mit Humor und unendlicher Geduld gefragt: »Wo ist der Arm?« Für all diese Fürsorge bin ich sehr dankbar, ohne sie hätte ich heute wahrscheinlich sehr viel mehr Schmerzen im Arm und deutlich weniger Beweglichkeit.11 Auch zeigen die Ressourcen ganz grundlegend auf, was das Subjekt tun muss, um am Leben zu bleiben. Der Pfleger musste mich immer wieder aus meinem beinahe komatösen Schlaf wecken, damit ich meine Atemmuskeln zu etwas besserer Atmung aktivierte und nicht gänzlich für immer und ewig einschlief.12 Die Ressourcen machen dem Subjekt ferner bewusst, was richtig oder falsch ist und worauf es jetzt ankommt. Bei der Bewältigung dieser momentanen Krise hilft mir Marilyn viel, die mir immer wieder sagt, daß ich nicht so viel von mir fordern, daß ich keine solchen Erwartungen haben darf.13 Außerdem unterstützen die Ressourcen das Subjekt darin, für sich klar zu bekommen und zu entscheiden, welche seiner Identitätsentwürfe und -projekte sich lohnen, weiter verfolgt und in die Tat umgesetzt zu werden. Und doch geschah etwas Seltsames in mir. Als Professor Schoenemann mir seine Vermutung mitteilte: »Herr Lesch, ich glaube, Sie haben Morbus Hodgkin«, war mein erster Gedanke: Das hat Paul Azinger auch gehabt. Azinger war damals 33 Jahre alt, als er von einer Sekunde auf die andere die Diagnose erfuhr: Krebs! Morbus Hodgkin. Azinger hat den Krebs innerhalb von zwei Jahren total besiegt. Mit Chemotherapie. Chemotherapie. Auch so ein verdammtes Wort. »Egal, Michael«, schoss es mir durch den 10 11 12 13

Balmer 2006: 88. Peinert 2002: 82. Balmer 2006: 75. Hull 1992: 137.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Kopf. »Egal was auch passiert: Was Paul Azinger geschafft hat, das schaffst du auch. Verdammt noch mal, Michael, das schaffst du!«14 Drittens geben Ressourcen Halt. Sie helfen dem Subjekt die Identitätskrise zu bewältigen, in die es durch den körperlichen Umbruch geraten ist. Schwester Monika würde mich betreuen, auch zu Hause, sie würde alles erledigen: Die Platte zweimal in der Woche abmachen, alles säubern, alles eincremen. Denn das war es, was ich eben nicht konnte und nicht wollte: Ich wollte diesen Darmausgang nicht ansehen, konnte nicht anschauen, wie daraus meine Scheiße drang. Schwester Monika war Profi – und sie hat mir enorm geholfen.15 Dabei verhindern die Ressourcen, dass das Subjekt die Angst ertragen muss, die mit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit einhergeht. Ein paar Stunden, nachdem wir es uns auf dem Schiff gemütlich gemacht hatten, musste ich den angesammelten Schleim in den Bronchien abhusten. Dazu verwende ich ein spezielles Abhustgerät. Es presst Luft in die Lungen und saugt diese wieder wie ein Staubsauger heraus, indem das Gerät ein Vakuum aufbaut. Insider nennen das Abhustgerät deshalb liebevoll »Staubsauger«. Das Ding ist ein wahrer Segen. Wenn es funktioniert. Wenn nicht, wird es unangenehm.16 Indem ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen dem Subjekt Halt bieten, machen sie ihm die mit dem körperlichen Umbruch einhergehenden Affekte erträglich. Ein Arzt verordnete mir Schmerz- und Beruhigungsmittel, um wenigstens für den Moment Hilfe zu leisten.17 Das geschieht, indem die Inanspruchnahme einer Ressource unmittelbar auf die körperlichen Veränderungen einwirkt, oder indem sie hilft, sie verstehbar zu machen. [N]ach kurzer Zeit sah es so aus, als würde das Transplantat vom Körper abgestoßen. Der Grund sei, so Dr. Morgan, wahrscheinlich eine darunterliegende Restinfektion. »Solche Dinge dauern lange«, sagte er. »Versuchen Sie, Geduld zu haben. Wir schaffen es schon.«18 Damit ergänzt die Inanspruchnahme einer Ressource vorhandene Bewältigungsstrategien. Der Arzt […] sollte Recht behalten: Je mehr ich mich von der lebensbedrohlichen und Angst bringenden Situation entfernte, je mehr Zeit seit der angstvollen Phase verstrich und ich meine Wunden lecken konnte, umso mehr löste ich mich von der realen Angst.19

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Lesch 2002: 22. Lesch 2002: 107. Balmer 2006: 19. Buggenhagen 1996: 30. Mills 1996: 229f. Balmer 2006: 94.

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Wenn es nach einem Ereignis wie dem körperlichen Umbruch zur Identitätsarbeit kommt und dafür Ressourcen benötigt werden, ist nicht nur wichtig, dass das Subjekt über sie verfügt, sondern es muss auch klären, wie es sie der Identität zugänglich macht und in in ihren Prozess einbringt. Fakten: 1. Ich will nach Hause. 2. Ich muss meinen Elektrorollstuhl, meine Nachtbeatmungsmaschine, mein Absauggerät, mein sonstiges Gepäck mitnehmen. 3. Ich brauche eine 24-Stunden-Anwesenheit einer Pflegerin für Samstag und Sonntag. 4. Ich brauche für die Hin- und Rückreise einen Transport. 5. Ich brauche für die Hin- und Rückreise die Begleitung einer Pflegerin.20 Selbstpsychologische und bindungstheoretische Erklärungen: Ob das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch Ressourcen außerhalb seines Selbst für die Identitätsarbeit zu nutzen weiß, lässt selbstpsychologisch oder bindungstheoretisch ableiten: Die Selbstpsychologie erklärt dabei, wie das Subjekt überhaupt dazu kommt, Ressourcen für seine Identitätsarbeit in Anspruch zu nehmen. Denn von Geburt an besteht die Anlage, reale Objekte oder, falls die reale Umwelt auf die spezifischen Selbstobjekt-Bedürfnisse nicht einzugehen vermag, auch durch die Fantasie geschaffene wie einen Teil des Selbst zu nutzen. Das Subjekt vermag sie entweder zu verinnerlichen, um dadurch das Selbst zu erweitern, sich mit ihnen zu verbinden, um dadurch das Selbst zu stärken, oder sich auf sie zu stützen, um dadurch dem Selbst Halt zu geben. Da von klein auf bis zum Tod Selbstobjekte gebraucht werden, um sich zu entwickeln, wird die Gewissheit des Subjekts, berechtigten Anspruch auf Selbstobjekte zu haben, als wesentliches Merkmal psychischer Gesundheit angesehen. Doch kann die Fähigkeit, ein Selbstobjekt in Anspruch zu nehmen und in diesem die benötigten Funktion wachzurufen, auf Dauer gestört sein, wenn das Subjekt in der frühen Kindheit wiederholt erleben musste, dass das von ihm gewählte Objekt nicht bereit oder fähig war, die an es gerichteten Bedürfnisse angemessen zu beantworten, und wenn dieses Objekt auch die durch sein Versagen hervorgerufenen Gefühle nicht anzunehmen vermochte (vgl. Bacal/Newman 1994). Die Bindungstheorie erklärt genauer, wie sich das Subjekt auf eine Ressource bezieht. In der frühen Kindheit können drei verschiedene Bindungsmuster erworben werden: Eine sichere Bindung gibt dem Subjekt das Vertrauen, seine Umwelt zu erkunden, und das Bewusstsein, fremder Hilfe würdig zu sein, wenn es in Not ist. Eine unsicher-vermeidende Bindung lässt das Subjekt die Hilfe der Anderen meiden, wenn es ihrer eigentlich bedarf, erwartet es doch ihre Zurückweisung. Eine unsicher-ambivalente Bindung führt dazu, dass das Subjekt zwischen dem Suchen und dem Vermeiden einer Halt gebenden Beziehung schwankt, und dass es aus Furcht, abgelehnt zu werden, die Anderen entweder idealisiert, wenn es sie braucht, oder entwertet, wenn sie seinen Ansprüchen nicht Genüge tun (vgl. Bowlby 1999: 24f.). Damit bedingt die innere Struktur von Selbst und Identität nicht nur, wie ein Geschehnis mit Vorerfahrungen verknüpft wird und das Subjekt dadurch das eigentliche Ereignis schafft oder wie das Subjekt darauf mit Identitätsentwürfen und -projekten

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Balmer 2006: 87f.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

antwortet, sondern auch, wie es Ressourcen außerhalb des Selbst für die Identitätsarbeit zu nutzen weiß. Bei einem Ereignis wie dem körperlichen Umbruch nimmt das Subjekt demnach Ressourcen insoweit in Anspruch, wie seine angeborene Fähigkeit, Objekte als Selbstobjekte zu nutzen, nicht beeinträchtigt ist und wie es zu den Ressourcen eine sichere Bindung einzugehen vermag. Beziehungsaufnahme: Unabhängig davon, ob es sich um eine ökonomische, kulturelle oder soziale Ressource handelt, muss das Subjekt beim körperlichen Umbruch zu ihr in eine Beziehung treten, um sie für seine Identitätsarbeit in Anspruch zu nehmen. An einem der schönen Sommertage, als alle Welt in leichter Kleidung an den Strand ging, sah ich einen jungen Mann in einem T-Shirt mit der provozierenden Aufschrift: »Just Do It!« Das schien mir sofort ein Motto für mich zu sein. Es galt, die scheinbaren Unmöglichkeiten einfach zu tun.21 Nur dann, wenn eine Beziehung zustande gekommen ist, wird die Ressource von außen nach innen transformiert. Sie erhält eine subjektive Bedeutung. Es hat mich auch getröstet, daß ich die Worte aus dem berühmten Gebet von Paul Tillich, »Du bist angenommen«, auf mich bezog. Ich bin in meinem Blindsein angenommen. Ich bin als Blinder angenommen.22 Manchmal sind es bei der ungerichteten Offenheit, mit der das Subjekt nach Ressourcen sucht, glückliche Umstände, die dazu führen, dass es sie findet. Der Zufall kam mir zu Hilfe, als ich eines Tages auf dem Weg zu meiner Arbeitsstätte im Klinikum Buch Rollstuhl-Basketballer beim Training sah. Ich war fasziniert: Welch eine Wendigkeit, welche Schnelligkeit, welche Tricks auf engstem Raum! Nie für möglich gehalten hätte ich es, daß man mit dem sperrigen Rollstuhl sich so rasant und elegant zugleich drehen und wenden konnte. Das gab es doch gar nicht! Wie machten die das? Ich konnte nicht wegsehen, hatte eine fast kindliche Freude an dem, was mir die Männer vorexerzierten. Ich wollte mich auch so gut bewegen können.23 Wenn sich das Subjekt auf eine Ressource bezieht, kann dieser Schritt Krankheitsbewältigung sein oder als Teil der Identitätsarbeit von übergeordneten Identitätszielen bestimmt sein. Unter allen Himmelsstrichen hat man für mich die verschiedensten Geister angerufen. Ich versuche etwas Ordnung in diese weitläufige Bewegung der Seelen zu bringen. Wenn ich erfahre, daß man für mich in einer bretonischen Kapelle einige Kerzen angezündet oder in einem nepalesischen Tempel ein Mantra psalmodiert hat, weise ich diesen spirituellen Veranstaltungen gleich einen bestimmten Zweck zu. So habe ich mein rechtes Auge einem Marabut in Kamerun anvertraut, der von einer Freundin beauftragt ist, die Götter Afrikas für mich gnädig und milde zu stimmen. Und wegen

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Peinert 2002: 88. Hull 1992: 137. Buggenhagen 1996: 53f.

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der Hörstörungen verlasse ich mich auf die guten Beziehungen, die eine Schwiegermutter mit frommem Herzen zu den Mönchen einer Bruderschaft in Bordeaux hat. Sie weihen mir regelmäßig ihre Rosenkranzgebete, und manchmal schleiche ich mich in ihre Abtei, um die Gesänge gen Himmel steigen zu hören.24 Im Umgang mit den Ressourcen ergänzen sich Bewältigung und Identitätsarbeit. Im Krankenhaus hatte ich einen Brief von einem Mike Hammond bekommen, der selbst ein Bein verloren hatte und nun eine künstliche Skipiste in Harlow betrieb, wo auch das Team für die Behindertenolympiade trainierte. Er hatte in einem Zeitungsartikel gelesen, daß ich unter anderem davon träumte, wieder Ski zu laufen, und so wollte er mich nach Harlow einladen, um es auszuprobieren. Ich rief ihn an und fragte, ob ein Fernsehteam kommen und filmen könnte, wie er mir Unterricht gab.25 Es ist die eigene Not, die das Subjekt dazu bringt, sich auf eine Ressource zu beziehen. »Sie hatten Recht, Herr Professor«, sage ich. »Die Operation bei meinem Freund war erfolgreich. Gestern Abend hat er mir den Befund vorbeigebracht. Ich habe Morbus Hodgkin, Herr Professor. Ich vertraue Ihnen. Ich möchte, dass Sie mich behandeln.«26 Das Subjekt hofft, durch die Beziehung zur Ressource etwas zu erreichen, was ihm bei seiner Identitätsarbeit dienlich ist. Es muss erkannt haben, dass die Ressource etwas beinhaltet, was ihm fehlt und was es sich anzueignen vermag, wenn es sich auf sie einlässt. Ich nahm mir Vorbilder, Menschen, die nach einem Schlaganfall oder auch durch schwere Kriegsverletzungen einmal ähnlich hilflos gewesen waren wie ich und die es geschafft hatten. Wenn das Subjekt eine Ressource gewählt hat, die seinem Zweck zu entsprechen scheint, und zu ihr eine Beziehung eingegangen ist, weiß es noch nicht, ob sie sich dafür nutzen lässt. Die Ungewissheit zu ertragen, ist mühsam. Ich liess deshalb bei einem Professor, einem Facharzt für Lungenkrankheiten am Universitätskrankenhaus, eine Besprechung vereinbaren. Es war entsetzlich, vier Stunden auf den Facharzt warten zu müssen.27 Manchmal erfolgt keine Antwort. Ich schrieb an Dr. Perlow und bot mich als meiner Ansicht nach geeignete Testperson für Untersuchungen am Menschen an, sollte er zu diesen bereit sein. Zu meiner Enttäuschung bekam ich keine Antwort aus Washington. Als Nächstes schrieb ich an Dr. Barnard in der Annahme, er könne als höchst profilierter, anerkannter Forscher die Dinge in Gang setzen: […] Auch Prof. Barnard ließ nichts von sich hören.28

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Bauby 1997: 14f. Mills 1996: 239. Lesch 2002: 44. Balmer 2006: 58. Todes 2005: 112, 113.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Ressource und bisherige Identität: Damit das Subjekt eine Ressource in Anspruch nehmen kann, braucht es Vertrauen. Die Beatmungsmaschine schreibt mir vor, wie schnell »ich« atme, in welchen Intervallen die Atemzüge meine Lunge aufblasen. Um nicht in Panik zu geraten, brauche ich ein unendlich tiefes Vertrauen zu der Maschine, die meine Atemmuskelarbeit ersetzt. Urvertrauen zu einer Beatmungsmaschine?29 Das Subjekt muss den Willen aufbringen, Grenzen seiner Identität zu überwinden. Schon in den ersten »Aktiv«-Ausgaben fand ich das angebotene Seminarprogramm anziehend, aber die Idee, da mitzumachen, beängstigend. Drei Tage und zwei Nächte mit wildfremden MS-Kranken zusammengesperrt und keine Möglichkeit, mal alleine zu sein. Die Themen schienen alle extra für mich und meine Probleme ausgesucht und die Veranstaltungen fanden an reizvollen Orten statt, wie zum Beispiel Soest, in einem Schloss oder MS-Kliniken, die ich auch mal kennen lernen wollte (wenn auch nicht unbedingt als Patient). Kurz nach Gründung der Selbsthilfegruppe, entschloss ich mich an einem Seminar über »Blasenstörungen« teilzunehmen. Bei solch einem rein medizinischen Thema, glaubte ich, würde es nicht so persönlich zugehen.30 Auch muss das Subjekt sich flexibel zeigen. Denn es kann sein, dass es zuerst eine Ressource, die ihm leichter zugänglich ist, in Anspruch nehmen muss, um sich dann mit deren Hilfe eine andere zu erschließen. Ich hatte noch nie eine Therapie gemacht, aber die meisten amerikanischen Patienten schienen darin alte Hasen zu sein. Anfangs fand ich es sehr schwierig, meine innersten Gefühle auszugraben, aber als ich hörte, wie andere sich dort öffneten, begann auch ich langsam zu reden.31 Darüber hinaus muss das Subjekt Frustrationstoleranz aufbringen. Denn auch wenn es eine Ressource gewählt und sie in Anspruch genommen hat, erfüllt sie nicht unbedingt sofort die Erwartungen, die mit ihr verbunden gewesen sind. Ich war sehr erstaunt, ja zunächst fast enttäuscht, als die Krankengymnastik nach der neurologischen Methode Bobath meiner Einschätzung nach ungewöhnlich sanft ansetzte und – statt mich zu fordern – eher angenehm entspannend war. […] Erst langsam begriff ich, daß dies die einzig mögliche und Erfolg versprechende Methode sein konnte; daß meine Nerven nur so wieder in die früher einmal gelernten Bahnen finden konnten, um wieder normale Muskelaktivitäten zu ermöglichen.32 Die übergeordneten Identitätsziele helfen dem Subjekt, die Inanspruchnahme einer Ressource auch dann weiter zu betreiben, wenn es ihm zuerst einmal nicht sinnhaft erscheint.

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Balmer 2006: 37. Lürssen 2005: 66f. Mills 1996: 246. Peinert 2002: 58.

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Körperlicher Umbruch

Das erste Treffen [der Selbsthilfegruppe; B.R.] fand erst Anfang 1986 statt. Es war schrecklich, so viele Rollstühle, zu viele Helfer und trotzdem wurde über MS wenig geredet. Dafür aber Kaffee trinken und allgemeines »Blabla« mit gemeinsamer Gymnastik am Tisch. Ein Alptraum. Aber mein Pflichtbewusstsein als Sprecherin hielt mich in der Gruppe.33 Wenn das Subjekt die Enttäuschung ausgehalten und die aufgenommene Beziehung trotzdem aufrecht erhalten hat, zeigt sich bisweilen im weiteren Verlauf, dass es sich lohnte, die Ressource in Anspruch genommen zu haben. Der Rollstuhl und ich, das war keine Liebe auf den ersten Blick, sondern scheue, langsame Annäherung. […] Durch den Rollstuhl, das begriff ich endlich, wurde ich nicht stärker behindert, sondern er nahm mir sogar Behinderungen. Was ich hinkend, schleppend, fallend schon lange nicht mehr erreicht hatte, wurde nun rollend wieder erreichbar. Nicht einfach und unkompliziert, aber immerhin machbar.34 Eine Ressource kann lange unerschlossen bleiben, weil sie zwar vorhanden war, als solche vom Subjekt aber nicht erkannt wurde. Abgesehen von gelegentlichen Gesprächen mit John Lorimer, dem blinden Braillespezialisten, der zum Lehrkörper unserer Fakultät gehört, habe ich fast nie Kontakt zu anderen Blinden, obwohl es inzwischen fünf Jahre her ist, daß ich selbst blind geworden bin.35 Sich auf mögliche Ressource zu beziehen, unterbleibt, weil es dem Selbstbild des Subjekts widerspricht, sich darin wiederzufinden. Mit der Parkinson-Erkrankung assoziierte ich schlurfende, sabbernde und sprachgeschädigte alte Frauen und Männer in den Ambulanzen der Krankenhäuser, in denen ich gearbeitet hatte.36 Das Subjekt nimmt eine mögliche Ressourcen auch deshalb nicht in Anspruch, weil es sich dafür bewusst seiner körperlichen Begrenztheit stellen und die damit ein einhergehende Kränkung seines Selbst aushalten muss. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass der Einsatz von Hilfsmitteln sehr weit in den Hintergrund geschoben wird: lieber bin ich schwankend und unsicher gelaufen und dadurch viel gestolpert mit der Folge, dass ich auch regelmäßig die Erde geküsst habe. Aber trotzdem habe ich mich einfach nicht überwinden können, einen Rollator zur Hilfe zu nehmen: wie sieht denn das aus, mit 30 Jahren eine Gehhilfe zu benutzen?37 Wenn sich für das Subjekt die Notwendigkeit nicht länger umgehen lässt, eine Ressource zu beanspruchen, ergibt sich daraus manchmal ein spannungsvoller Gegensatz zu einem übergeordneten Identitätsziel, der sich erst allmählich auflösen lässt. 33 34 35 36 37

Lürssen 2005: 64. Buggenhagen 1996: 44. Hull 1992: 195. Todes 2005: 15. Ruscheweih 2005: 52.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Ich sollte in einer Institution, einer so genannten WG, untergebracht werden. Oh, war mir das ein Graus! Die vielen Vorurteile, die ich gegenüber dieser Institution gehört hatte, konnte ich gar nicht aufzählen. Ich befürchtete, meine Selbstbestimmung gänzlich aufgeben zu müssen, was sich jedoch später als Irrtum erweisen sollte.38

3.2

Ökonomische Ressourcen

Formen und Bedeutung: Als ökonomische Ressourcen werden jene Ressourcen bezeichnet, die sich unmittelbar in Geld umsetzen lassen. Dazu gehört alles, was im weitesten Sinn als Besitz anzusehen ist, nämlich Aktien, Renten, Versicherungen, Kunstwerke, Mieteinnahmen, Pachterträge, Grund und Boden oder Produktionsmittel (vgl. Keupp et al. 1999: 199). Unter ihnen sind es vor allem die Versicherungen, die bei einem körperlichen Umbruch bedeutsam sind. Dabei erschließt ein ähnliches körperliches Geschehen dem Subjekt die Versicherungen in unterschiedlicher Weise. Wenn die Wirbelsäule durch lebenslangen Verschleiß erheblich geschädigt ist, übernimmt zwar die Krankenkasse den wesentlichen Teil der Kosten für die medizinische Behandlung, aber es kann für das Subjekt äußerst schwierig werden, wegen dieser Veränderung seiner Körperlichkeit eine Rentenzahlung zu erreichen. Wenn aber vergleichbare Schäden durch einen von Dritten verursachten Unfall entstanden sind, übernimmt die zuständige Unfallversicherung nicht nur die Kosten der Behandlung, sondern bezahlt darüber hinaus auch eine Rente oder ein Schmerzensgeld. Die Leistungen der Versicherungen helfen, mit dem körperlichen Umbruch umzugehen, indem sie das Subjekt finanziell absichern. So bezahlt die Krankenversicherung für eine gewisse Zeit ein Krankengeld, übernimmt die Berufsunfähigkeitsversicherung oder die Rentenversicherung ganz oder teilweise den Aufwand für den Lebensunterhalt und zahlt die Unfallversicherung zusätzlich eine Entschädigung, falls der körperliche Umbruch durch einen Unfall bedingt ist. Die zustehenden Leistungen in Anspruch zu nehmen, stellt einen Einschnitt in der Kontinuität des subjektiven Erlebens dar. Infolge der auf unbestimmte Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden körperlichen Veränderungen wird dem Subjekt eine neue soziale Rolle zugewiesen. 1974 wurde ich erstmals berentet. Invalidenrentner […].39 Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit führt dazu, dass sich der Stellenwert der ökonomischen Ressourcen ändert. Während eine vorher bestehende hohe Relevanz der ökonomischen Ressourcen für die Identitätsarbeit nachlässt und andere, vor allem soziale Ressourcen, relevanter werden, erhalten ökonomische Ressourcen jedoch dadurch eine besondere Bedeutung, dass sie in andere überführbar sind, und zwar vor allem in soziale. Zu nennen ist vor allen anderen die Krankenversicherung, da sie den Zugang zu den Spezialisten des Gesundheitswesens schafft und erhält.

38 39

Balmer 2006: 33. Buggenhagen 1996: 39.

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Körperlicher Umbruch

Nach drei Wochen rief ich meine Krankenkasse an: »Ich tue alles, um so schnell wie möglich wieder arbeitsfähig zu sein, aber ich brauche noch etwas Zeit.« Die Antwort: »Kein Problem, Herr Lesch. Wir wissen, wie hart Sie an sich arbeiten. Ihr Arzt hat uns bereits über Ihren aktuellen Genesungszustand informiert und eine Verlängerung Ihrer Reha beantragt.«40 Mögliche Transformationen: Damit das Subjekt Versicherungen als ökonomische Ressource nutzen und sie zur Bewältigung des Umbruchs einsetzen kann, muss es zuvor den Anspruch erworben und die Berechtigung nachgewiesen haben. Während das eine dadurch erfolgt, dass Beiträge entrichtet wurden, geschieht das andere dadurch, dass ein Arzt die medizinische Notwendigkeit feststellt. Mein Neurologe hat zwar etwas gestutzt, aber er hat das Rezept ausgestellt. Jetzt hoffe ich nur, dass die Krankenkasse sich nicht quer stellt.41 Sind die Voraussetzungen erfüllt, geht die Erlaubnis zur Überführung der Ressource in eine andere mit Erleichterung einher. Die Genehmigung für die Rollstuhlfinanzierung ist da.42 Indem Versicherungen die verordneten Heil- und Hilfsmittel bezahlen, wird die Bewältigung des körperlichen Umbruchs und die erforderliche Identitätsarbeit erleichtert. Denn aus dem materiellen Besitz heraus sind für das Subjekt die medizinischen Maßnahmen zur Behandlung der körperlichen Veränderungen oder zur Verringerung ihrer Folgen meist nicht zu bezahlen. Der Nachteil von Bobs Beinen war der Preis: Sie kosteten zwischen 4 500 und 10 000 Mark. Das konnten sich die meisten Behinderten, von denen viele Rentner waren, nicht leisten, und ihnen blieb daher nur das Standardbein.43 Die Ressource des Fachwissens, über das die Spezialisten des Gesundheitswesen und die Fachleute in den Institutionen des Sozialwesens verfügen, lässt sich in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende nicht immer von allen Mitgliedern des sozialen Makrosystems in dem Umfang in Anspruch nehmen, wie sie es benötigen. Die Begrenzung der ökonomischen Ressource und die Unmöglichkeit ihrer Überführung in eine soziale Ressource verschlechtert die Lebenszeit quantitativ und qualitativ. Das Subjekt teilt den Verantwortlichen seinen Unmut mit: Auch bei meiner mich stets kompetent und zuverlässig ins nächstgelegene Spital begleitende Pflegefachfrau sind noch Geldbeträge seitens Ihrer Krankenversicherung offen. Dies führt leider dazu, dass diese Pflegefachfrau verständlicherweise nicht mehr dazu bereit ist, mich ins Spital zu begleiten.44

40 41 42 43 44

Lesch 2002: 168. Ruscheweih 2005: 69. Ruscheweih 2005: 52. Mills 1996: 252. Balmer 2006: 49f.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

So, wie eine ökonomische Ressource in eine soziale überführbar ist, lässt sie sich auch in eine kulturelle Ressource überführen. Das kann dadurch geschehen, dass das Subjekt sich eine Karte für ein Konzert kauft, an dem es sich erfreut, oder dass es sich Fachliteratur erwirbt, die ihm für den weiteren Verlauf des körperlichen Umbruchs Hoffnung macht. Zufällig fand ich seine Monografie über die Erkrankung, als ich in Lewis’ Medizinischem Buchladen in Bloomsbury herumstöberte, und kaufte ein Exemplar. Sie enthielt einige neue Artikel über L-Dopa, in denen Calne behauptete, eine frühzeitige Behandlung mit dem Wirkstoff könne möglicherweise das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen.45

3.3

Kulturelle Ressourcen

Formen und Bedeutung: Bei den kulturellen Ressourcen lassen sich verschiedene Formen unterscheiden (vgl. Keupp et al. 1999: 199): Inkorporierte kulturelle Ressourcen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie an den Körper des Subjekts gebunden sind. Zu ihnen gehören Kunstwerke wie Gedichte, die rezitiert werden können, Bilder und Plastiken, die vor dem geistigen Auge stehen, Musikstücke, deren Melodien nachklingen, oder Romane und Filme, deren Charaktere dem Subjekt plötzlich einfallen. Drei Pfleger haben mich [vom Rollstuhl; B.R.] wieder ins Bett gelegt, ich mußte an diese Gangster im film noir denken, die sich abmühen, die Leiche des Störenfrieds, den sie gerade durchlöchert haben, in den Kofferraum ihres Autos zu hieven. Der Stuhl ist wie ein Verlassener mit meinen Kleidern über der Rückenlehne aus dunkelblauem Plastik in einer Ecke stehengeblieben.46 Zu ihnen gehören auch Mythen und Märchen, wissenschaftliche Erkenntnisse und kulturell vermittelte Fertigkeiten, die durch Übung erworben wurden, oder Normen, Werte, Traditionen und Konventionen, die das Subjekt verinnerlichte. So bin ich bei einem der ersten Male, als man mich in meinem Rollstuhl umherschob, während ich gerade aus den Nebeln des Komas aufstieg, auf den Leuchtturm gestoßen. Er tauchte hinter der Biegung eines Treppenhauses auf, in das wir uns verirrt hatten: schlank, kräftig und beruhigend mit seiner rot-weiß gestreiften Livree, die einem Rugbytrikot ähnelte. Ich habe mich sofort unter den Schutz dieses brüderlichen Symbols begeben, das über die Seeleute wacht wie über die Kranken, diese Schiffbrüchigen der Einsamkeit.47 Objektivierte kulturelle Ressourcen sind dagegen dadurch gekennzeichnet, dass sie als Gegenstände wie Bücher, Tonträger, Kunstobjekte usw. vom Körper und Selbst des Subjekts getrennt sind, die sich anzueignen von ihm ebenfalls einen Aufwand verlangt, die sich aber materiell schnell von einer Person zur anderen übertragen lassen. 45 46 47

Todes 2005: 47f. Bauby 1997: 11, Kursivierung im Original. Bauby 1997: 30.

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Körperlicher Umbruch

Zwei Gedichte von Erich Kästner lege ich dir bei. Sie sind sehr wichtig für mich und helfen, die Proportionen wieder zurechtzurücken. Welch ein Trost, auch Gesunden geht es nicht immer gut.48 Bei institutionalisierte kulturelle Ressourcen schließlich handelt es sich um gesellschaftlich anerkannte und in der Anerkennung garantierte Abschlüsse und Titel. Sie entlasten das Subjekt von der Notwendigkeit, seine früher erworbenen Kenntnisse immer wieder neu nachweisen zu müssen. In ihren verschiedenen Formen sind kulturelle Ressourcen bei einem körperlichen Umbruch für das Subjekt bedeutsam, weil sie in andere Ressourcen überführbar sind oder weil sie dem Subjekt Optionen aufzeigen, Relevanz vermitteln und Halt geben. Obwohl sie meistens der Identitätsarbeit dienlich sind, vergrößern sie bisweilen aber auch das Leid. Kulturelle Bildung: Die Erinnerung an Kunstwerke wie Filme, Bilder, Musikstücke, Romane und Gedichte hilft dem Subjekt, das ungewohnte körperliche Geschehen fassbar zu machen. Ich kam mir vor wie in einem Gemälde von Dalí. Ich hatte das immer wiederkehrende Gefühl, mein Gehirn sei gespalten.49 Mit ihrer Hilfe vermag das Subjekt sein gegenwärtiges Erleben in einen Zusammenhang zu stellen. Indem es sich mit dem Inhalt eines Kunstwerks beschäftigt, findet es nicht nur Bilder für seine Körperlichkeit, sondern auch Geschichten. In ihnen ist sein Erleben aufgehoben. Fragte man die Leser von Alexandre Dumas, in welcher seiner Figuren sie gern wiedergeboren würden, die meisten würden sich wohl für D’Artagnan oder Edmond Dantès entscheiden, und keiner käme auf die Idee, Noirtier de Villefort zu nennen, die ziemlich sinistre Figur aus Der Graf von Monte Christo. Als Leiche mit lebhaftem Blick, als ein schon zu drei Vierteln dem Grab Geweihter, wie ihn Dumas beschrieben hat, bringt einen dieser vollständig Behinderte nicht zum Träumen, sondern zum Erschauern. […] Tatsächlich ist Opapa Noirtier, wie ihn seine Enkelin zärtlich nennt, der erste Fall von Locked-in-Syndrom, und bis heute der einzige, den es in der Literatur gegeben hat. Seit mein Geist aus dem dichten Nebel aufgetaucht ist, in den mein Hirnschlag ihn versenkt hatte, habe ich viel an Opapa Noirtier gedacht. Ich hatte den Grafen von Monte Christo gerade wiedergelesen, und nun fand ich mich selbst mitten in diesem Buch, in der allermißlichsten Lage.50 Für den retrospektiv-reflexiven Prozesses greift das Subjekt auf inkorporierte kulturelle Ressourcen zurück, denn sie sind Teil seines Selbst. Sie helfen ihm dabei zu klären, wer es körperbezogen, sozial, produktorientiert, affektiv und kognitiv ist. Für einen Blinden sind die Menschen ständig in Bewegung, sie sind zeitlich, sie kommen, und sie gehen. Sie kommen aus dem Nichts; sie verschwinden. Bei Augustinus 48 49 50

Lürssen 2005: 45. Todes 2005: 92. Bauby 1997: 49, 49f., Kursivierung im Original.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

steht eine Parabel über die Seele des Menschen. Er sagt, sie ist wie ein Vogel, der in ein großes Gebäude fliegt, dort eine Weile umherflattert und dann einen Ausgang findet und verschwindet. Dieser Gedanke des Besuchtwerdens, durch das Empfangen eines Besuchs beglückt zu werden, scheint mir ganz wesentlich dafür zu sein, wie ein Blinder andere Menschen erlebt.51 Inkorporierte kulturelle Ressourcen veranschaulichen dem Subjekt, in welchem Verhältnis der veränderte somatische Körper nun zur Alterität steht und wie er möglicherweise von ihr erlebt wird. Jeden Morgen verbringe ich eine halbe Stunde so aufgehängt, in hieratischer Habtachtstellung, die an das Erscheinen des steinernen Gastes im letzten Akt von Mozarts Don Giovanni erinnert. Unter mir wird gelacht, gescherzt, gerufen.52 Im prospektiv-reflexiven Prozess tragen inkorporierte kulturelle Ressourcen dazu bei, sich die Zukunft vorzustellen. Sie ermutigen das Subjekt, sich damit zu befassen, welche Identitätsentwürfe und -projekte möglich sind. Auch unterstützen sie das Subjekt dabei, seine Identitätsentwürfe und -projekte in die Tat umzusetzen, indem sie der Ohnmacht, die nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit das Erleben beherrscht, etwas entgegensetzen. Dein Charakter ist dein Schicksal, wie dein Schicksal dein Charakter ist. Dieser Satz von Gerhart Hauptmann gefällt mir. Er liefert das Subjekt, den Menschen, nicht aus, sondern gibt ihm eine Chance. Jetzt kannst du was aus deinem Leben machen, sagte ich mir, und wagte mich, erst vorsichtig tastend, dann immer mutiger ins unbekannte Dasein vor.53 Die im prospektiv-reflexiven Prozess gewonnene Vorstellung von der Identität nach dem körperlichen Umbruch wird vom Subjekt innerlich eher gebilligt und nach außen vertreten, wenn es sie in einem als wertvoll geschätzten Kunstwerk wiederfindet. Das gilt auch dann, wenn das Subjekt sich mit seinem möglichen Tod befasst. [E]ine wunderbar weiche Gleichgültigkeit tritt an ihre Stelle, ein Zustand, mit dem ich enden möchte. Aufhören. Schumann schrieb in Düsseldorf, bevor er in die Endenicher Anstalt transportiert wurde, auf einen Zettel: Ich habe aufgehört. Und deponierte ihn zwischen Noten. Die drei Wörter trieben mir die Tränen in die Augen. Aus einer einsammelnden großen Bewegung hält er an: Ich habe aufgehört. Es ist eine Absage an jegliche Bewegung. An den Atem, an die Phantasie, an das Leben. Die Musik, die den drei Wörtern folgt und ihnen antwortet, kennt keine Pausen, kein Metrum.54 Sind inkorporierte kulturelle Ressourcen zudem von jemandem geschaffen, der selbst eine Krise erlebte, erhöht sich noch ihre Bedeutung. Abgesehen davon, dass sie Relevanz vermitteln und auf einen anerkannten Maßstab verweisen, was im Makrosystem als

51 52 53 54

Hull 1992: 113. Bauby 1997: 34f., Kursivierung im Original. Buggenhagen 1996: 45. Härtling 2007: 64.

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Körperlicher Umbruch

wertvoll gilt, vermögen sie dem Subjekt affektiven Halt zu geben. Sie lehren, dass das eigene Erleben nicht einzigartig ist, sondern durch die menschliche Natur bedingt ist. Durch mein Erleben […] kann ich dem alten Mann aus König Lear von Shakespeare nur allzu beipflichten: »Wir gehorchen unserer ureigensten Natur nicht mehr, wenn unser Körper, selber leidend, befiehlt, dass die eigene Seele mitleiden muss.«55 Auch wenn sie den Schmerz, die Angst und die Scham des körperlichen Umbruchs nicht beseitigen, heben inkorporierte kulturelle Ressourcen die subjektive Empfindung des Verlorenseins auf. Unterwegs im Haus, auf den Gängen, im Aufzug, unsicher zu Fuß, etwas schwankend wie ein Betrunkener, Entgegenkommenden ängstlich ausweichend, fängt eine Stimme in meinem Kopf an zu reden, versetzt mich wieder einmal in Erstaunen, dass ich mir Verse merken kann, redet: »Bald wird die Grundharmonika verhallen/Die Seele schläft mir ein,/Bald wird der Wind aus seiner Höhe fallen,/Die Tiefe nicht mehr sein.« Es ist die letzte Strophe von Oskar Loerkes »Pansmusik«. Ich könnte singen, mit einer Stimme, die Röhren sprengt, mächtig und wunderbar: »Heute fährt der Gott der Welt auf einem Floße,/Er sitzt auf Schilf und Rohr,/Und spielt die sanfte abendliche große,/Und spielt die Welt sich vor.«56 Inkorporierte kulturelle Ressourcen tragen dazu bei, eine Verbundenheit zu schaffen, die das Subjekt zwar vielleicht bereits kannte, aber noch nicht in dieser Weise erlebte. Thomas hatte mich gefragt, ob er in dem Zimmer, in dem wir spielten, das Licht anmachen dürfe. Es war mir nicht eingefallen, daß es inzwischen dunkel geworden war. Er hatte erklärt: »Thomas braucht das Licht. Daddy braucht das Licht nicht.« Ich dachte an die Stelle im Psalm 139, Vers 12: »Finsternis ist dir wie das Licht.« Auf eine seltsame Weise bin ich wie Gott geworden.57 Mythen und Märchen: In Mythen und Märchen kommen oft Gestalten, gleichermaßen Menschen wie Götter, mit körperlichen Auffälligkeiten vor, wie Blinde und Stumme, Riesen und Zwerge, Bucklige und Lahme. Sie drücken gleichermaßen kollektives wie individuelles Unbewusstes aus. [D]ann habe ich das deutliche Gefühl, daß ich in Stücke gehe. Spannung baut sich in mir auf. Meine Stirn verkrampft sich, und ich habe das Gefühl, daß ich nicht mehr lange durchhalten kann. […] Ich muß dieses Problem mit einer anderen Methode anpacken. Ich muß es noch genauer verstehen. Es gibt die Hypothese, daß das Blindsein eines der großen Symbole oder Archetypen ist. In der Kunst und in der Mythologie vieler Völker wird das Blindsein mit Unwissenheit, Verwirrung und Unbewußtheit assoziiert. Vielleicht haben diese Assoziationen Besitz von meiner Vorstellungswelt ergriffen. Vielleicht hat mein Blindsein in mir den Archetypus Blindheit aktiviert.58

55 56 57 58

Todes 2005: 166, Kursivierung im Original. Härtling 2007: 45. Hull 1992: 82. Hull 1992: 79, 80

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Durch die symbolische Bedeutung, die den körperlichen Veränderungen in Mythen und Märchen zukommt, erhält das Subjekt einen Raum, in dem es nach dem körperlichen Umbruch an seiner Identität arbeiten kann. Da jedes Symbol von seinem Wesen her in sich vielschichtig ist, kommt ein und derselben körperlichen Auffälligkeit in verschiedenen Mythen und Märchen eine jeweils unterschiedliche Bedeutung zu (vgl. Sas 1964: 98–138): So kann das Hinken eine anhaltende Mutterbindung aufzeigen, die mit einer phallischen Schädigung verbunden ist und die wie bei Hephaistos, einem Gott der griechischen Antike, darauf beruht, dass die Mutter ihr Kind verstieß. Es kann an ein Opfer erinnern, das gebracht werden musste, um eine höhere Ganzheit zu erringen, wie es im Alten Testament bei Jakob angesichts seines Kampfes mit dem Engel beschrieben ist. Oder das Hinken verweist auf besondere schöpferische Fähigkeiten, die mit charakterlichen Fehlern einhergehen, wie es in der nordischen Sage um Wieland den Schmied der Fall ist. Indem die in den Mythen und Märchen beschriebenen körperlich versehrten Gestalten die Möglichkeit einer Identifikation bieten, lassen sie dem Subjekt mögliche Identitätsentwürfe und -projekte aufscheinen. Die erzählten Geschichten machen es auf Aufgaben aufmerksam, die es in seinem Leben zu erfüllen hat. Sie fassen das Erleben in Bilder, die das Subjekt dazu benutzen kann, um der Alterität von seinem Leben mit dem veränderten Körper zu erzählen. Mythen und Märchen geben dem Subjekt damit die Narration zurück, die ihm mit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit abhanden gekommen ist. Seit der Antike gilt der sprichwörtliche Damokles als das Symbol für den Menschen, der sein irdisches Leben zwar in Reichtum und Genuß verbringt, aber unter der ständigen Bedrohung einer Katastrophe lebt. Ein scharfes Schwert schwebt, nur von einem feinen Haar gehalten, über seinem Kopf und kann jederzeit herabstürzen und ihn tödlich treffen. Spätestens im August 1996 wurde ich zum Damokles unter dem drohenden Schwert.59 Wissenschaftlich hergeleitete Auffassungen: Auch Fachliteratur lässt sich für die Identitätsarbeit in Anspruch nehmen. Dem Subjekt dient sie dazu, um seine veränderte Körperlichkeit mehr zu verstehen und damit die Kohärenz seines Erlebens zu erhöhen. Einige Monate vor meinem Zusammenbruch hatte ich Ernest Hartmans Buch Funktionen des Schlafs gelesen – ein Versuch, meine Gefühle von Depression und meine Erregung unter dem Einfluss von übermäßigem L-Dopa zu verstehen.60 Während es sich dabei um eine objektivierte kulturelle Ressource handelt, die zu bewusstem Nachdenken führt, beeinflussen inkorporierte kulturelle Ressourcen oft unbewusst das Verhalten. Das trifft beispielsweise auf die in der Medizin vertretene Auffassung zu, dass körperliche und seelische Gesundheit der normale Zustand des Lebens ist. In der Gewissheit, dass es für jedes Leiden ein Heilmittel gibt und die richtige Therapie die Unversehrtheit des Körpers wiederherzustellen weiß, falls sie doch mal beeinträchtigt sein sollte, wird weiter angenommen, dass Veränderungen der gewohnten 59 60

Peinert 2002: 101, Kursivierung im Original. Todes 2005: 61, Kursivierung im Original.

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Körperlicher Umbruch

Körperlichkeit den üblichen Ablauf des Lebens stören und möglichst schnell zu beseitigen sind. Wenn diese Auffassung für die Identitätsarbeit genutzt wird, zeigt sie dem Subjekt eine Option für sein weiteres Handeln auf, nämlich die Folgen des körperlichen Geschehens auf die bisherige Identität möglichst klein zu halten. Meine Suche nach Heilung begann im Herbst 1971, ein Jahr, nachdem die Diagnose gestellt worden war. Ich verspürte den Drang, ein Heilmittel zu finden, um mit meinen Mitmenschen Schritt halten zu können, bevor die Krankheit mich zu sehr einschränken würde.61 Die Auffassung hilft dem Subjekt, die Angst vor der ungewissen Zukunft zu ertragen, die mit dem körperlichen Umbruch einhergeht. Sie gibt ihm zudem Halt, weil sie die Bedrohung durch Sterblichkeit und Begrenztheit des Lebens, wie sie infolge von Unfall, Verletzung oder Erkrankung erfahren worden ist, in kleinere und vermeintlich leichter handzuhabende Bedrohungen herunterbricht. Allerdings verlangt sie die Inanspruchnahme einer sozialen Ressource, da die Spezialisten des Gesundheitswesens die Maßnahmen durchführen, mit denen die körperliche Unversehrtheit wiederhergestellt werden soll. Die Auffassung, dass körperliche und seelische Gesundheit der normale Zustand des Lebens ist, vermittelt dem Subjekt außerdem, welches Verhalten bei einem körperlichen Umbruch angezeigt ist. Danach hat das Subjekt alles zu unternehmen, um die verlorene Gesundheit wiederherzustellen. Wenn es ihm nicht gelingt, weil es zu einem unumkehrbaren Verlust der gewohnten Körperlichkeit gekommen ist, erhöht diese kulturelle Ressource die Spannungen in der Identität und lässt das Subjekt verzweifeln. Gestern fand ich in der Zeitung eine kleine Meldung: Die 50-jährige Tochter des ehemaligen Ministers Hans-Jürgen Wischnewski wurde laut Polizeibericht auf ihren eigenen Wunsch von ihrem Ehemann durch einen Messerstich ins Herz getötet. Danach erschoss er sich. Als Motiv wird die langjährige MS-Erkrankung der Frau genannt.62 Ebenso ist in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende die Auffassung weit verbreitet, dass der Verlust der gewohnten Körperlichkeit infolge von Unfall, Verletzung oder Erkrankung einen Schaden darstellt und dass der nun bestehende körperliche Zustand hilflos, ohnmächtig und abhängig macht, den Wert des Lebens herabsetzt und das Subjekt hindert, sein Selbst zu entfalten. Falls das Subjekt wegen seiner Körperlichkeit gesellschaftlich benachteiligt wird, Tätigkeiten nicht mehr auf die übliche Art auszuführen und altersgemäße Erwartungen nicht mehr zu erfüllen vermag, wird solch eine Körperlichkeit gemäß der Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO als Behinderung bezeichnet (vgl. Hirschberg 2003: 120). Sobald ein Arzt feststellt, dass eine Behinderung vorliegt, ist es dem Subjekt zugestanden, sich die sozialen Ressourcen zu erschließen, die im Sozialwesen angeboten werden, um behinderungsbedingte Nachteile im täglichen Leben auszugleichen. Mit dem Schwerbehindertenausweis als dem amtlichen Nachweis der Berechtigung findet eine Überführung der inkorporierten kulturellen Ressource in eine soziale Ressource statt. 61 62

Todes 2005: 47. Lürssen 2005: 55.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Heute sind dieser Ausweis mit dem Merkzeichen aG, durch den ich den blauen Parkausweis für die Behindertenparkplätze erhalte, zusammen mit meinem Führerschein, für mich meine wertvollsten Papiere. Nur dadurch bin ich heute noch in der Lage, mein Leben selbständig zu führen. Autofahren mit Automatik ist bequem und einen Parkplatz meist kostenlos zu bekommen, erleichtert mir das Leben enorm.63 Die Rolle des Behinderten von der Alterität zugeschrieben zu bekommen, scheint aber für die weitere Entwicklung der Identität eine negative Option zu sein. Ihre Ablehnung weckt im Subjekt mitunter zusätzliche Kräfte. [D]enn damit wirkte ich sichtlich behindert. Ich wollte alles andere, nur nicht, daß mich Leute sahen und dachten: »Ach, die Ärmste …«64 Aus der Befürchtung des Subjekts, von der Alterität als behindert abgewertet und sozial ausgegrenzt zu werden, entsteht Verunsicherung und weiterer Rückzug. Ich blieb noch zögernd in der Ecke, in die sich Behinderte oft stellen. Nur nicht auffallen, auf sich aufmerksam machen, Hilfe beanspruchen.65 Insofern zögert das Subjekt oft lange, bis es sich entschließt, diese kulturelle Ressource wirklich für sich in Anspruch zu nehmen. Nach langem Abwägen der Nachteile – die es gar nicht gibt, wie mir später klar wurde – beschloss ich, einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen. Ich hatte einfach Angst, in eine amtliche Liste als behindert eingetragen zu werden. Das ist sicher dumm, aber diese Ängste sind weit verbreitet.66 Dass in anderen Ländern oder unter anderen Umständen inkorporierte kulturelle Ressourcen des Umgangs mit einer körperlichen Veränderung bestehen, bei denen nicht die körperliche Unversehrtheit als höchstes Gut angesehen oder der Zustand der Körperlichkeit nach einem Umbruch nicht als Behinderung abgewertet wird, bringt das Subjekt zum Staunen. Wir waren aufgenommen in eine große Familie, die keinen Unterschied machte zwischen »normal« und »anders«. Hier war jeder »ganz normal anders« und »ganz anders normal«. Alles war auf die Weltspiele abgestimmt. Abgeflachte Bordsteine, Auffahrtsrampen für die Busse, Geschäftseingänge zu ebener Erde – ein Vorgriff auf die Zukunft. Ich hatte nicht einmal das Gefühl, behindert zu sein.67 Philosophische Überlegungen: Philosophische Überlegungen zu Schmerz, Leid und Krankheit, die das Subjekt bei der Suche nach einer Ressource für seine Identitätsarbeit findet, können ihm bei einem körperlichen Umbruch Relevanz vermitteln. Für den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel beispielsweise verwirklicht der Körper in der

63 64 65 66 67

Lürssen 2005: 29. Mills 1996: 253. Buggenhagen 1996: 45. Lürssen 2005: 29. Buggenhagen 1996: 64.

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Körperlicher Umbruch

Krankheit eine Bestimmtheit, die zu seinem Wesen gehört, sodass nur derjenige als gesund anzusehen ist, der auch krank sein kann (vgl. Riegler 2006: 15–19). Nach Ansicht von Friedrich Nietzsche, der sich im Verlauf seines Lebens mit verschiedensten Krankheiten auseinanderzusetzen hatte, gibt es nicht eine Normalgesundheit, sondern viele Gesundheiten, zu denen auch die Fähigkeit gehört, auf Leid mit dem Willen zur Umgestaltung des Lebens zu antworten und die Krankheitserfahrung für sich fruchtbar zu machen, also einen Umbau der Identität einzuleiten. Aus der Überzeugung, dass der Schmerz einen Menschen vertieft, ist ihm ein alleiniger Wille zur Gesundheit Barbarei und Rückständigkeit (vgl. ebd.: 28–30). Auch für Hans-Georg Gadamer, der als junger Mann einen körperlichen Umbruch erlebte, wird das Wesen des Menschseins erst in der Krankheit sichtbar (vgl. Gadamer 1993). Für ihn liegt das Sonderbare nicht in der Krankheit, sondern in den Wundern der Gesundheit. In der Krankheit ist seiner Meinung nach das übliche Zusammenspiel von Wohlsein und Weggebenheit in die Welt ebenso beeinträchtigt ist wie das Glück des Vergessens und die Leichtigkeit des Lebens, die ansonsten die Gesundheit ausmachen. Krankheit als Störung des natürlichen Gleichgewichtszustands meint für Gadamer deshalb nicht nur einen medizinisch-biologischen Tatbestand, sondern auch einen lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Vorgang. Indem die moderne Medizin auf eine Bezwingung der Krankheitserscheinungen und ein Beherrschen der Krankheit ausgerichtet ist, entzieht sie der Krankheit aber sowohl die Dimension, in der sich die Lebendigkeit erhält und erneuert, als auch die Aufforderung, etwas zu lernen. Denn eine Krankheit bezeugt Gadamers Meinung nach, dass in jedem Menschen ein unerschütterlicher Lebenswille und eine nicht zu brechende Lebens- und Hoffenskraft als natürliche Mitgift vorhanden ist. Gerade eine chronisch verlaufende Krankheit fordert nach Gadamer dazu auf, das Gegebene, das Einschränkende und das Schmerzhafte anzunehmen. Dabei ist für ihn der Weg zum Tode die »chronischste« aller Krankheiten, und er sieht die höchste Aufgabe des Menschen darin, sich auf diese Bestimmung seines Wesens einzulassen. Sich selbst zuzuwenden, das Abhören und Lauschen auf sich selbst und das Sich-Einfühlen in das Ganze des Weltreichtums in einem ungestörten, nicht von Leiden beeinträchtigten Augenblick, nennt Gadamer als eine Möglichkeit der Selbstbehandlung, die das Subjekt bei krankheitsbedingten Veränderungen der gewohnten Körperlichkeit hat. Erfahrungsberichte: Erfahrungsberichte über den Umgang mit einem körperlichen Umbruch, die zu den objektivierten kulturellen Ressourcen zu zählen sind, weisen das Subjekt darauf hin, was ein Verlust der gewohnten Körperlichkeit außerdem noch mehr sein kann als eine schnellstmöglich zu beseitigende Störung oder als eine nur ohnmächtig zu ertragende Behinderung. Die Erfahrungsberichte für seine Identitätsarbeit zu nutzen, verlangt vom Subjekt bisweilen Mühe. Doch da es sich davon Optionen, Relevanz oder Halt erhofft, nimmt es diese Mühe auf sich. Das [Lesen; B.R.] fiel mir immer schwerer. Wegen der Gifte in meinem Körper. Trotzdem las ich das Buch von Lance Armstrong, dem Gewinner der Tour de France. Wie er seinen Hodenkrebs überwand. Wie ihm zwei Gehirntumore entfernt wurden. Ich las das Buch in Etappen.68

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Lesch 2002: 108f.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

In den Erfahrungsberichten wird dem Leiden entgegengetreten, die Krankheit angenommen und versucht, sie für etwas zu gebrauchen. Ein paar Jahre, nachdem ich selbst das Augenlicht verlor, fing ich an, mich für das Blindsein zu interessieren und las mehr als zwanzig Autobiographien von Menschen, die blind geworden waren. Diese Geschichten versetzten mich in Erstaunen: sie waren oft voller Humor, Tapferkeit und Klugheit. Einige erzählten davon, wie ihre Verfasser Golfchampions, Skiexperten, praktische Ärzte und erfolgreiche Geschäftsleute geworden waren. Einige waren geschrieben worden, um einen Glauben zu verkünden, andere im Geist stoischer Hinnahme. In der Mehrzahl waren das begeisternde Geschichten des Triumphs und der Versöhnung.69 Vielfach beschreiben die Erfahrungsberichten eine Suche. Diese Suche beruht auf der Überzeugung, dass durch das körperliche Geschehen etwas gewonnen werden kann, auch wenn mitunter lange unklar bleibt, was es sein kann. In ihnen wird gezeigt, wie nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit eine neue Kohärenz gewonnen wurde, nämlich eine Einheit von sich mit der Welt und von der Welt mit dem Prinzip der Schöpfung, und sie vermitteln die Erkenntnis, dass auch das Leiden als ein zum Leben gehörender Teil anzusehen ist. Je nach Schwerpunkt der Darstellung zeigen Erfahrungsberichte dem Subjekt, das sie als Ressource nutzt, gleichermaßen Optionen für die Identität auf, wie sie ihm Relevanz vermitteln oder Halt geben. Sein Buch gab mir den ersten Anstoß, und es gab meiner Frau und mir die ersten Erklärungen für das Befremdliche, das plötzlich mit mir geschah.70 Abschlüsse und Titel: Garantierte Abschlüsse und Titel als institutionalisierte kulturelle Ressourcen sind bei einem körperlichen Umbruch besonders dann bedeutsam, wenn sie belegen, dass das Subjekt über medizinisches Fachwissen verfügt. Sie sind in der Lage, die Veränderungen der Alterität zu begrenzen, wo ansonsten die Spezialisten das Recht beanspruchen, nach Gutdünken über den schmerzenden, ängstigenden und beschämenden Körper zu verfügen. Indem sie es erschweren, dass in der Institution Gesundheitswesen die Rollen des allein handelnden Spezialisten und des willfährigen Patienten beinahe wie von selbst entstehen, verringern sie das Ungleichgewicht in der Beziehung des Subjekts zur Alterität und damit die Belastung seiner Identität. Zwar verunsichert diese Ressource bisweilen die Spezialisten, aber dem Subjekt, das sie nutzen kann, eröffnet sie Optionen für sein weiteres Handeln. Aus seinem Wissen heraus vermag es zu beurteilen, was ihm geschieht, und erkennen, ob das Vorhaben der Spezialisten ihm nützt oder schadet. Manche Kollegen haben schon geschluckt, wenn ich ihnen vor der ersten Behandlung gesagt habe, dass ich Krankengymnastin bin. […] Ein einziges Mal, es war im Krankenhaus, habe ich darum gebeten, von einer anderen Krankengymnastin behandelt zu

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Hull 1992: 11. Peinert 2002: 20.

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Körperlicher Umbruch

werden, weil ich das Gefühl hatte, die erste Krankengymnastin wusste nicht wie sie mich behandeln sollte.71 Auch institutionalisierte kulturelle Ressourcen lassen sich in soziale überführen. Sie geben dem Subjekt bisweilen unmittelbar Zugang zu anderen Spezialisten des Gesundheitswesens. Allerdings ist es mitunter nachteilig, diese soziale Ressource zu nutzen. Ich trat direkt mit Dr. Calne in Verbindung – eine Gewohnheit, die ich als Kollege viele Male über die Jahre hinweg wiederholen sollte, mit dem Ergebnis, dass ich meinen Hausarzt überging und als verdecktes Versuchskaninchen fungierte.72 Institutionalisierte kulturelle Ressourcen geben dem Subjekt weiterhin die Möglichkeit, mit anderen, die körperlich dasselbe erleben, in Beziehung zu treten, ohne sich dabei als ein Mitpatient erkennen geben zu müssen. Indem sich das Subjekt dadurch deren Erfahrungen für seine Identitätsarbeit erschließt, ergibt sich durch institutionalisierte kulturelle Ressourcen eine Relevanz für das eigene Erleben. Im Gespräch mit Parkinson-Patienten, die an mich überwiesen wurden, musste ich erkennen, dass das Begreifen der eigenen Geschichte oft allenfalls dazu dienen kann, den Selbsthass zu mindern, den viele Leidende verspüren.73

3.4

Soziale Ressourcen

Formen und Bedeutung: Formelle und informelle soziale Ressourcen unterscheiden sich danach, wie sie entstanden sind und wie sie erhalten werden: Formelle soziale Ressourcen beruhen auf einem Rechtsverhältnis. Sie können oft nur in Anspruch genommen werden, wenn andere, vor allem ökonomische Ressourcen in sie überführt wurden. Um sie dauerhaft für die Identitätsarbeit nutzen zu können, müssen die Pflichten erfüllt werden, die mit dem Rechtsverhältnis verbunden sind. Informelle soziale Ressourcen speisen sich dagegen aus Wertschätzung und Liebe. Ihr Umfang hängt davon ab, wie groß das soziale Mesosystem des Subjekts ist. Sie entsprechen zwischenmenschlichen Beziehungen. Um sie dauerhaft für die Identitätsarbeit nutzen zu können, sind sie durch Zuwendung, Aufmerksamkeit oder Einfühlung zu pflegen. Damit bei einem körperlichen Umbruch soziale Ressourcen genutzt werden können, müssen sie zuverlässig, aufrichtig und im rechten Maß vorhanden sein. Bisweilen ist allein schon das Wissen um die Möglichkeit hilfreich, ohne dass sie tatsächlich beansprucht werden müssen. Wenn sie aber nicht verlässlich sind, enttäuschen sie das Subjekt; wenn sie ihm nicht vermitteln, dass die Äußerungen seiner Sorgen erwünscht sind, verschlechtern sie sein Befinden; und wenn das Subjekt überfürsorglich entlastet wird, setzen sie sein Selbstwertempfinden herab und nehmen ihm die Selbstgewissheit, angemessen handeln zu können. Wenn eine soziale Ressource für die Identitätsarbeit

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Ruscheweih 2005: 69. Todes 2005: 48. Todes 2005: 68.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

feinfühlig und unaufdringlich angeboten wird, vermittelt sie dem Subjekt Wertschätzung und wahrt seine Eigenständigkeit. Sie erweitert den inneren Raum, wo das Subjekt nach Lösungen suchen kann, ermutigt es zu den Veränderungen, die nötig sind, damit es sich an die veränderte Körperlichkeit anpasst, und bestätigt es in seinen vorhandenen Fähigkeiten zum Handeln. Falls das Subjekt bei einem körperlichen Umbruch soziale Ressourcen in Anspruch nimmt, vermindert sich seine Belastung. Seine Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung nehmen ab, und das Ausmaß an Depression, Ängstlichkeit und Suizidalität verringert sich. Die Anpassung an die veränderte Lebenslage verbessert sich ebenso wie die körperliche Verfassung und die Bereitschaft, sich der Therapie zu unterziehen; planvolles Handeln und waches Verfolgen von Zielen werden wieder möglich (vgl. Filip/Aymanns 2010: 213–265). Meine Frau und andere hätten für mein restliches Leben die tausend Handreichungen des Alltags für mich erledigen müssen, wenn es mir nicht gelungen wäre, einige der Unmöglichkeiten selbst wieder zu erlernen. Natürlich hoffte ich hier auf Therapieerfolge meiner Krankengymnastin, aber eigene Möglichkeiten sah ich zuerst nicht.74 Spezialisten des Gesundheitswesens: Vorausgesetzt, der Arzt stellt die richtige Diagnose und das Subjekt ist ausreichend krankenversichert, zählen die Spezialisten im Gesundheitswesen zu den sozialen Ressourcen, die bei einem körperlichen Umbruch einen hohen Stellenwert aufweisen. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass das Subjekt in der Not seines somatischen Körpers Halt findet. Am dritten Tag, morgens um drei Uhr, musste mein Arzt eine Bronchoskopie durchführen, um meine Bronchien vom zähen, angesammelten Schleim zu befreien. Wieder sass Dana auf meinem Bauch, um mich beim Abhusten zu unterstützen, während Franz Michel und Jan Lory mich mit dem Bronchoskop absaugten, Noëmi assistierte. Meine Begleiter kamen mächtig ins Schwitzen, um meinen Zustand stabil halten zu können.75 Indem die Spezialisten des Gesundheitswesens ihr Wissen um die krankheitsbedingten körperlichen Veränderungen in die Beziehung zum Patienten einbringen und mit den von ihnen durchgeführten Maßnahmen gezielt auf dessen veränderten Körper einwirken, kann diese soziale Ressource sowohl das Ausmaß der körperlichen Veränderungen begrenzen als auch deren Folgen für die Identität verringern. Allein die Erwartung des Subjekts, dass die Spezialisten des Gesundheitswesens darum wissen, wie sie das ungewohnte körperliche Geschehen günstig beeinflussen können, beruhigt. Die Spezialisten geben dadurch Halt, dass sie da sind und aufgesucht werden können. Ihnen wird wegen der institutionalisierten kulturellen Ressourcen, die sie sich im Lauf der Zeit erwarben, vertraut. Da traf ich erstmals Professor Rolf-Peter Müller, den Direktor der Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie der Universität zu Köln. Rolf-Peter Müller wird mir immer ein

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Peinert 2002: 88. Balmer 2006: 22.

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Körperlicher Umbruch

Freund bleiben. Er ist eine wahre Kapazität, ein toller Mensch, bei dem ich sofort das Gefühl hatte: »Hier bist du in guten Händen.«76 Nachdem die Ärzte in den Körper geschaut und die körperliche Veränderung benannt haben, lassen sie dem Subjekt Heilmittel zukommen. Dadurch, dass sie objektivierte kulturelle Ressourcen zum Wohle des Kranken nutzen, sind sie in der Lage, auf den beeinträchtigten körperlichen Zustand vorteilhaft einzuwirken. Jedes Mal wurde durch die Behandlung mit Cortison zumindest für einige Zeit eine Besserung erzielt.77 Indem die Spezialisten des Gesundheitswesens die ihnen zur Verfügung stehenden inkorporierten kulturellen Ressourcen einsetzen, verringern sie Beschwerden. Suse, die Physiotherapeutin, der von Fabian bestellte Engel, wird in den kommenden Wochen dafür sorgen, dass mich die Narbe in der Leiste nicht mehr an Triumph und Niederlage der Tubus erinnert. Mit flinken Hexenhänden verteilt sie unter der Haut, was sich staut und drückt.78 Mit ihrem Handeln versuchen die Spezialisten, verbliebene körperliche Fähigkeiten zu stützen und zu fördern. Vorher überprüft Brigitte, ob irgendein Zucken eine Besserung anzeigt. »Versuchen Sie, meine Faust zu drücken«, verlangt sie. Da ich manchmal die Illusion habe, die Finger zu bewegen, konzentriere ich meine Energie darauf, ihre Fingerglieder zu zermalmen, aber nichts regt sich, und sie legt meine leblose Hand auf das Stück Schaumgummi zurück, das ihr als Schmuckkästchen dient.79 Wenn körperliche Funktionen infolge des Umbruchs auf Dauer beeinträchtigt sind, verordnen die Spezialisten dem Subjekt Hilfsmittel, die seinen Alltag erleichtern. Am Ende dieses Aufenthaltes bat ich die Ärztin mir einen Rollator zu verordnen, eine Gehhilfe, die der Patient auf vier Rädern vor sich herschiebt, mit einem Einkaufskorb, ähnlich einem Fahrradkorb.80 Als formelle soziale Ressource sind die Spezialisten des Gesundheitswesens dem Subjekt bei der Spannung seiner Identität nach dem körperlichen Umbruch dadurch bedeutsam, dass sie auf seine Affekte einwirken. Sie geben Zuversicht. Wenn die von ihnen durchgeführten Maßnahmen wirken, wecken sie beim Subjekt die Hoffnung, dass sich die körperlichen Veränderungen noch weiter begrenzen lassen. Ich ging nun auch regelmäßig zu einer chinesischen Masseuse, Susie Lung, die die Behandlung auf den linken Oberschenkel konzentrierte. Das half sehr, denn dadurch wur-

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Lesch 2002: 148. Lürssen 2005: 36. Härtling 2007: 66. Bauby 1997: 17. Ruscheweih 2005: 21.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

de der Kreislauf angeregt. Ich hoffte, dadurch würde auch die Heilung der Infektion beschleunigt.81 Durch ihr Handeln lassen die Spezialisten das Subjekt hoffen, dass ansonsten zu erwartende nachteilige Folgen für die Identität zu vermeiden sind. Als ich ihn ein paar Wochen später anrief, hatte er einige der fehlenden Dinge erhalten und lud mich ein, wieder nach Wien zu kommen, um an einigen Behandlungen teilzunehmen. Ich hegte die Hoffnung, dieser sanfte, lebhafte Professor aus Wien, von dem drei kompetente Neurologen behaupteten, er habe sich noch nie geirrt, könne meine letzte Rettung vor der Zwangspensionierung sein.82 Es sind jedoch nicht nur die Handlungen, die die Spezialisten an seinem Körper vollziehen, die dem Subjekt Zuversicht geben, sondern es ist auch ihr Wissen um den weiteren Verlauf des ungewohnten körperlichen Geschehens. Zum Glück konnte mich mein Arzt in dieser Hinsicht etwas beruhigen und mir die Hoffnung machen, andere Zellen würden lernen, die Funktion der geschädigten zu übernehmen. So entließ er mich später in die Rehabilitation mit den tröstlichen Worten: »Ihr Gehirn lernt jetzt täglich dazu.«83 Gerade weil die Spezialisten wissen, welch weiterer Verlauf zu erwarten ist, machen sie dem Subjekt Mut durchzuhalten, wenn seine Verzweiflung groß ist. Es waren fünf grauenvolle Tage. Wobei wieder Professor Schoenemann der Mann war, der mir Mut machte: »Herr Lesch, die gute Nachricht bei dieser Tortur, die Sie gerade durchmachen, ist, dass die Schleimhäute relativ schnell regenerieren.«84 Neben der Zuversicht spenden die Spezialisten Trost. Durch die von ihnen genutzten kulturellen Ressourcen lindern sie den Schmerz des Subjekts, nachdem der körperliche Umbruch die Grenzen seines Körpers verschoben hat. Diese Unmöglichkeit der Kommunikation belastet natürlich weit über die praktischen Aspekte hinaus. So kann man den Trost ermessen, den es für mich bedeutet, wenn Sandrine zweimal am Tag an die Tür klopft, mit einem Schnütchen wie ein ertapptes Eichhörnchen hereinschaut und auf einen Schlag alle bösen Geister vertreibt. Die unsichtbare Taucherglocke, die mich ständig umschließt, erscheint dann weniger bedrückend.85 Die Spezialisten schmälern auch die Angst des Subjekts, die sich aus dem körperlichen Umbruch ergibt. Durch die Erfahrung, über die sie verfügen und die sie in ihre Beziehung zum Kranken einbringen, vermitteln sie dem Subjekt Sicherheit.

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Mills 1996: 238f. Todes 2005: 105. Peinert 2002: 57. Lesch 2002: 128. Bauby 1997: 42.

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Körperlicher Umbruch

Die Narkoseärztin kommt und rasselt ihren Fragebogen runter. Aber ich will nur eines von ihr hören: »Frau Doktor, können Sie mir versprechen, dass ich aus dieser Narkose wieder aufwache? Bitte, das müssen Sie mir versprechen.« »Herr Lesch, so beruhigen Sie sich doch. Natürlich werden Sie wieder aufwachen.« »Sie müssen es mir versprechen, bitte!« »Herr Lesch, ich verspreche Ihnen, dass Sie aus dieser Narkose wieder aufwachen. Sind Sie jetzt ein wenig beruhigt?« »Ja«, sage ich, »jetzt bin ich ein wenig beruhigt. Sie haben mir ja Ihr Wort gegeben.«86 Die soziale Ressource, die die Spezialisten des Gesundheitswesens nach einem körperlichen Umbruch für das erkrankte Subjekt darstellen, dient nicht nur dadurch seiner weiteren Identitätsarbeit, dass sie ihm Halt gibt, sondern auch dadurch, dass sie ihm zeigt, was in seinem veränderten körperlichen Zustand relevant ist. Manche der Spezialisten wissen, dass sie für den Kranken nun zu seinen bedeutsamen Anderen zählen und dass sie sich nicht darauf beschränken können, ihren Blick in die Tiefen seines Körpers zu richten, um sein Leid mit dem richtigen wissenschaftlichem Namen zu belegen, daraus abgeleitete Verordnungen zu verschreiben und ihm Vorschriften zu einem angemessenen Krankheitsverhalten zu machen. Vielmehr lehren sie – im Einklang mit der herkömmlichen Ansicht über die Aufgaben des Arztes (vgl. Balint/Balint 1961: 140–154) – das Subjekt, gut mit seiner veränderten Körperlichkeit umzugehen. Sie bestätigen, was sie richtig finden, und befähigen den Kranken, selbst zu beurteilen, was hilfreich für ihn ist. Es ist unendlich hilfreich und aufbauend, wenn im Krankenhaus die Visite hereinkommt mit den Worten: »Herr Peinert, es macht immer Spaß, zu Ihnen zu kommen, Sie sitzen fröhlich da und strahlen Optimismus aus.« Das hat sehr fördernden Einfluß auf die eigene Fähigkeit, Hoffnung zu entwickeln.87 Die Spezialisten zeigen auf, wie viel Hilfe und Erleichterung von außen zu verlangen und wie viel Furcht, Schmerz und Unbehagen zu ertragen ist. Wie die Neurologin sagt: »Sie brauchen viel Geduld.«88 Da es ihr Anliegen ist, durch die von ihnen durchgeführten oder veranlassten Maßnahmen nicht nur das körperliche Geschehen zu beherrschen, sondern dem Kranken zu dienen und das Subjekt in der Identitätsarbeit zu unterstützen, gehört es für die Spezialisten dazu, darauf hinweisen, wenn ein Verhalten schädlich ist. Das Subjekt kann daraus lernen, was es zu tun hat, um seinem veränderten Körper keine weiteren Nachteile zuzufügen. Er sah mich ernst an. »Benutzen Sie die Krücken oder kriechen Sie. Das ist sehr wichtig.« »Aber Hüpfen geht schneller«, hielt ich ihm entgegen. »In zwanzig Jahren aber nicht mehr. Dann wird Ihre Arthritis so schlimm sein, daß Sie überhaupt nicht mehr gehen können. Also tun Sie bitte, was man Ihnen sagt.«89

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Lesch 2002: 91f. Peinert 2002: 83f. Bauby 1997: 18. Mills 1996: 240.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Die soziale Ressource der Spezialisten des Gesundheitswesens dient schließlich auch dadurch der Identitätsarbeit des Subjekts, dass es durch sie Optionen für sein Handeln aufgezeigt bekommt. Aus ihrer Erfahrung heraus fordern die Spezialisten den Kranken, wenn sie ihn behandeln. Wenn das Subjekt diese Forderungen zu erfüllen vermag, gewinnt es Zutrauen. Ein besonderes Erfolgserlebnis bescherte mir meine Krankengymnastin, als sie mir Mut machte, ohne das rettende Geländer und ohne Angst die lange Kellertreppe mit dem Gesicht nach vorne herunterzugehen. Es geht also! Man muß es nur tun!90 Ebenso können die Spezialisten dem Kranken Optionen für sein Handeln aufzeigen, indem sie ihm Zusammenhänge erklären, die ihm nicht vertraut sind. Weil dadurch die Kohärenz seines Erlebens zunimmt, vergrößert sich die Handlungsfähigkeit des Subjekts im Alltag. In der ersten Hose in Größe achtunddreißig ertrank ich beinahe, als ich sie im Krankenhaus anprobierte, und wir mußten sie am nächsten Tag gegen eine kleinere Größe umtauschen. Das verstand ich nicht, aber der Physiotherapeut erklärte, ich hätte aufgrund mangelnder Bewegung meine Hüft- und Beinmuskeln verloren.91 Falls bei den Spezialisten des Gesundheitswesens die beruflich erlernte Kompetenz um eine im Leben erworbene ergänzt wird, wächst ihnen eine erhöhte Glaubwürdigkeit zu. Der Referentin, eine MS-betroffene Ärztin, gelang es, dieses »unaussprechliche« Thema sachlich und kompetent zu behandeln, auch die Atmosphäre stimmte.92 Wie formelle soziale Ressourcen dem Subjekt meist dadurch verfügbar werden, dass sie aus einer anderen Ressource überführt worden sind, können sie selbst wieder in eine andere Ressource überführt werden. Bevor der letzte Weißkittel hinausging, habe ich ihm ein Zeichen gegeben, den Fernseher leise anzustellen. Es lief Des chiffres et des lettres, die Lieblingssendung meines Vaters.93 Institutionen des Sozialwesens: Damit bei einem körperlichen Umbruch das Subjekt die formellen sozialen Ressourcen, die von den Institutionen des Sozialwesens angeboten werden, für seine Identitätsarbeit nutzen kann, muss zuvor ein Arzt den körperlichen Veränderungen einen Grad der Behinderung zugemessen haben. Dessen Höhe bestimmt, welche staatliche Hilfe der Behinderte nach dem Schwerbehindertenrecht beanspruchen darf (vgl. Wittich-Neven 2002: 25): Es kann eine persönliche Assistenz zur allgemeinen Lebensführung sein, die dem Behinderten bis zu 24 Stunden am Tag zur Seite steht; bei der Berufsausübung übernimmt ein Arbeitsassistent die Tätigkeiten, die infolge der veränderten Körperlichkeit nicht mehr selbst ausgeführt werden

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Peinert 2002: 90. Mills 1996: 237. Lürssen 2005: 67. Bauby 1997: 11, Kursivierung im Original.

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können; es erfolgt eine Schulung für einen neuen Beruf oder der bestehende Arbeitsplatz wird an die körperlichen Gegebenheiten angepasst; es wird ein Zuschuss für die notwendig gewordene Umgestaltung der Wohnung gewährt oder eine den jetzigen Bedürfnissen entsprechende vermittelt. Selbst wenn gesetzlich festgelegt ist, dass es einem Behinderten zusteht, diese Ressourcen zu beanspruchen, damit er den anderen Mitgliedern des sozialen Makrosystems gleichgestellt ist und wie sie in vollem Umfang am sozialen Leben teilnehmen und Wohlbefinden erreichen kann, müssen sie im Einzelfall bewilligt werden. Dabei kommt den Fachleuten in den Institutionen ein weiter Ermessensspielraum zu. Denn jede Zuerkennung von Leistungen für den Behinderten steht unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit. Ihre Inanspruchnahme wird eingeschränkt oder auch ganz verwehrt, wenn es für die Gesellschaft nicht tragbar zu sein scheint, sie aufzubringen. Mit einer Kollegin hatte ich vorab [über die Benutzung eines Rollstuhls bei der Arbeit; B.R.] gesprochen und sie riet mir dazu. Zuerst sprach ich mit unserer Mitarbeitervertreterin: Ich brauchte eine ärztliche Verordnung, die sie im Personalbüro abgegeben hat. Dann musste ich einen Kostenvoranschlag über einen adäquaten Rollstuhl einreichen. Das Geschäft, zu dem ich ging, hat mir einen Rollstuhl solange zur Verfügung gestellt bis mein eigener – der Kostenvoranschlag liegt jetzt bei der zuständigen Hauptfürsorgestelle – genehmigt ist bzw. bereitsteht.94 Andere Schwierigkeiten bei der Nutzung formeller sozialer Ressourcen aus dem Sozialwesen ergeben sich für das Subjekt, wenn es die bewilligte Hilfe in Anspruch nimmt. Selbst die persönliche Assistenz, die einst von Betroffenen durchgesetzt wurde, um von versorgenden Angehörigen unabhängig zu werden und sich bei beeinträchtigten körperlichen Funktionen nicht den Vorgaben eines Wohnheims oder eines Pflegedienstes unterordnen zu müssen, kann Nachteile haben; bisweilen kommt es dazu, dass die Assistenten diejenigen bevormunden, denen sie beistehen sollen, oder dass sie angeordnete Aufträge nur unzulänglich ausführen, sodass die damit angestrebte Selbstbestimmung im Alltag immer wieder neu errungen werden muss (vgl. Zander 2007: 41–49). Je umfassender bei einem körperlichen Umbruch der Behinderte auf die verschiedenen formellen sozialen Ressourcen angewiesen ist, die von den Fachleuten aus den Institutionen des Sozialwesens verwaltet werden, desto größer sind oft die Befürchtungen, die das Subjekt deswegen hegt. Wenn sie nicht wahr werden, ist es erleichtert. Schon in den ersten Stunden sollte sich herausstellen, dass man mir sehr respektvoll und liebenswert begegnet und mich in Würde wissen will. Ich fühlte mich von Anfang an daheim. Ein wirkliches Zuhause.95 Angehörige und Bekannte: Falls es bei einem körperlichen Umbruch dem Subjekt möglich ist, informelle soziale Ressourcen in Gestalt von Angehörigen und Bekannten zu nutzen, verbessert es damit nicht nur sein Befinden, sondern oft auch seine Lebensdauer (vgl. Filip/Aymanns 2010: 213–265). Diese Ressource gibt dem Subjekt auf verschiede-

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Ruscheweih 2005: 50. Balmer 2006: 35.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

ne Weise Halt. Durch ihre Inanspruchnahme wird ihm bewusst, dass es nicht allein, sondern mit der Alterität verbunden ist. Es haben unendlich viele Menschen mir gezeigt, daß sie mich mögen und daß sie ernsthaft wünschen, es möge mir bald wieder besser gehen. Es kamen Post und Telefonanrufe aus dem Ausland, aus fernen Städten und aus der Nachbarschaft, Besuche von Menschen, die mich gut, oder von solchen, die mich kaum kannten; von alten Kollegen, von neuen Freunden, Besuche von Menschen, die ähnliches erlebt hatten und mir zeigen konnten, wie man damit umgehen kann.96 Die Alterität, die mitunter dem Subjekt persönlich unbekannt ist, zeigt ihre Anteilnahme durch Geschenke. Aufgrund der Presseberichte reagierte die Öffentlichkeit sehr stark, und von überallher erreichten mich Blumen und Karten. Am Ende der Woche hatte ich über fünfhundert Sträuße bekommen.97 Oder sie nimmt geistig Anteil. Gleichwohl ist diese Protektion an höchsten Stellen nur ein Wall aus Ton, eine Mauer aus Sand, eine Maginotlinie neben den kleinen Gebeten, die meine Tochter Céleste jeden Abend an ihren lieben Gott richtet, ehe sie die Augen schließt. Da wir etwa zur gleichen Zeit einschlafen, schiffe ich mich mit dieser wunderbaren Wegzehrung, die alle bösen Begegnungen von mir fernhält, ins Königreich der Träume ein.98 Angehörige und Bekannte geben auch so Halt, dass das Subjekt die Affekte aushalten kann, die der körperliche Umbruch und die Behandlung durch die Spezialisten des Gesundheitswesens hervorrufen. Durch die Anwesenheit einer ihm vertrauten Alterität erhält das Subjekt Sicherheit. Um 21 Uhr kam Lili mit einem Taxi aus Bilbao an, und ich fühlte mich sicherer, als sie mir wieder zur Seite stand. Sie ließ mich nicht mehr allein, sondern schlief im Lehnstuhl, der jetzt endlich einmal einen Sinn bekam.99 Durch die Alterität wird das Subjekt getröstet. Schließlich blieb er einfach über Nacht in meinem Zimmer und schlief in meinem Bett. Es war ein solcher Trost, seine Arme um mich zu spüren […].100 Durch ihr Beispiel, nämlich wie sie mit den Herausforderungen ihres Lebens umgeht, trägt die Alterität dazu bei, dass das Subjekt nicht von seiner Verzweiflung überwältigt wird. Meine Tochter Céleste erzählt von ihren Spazierritten auf dem Pony. In fünf Monaten wird sie neun. Mein Vater erklärt mir seine Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu 96 97 98 99 100

Peinert 2002: 84. Mills 1996: 222. Bauby 1997: 15. Todes 2005: 92. Mills 1996: 231.

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halten. Er macht tapfer sein dreiundneunzigstes Lebensjahr durch. Das sind die beiden äußersten Glieder der Kette aus Liebe, die mich umgibt und schützt.101 Die soziale Ressource, die bei einem körperlichen Umbruch die Beziehung zu den Anderen darstellt, dient nicht nur dadurch der weiteren Identitätsarbeit, dass sie Halt gibt, sondern vermittelt auch, was in dem veränderten körperlichen Zustand relevant ist. Die Alterität spricht dem Subjekt Mut zu. Hallo, lieber Michael, von Christina hörte ich am Montag in unserem Telefonat ein bisschen, wie es dir geht nach der letzten Chemotherapie. Ich drücke dir auf jeden Fall die Daumen und wünsche dir weiterhin viel Kraft, den schwelenden Nager in dir mithilfe deines Kopfes und deines Körpers zu besiegen. Alles Gute!102 Die Alterität weist das Subjekt auch darauf hin, wie es mit seinem veränderten Körper umzugehen hat. Freundliche Besucher hatten mich in Hinsicht auf die Erfolgsaussichten der Behandlung inzwischen »aufgebaut« und Erwartungen geweckt: »Da ist noch viel drin!« – »Du mußt nur wollen und kräftig mitarbeiten.«103 Wie bei der Körperlichkeit zeigt die Alterität dem Subjekt auch für seine Identitätsarbeit auf, was gut ist. In Houston lernte ich einen prächtigen katholischen Priester kennen. […] Er erzählte mir, daß er sich jeden Tag zum Schluß in seinem Büro mit den vielen Stühlen und verstreuten Papieren, den aufgeschlagenen Büchern und der unbeantworteten Korrespondenz umschaut und dann vor seinem Schreibtisch niederkniet und betet: »Herr, wenn irgend etwas von der Arbeit dieses Tages von bleibendem Wert ist, so ist es Dein.« Ich spürte, daß das richtig ist. Von mir wird nicht erwartet, daß ich das Problem des Blindseins löse. Wenn ich einen Schritt gehen kann, so ist es Deiner.104 Die soziale Ressource in Gestalt von Angehörigen und Bekannten fördert schließlich auch dadurch die Identitätsarbeit, dass das Subjekt durch sie Optionen für sein weiteres Handeln aufgezeigt bekommt. Es wird durch die Alterität an frühere Erfahrungen erinnert. Als sie ging, nahm sie meine Hand. »Ich weiß, daß du auch das durchstehst, Heather«, sagte sie. »Du wirst damit genau so gut fertig wie mit allem anderen.«105 Die Alterität verringert die Folgen des körperlichen Umbruchs für die Identität, indem sie dem Subjekt ausgefallene körperliche Funktionen ersetzt. Meine Frau und ich haben ein stilles Verfahren entwickelt, mit dem sie mich darauf aufmerksam machen kann, wenn ein Essensrest an meinem linken Mundwinkel haftet,

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Bauby 1997: 43. Lesch 2002: 115. Peinert 2002: 58. Hull 1992: 68. Mills 1996: 227.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

ohne daß ich dies spüre. Mit ihrer Hilfe gelingt es mir heute also, manierlich zu essen, ohne daß Anwesende etwas von meinem Problem zu bemerken brauchen.106 Auch verringert die Alterität die Folgen des körperlichen Umbruchs für die Identität, indem sie die verlorene Kohärenz des Erlebens ausgleicht. Fiona war in dieser Zeit wie ein Fels in der Brandung. Sie war stets da, immer bereit, auf meine Bitten einzugehen. Sie befeuchtete meine Lippen, leerte meine Bettpfanne und fand eine Methode heraus, mich umzudrehen, die nicht so weh tat wie bei den Schwestern. Sie erledigte auch meine Anrufe.107 Oder die Alterität verringert die Folgen des körperlichen Umbruchs für die Identität, indem sie dem Subjekt Hilfsmittel zur Verfügung stellt. Das Problem meiner eingeschränkten motorischen Beweglichkeit im Bett wurde größtenteils gelöst, als ein Freund mir ein elektrisches Bett schenkte, mit dessen Hilfe ich mich aus einer liegenden Position aufsetzen sowie Mittels eines Hängegriffs auf die andere Seite drehen und aufstehen konnte.108 Durch die zwischenmenschlichen Beziehungen erhält das Subjekt ferner dadurch Optionen für sein weiteres Handeln, dass es die informelle soziale Ressource affektiv nutzt. Mit ihr setzt es seine Identitätsentwürfe und -projekte in die Tat um, denn dafür brauchte es den Zuspruch der Alterität. [R]affaeles Zuversicht war ansteckend. Plötzlich schien nichts mehr unerreichbar, nicht einmal das Autofahren. Ich war seit dem Unfall nicht mehr gefahren und fühlte mich zu unsicher, um mich ans Steuer zu setzen. Aber Raffaele ließ nicht locker. Er hatte ein Cabrio mit Automatik geliehen, und auf dem Rückweg zur Klinik versuchte ich es.109 Oder das Subjekt versteht, die informelle soziale Ressource kognitiv für sich zu nutzen. Mit ihr verwirklicht es seine Identitätsentwürfe und -projekte, denn dafür hat es das Wissen der Alterität gebraucht. Duncan brachte mir bei, mit dem Restbein kräftiger auszuholen, damit ich eine ausgewogenere Vorwärtsbewegung hinbekam. Das fühlte sich zuerst komisch an, aber immerhin konnte ich bald wieder richtig geradeaus schwimmen.110 Die Beziehungen zu Angehörigen und Bekannten stellen dem Subjekt aber nicht nur Optionen für Identitätsentwürfe und -projekte zur Verfügung, die an den übergeordneten Identitätszielen ausgerichtet sind, wie sie vor dem körperlichen Umbruch schon bestanden haben, sondern sie sind auch eine Ressource für Neues. Weil das Subjekt mit den Biografien von Angehörigen und Bekannten vertraut ist, wird es sich durch sie bewusst, wie es angesichts der körperlichen Veränderungen sein bzw. nicht sein will.

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Peinert 2002: 36. Mills 1996: 221. Todes 2005: 110. Mills 1996: 251. Mills 1996: 256.

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Siegfried und ich schafften den Drehtag – mit eiserner Disziplin. Er war schon ein großartiger Kollege, ein toller Mensch. Um so grauenhafter war sein Tod. Man hörte immer dieses leichte Zischen, wenn er sprach. Er hatte Bronchialkrebs. Daran starb er. Doch ich – ich will noch nicht sterben. Nein, ich will noch lange leben. Und dann auf einem schönen Golfplatz tot umfallen – am liebsten nach einem »Hole in One«.111 Mitpatienten und Selbsthilfegruppen: Zu den informellen sozialen Ressourcen, die sich das Subjekt bei einem körperlichen Umbruch erschließen kann, sind des Weiteren die Beziehungen zu den Anderen zu zählen, die ähnliche körperliche Erfahrungen gemacht haben. Durch die Mitpatienten dort lernte ich erstmals andere MS-Kranke kennen. Stundenlang saßen wir in den lauen Sommernächten auf dem Flur und tauschten Krankheitserlebnisse aus. Durch diese Gespräche begann ich, mich ernsthaft mit MS auseinander zu setzen, wurde Mitglied in der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft und 1986 auch Gründungsmitglied und Sprecher des Kontaktkreises für MS in meinem Wohnort.112 Die Beziehungen zu Mitpatienten geben Halt und vermitteln Relevanz. Die soziale Ressource erschließt dem Subjekt die Sinnhaftigkeit einer Maßnahme oder Behandlung. Es gewinnt eine Option für sein Handeln, auch wenn ihm die eigene Überzeugung noch fehlen mag. Sophie war wunderbar. Sie half mir, den Queckensaft zu pressen und in mein Zimmer zu tragen und sogar bei den Queckensaft-Einläufen, einem anderen Bestandteil der seltsamen Hippocrates-Kur. Sie war von dieser Therapie völlig überzeugt. Ich hingegen war in der ersten Woche noch voller Skepsis. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß etwas so Ekelhaftes wie Queckensaft gut für einen sein konnte. Nach nur fünf Tagen geschah jedoch etwas sehr Erstaunliches. Mein Bein heilte fast vor meinen Augen.113 Indem die Mitpatienten ihm zum Vorbild werden, beginnt das Subjekt zu ahnen, wohin es sich entwickeln kann. Die soziale Ressource legt ihm Identitätsentwürfe und -projekte nahe. Es gab Patienten, die ganz locker, fast elegant, ja fast eine Einheit mit ihm bildend, mit ihm umgingen, sodass der Rollstuhl so gut wie nicht auffiel. Demgegenüber aber auch Patienten, die vom Rollstuhl beherrscht wurden, sich regelrecht »hängen« ließen. Dies hat mich noch mehr in meinem Wunsch bestärkt: ich will, dass ich den Rollstuhl beherrsche, nicht er mich.114 In den Selbsthilfegruppen kommen aus dem Erleben eigener Not heraus die Mitpatienten zusammen, die nach krankheitsbedingten körperlichen Veränderungen im Gesundheitswesen oder im Sozialwesen versorgt werden (vgl. Möller 1996). Diese Mitpatienten verfügen über eine Vielzahl eigener Erfahrungen, die sie dem Subjekt vermitteln.

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Lesch 2002: 113. Lürssen 2005: 29f. Mills 1996: 248. Ruscheweih 2005: 47f.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

[Es ist; B.R.] richtig, nicht nur professionelle Berater können helfen. Bei den Gesprächen in unserer Gruppe ist all das immer wieder Thema und wird dadurch aufgefangen, mit anderen Betroffenen diskutiert und schon erprobte Lösungen werden weitergegeben.115 Anders als es vielfach in den Beziehungen zu den Spezialisten des Gesundheitswesens oder zu den Fachleuten aus Institutionen des Sozialwesens geschieht, erlebt das Subjekt durch die Mitpatienten, denen es in der Selbsthilfegruppe begegnet, dass auch bei einem körperlichen Umbruch zwischenmenschliche Beziehungen von Einfühlung, wechselseitiger Anerkennung und Anteilnahme geprägt sind. Allen, die an Selbsthilfegruppen teilnehmen, ist gemeinsam, dass sie sich deshalb einbringen, weil sie betroffen sind und sie ihre Kraft daraus ziehen. Die Möglichkeit, den Anderen zu helfen, gilt zudem als ein effektives Mittel, eigene Belastungen und negative Affekte zu reduzieren (vgl. Filip/Aymanns 2010: 234). Auch wenn das Subjekt, das sich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen hat, darum nicht unbedingt weiß, merkt es, dass seine Hinwendung zur Alterität ihm gut tut. Zusammen mit Andrea, die eine Diplomarbeit über MS schrieb, veranstalteten wir »jungen« MS-Patienten einen zwanglosen Gesprächskreis. Da wurde endlich über unsere eigenen Probleme gesprochen, ohne Tagesordnung, jede Meinung wurde gehört. Nebenbei lernten wir viel voneinander über die unterschiedlichen MS-Formen.116 Da in der Selbsthilfegruppe der Umgang miteinander auf Selbstbestimmung und Solidarität beruht, ermöglicht sie dem Subjekt, trotz seiner veränderten Körperlichkeit eine gleichwertige Beziehung zur Alterität einzugehen. Es erfährt etwas, das ansonsten bei einem körperlichen Umbruch im Alltag selten geschieht. Wir sind eine große Familie, man freut sich, wenn man sich trifft und geht ziemlich unverbindlich wieder auseinander.117 Weil das wechselseitige Erkennen in der Beziehung mit einer Alterität, die Ähnliches erlebt hat, in einer Weise verbindet, die in anderen Beziehungen verloren gegangen ist, verringert die Selbsthilfegruppe die Einsamkeit, die das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch ansonsten vielfach empfindet. Die Selbsthilfegruppe vermag sogar sein Erleben, von den Anderen unterschieden zu sein, aufzuheben und ihm die Inklusion in ein soziales System zu gewährleisten. Vor einigen Jahren besuchte ich abends die Jahresversammlung eines Blindenverbands. Zum ersten Mal nahm ich an einer Zusammenkunft teil, auf der auch andere Blinde anwesend waren. […] Es war merkwürdig und auf seltsame Weise recht tröstlich, mich in einer Situation zu befinden, in der die kleinen Eigentümlichkeiten, mit denen Blinde auf die Welt reagieren, von einer sozialen Gruppe akzeptiert wurden.118

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Lürssen 2005: 63. Lürssen 2005: 64f. Lürssen 2005: 65. Hull 1992: 195.

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Körperlicher Umbruch

In Hinblick auf die Identitätsarbeit, mit der nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit eine Passung von somatischem, sozialem und psychischem Körper zu finden ist, zeigt die Selbsthilfegruppe Optionen auf. Das älteste Mitglied meiner Selbsthilfegruppe ist heute über 80 Jahre alt und von imponierender Aktivität und Selbständigkeit. Sie erlitt ihren Schlaganfall vor mehr als 30 Jahren und hatte schwere Behinderungen zu überwinden.119 Die Selbsthilfegruppe vermittelt dem Subjekt Relevanz. Zwei oder drei ältere blinde Männer berichteten mir, daß die Umstellung nach dem Erblinden desto länger dauert, je älter der Betroffene ist. Für jemanden in meinem Alter wäre fünf Jahre eine kurze Zeitspanne. Mir wurde versichert, daß ich vielleicht zehn oder fünfzehn Jahre brauchen würde, bis ich mich ganz umgestellt haben würde.120 Und die Selbsthilfegruppe gibt dem Subjekt Halt. Wir begleiten uns gegenseitig bei ambulanten Operationen oder unangenehmen Untersuchungen und finden so ungeahnten Halt und Hilfe durch die gemeinsame Krankheit.121 Mögliche Überführungen in andere Ressourcen: Außer dass formelle und informelle soziale Ressourcen dadurch in die Identitätsprozesse einfließen, dass sie Optionen aufzeigen, Relevanz vermitteln oder Halt geben, können sie in andere Ressourcen überführt werden. Die formelle soziale Ressource, als die das Subjekt die Spezialisten des Gesundheitswesens nutzt, hilft ihm, andere formelle soziale Ressourcen in Anspruch zu nehmen. So wird der Zugang zu weiteren Spezialisten, denen besondere Fähigkeiten in der Beherrschung abweichender körperlicher Zustände zugeschrieben werden, vereinfacht. Sinemet wurde von David Marsden getestet, der gerade den Lehrstuhl für Neurologie am Maudsley und Kings College Hospital erhalten hatte, und Dr. Calne arrangierte ein Treffen für mich. Marsden erstellte für mich einen sehr hilfreichen Medikamentenplan und nahm mich in die Versuchsreihe für Sinemet auf. Sobald es im Handel frei erhältlich war, ging ich wieder zu Dr. Calne.122 Auch vermag eine formelle soziale Ressource dem Subjekt informelle soziale Ressourcen zu erschließen. Indem es die formelle soziale Ressource nutzt, kommt es wieder in ein Gespräch mit Angehörigen und Bekannten. Denn sein Körper ist so geschädigt, dass ein Austausch mit ihnen ohne die Hilfe von Spezialisten des Gesundheitswesens nicht möglich ist. Auf dem Namensschild an Sandrines weißem Kittel steht: Logopädin, aber es müßte heißen: Schutzengel. […] Manchmal unterbricht das Telefon unsere Arbeit. Ich nutze

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Peinert 2002: 96. Hull 1992: 195. Lürssen 2005: 65. Todes 2005: 48f.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Sandrines Anwesenheit, um mit einigen mir Nahestehenden verbunden zu sein und Lebensbruchstücke aufzuschnappen, so wie man einen Schmetterling einfängt.123 Ebenso trägt die formelle soziale Ressource dazu bei, dass das Subjekt von einer objektivierter kulturelle Ressource erfährt, die ihm bis dahin nicht bekannt war. Die Krankenschwester wies mich auf das Buch von Oliver Sacks hin, der mit seinem Bein das gleiche erlebt hatte wie ich mit der fremden Hand, und trug dadurch wesentlich mit dazu bei, mir neurologische und psychologische Zusammenhänge zu erklären, die mir sonst zum guten Teil wohl in bedrohlichem Dunkel geblieben wären.124 Unter bestimmten Umständen führt die formelle soziale Ressource sogar dazu, dass das Subjekt eine ökonomische Ressource gewinnt. Eine Ärztin, die für die Vermarktung von Lisurid verantwortlich war, Dr. Suchy, kam von Berlin nach London, um uns zu besuchen. Bei einem gemeinsamen Mittagessen wollte sie all meine Erlebnisse hören und zeigte viel Verständnis. Ihr Pharmaunternehmen Schering war bereit, die Kosten meiner Behandlung in Pamplona zu übernehmen.125 Dem entsprechend vermag die informelle soziale Ressource, als die das Subjekt die Angehörigen und Bekannten seines sozialen Netzwerks nutzt, die ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen zugänglich zu machen, über die sie verfügen. So erhält das Subjekt den Hinweis auf Spezialisten im Gesundheitswesen, die sich bei der Behandlung körperlicher Veränderungen besonders bewährten. Am Abend nach der Untersuchung besuchte mich eine Freundin, die sich gerade von einer Brustkrebsoperation erholte. Entsetzt lauschte sie der Geschichte von meinen Infektionen. »Heather, ich war in einer Klinik in Amerika, die sich auf Naturheilverfahren spezialisiert hat«, sagte sie. »Es ist wunderbar dort, und mir hat es bestimmt geholfen. Warum versuchst du das nicht?«126 Oder die informelle soziale Ressource, als die das Subjekt die Selbsthilfegruppe nutzt, macht das Subjekt auf empfehlenswerte Spezialisten aufmerksam. Im Frühjahr waren wir, Christiane, zusammen im »Quellenhof« in Bad Wildbad. Ich kannte dieses Haus bereits von einer Tagung der Beiräte der DMSG im Jahr zuvor und fand Gebäude, Konzept und Atmosphäre überzeugend.127 Auch vermag die informelle soziale Ressource dem Subjekt eine andere informelle soziale Ressource aufzutun. Durch unsere Selbsthilfegruppe habe ich auch meine Freundin Gudrun kennen gelernt. Schon beim ersten Treffen haben wir uns noch während der Veranstaltung in die nächs-

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Bauby 1997: 41, 43. Peinert 2002: 26. Todes 2005: 95. Mills 1996: 245. Lürssen 2005: 36.

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Körperlicher Umbruch

te Kneipe verzogen. Wir verstanden uns auf Anhieb. Durch die gemeinsame Krankheit müssen wir uns nichts erklären, man weiß, wovon die andere spricht.128 Und die informelle soziale Ressource vermittelt dem Subjekt mitunter eine ökonomische Ressource. Angehörige und Bekannte bieten dem Subjekt finanzielle Mittel an, über die sie verfügen, damit es sich von besonderen Spezialisten des Gesundheitswesens behandeln lassen kann. Dadurch, dass Angehörige und Bekannte dem Subjekt darlegen, was für sie relevant ist, erlauben sie ihm, die informelle soziale Ressource in eine andere zu überführen, von der das Subjekt hofft, bei seinem körperlichen Umbruch Halt zu finden. Eine Reihe von ähnlichen Transplantationen von Gewebe aus dem Nebennierenmark einzelner Patienten war in Mexiko-Stadt von Madrazzo durchgeführt worden. Die Pressemeldungen klangen überwältigend dramatisch und verführerisch. Eine Schlagzeile lautete: »Parkinson-Patienten geheilt«. Einige gut betuchte Freunde boten mir sofort das Geld für einen Flug an.129

3.5

Gesucht und Gefunden

Suchaktivität: Die Bemühungen des Subjekts, sich eine ökonomische, kulturelle oder soziale Ressource nutzbar zu machen, lassen sich als Suchaktivität (vgl. Rotenberg/ Korosteleva 1990) zusammenfassen. In den langen, oft schmerzhaften Jahren meiner MS-Karriere habe ich vieles ausprobiert, wovon ich gehört und mir Erleichterung versprochen habe. […] Autogenes Training, Naturheilkunde, Ewers Diät, Feldenkrais, Schlingentisch, Homöopathie, Akupunktur, PNF (Proprioreceptive Neuromuskuläre Facilitation), Bobath, Heilpraktiker, Fango, verschiedene Massagen, Atlastherapie, Wassergymnastik, Vojta, Hippotherapie, Entspannungstechniken, Atemtherapie, Cranio-Sacrale Therapie und noch einiges mehr habe ich ausprobiert.130 Nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit beginnt das Subjekt, nach Ressourcen zu suchen, die es für die Krankheitsbewältigung nutzen oder für seine Identitätsarbeit in Anspruch nehmen kann. Ich fing an, alle Personen anzuschreiben, die eine Autorität auf dem Gebiet der Parkinson-Erkrankung darstellten, las die dazugehörige Literatur und führte an mir selbst die relativ neue Behandlung mit L-Dopa durch.131 Bei seiner Suchaktivität weiß das Subjekt im Voraus nicht, was sich daraus ergeben bzw. was es dabei finden wird. Es beobachtet aufmerksam, was es erlebt.

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Lürssen 2005: 65. Todes 2005: 116. Lürssen 2005: 37. Todes 2005: 47.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Unser Gast bat um eine Tasse kalten Wassers, stand auf und bat mich, meine Brille abzusetzen, legte mir eine Hand auf die Stirn, beträufelte mir den Kopf mit dem Wasser und betete, zuerst ein allgemeines Heilgebet, dann das Vaterunser gefolgt vom Dreiundzwanzigsten Psalm. Dann benetzte er mir die Augen mit dem Wasser, träufelte es mir über und unter die Lider und forderte mich auf, den rechten Ärmel aufzurollen. […] Mr. Cresswell fuhr mit festen, streichelnden Bewegungen über den gesamten Arm bis hinab zu den Fingerspitzen. […] Dies wiederholte sich an meinem linken Arm und dann auch an meinem Kopf […]. Nachdem auf diese Weise die bösen Einflüsse aus mir ausgetrieben waren, wurde angeordnet, daß ich Lebertran, zu gleichen Teilen mit Honig vermischt, zu mir nehmen sollte.132 Das Subjekt erfasst die Ergebnisse, die es bei seiner Suche nach einer Ressource gewonnen hat. Ich fand mit erheblichen Schwierigkeiten die Adresse der Deutschen-MultipleSklerose-Gesellschaft (DMSG) heraus und wurde 1983 Mitglied. Dadurch bekam ich auch die DMSG-Mitgliederzeitschrift »Aktiv« regelmäßig, zusätzlich besorgte ich mir die Standardliteratur. Ich lernte viel über MS, aber nur theoretisch.133 Während der Suchverzicht zu körperlicher oder seelischer Erkrankung führen kann, erhöht jede Suchaktivität das Wohlbefinden; selbst dann, wenn sie noch keinen Erfolg erbringt. Aber das, wonach ich suchte, fand ich nicht: einen Bericht über das Blindsein, wie ich es kennengelernt hatte. Vielleicht habe ich nicht intensiv gesucht oder nicht genug gelesen. Ich kann nur sagen, daß die Bücher, die ich las, nicht über die Aspekte des Blindseins sprachen, die für mich die wichtigsten waren.134 Die Suchaktivität aufzunehmen, fällt dem Subjekt bisweilen leicht. Als habe es nicht überlegen müssen, welche Ressource in Frage kommen könne, nimmt es sie in Anspruch. Ich nahm mir Vorbilder, Menschen, die nach einem Schlaganfall oder auch durch schwere Kriegsverletzungen einmal ähnlich hilflos gewesen waren wie ich und die es geschafft hatten.135 Oder das Subjekt wird zu seiner Suche veranlasst, weil seine Alterität es auf mögliche Ressourcen hinweist. Ein weiterer Schritt in Richtung alternative Medizin führte mich in die Welt des Spirituellen. Ich tat dies einem engen Freund zuliebe, der wiederum jemanden kannte, der behauptete, mit den elektrischen Kräften seiner Hände Heilerfolge erzielen zu können.136

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Hull 1992: 91, 92. Lürssen 2005: 63. Hull 1992: 11. Peinert 2002: 58. Todes 2005: 72.

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Körperlicher Umbruch

Doch meist geht der Suchaktivität eine längere Zeit des Zögerns voraus, in der das Subjekt mit sich oder den Anderen darum ringt, sich auf den Weg zu machen. Obwohl es um mögliche Ressourcen weiß, dauert es, bis das Subjekt bereit ist, sie sich für die Krankheitsbewältigung oder die Identitätsarbeit zu erschließen. Der Rollstuhl verursachte mir schreckliche Alpträume, und doch bemühte sich meine Mutter darum, daheim in Ueckermünde ein entsprechendes Gefährt aufzutreiben, was in der DDR nicht ganz problemlos war. In einen mit Stoßhebel, mit den beiden langen Stangen, die man in jeweiliger Gegenrichtung hoch und nieder bewegte, wollte ich mich nicht setzen. Und die Elektrorollstühle waren unbewegliche Kolosse, sahen aus wie Geschütze, die die Rolle von Behinderten als Fürsorge-Objekte visuell regelrecht festschrieben. Ich hatte also Grund, mich zu wehren. Aber erstens waren nicht alle Rollstühle so beschaffen, und zweitens klangen jedesmal, wenn ich mich hineinsetzte, mein Rückenschmerzen, die mich allmählich aufzufressen drohten, ab. Ich fand mich nach und nach ins Unvermeidliche, begann zu akzeptieren, was durch Negieren nur meine Qualen verlängert und verstärkt hätte.137 Wie das Subjekt bisweilen zu wenig unternimmt, um an Ressourcen zu gelangen, kann es auch zu viel unternehmen. Ich war nun in Kontakt mit dem University College Hospital und dem King’s Hospital, zwei Krankenhäusern, die für die Parkinson-Forschung wegweisend waren. Ich fühlte mich ein wenig wie zwischen zwei Stühlen.138 Wenn bei einem körperlichen Umbruch die Suchaktivität erfolgreich verlaufen ist, ändert sich die Lage, in der das Subjekt sich befindet. Die Ärzte, ihrer Mittel sicher und dabei auch für mich Ruhe ausstrahlend, wissen genau, was sie zu tun haben. Oberhalb der Entzündungen setzen sie eine Blockade, und ein Vierteljahr fühle ich mich wie seit zig Monaten nicht mehr.139 Bindung an die Ressource: Damit das Subjekt eine ökonomische, kulturelle oder soziale Ressource für die Krankheitsbewältigung oder die Identitätsarbeit nutzen kann, muss die Ressource bestimmte Bedingungen erfüllen: Inhaltlich muss sie möglichst genau dem Bedarf entsprechen, dem sie zu dienen hat. Die beste kulturelle Ressource nutzt dem Subjekt nichts, wenn es Geld braucht, um sich ein Hilfsmittel zu kaufen; oder der nette Nachbar, der sich in vielen Notlagen bewährte, ist nicht die richtige soziale Ressource, wenn das Subjekt starke Schmerzen hat und einen fähigen Spezialisten des Gesundheitswesens braucht. Formal muss die Ressource die Größenordnung aufweisen, in der sie benötigt wird. Denn ist sie zu klein, wird sie keine Wirkung zeigen; und ist sie zu groß, wird sie nicht erschlossen werden können. Auch muss die Ressource sich in einer optimalen Differenz zur bisherigen Struktur der Identität befinden. Die Ressource darf dem Subjekt nicht zu fremd sein, weil sie sonst von ihm in ihren Mög-

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Buggenhagen 1996: 41. Todes 2005: 74. Buggenhagen 1996: 40.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

lichkeiten gar nicht erkannt wird, aber auch nicht zu vertraut, weil es sonst in ihr nichts findet, was ihm nicht schon bekannt ist. Wenn bei einem körperlichen Umbruch die Suchaktivität des Subjekts und die Bedingungen der Ressource günstig zusammenkommen, führt es dazu, dass das Subjekt entweder die Lage, in der es sich befindet, oder seine Einstellung zu dieser Lage verändert. So sehr ich mich bei meinem früheren Krankenhausaufenthalt gegen einen Rollator gewehrt hatte, so froh war ich, ihn jetzt zu haben. Er ermöglichte es mir, auf dem Markt einzukaufen, kleinere Einkäufe in der Stadt zu tätigen, sicherer vom Parkplatz aus meinen Arbeitsplatz im Krankenhaus zu erreichen […].140 Das Subjekt erkennt, dass die von ihm genutzte Ressource viel besser den Bedürfnissen seines umbrochenen Körpers entspricht, als es zuvor vermutete. Es wird dadurch mit sich und seiner Lage zufrieden. Inzwischen lebe ich in einer so genannten Institution, in einem geleiteten, begleiteten und betreuten Haus für hoch gelähmte, geistig vitale Menschen. Wider Erwarten muss ich feststellen, dass es mir in meiner Situation in einer solchen Institution viel besser ergeht. So wie ich jetzt lebe, kann ich so viel Selbstverantwortung und Verantwortung für andere Menschen, Tiere und Dinge tragen, wie ich tragen kann. Und das, was ich nicht tragen kann, darf ich abgeben.141 Ebenso gewinnt das Subjekt durch die von ihm genutzte Ressource Zuversicht. Indem eine Ressource Optionen für die Entwicklung der Identität aufzeigt, Relevanz vermittelt oder Halt gibt, kommt im Subjekt Hoffnung auf. Es vermutet, dass sich aus einer begrenzten, aber dennoch schon befriedigenden Wirkung der Ressource noch eine größere ergeben wird. Seit einigen Wochen habe ich wieder einmal mit der »Hippo« angefangen und finde es wie meistens erstaunlich. Zugegeben der Weg runter vom Pferd fällt mir immer schwer und die ersten Schritte danach sind mühsam und unsicher, aber nach einer längeren Erholungspause gehe ich wie auf Wolken, leicht und ohne Schmerzen. Leider dauert dieser himmlische Zustand bis jetzt noch nicht lange, aber das kann und sollte sich nach Aussage der Therapeutin noch verlängern.142 Wenn das Subjekt nach einer Ressource gesucht und eine gefunden hat, die den Bedürfnissen seines umbrochenen Körpers dient, dann geht es zu ihr eine Beziehung ein, die einer sicheren Bindung entspricht. Heute ist mein Rolli ein treuer Begleiter bei fast jeder Gelegenheit. Ein Leben ohne diese Bequemlichkeit kann ich mir nicht mehr vorstellen. Nun muss ich nicht mehr nur auf den Boden sehen, damit ich nicht stolpere oder falle. Es ist herrlich, alles anzusehen

140 Ruscheweih 2005: 21. 141 Balmer 2006: 52. 142 Lürssen 2005: 98.

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Körperlicher Umbruch

und mitzumachen. Ich komme ausgeruht an, stehe aus dem Rollstuhl auf, gehe mit Stock oder schiebe den Rolli.143 Unabhängig davon, ob es sich um eine ökonomische, kulturelle oder soziale Ressource handelt, bestätigt die Bindung zu ihr, dass sie die ihr entgegengebrachten Erwartungen erfüllt. Christina rast mit mir in die Klinik! Den Dienst habenden Arzt hatten wir bereits informiert: »Rufen Sie sofort Professor Siedek an! Es ist höchste Zeit. Ich bin mir sicher: Ich habe einen Darmverschluss!« Ich werde geröntgt. Professor Siedek wird benachrichtigt und kommt in die Klinik. Er bestätigt meinen Verdacht: »Sie haben Recht! Sie haben einen Darmverschluss! Wir müssen sofort operieren!«144 Wenn das Subjekt in Not ist, greift es auf die zuvor gemachte Erfahrung einer sicheren Bindung zurück. Dr. Angel hatte mir seine Nummer für den Notfall gegeben, und sobald wir aus dem Flugzeug waren, rief ich ihn an. Als er meine Symptome hörte, zögerte er keine Sekunde. »Das sehe ich mir besser sofort an«, meinte er. »Könnten Sie zu mir ins Krankenhaus kommen?«145 Aus der zufriedenstellenden Bindungserfahrung bekommt das Subjekt die Gewissheit, dass es bei Bedarf die bewährte Ressource wieder aufsuchen kann. Nach unseren gemeinsamen fünf Wochen Aufenthalt würde ich, wenn notwendig, jederzeit wieder eine Rehabilitationsmaßnahme dort antreten. Die Krankengymnastik, einzeln oder in der Gruppe, im Wasser oder auf dem Pferd, war ausgezeichnet und die Betreuung immer richtig für mich.146 Mühen der Bindung: Meist ist die Suche nach geeigneten Ressourcen, die der Bindung vorausgeht, langwierig und mühsam. Dabei kommt das Subjekt auf früher von ihm gefundene Ressourcen zurück, um zu prüfen, ob sie sich unter den jetzigen Umständen bewähren. Oder das Subjekt greift Vorschläge auf, die es von seiner Alterität erhält. Ein Freund empfahl mir einen Akupunkteur, und zweimal die Woche fuhr ich fortan pflichtgemäß den Hügel zu dessen gregorianischen Haus in Highgate hinauf. Ich hätte meinen Zweifeln keine bessere Nahrung bieten können. Als ich auf der harten Liege lag und beobachtete, wie er an meiner Haut herumzerrte, dachte ich: »Todes, du hast den Verstand verloren!« Nichtsdestotrotz hielt ich durch, da ich von der Professionalität dieses Mannes ausging und es auf einen Versuch ankommen lassen wollte, und kam schließlich gerötet, müde und hoffnungsfroh zu Hause an. Dann erwähnte eines Tages eine Bekannte meiner Frau, von Beruf Designerin, zufällig, dass mein Akupunkteur ihr

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Lürssen 2005: 32f. Lesch 2002: 91. Mills 1996: 243. Lürssen 2005: 36.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

als Designer bekannt war, der recht erfolgreich in der Möbelbranche tätig war. Diese Tatsache disqualifizierte ihn in meinen Augen, und ich fuhr nicht mehr hin.147 Bisweilen erfolgt die Suche über Versuch und Irrtum. Um geeignete Ressourcen zu finden, muss das Subjekt viele auf ihren Wert überprüfen, von denen sich aber oft nur wenige bewähren. Für diese Überprüfung muss sich das Subjekt bewusst machen, was die möglichen Ressourcen ihm zur Bewältigung der körperlichen Veränderungen und in Hinblick auf seine übergeordneten Identitätsziele bringen, und darauf achten, wie sich die Alterität verhält, wenn es die gewählten Ressourcen anwendet. Es ist möglich, dass das Subjekt feststellt, dass die Bindung an eine Ressource ihm nicht genutzt, sondern sogar zusätzlichen Schaden verursacht hat. Ich probierte zunächst ambulant ein Medikament namens Tergurid aus. Schon auf der Station musste ich mich übergeben, später im Auto auf der Fahrt nach Hause ein weiteres Mal. Im Krankenhaus hatte man mir in weiser Voraussicht eine Nierenschale mitgegeben. Das Medikament verursachte mir Übelkeit, aber es war nicht in der Lage, bei mir eine On-Phase wie L-Dopa auszulösen.148 Die Bindung an eine Ressource verläuft nicht gleichförmig. Sie entspricht vielmehr dem Prozess der Bewältigung und der Identitätsarbeit. Sie kann schleichend erfolgen, sodass sie nahezu unmerklich vonstatten geht, allenfalls von den Anderen in der Beobachtung oder nachträglich mit zeitlichem Abstand erkannt wird. Oder sie kann sprunghaft und verbunden mit starken Affekten verlaufen. Sich einer möglichen Ressource anvertrauen zu müssen, löst im Subjekt heftige Angst aus, wenn es daran zweifelt, ob sie seinen Zwecken entspricht. »Bei Muskelschwäche darf man das nicht …« Panik ergriff mich. Wusste der überhaupt, was er tat? Der Assistenzarzt beruhigte mich.149 Sich an eine Ressource zu binden, lässt hoffen. Aber es enttäuscht das Subjekt, wenn sich herausstellt, dass sie nicht den Zweck erfüllt, für den sie eigentlich geschaffen ist und das Subjekt sie aufgesucht hat. Überforderung und Unruhe breiten sich im Krankenzimmer aus. Es stehen mindestens sechs Leute um mein Bett und niemand, aber auch gar niemand ist handlungsfähig. Es ist die Hölle. Ich würge und zapple mit meinen Beinen, weine. Ich sehe nichts, denn meine Augen kann ich nicht öffnen. Ich hege Gedanken, am liebsten nicht mehr leben zu wollen.150 Mitunter stellt sich die Ressource als ungeeignet für den Zweck heraus, für den das Subjekt sie sich erschlossen hat. Er war eher ein Pharmakologe als ein Neurologe, und ich verneinte seinen Ansatz der schrittweisen Annäherung an meine Symptome, seine Unfähigkeit, mich als ganze Per-

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Todes 2005: 72. Todes 2005: 79. Balmer 2006: 74. Balmer 2006: 38.

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Körperlicher Umbruch

son zu behandeln, und sein Verschreiben zusätzlicher Medikamente gegen Symptome, die von anderen Medikamenten verursacht worden waren.151 Auch kann die Ressource dadurch enttäuschen, dass sie nicht mehr den Bedarf deckt, für den sie ursprünglich gewählt wurde. Das Subjekt verweist auf die Schwierigkeiten, in die es dadurch geraten ist: In der Beilage sende ich Ihnen weitere Rechnungen zur Überweisung meiner mir zustehenden Beträge. Da ich aufgrund der ausstehenden Zahlungen seitens Ihrer Krankenversicherung in finanzielle Nöte geraten bin und reichlich mit Mahnungen »bereichert« werde, bitte ich Ihre Versicherungsgesellschaft um raschmöglichste Bearbeitung und Überweisung der ausstehenden und zukünftigen Geldbeträge.152 Oder die Enttäuschung ergibt sich daraus, dass die genutzte Ressource vor allem eigene Absichten verfolgt. Er ist der Prototyp des Hauptsache-die Kasse-stimmt-Arztes, eingebildet, herrisch, dünkelhaft, der die Patienten gebieterisch für acht Uhr bestellt, selbst um neun Uhr kommt und um fünf nach neun wieder geht, nachdem er jedem fünfundvierzig Sekunden seiner kostbaren Zeit gewidmet hat.153 Wenn die gewählte Ressource enttäuscht, löst es Affekte aus. Das Subjekt wird wütend. Eine Stimme reist mich aus meinem krampfhaft gesuchten und endlich gefundenen Schlaf: »Brauchen Sie eine Schlaftablette?« Ich könnte die Pflegerin, die es ja nur zu gut mit mir meint, erwürgen.154 Angesichts seiner Enttäuschung bleibt dem Subjekt manchmal nur noch, sich entschieden von der Ressource abzuwenden. Wir verließen das Krankenhaus vor Tagesanbruch, oder anders ausgedrückt: Fluchtartig verließen wir den Ort dieser niederschmetternden Erlebnisse. Meine letzte, entschlossene Handlung war es, das Pflaster abzureißen, mit dem die Pumpe befestigt war, und endlich die Kanüle aus meiner Bauchdecke zu entfernen.155 Wenn das Subjekt rechtzeitig erkennt, dass die mögliche Ressource zu seiner Krankheitsbewältigung oder Identitätsarbeit nichts beiträgt, ist es in der Lage, sich gegen sie auszusprechen, bevor es von ihr enttäuscht wird. »Ja, aber lieber Herr Lesch, Sie sollten sich doch einmal Folgendes durch den Kopf gehen lassen …«, begann sie in diesem typischen Psychologendeutsch. »Nichts da. Ich habe mit Psychologie nichts am Hut. Das machen Sie mal bei Leuten, die psychisch ein bisschen labiler sind. Und jetzt ist Schluss.« Dann ging sie.156

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Todes 2005: 53. Balmer 2006: 49. Bauby 1997: 55f. Balmer 2006: 63. Todes 2005: 94. Lesch 2002: 106f.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Wenn die Ressource nicht dem Bedarf entspricht, für den das Subjekt sie gesucht oder sich an sie gebunden hat, bleibt sie ungenutzt, obwohl es sich zuvor viel von ihr erwartete. Meine Peronaeusschiene liegt allerdings zusammen mit einer wunderschönen, aus blauem Leder gearbeiteten Knieprothese (damit das Knie nicht zurückschlägt) seit vielen Jahren in der hintersten Ecke meines Schrankes. Ich kann mit diesen Hilfsmitteln schlechter laufen als ohne, stolpere und falle häufig. Die Blutergüsse erreichen eindrucksvolle Größen durch diese Art der Hilfe und ich bin froh, dass ich mir bis jetzt noch nichts gebrochen habe.157 Auch wenn die Ressource das Subjekt enttäuscht und von ihm nicht genutzt wird, bleibt es manchmal mit ihr verbunden. Die komplette medizinische Ausrüstung, die wir damals in der Apotheke neben dem Krankenhaus gekauft hatten, liegt bis heute ungenutzt in den Tiefen unserer Hausapotheke und sammelt langsam Staub an – ein Überbleibsel aus längst vergangenen, schlechten Zeiten. Aus irgendeinem Grund wagt es niemand, sie wegzuwerfen.158 Zu den Umwegen der Suchaktivität gehört, dass das Subjekt eine Ressource, die sich bewährt zu haben scheint, dennoch aus verschiedenen Gründen wieder verwerfen muss. Mitunter versagt sie überraschend plötzlich. Ich zapple, strample mit meinen Beinen. Ich rudere mit meinen Armen. Ich schwitze, wie ich es wohl noch nie getan habe. Sprechen kann ich nicht. Mein Herz pocht bis zum Hals, ich spüre eine unerträgliche Hitze in meinem Kopf. Und wieder kommen die Kopfschmerzen und das unheimliche Kopfrauschen. Die Beatmungsmaschine gibt ständig Alarm und pfeift schrill. Meine Sauerstoffwerte sinken, auch dieses Messgerät gibt Alarm. Ich bin zu beschäftigt, mich der Angst hinzugeben.159 Oder die Ressource, an die sich das Subjekt gebunden hat, ist zum gegebenen Zeitpunkt nicht in genügender Menge vorhanden. Oder die mit ihr erzielten Ergebnisse der Bewältigung oder Identitätsarbeit befriedigen das Subjekt auf Dauer doch nicht. Oder die Nachteile, die mit ihrer Inanspruchnahme einhergehen, sind zu groß. Ich wurde mit hochdosierten Cortisoninfusionen behandelt, die zwar zur Folge hatten, dass die Symptome sich zurückbildeten, aber andererseits auch bei mir zu einer enormen »Fresssucht« und zu einem »Vollmondgesicht« führten. Das hatte natürlich zur Folge, dass ich mich noch unwohler fühlte als bislang.160 Die sich daraus ergebende weitere Suche nach geeigneten Ressourcen ist dann anfangs oft wieder unbestimmt. Selbst wenn die Suchaktivität erfolgreich ist und sich die mit den gefundenen Ressourcen verwirklichen Identitätsentwürfe und -projekte als stimmig erweisen, kommt die Suche nach Ressourcen dauerhaft an kein Ende, denn das

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Lürssen 2005: 85. Todes 2005: 95. Balmer 2006: 37. Ruscheweih 2005: 16.

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Körperlicher Umbruch

Subjekt nimmt die Identitätsarbeit stets wieder von Neuem auf. Auch beim Umgang mit dem körperlichen Umbruch kommt das Subjekt immer wieder zu Fragen, für deren Beantwortung es auf die Anderen angewiesen ist. Niemand hat mir bisher erklären können, wieso ich diese gefährliche anatomische Besonderheit mit mir herumgetragen habe. Ob es sich bei den Ablagerungen um aus mir unbekannten Gründen geronnenes Blut handelt oder um Cholesterin, oder um als Blutfette bezeichnete Stoffe, oder aber um Kalk, wie auch gelegentlich gesagt wurde. All dies ist mir bis heute nicht klar, auch nicht, wieso bei mir dieser Blutpfropf überhaupt auftreten konnte.161 Ressourcen als Selbstobjekte: Wenn bei einem körperlichen Umbruch das Subjekt nach einer erfolgreich verlaufenen Suchaktivität eine sichere Bindung zu einer Ressource eingegangen ist, nutzt es sie für die Krankheitsbewältigung oder die Identitätsarbeit als ein Selbstobjekt. Mit der Ressource, an die es sich nach längerer Suche gebunden hat, sei sie ökonomisch, kulturell oder sozial, erweitert es sein Selbst und stärkt es seine Identität. Das Subjekt erlebt die Ressource als Teil seines Körperselbst und seiner Körperidentität, sodass es damit den Verlust seiner körperlichen Kohärenz ausgleicht. Doch in der ersten Februarwoche war mein Flexibein endlich fertig. Der Unterschied war erstaunlich. Selbst die Hautfarbe war genau getroffen. Bob zog vorsichtig einen speziellen weißen Baumwollstrumpf über den Stumpf, ließ die Prothese darübergleiten und zog den Gummistrumpf übers Knie herab. Es fühlte sich völlig sicher an, fast wie ein Teil von mir. Als ich meine Sportschuhe angezogen hatte, sah es völlig natürlich aus. Wenn man nicht allzu genau hinsah, hätte es auch einfach ein Knieverband sein können. Das Gehen war damit viel einfacher als mit den anderen Prothesen, und nach einigen Übungsschritten konnte ich fast ohne zu hinken durch Bobs Werkstatt gehen.162 Dadurch, dass sich das Subjekt die als Selbstobjekt genutzte Ressource zu eigen macht, wird das durch die körperlichen Veränderungen geschädigte Körperselbst erweitert. Dass ich [mit dem Rollstuhl; B.R.] so gut klarkomme, habe ich nicht nur dem ausgezeichneten Rolli-Training von Frau Schmidt im Quellenhof zu verdanken, sondern auch einem Mitpatienten, der immer hinter mir saß, wenn ich mit seinem Sopur geübt habe.163 Die als Selbstobjekt genutzte Ressource vermag das Selbst zu stärken, das durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit geschwächt war. [D]em Können [meiner ungemein kompetenten Therapeutin; B.R.] verdanke ich unendlich viel an physischer Rehabilitation. Ihre Kenntnisse vermittelten mir Einsicht in die physiologischen Zusammenhänge. Ihr verständnisvolles Eingehen auf meine Probleme ließ mich viel Zutrauen in meine eigenen Fähigkeiten wiedergewinnen.164 161 162 163 164

Peinert 2002: 79. Mills 1996: 253. Ruscheweih 2005: 48. Peinert 2002: 85.

3. Vorhandene und bei der Identitätsarbeit genutzte Ressourcen

Indem das Subjekt die Ressource als Selbstobjekt nutzt, wird in der Not das Selbst des Subjekts gestützt. Ich bin trotz aller Verzweiflung und Qual der vergangenen Monate dafür dankbar, dass ich nie allein war. Wie hätte ich das alles überstanden ohne die vertrauten Menschen in meiner Umgebung. Ohne Christina, ohne Paulina, ohne meine Mutter.165 Im Wissen um die Grenzen seiner Identität kann das Subjekt sich und der Alterität zugestehen, dass es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch sie unterstützt wurde. Es erkennt an, wie es sich auf die Krankheitsbewältigung oder die Identitätsarbeit günstig auswirkte, dass es Ressourcen in Anspruch nehmen konnte. In seiner Dankbarkeit benennt das Subjekt klar, was ihm durch die Ressource als zuverlässiges Selbstobjekt möglich wurde. Ich bin heute davon überzeugt, daß die unerwartet große Anteilnahme, die wir an unserer Krankheit erlebten, ganz wesentlich dazu beigetragen hat, daß es mir heute wieder so relativ gut geht.166 Die Gewissheit des Subjekts, auch weiterhin sich an Ressourcen binden zu können und einen berechtigten Anspruch auf zuverlässige Selbstobjekte zu haben, beeinflusst sein Erleben des körperlichen Umbruchs und seiner Folgen. Wichtig ist einfach, den richtigen Neurologen zu haben. Mit richtig meine ich: den niedergelassenen Neurologen, der sich mit MS auskennt, mir nicht irgendeine Behandlung verordnet, sondern mich fragt was ich mir vorstelle, mir ein Mitspracherecht einräumt, und einen Neurologen im Krankenhaus, der mich kennt, da ich immer in das gleiche Haus gehe. Dort kennen die Ärzte meinen Krankheitsverlauf, wissen wie sie auf die Symptome mit welcher Medikation reagieren müssen, wissen, wie ich auf die Medikation reagiere.167

165 Lesch 2002: 151. 166 Peinert 2002: 26. 167 Ruscheweih 2005: 38.

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4. »Meine intellektuelle Arbeit enthält höchst kreative Teile.« – Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Durch die Identitätsarbeit kann das Subjekt ein allgemeines Identitätsempfinden erreichen, das in sich spannungsarm, aber nicht spannungsfrei ist und kohärent das Geschehnis einbezieht, das zuvor das Selbst überwältigt hat. Dieses allgemeine Identitätsempfinden ist den verschiedenen Teilidentitäten einschließlich der Körperidentität übergeordnet und lässt sich als verallgemeinerte Selbsterfahrung ansehen. Es entsteht in einem bis ins Unbewusste reichenden Prozess, bei dem das Subjekt nicht nur eine Zukunft gewinnt, sondern auch die Erinnerungen an die Vergangenheit umschreibt. Im Folgenden wird zuerst ausführlich dargestellt, welche Körperidentität sich das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch erarbeitet hat (4.1). Danach wird ebenfalls anhand des subjektiven Erlebens das neu entstandene Verhältnis des umbrochenen Körpers zu den verschiedenen Teilidentitäten (4.2) und das durch die Identitätsarbeit angepasste allgemeine Identitätsempfinden beschrieben (4.3), zu ihm gehört auch die Umdeutung der Vergangenheit (4.4). Abschließend wird aufgezeigt, woran das Subjekt erkennt, wie sehr die von ihm geleistete Identitätsarbeit durch die Vorgaben der Alterität ausgerichtet wird (4.5). Damit belegt das Kapitel, dass es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit möglich ist, eine Identität zu erwerben, die auch den umbrochenen Körper umfasst.

4.1

Die Gewissheit des umbrochenen Körpers

Der körperbezogene Bereich: Nachdem das Subjekt infolge des körperlichen Umbruchs dem Erleben seines somatischen, sozialen und psychischen Körpers lange Zeit besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet hat, findet es durch die Identitätsarbeit allmählich eine Körperidentität, die zu seinem umbrochenen, d.h. für längere Zeit oder auf Dauer veränderten Körper passt. Indem das Subjekt das ungewohnte körperliche Geschehen, das sein Selbst überwältigte, mit den in der Struktur der Identität gespeicherten Vorerfahrungen verknüpft, indem es mit Bewältigungsstrategien und Identitätsarbeit

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Körperlicher Umbruch

auf die durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung veränderte Körperlichkeit antwortet und indem es ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen aus den sozialen Systemen, denen es angehört, nutzt, erlangt es wieder eine verlässliche Gewissheit der in ihren verschiedenen Dimensionen veränderten Körperlichkeit. Auch wenn die im Alltag erworbene Körperidentität nicht unbedingt spannungsfrei ist, ermöglicht sie es dem Subjekt dennoch, in seinem körperlichen Erleben selbstreflexiv Innen- und Außenwelt miteinander zu verbinden, die körperlichen Prozesse in einem Gleichgewicht zu halten und den Umgang seines Körpers mit äußeren Geschehnissen zu bestimmen. Das Subjekt weiß wieder, was seinen Körper in seinen somatischen, sozialen und psychischen Dimensionen ausmacht, was es mit ihm leisten kann, was es über ihn denkt und welche Affekte es mit ihm erlebt. Durch seine Auseinandersetzung mit der veränderten Körperlichkeit ist ihm bewusst, dass der körperliche Umbruch den somatischen Körper veränderte. Aus dem einst so sehnigen, durchtrainierten Michael Lesch war ein trauriges Männchen geworden. In meinen Beinen hatte sich Wasser gebildet. Mein rechter Fußheber arbeitete nicht mehr, auch eine Folge der Chemotherapie. Ich konnte nicht mehr richtig gehen, mit meinem rechten Fuß schlurfte ich nur mehr über den Boden.1 Das Subjekt weiß, dass es den zuvor vertrauten Körper verloren hat und es keine Rückkehr in die frühere Körperlichkeit geben wird. Es hat sich darauf eingestellt, dass die körperlichen Schädigungen bestehen bleiben. So mußte ich also einsehen, daß durch den Schlaganfall nicht nur mein linker Arm und mein linkes Bein betroffen waren, sondern meine ganze linke Körperhälfte hatte durch den Hirninfarkt ihre Sensibilität verloren, und damit die Fähigkeit zu instinktiven Reflexen, wie sie zur Wahrung des Gleichgewichts unerläßlich sind.2 Ebenso hat das Subjekt sich darauf eingestellt, dass es infolge des körperlichen Umbruchs dauerhaft auf Ressourcen außerhalb seines Selbst angewiesen sein wird, um ein körperlich bedingtes inkohärentes Erleben und Verhalten zu verhindern. [D]ie On-Off-Effekte und die Dyskinesien waren psychisch letztendlich verheerend für mich und schränkten mein Leben immer mehr ein. Ich musste der Tatsache ins Auge sehen, dass sich die Gehirnzellen, die zum Striatum zogen, kontinuierlich zurückbildeten und die künstliche Neurotransmitterbrücke labil war, so dass ich zur Herstellung dieser Verbindung völlig auf Medikamente angewiesen war.3 Als ein Ergebnis seiner Identitätsarbeit erkennt das Subjekt, dass auch der umbrochene Körper eine feste und verlässliche Verbindung zur äußeren Welt schafft. Durch die inzwischen mit ihm gemachten Erfahrungen kann das Subjekt genau beschreiben, wie der Austausch zwischen somatischem Körper und Umwelt jetzt verläuft. Es erfasst dabei auch die Fehler, die sich infolge der veränderten Körperlichkeit bei der Aufnahme der Umwelt in den Körper ergeben. 1 2 3

Lesch 2002: 156. Peinert 2002: 89. Todes 2005: 109.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Liste 1: Sensibilitätssörungen – Eine Auswahl – Eine unsichtbare Ameise läuft langsam vom kleinen Finger über die Handunter    seite den Arm hinauf. – Blitze erscheinen vor meinen Augen. – Mein ganzer Körper ist wie mit Watte oder Blech umhüllt. – Ein Dolch bohrt sich in mein Ohrläppchen, dreht sich langsam und schmerzhaft,     verschwindet, und kommt immer mal wieder, wie ein Blitz aus heiterem Himmel.     Dieser »Dolch« kann auch in anderen Körperteilen erscheinen und dort ein un    kontrolliertes Zucken auslösen. – Samt oder Leinen, alles fasst sich gleich an. – Unter der Fußsohle ist eine Eisenplatte festgenagelt.4 Ebenso wie das Subjekt zu benennen weiß, wie sein veränderter sensomotorischer Körper die Umwelt aufnimmt, ist ihm auch die Art und Weise vertraut und zu einem Teil der körperlichen Identität geworden, mit der der sensomotorische Körper auf die Welt einwirkt. Liste 2: Laufgefühle – Ich bewege mich wie – gegen einen reißenden Strom oder Sturm. – in zähem Schlamm. – mit Bleigewichten an den Füßen. – auf meterhohen Stelzen. – im Treibsand. – auf Schmierseife. – auf extremer Buckelpiste. – auf Rollschuhen. – betrunken.5 Die veränderte Körperlichkeit löst nicht mehr Furcht aus, und sie beschämt nicht mehr. Vielmehr hat das Subjekt gelernt, mit dem umbrochenen Körper zu leben. Das gilt auch für den veränderten Austausch des viszeralen Körpers mit der Umwelt. Das Subjekt nimmt die veränderten Grenzen seines viszeralen Körpers an. Ich zähle die Schläuche, die ich in mir habe: eine Beatmungskanüle in meiner Luftröhre, eine PEG-Sonde (Ernährungssonde) im Bauch, einen Port-à-cath auf meinem linken unteren Rippenbogen (künstliches venöses System, das bis zur rechten Herzkammer führt, um Infusionen, Medikamente zu applizieren und Blut zu nehmen), einen Blasenkatheter in der Schamgegend. Es gibt Zeiten, da hänge ich am Beatmungsschlauch, an der Ernährungssonde und an einer Infusion.6 In sein Bewusstsein bezieht das Subjekt mit ein, dass sich sein Zeiterleben verändert hat.

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Lürssen 2005: 44. Lürssen 2005: 45. Balmer 2006: 96.

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Ich drücke auf meine Uhr. Sie sagt mir, daß es 17 Uhr 45 ist. Das ist eine abstrakte Zeitangabe. Es ist eine Tatsache, ausgesprochen von einer künstlichen Stimme. Ich nehme das Kommen und Gehen des Tages nicht wahr.7 An die Stelle der körperlichen Funktionen, die über die das Subjekt nicht mehr verfügt, treten andere, die die verlorenen ersetzen können. Seine veränderte Körperlichkeit ist dem Subjekt inzwischen so vertraut, dass es genau beschreiben kann, was es mit ihr zu erleben vermag. In der fühlbaren Welt kann ich nur dort Kontakt mit der Wirklichkeit aufnehmen, wo ich sie mit meinem Körper berühren kann, und das ist immer nur an einer Stelle möglich. Ich kann die Splitter an der Parkbank mit der Fingerspitze ertasten, aber ich kann mich nicht gleichzeitig darauf konzentrieren, mit dem großen Zeh die Kieselsteine zu erfühlen. Ich kann die Form eines Gegenstandes mit allen zehn Fingern ergründen, aber es ist sehr schwierig, zwei Gegenstände gleichzeitig, mit jeder Hand einen, zu erforschen. Wenn mich viele Menschen puffen würden, dann würde ich zwar alle Stöße an verschiedenen Partien meines Körpers spüren, aber über die Welt würde mir das nicht viel mitteilen, nur über meinen Körper.8 Bisweilen erlebt das Subjekt nun einen Austausch mit der äußeren Welt, der bis dahin nicht möglich war. Erlöst von solcherlei Radau, in der wiedereingetretenen Stille, kann ich die Schmetterlinge hören, die in meinem Kopf umherfliegen. Dazu ist viel Aufmerksamkeit und sogar Sammlung nötig, denn ihre Flügelschläge sind fast unhörbar. Etwas lautes Atmen genügt, um sie zu übertönen. Es ist übrigens erstaunlich – mein Hörvermögen bessert sich nicht, und doch höre ich sie immer deutlicher. Ich muß ein Ohr für Schmetterlinge haben.9 Die Identitätsarbeit ermöglicht es dem Subjekt, auch dann ein inkohärentes körperliches Erleben und Verhalten zu vermeiden, wenn seine Körperlichkeit eine destruktive Qualität aufweist. Das Subjekt hat gelernt, wie sein umbrochener Körper arbeitet, und es weiß, was in ihm wirkt, was ihm gut tut oder was es besser zu unterlassen hat. Was ich jedoch beobachtete, wenn ich große Mengen von L-Dopa zu mir nahm, war, dass die Wirkung über das erwünschte Maß hinausging, den Schlaf beeinträchtigte und Psychosen und Halluzinationen verursachte.10 Das Subjekt stellt sich darauf ein, womit es körperlich zu rechnen hat oder was es nicht zu erwarten hat. Das gilt auch, wenn seine Körperlichkeit defizitär wurde. Vom Oberbauch abwärts spüre ich heute nichts mehr, kann keine Muskeln bewegen.11

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Hull 1992: 95. Hull 1992: 98. Bauby 1997: 96f. Todes 2005: 62. Buggenhagen 1996: 43.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Das Subjekt nimmt in seine Körperidentität auf, dass es den sensomotorischen Körper nicht mehr willentlich zu beeinflussen vermag, auch weil es weiß, dass ein destruktives körperliches Erleben dadurch verstärkt wird, wenn es versucht, das zu tun. Nicht nur Arm und Finger haben auf Reize zunehmend krampfhaft reagiert. Kälte und Anstrengung lösen noch heute Verspannungen des linken Beines aus. Und diese Spastizität verhindert dann geradezu den normalen und angestrebten glatten Bewegungsablauf. Je mehr ich mich bemühe, desto weniger kann ich normal gehen und desto ungeschickter werde ich.12 Gleichzeitig macht das Subjekt vielfältige Erfahrungen mit dem veränderten Körper, die ihm aufzeigen, dass es seinem umbrochenen Körper nicht notwendigerweise ausgeliefert sein muss. Auch nach dem körperlichen Umbruch versteht es die Wechselwirkung des somatischen Körpers mit der äußeren Welt so zu steuern, dass es die destruktive Qualität vermeiden und die defizitäre umgehen kann. Dadurch ist es ihm möglich, von seinem Körper keine Unlust vermittelt zu bekommen. Das betrifft die Aufnahme der Umwelt in den sensomotorischen Körper. Wenn ich auf mir fremden Wegen, begleitet von einem Freund, durch die Straßen der Stadt gehe, stelle ich häufig Fragen wie diese: »Kannst du es noch sehen? Ist es ein langer Häuserblock? Wie weit ist es von hier aus deiner Meinung nach noch?« Ich muß meinem Körper beim Gehen offenbar bestimmte Ziele setzen, denn sonst würde ich mich nur lustlos dahinschleppen.13 Ebenso betrifft es das Einwirken des sensomotorischen Körpers auf die Umwelt. Meine Laufstrecke – so ist es bei vielen MS-Patienten – ändert sich täglich und das kann ich oft erst feststellen, wenn ich unterwegs bin. Für mich persönlich habe ich die Konsequenz gezogen keine Experimente zu machen, das heißt bei größeren Entfernungen immer den Rollstuhl zu nehmen.14 Und nachdem das Subjekt frühere Gewohnheiten aufgegeben hat, ist es ihm auch beim Austausch des viszeralen Körpers mit der Umwelt möglich, unangenehme Empfindungen zu umgehen. Ich habe schnell gelernt, daß Paprika und Johannisbeeren bei mir eine durchschlagend anregende Wirkung haben, und mithin vom Kostplan gestrichen sind.15 Durch die verschiedenen Erfahrungen, die das Subjekt über die Zeit mit seiner veränderten Körperlichkeit macht, erkennt es, welche Umstände sein körperliches Befinden beeinträchtigen. Diese Erkenntnis hilft ihm wiederum, ein destruktives körperliches Erleben zu vermeiden und ein defizitäres zu umgehen. Weil das Subjekt seinen umbrochenen Körper versteht, stellt es Zusammenhänge her.

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Peinert 2002: 59f. Hull 1992: 204f. Lürssen 2005: 33. Buggenhagen 1996: 84.

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Stress jedoch behindert noch heute bei mir den normalen zügigen, gelassenen Ablauf von Muskelaktivitäten. Er führt zu Verkrampfungen und stört natürliche Bewegungen so wie auch starke Willensanspannungen es tun.16 Auch Umstände, die sein körperliches Wohlbefinden zu steigern vermögen, sind dem Subjekt inzwischen bekannt, und es nutzt sie nach seinen Bedürfnissen. Mir tut mäßige Wärme gut, auch gegen die Spastik und die anhaltenden Rückenschmerzen. Ich fühle mich besser und nur im Süden habe ich warme Füße statt Eisklötzen wie zu Hause.17 Um mit dem umbrochenen Körper zufriedenstellend leben zu können und ihn nicht dauerhaft als eine narzisstische Kränkung zu empfinden, bewährt es sich für das Subjekt, Ressourcen außerhalb seines Selbst in Anspruch zu nehmen. Durch sie erwirbt es bisweilen ein Wissen im Umgang mit seiner veränderten Körperlichkeit, das ihm bis dahin fehlte und dessen Fehlen sein alltägliches Leben erschwerte. Ein Nachteil der Amputation war, daß ich bis zu fünfzig Prozent mehr Sauerstoff benötigte als gesunde Menschen. Daher mußte ich bei jeder Länge viel häufiger atmen als vor dem Unfall. Duncan half mir auch, meine Atmung zu synchronisieren, damit ich nicht am Ende völlig ausgepumpt war.18 Insofern führt die Identitätsarbeit, die nach dem körperlichen Umbruch im Alltag fortlaufend stattfindet, dazu, dass das Subjekt jetzt den umbrochenen Körper in einer Weise versteht und mit ihm umzugehen weiß, dass es dessen Wechselwirkung mit der Welt als konstruktiv erlebt. Innerhalb der Teilidentität der Körperlichkeit entsteht eine neue Kohärenz. Das bestätigt sich beim sensomotorischen Körper und der Aufnahme der Umwelt in den Körper. Inzwischen kann ich nicht nur dünnere Gegenstände lokalisieren, sondern auch der Wahrnehmungsradius hat sich offenbar vergrößert. Wenn ich nach Hause ging, konnte ich früher parkende Autos nur entdecken, wenn ich mit meinem Stock den Kontakt herstellte. Neuerdings stoße ich fast nie unerwartet an ein parkendes Auto an. Fast immer bemerke ich ein Hindernis auf meinem Weg, bevor mein Stock darauf auftrifft, und das, obwohl ich nun den ganz langen Stock benutze. Ich glaube, ich kann parkende Autos nun in einem Umkreis von zwei bis zweieinhalb Metern entdecken.19 Die neu entstandene Kohärenz lässt sich ebenso für den viszeralen Körper und dessen Einwirken auf die Umwelt ausmachen. Der innere Dialog mit meinem Körper signalisiert mir meistens, wann ich was zu tun habe. Ich erhalte Anweisungen, die, wenn ich sie nicht ignoriere, Probleme vermeiden helfen. Ich erfühle, wenn meine Blase voll ist, die mir das unverschuldete Geschenk bereitet, mit 1275 Milliliter Fassungsvermögen mehr als doppelt so aufnahmefähig wie

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Peinert 2002: 80. Lürssen 2005: 76. Mills 1996: 256. Hull 1992: 42.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

normal zu sein. Um sie zu entleeren, klopfe ich mit der Hand am unteren Rand, drücke dann am Beckenrand und rolle nach innen ab. Das animiert und garantiert in der Regel schnellen Erfolg. Freunde und Bekannte wissen, was abläuft, wenn ich »klopfen gehe«. Ähnlich verhält es sich mit den größeren »Geschichten«.20 Infolge der geleisteten Identitätsarbeit lassen sich körperliche Zeichen einordnen. Das Empfindungssystem hat sich verändert, man bemerkt oft auch an äußeren Dingen, wenn etwas organisch im Körper nicht stimmt. Bei mir sind es zum Beispiel Spasmen der Beine, die anfangen zu spinnen und sich in Zuckungen selbständig machen. Das sind Warnzeichen, die man erkennen muß. Tut man das, ist alles zu bewältigen. Ich weiß es aus eigener Erfahrung, aus jahrelangem Lernen.21 Die zurückliegende Identitätsarbeit war so umfassend, dass sie ins Unbewusste vorgedrungen ist. Selbst das neuropsychologische Körperschema hat sich dem veränderten somatischen Körper angepasst. [M] ein Traum deckt sich voll und ganz mit der Realität. Ich bin unfähig, ein Wort zu sprechen.22 Indem das Subjekt auf seine Träume achtet, bekommt es mit, wie es sich in seinem Unbewussten weiter mit der veränderten Körperlichkeit auseinandersetzt. Erschöpft schlafe ich wieder ein und träume weiter: Der blaue Stöpsel wandert von meinen Lungen in den Magen und kommt bei meiner Magensonde wieder raus. Wie kann ein blauer Stöpsel, so denke ich im Traum, von einem Infusionsschlauch in eine Beatmungskanüle, von dort in die Lunge und zum Magen wandern, um dann aus der Magensonde zu kommen?23 Der soziale Bereich: Wie dem Subjekt durch die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch klar wird, dass zwar sein somatischer Körper für längere Zeit oder auf Dauer verändert ist, es ihm aber trotzdem vertrauen und sich mit ihm befriedigend und erfüllend mit der Umwelt austauschen kann, so wird ihm auch zur Gewissheit, was jetzt seinen sozialen Körper ausmacht. In ihrem sozialen Bereich ist die Teilidentität der Körperlichkeit davon geprägt, wie der umbrochene somatische Körper von der Alterität wahrgenommen wird und wie sie sich auf ihn bezieht. So ist das Subjekt darauf eingerichtet, dass sein Körper infolge seiner ungewohnten Gestalt und seiner unüblichen Funktionsweise besonders in Augenschein genommen wird, sobald er in der Öffentlichkeit erscheint. Da jegliche Transfers für mich eine grosse Anstrengung darstellen, wurde ich auf der Liege ins Restaurant geführt, was die Aufmerksamkeit aller erregte.24

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Buggenhagen 1996: 85. Buggenhagen 1996: 87. Bauby 1997: 54. Balmer 2006: 41. Balmer 2006: 34.

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Unabhängig davon, ob sein umbrochener Körper bei seinem Erscheinen befremdet, neugierig macht oder verschämt betrachtet wird, erlebt das Subjekt vielfach, dass er die Anderen in ihrem Selbst verunsichert. Sie wissen nicht, wie sie sich auf seinen Körper beziehen sollen oder sich zu ihm verhalten können. Weil seine Körperlichkeit von der Norm abweicht und der kulturell üblichen Körper- und Affektkontrolle nicht genügt, verlieren die vertrauten Formen des sozialen Umgangs ihren sonst üblichen Stellenwert. Die durch den umbrochenen Körper ausgelöste Verunsicherung ergreift auch diejenigen, die selbst einer Veränderung ihrer gewohnten Körperlichkeit ausgesetzt sind. Ich kenne das leichte Unbehagen zu gut, das wir hervorrufen, wenn wir, still und steif, eine Gruppe von weniger benachteiligten Kranken durchqueren.25 Das Subjekt muss in seine Körperidentität aufnehmen, dass ein Teil seiner bisherigen Alterität versucht, eine Begegnung mit ihm zu umgehen. Für manche ist die Vorstellung, seinem umbrochenen Körper ausgesetzt zu sein, unerträglich. Trotz anderweitiger Absichtserklärungen ziehen sie sich zurück, bevor sie mit ihm zusammentreffen. Ich weiß sogar von welchen, die hier vor meiner Tür die Kräfte verließen: sie haben kehrtgemacht und sind nach Paris zurückgefahren.26 Von einem Teil der Alterität wird dem Subjekt wiederum ein Verhalten entgegengebracht, das es kränkt und verletzt. Ohne die veränderte Körperlichkeit als einen möglichen Beweggrund zu benennen, scheinen manche es darauf anzulegen, das Subjekt mit seinem umbrochenen Körper aus dem sozialen System auszugrenzen. Um meine Schwachpunkte weiter bloßzustellen, bestanden [meine Kollegen; B.R.] zudem darauf, ich solle die Leitung der wöchentlichen Sitzung der Kinderabteilung übernehmen, wohlwissend, dass die Leitung solcher Sitzungen nie zu meinen Stärken gehört hatte, auch vor Beginn meiner Parkinson-Erkrankung nicht. In Wirklichkeit handelte es sich nur um eine weitere schlecht getarnte List, mit der mein Selbstvertrauen unterminiert werden sollte.27 Im Verlauf der Identitätsarbeit hat das Subjekt erkannt, dass es durch den körperlichen Umbruch nicht nur die Unversehrtheit seines somatischen Körpers verloren hat, sondern dass es jetzt auch nicht mehr den selbstverständlichen Umgang der Alterität mit seinem sozialen Körper erlebt, wie es ihn davor kannte. Die veränderte Körperlichkeit sondert es von den Anderen ab. Abgesehen davon, dass sein umbrochener Körper das Verhalten ihm gegenüber so sehr bestimmt, dass die Alterität eine Beziehung zu ihm meidet, muss das Subjekt noch erfahren, dass in der Beziehung zu den Anderen, falls sie doch zustande kommt, nun die wechselseitige Identifikation unterbleibt. Der Sehende sorgt sich um mich. Er kümmert sich um mich. Die Fürsorglichkeit gibt ihm das Gefühl, daß er ein Erwachsener ist und ich ein Kind bin.28 25 26 27 28

Bauby 1997: 34. Bauby 1997: 93. Todes 2005: 99. Hull 1992: 168.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Die Begegnung von gleich zu gleich wird von der Alterität auch dadurch umgangen, dass sie nicht bereit, fähig oder willens ist, sich in die besonderen Bedingungen einzufühlen, die der Körper des Subjekts aufweist. Weil die Alterität ihr Verhalten nicht dem umbrochenen Körper anpasst, lässt sie das Subjekt allein. Es ist mir schon häufig passiert, daß ich noch mit einem sehenden Freund sprach und dann irgendwann entdeckte, daß er gar nicht mehr da war. Er war fortgegangen, ohne mir das mit Worten zu sagen. Er hatte vielleicht genickt oder gelächelt und geglaubt, das Gespräch sei vorüber. Von meinem Standpunkt aus gesehen hat er sich plötzlich in Luft aufgelöst.29 Dem Subjekt begegnet die fehlende Einfühlung in seine von der Norm abweichende Körperlichkeit nicht nur in den sozialen Systemen, denen es in seinem Alltag angehört, sondern auch in der sozialen Institution Gesundheitswesen, in dem es sich zur Behandlung aufhält. Dort, wo die Alterität ihm dienen soll, wird über das Subjekt verfügt. Im Laufe der Wochen hat mir diese erzwungene Einsamkeit zu einem gewissen Stoizismus verholfen und zu der Erkenntnis, daß das Krankenhauspersonal zweigeteilt ist. Da gibt es die Mehrheit, die mein Zimmer nicht betreten würde, ohne zu versuchen, meine SOS-Signale zu begreifen, und die anderen, weniger gewissenhaften, die so tun, als sähen sie meine Notzeichen nicht, und wieder verschwinden. So wie dieser reizende Unmensch, der mir die Übertragung des Fußballspiels Bordeaux – München in der Halbzeit abgedreht hat und mir ein unwiderrufliches »Gute Nacht« zukommen ließ.30 Auch die Spezialisten des Gesundheitswesens verhalten sich dem Subjekt gegenüber oft so, als würden sie nicht merken, dass sein sozialer Körper andere Bedürfnisse hat als der ihrige. Es fällt ihnen nicht auf, wie sie mit ihrem Verhalten das Subjekt schädigen und es noch stärker behindern, als es infolge des körperlichen Umbruchs eh schon ist. Zwar haben die meisten meiner Freunde das System [des Kommunikationscodes; B.R.] übernommen, aber hier im Krankenhaus sind Sandrine und eine Psychologin leider die einzigen, die es praktizieren. Meistens steht mir also nur ein kümmerliches Arsenal von mimischen Veränderungen, Augenblinzeln und Kopfschütteln zur Verfügung, um darum zu bitten, daß die Tür zugemacht, eine eingeklemmte Wasserspülung behoben, der Fernseher leiser gestellt oder ein Kopfkissen hochgeschoben wird. Es gelingt mir keineswegs immer.31 Zu einem Teil seiner Körperidentität wird dem Subjekt des Weiteren, dass die Spezialisten des Gesundheitswesens über seinen Körper Macht ausüben. Sein Hinweis, welche nachteilige Folgen ihr Verhalten hat, wenn sie die Bedingungen seines umbrochenen Körpers nicht achten, wird von ihnen nicht verstanden. Dem Arzt der Intensivstation wollte ich viel mehr sagen, als dass man mir wahrhaftig auf dem Beatmungsschlauch stehen kann. Die Atemluft hat man mir auch ohne einen

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Hull 1992: 112f. Bauby 1997: 41f. Bauby 1997: 41.

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physiologischen Fuss nehmen können. Gerade so, wie man jedem Menschen – auch nicht Beatmeten – die Luft zum Atem nehmen kann. Es gibt verschiedene Bezeichnungen für »Das-Jemandem-die Luft-Nehmen«: einengen, bevormunden, befehlen, bestimmen, für jemanden zu sehr denken, hinterlistig sein, interpretieren.32 Die in den Beziehungen zur Alterität gemachten Erfahrungen, nämlich dass sie mit ihm die Beziehung entweder ganz vermeidet oder die Begegnung von gleich zu gleich nicht zulässt, beeinflussen das Subjekt in seinem Selbstverständnis. Es muss berücksichtigen, dass die Alterität vielfach nicht in der Lage ist, die Unterschiede zu erfassen, die sich aus der unterschiedlichen Körperlichkeit ergeben. Den meisten Sehenden fällt es schwer, nachzuvollziehen, worin die Schwierigkeit für mich besteht[, im Schnee zurechtzukommen; B.R.]. Häufig äußern sie die Vermutung, daß ich ›rutsche und schlittere‹. Mit anderen Worten, sie schreiben mir die gleiche Schwierigkeit zu, mit der sie auch bei Schnee zu kämpfen haben; sie setzen voraus, daß, wenn sie schon rutschen und schlittern, ich noch mehr rutschen und schlittern muß. Meine Schwierigkeit ist nicht der unsichere Stand, sondern die Mobilität. Nicht meine Schritte werden im Schnee unsicher, sondern ich werde unsicher, wo ich gehe. Das Informationsdefizit macht mir im Schnee zu schaffen.33 Aus dieser Erkenntnis gewinnt das Subjekt ein Identitätsprojekt, nämlich der Alterität den Umgang mit seiner veränderten Körperlichkeit selbstverständlicher werden zu lassen. Sicherlich kann ich ein kurzes Stück den Kinderwagen schieben; ich kann Carolin nicht durch die Wohnung tragen, aber ich kann sie mit meinem Rollstuhl vertraut machen, sie auf meinem Schoß spazierenfahren – das machen ihre Mutter und ich jetzt schon, sicherlich zum Erstaunen vieler Mitmenschen. Vielleicht kann ich ihr so einen vertrauten Umgang mit dem Rollstuhl, eine positive Einstellung zu ihm vermitteln.34 Nach dem körperlichen Umbruch erlebt das Subjekt aber in der sozialen Dimension seiner Körperlichkeit auch, dass in seiner Not die Alterität für ihn da ist. Einige Menschen haben mir geholfen, vor allem jene, die unscheinbar im Hintergrund agierten. Über sie sprach man nie.35 Auch unter den Spezialisten des Gesundheitswesens gibt es welche, die auf die Bedürfnisse des umbrochenen Körpers angemessen eingehen und den sozialen Körper des Subjekts achten. Heute – nach 16 Jahren MS-Geschichte – kann ich von den mich behandelnden Ärzten – gleich ob niedergelassen oder Krankenhaus – nur Positives berichten. Ich hatte nie das Gefühl, wie du es formulierst, mein »Gehirn am Eingang abgeben zu müssen«. Im

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Balmer 2006: 43. Hull 1992: 179. Ruscheweih 2005: 60. Balmer 2006: 51.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Gegenteil: Ich hatte und habe mich immer als »mündiger Patient« mit Mitspracherecht gefühlt.36 Seine Beziehungen zu den Anderen werden vom Subjekt so gestaltet, dass sein sozialer Körper zu zwischenmenschlichen Begegnungen führt, die es erfüllen und befriedigen. Mitunter braucht es eine lange Zeit, bis das Subjekt für sich die Lösung gefunden hat, die seinem umbrochenen Körper entspricht. Zu dieser Zeit litt ich schon seit 14 Jahren an Parkinson. Ich hatte deutliche Beschwerden auf beiden Seiten meines Körpers und hatte Schwierigkeiten, in größeren Gruppen zu reden. Bis ich dann endlich so weit war, selbst etwas zu sagen, war die Unterhaltung meist schon bei einem anderen Thema angelangt. Also nahm ich nur noch an Gesprächen innerhalb kleinerer Gruppen teil: Besprechungen der Symptome einzelner Patienten, Supervisionen und die Einzelbehandlung von Patienten.37 Das Subjekt weiß durch die zurückliegende Identitätsarbeit, dass sein umbrochener Körper Beziehungen zu den Anderen und Begegnungen mit ihnen nicht grundsätzlich ausschließen muss. Vielmehr kann die jetzige Körperlichkeit sogar entscheidend dazu beitragen, ein Verhältnis zu seiner Alterität zu finden, das von besonderer Tiefe und Verbindlichkeit geprägt ist. Mit der Behinderung hatte sich zwar mein Freundeskreis geändert, aber am Ende auf eine Weise, die die wirklichen Freunde übrigließ. Früher waren es vor allem »viele«. Heute habe ich unwahrscheinlich zahlreiche »Bekannte«, aber relativ wenige Freunde. Die erkannt man, die Erfahrung hat wohl jeder mehr oder weniger gemacht, in der Regel erst dann, wenn es einem nicht so gut geht. Da blieben schlagartig manche weg, hatten keine Zeit mehr oder andere Vorwände. Ein paar haben immer zu mir gehalten, egal, was auch passiert war, andere waren plötzlich da und leisteten, ohne viele Worte darüber zu verlieren, Beistand. Ein stilles Wort, das hinter seinen nüchternen Buchstaben bescheiden verbirgt, was es für mich bedeutete: Menschen standen mir bei, indem sie mich nicht an dem maßen, was ich nicht konnte, sondern mich dafür schätzten, was ich war.38 Der produktorientierte Bereich: Außer dass dem Subjekt durch seine Identitätsarbeit klar wird, was seinen umbrochenen Körper in der somatischen und in der sozialen Dimension ausmacht, erlangt es Gewissheit, was es mit ihm zu leisten vermag. Es weiß genau, inwieweit es mit dem veränderten Körper die kulturell anerkannten Fähigkeiten und Fertigkeiten ausüben kann, mit denen in den sozialen Systemen üblicherweise die Grenzen des somatischen Körpers erweitert werden. Dazu gehört, dass es einzuschätzen weiß, was mit seinem Körper jetzt nicht mehr geht. Nach dem Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit stehen ihm Funktionen seines Körpers nicht länger zur Verfügung, die von seiner Alterität für unabdingbar gehalten werden.

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Ruscheweih 2005: 38. Todes 2005: 78. Buggenhagen 1996: 46.

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Aus alledem ergibt sich weiter, daß für mich das Gesicht nicht mehr die zentrale Rolle spielt wie in normalen menschlichen Beziehungen. Das Gesicht ist bloß der Ort, von dem die Stimme herkommt.39 Auch kulturell weit verbreitete Fertigkeiten und Fähigkeiten kann das Subjekt nicht mehr ohne weiteres abrufen. Kopfrechnen will bei mir ebenfalls nicht mehr so sicher gehen wie gewohnt. Noch heute, über ein Jahr nach dem Schlaganfall, habe ich Schwierigkeiten beim Geldwechseln und dabei, die Höhe eines Trinkgeldes im Restaurant richtig abzuschätzen. […] Auch die Sprache lief und läuft nicht immer ganz so flüssig, wie ich es mir gerne einreden möchte; und beim Versuch, ein Lied zu singen, gerate ich in ernste Schwierigkeiten.40 Ein weiterer Schaden ergibt sich für das Subjekt daraus, dass es alltägliche Abläufe, deren Beherrschung als selbstverständlich gilt, nicht mehr zuverlässig auszuführen vermag. Plötzlich bei der Küchenarbeit wird alles rot, ein tiefer Schnitt in der Hand, und ich habe es nicht bemerkt.41 Es kommt schließlich auch vor, dass es für das Subjekt zum Nachteil gereicht, wenn es eine von der Alterität als hilfreich erachtete Ressourcen für sich nutzt: Die Erleichterung, die es ihm verschafft, sie in Anspruch zu nehmen, verringert seine Leistungsfähigkeit. Bei mir passiert nun etwas Merkwürdiges. Sobald ich akzeptiere, von einem Freund begleitet zu werden, verliere ich meine Unabhängigkeit.42 Zur Gewissheit über die Leistungsfähigkeit des umbrochenen Körpers trägt dabei, dass das Subjekt herausfindet, wie es mit seiner von der Norm abweichenden Körperlichkeit möglichst viele der kulturell anerkannten Fähigkeiten und Fertigkeiten ausüben kann. Es entwickelt neue Gewohnheiten. Es ist eher so, dass ich mich zwingen muss, mich mittags hinzulegen, weil meine Beine von der Belastung, die sie während meines Jobs zu leisten haben, eine Pause brauchen.43 Inzwischen ist das Subjekt bereit, soziale und andere Ressourcen zu nutzen, um die Einschränkungen der körperlichen Funktionen zu verringern. Ich weiß im Grunde, daß ich Hilfe brauche und kann sie auch annehmen. Ich weiß ferner, daß meine Krankheit es zum Teil verhindert hat, daß ich in allen Bereichen wirklich so zuverlässig reagieren konnte, wie mir das einmal selbstverständlich war.44

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Hull 1992: 38. Peinert 2002: 35. Lürssen 2005: 44. Hull 1992: 118. Ruscheweih 2005: 51. Peinert 2002: 69.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Dadurch, dass das Subjekt Ressourcen in Anspruch nimmt, die es für geeignet erachtet, vermag es den Funktionsverlust auszugleichen. Als Tagessedativum gegen Nervosität habe ich gute Erfahrungen mit Johanniskraut oder Kavain gemacht. Beide wirken ohne abhängig oder abwesend zu machen. Jetzt zucke ich nicht mehr bei jedem unerwarteten Geräusch heftig zusammen.45 Die Mühe, die es braucht, sich eine Ressource vertraut zu machen, erweist sich als lohnend. Als ich das Kunstbein zum ersten Mal ausprobierte (immer noch mit Krücken), fühlte es sich sehr komisch an. Es war viel steifer als ein richtiges Bein, und da meine Muskeln so schwach geworden waren, empfand ich es als sehr schwer. Es war problematisch, es nach vorn zu schwingen. Aber nach zehn Minuten Training hatte ich mich schon daran gewöhnt.46 Da die körperliche Einschränkung und die sich daraus ergebende Verringerung der Leistungsfähigkeit ohne die Inanspruchnahme einer Ressource groß ist, entscheidet sich das Subjekt für sie, selbst wenn damit Nachteile einhergehen. Dadurch ist es in der Lage, mit seinem sozialen Körper gelingende Beziehungen zu seiner Alterität einzugehen. Wenn die Wirkung des Medikaments aus irgendeinem unvorhersehbaren Grund nicht rechtzeitig einsetzte – ob aufgrund eines gereizten Magens, einer zu schweren Mahlzeit, eines konkurrierenden Enzyms auf dem Weg zum Gehirn oder aus einem anderen, völlig unverständlichen Grund –, war ich völlig hilflos und kaum in der Lage, mich zu bewegen. Wie oft saß ich im Anzug und fertig herausgeputzt vor einer Abendgesellschaft in meinem Auto und fuhr in der Nachbarschaft herum, bis das Medikament zu wirken begann.47 Die erworbene Gewissheit über die Leistungsfähigkeit des umbrochenen Körpers beruht schließlich noch darauf, dass das Subjekt erkennt, was ihm nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit mit dem sozialen Körper möglich ist. Dessen Leistungsfähigkeit muss nicht schicksalhaft gemindert sein. Am nächsten Morgen zog ich einen engen, kurzen Pullover an; dann half mir Sophie, meine Jeans über das neue Bein zu ziehen. Ich zog ein Paar flache Schuhe an, nahm meinen Walnußstock und war fertig.48 Wenn die nicht mehr zur Verfügung stehenden körperlichen Funktionen gut ersetzt werden, ist das Subjekt fähig, mit seinem umbrochenen Körper Leistungen zu erbringen, die denen gleichwertig sind, die es vor dem körperlichen Umbruch erbrachte. Es versteht, sich mit seiner Alterität in Beziehung zu setzen.

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Lürssen 2005: 31. Mills 1996: 250. Todes 2005: 109. Mills 1996: 250.

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Körperlicher Umbruch

Bei den Menschen, die ich sehr gut kenne, fällt mir auf, daß alle Gefühlsregungen, die sich normalerweise im Gesicht ausdrücken, auch von der Stimme mitgeteilt werden: Müdigkeit, Furcht, unterdrückte Erregung und so weiter. Meine aus der Stimme gewonnenen Eindrücke scheinen ebenso genau zu sein wie die sehender Menschen.49 Der körperliche Umbruch beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit nicht so sehr, wie das Subjekt befürchtete, und es ist ihm viel mehr möglich, als es dachte. Gewisse Dinge begannen sich zu normalisieren. Trotz Beutel fuhr ich wieder selbst Auto und erledigte Dinge. Es war irgendwie eine seltsame Sache, aber ich hatte mich mittlerweile so an ihn gewöhnt, dass ich relativ »normal« mit ihm umging. Mittlerweile gehörte er einfach zu meinem Leben. Ich hatte die »Scheiße« akzeptiert, genauso wie ich die Krankheit akzeptiert hatte. Ich spielte Skat mit dem Beutel. Wie kann man als Krebskranker Skat spielen? Man kann es. Und man kann sogar gewinnen.50 Damit das Subjekt die angestrebte Leistung erbringen kann, muss es das auf seine Weise tun. Wenn ich versuche, mir meinen Weg bildlich vorzustellen, dann antizipiere ich die Empfindungen, die mein Körper zu unterschiedlichen Zeiten (zum Beispiel an bestimmten Stationen) haben wird. Hier wird er von einem Gegenstand geführt, der links von mir steht, wenn ich vorübergehe, später wird es ein Gegenstand zu meiner Rechten sein. Was mehr als sechzig Zentimeter oder einen Meter zu beiden Seiten dieser Spur von mir entfernt liegt, bedeutet mir nichts.51 Zuvor beherrschte kulturellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die das Subjekt verloren hat, erhält es dadurch zurück, dass es die Besonderheiten seines Körpers berücksichtigt. Dann gelang eines Tages auch ein erstes Radfahren, wenn auch nur mit Zittern auf einem behindertengerechten Dreirad, denn auf meinem alten Zweirad will es mir noch immer nicht gelingen, die Balance zu halten.52 Indem das Subjekt seine Erfahrungen verinnerlicht, gewinnt es eine Leistungsfähigkeit, die ihm unmittelbar nach dem Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit nicht zur Verfügung gestanden hat. Wenn ich nun im Auto durch die Straßen von Birmingham fahre, dann erkenne ich auf den mir vertrauten Routen oft an den Fahrbewegungen des Autos auf gerader Strecke und beim Abbiegen, wo ich bin. Ich bin wie ein auf dem Rücksitz schlafender Hund, der ein oder zwei Straßen von zu Hause entfernt aufwacht. In seinem Körper kennt er diese vertrauten, letzten Bewegungen und Rucke des Autos. Diese Erinnerungen

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Hull 1992: 39. Lesch 2002: 139. Hull 1992: 159. Peinert 2002: 90.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

haben in einem gewissen Umfang den Platz der visuellen Erinnerungen an die Straßen eingenommen.53 Insofern entsteht durch die Identitätsarbeit auch in diesem Bereich der Körperidentität eine neue Kohärenz. Wiederum ist sie das Ergebnis eines mühsamen Prozesses, der mit großer Anstrengung verbunden ist Es ist nicht die tödliche Krankheit selbst, die mich lebensmüde werden lässt, sondern das, was sie von mir abverlangt, um weiterleben zu können.54 Der kognitive Bereich: Durch die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch weiß das Subjekt des Weiteren, was seinen umbrochenen Körper in der psychischen Dimension ausmacht. Es erkennt, wie sich der körperliche Umbruch auf sein bisheriges Körperselbst auswirkt, aber es ist sich noch nicht klar, wie es damit umgehen soll. Es nimmt an, dass es bezogen auf die Körperwahrnehmung einen unumkehrbaren Bruch gegeben hat. Dank der Erinnerung an Fotografien und an mein Bild im Spiegel wußte ich, wie ich aussah. Seltsamerweise sind viele der Fotografien, an die ich mich lebhaft erinnere, nicht neueren Datums, sondern vor vielen Jahren aufgenommen. Daher weiß ich, daß meine Erinnerungen an mich selbst bereits überholt sind, und das seltsame dabei ist, daß ich sie nicht auffrischen kann. […] Sollte ich mein altes Aussehen als Sehender ganz vergessen? Sollte ich nun versuchen, mich allein mit Hilfe nicht-visueller Daten neu kennenzulernen? Offensichtlich ist das unvermeidlich. Was wird dann aus jenen fünfundvierzig Jahren, in denen ich ein sehendes Ich war?55 Dem Subjekt ist seine Körperlichkeit so schwer bestimmbar, dass es sie oft nicht verstehen, geschweige denn der Alterität gegenüber sprachlich mitteilen kann. Die Unbestimmtheit des körperlichen Erlebens ist so groß, dass selbst die zu Rate gezogenen Spezialisten des Gesundheitswesens mit ihrem Fachwissen nicht in der Lage sind, seine Körperlichkeit richtig einzuschätzen. Dazu kommt auch die Unsicherheit, nie zu wissen, ob der Zustand heute der Anfang oder das Ende dieses Gefühles ist. Und: ist das nun wirklich eine durch MS verursachte Empfindung oder soll ich besser doch zum Hausarzt gehen und eine gründliche Abklärung verlangen. Immer wieder sind in den langen Jahren ganz normale Krankheiten irrtümlich als durch MS verursacht diagnostiziert und darum nicht richtig behandelt worden oder umgekehrt. Ich kann nie sagen, wie es mir wirklich geht, deshalb antworte ich oft auf diese Frage mit »gut« oder »es geht so«, denn beschreiben kann und will ich das nicht jedes Mal.56 Doch kann das Subjekt mittlerweile angeben, wie sich der körperliche Umbruch auf sein bisheriges Selbst auswirkt. Es macht den Verlust der gewohnten Körperlichkeit dafür verantwortlich, dass sich sein psychisches Befinden verschlechtert hat. 53 54 55 56

Hull 1992: 160. Balmer 2006: 71. Hull 1992: 166. Lürssen 2005: 45.

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Körperlicher Umbruch

Die psychischen Folgen des Schlaganfalls dagegen müssen meines Erachtens auf die physischen Ausfälle zurückzuführen sein, die man erleidet, und die einem ein unbestimmtes Gefühl der Minderwertigkeit geben, ohne daß ich dieses im einzelnen näher erklären könnte.57 In seinem Selbst verunsichert will sich das Subjekt der Alterität nicht aussetzen. Seiner Einschätzung nach hat sich nicht nur sein Körper, sondern auch sein Selbst nachteilig verändert. Sobald das Subjekt sich vorstellt, eine Beziehung zu den Anderen aufzunehmen, wird ihm unwohl. Seine Einstellung zu seinem umbrochenen Körper führt dazu, dass es vermeidet, sich ihnen zu zeigen. Aber diesen künstlichen Darmausgang wollte ich nicht öffentlich machen. Ich schämte mich ganz einfach! Aus dem anfangs mutigen Kämpfer wurde mehr und mehr ein schwacher Mensch.58 Durch seine Identitätsarbeit weiß das Subjekt aber auch, dass sein Körperselbst es inzwischen verinnerlicht hat, mit dem umbrochenen Körper im Alltag angemessen handeln zu können. Im Traum drückt das Subjekt sein Wissen um den veränderten Körper ebenso aus wie sein Wissen, dass die Alterität die veränderte Körperlichkeit wahrnimmt und sich darauf bezieht. Die Angst, die anfangs mit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit einherging, wird nun vom Subjekt beherrscht, denn es hat die Zuschreibungen der Anderen zu seinem umbrochenen Körper an- und dessen Zustand bis in sein Körperschema aufgenommen. In diesem Traum höre ich, daß ich als Blinder bezeichnet werde, ich sehe, daß ich einen Stock in der Hand halte, ich erlebe noch einmal die Panik, nicht schnell genug zu mir lieben Menschen gelangen zu können, die in Not sind. In dem Traum ist es jedoch nicht klar, ob mich jemand führt oder begleitet. Ich scheine allein dorthin gelangen zu können.59 Der affektive Bereich: Schließlich erlangt das Subjekt im Verlauf der Identitätsarbeit eine Gewissheit zu den Affekten, die sein umbrochener Körper im Austausch mit der Welt, den sozialen Systemen und dem eigenen Selbst hervorruft. Es sind gegensätzliche Gefühle, die ihm durch seine veränderte Körperlichkeit vermittelt werden, nämlich Freude und Glück einerseits und Angst, Wut, Schmerz, Trauer oder Schuld andererseits. Freude und Glück sind dadurch bedingt, dass dem Subjekt der Austausch des sensomotorischen Körpers mit der äußeren Welt und dessen Einwirken auf sie besser gelingt, als es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit erwartet hat. Ich kann noch immer nicht zügig spazieren gehen, geschweige denn schweißtreibend sportlich flott wandern. Aber ich bin nach einer Therapiestunde manchmal ganz glücklich, ein paar Schritte normal gegangen zu sein und dies Vermögen bei meinem nächs-

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Peinert 2002: 81. Lesch 2002: 110. Hull 1992: 102.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

ten Gang an die frische Luft gewissermaßen in meinen Alltag hinein bewahren zu können.60 Wenn es dem Subjekt möglich gewesen ist, seine jetzige körperliche Erscheinung seinem von früher her gewohntem Körperbild anzupassen, wird es nicht mehr erheblich davon gekränkt, den umbrochenen Körper im Spiegel der Anderen wahrnehmen zu müssen. Im Gegenteil: Zwei Tage vor dem Termin beim Premierminister holte ich mein neues Bein ab. Es sah phantastisch echt aus. Bob hatte es aus Silikon gefertigt, das nicht nur natürlich aussieht, sondern sich auch so anfühlt, ganz warm und nicht so kalt und hart wie das Kohlegraphitbein. […] Er hatte mir […] ein paar wunderbare Zehennägel mitgeliefert, die einzeln angeklebt waren, ganz echt aussahen und natürlich lackiert werden konnten. Ich fühlte mich großartig, als ich John Major die Hand schüttelte.61 Auch beglückt es das Subjekt, wenn es Wege kennt, wie in Zukunft die Folgen des körperlichen Umbruchs zu lindern sind. Wenn ich die Möglichkeit habe, eine neue Entwicklung in der Behandlung der Parkinson-Erkrankung auszuprobieren, ist meine Begeisterung nicht zu bremsen, und meine Hoffnung ist ansteckend.62 Die Rückmeldung der Alterität zeigt dem Subjekt, dass sein Handeln mit dem umbrochenen Körper den Vorstellungen widerspricht, die die Anderen über ein Leben mit dem veränderten Körper haben. Doch genau dadurch sieht es sich für seine Identitätsarbeit bestätigt, denn es entspricht nicht den sozial vorherrschenden Auffassungen über die Rolle eines Behinderten. [N]eulich haben meine Cousine und ich uns amüsiert. Wir waren mit [dem Rollstuhl namens; B.R.] Scotty im Wald spazieren. Ich hatte dabei mein Patenkind auf dem Schoß. Sie war zu dem Zeitpunkt gerade 10 Wochen alt. Die Gesichter der uns Entgegenkommenden waren köstlich anzusehen. Uns jedoch hat es enormen Spaß gemacht, und meinem Patenkind auch, jedenfalls hat sie nur ganz wenig geknöttert.63 Es freut das Subjekt, wenn die Alterität der erworbenen Körperidentität Anerkennung zuteil werden lässt. Der körperliche Umbruch bedeutet nicht, wie von ihm selbst befürchtet, völlige Wertlosigkeit, sondern auch mit dem umbrochenen Körper vermag es etwas für das soziale System Wichtiges zu leisten. Nun bot man mir sogar eine Beschäftigung als »Volltagskraft« an. Marianne, du wirst gebraucht, sagte ich mir und mir wurde dabei warm ums Herz. Du bist kein nutzloser Krüppel, du kannst etwas weitergeben, was für andere, die deine Hilfe brauchen,

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Peinert 2002: 96. Mills 1996: 259. Todes 2005: 79. Ruscheweih 2005: 49f.

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Körperlicher Umbruch

wertvoll ist. Ich, jemand, der scheinbar ständig auf Hilfe angewiesen war, konnte Hilfe leisten – ein schönes Gefühl.64 Zu den unterschiedlichen Gefühlen, die das Subjekt bei seinem Austausch mit der äußeren Welt oder bei seiner Begegnung mit der Alterität empfindet, gehört die Angst. In seinem alltäglichen Handeln ist es von der Furcht begleitet, dass die angewandte Ressource versagen und es dadurch die gewonnene Leistungsfähigkeit verlieren könnte. Noch problematischer aber war, daß das Bein nur durch den engen Gummistrumpf an Ort und Stelle gehalten wurde. Für die meisten Sportarten reichte das aus, aber beim Skilaufen brauchte man wegen des höheren Gewichts von Stiefel und Ski, besonders bei der Gewichtsverlagerung beim Wenden, eine sicherere Befestigung. Ich klebte es zwar immer mit starkem Paketband oben am Schenkel fest, lebte aber in ständiger Angst, es könnte abfallen.65 Auch empfindet das Subjekt Wut. Sie kommt vor allem dann auf, wenn der umbrochene Körper das Subjekt enttäuscht, dessen Austausch mit der Umwelt nicht den Erwartungen entspricht oder es mit dem umbrochenen Körper selbst einfache Aufgaben nicht zu erledigen weiß. Es kann mich noch immer rasend machen, wenn ich Papiere oder Sonstiges aus der Hand verliere oder plötzlich hinfalle, weil ich meinen linken Fuß vor der Belastung als Standbein nicht richtig hingestellt habe […].66 Sein veränderter Körper vermittelt dem Subjekt immer wieder, was es jetzt nicht mehr kann, und dass es daher auf die Alterität angewiesen ist. Die Sonnenwärme kitzelte mich in der Nase. Die morgendliche Pflege begann: Körperwäsche, schlucken von Tabletten, Infusionen anhängen, übergeben, Durchfall, Hintern putzen – eine reine Qual!67 Die Anderen behandeln das Subjekt oft ganz selbstverständlich so, als würden sie annehmen, dass durch den Verlust der körperlichen Unversehrtheit auch die geistige abhanden gekommen sei. Der Umgang mit ihnen kränkt. Es ist diese Behandlung als »armer«, »nichtwissender« Patient, die mir so auf die Nerven geht.68 Zu den Gefühlen, die das Subjekt mit dem umbrochenen Körper erlebt, sind des Weiteren der Schmerz und Trauer zu zählen. Das Subjekt spürt sie, weil es Beziehungen nicht mehr so wie früher führen kann. In Gegenwart der Menschen, von denen ich so lange getrennt war, will ich mehr als das. Ich will in der unmittelbaren Gegenwart sein, die gleiche Person wiederhaben.

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Buggenhagen 1996: 44f. Mills 1996: 254. Peinert 2002: 54. Balmer 2006: 127. Lürssen 2005: 35.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Ich möchte, daß der Mensch, den ich liebe, mich in der Gestalt anspricht, die ich von ihm oder ihr in Erinnerung habe. Das nicht erleben zu können, verursacht nicht nur Frustration, sondern Kummer.69 Der Alterität gegenüber wird dem Subjekt bewusst, wie sich seine Körperlichkeit verändert hat. Ich frage mich oft, wie diese einseitigen Dialoge auf meine Gesprächspartner wirken. Mich erschüttern sie.70 Die Gefühle werden dadurch geweckt, dass dem Subjekt der unwiederbringliche Verlust deutlich wird. Nur manchmal traure ich der Pfeife – wie meinem bewegten früheren Leben – doch ein wenig nach.71 Schließlich kann im Subjekt Schuld aufkommen. Es führt sie darauf zurück, dass es den körperlichen Umbruch überlebt hat. Und dennoch quälen mich, wenn auch nicht oft, dafür umso heftiger Schuldgefühle wegen meiner schlechten gesundheitlichen Verfassung: Ich fühle mich schuldig, was für einen gesunden Menschen kaum nachvollziehbar ist.72 Doch das Subjekt erkennt in seiner Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch auch, dass es von Gefühlen wie Angst, Wut, Schmerz, Trauer oder Schuld nicht überwältigt werden muss. Es trägt nun die Gewissheit in sich, dass das im Alltag unvermeidlich wiederkehrende bewusste Erleben des körperlichen Umbruchs und seiner Folgen zwar zu Spannungen in der Identität führt, dass es aber vermag, mit ihnen umzugehen, ohne ihnen zu erliegen. Es weiß: Die Gefühle lassen sich nicht vermeiden, aber begrenzen. Sicherlich gibt es auch Momente, in denen ich verzweifelt, ja vielleicht sogar depressiv bin – meine Tränen kennt nur mein Kopfkissen. Diese kurze Phase gönne ich mir aber auch, denke, dass es o.k. ist, einmal für einen kurzen Augenblick diese Gefühle zuzulassen – es darf nur kein Dauerzustand daraus werden.73

4.2

Angepasste Teilidentitäten

Umbrochener Körper und Teilidentitäten: Nicht nur an der Körperidentität muss das Subjekt arbeiten, um sich der veränderten Körperlichkeit anzupassen, sondern auch an den übrigen Teilbereichen der Identität. Diese Teilidentitäten umfassen jeweils einen Ausschnitt der verschiedenen Lebensbereiche des Subjekts wie Beruf, Freizeit, Familie, Sexualität oder Spiritualität. Sie enthalten Anteile, die der Vergangenheit angehören,

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Hull 1992: 135. Bauby 1997: 43. Peinert 2002: 80. Balmer 2006: 97. Ruscheweih 2005: 41.

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nämlich Vorerfahrungen, aufgegebene Identitätsentwürfe und verwirklichte oder gescheiterte Identitätsprojekte, sowie Anteile, die in Form von Identitätsentwürfen und -projekten auf die Zukunft ausgerichtet sind. In ihnen fließen die verschiedenen Gewissheiten zusammen, die das Subjekt körperbezogen, sozial, produktbezogen, kognitiv und affektiv zu sich gewonnen hat (vgl. Keupp et al. 1999: 219). Durch die Identitätsarbeit erfährt das Subjekt, dass sich der umbrochene Körper auf bestimmte Teilidentitäten nachteilig auswirkt. Der Kampf darum, nach außen hin mithalten zu können, zwang mich, mich doppelt so anzustrengen als andere, um nicht zurückgeworfen zu werden – gleichzeitig jedoch war die Krankheit so beschaffen, dass ich einen Großteil der Zeit überhaupt nicht fähig war, mich anzustrengen.74 Das Subjekt muss auch erfahren, dass es mit dem umbrochenen Körper bestimmte Teilidentitäten nicht mehr leben kann. In diesen Momenten wird mir immer klar, was mich von meinen Freundinnen unterscheidet und was mir fehlt: eine eigene Familie. Ich würde lügen, wenn ich sage, ein Partner fehlt mir nicht.75 Die Erfahrung, durch den umbrochenen Körper in Teilidentitäten eingeschränkt zu sein oder sie infolge des Verlusts der gewohnten Körperlichkeit gar nicht mehr in Identitätsentwürfe und -projekte umsetzen zu können, ist mit Affekten verbunden. Meine allerschönsten Reiterinnerungen sind Ausritte in die Natur und genau das plante vor zehn Jahren meine Familie: Reiterferien in Island für Vater und Töchter. Mir war sofort klar, dass ich da nicht mitkann. Ich muss neiderfüllt zu Hause bleiben, nur an den Vorbereitungen kann ich mich beteiligen. Seitdem reisen sie alle zwei Jahre dorthin, mal mit meinem Patensohn, mal mit Freunden aus dem Reitstall. Zu gerne würde ich mitfahren, würde aber mir noch der Gruppe damit eine Freude bereiten.76 Dem Subjekt ist sich bewusst, dass die von ihm mit Schmerz empfundene Einschränkung in Teilidentitäten oder ihr Verlust bisweilen auf einer von ihm getroffenen Entscheidung beruht. Natürlich hätte ich gerne eine konstante Beziehung: Liebe, Zärtlichkeit, Verständnis, sicherlich hätte ich auch gerne Kinder gehabt. Aber ich hatte mich 1988 für eine, so hoffte ich damals, erfolgreiche Medikation entschieden, und das hieß Verzicht auf Kinder. Zu der damaligen Zeit eine klare Sache.77 Zum Verhältnis von Körperidentität und weiteren Teilidentitäten: Durch seine Identitätsarbeit hat das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch erfahren, in welchem Verhältnis die Körperidentität zu den weiteren Teilidentitäten steht. Es hat gemerkt, was es entsprechend einer defizitären Prozesshaftigkeit der Körperidentität bedeutet, dass sein

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Todes 2005: 110. Ruscheweih 2005: 41. Lürssen 2005: 57. Ruscheweih 2005: 42.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

somatischer Körper nicht mehr in eine Wechselwirkung mit der Umwelt tritt, mit ihm keine sozial anerkannten Leistungen mehr erbracht oder durch ihn keine Beziehungen zur Alterität mehr aufgenommen werden. Auch kann das Subjekt angeben, wie bei einer destruktiven Prozesshaftigkeit der Körperidentität der Austausch des Körpers mit der äußeren Welt immer wieder scheitert, die durch den umbrochenen Körper bedingten Affekte das gesamte Erleben beherrschen oder sein von der Norm abweichender Körper von den Anderen bewusst oder unbewusst abgewertet wird. Weiterhin hat das Subjekt eine konstruktive Prozesshaftigkeit der Körperidentität mitbekommen, nämlich dass sich die Identität an die Möglichkeiten der veränderten Körperlichkeit angepasst hat, eine neue körperliche Kohärenz besteht oder die Beziehung zur Alterität auf Gleichwertigkeit beruht. Das Subjekt weiß um die hinter ihm liegende Identitätsarbeit, die es ihm jetzt erlaubt, mit seinem umbrochenen Körper in Teilidentitäten Erfüllung zu finden. Also konzentriere ich mich jetzt auf Freunde, suche mir aber auch andere, von ihnen unabhängige Freizeitgestaltungen. Ich gehe gerne mit ihnen aus, wie zu unserem monatlichen Frauenabend, unserem monatlichen Essen oder ins Musical. Aber ich unternehme auch selber manches: Theater, meine große Liebe, Opern- und Konzertbesuche, wie ich schon erwähnte. Vor einiger Zeit fragte ich in einer hiesigen Tanzschule nach einem Tanzkurs für Rollstuhlfahrer, der mangels Interessenten nicht zustande kam. Dann bin ich einmal in der Woche auf der Palliativstation (hier liegen nur Krebspatienten) im Krankenhaus, habe mich für einen Yoga-Kurs angemeldet, gehe aber auch zu Lesungen oder Kabarettveranstaltungen.78 Das Subjekt hat herausgefunden, wie es mit seinem veränderten Körper umgehen muss, damit es durch ihn in seiner Lebensführung nicht all zu sehr eingeschränkt wird. Trotz der Verlusts seiner gewohnten Körperlichkeit ist es fähig, es sich gut gehen zu lassen. Nach dem Essen ließen sie mir ein heißes Bad mit aromatischen Ölen ein, und ich ließ mich hineinsinken, wobei das linke Bein vorsichtig über dem Rand hing. Es durfte immer noch nicht naß werden.79 Auch verfügt das Subjekt inzwischen über Erfahrungen, wie sich Körperidentität und weitere Teilidentitäten zueinander verhalten. Wenn es in einer Teilidentität erfolgreich zu handeln vermag, wirkt es sich auf den umbrochenen Körper günstig aus. In einer Teilidentität Identitätsentwürfe und -projekte umzusetzen und etwas sozial Anerkanntes zu leisten, steigert die körperliche Leistungsfähigkeit. Die Ansprüche, die die tägliche Arbeit in meiner Praxis an mich stellte, waren unbezahlbar; die Arbeit und ihre Anforderungen lieferten mir oft die beste Motivation. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie das Läuten der Türklingel solch ungeahnte Reserven an Neurotransmittern im Gehirn freisetzen konnte.80

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Ruscheweih 2005: 42. Mills 1996: 238. Todes 2005: 109f.

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Weil sich das Subjekt in einer Teilidentität leistungsfähig erlebt, vermag es die unangenehmen Gefühle zu begrenzen, die aus dem umbrochenen Körper herrühren. Bei geistiger Arbeit schöpfe ich Kraft, zum Teil deshalb, weil ich dann fast gänzlich vergessen kann, daß ich blind bin. Die gesellschaftlichen Anforderungen des öffentlichen Lebens und die persönlichen Anforderungen des Familienlebens schaffen so viele Situationen, in denen ich mir meines Blindseins nicht nur bewußt, sondern schmerzlich bewußt bin.81 Auch hat das Subjekt gelernt, dass übergeordnete Identitätsziele aus Teilidentitäten es zu Identitätsentwürfen und -projekten anregen, mit denen es den Zustand seines umbrochenen Körpers verbessert. Gerade wenn diese Identitätsentwürfe und -projekte für sein Selbstverständnis bedeutsam sind, bringen sie das Subjekt dazu, alles zu versuchen, damit die veränderte Körperlichkeit sie nicht gefährdet. Der Gedanke, nicht aktiv sein und meine Erfahrungen mit anderen Menschen teilen zu können, war für mich gleichbedeutend mit völliger Isolation, und ich nahm mir vor, mit all der Energie, die mir geblieben war, diesen Zustand zu bekämpfen. Ich war überzeugt, dass ich sowohl als Mensch als auch als Arzt etwas beizutragen hatte, auch wenn ich mich bestimmten Einschränkungen fügen musste.82 Schließlich ist durch die zurückliegende Identitätsarbeit dem Subjekt vertraut, wie sich die verschiedenen Teilidentitäten einschließlich der veränderten Körperlichkeit auf sein Befinden auswirken. Viele fragen mich, wie mein Tag abläuft. Mein Tagesprogramm ist abhängig von verschiedenen Faktoren: ob ich mich gut oder schlecht fühle, ob etwas Unvorhergesehenes dazwischen kommt (was fast täglich der Fall ist), wie viele Telefone, kurze Gespräche mit Pflegerinnen oder Mitbewohnern ich habe, wie das Wetter ist, die allgemeine Stimmungslage, meine Motivation, ob meine Meerschweinchen sich gerade um die Führungsposition streiten, ob einer meiner Fische tot im Aquarium liegt, ob ich einen fliegenden Mäusebussard sichten konnte, ob mich jemand nervt, ob ich meine Tage habe, ob ich Post erhalte, ob mein Bankkonto stimmt, ob ich die richtige Musik finden kann, ob die Uhr stehen bleibt, ob die Rollstuhlpneus einen Platten haben, ob ich überraschend Besuch erhalte, ob gerade der Ballon meines Blasenkatheters platzt, ob ich den Schwesternruf auslösen kann, ob ich gut geschlafen habe, ob mich Fliegen belästigen, ob ich Mückenstiche habe, ob mich alles überfordert, ob mich mein Umfeld seine Überforderung spüren lässt, ob ich sprechen kann, ob ich wieder einmal alles vergessen habe.83 Zum Verhältnis einzelner Teilidentitäten: Aus dem bewussten Leben mit dem umbrochenen Körper ist dem Subjekt deutlich geworden, dass die einzelnen Teilidentitäten über die Zeit hinweg sich verändernde Zu-, Über- und Unterordnungen aufweisen. Bisweilen

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Hull 1992: 110. Todes 2005: 78. Balmer 2006: 99.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

wundert sich das Subjekt, in welchem Verhältnis die einzelnen Teilidentitäten zueinander stehen. Welche Rolle kann es für mich schon spielen, was sehende Männer über Frauen denken, wenn ich als Blinder Frauen doch auf ganz andere Art beurteilen muß? Trotzdem macht es mir etwas aus, was sehende Männer denken, und ich kann diese Voreingenommenheit offenbar nicht abschütteln.84 Unvermittelt erinnert das Subjekt Vorerfahrungen aus einer ehemals bedeutsamen Teilidentität. Sie stehen dann unverbunden neben der Bewusstheit für seinen umbrochenen Körper. Ich sage weiterhin »meine Zeitschrift«, obwohl es nicht mehr zutrifft, so als bilde dieses Possessivpronomen einen der dünnen Fäden, die mich mit der Welt verbinden, die sich bewegt.85 Aus der Erfahrung, dass eine Teilidentität, nämlich die der Körperlichkeit, auf einmal große Bedeutung bekommen hat und viel Aufmerksamkeit braucht, ist dem Subjekt klar geworden, dass die einzelnen Teilidentitäten nie gleichwertig nebeneinander stehen und dass manche in bestimmten Lebensabschnitten oder durch besondere Lebensumstände vorherrschen, dann aber wieder ihre Bedeutung verlieren. Nun geht es davon aus, dass die einzelnen Teilidentitäten sich rasch abwechseln können. Je nach dem, welche davon im Vordergrund steht, beeinflusst der umbrochene Körper sein Befinden unterschiedlich. Woher kommt dieses Gefühl innerer Anspannung, wenn ich mehrere Tage lang nicht gearbeitet habe oder nicht in meinem Büro gewesen bin? Es verdichtet sich zu starkem Unbehagen, zu Angst und dann zu Depression. Dieser Zustand wird so beunruhigend, daß es beinahe schmerzhaft ist. In bestimmten Umfang liegt es, glaube ich, an der Frustration, die beim Zusammensein mit den Kindern entsteht. In der Situation werde ich mir meines Blindseins am schärfsten bewußt.86 So wechselt im Laufe des Lebens, aber auch von Tag zu Tag mehrfach, welche der einzelnen Teilidentitäten gerade mehr Bedeutung hat. Spannungen, die in Teilidentitäten bestehen, verlangen vorübergehend ein höheres Maß an Bewusstheit oder für die Umsetzung der übergeordneten Identitätsziele verspricht zu verschiedenen Zeiten mal die eine, mal die andere Teilidentität größeren Erfolg. Wenn das Subjekt es versteht, die einzelnen Teilidentitäten einschließlich die der Körperidentität nach seinen Bedürfnissen oder den äußeren Umständen flexibel zu gewichten, ist es mit sich zufrieden. Nach vier Wochen Behandlung meinte der mich behandelnde Kollege auf meine Frage, wie es für ihn denn nun wäre, eine Kollegin zu behandeln, dass ich die gleichen Fehler wie jeder Patient machen würde. Das hat mich beruhigt. Ich kann mich aber laut Therapeutenaussage gut in meine Patientenrolle fügen.87 84 85 86 87

Hull 1992: 39. Bauby 1997: 103. Hull 1992: 109. Ruscheweih 2005: 69.

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Umgekehrt wird das Subjekt unzufrieden, wenn es feststellen muss, dass ihm diese Flexibilität nicht gelingt, und die Teilidentität nicht leben kann, der nach seinem Dafürhalten für die Entwicklung seiner Identität gerade eine besonders hohe Bedeutung zukommt. Ich lebte, was meine sportlichen Ambitionen anging, im Sperrbezirk. Zwar war für mich als Invalidenrentnerin die Mauer durchlässig, aber als Athletin durfte ich mich international nicht beweisen.88 Die einzelnen Teilidentitäten müssen sich nicht notwendigerweise ergänzen, sondern stehen bisweilen auch in heftigem Widerspruch zueinander. Wenn die wahrgenommene Wirklichkeit nicht dem angestrebten Verhältnis der Teilidentitäten entspricht und die veränderte Körperlichkeit das Erleben bestimmt, steigt die innere Spannung an. Ich bin vielmehr als Vater marginalisiert. Meine Interaktion mit [den Kindern Thomas und Lizzie; B.R.] ist nun eng begrenzt, und ich bin nicht der Vater, der ich gern sein würde.89 Abhängig davon, welche Teilidentität vorherrscht, wird dasselbe Geschehen verschieden eingeordnet. Aus meinem Tierpsychologiestudium weiss ich, dass Experimente bis zu einem bestimmten Grad für unser heutiges Wissen unvermeidbar waren (ob sie es heute sind, bezweifle ich ausgesprochen). Aber anders sieht man es, wenn man selber von solchen Experimenten betroffen ist. In mir besteht als »Wissenschaftlerin« und als »Konsumentin« beziehungsweise »Betroffene« ein derart klaffender Zwiespalt, als wäre ich ein Hybride.90 Schließlich ist dem Subjekt bewusst geworden, dass es sich nie gleichzeitig mit allen Teilidentitäten befassen kann. Nach seinen Bedürfnissen oder den äußeren Umständen muss es auswählen, welche der einzelnen Teilidentitäten es sich besonders zuwendet, um sein psychisches Gleichgewicht zu bewahren. Gerade im Wissen um die zurückliegende Identitätsarbeit ist sich das Subjekt sicher, dass es sie auch zukünftig fortzuführen hat, denn die Passung zwischen den einzelnen Teilidentitäten stimmt noch nicht. Durch den Schlaganfall hatte ich die Basis meiner Selbstbestimmung verloren und habe sie bis heute nicht voll zurückgewonnen. Ohne die Hilfe von anderen, besonders von meiner Frau und meinen Kindern, von guten Freunden und Nachbarn, kann ich nicht existieren. Es hat lange gedauert, bis ich diesen Zustand akzeptieren konnte, er gibt immer wieder Anlaß zu starken inneren Spannungen.91

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Buggenhagen 1996: 60. Hull 1992: 165. Balmer 2006: 79. Peinert 2002: 39.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

4.3

Die Gewissheit des umbrochenen Selbst

Angepasstes allgemeines Identitätsempfinden: Durch die Identitätsarbeit hat sich das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch ein allgemeines Identitätsempfinden erworben, das in einer spannungsarmen, aber nicht spannungsfreien Passung zur veränderten Körperlichkeit steht. Diese allgemeine Identitätsempfinden lässt sich dahingehend beschreiben (vgl. Keupp et al. 1999: 225–228), dass es den einzelnen Teilidentitäten mit deren Struktur und Prozess übergeordnet ist, dass es als verallgemeinerte Selbsterfahrung angesehen werden kann und dass es sämtliche Erfahrungen, Zuschreibungen und Bewertungen aus dem bisherigen Lebensverlauf beinhaltet. Nach dem körperlichen Umbruch umfasst es die Gewissheit des umbrochenen Selbst, bezieht die veränderte Körperlichkeit ein und wird gegenüber der Alterität sprechend und handelnd entäußert. Darauf antwortete ich mit stark religiösen Worten, versicherte ihm, daß er keine Furcht zu haben brauchte, Jesus hätte mich bereits geheilt, hätte mir seine Gegenwart und seine Führung geschenkt, und daß ich, obwohl mein äußerliches Sehen hinfällig geworden war, hoffte, daß meine innere Vision mit jedem Tag stärker werden würde.92 Dieses angepasste allgemeine Identitätsempfinden bezieht das Bewusstsein von Schwächen oder das Wissen um Begrenztheit ein, die sich aus der veränderten Körperlichkeit ergeben. [D]ie Bewältigung von komplexeren geistigen Zusammenhängen bringt mich in ähnliche Spannungszustände. Gebrauchsanweisungen für mein neues Telefon etwa oder den Videorecorder kann ich dann kaum noch mit Gelassenheit lesen und schon gar nicht verstehen. So gerate ich bei Bedienungs- und Reparaturversuchen regelmäßig in Schwierigkeiten und durchlebe dann auch hin und wieder die alten, sonst inzwischen weitgehend beherrschten Wutausbrüche.93 Zu dem nach dem körperlichen Umbruch erworbenen Identitätsempfinden gehört außerdem, dass das Subjekt weiß, wie sich die einzelnen Teilidentitäten zueinander verhalten. So hat es erkannt: Je mehr Aufmerksamkeit einer Teilidentität wie die der Körperlichkeit zukommt, desto mehr trägt sie zum allgemeinen Identitätsempfinden bei; Erlebnisse in einem Lebensbereich werden nicht nur in der jeweiligen Teilidentität verarbeitet, sondern gleichzeitig übergeordnet abgespeichert; es ist möglich, über die Zeit wechselnde und sich dabei auch widersprechende Identitätsempfindungen zu haben, falls nämlich die einzelnen Teilidentitäten sich nicht in einer zusammenfassen lassen, aber dennoch insgesamt eine befriedigende Kohärenz zu empfinden. Das Subjekt versteht es, sich mit dem umbrochenen Körper so zu verhalten, dass es mit sich im Reinen ist. Ich hatte gekeult wie verrückt, um anzukommen – und am Ende meine dritte Goldmedaille um den Hals hängen. Ein wunderbares Gefühl, das mich wärmte und das ich

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Hull 1992: 201. Peinert 2002: 95.

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Körperlicher Umbruch

zugleich zu verstecken und für mich zu behalten suchte. Ich habe mir schon in Assen angewöhnt, die Medaillen immer gleich wieder abzunehmen. Irgendwie war es mir peinlich. So herausgehoben und dekoriert zu sein, daß es einem jeder gleich ansehen konnte.94 Mit dem angepassten allgemeinen Identitätsempfinden prüft das Subjekt, ob die von ihm gemachten Erfahrungen und geplanten Handlungen zu seinen übergeordneten Identitätszielen passen. Stellt es fest, dass es der Fall ist, ist es mit sich zufrieden. 2004, ein Jahr nach meinem Umzug in eine eigene Wohnung, die wegen meiner Behinderung bis ins kleinste Detail und für jedes Bedürfnis umgebaut wurde, feierte ich mit meiner Familie, Freunden und Ärzten. Ich war sehr stolz und von Freude erfüllt, es geschafft zu haben, dank der Anwesenheit eines Pflegeteams rund um die Uhr selbstbestimmt in einer eigenen Wohnung leben zu können.95 Die gemachten Erfahrungen und geplanten Handlungen werden vom Subjekt auch darauf geprüft, ob sie künftig die Verwirklichung von Identitätszielen gefährden können. Es ist erleichtert, wenn sein umbrochener Körper es nicht daran hindert, übergeordnete Identitätsziele in die Tat umzusetzen. Die mit Grauen erwartete Demenz ist bei mir bis jetzt noch nicht aufgetreten. Stattdessen bemerke ich eine allgemeine Passivität, die mit dem Auftreten körperlicher Behinderung einhergeht. Sie unterscheidet sich jedoch erheblich von Debilität und Demenz.96 Das angepasste allgemeine Identitätsempfinden gibt des Weiteren vor, was das Subjekt in sein Selbst aufnimmt, was es achtet und wertschätzt, was es beibehalten will oder wovon es gerne erzählt. Es gibt ihm einen Maßstab, an dem es sein Erleben und Verhalten messen kann. So empfindet das Subjekt es für sich als gut, wenn es so handelt, dass sein umbrochener Körper die Alterität nicht behindert. Mein Beitrag zum Familienleben ist, dass ich zu Hause bleibe. Das hat nichts mit aufopfern zu tun. Ich will, dass es allen gut geht, jeder nach seinen Bedürfnissen leben kann, es bleibt noch genug Zeit für andere gemeinsame Aktivitäten.97 Auch bedingt das Identitätsempfinden, dass das Subjekt freudig bewegt ist, wenn ihm seine Alterität Vertrauen in einem Lebensbereich entgegenbringt, wo sein umbrochener Körper es daran hindert, eine Teilidentität selbst zu verwirklichen. Als mich seine Eltern fragten, ob ich Patin für ihr Kind sein wolle, musste ich vor Rührung weinen. Ich wusste, dass ich nie eigene Kinder haben kann, nie Mutter sein werde, was mich noch heute immer wieder sehr schmerzt. Umso erfreuter war ich über diese Anfrage.98

94 95 96 97 98

Buggenhagen 1996: 65. Balmer 2006: 138. Todes 2005: 111. Lürssen 2005: 57. Balmer 2006: 125.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Ebenso beeinflusst das dem umbrochenen Körper angepasste allgemeine Identitätsempfinden, was das Subjekt ablehnt, worüber es sich ärgert, was es verletzt oder beschämt. Daher kennt das Subjekt seine Befürchtung, dass sich der Verlust der gewohnten Körperlichkeit nachteilig auf seine Eigenständigkeit auswirken wird. Immerzu bitten müssen, das ist nicht mein Ding. Daß ich irgend etwas nicht kann, das ist die einzige Angst, die ich habe.99 Schließlich beinhaltet das angepasste allgemeine Identitätsempfinden die Erfahrungen, die das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit mit der Alterität machte. Es fühlt sich besonders mit denen verbunden, die Ähnliches erlebt haben. Auch wenn es ihm schwerfällt, nimmt es die von ihnen erhaltene Rollenzuschreibung als Teil seines Wesens an. An meinem Beispiel sehen die Patienten, was machbar ist mit einer Querschnittslähmung. […] Und so bin ich wohl – obwohl ich diese Rolle für mich selbst gar nicht empfinde – häufig eine Art Vorbild100 Mit seiner veränderten Körperlichkeit und dem erarbeiteten Selbstverständnis will das Subjekt für die Alterität da sein. Es sieht sich einer Gemeinschaft zugehörig, die sich aus dem Leid ergibt, das von ihm und den Anderen erlebt wurde. Mittlerweile gehört der umbrochene Körper für das Subjekt zu seinem Selbst und Körperselbst, und mit ihm will es zu den Anderen in Beziehung zu treten. Immer wenn ich gebeten werde, Leute im Krankenhaus zu besuchen, die gerade ein Glied verloren hatten, versuchte ich, mir die Zeit dafür zu nehmen, auch wenn ich gerade ganz woanders war. Wenn ich sie nicht besuchen konnte, schrieb ich ihnen. Ich hatte meinen Krankenhausaufenthalt nicht vergessen und wußte noch, wie sehr ich die Ermutigungen von anderen Leuten gebraucht hatte.101 Das Subjekt fühlt sich in seiner Identitätsarbeit bestärkt, wenn es wahrnimmt, dass sein angepasstes allgemeines Identitätsempfinden für die Alterität, die ihm durch ihre ähnliche Körperlichkeit nahesteht, von Nutzen ist. Und für mich ist es jedesmal ein mindestens ebenso große Erfolg wie für einen meiner Schützlinge, wenn der sich selbst waschen und ohne fremde Hilfe vom Rollstuhl ins Bett wechseln kann. […] Am Ende stehen meist leiser Mut und Aufbruch. Dass ich meinen kleinen Anteil daran habe, macht mich stolz und zufrieden. Es ist schön zu erleben, wenn ein zunächst vollkommen Hilfloser vor der Entlassung Sport treibt, sich selbst versorgt, arbeiten wird.102 Wissen um die Identitätsarbeit: Auch wenn das Subjekt nicht beschreiben kann, was im Verlauf der zurückliegenden Identitätsarbeit im Einzelnen geschehen ist, weiß es, wie

99 100 101 102

Buggenhagen 1996: 87. Buggenhagen 1996: 97, 98. Mills 1996: 258. Buggenhagen 1996: 90, 91.

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umfassend sich der Verlust der gewohnten Körperlichkeit auf die bisherige Identität ausgewirkt hat. All die körperlichen und seelischen Implikationen meiner Krankheit und meiner Klinikaufenthalte hatten in mir Veränderungen zur Folge, die ich mit einem Wort allein nicht zutreffend und umfassend genug kennzeichnen kann.103 Und das Subjekt ist sich auch bewusst, wie stark die Erschütterung seines Selbst war, die es dabei verarbeiten musste. Ich mußte beobachten, wie ich mich freiwillig, ja gern, einem fremden Willen völlig unterordnen konnte. So etwas hatte ich nie für möglich gehalten. Daher empfand ich dies nach meiner Entlassung in die Freiheit später zu Hause als entwürdigend.104 Zum Selbstverständnis des Subjekts gehört, dass es einen längeren Zeitraum brauchte, um seine Identität unter Bewahrung und Umbau der bisherigen Struktur dem umbrochenen Körper anzupassen, und dass es durch Versuch und Irrtum, mit Wiederholung und Abbruch immer wieder aus Neue Identitätsentwürfe und -projekte in die Tat umsetzte, bis sich die veränderte Körperlichkeit und die Identität wieder in einem stimmigen Verhältnis befanden. Das Subjekt ist sich darüber klar, wie grundlegend der Wandel seines Selbstbildes und seiner Weltanschauung ist, den es dabei vollbrachte. Ich war immer sicher gewesen, mir könne gar nichts passieren, und im Grunde könne jeder Mensch mit jeder Situation fertig werden, wenn er nur genügend wolle. Ich habe lernen müssen, daß dies naiv, ja leichtfertig war.105 Mit seinem Körper hat das Subjekt erfahren, was die Systemtheorie besagt: Jeder Übergang von einem System zu einem anderen stößt Entwicklungsprozesse an (vgl. Bronfenbrenner 1981: 43). Aus seiner körperlichen Erfahrung heraus findet das Subjekt zutreffend, was die Forschung über kritische Lebensereignisse sagt, nämlich dass es durch sie möglich ist, einen Zuwachs an persönlicher Stärke und Selbstvertrauen zu erzielen, neue Handlungsoptionen zu finden, größere Intimität mit den Anderen und eine höhere Authentizität im Umgang mit ihnen zu leben, eine leichtere Bereitschaft zur Selbstöffnung zu erreichen sowie eine veränderte Sicht aufs Leben und neue spirituelle Einsichten und Antworten auf existentielle Fragen zu gewinnen. Aus eigener Anschauung kann das Subjekt bestätigen: Aus der Krise nach dem Verlust der körperlichen Unversehrtheit lässt sich ein Gewinn für das allgemeine Identitätsempfinden ziehen (vgl. Charmaz 1995). Das Subjekt hat selbst erlebt, wie für sein Leben nach dem körperlichen Umbruch neue Lösungen entstanden sind, die es zuvor nicht absehen konnte. Wenn ich heute auf die intellektuelle Arbeit schaue, die ich damals bewältigte, so enthält sie höchst ideenreiche, kreative Teile. Es war ein großer Schritt von den Initialen, die ich mit einem Lineal auf einer glatten Fliese entworfen hatte, bis hierher.106

103 104 105 106

Peinert 2002: 63. Peinert 2002: 68. Peinert 2002: 38. Todes 2005: 60.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Das Subjekt hat es vermocht, langjährige Gewohnheiten abzulegen, die dem körperlichen Zustand abträglich waren, und versteht sich nun der Alterität auf eine Weise mitzuteilen, die nicht dem ihr vertrauten Bild entspricht. Mit Freude und Stolz nimmt das Subjekt wahr, was es durch seine Identitätsarbeit erreicht hat. Die Pfeife habe ich jetzt aufgegeben. Kaum ein Arzt kann ermessen, daß das für mich eine wesentliche, für jeden alten Bekannten sichtbare Veränderung meiner Persönlichkeit bedeutet. Dies wird auch regelmäßig von Freunden kommentiert. Die Pfeife war für mich das äußere Kennzeichen schlechthin, mit dem ich regelmäßig in Karikaturen erschien, an dem ich erkennbar war.107 Einstellung auf die Zukunft: Das angepasste allgemeine Identitätsempfinden, das sich das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit erarbeitet hat, beeinflusst auch seine Einstellung zu möglichen zukünftigen Ereignissen. Aus den Erfahrungen, die es mit dem veränderten Körper machte, gewinnt es die Zuversicht, dass das Leben trotz des Verlusts der körperlichen Unversehrtheit lebenswert ist. Wenn ich gehen und schwimmen konnte, warum nicht auch tanzen, Ski oder Rollschuh laufen? Warum sollte ich nicht alles genau so können wie Menschen mit zwei normalen Beinen? Der Spaß im Leben muß doch nicht aufhören, nur weil ich behindert bin.108 Das Subjekt ist sich gewiss, dass es weiter Ressourcen nutzen, sich auf seine Alterität beziehen und auf sein Selbst verlassen kann. Durch Cortison, gute therapeutische Behandlung, Disziplin, positive Einstellung zur MS, Verständnis und Hilfe meiner Familie und Umgebung sehe ich trotzdem gelassen in die Zukunft.109 Aus seiner Zuversicht ergeben sich dem Subjekt wiederum Identitätsentwürfe und -projekte, die es später einmal in die Tat umsetzen will. Immer noch bin ich nicht satt in meiner Entdeckerlust. Asien ist bisher ein »weißer Fleck« für mich. Doch ich habe noch so viel Zeit, ihn zu tilgen. »Ich will was sehen von der Welt« – das habe ich gesagt, als die Mauern fielen, und es stimmt heute so wie damals. Weil ich neugierig bin, weil ich erfahren will, was ich noch nicht weiß, weil ich mir vom Rollstuhl meinen Lebensraum und meine Erlebniswelt nicht vorschreiben lassen will.110 Die in die Zukunft weisenden Identitätsentwürfe und -projekte beziehen die Erfahrungen mit dem umbrochenen Körper ein, aber auch die Erfahrungen, die das Subjekt mit der Alterität gemacht hat. Das Subjekt hat sich vorgenommen, was es tun will und wozu es gut sein soll. Ob es drei Zeilen oder acht Seiten sind, ob sie aus dem fernen Morgenland oder aus Montmorency kommen – ich hebe all diese Briefe wie Schätze auf. Eines Tages möchte 107 108 109 110

Peinert 2002: 80. Mills 1996: 251. Lürssen 2005: 37. Buggenhagen 1996: 145.

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ich sie gern aneinanderkleben, um ein kilometerlanges Band daraus zu machen, das wie eine Fahne zum Ruhm der Freundschaft flattert. Das wird die Geier fernhalten.111 Doch ist der Blick auf die Zukunft nicht nur zuversichtlich. Das Subjekt weiß auch darum, was es für seine Zukunft befürchtet. Meine größte Angst war und ist immer noch, mich einmal nicht mehr mitteilen zu können. Obschon es heute viele elektronische Hilfsmittel gibt, besteht meine Angst fortan. Denn ich weiss, dass ich eine Krankheit habe, die mir irgendwann die Werkzeuge zur Sprache, nämlich die Muskeln, nehmen wird.112

4.4

Umgedeutete Vergangenheit

Unpassende Vergangenheit: Um ein spannungsarmes allgemeines Identitätsempfinden zu erlangen, verwirft das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch nicht nur die Identitätsentwürfe und -projekte, für deren Umsetzung es nicht mehr die passende Körperlichkeit hat, und entwickelt es an ihrer Stelle neue, mit denen es trotz seines umbrochenen Körpers seine übergeordneten Identitätsziele zu verwirklichen vermag, sondern deutet es darüber hinaus seine Vergangenheit um. Zum angepassten allgemeinen Identitätsempfinden, das sich das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch erarbeitet, gehört die Bewusstheit, dass es jetzt anders mit seiner Vergangenheit umgehen muss als zuvor. Das Subjekt merkt, dass seine Vergangenheit nicht mehr zu seiner Gegenwart passt. Ich entferne mich. Langsam, aber sicher. So wie der Seemann auf einer Überfahrt die Küste verschwinden sieht, von der er aufgebrochen ist, fühle ich meine Vergangenheit verschwimmen. Mein früheres Leben brennt noch in mir, wird aber mehr und mehr zur Asche der Erinnerung.113 Seine Vorerfahrungen helfen dem Subjekt nicht mehr, sein jetziges Erleben einzuordnen und zu verstehen. Worauf es vor dem körperlichen Umbruch selbstverständlich zurückgriff, kann es zumindest in Teilbereichen nicht mehr gebrauchen. Mein gesamter visueller Wissensschatz versinkt also in die Vergangenheit, wird weniger nützlich, weniger bedeutsam für mich, weniger genau.114 Aus dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergibt sich die Aufgabe, die Erinnerung an das bisherige Leben umzuschreiben (vgl. Frank 1995: 59–64). Da die körperlichen Veränderungen die Kohärenz unterbrechen, die Alterität verändern und die bisher gültige Narration aufheben, verfügt das Subjekt nicht mehr über einen zusammenhängenden Lebenslauf, den es den Anderen erzählen kann. Wenn es nach dem körperlichen Umbruch sein gegenwärtiges Erleben mit dem vergangenen vergleicht, wird ihm deutlich,

111 112 113 114

Bauby 1997: 83. Balmer 2006: 72. Bauby 1997: 79. Hull 1992: 161.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

welcher Bruch sein Leben bestimmt. Dieser Bruch lässt sich nicht aufheben. Er ist so umfassend, das dem Subjekt das Leben im unversehrten Körper fremd erscheint. Manchmal scheinen dies zwei Leben zu sein, die sich in einer Person verstecken. Ich schaue staunend auf die Marianne von damals, von der ich mit dem Kopf weiß, daß sie biologisch dieselbe wie heute ist, und die doch eine ganz andere Körperlichkeit hat. Ein Film, in dem ich mir selbst zuschaue. Ohne Wehmut, aber mit dem seltsamen Kitzel eines Dr. Jekyll-und-Mister Hyde-Daseins, in dem ich mal diese und mal jene Rolle annehme.115 Im Alltag muss das Subjekt immer wieder wahrnehmen, wie sehr sein gegenwärtiges Erleben mit dem umbrochenen Körper den vergangenen Erfahrungen und den bis dahin gepflegten Erinnerungen widerspricht. Die Wahrnehmung ist schmerzhaft, weil sie dem Subjekt zeigt, dass es früher, als der somatische Körper noch unversehrt war, viele Gelegenheiten verstreichen ließ, die geeignet gewesen wären, um damals passende Identitätsentwürfe oder -projekte in die Tat umzusetzen. Das Subjekt muss mit der Erkenntnis leben, dass es in der Vergangenheit oft falsch gehandelt hat. Um ehrlich zu sein, ich hatte Mithra-Grandchamp vergessen. Diese Geschichte ist mir gerade erst wieder eingefallen und hinterläßt eine doppelt schmerzliche Spur. Das Heimweh nach einer entschwundenen Vergangenheit und vor allem die Reue über verpaßte Gelegenheiten. Mithra-Grandchamp, das sind die Frauen, die man nicht geliebt hat, die Chancen, die man nicht ergriffen hat, die Glücksmomente, die man vorüberziehen ließ. Heute kommt es mir so vor, als werde mein ganzes Leben nur eine Verkettung solcher kleiner Fehlschläge gewesen sein.116 Infolge der körperlichen Veränderungen ist die Gegenwart nicht das, was die Vergangenheit versprochen hat, dass sie sein würde; und ebenso ist in der Gegenwart nicht bestimmbar, welche Zukunft aus ihr folgen wird. Denn das heutige Erleben lässt sich nicht mehr auf entsprechende Vorerfahrungen beziehen und daher ist eine kommende Entwicklung nicht abzusehen. Deswegen wirkt sich die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch nicht nur darauf aus, wie das Subjekt das gegenwärtige Geschehen erlebt und welche zukünftige Entwicklung es annimmt, sondern sie erfasst auch, wie das Subjekt auf seine Vergangenheit blickt. Die Erinnerung an früher, wenn sie zugelassen wird, macht das Subjekt darauf aufmerksam, dass heute bedeutungslos ist, was ihm einmal Leidenschaft war. Ich habe einmal Schallplattenhüllen sehr gemocht. Ich bewunderte die künstlerische Gestaltung, wie raffiniert schon oft die Illustration auf dem Umschlag auf die Atmosphäre der Musik hinwies. Heute ist der Umschlag in der Hauptsache ein Futteral, er ist in der Hauptsache ein Schutz für die Platte und ein Träger, auf dem man das Brailleetikett anbringen kann. Abgesehen von den Etiketten unterscheiden sich die Plattenhüllen nicht voneinander.117

115 116 117

Buggenhagen 1996: 18. Bauby 1997: 94. Hull 1992: 225.

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Umwertung der Vergangenheit: Um wieder Erinnerungen zu haben, die zum umbrochenen Körper passen, um der Alterität glaubhaft von früheren Erfahrungen zu erzählen und um ihr mit der Vergangenheit das gegenwärtige Handeln überzeugend zu vermitteln, muss das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit fortlaufend und wiederholt überprüfen, inwieweit seine in der Struktur seiner Identität gespeicherten Vorerfahrungen noch für die jetzige Körperlichkeit gültig sind. Weil sich dabei Widersprüche auftun, die überwunden werden müssen, oder weil die Alterität das Subjekt darauf hinweist, muss es manche seiner Erkenntnisse, Gewohnheiten und Einstellungen samt den dazu gehörigen Geschichten verwerfen. Zur Anpassung des allgemeinen Identitätsempfindens an den umbrochenen Körper gehört, dass das Subjekt seine Vergangenheit umwertet. Nachdem ich seit zwei Jahren einen Rollator habe, ihn auch seit meinem Rehabilitationsaufenthalt zum Einkaufen benutzte, weiß ich wie dumm es war, ihn nicht schon eher benutzt zu haben. Ich hätte viel häufiger im Sommer kurze Röcke tragen können, da meine Knie nicht so zerschunden gewesen wären. Aber meine Eitelkeit war ja größer, vor allem der Gedanke: Was sagen denn die Leute, bin ich denn dann überhaupt noch attraktiv? – Was denken denn die Leute wenn ich schwankend durch die Gegend laufe, diese Frage war nicht so wichtig wie die erste.118 Dadurch, dass es seine Vorerfahrungen mit der veränderten Körperlichkeit abgleicht, merkt das Subjekt, wie die bisherigen Gewissheiten, die es prägten, von denen es erzählte und nach denen es handelte, überhaupt entstanden waren. Es schafft sich eine Vergangenheit, die hinter ihm liegt und die seine Gegenwart nicht mehr beeinflusst. Ich bin in den 15 Jahren meiner MS-Geschichte sicherlich ganz gut mit meiner Krankheit umgegangen, aber den Gedanken an den öffentlichen Umgang mit dem Rollstuhl habe ich immer weit von mir geschoben. Es lag mit Sicherheit auch an diesem fürchterlichen Faltrollstuhl, mit dem ich mich nur ungern habe sehen lassen, aber jetzt mit dem neuen leichten Küschall ist das eine ganz andere Sache.119 Jede Erfahrung, die das Subjekt mit dem umbrochenen Körper macht, verändert unweigerlich seine Einstellung zu seinen Vorerfahrungen. Was ihm früher selbstverständlich war, fällt ihm nun als nachteilig auf, denn mit dem Wissen um die gemachten Erfahrungen blickt es auf die Folgen einstmals üblicher Verhaltensweisen. Die Erinnerung zeigt dem Subjekt, welche Eigenheiten seines Selbst ihm schadeten. [S]elbst wenn es mehr öffentliche Aufklärung über den Apoplex oder Vorsorgeuntersuchungen gegeben hätte, hätte ich diese Angebote in meiner damaligen Arroganz vermutlich genausowenig wahrgenommen wie ich bis heute die überall angebotenen Lungen-, Krebs- oder Herzinfarktvorsorge vernachlässigt habe. Ich wünschte mir, daß ich meinem körperlichen Zustand mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte und meiner

118 119

Ruscheweih 2005: 52. Ruscheweih 2005: 48.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

beschriebenen Naivität und Überheblichkeit gegenüber selbstkritischer gewesen wäre.120 Da die Gegenwart so anders ist, zeigt die Erinnerung dem Subjekt auch, dass es seine Alterität falsch einschätzte und ihr damit Unrecht tat. Es tut mir ein wenig leid, daß ich ihn von oben herab angesehen habe, denn heute beneide ich Oliver um seine Meisterschaft in der Kunst, sich Geschichten zu erzählen. Ich bin nicht sicher, ob ich je eine solche Leichtigkeit erreichen werde, auch wenn ich selbst schon angefangen habe, mir glorreiche Ersatzschicksale auszudenken.121 Manche Vorerfahrungen verlieren ihre Bedeutung. Daher lohnt es sich nicht mehr, der Alterität von ihnen zu erzählen, und deshalb werden sie immer weniger erinnert. Umgekehrt verleiht die Gegenwart mancher Vorerfahrung jetzt eine Bedeutung, die sie vor dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht hatte, und das Subjekt bedauert es, dass es diese Bedeutung nicht zuvor angemessen würdigte. Darüber hinaus gehört zum angepassten allgemeinen Identitätsempfinden das Wissen, dass das Subjekt mit dem umbrochenen Körper über Erinnerungen verfügt, die ihm davor nicht zugänglich waren. Sobald ich mich nach hinten fallen lasse, berühren sich in meinem Hirn Anschlüsse, die den Bildvorrat mit einem Impuls wecken. Bilder, die über Jahrzehnte aufbewahrt liegen, keineswegs verrottet, in ihrer verletzten Kraft beinahe frisch, denn sie kommen unbewältigt ins Gedächtnis. Bilder vom Krieg. Die Gegenwart hat sie verändert und mich gewissermaßen für sie frisch eingekleidet.122 Das Subjekt nutzt seine Erinnerungen als einen Schatz, um die schmerzhafte Gegenwart zu überstehen. Sie erhalten damit eine Bedeutung, die sie zuvor nicht hatten. Ich habe das Reisen geliebt. Zum Glück konnte ich im Laufe der Jahre genügend Bilder, Aromen, Eindrücke speichern, um an Tagen, wenn hier ein schiefergrauer Himmel jede Aussicht verstellt, auf Reisen gehen zu können. Das sind seltsame Streifzüge. Der ranzige Geruch einer New Yorker Bar. Der Duft des Elends auf dem Markt von Rangun. Reisen ans Ende der Welt. Die eiskalte weiße Nacht von Sankt Petersburg oder unglaubliche Weißglut der Sonne von Furnace Creek in der Wüste von Nevada.123 Verändertes Verständnis der Vergangenheit: In seiner Identitätsarbeit muss das Subjekt auch erkennen, dass durch die veränderte Körperlichkeit gewohnte Überzeugungen zu sich und den Anderen in Frage gestellt werden. Dem Subjekt kommt der Gedanke, ob es durch seine frühere Entscheidungen nicht selbst für den körperlichen Umbruch verantwortlich ist. Mein Zeitplan ließ mir wenig Zeit zur Entspannung mit meiner Familie, außer am Wochenende. Zurückschauend stellt sich mir oft die Frage, ob der zusätzliche, manchmal

120 121 122 123

Peinert 2002: 92. Bauby 1997: 114. Härtling 2007: 81f. Bauby 1997: 103.

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übermäßige Druck meine Krankheit vorangetrieben hat – einfach durch den sich anhäufenden Stress.124 Ebenso fragt sich das Subjekt, was sein Selbst, dessen es sich bis dahin gewiss war, überhaupt ausmacht. Denn was ihm zuvor selbstverständlich war, erweist sich nach dem Unfall, der Verletzung oder der Erkrankung als nicht genügend belastbar. Nie hätte ich gedacht, dass gerade ich, ein psychisch stabiler Mensch, an solchen Angstzuständen leiden sollte, wie ich sie mehrmals erlebte.125 Aber das Subjekt beginnt nicht nur, sich selbst mehr zu verstehen, sondern auch seine Alterität. Damals schrieb ich, dachte ich, ich habe, aus dem Fenster blickend, gesehen, was mein Vater zuletzt gesehen hat. Inzwischen weiß ich es besser. Er könnte, zermürbt von Schmerzen und Müdigkeit, unter einer Schutzhaut, die Knie angezogen, gelegen haben und seinem Bewusstsein verloren gegangen sein, unerreichbar drinnen.126 Ein tiefer gehendes Verständnis des Vergangenen schafft die Voraussetzungen dafür, dass das Subjekt in die Zukunft weisende Identitätsentwürfe und -projekte umsetzen kann. Weil es in seiner Identitätsarbeit die Erinnerung umwertet und weit zurückliegende Geschehnisse anders deutet, erleichtert der veränderte Blick auf die Vergangenheit dem Subjekt die Gegenwart. Ich hatte Mum immer für eine Heilige gehalten, die nie etwas falsch machte, weil sie sich um Krebskranke kümmerte und für alte Leute in der Kirche kochte. Bei Andys Worten war ich plötzlich wieder neun Jahre alt. Ich fühlte mich verraten und verletzt, ungeliebt und wütend. Mum hätte das nie machen dürfen, dachte ich. Sie hätte uns mitnehmen sollen. Der einzige Grund, warum das nicht geschah, war, daß Charles uns nicht wollte. Ein Fremder, den sie erst seit ein paar Monaten kannte, bedeutete ihr mehr als ihre eigenen Kinder. Ich hatte das Recht, darüber wütend zu sein. Diese Erkenntnis war mit einer solchen Erleichterung verbunden, daß ich in Tränen ausbrach.127 Die Veränderung der Erinnerung und die Umdeutung der Vergangenheit geschieht so tief im Selbst, dass dies nicht nur das bewusste Erinnern erfasst, sondern auch die zugrundeliegenden unbewussten Schemata (vgl. Fischer 1996: 57–106). Die Identitätsarbeit geht so weit, dass über die Zeit hinweg unterschiedliche Fassungen ein und derselben Lebensgeschichte entstehen, ohne dass dem Subjekt die Unterscheide noch bewusst sind. Die Gegenwart, auf der nicht mehr die Erinnerung an den Verlust lastet, erscheint dann besser als die Vergangenheit. Für die Ohren Nichtbehinderter […] hört es sich sicher unglaubwürdig an, aber heute weiß ich es: Ich möchte nicht wieder laufen müssen. Die Jahre, in denen ich meinte, ohne die übliche Zweckbestimmung meiner Beine fehle mir ein unentbehrliches

124 125 126 127

Todes 2005: 50. Balmer 2006: 93. Härtling 2007: 103. Mills 1996: 247.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Merkmal des Menschseins, sind in meiner Erinnerung meine schwarzen, meine dunklen Jahre.128 Dass sich durch die Identitätsarbeit etwas grundlegend geändert hat, merkt das Subjekt auch daran, dass es bei seinem Erinnern feststellt, dass frühere Spannungen nicht mehr bestehen. So ein kleines Wesen ist wirklich ein Wunder. Du merkst, dass ich ganz begeistert von Carolin bin. Aber daran merke ich auch, wie sehr ich mich verändert habe bzw. meine Einstellung sich geändert hat. Noch vor fünf Jahren hätte ich mehr Probleme gehabt, hervorgerufen durch die Nachwirkungen der Trennung von Viktor und den nicht verwirklichen Lebensplänen.129 Auch fällt dem Subjekt auf, dass es im Vergleich zu früher jetzt anders mit seiner Alterität umgeht. Immer häufiger mache ich nicht einmal mehr den Versuch, mir vorzustellen, wie Menschen aussehen. Mein Wissen von dir beruht auf dem, was wir zusammen erlebt haben, und nicht darauf, wie du aussiehst.130

4.5

Im Zeichen der Alterität

Identitätsempfinden und kollektive Identität: Das angepasste allgemeine Identitätsempfinden bleibt unvollständig, solange dem Subjekt nicht bewusst wird, wie seine Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch von der Alterität in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. Denn die kollektive Identität des sozialen Makrosystems gibt vor, wie mit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung umzugehen ist. Diese Vorgaben übernimmt das Subjekt weitgehend unbewusst in seine Identität, weil sie ihm vertraut sind; denn grundlegend Fremdes wird nicht in das Selbst aufgenommen (vgl. Pawelzik 2018). Lange bevor das Subjekt seine gewohnte Körperlichkeit verlor, erlernte es diese Vorgaben als Teil der kollektiven Identität, in der es aufwuchs, und verinnerlichte sie (vgl. Goffman 1967: 48). Was das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch als kohärente und authentische Identität empfindet, begründet sich aus dem sozialen System, dem es angehört. In der Identitätsarbeit vollzieht es die Vorgaben der Alterität nach, und zwar entweder in Auseinandersetzung damit oder unter Aufgabe seines bisherigen Selbst. Dabei handelt es sich um ein wechselseitiges Geschehen zwischen dem Subjekt und der Alterität: Zum einen entäußert sich das Subjekt mit seinem umbrochenen Körper sprechend und handelnd der Alterität gegenüber, um in deren Bezeugung sein Selbst zu finden, dabei weiß es entweder, wer es ist, und sucht in ihr Bestätigung, oder es weiß nicht, wer es ist, und braucht vertrauenswürdige Andere, die es spiegeln. Zum anderen spricht die Alterität das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit an, um sich seiner zu versichern und um 128 Buggenhagen 1996: 43. 129 Ruscheweih 2005: 60. 130 Hull 1992: 40.

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Körperlicher Umbruch

für sich herauszufinden, was nach dem körperlichen Umbruch nun dessen Selbst ausmacht, ob es trotz der körperlichen Veränderungen noch verlässlich ist oder mit dem umbrochenen Körper das soziale System als Ganzes und dessen einzelne Mitglieder in ihrem Selbstverständnis gefährdet. Die Geschichte, die das Subjekt durch die erfolgreich geleistete Identitätsarbeit nun der Alterität als seine eigene mitteilt, ist in den Geschichten verwurzelt, die die Alterität zuvor von ihm und dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit erzählte. Auch wenn dem Subjekt in seinem Identitätsempfinden noch nicht bewusst ist, wie sehr es seine Antworten auf den Verlust der gewohnten Körperlichkeit nur in dem zu finden vermochte, was die kollektive Identität des Makrosystems ihm durch seine Alterität vermittelte, ist es sich gewiss, dass deren wiederkehrende Ansprache dazu beitrug, dass es seine Identität neu bestimmen konnte. Hatte es einen verborgenen Sinn? War es mir bestimmt, blind zu werden? Fragen wie diese werden mir oft gestellt.131 Vorgaben der Alterität und Identitätsarbeit: Da niemand sein Selbst unabhängig von der Alterität zu deuten vermag (vgl. Liebsch 1999: 11–18), entsteht weder die Anpassung der verschiedenen Teilidentitäten an die veränderte Körperlichkeit noch die Gewissheit des umbrochenen Körpers und die des umbrochenen Selbst aus dem Subjekt heraus. Auch wenn das Subjekt die Identitätsarbeit als seine eigene erlebt, fließen in das Identitätsempfinden nicht nur außerhalb des Selbst liegende Ressourcen ein, sondern auch die kollektive Identität mit den Vorgaben der Alterität, wie jemand zu sein und zu leben hat, der die gewohnte Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung verlor. Indem das Subjekt sich zu eigen macht, was in dem sozialen System, dem es mit seinem unversehrten Körper angehörte, nun über seinen umbrochenen Körper und sein Selbst gedacht wird, hat es trotz seiner veränderten Körperlichkeit weiter an einer gemeinsamen Welt teil, selbst wenn es als chronisch Kranker oder Behinderter jenseits der Grenzen des sozialen Systems verortet ist. Zwar ist dadurch das Subjekt in seiner Freiheit eingeschränkt, nach dem körperlichen Umbruch seine Identität zu entwerfen, doch bleibt es mit der Alterität in der lebenswichtigen Verbindung, die in das gemeinsame Unbewusste reicht und sich an den Träumen ablesen lässt (vgl. Richarz/Römisch 2004: 295–297, 301); denn jeder Mensch ist, um überleben zu können, auf die Alterität angewiesen, sei es in gegenwärtigen Beziehungen, sei es in verinnerlichten (vgl. Walter 2018). Dass die im sozialen System geteilten Vorgaben die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch beeinflussen (vgl. Krappmann 1998: 80), wird dem Subjekt erst allmählich bei verschiedenen Anlässen bewusst. Es geschieht, wenn ihm eine Begegnung von gleich zu gleich verwehrt wird, wenn es durch die Haltung der Alterität aus einem sozialen System eher ausgegrenzt als einbezogen wird, wenn es in der Beziehung zur Alterität Spannungen ausgesetzt ist oder wenn ihm von der Alterität verwehrt wird, sich in seinem nach dem körperlichen Umbruch erworbenen Selbstverständnis zu zeigen. Den nachteiligen Einfluss vermag das Subjekt daran zu merken, dass es Rückschläge und Verletzungen erleidet, in seinem Narzissmus gekränkt ist oder in seinem 131

Hull 1992: 220.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Selbst überwältigt wird. Je nach dem, ob es hinnehmen und aushalten kann, was ihm geschieht, ob es von sich aus etwas zu entgegnen weiß oder ob es dadurch dauerhaft behindert wird, wirkt sich dabei die kollektive Identität unterschiedlich aus. Wenn die Alterität dem Subjekt Widersprüchliches vermittelt, muss es sich darum bemühen, diese Widersprüche in sich zu vereinbaren. Wenn ich zusammen mit meiner elfjährigen Tochter mit der Eisenbahn fuhr, bekamen wir nie heraus, wem welche Fahrkarte gehörte. Auf ihrer Fahrkarte, die in Verbindung mit dem Familienpaß galt, stand der Aufdruck »Normaltarif«. Auf meiner mit Behindertenermäßigung gekaufter Fahrkarte war »Kind« aufgedruckt.132 Wenn die Alterität das Subjekt in einer Weise anspricht, dass es sich darin nicht wiederfindet, muss es für sich zu klären versuchen, was ihm fehlt. Ich habe schon viele schöne Namen für das gelesen, was ich im Klinikum Buch auf der Querschnittgelähmten-Station tue. Krankenschwester, Hilfserzieherin, Sozialtherapeutin – von allem bin ich ein Stückchen, und darüber hinaus noch einiges mehr.133 Verwehrte Begegnung: Zu den Geschehnissen, die dem Subjekt bewusst werden lassen, dass sich die Vorgaben der Alterität ungünstig auf sein Identitätsempfinden auswirken, gehört die verwehrte Begegnung von gleich zu gleich. Dem Subjekt wird aufgezeigt, dass es mit dem umbrochenen Körper nicht selbstvergessen dem sozialen System angehören kann. Die Alterität vermittelt ihm, dass seine veränderte Körperlichkeit ihrer Meinung nach nicht gut ist, und in Übereinstimmung mit ihr äußert es, dass es ebenso denkt. Als wir vor dem Haus anhielten, fragte sie mit zögerlicher, aber neugieriger Stimme: »Und wie ist es mit dir, John? […] Glaubst du wirklich, daß du bereits an dem Punkt angekommen bist, wo du nicht wieder sehen willst?« Das erschreckte mich, und ich erwiderte: »Wie kannst du so etwas sagen! Natürlich möchte ich wieder sehen können! Ich werde mich nie damit abfinden, daß ich nicht mehr sehen kann!«134 Im Denken des Subjekts hat sich bereits verinnerlicht, dass es am besten ist, wenn sein umbrochener Körper gar nicht auffällt. [Das Kunstbein; B.R.] sah vielleicht nicht großartig aus, war aber immer noch wesentlich besser als nichts.135 Das Subjekt muss der Alterität versichern, dass seine körperliche Andersartigkeit für die Beziehung unerheblich ist und dass es alles unternimmt, um sich daraus ergebende Folgen gering zu halten. Es ist selbst davon überzeugt, dass es das wiederholt darlegen muss, um die Anderen zu überzeugen. Die Kollegen nutzten diesen Irrtum als Vorwand, um mich nochmals zu ersuchen, meinen Posten aus Gesundheitsgründen niederzulegen. […] Ich war der Ansicht, meine 132 133 134 135

Hull 1992: 124. Buggenhagen 1996: 89. Hull 1992: 104, 104f. Mills 1996: 250.

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Schwächen und Fähigkeiten realistisch einschätzen zu können, und hoffte, dass ich auf die medikamentöse Behandlung weiterhin gut ansprechen und sie meinen Gesundheitszustand so weit erhalten oder sogar verbessern würde, dass es mir nach wie vor möglich war, meiner Arbeit nachzugehen.136 Aufkommende Zweifel der Alterität darüber, ob das Subjekt wirklich normal sein will, ob es sich auch genügend bemühen wird, diese Absicht in die Tat umzusetzen, und ob es ihm wirklich gelingen kann, muss es möglichst umgehend zerstreuen. Das Subjekt beobachtet, dass es seine Alterität nicht nur überrascht, sondern auch ihre Anerkennung erhält, wenn es schafft, das wahre Ausmaß der körperlichen Schädigung zu verbergen. Nie werde ich Raffaeles Gesicht vergessen, als er die Ankunftshalle des Flughafens von Miami betrat und mich ohne sichtbare Stützen erblickte. Ich sah, was er dachte: »Warte mal, hatte sie nicht ein Bein verloren?« Als er näher auf mich zukam, den Stock sah und erkannte, was geschehen war, umarmte er mich einfach nur wortlos und küßte mich, so aufgeregt war er.137 Oft vermittelt die Alterität dem Subjekt, dass sie nicht versteht, was seinen umbrochenen Körper wirklich ausmacht. Wenn mir heute also jemand empfehlen sollte, ich möge doch Sport oder gar Ballspiele betreiben, so weiß ich, daß er es zwar gut mit mir meint, aber nicht erkannt hat, wo der Schaden bei einem Schlaganfall eigentlich liegt.138 Denn trotz der veränderten Körperlichkeit nimmt die Alterität eine Gleichheit ihres körperlichen Erlebens an. Dabei fällt ihr nicht auf, wie falsch sie liegt. Viele sagen mir, dass es ihnen nicht anders ergehe als mir, wenn ich erkläre, dass mir die Zeit davon läuft. Tatsächlich?139 Nachdem das Subjekt festgestellt hat, dass die Alterität nicht fähig ist, seine Körperlichkeit richtig wahrzunehmen, zieht es bisweilen daraus den Schluss, die Situationen, in denen sein umbrochener Körper von Bedeutung sein könnte, möglichst gut kontrollieren zu wollen. Das beinhaltet Verschiedenes (vgl. Goffman 1967: 18–27): Das Subjekt bemüht sich, körperlich gar nicht mehr in Erscheinung zu treten. Indem es wohlüberlegt Hilfsmittel einsetzt, achtet es sorgsam darauf, dass die veränderte Körperlichkeit oder die beeinträchtigte Funktion der Alterität kaum auffällt. Auch eine geschickte Auswahl der Kleidung dient diesem Ziel. Ich suchte eine Hose, die eng bis zum Knie war, aber dann ausgestellt, damit es, wenn ich auf Krücken ging, aussah, als hätte ich nur den Fuß verloren und nicht das ganze Bein.140

136 137 138 139 140

Todes 2005: 97. Mills 1996: 250f. Peinert 2002: 94. Balmer 2006: 102. Mills 1996: 237.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Außerdem überlegt sich das Subjekt genau, welche Informationen über seinen Körper es an die Alterität gibt (vgl. Goffman 1967: 95–130). Es entschließt sich dazu, der Alterität nicht wirklich zu sagen, in welchem besonderen Austausch sein umbrochener somatischer Körper mit der äußeren Welt steht. Meine Blasenprobleme verschwieg ich diskret.141 Auch verrät das Subjekt nicht, welches Verhältnis sein umbrochener sozialer Körper zum sozialen System aufweist. Und natürlich wollte ich zweifellos auch meine Rolle als Patient verbergen.142 Schließlich verschweigt das Subjekt der Alterität auch noch, was seinen umbrochenen psychischen Körper und sein Selbst ausmacht. »Wie geht es dir?«, fragt mich eine Bekannte. Ich überlege, ob ich, wie fast immer, optimistisch und aufgestellt antworten soll oder ob ich ehrlich sein soll.143 Wenn das Subjekt nicht bereit ist, der Alterität mitzuteilen, wie seine körperliche Funktionen beeinträchtigt sind, welche soziale Rolle es gerade spielt oder was sein wahres Befinden ist, will es verhindern, dass sein umbrochener Körper die Beziehung beherrscht. Im Verlauf der Identitätsarbeit hat es für sich herausgefunden, was es dabei bewegt. Es ist jetzt in der Lage, seine Motive zu nennen. Warum habe ich dann die Diagnose verschwiegen? […] Das ist wohl auch eine Form von Selbstschutz. Eine langjährige Freundin, auch Krankenschwester, die von der Diagnose wusste, fragte mich beispielsweise bei jedem Telefonat interessiert, wie es mir gehe und was die MS mache. Ich mochte das gerade zu Beginn gar nicht, weil ich darüber nicht reden wollte und konnte und danach schlecht schlief.144 Zu den Erfahrungen, die das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch gemacht hat, gehört, dass es sinnvoll sein kann, die Alterität über seine Körperlichkeit zu täuschen. Der durch das Verbergen gewonnene Vorteil, für die Alterität normal zu erscheinen, geht allerdings mit Nachteilen einher. Das Subjekt lebt nun ständig in der Gefahr, entlarvt oder durch bloßen Zufall entblößt zu werden, und führt ein Doppelleben; es teilt die Welt in verbotene Bereiche auf, wo die Gefahr der Aufdeckung groß ist, sowie in alltägliche Bereiche, wo um die Täuschung gewusst wird, sie aber unbeachtet bleibt, und in abgesonderte Bereiche, wo sie entbehrlich ist. In Berck ist ein Rollstuhl etwas so Alltägliches wie in Monte Carlo ein Ferrari, und es begegnen einem überall so arme Teufel wie ich, gliederlahm und sabbernd.145 Dies erzeugt ein allgemeines Identitätsempfinden, das von der anhaltenden Angst bestimmt ist, von der Alterität in der wahren körperlichen Verfassung entdeckt zu wer-

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Lürssen 2005: 28. Todes 2005: 47. Balmer 2006: 91. Anonym [Gudrun] 2005: 105. Bauby 1997: 86.

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den, das Beziehungen zur Alterität meidet bzw. sie unpersönlich hält, um nicht beiläufig etwas auszuplaudern, das eine ständige Wachsamkeit erfordert und das die eigene Unehrlichkeit verachtet. Eine andere Möglichkeit, die Situationen zu kontrollieren, in denen der umbrochene Körper von Bedeutung sein könnte, besteht darin, sich zu öffnen und von sich aus seinen besonderen Zustand anzusprechen. Diese Erläuterung trägt dazu bei, das Unbehagen zu lösen, das die Alterität oft empfindet, wenn sie des umbrochenen Körpers gewahr wird. Ich saß auf dem Sessellift, als das Unvermeidbare geschah. Mein Nachbar auf dem Sitz war ein stämmiger Deutscher. Wir waren schon halb oben, als ich im linken Knie etwas Komisches spürte und merkte, daß das Klebeband, das meine Prothese an ihrem Platz hielt, abrutschte. Hilflos mußte ich zusehen, wie mein linkes Bein samt Ski und Stiefel aus meinem Skianzug rutschte, sechs Meter tief in den Schnee fiel und dabei fast einen vorbeisausenden Snowboard-Fahrer traf. Der Deutsche machte Augen wie Untertassen, als mein Bein den Hang hinabschoß und immer schneller wurde. […] »Mein Gott!« Der Deutsche war so weiß geworden wie ein Laken. Er dachte wohl, ich sei ein Opfer von akuter Erfrierung. »Ist schon gut«, beruhigte ich ihn. »Schauen Sie, kein Blut, es war schon vorher ab.« Als wir oben ankamen, hatte er begriffen, was passiert war, und grölte vor Lachen.146 Auch der Einsatz von Hilfsmitteln, mit denen das Subjekt den Austausch mit der äußeren Welt erleichtert und sein Einwirken auf die Umwelt verbessert, muss vom Subjekt kontrolliert werden. Damit die Alterität den Einsatz von Hilfsmitteln billigt, ist es bereit, ihr Einzelheiten der eigenen Körperlichkeit mitzuteilen, über die ansonsten nicht gesprochen wird. Aber als ich meinte das [zeitweilige Nutzen eines Rollstuhls; B.R.] wäre zu meiner Arbeitserleichterung, kam der erstaunte Kommentar, dass ich doch in der Lage sei zu laufen. Also wieder das Vorurteil, dass nur diejenigen im Rollstuhl sitzen, die fest an ihn gebunden sind. Da war natürlich eine genaue Erklärung notwendig: Erleichterung der Wege, wieder Einsatzmöglichkeit auf der Station, weniger Anstrengung für mich, aber mehr Einsatz für und bei den Patienten, da ich mit meinen Kräften besser haushalten kann.147 Nicht nur, dass das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch annehmen muss, dass es mit dem umbrochenen Körper nicht selbstvergessen dem sozialen System angehören kann, sondern es wird ihm auch klar, dass es besser vorab darüber nachdenkt, wie sein umbrochener Körper auf die Alterität wirken wird. Das Subjekt übt sich darin, sich in ihre Lage zu versetzen und sich zu überlegen, was die Anderen bräuchten, um mit seiner Körperlichkeit zurechtzukommen. Viele Menschen, mit denen ich zusammenkomme, haben zuvor noch nie einen Blinden kennengelernt. Sie wissen nicht recht, was sie tun oder wie sie sich mir gegenüber

146 Mills 1996: 254. 147 Ruscheweih 2005: 50f.

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verhalten sollen. Ich versuche, Situationen zu schaffen, in denen sich Sehende wohl fühlen, aber das ist nicht immer leicht und gelingt mir auch nicht jedesmal.148 Diese Gedanken macht sich das Subjekt auch, wenn es vertrauten Menschen wieder begegnet, die es seit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht mehr gesehen hat. Das Subjekt geht davon aus, dass für sie das Zusammenkommen schmerzhaft sein wird, weil sie ihn erstmals mit seinem umbrochenen Körper erleben werden. Sehr besorgt war ich wegen der Menschen, die ich wiedersehen sollte. Ich wußte, daß ich Menschen, die ich kannte und so sehr liebte, unweigerlich Schmerz zufügen würde, wenn sie mich als Blinden wiedersahen.149 Oft bleibt dem Subjekt nichts übrig, als hinzunehmen, was von den Anderen kommt, auch wenn es ihm selbst unangenehm ist, was sie mit ihm machen. Andere wiederum haben lediglich geholfen, um »sich selbst zu spüren«, »sich selbst gerecht« zu werden, zu lernen, »sich selbst abzugrenzen«. Und ich? Mir blieb lediglich, Verständnis für diese »Sich-selbst-findenden-Menschen« zu finden.150 Wenn die Alterität das Subjekt von sich aus anspricht, geht es vielfach nicht um das, was es gerade braucht, sondern um das, was es ihrer Meinung nach nun brauchen würde. Das umfasst zum Beispiel Situationen, wo dem Subjekt Hilfe angeboten wird, die es dort nicht benötigt. Wenn ich zur Arbeit gehe, fragen mich nicht selten Menschen, ob ich Hilfe brauche. Die Wahrheit ist, daß ich auf diesem Weg keine Hilfe benötige. Gewöhnlich sage ich also: »Vielen Dank. Mir geht’s ganz gut. Ich komme hier jeden Tag vorbei. Trotzdem vielen Dank für Ihr Angebot.«151 Als wesentliche Erfahrung muss das Identitätsempfinden nach dem körperlichen Umbruch einbeziehen, dass der umbrochene Körper in einem sozialen System vielfach unwillkommen ist, dass er Beziehungen erschwert und dass Ausgrenzung droht, wenn er in Erscheinung tritt. In seiner Identitätsarbeit ist es dem Subjekt gelungen, sich darauf einzustellen. Vincent klopft und tritt schweigend ein. Durch die Blicke der anderen habe ich mich so daran gewöhnt, daß ich die kleinen Funken des Entsetzens nicht mehr wahrnehme, die in seinen Augen aufscheinen. Oder mir schaudert jedenfalls nicht mehr so davor.152 Vielfach wird dem umbrochenen Körper von der Alterität eine Aufmerksamkeit entgegengebracht, die durchaus auch sensationslüstern ist.

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Hull 1992: 129. Hull 1992: 134. Balmer 2006: 51. Hull 1992: 118. Bauby 1997: 93.

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An diesem Abend war mein Bein das Gesprächsthema in der Pacific-Bar, und eine faszinierte Menschenmenge sah mir beim Tanzen zu. Sie hofften ganz offensichtlich, es würde noch mal abfallen.153 Ausgrenzende Haltung: Auch die Haltung, welche die Alterität gegenüber dem Subjekt einnimmt, sobald es als chronisch krank oder behindert auffällt, lässt es erkennen, dass die kollektive Identität sich ungünstig auf sein Identitätsempfinden auswirkt. Die Alterität teilt ihm mit, dass der körperliche Umbruch als Schaden anzusehen ist (vgl. Maskos 2004). Das Subjekt bekommt vermittelt, dass es ein bedauernswertes Opfer eines tragischen Schicksals ist, das es zu erdulden habe; oder dass es eigentlich besser wäre, wenn es mit seinem umbrochenen Körper nicht mehr am Leben sei; auch dass es eine Last darstellt, die der Alterität eigentlich gar nicht zugemutet werden könne. Mit meiner Krankheit sei ein Überleben an einer künstlichen Beatmungsmaschine nicht menschenwürdig und schon gar nicht sozial-finanziell tragbar, habe ich zu hören bekommen. Nicht etwa von einem Finanzmanager, sondern von einem Arzt.154 Die Auffassung, dass der körperliche Umbruch ein Schaden ist, wird dem Subjekt gegenüber auch zum Ausdruck gebracht, wenn ihm die Alterität in vermeintlicher Anerkennung der geleisteten Identitätsarbeit sagt, dass es wohl ein schier übermenschlicher Held mit besonderen Fähigkeiten oder mit übernatürlichen Gaben sein müsse, da es ihm möglich war, den Verlust der gewohnte Körperlichkeit zu bewältigen. »Ich höre oft, dass man mich bewundert, weil ich mit meiner Krankheit so gut umgehen könne. […]«, erkläre ich.155 Die Alterität äußert solche Auffassungen, obwohl das Subjekt ihnen nicht zustimmt. Wenn es sich mit ihnen auseinandersetzt, findet es eine Einstellung zu sich. Manchmal werde ich als heroisches Beispiel dargestellt, was jedoch nicht meiner Art entspricht. Denn ich fühle mich nicht als besonderes Vorbild.156 Unabhängig davon, ob das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch von der Alterität eher entwertet oder eher idealisiert wird, erfährt es wiederkehrend in ihrer Ansprache, dass seine körperlichen Verfasstheit nun in einem Maße eine Bedeutung hat, wie es zuvor nicht der Fall war (vgl. Olkin 1999: 55–59). Der umbrochene Körper bestimmt vor allem den ersten Eindruck der Alterität so sehr, dass das Subjekt von ihr in seinen anderen Teilidentitäten gar nicht mehr angesprochen wird. »Was ist geschehen?«, fragt er mich. »Erzählen Sie!« »Seit ich krank bin, werde ich oft nur noch mit meinen Krankheiten identifiziert, die zwar offensichtlich zu meinem Leben gehören und es prägen, aber nicht meine Persönlichkeit und Fähigkeiten ausmachen.«157

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Mills 1996: 255, Kursivierung im Original. Balmer 2006: 80. Balmer 2006: 68. Balmer 2006: 92. Balmer 2006: 68.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit treten andere Merkmale, die das Subjekt zuvor kennzeichneten, in den Hintergrund. Der Brief enthielt auch die kaum verhüllte Drohung, die Kollegen würden sich andernfalls [zur Beurteilung des Gesundheitszustandes und der Arbeitsfähigkeit; B.R.] an die »Drei Weisen« wenden, was einem Kriegsgericht gleichkam. Ich empfand diese Drohung als demütigend und vor allem als ungerecht und war wütend, dass man versuchte, mich loszuwerden, indem man meine Kompetenz in Zweifel zog.158 Das Subjekt ist in der Ansprache der Alterität nicht mehr Lehrer, Schriftsteller oder Modell, sondern krank oder behindert. Ich selbst merke nicht, daß ich behindert bin, aber durch das Verhalten anderer werde ich immer wieder darauf hingewiesen.159 Die von der Alterität gutwillig angebotene Hilfe vermindert oft die Eigenständigkeit und bestätigt dadurch erst recht die von ihr vermutete Hilflosigkeit eines Behinderten. Die Rückreise war genauso schlimm. Wieder ließ es sich keiner der Anwesenden nehmen, mir zu helfen. Die Luft war dick von Rufen wie »Ein Stück nach links, ein Stück nach rechts, ein Stück zurück!« Ich war nicht imstande, diese Rufe zu überhören und drehte mich von links nach rechts wie Prince Philip in einer Ausstellung, dankte diesem und jenem Mann, sagte guten Tag und auf Wiedersehen und versicherte ihnen, daß ich zurechtkam, und bei alledem war es fast unmöglich, mich zu konzentrieren; nun war ich wirklich in Gefahr, in einen Wagen hineinzulaufen. Als ich wieder in meinem kleinen Zimmer angekommen war, waren meine Hände schweißnaß, und mein Herz hämmerte vor Aufregung; ich war völlig erschöpft. Die Anstrengung und die Verlegenheit hatten meine ganze Kraft aufgebraucht. […] Es sind diese Hilfsangebote, die mich wirklich behindern.160 Die Alterität neigt dazu, die Person des Subjekts nach seiner Körperlichkeit zu bewerten. Sie misst dem umbrochenen Körper wenig Wert bei, sodass das Subjekt abgewertet wird. »Weißt du, daß B. zu Gemüse geworden ist?« sagte der eine. »Natürlich, ich hab’s gehört. Gemüse, ja, Gemüse.« Das Wort »Gemüse« mußte wohl dem Gaumen dieser Auguren schmeicheln, denn es wurde mehrmals, zwischen zwei Bissen überbackener Käseschnitte, wiederholt. Und der Ton insinuierte, daß nur ein Kulturbanause nicht wissen könne, daß ich nun eher zur Welt des Gemüses gehörte als zur menschlichen Gemeinschaft.161 Durch die Art, wie die Alterität es anspricht, bekommt das Subjekt mit, dass diejenigen, die es erst nach dem körperlichen Umbruch kennengelernt haben, sich gar nicht vorstellen können, wie es lebte, bevor es seine gewohnte Körperlichkeit verloren hat.

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Todes 2005: 97. Buggenhagen 1996: 46. Hull 1992: 170, 171. Bauby 1997: 82.

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[E]s berührt mich seltsam, zu hören, wie mein alter Komplize der jungen Frau, die jeden Tag kommt, um sich dieses Buch diktieren zu lassen, von mir erzählt. Von meinem aufbrausenden Charakter, meiner Leidenschaft für Bücher, meiner unmäßigen Vorliebe für gutes Essen, meinem roten Cabrio, alles wird erwähnt. Wie ein Erzähler, der die Legenden einer versunkenen Welt ausgräbt. »So habe ich Sie nicht gesehen«, sagt Claude.162 Durch die Ansprache der Alterität erfährt das Subjekt noch weitere Inhalte, mit denen es sich in seiner Identitätsarbeit auseinandersetzen muss: Die Alterität vermittelt ihm, selbst an dem körperlichen Umbruch schuld zu sein. Es hört, dass es infolge des körperlichen Umbruchs an Attraktivität verloren hat. Oft mehr mit Taten als mit Worten wird ihm gezeigt, dass sein umbrochener Körper nicht mehr dem gesellschaftlichen Ideal entspricht und es nicht mehr erstrebenswert ist, mit ihm gesehen zu werden. Auch wenn die Alterität dem Subjekt nicht direkt mitteilt, welche Bedeutung die veränderte Körperlichkeit für sie hat, oder sie sich sogar darum bemüht, sich anerkennend zu äußern, kann wahrnehmbar sein, wie zwiespältig ihre Haltung ist. Bisweilen bemerkt das Subjekt die Doppelbotschaft aber auch nicht. Ich habe keine Schwierigkeiten im schicken Sommerkleid mit Hut im Rollstuhl zu sitzen; »man sah gar nicht den Rollstuhl, sondern nur den Sonnenhut«, so äußerte sich eine Bekannte über mein Erscheinungsbild.163 Quellen der Spannung: Dadurch, dass das Subjekt in der Beziehung zu den Anderen Spannungen ausgesetzt ist, die sich auf seine veränderte Körperlichkeit zurückführen lassen, merkt es weiterhin, wie die Vorgaben der Alterität sein Identitätsempfinden beeinträchtigen. Das Subjekt muss sich damit auseinandersetzen, dass das Auftauchen seines umbrochenen Körpers die üblichen sozialen Abläufe verändert. Die Anderen wissen nicht mehr, wie sie mit ihm umgehen sollen, nachdem es die Körperlichkeit verloren hat, die allen gemeinsam ist. Ich spüre, daß sie selbst unsicher sind, wie sie mir helfen können, ihre Freude zu teilen, wie sie Dinge anschaulich machen und mir ihren Stolz über die neuesten Entwicklungen vermitteln können, wie sie mich in diese Welt ziehen können, die sie so sehr lieben.164 Das Subjekt sieht, wie sich seine Alterität verschließt, wenn sie seinen umbrochenen Körper wahrnimmt und sich eine Begegnung nicht umgehen lässt. Die Mädchen haben harte Augen, die Jungen Tätowierungen und manchmal Ringe an den Fingern. Sie sitzen in ihren Sesseln beisammen, um über Raufereien und Motorräder zu reden, und rauchen eine Zigarette nach der anderen. […] Wenn ich durch ihre verrauchte Höhle fahre, wird es still wie in der Sakristei, aber ich kann in ihren Augen weder Mitleid noch Mitgefühl lesen.165

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Bauby 1997: 86. Ruscheweih 2005: 48. Hull 1992: 135. Bauby 1997: 107.

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Der Anblick des umbrochenen Körpers scheint besonders diejenigen zu verstören, die selbst darauf aus sind, ihr Identitätsempfinden durch körperliche Ertüchtigung zu stärken. Mein Bein entdeckte ich unten an der Piste, wo es bereits eine ganze Schar von Neugierigen angezogen hatte. Es war offensichtlich mitten in einer Skischule gelandet. Das hatte einige Anfänger ziemlich entnervt.166 Das Subjekt spürt die Abwehr, die seinem Körper entgegengebracht wird, auch bei den Spezialisten des Gesundheitswesens, die ihm helfen sollen. Häufig begegnete ich aber Ärzten, die mir einige Möglichkeiten aus Resignation, Egoismus (Angst, für meine Entscheidung zu sterben verantwortlich zu sein), eigener Verdrängung und Mitleid gegenüber der schwerkranken Patientin vorenthalten haben.167 Das Subjekt versucht zu verstehen, was die Alterität zu ihrer Haltung veranlassen könnte. Es fragt sich, ob sein umbrochener Körper ihr Bemühen untergräbt, sich über körperliches Leid zu erheben. Das Subjekt vermutet zudem, dass sein umbrochener Körper in der Alterität die Illusion durchbricht, sie wäre gegen einen Verlust der körperlichen Unversehrtheit gefeit und alle Störungen der gewohnten Körperlichkeit könnten durch geeignete medizinische Maßnahmen beherrscht und abgewendet werden. Heute weiß ich: Es ist diese Angst! Es ist die pure und nackte Angst, vielleicht das gleiche Schicksal zu erleiden! Sie denken: Mein Gott, wenn mir das passiert!168 Auch ist die Alterität oft daraus, eine Begegnung ganz zu vermeiden. Ihr Verhalten wirkt sich nachteilig auf das Befinden des Subjekts aus. Keiner der Kollegen sprach mehr mit mir, und in dieser Isolation ging mir jegliche Freude an der Arbeit innerhalb des Teams und der sonstigen Klinikaktivitäten abhanden.169 Wenn es dem Subjekt aber gelingt, die Alterität in ihrem Verhalten zu verstehen, ist es gegen die Verletzungen besser geschützt, die von ihr ausgehen. Ich hörte, wie rennende Füße auf mich zukamen und dann vielleicht zwanzig Meter von mir entfernt stehenblieben. Eine wütende, grelle Männerstimme, ganz entstellt vor Zorn und Haß, schrie: »Bist du blind, Mann? Du bist gar nicht blind! Wie bist du denn blind geworden? Du bist gar nicht blind!« Ich war von der Unvermittelheit und von der Schroffheit dieser Anrede so überrascht, daß ich vollkommen ruhig stehenblieb. […] Er schien ein Stück nach links beiseitezugehen, und als er dann wieder sprach, war es von weiter entfernt. Wieder schrie er in dem gleichen Ton aus wütender Angst und Haß: »Du bist gar nicht blind! Wie bist du denn blind geworden?« Aus noch größerer

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Mills 1996: 255. Balmer 2006: 57f. Lesch 2002: 131. Todes 2005: 100.

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Entfernung schrie er mir dann ein letztes Mal »Du bist gar nicht blind!« zu, und dann schien er zu verschwinden.170 Die Alterität macht es zur Sache des Subjekts, die aufgetretenen Spannungen wieder aufzulösen. Dabei wird von ihm Widersprüchliches erwartet (vgl. Olkin 1999: 78–82): Einerseits soll das Subjekt heiter sein und der Alterität Stärke und Zuversicht vermitteln. Ich hatte geplant, auf dem Foto in Fionas Auto zu sitzen, aber der Fotograf hatte andere Vorstellungen. Er wollte, daß ich meine Krücken wegwarf und auf einem Bein balancierte, einen Blumenstrauß in der einen Hand hielt und mit der anderen winkte – wie eine Zirkuskünstlerin.171 Vom Subjekt wird Dankbarkeit verlangt, weil es anderen noch schlechter geht. »Du kannst dankbar sein, überhaupt noch zu leben.« [Der Pfarrer; B.R.] schaut mich mit grossen, dunklen Augen an. »Muss ich das?«, frage ich, gelähmt und beatmet, mit zahlreichen Schläuchen im Körper, in meinem Elektrorollstuhl sitzend. »Was kann ich dafür, in der Schweiz geboren zu sein? Was kann ein schwarzes, hungerndes Kind dafür, in Afrika geboren zu sein?« Der Pfarrer ist sprachlos.172 Vor allem darf das Subjekt keinen Unmut oder Ärger äußern. Aber ich war eben nicht immer ruhig und ausgeglichen, sondern psychisch eher aus dem Gleichgewicht, und es fiel mir manchmal doch schwer, alles gelassen zu akzeptieren.173 Andererseits hat das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit als ein Geschehen anzusehen, das von ihm betrauert wird. Falls es mit dem körperlichen Umbruch anders umgeht und es sich nicht den an ihn gerichteten Erwartungen fügt, kommt es zu verletzenden Bemerkungen. Warum treiben Behinderte Sport? Haben sie den manischen Drang, die krankhafte Sucht, durch den Sport die körperliche Unvollkommenheit zu kompensieren, weil sie nur so ein Wertgefühl für das eigene Leben erreichen können? Nicht nur einmal habe ich solche Urteile hören müssen, die weh tun, weil sie neben den körperlichen Defekt gleichsam noch einen geistigen setzen.174 Auch wird das Subjekt von der Alterität nun in einer Weise angesprochen, als sei sein Körper öffentliches Eigentum und als hätten die Anderen ein Recht darauf, auf ihn nach ihren Bedürfnissen zuzugreifen. Die Alterität erwartet, dass das Subjekt, das einen körperlichen Umbruch erlebte, es zulässt, wenn ihm unbekannte Personen unangekündigt seine Grenzen übertreten. Durch das Mitteilen von eigenen Erfahrungen stellen sie Nähe her, ohne darauf zu achten, ob es dem Subjekt erwünscht ist oder nicht. 170 171 172 173 174

Hull 1992: 107, 108. Mills 1996: 238. Balmer 2006: 90. Peinert 2002: 69. Buggenhagen 1996: 52.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

Oft hatten die Leute, die zu mir kamen, selbst eine Geschichte zu erzählen von einem Freund oder Verwandten, der ebenfalls ein Glied verloren hatte. Manchmal sagten sie, es hätte sie inspiriert, über mich etwas gelesen oder mich im Fernsehen gesehen zu haben, denn es hätte ihnen zu der Erkenntnis verholfen, der Verlust eines Beines sei nicht das Ende der Welt.175 Das Subjekt sieht sich von Fremden Fragen nach der Bedingtheit seiner Körperlichkeit ausgesetzt. Dann fragte er, sich an mich wendend, ob ich einige persönliche Fragen beantworten wollte. Ich wußte, was nun kam, und war gewappnet. Er fragte, ob ich vollkommen blind sei und wie lange schon, fragte nach der Ursache meiner Erkrankung und ob ich völlig überzeugt davon sei, daß nichts mehr getan werden könnte.176 Die Alterität vereinnahmt das Subjekt wegen seiner Körperlichkeit für ihre Zwecke, ohne es zuvor um sein Einverständnis gebeten zu haben. Es muss dazu eine Haltung finden. Ich erzähle […] ein anderes Beispiel: »Eine Patientenorganisation hatte von meinem Auftritt erfahren und schrieb mir folgende Zeilen: ›Da Sie auch behindert sind, ist zu erwarten, dass Sie in der Sendung auf unsere Organisation aufmerksam machen werden!‹ Was wäre ich für ein Mensch, wenn ich andere vom Schicksal Getroffene nicht unterstützen würde? Ich habe die Patientenorganisation nicht erwähnt, denn mein Auftritt im Fernsehen sprach alleine schon als solcher für andere Behinderte und Kranke.«177 Auch scheinbar sachliche Fragen nach den Auswirkungen des körperlichen Umbruchs auf alltägliche Abläufe verletzen die Grenzen des Subjekts. Es muss feststellen, dass es an ihm liegt, seine Grenzen wiederherzustellen oder zu sichern. Mir sind von Lesern auch Fragen nach Einzelheiten der Folgen des Schlaganfalls für sehr intime Bereiche meines Körpers gestellt worden. Diese Fragen sind verständlich und haben aus der Sicht der Fragesteller sicher eine Berechtigung. Dennoch bitte ich um Verständnis, wenn ich hier eine Grenze in meiner Bereitschaft zu völliger Offenheit ziehe.178 Es kommt aber auch vor, dass das Subjekt von der Alterität in einer Weise angesprochen wird, die ihn und seine Körperlichkeit achtet. Dadurch wird ihm sein umbrochener Körper zwar auch in der Beziehung zu ihr bewusst, aber die Last, die aufgekommenen Spannungen abzubauen, bleibt nicht bei ihm. Das Subjekt bekommt mit, wie sehr es die Alterität schmerzt, seine veränderte Gestalt wahrnehmen zu müssen.

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Mills 1996: 257f. Hull 1992: 103. Balmer 2006: 70. Peinert 2002: 94.

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Schweigend drückt sie meine leblosen Finger. Hinter ihrer dunklen Brille, die einen wolkenlosen Himmel spiegelt, weint sie leise über unser aus den Fugen geratenes Leben.179 Auch wenn die Alterität einräumt, wie wenig sie seine Lage einzuschätzen vermag, erlebt das Subjekt, dass es nicht als relativ Anderer aus einem sozialen System ausgegrenzt wird. Die Beeinträchtigung des sozialen Ablaufs, wie sie sich durch den umbrochenen Körper ergeben hat, wird dadurch wieder aufgehoben. Als ich zögerte und Marilyn erklärte, daß ich versuchte, mir darüber klar zu werden, ob wir uns getroffen hatten oder nicht, seufzte sie und sagte: »Oje, wie sonderbar! Nach all den Jahren kann ich mir immer noch nicht richtig vorstellen, wie du die Welt erleben mußt.«180 Formen der Unterdrückung: Schließlich versteht das Subjekt, wie die Vorgaben der Alterität seinem Identitätsempfinden zusetzen, dadurch, dass es sich von den Anderen darin unterdrückt fühlt, sich ihnen gegenüber mit seinem umbrochenen Körper erzählend oder handelnd zu entäußern. Das Subjekt erlebt sich wiederholt von der Alterität daran gehindert, seine Fähigkeiten unter anerkannten sozialen Bedingungen zu entwickeln oder anzuwenden und seine Sichtweise auf das Leben, seine Bedürfnisse und seine Empfindungen so mitzuteilen, dass ihm zugehört wird. Dabei lassen sich fünf Formen der Unterdrückung unterscheiden (vgl. Young 1990: 48–63): Zum ersten erfolgt Unterdrückung durch Machtlosigkeit. Die Machtlosen nehmen die Anordnungen der Anderen hin und haben selbst kein Recht, ihnen etwas anzuordnen. Sie sind nicht an Entscheidungen beteiligt, die ihr Leben und ihr Handeln betreffen, auch wenn das nicht ausschließt, dass sie ihrerseits wieder Macht über dritte ausüben. Nach dem körperlichen Umbruch geht die erfahrene Machtlosigkeit für das Subjekt damit einher, dass es nicht mit Respekt behandelt wird und seine Autonomie verliert. Es führt dazu, dass es sich sich selbst in seiner Besonderheit ablehnt. Die resolute Dame, die den Part der Sprecherin übernommen hatte, half nach: »Sie sitzen beide im Rollstuhl. Wir suchen für Kinder aber die bestmöglichen Familien. Da kommen Sie doch wohl nicht in Frage, oder?« Oder? Natürlich oder! Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, daß schon ein bißchen Gehen oder Stehen alles verändert hätte. Wie sehr haßte ich mich in diesem Moment für meine Behinderung, wie gerne wäre ich endlich aufgestanden und hätte plötzlich Wärme und Freundlichkeit in der metallisch harten Stimme hinter dem Tisch gespürt, die mir unnahbare Kälte verkörperte.181 Dass das Subjekt wegen seiner besonderen Körperlichkeit fremdbestimmt wird, erlebt es nach dem körperlichen Umbruch auch in seinen privaten Beziehungen. Es muss lernen, sich eigens zu behaupten. Eine derartige Situation entsteht oft, wenn ich mit einer Gruppe anderer Menschen in ein Auto einsteige. »Setzt du John nach hinten neben dich?« »Nein, ich setz ihn nach 179 Bauby 1997: 76. 180 Hull 1992: 196f. 181 Buggenhagen 1996: 83.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

vorn neben dich.« »Also gut, dann setz ihn rein.« An diesem Punkt meldete ich mich zu Wort und rief, alle übertönend, laut: »John wird nirgendwohin gesetzt, habt vielen Dank! John wird gefragt, ob er lieber hier oder da sitzt.« […] Bei einer ähnlichen Situation rief ich kürzlich aus: »He, ihr Burschen redet nicht über mich, als wäre ich gar nicht da.«182 Zum zweiten erfolgt Unterdrückung durch Ausbeutung. Der durch die Arbeitsleistung erbrachte Mehrwert fällt nicht denen zu, die ihn erbracht haben, sodass also die einen für die Anderen arbeiten, ohne dafür von ihnen anerkannt zu werden. Nach dem körperlichen Umbruch geht die erfahrene Ausbeutung für das Subjekt mit einer Kränkung einher. Einige Berater der Britischen Medizinischen Vereinigung handelten meinen Rücktritt aus. Sie übersahen dabei, dass ich nahezu 20 Jahre lang immer sechs Therapien geleitet hatte. Die Berentung berücksichtigte jedoch nur die vier Therapien, die ich jetzt durchführte. Weil lediglich die höchsten Verdienste der letzten drei Arbeitsjahre die Grundlage für die endgültige Rente bildeten, erhielt ich somit nicht die volle Rente, die mir zugestanden hätte. Meine Abfindung wurde aus dem gleichen Grund um ein Drittel gekürzt.183 Zum dritten erfolgt Unterdrückung durch Marginalisierung. Wer scheinbar zum sozialen Leben nichts beitragen kann, wird von der Wohlfahrt der Anderen abhängig und deren Willkür, Gutwillen oder Bestrafung ausgesetzt; er wird Regeln unterworfen, denen er folgen muss, weil es sonst für ihn nachteilig oder er sogar in seiner Identität ausgelöscht wird. Ihm ist langweilig und er fühlt sich nutzlos. Nach dem körperlichen Umbruch empfindet das Subjekt über die erfahrene Marginalisierung Wut. Richtig ärgern über arrogante Ghettoisierung, die auch noch als Mitgefühl daherkommt, kann ich mich aber nach wie vor.184 Zum vierten erfolgt Unterdrückung durch kulturellen Imperialismus. Dabei stellt eine Gruppe ihre Erfahrungen, Werte, Ziele und Erfolge als Norm dar, und die Abweichung von der Norm wird als abweichend und minderwertig erklärt. Die Eigenheiten der Anderen gelten als Mangel oder Fehler, der als ein Teil ihrer Natur in ihren Körper eingeschrieben ist und deshalb nicht so einfach aufgehoben werden kann. [S]o geht es mir auch, wenn es um Heirat, Kinder und Familienplanung geht. Wenn dann auch noch jemand aus meinem engsten Umfeld – in meinem Beisein – äußert, dass Heiraten ja wohl ganz normal ist, dann könnte ich an die Decke gehen. Bin ich etwa nicht normal?185 Wer unter kulturellem Imperialismus lebt, findet sich von außen definiert, positioniert und platziert durch ein Netz von Bedeutungen, das von irgendwoher kommt, nämlich

182 183 184 185

Hull 1992: 132, Kursivierung im Original. Todes 2005: 100. Buggenhagen 1996: 115. Ruscheweih 2005: 59.

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von der Alterität, mit der sich das Subjekt nicht identifiziert und die sich nicht mit ihm identifiziert. Daraus entstehen Affekte. Wut über mich selbst, dass ich mich auf ein solche Gespräch überhaupt einlasse. Wut über die Frau, weil sie mitfühlen will und doch nur negatives Mitleid bekundet.186 Da das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch dazu gezwungen ist, sich dazu zu verhalten, auch wenn es nicht billigt, was ihm zugeschrieben und zugewiesen wird, entsteht in ihm ein doppeltes Bewusstsein. Es erkennt, dass es nicht der ist, für den es gehalten wird, und dass es vielmehr jemand ist, für den es nicht gehalten wird. Ich ging durch die Navigation Street in der Innenstadt. Jemand bot mir ein Päckchen Pfefferminzbonbons an. »Danke«, sagte ich munter und nahm die Süßigkeiten mit einem freundlichen Lächeln an. »Schon gut«, sagte mein Wohltäter. »Ich hatte sowieso gerade beschlossen, sie dem nächsten Kind, das ich sehen würde, zu schenken.«187 Zugleich wird das Subjekt dabei als derjenige, der es wirklich ist, für die Alterität unsichtbar. Nach dem körperlichen Umbruch geht der erlittene kulturelle Imperialismus für das Subjekt damit einher, dass es sich mit seinem Erleben nicht mehr mitteilen kann und allein bleibt. Mein Mann wollte nichts vom Kranksein wissen. Kein Gespräch mit dem Arzt, viel weniger noch mit mir. Ein Gespräch meines Mannes mit dem Arzt war jedoch Entlassungsbedingung, er brauchte 8 Tage dazu. Es blieb allerdings dabei, Krankheit passte nicht ins Konzept meines Partners. Ich blieb auch weiterhin auf mich allein gestellt, die Kluft zwischen uns erweiterte sich immer mehr. Ich hatte in eine Familie geheiratet, in der als lebenswert nur galt, wer arbeitete. Wie oft meine Kissen nass von Tränen waren, kann ich nicht mehr zählen.188 Zum fünften erfolgt Unterdrückung durch Gewalt. Gewalt bedeutet, in dem Wissen zu leben, plötzlichen, nicht provozierten körperlichen oder psychischen Übergriffen in Form von Demütigung, Erniedrigung und Spott ausgesetzt zu sein. Diese Gewalt wird zudem nicht bestraft, weil die Alterität, welche die Gewalt ausübt, das soziale System bestimmt, welches mögliche Strafen für Gewalt festlegt. Beim körperlichen Umbruch tarnt sich Gewalt bisweilen auch als Freundlichkeit, sodass sie nur an ihrer Wirkung zu erkennen ist. Denn in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende gilt die Übereinkunft, dass man gegenüber Menschen mit Behinderungen freundlich zu sein hat, sich die eigene Angst nicht anmerken lassen darf und ihnen ernsthaft und höflich entgegentreten soll (vgl. Maskos 2004). Wenn das Subjekt, das einen körperlichen Umbruch erlebte, sich auf einmal ausgegrenzt fühlt, kann es solch einen getarnten Gewaltakt erfahren haben. Die Tagungsleiterin schien eine besonders warmherzige Person zu sein, sehr feinfühlig für die Bedürfnisse eines Blinden. Sie zog mich in ihr Gespräch ein, indem sie mir

186 Balmer 2006: 60. 187 Hull 1992: 123. 188 Anonym [Gisela] 2005: 128.

4. Angepasste Teilidentitäten und allgemeines Identitätsempfinden

bestimmte Dinge immer ganz genau erklärte. Wenn sie etwas hochhielt, sagte sie dabei: »Sie können das zwar nicht wissen, John, aber so und so und so und so«, oder: »John, Sie möchten vielleicht gern wissen, daß dieses farbige so und so …« […]. Heraus kommt dabei nur, daß ich mich als Außenseiter fühle. Wenn ich mich gerade für das Gespräch zu interessieren beginne, kommt immer wieder wie ein Dolchstoß die Ermahnung: Du stehst außerhalb von uns, du bist keiner von uns. Ist das manchmal vielleicht Absicht? Kann es sein, daß sich ein Sehender mit diesen Mitteln gegen die Macht meiner Machtlosigkeit wehrt? Wie kann man einen Blinden demütigen?189 Dabei geht es nicht nur um die einzelnen Gewaltakte an sich, sondern auch um das soziale Umfeld, das sie möglich werden lässt und das sie hinnimmt, und vor allem um das Leben unter solch einer andauernden Bedrohung. Ich verliere meine Würde, wenn man mich schlägt, tief in der Seele verletzt, mir meine Lebensqualität und Selbstbestimmung nimmt, wenn man mich nötigt, wenn meine Freunde mich nicht mehr verstehen können oder wollen.190

189 Hull 1992: 219, 220. 190 Balmer 2006: 90.

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5. »›Einmal mehr aufstehen als hinfallen.‹ Das ist mein Motto.« – Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Im Erzählen vermittelt das Subjekt, wie es seine Identität empfindet, wie es verstanden werden möchte und wie es seine eigene Entwicklung einschätzt; und im Handeln kann es die Struktur seiner Identität in einem selbst bestimmten Prozess aufheben, von innen heraus seine Lebensbedingungen gestalten und sich von außen auferlegte zu eigen machen. Im Erzählen und Handeln erschließt sich das Wesen des Subjekts in einem Ausmaß, wie es der Alterität zuvor nicht deutlich und bis dahin dem Betreffenden selbst verborgen war. Bei einem Coming-out teilt das Subjekt bewusst offen mit, was es als einen bestimmenden und unveräußerlichen Anteil der Identität ansieht, und verlangt von der Alterität, diese Anteile wahrzunehmen. Damit in diesem Kapitel veranschaulicht werden kann, was es heißt, vom umbrochenen Körper zu erzählen und mit ihm zu handeln, wird zuerst allgemein beschrieben, was es bedeutet, wenn der somatische Körper als geschädigt (5.1) und der soziale Körper als behindert (5.2) angesehen wird. Daran anschließend wird mit den Erfahrungen des Subjekts zunächst das Erzählen (5.3) und danach das Handeln (5.4) des umbrochenen Körpers dargestellt. Mit einem Blick darauf, wie das Subjekt mit den Grenzen des sozialen Systems umgeht, auf die es stößt (5.5), wird zum dritten Teil übergeleitet, der sich dem umbrochenen Körper im sozialen System widmet.

5.1

Der somatische Körper: geschädigt1

Formen des geschädigten somatischen Körpers: In den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende gilt der Körper nach dem körperlichen Umbruch mit seinen für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden körperlichen Veränderungen in seiner somatischen Dimension als geschädigt. Der sensomotorische Körper ist nur noch bedingt

1

Eine kürzere und frühere Fassung dieses Kapitels ist veröffentlicht in Walser-Wohlfarter/Richarz 2020: 154f.

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dazu in der Lage, seiner eigentlichen Aufgabe nachzukommen, nämlich es dem Selbst zu ermöglichen, ganz aus sich heraus zu treten, sich der äußeren Welt zuzuwenden, sie in sich aufzunehmen und auf sie einzuwirken. Die Sinnesorgane zeigen keine Bilder oder fangen keine Geräusche mehr ein, melden fehlerhaft Missempfindungen aus der Tiefe des Körpers oder schätzen Kälte und Wärme nicht ein, sodass das Subjekt die Umwelt nun anders wahrnimmt als zuvor und auch anders als die meisten übrigen Mitglieder des sozialen Systems, dem es angehört; ist die Motorik betroffen und eines oder mehrere Glieder gelähmt, bewegt sich das Subjekt anders in der Welt als die Alterität. Der viszerale Körper tritt nicht mehr wie sonst zurück und fällt dem Subjekt und seiner Alterität unangenehm auf, weil es nicht mehr möglich ist, ihn zu übergehen. Das Ein- und das Ausatmen, der Herzschlag, die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit und deren Ausscheidung oder die Fortpflanzung sind beeinträchtigt, und das Vermögen des Körpers, sich an die Bedingungen der Umwelt anzupassen, ist gestört. Bei einer nicht behebbaren Ateminsuffizienz oder bei einer koronaren Herzerkrankung beispielsweise muss das Subjekt den Tätigkeiten vermehrt Aufmerksamkeit schenken, die das kardiopulmonale System Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr um Jahr ansonsten meist unbemerkt vollbringt. Wenn der Umbruch den konnektiven Körper betrifft, fällt dem Subjekt und seiner Alterität erst auf, wie grundlegend seine ungestörte Tätigkeit den Körper formt und gestaltet. Wenn Bindegewebe, Fettgewebe, Knorpel und Knochen, das blutbildende oder das lymphatische Gewebe geschädigt sind, versteht das Subjekt und seine Alterität, wie umfassend die körperliche Gestalt und der stete Austausch mit der Umwelt daran gebunden ist, dass der konnektive Körper seine Funktionen erfüllt. Tut er es nicht so wie sonst, ist die allgemeine Leistungsfähigkeit herabgesetzt und mitunter das Weiterleben an sich gefährdet, wie es bei einer Leukämie der Fall ist. Die Schädigung des Gehirns wie bei einem Hirninfarkt oder bei einem M. Parkinson wirkt sich auf alle drei Bereiche des somatischen Körpers aus. Weil die übergeordnete Steuerung beeinträchtigt ist, vermag das Subjekt nicht mehr wie zuvor und auch nicht so, wie es den meisten Mitgliedern des sozialen Systems möglich ist, nach seinen Bedürfnissen die innere und äußere Welt angemessen miteinander zu verbinden. Auswirkungen auf das somatische Wohlbefinden: Durch seine Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch ist das Subjekt in der Lage, auch den geschädigten somatischen Körper in einem inneren Gleichgewicht zu halten, das mit Wohlbefinden einhergeht. Es ist nicht mehr dasselbe Gleichgewicht wie zuvor und es ist auch ein anderes als das seiner Alterität, aber mit seinem umbrochenen Körper vermag das Subjekt sich wieder verlässlich mit der Umwelt auszutauschen. Bei seinem sensomotorischen Körper merkt das Subjekt beispielsweise, dass es das Sehen nicht braucht, um Geschehnisse richtig einschätzen zu können, und dass ihm eine erfüllende Aufnahme der Umwelt in seinen Körper auch über das Hören möglich ist; auch ohne eigenständiges Bewegen der Beine kann es beglückend auf die Welt einwirken oder mit nur einem Bein die Meldungen des konnektiven Körpers über die Verschiebungen des inneren Gleichgewichts befriedigend beantworten. Bei seinem viszeralen Körper stellt sich das Subjekt sich darauf ein, dass es nun mittels einer Beatmungsmaschine den benötigten Sauerstoff aufnimmt und das schädigende Kohlendioxid abgibt, dass es nun Nahrung über eine Magensonde erhält und

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

der Darm sich in einen Beutel entleert oder dass ihm eine Schwangerschaft verwehrt ist. Wenn das Gehirn geschädigt ist, findet das Subjekt heraus, dass es zwar die gewohnte Fähigkeit zur übergeordneten Steuerung verloren hat, dass es aber dennoch zum Wohlbefinden der inneren Welt auf die äußere und zum Wohlbefinden in der äußeren Welt auf die innere einzuwirken vermag. Selbst wenn sich wie bei einer Multiplen Sklerose der Austausch des Körpers mit der Umwelt täglich ändert und nicht vorherzusehen ist, gewöhnt sich das Subjekt an diese Ungewissheit, die zu einem selbstverständlichen Bestandteil seines Leben wird. Das Subjekt geht damit um, dass der körperliche Umbruch das bisherige Verhältnis von sensomotorischem, viszeralem und konnektivem Körper für längere Zeit oder auf Dauer veränderte, dass beispielsweise nach einer Querschnittslähmung der sensomotorische Körper teilweise nicht mehr auf die äußere Welt einwirken kann, der viszerale mehr Pflege braucht und der konnektive durch die gestörte Durchblutung in den Beinen oder die verminderte Einlagerung von Calcium in die Knochen nachteilig beeinflusst ist. Zwischen diesen drei Bereichen des somatischen Körpers entsteht ein neues Verhältnis, das sich zwar deutlich von dem unterscheidet, das das Subjekt und die Alterität kennen, dass es ihm dabei gut geht, ist aber dennoch möglich. Weil sich das Subjekt anders, aber doch berechenbar zwischen innerer und äußerer Welt austauscht, empfindet es sich mit dem umbrochenen Körper oft selbst dann als gesund, wenn die Schädigung des somatischen Körpers weiterbesteht. Auswirkungen auf die somatische Steuerung: Nach dem körperlichen Umbruch ist die willentliche Steuerung des somatischen Körpers verändert. Entweder vermag das Gehirn es nicht, den sensomotorischen, viszeralen und konnektiven Körper übergeordnet zu steuern, oder diese Bereiche des Körpers sind so umbrochen, dass sie sich durch eine willentliche Steuerung nicht mehr beeinflussen lassen. Fand der körperliche Umbruch im Gehirn statt, kann es für das Subjekt bedeuten, dass es wie beim Locked-in-Syndrom die äußere Welt über seine Sinnesorgane besonders stark wahrnimmt und ihm alltägliche Geräusche schier unerträglich werden oder dass es nicht seine willentlich entworfenen Bewegungen auszuführen und sich dem quälenden Zuviel an Aufnahme der Welt selbst zu entziehen vermag. Bei einem M. Parkinson ist das Subjekt einer niedergedrückten Stimmung ausgesetzt, lässt sich der sensomotorische Körper nur unzuverlässig in Bewegung setzen, bewegen sich die Extremitäten auch im Ruhezustand in einem dauernden, unwillkürlichen, nicht zu beherrschenden Rhythmus und kommt es im viszeralen Körper bei plötzlichem Harndrang zu einem Zuviel an Einwirken auf die äußere Welt oder bei Verstopfung zu einem Zuwenig; all das setzt das Wohlbefinden herab, ohne dass das Subjekt das Geschehen beherrschen kann. Im sensomotorischen Körper führt der körperliche Umbruch dazu, dass dessen Eigenheit, die sich mit einem »Ich kann« beschreiben lässt, beeinträchtigt ist: Das Subjekt ist zu Vielem nicht mehr in der Lage, was den bis dahin üblichen Austausch mit der Umwelt betrifft. Wenn die Augen oder ihre ableitende Nervenbahnen geschädigt sind, kann das Subjekt die äußere Welt nicht mehr sehend in sich aufnehmen und in seinem Inneren stimmig abbilden, und wenn sich ein Arm nicht bewegen lässt, fällt es dem Subjekt schwer, die Welt um sich herum handelnd zu gestalten. Während sein Gehirn

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in der ersten Zeit nach dem körperlichen Umbruch oft nicht verinnerlicht hat, dass sich der Körper verändert hat, und noch ein Abstützen mit dem Unterschenkel verlangte, der nach einer Amputation fehlte, verfügt das Subjekt nun über Lösungen, mit denen es das verlorene »Ich kann« des sensomotorischen Körpers auszugleichen oder zumindest abzumindern gelernt hat. Wenn es den Weg zur Arbeit nicht mehr sieht, nimmt es nun die ihn umgebende Welt durch Hören, Tasten und Riechen oder durch Spüren von Luftbewegungen oder der Beschaffenheit des Bodens so in sich auf, dass es den verlorenen Sehsinn hinreichend ersetzen und sich wieder eigenständig zu orientieren weiß. Wenn es die Wege, die es auf der Arbeit zurückzulegen hat, nur noch mit Anstrengung zu gehen vermag, besorgt es sich Hilfsmittel, mit denen es die verlorene Fähigkeit in der Motorik so hinreichend ersetzt, dass es seine Ziele wieder eigenständig erreicht. Der viszerale Körper dagegen ist nach dem körperlichen Umbruch nicht mehr in der Lage, seine Eigenheit, die sich mit einem »Ich muss« beschreiben lässt, ungestört umzusetzen: Beim Austausch mit der Umwelt bestehen jetzt andere Notwendigkeiten als zuvor. Wenn das Subjekt nicht mehr dazu fähig ist, selbständig zu atmen, muss es dem Rhythmus des Ein- und Ausatmens folgen, der von der Beatmungsmaschine vorgegeben ist, und sich daran gewöhnen, dass es nun auf diese Weise genügend Sauerstoff in seinen Körper aufnimmt. Da es nach dem Umbruch wie zuvor darauf angewiesen ist, genug Flüssigkeit und Nahrung in seinen Körper hineinzubringen und Urin und Kot auszuscheiden, weiß das Subjekt inzwischen, wie es seinen sensomotorischen Körper einzusetzen hat, um das Zuviel oder das Zuwenig, das sein konnektiver Körper ihm vermittelt, über seinen viszeralen Körper auszugleichen. Wenn es den Schließmuskel seines Darms nicht mehr kontrolliert, nimmt es die Lebensmittel nicht in seinen Körper auf, die dessen Peristaltik zu sehr anregen. Wenn sich das Entleeren der Blase nicht mehr durch willentliches Öffnen des Sphinkters steuern lässt, setzt das Subjekt durch deren Beklopfen einen Reiz, der bewirkt, dass der angesammelte Urin aus seinem Körper fließt. Auswirkungen auf das bewusste körperliche Empfinden: Der umbrochene Körper wird vom Subjekt und seiner Alterität auch deshalb als geschädigt angesehen, weil er eine andere Bewusstheit verlangt. Auch wenn der konnektive Körper vor wie nach dem Umbruch vom Subjekt nicht bewusst erfahrbar ist, wirkt sich sein veränderter Zustand nachteilig auf den ganzen Körper aus. Das Allgemeinbefinden des Subjekts ist herabgesetzt: Die Energie gering, der Appetit vermindert, der Schlaf verlängert oder fehlend, das sexuelle Verlangen aufgehoben. Dazu kann der konnektive Körper Schmerzen verursachen, weil sich dessen Form, Gestalt oder Funktion gewandelt hat. Anders verhält es sich beim viszeralen Körper. Während er vor dem Umbruch dem Subjekt nur bewusst wurde, wenn seine Abläufe gestört waren, ist sein jetziger Zustand dadurch bestimmt, dass seine Abläufe für längere Zeit oder dauerhaft gestört sind und Aufmerksamkeit einfordern. Eine Störung des kardiopulmonalen Systems macht sich durch Atemnot bei Belastung und einen unregelmäßigen Herzrhythmus bemerkbar, eine des gastrointestinalen Systems dadurch, dass Flüssigkeit und Nahrung durch Erbrechen aus dem Körper entfernt werden, bevor sie verdaut wurden, oder die Störung des endokrinen Systems zeigt sich darin, dass die Haut durch übermäßige Produktion von dünnflüssigem Talg wie gesalbt erscheint.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Der sensomotorische Körper dagegen ist vor dem Umbruch dem Subjekt immer nur dann aufgefallen, wenn es etwas mit besonderer Achtsamkeit der Sinnesorgane in den Körper aufnehmen oder eine Bewegung mit besonderer Sorgfalt ausführen wollte. Jetzt verlangt er Aufmerksamkeit, weil er die Wechselwirkung mit der Welt nicht oder nur noch eingeschränkt gewährleistet. Was den sensomotorischen Körper nun ausmacht, kannte das Subjekt sonst nur kurzzeitig bei Krankheit, Ermüdung oder Überforderung. Nun führt er Funktionen entweder gar nicht mehr oder nur noch fehlerhaft aus: Das Subjekt kann nicht mehr sehen oder seinen Unterleib spüren oder mit Messer und Gabel richtig essen oder mit dem Fahrrad fahren; oder das Subjekt sieht bei Multipler Sklerose infolge einer Entzündung des Sehnervs doppelt, was in der äußeren Welt nur einfach vorhanden ist, oder infolge einer Demyelinisierung der Markscheiden ist der Tonus in der Muskulatur und das Bewegen durch die Spastizität erschwert. Auch achtet das Subjekt jetzt stärker auf den sensomotorischen Körper, weil es in der Ergotherapie, Logopädie oder Physiotherapie Bewegungsabläufe wieder einüben muss, die es durch den körperlichen Umbruch verlernte, oder andere ganz neu erlernen muss, um seinen umbrochenen Körper angemessen handzuhaben. Auch verarbeitet das Subjekt mit Bewusstheit die Sinneseindrücke, die an die Stelle der verlorenen getreten sind, damit es sich etwa darin sicher wird, das, was sich vor seinem Fenster befindet, auch durch das Geräusch des fallenden Regens zu erfassen; oder es muss offen für die Sinneseindrücke werden, die ihm helfen, die verlorenen zu ersetzen, sodass es auch dann zutreffend einschätzt, wann es Zeit wird, den Darm zu entleeren, wenn es die Meldung über dessen Füllung nicht mehr durch die Meldung der Rezeptoren in der Darmwand erfährt. Auswirkungen auf die Passung mit der Umwelt: Was das Subjekt sich im Verlauf seines Lebens an Passung mit der Umwelt erwarb, ist nach dem körperlichen Umbruch zumindest teilweise verloren. Nach der Amputation eines Unterschenkels ist das geliebte Skifahren zuerst einmal unmöglich; um eine weitere Gefährdung des umbrochenen Körpers zu vermeiden, ist das Rauchen der Pfeife einzustellen; wegen einer zunehmenden Ateminsuffizienz oder einer Schwäche in den Beinen muss die Wohnung gewechselt werden. Deswegen trachtet das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit danach, wieder eine befriedigende körperliche Passung mit seiner Umwelt zu erreichen. Bei seinen Bemühungen geht es ihm um dreierlei, nämlich erstens Erhaltenes zu bewahren und zu stärken, zweitens einen weiteren Verlust zu vermeiden und drittens Verlorenes zurückzugewinnen oder zu ersetzen. Dafür nutzt es anerkannte kulturelle Ressourcen wie eine Änderung des Lebensstils, den Einsatz von technischen Hilfsmitteln oder Medikationen und Operationen als ärztlich verantwortete Eingriffe in die veränderte Körperlichkeit. Je nach dem, ob das Gehirn, der sensomotorische, der viszerale oder der konnektive Körper betroffen ist, versucht das Subjekt, die Passung auf unterschiedliche Weise zu verbessern. Da der sensomotorische Körper dem »Ich kann« folgt und willentlich beeinflusst werden kann, steht bei ihm das Üben an erster Stelle, das von den Spezialisten des Gesundheitswesens angeleitet, von anderen Personen mit besonderen Kenntnissen unterstützt oder aus eigener Beobachtung des umbrochenen Körpers veranlasst ist: Ein Ergotherapeut lehrt, wie es möglich ist, sich mit einer Hand anzuziehen, ein Schwimmtrainer zeigt, wie mit einem Bein gerade geschwommen werden kann, oder nach einem Verlust des Sehvermögens erkundet das Subjekt, wie es sich durch Echo-Orientierung

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im Raum zurecht findet. Außer dem Üben tragen Hilfsmittel dazu bei, wieder eine befriedigende Passung des sensomotorischen Körpers mit der Umwelt zu erreichen. Sie können eine beeinträchtigte Funktion erhalten: Wenn etwa das körperliche Gleichgewicht durch eine eingeschränkte Tiefensensibilität nicht gehalten werden kann, ist mit einem Rollator das Gehen weiter möglich; oder es kann bei einem fehlenden Bein mit einer gut sitzenden Prothese wieder Ski gefahren werden. Andere Bemühungen des Subjekts zielen darauf ab, eine verlorene Funktion zu ersetzen: Wenn das Laufen nicht möglich ist, geschieht die Fortbewegung im Raum mit einem Rollstuhl; oder wenn der Raum nicht gesehen werden kann, wird er mit einem Stock tastend erfasst und der Körper sicher durch ihn hindurch bewegt. Dagegen folgt der viszerale Körper dem »Ich muss« und ist willentlich kaum zu beeinflussen, daher spielt bei ihm das Üben keine Rolle. Damit er seiner Aufgabe, den Austausch mit der Umwelt zu vollziehen, wieder nachkommen kann, werden ebenfalls Hilfsmittel angewandt. Ein Schrittmacher hält das Herz am Schlagen und ein Beutel fängt den Darminhalt auf. Doch am besten wirkt hier die Einnahme von Medikamenten. Ziel dieser Maßnahme ist es, die Werte zu normalisieren, mit denen gemessen wird, ob sich der viszerale Körper gut mit seiner Umwelt austauscht: Ein Zuviel wird vermindert und ein Zuwenig erhöht, um die absolute Zeitgrenze, an der das Leben endet, nach hinten zu verschieben. Der Rhythmus, der dem viszeralen Körper eigen ist, wird möglichst erhalten oder wieder hergestellt, indem bisweilen sehr genau festgelegt ist, wann die Medikamente in den Körper aufzunehmen sind. Da der konnektive Körper wiederum dem »Es geschieht mir« unterworfen ist, werden bei einem Umbruch, der ihn betrifft, ebenfalls oft Medikamente eingesetzt. Sie können die Schmerzen lindern, den Appetit anregen oder den Schlaf fördern. Bei einer Schädigung des konnektiven Körpers sind auch allgemein diätetische Maßnahmen empfohlen, mit denen beispielsweise die Abwehr gestärkt und eine Kräftigung des ganzen Körpers erreicht werden soll. Mit einer gezielten Entfernung des schädigenden Organs durch eine Operation oder durch seine Bestrahlung wird außerdem versucht, die Ursache des Umbruchs im konnektiven Körper anzugehen, und mit Maßnahmen wie einer Lymphdrainage, dessen Folgen abzumildern. Wenn der Umbruch das Gehirn betraf, zielen Maßnahmen wie Medikation und Operation auch hier zum einen darauf ab, die Ursachen der Schädigung zu beheben: Die das Gehirn versorgende Arterie wird geweitet, damit sich ihre Durchgängigkeit erhöht, und mit Medikamenten wird der Blutfluss verbessert. Zum anderen wird mit fachlich angeleitetem Üben gegen die Folgen des Umbruchs angegangen und versucht, durch neu erworbene Fähigkeiten eine befriedigende Passung herzustellen: Nach einem Schlaganfall wird durch Physiotherapie das Treppensteigen in der heimischen Umgebung wieder erlernt; oder bei einem Locked-in-Syndrom werden in der Logopädie andere Möglichkeiten der Kommunikation erworben. Auswirkungen auf das Raum- und Zeiterleben: Aus dem körperlichen Umbruchs, der vornehmlich den somatischen Körper trifft, ergibt sich, dass das Subjekt nun Raum und Zeit anders erlebt und anders als zuvor mit ihnen umgehen muss. Das kann beinhalten, dass der Raum, der dem Subjekt durch den Körper vermittelt wird, kleiner geworden ist und die Entfernungen in ihm größer geworden sind. So ist infolge eines M. Parkinson nur noch ein kleinschrittiger Gang möglich; infolge einer Multiplen Sklerose

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

werden Muskeln spastisch; infolge einer Leukämie und deren Behandlung verschlechtert sich das allgemeine Befinden so sehr, dass die Kraft zum Bewegen fehlt; infolge der Amputation eines Unterschenkels fehlt das zweite Bein zum Gehen; oder infolge einer Querschnittslähmung ist ohne einen Rollstuhl allenfalls noch ein Rutschen auf dem Boden möglich. Das Raumerleben kann des Weiteren dahingehend verändert sein, dass dem Subjekt der Raum an sich abhanden gekommen ist. Denn infolge einer Erblindung wird der Raum nicht mehr gesehen und jenseits der ausgestreckten Arme nicht mehr erfasst oder infolge eines Locked-in-Syndroms wird der Raum zwar noch gesehen, aber ist durch eigene Bewegung nicht mehr erschließbar. Das veränderte Raumerleben kann schließlich dem Subjekt an Stelle des unzugänglichen Raums der äußeren Welt die unbegrenzte Welt der Fantasie eröffnen. Was die Zeit angeht, führt der Umbruch des somatischen Körpers dazu, dass das Subjekt sie nun als absolut begrenzt erlebt. Durch einen Unfall, durch einen Herz- oder Hirninfarkt, durch eine Erkrankung an Leukämie oder durch eine Ateminsuffizienz ist es dem Tod nahe gewesen. Weiterhin kann das Subjekt die Zeit, die ihm sein Körper nun zur Verfügung stellt, als relativ begrenzt erleben. Es hat weniger Zeit zur Verfügung, weil es mehr Zeit braucht, um sich nach einer Anstrengung zu erholen, und mehr schlafen muss; oder es braucht infolge eines M. Parkinson, einer Multiplen Sklerose, einer Querschnittslähmung oder einer Erblindung für dieselben Abläufe mehr Zeit als zuvor. Das veränderte Zeiterleben kann schließlich auch einen anderen Fluss der Zeit bedingen. Infolge einer Ateminsuffizienz wird ihr Rhythmus durch eine Maschine von außen vorgegeben; infolge einer Multiplen Sklerose verlangt der sensomotorische Körper Pausen, die vom Selbst des Subjekts nicht gewünscht sind; oder die Zeit dehnt sich, weil sie wegen geringer Energie oder Lähmung aller Glieder nicht mit Handlung gefüllt werden kann. Es ist aber auch möglich, dass infolge des körperlichen Umbruchs stets Zeit vorhanden ist, weil das Subjekt wegen des begrenzten Raumes weniger wahrnimmt, was getan werden muss; oder dass sie kostbar wird, nachdem das Subjekt ihre Endlichkeit erfahren hat. Auswirkungen auf das Affekterleben: Nach einem körperlichen Umbruch erlebt das Subjekt zwar dieselben Affekte wie zuvor, etwa Furcht, Glück, Zorn, Ekel, Trauer und Überraschung als elementare Emotionen oder weitere nichtelementare affektive Empfindungen. Aber die Auslöser dieser Affekte sind nicht dieselben, sodass der umbrochene Körper vom Subjekt und seiner Alterität deswegen als geschädigt angesehen wird. Die Wechselwirkung des umbrochenen somatischen Körpers mit einer Umwelt, die sich nicht verändert hat, weckt Gefühle und lässt das Subjekt unmittelbar in der Gegenwart ein Innen und ein Außen, ein Vorher und ein Nachher, ein Eigenes und ein Fremdes empfinden, das es vor dem Umbruch so nicht erlebte. Diese Empfindungen machen dem Subjekt den umbrochenen Körper noch einmal mehr bewusst. Es hat Angst vor einem Versagen der Hilfsmittel, dass nämlich die Beatmungsmaschine aus- oder die Prothese auf dem Skilift abfällt; auch wird ein Fortschreiten des körperlichen Umbruchs in seinem Körper und dessen mögliche Fortschreibung in dem seiner Kinder von ihm befürchtet. Mit Freude nimmt das Subjekt auf, wenn es ohne Schmerz den Fischen im Aquarium beim Spielen zuschauen kann, wenn die Medikamente wirken und die Erstarrung im Körper nachlässt oder wenn es durch Regen die Landschaft vor dem Fenster hörend erfasst. Das Subjekt ärgert sich, dass es nach dem Herzinfarkt nicht mehr tau-

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chen darf oder wenn es stundenlang im eigenen Urin liegen muss, weil der Katheter abgegangen ist; es wird über sich selbst ungehalten, wenn einmal mehr seine Finger die Tasten der Schreibmaschine nicht richtig treffen. Mit Ekel leert es nach der Operation den Stomabeutel mit dem eigenen Kot. Traurig bedauert es, sich aus Scham nicht früher dazu entschlossen zu haben, einen Rollstuhl zu benutzen oder wegen der medikamentösen Behandlung der Multiplen Sklerose keine Kinder auf die Welt gebracht zu haben; auch vermisst es am amputierten Fuß den komisch verwachsenen Zeh. Mit Entsetzen erkennt das Subjekt plötzlich sein aufgedunsenes Gesicht mit dem zugenähten Auge im Spiegel; es ist überrascht, mit dem umbrochenen Körper mehr zu vermögen, als es selbst gedacht hat, wenn es sich nur erst einmal traut.

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Der soziale Körper: behindert2

Formen des behinderten sozialen Körpers: In westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende gilt der somatische Körper als behindert, wenn er so geschädigt ist, dass er in seinen Funktionen mehr als sechs Monate lang eine allgemein negativ bewertete körpergebundene Abweichung aufweist (vgl. Kastl 2010: 108). In Deutschland sind acht bis neun Prozent der Bevölkerung schwerbehindert; dazu ist ein nicht genau bezeichneter Prozentsatz behindert oder Behinderten gleichgestellt.3 Um als schwerbehindert zu gelten, muss dem Subjekt von der zuständigen Behörde ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 beigemessen und ihm ein dementsprechender Ausweis ausgestellt werden. Der GdB ergibt sich daraus, wie sehr dabei der somatische Körper geschädigt ist und das Subjekt dadurch beeinträchtigt ist, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Der Grad der Schädigung (GdS) wird in Zehnerschritten gemessen: Er beträgt 20–40, wenn wie nach einem Herzinfarkt die Herzleistung bei einer mittelschweren Alltagsbelastung eingeschränkt ist. Der GdS beträgt 50, wenn die Bewegungsabläufe bei einem Parkinson-Syndrom deutlich gestört sind und eine stärkere Verlangsamung eingetreten ist; und ebenfalls 50, wenn der Verlust eines Beines im Unterschenkel mit einer genügenden Funktionsfähigkeit des Stumpfes und der Gelenke einhergeht. Der GdS beträgt dagegen 50–60, wenn bei einem Hirnschaden wie nach einem Schlaganfall eine mittlere Leistungsbeeinträchtigung besteht, und 70–100, wenn sie schwerer ist. Der GdS beträgt schließlich 100 bei Halsmark-, Brustmark- oder Lendenmarkschädigung mit vollständiger Lähmung der Beine und Störungen der Blasen- oder Mastdarmfunktion; und ebenfalls 100 bei Blindheit beider Augen oder bei einer akuten Leukämie im ersten Jahr der Diagnosestellung. Bei Krankheiten wie Multipler Sklerose oder M. Parkinson ergibt sich der GdS aus den einzelnen zerebralen oder spinalen Ausfallserscheinungen. Falls nur eine Schädigung besteht, wird der GdS dem GdB gleichgesetzt; wenn der

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Eine kürzere und frühere Fassung dieses Kapitels ist veröffentlicht in Walser-Wohlfarter/Richarz 2020: 152-154. Von 1993 bis 2013 gab es laut Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes einen Anstieg von 7,85 auf 9,35 Prozent der Bevölkerung. https://www.gbe-bund.de/gbe/ [abgerufen am 29.10.2018]

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Körper mehrfach geschädigt ist, also beispielsweise Herz- und Hirninfarkt zusammenkommen, werden nicht die Grade der Schädigungen zusammengezählt, sondern ergibt sich der GdB aus dem gesamten Ausmaß der bei dem Subjekt vorhandenen Beeinträchtigungen. Die einzelnen Schädigungen, die in unterschiedlichem Grad als Behinderung eingestuft sind, lassen sich verschiedenen körperlichen Strukturen zuordnen, wobei in der Statistik bei einer Mehrfachbehinderung nur die schwerste Behinderung berücksichtigt ist:4 Bei den meisten, die als schwerbehindert gelten, liegt eine körperliche Schädigung vor, nämlich bei etwa 62 Prozent; dabei ist bei etwa 30 Prozent aller Schwerbehinderten die Behinderung durch eine Schädigung der inneren Organe oder Organsystemen bedingt, bei etwa 14 Prozent durch eine Schädigung von Armen oder Beinen und bei etwa 12 Prozent von Wirbelsäule und Rumpf. Ungefähr 11 Prozent der Schwerbehinderten weisen Beeinträchtigungen geistiger oder seelischer Art auf, darunter bei etwa 9 Prozent durch eine hirnorganische Schädigung. Bei etwa 5 Prozent beruht die Schwerbehinderung auf Blindheit oder einee Schädigung der Augen. Bei knapp 18 Prozent aller Schwerbehinderten ist die Art der Behinderung nicht bekannt und bei 4 Prozent ergibt sie sich aus Schädigungen von weiteren körperlichen Strukturen. Unabhängig von den Ursachen für die einzelnen Schädigungen gehen das Subjekt und seine Alterität davon aus, dass sie nicht mehr geheilt werden können und deswegen die beeinträchtigte Körperlichkeit gestärkt, gefördert und gepflegt werden muss. An Ursachen lässt sich unterscheiden:5 Etwa 85 Prozent der Schwerbehinderungen gehen auf eine Krankheit zurück, die in einen Defekt ausgeheilt ist. Knapp 2 Prozent sind durch Unfälle oder Berufskrankheiten bedingt. Nur etwa 4 Prozent der Behinderungen enttanden vorgeburtlich, während der Geburt oder im ersten Lebensjahr. Bei ungefähr 9 Prozent lässt sich keine Ursache ausmachen. Damit ist in Deutschland den meisten Behinderten, von denen knapp die Hälfte älter als 65 Jahre und ein Viertel zwischen 55 und 65 Jahren alt ist, gemeinsam, dass sie als Erwachsene einen körperlichen Umbruch erlebten. Auswirkungen auf das soziale Wohlbefinden: Personen als Behinderte zu bezeichnen, deren somatischer Körper nach einem körperlichen Umbruch als geschädigt gilt, setzte sich im deutschen Sprachgebrauch erst seit den 1970er Jahren durch. Davor gab es Versehrte, Krüppel, Lahme, Verrückte, Irre, Idioten, Taubstumme oder Blinde, allenfalls seit 1900 noch Körperbehinderte, aber keine zusammenfassende Bezeichnung für all diejenigen, deren somatischer Körper mehr als sechs Monate lang eine gesellschaftlich negativ bewertete Abweichung aufwies. Von Anfang der 1970er bis Mitte der 1990er Jahre ist der Begriff »der Behinderte« in der Bedeutung von »jemand, der infolge einer körperlichen, geistigen oder seelischen Schädigung beeinträchtigt ist« in den verschiedensten Textkorpora immer häufiger aufzufinden, bis in den Jahren da-

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Angaben laut Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes bezogen auf 2013; gerundet. https://www.gbe-bund.de/gbe/ [abgerufen am 29.10.2018] Angaben laut Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes bezogen auf 2013; gerundet. https://www.gbe-bund.de/gbe/ [abgerufen am 29.10.2018]

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nach sein Nachweis seltener wird.6 Danach wurde es wichtig, mit der Bezeichnung der betreffenden Personengruppe darauf zu verweisen, dass auch sie Menschen sind. Daher wird entweder von »behinderten Menschen« gesprochen, um zu verdeutlichen, dass das Behindertsein selbstverständlich zur Identität dazugehört und sie geprägt hat, oder von »Menschen mit Behinderungen«, um zu verdeutlichen, dass trotz der Behinderung das Menschsein an erster Stelle steht. Da sich dementsprechend erstmals in einem deutschen Wörterbuch aus dem Jahre 1980 die Definition von Behinderung als eines körperlichen, seelischen oder geistigen Schadens findet (vgl. Richarz 2003: 43), ist anzunehmen, dass sich in den verwendeten Bezeichnungen widerspiegelt, wie in einem sozialen Makrosystem zu einer bestimmten Zeit die körperlichen Veränderungen infolge von Unfall, Verletzung oder Erkrankung wahrgenommen wurden und wie diese Wahrnehmung sich in der Zeit wandelte. Was dabei in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende bedeutsam erscheint, ist aus den Erzählungen abzuleiten, die über Behinderte verbreitet sind (vgl. Mitchel/Snyder 2000: 15–45). In jener Zeit werden viele Geschichten erzählt, in denen der körperliche Umbruch als eine Bestrafung dargestellt ist und die Betroffenen oft Mitleid erwecken, Furcht auslösen, verbittert und rachsüchtig erscheinen und von der Alterität mit Argwohn betrachtet werden. Gerade körperlich Behinderten werden gerne Mängel in ihrem Charakter zugeschrieben; Anerkennung wird denjenigen gezollt, die es schaffen, ihr schweres Schicksal zu überwinden. In diesen Geschichten finden sich die Behinderten selbst nicht wieder. Denn erzählt wird allein die Schädigung der Körperlichkeit in ihrer somatischen Dimension, welche die Behinderung bedingt, ohne zu berücksichtigen, wie die Einstellungen der nichtbehinderten Alterität und die von ihr geschaffene Wirklichkeit mit ihren Barrieren die körperliche Veränderung zu einer Behinderung macht und die Betroffenen von der Teilhabe am sozialen Leben ausschließt. Nicht erzählt wird, welche Kraft es braucht, sich in einem sozialen System zu behaupten, das Behinderte als Last ansieht und unterdrückt, und auch nicht, was es bedeutet, mit dem umbrochenen Körper ständig auf äußere Ressourcen im Allgemeinen und auf technische Hilfsmittel im Besonderen angewiesen zu sein. Es sind Erzählungen, die im nichtbehinderten Zuhörer Widersprüchliches auslösen, weil sie eine Wahrheit enthalten, die ihm ansonsten nicht zugänglich ist und von ihm zugleich ersehnt und gefürchtet wird. Sie faszinieren ihn, weil sie ihm einen sonst verwehrten Blick in menschliche Abgründe und Abweichungen des Seins erlauben, die gerade eben nicht die eigenen sind, lassen ihn verunsichert fragen, ob seine körperliche Unversehrtheit wirklich beständig ist, und bestätigen ihm zugleich die eigene Normalität. Durch den körperlichen Umbruch wird das Subjekt zu einem Anderen, der einem sozialen System, dessen Mitglieder eine entsprechende körperliche Erfahrung mehrheitlich nicht machen, nicht mehr selbstverständlich angehört. Auswirkungen auf die soziale Steuerung: In westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende leben Behinderte in einem sozialen Makrosystem, in dem über die Leitmedien 6

»behindert«, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.d wds.de/wb/behindert [abgerufen am 01.11.2018]

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

ständig vermittelt wird, welcher Körper als schön gilt: Um dem gesellschaftlichen Ideal zu entsprechen, soll er vital, jung, makellos, schlank, gesund, beweglich, leistungsfähig, jederzeit einsatzbereit, belastbar, zivilisiert und diszipliniert sein (vgl. Karmasin 2011: 114). Da diejenigen, die einen körperlichen Umbruch erlebten, das Scheitern an diesem Ideal verkörpern, finden sie sich rasch am Rande der Gesellschaft oder jenseits von deren Grenzen wieder. Die Rolle, die das Subjekt wegen des umbrochenen Körpers von der Alterität zugeschrieben bekommt oder die es auf Grund der verinnerlichten Vorgaben aus der kollektiven Identität von sich aus übernimmt, ist komplex (vgl. Goffman 1967: 135–155): Im Alltag soll das als behindert geltende Subjekt so normal wie möglich erscheinen, darf sich seines abweichenden Körpers nicht schämen, die Alterität nicht über die Bedingungen seines Körpers täuschen und sich auch deren offen oder verdeckt mitgeteilte Abwertung nicht zu eigen machen. Auch wird erwartet, dass der sogenannte Behinderte die Nichtbehinderten anleitet, mit ihm und seiner Körperlichkeit richtig umzugehen, ihnen vermittelt, dass auch seinesgleichen zu den menschlichen Wesen gehört, und ihnen dankbar sein, wenn sie ihm helfen wollen, selbst wenn das, was sie machen, für ihn keine wirkliche Hilfe ist. Zur Rolle des Behinderten gehört außerdem, dass er die ihm gewährte Integration nicht zurückweisen darf. Äußerungen, dass es eine Last sein kann, mit einem Körper zu leben, der nicht dem üblichen entspricht, sind unerwünscht, ebenso wie die Infragestellung der oberflächlichen Scheinakzeptanz auf Grundlage einer Scheinnormalität. Schließlich soll das als behindert geltende Subjekt der Alterität, die sich als nicht behindert definiert, die Peinlichkeit ersparen, im Umgang mit ihm zu spüren, was es bedeutet, von ihr wegen seines Körpers ausgegrenzt zu werden. Im Gegensatz zu der Geringschätzung des Subjekts infolge einer Behinderung, die sich im sozialen Mesosystem zeigt, folgen die westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende im rechtlichen Umgang mit behinderten Menschen dem Grundsatz, dass niemand wegen seiner Körperlichkeit benachteiligt sein darf. Die öffentliche Verwaltung ist verpflichtet, die Gleichstellung Behinderter aktiv zu betreiben, und unabhängig von der Ursache der Schädigung ist ihnen volle Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen; auch steht ihnen gleich allen anderen Mitgliedern des sozialen Makrosystems ein Platz im Arbeitsleben zu, der ihren Neigungen und Fähigkeiten entspricht. Bauliche und sonstige Anlagen, Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche haben Behinderten in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar zu sein (vgl. Cloerkes 2007: 41–48). Alle Behinderten haben das Recht auf Hilfe, um ihre Behinderung abzuwenden, zu beseitigen oder zu lindern, Verschlechterungen zu verhüten und etwaige Folgen zu verringern. Eine Einschränkung der Erwerbstätigkeit oder eine Pflegebedürftigkeit ist ebenso zu vermeiden oder zu überwinden, wie der Bezug von Sozialleistungen zu umgehen oder zu vermindern ist (ebd.: 51). Da Rehabilitation vor Pflege und Rente gesetzt ist, werden dem als behindert geltenden Subjekt ökonomische Ressourcen zur Verfügung gestellt, über die es selbst nicht verfügt. So wird die Kostenübernahme für einen Rollstuhl ausgesprochen, wenn das Gehen zu beschwerlich wird und die Arbeitsfähigkeit im geliebten Beruf gefährdet ist; eine regelmäßige Physiotherapie finanziert, wenn

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durch das Üben alltäglicher Abläufe die Eigenständigkeit gewahrt werden kann; der Aufenthalt in einer betreuten Wohngemeinschaft bezahlt, wenn dadurch die Selbstbestimmung größer ist als im Pflegeheim. Auswirkungen auf das bewusste körperliche Empfinden: Der soziale Körper des Subjekts, das einen körperlichen Umbruch überlebte, wird als behindert angesehen, wenn es die Körper- und Affektkontrolle nicht mehr so auszuüben vermag, wie es im Makrosystem verlangt ist. Der umbrochene Körper hindert das Subjekt, sozial erwünschte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu beherrschen, sozial anerkannte Normen einzuhalten und sozial gültige Werte in die Tat umzusetzen. In anderen Kulturen, die das Konstrukt Behinderung nicht kennen, wird eine entsprechende körperliche Verfassung stattdessen vielfach mit Begriffen belegt, die auf Unreinheit, auf Gefahr und Übel oder auf Göttliches verweisen (vgl. Richarz 2003: 45). Das Subjekt gilt für sich und die Alterität als behindert, weil ihm bei einem Locked-in-Syndrom der Speichel aus dem Mund rinnt, weil es infolge der Halbseitenlähmung nach dem Hirninfarkt nicht mit Messer und Gabel essen kann, weil es wegen einer Querschnittlähmung den Darm manuell entleeren muss oder weil es in seiner Blindheit ein unbekanntes Gesicht ertastet statt betrachtet. Als Folge der veränderten Körperlichkeit braucht das Subjekt Nähe, wo die Alterität Distanz hält, ist Abläufen des somatischen Körpers ausgeliefert, die von Erwachsenen üblicherweise kontrolliert werden oder nimmt die äußere Welt mit dem sensomotorischen Körper in einer Weise in den viszeralen auf, die den sozial anerkannten Traditionen und Konventionen nicht entspricht, und wirkt ähnlich abweichend auf die äußere Welt wieder ein. Allein durch die Gegenwart seines sichtbar umbrochenen Körpers überschreitet das Subjekt die Schwelle, die das Schickliche vom Peinlichen trennt, und beschämt die Alterität in ihrer Gewissheit des unversehrten Körpers. Mit seinem umbrochenen Körper gilt das Subjekt des Weiteren sich und der Alterität als behindert, weil sein Verhalten nicht den gesellschaftlichen Standard erfüllt. Wenn der Körper zu seinem Lebenserhalt auf eine Beatmungsmaschine angewiesen ist, kann das Subjekt nicht anders, als mit stetigem Zischen die Stille im Raum zu brechen; wenn die Augen nicht sehen, vermag das Subjekt nicht die ausgestreckte Hand des Bekannten zum Abschied zu ergreifen; und wenn die Tiefensensibilität gestört ist, muss das Subjekt sich zu seiner Sicherheit beim Gehen auf einen Rollator stützen. Nach seinem Verständnis und dem der Alterität ist das Subjekt behindert, weil es mit dem umbrochenen Körper und der veränderten Körper- und Affektkontrolle unheimlich geworden ist. Mit seinem Körper kann es sein Leben nicht mehr in dem Maße heimlich führen, wie es als normal angesehen wird. Wo das Subjekt körperlich in Erscheinung tritt, fällt es der Alterität auf, erregt es Aufmerksamkeit, wird es beobachtet und bewertet. Weil der Körper so ist, wie er durch den Umbruch geworden ist, verletzt das Subjekt unvermeidlich die Grenze, die in dem sozialen Makrosystem die Lebensbereiche, die öffentlich sichtbar werden dürfen, von denen scheidet, die verborgen zu bleiben haben. Indem das Subjekt sich selbst als behindert einschätzt, bewahrt es das soziale System, dem es mit seinem umbrochenen Körper angehört, vor weiterer Unordnung. Die Auffassung von Behinderung als eines besonderen und negativ bewerteten körperlichen Zustands führt dazu, dass das Subjekt, das nach einem körperlichen Umbruch in seiner Körper- und Affektkontrolle von der Norm abweicht, sich anders er-

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

lebt, als wenn es die Bezeichnung des Behinderten nicht tragen würde (Richarz 2003: 43). Erst weil es so benannt wird, erhält es eine Bewusstheit dafür, Angehöriger einer besonderen Gruppe, nämlich der Behinderten, zu sein. Auswirkungen auf die Zugänglichkeit sozialer Systeme: Die Mitglieder des Makrosystems nach dem körperlichen, seelischen oder geistigen Zustand in Behinderte und Nichtbehinderte zu unterscheiden, lässt verschiedene Sub- und Exosysteme entstehen, die informell bis institutionell verfasst sind. Die Selbsthilfegruppe für MS-Kranke gehört ebenso dazu wie der Behindertensportverein für Amputierte, die Reha-Einrichtung für Schlaganfallpatienten oder die betreute Wohngemeinschaft für künstlich Beatmete. Diese Sub- und Exosysteme erlauben es den sogenannten Behinderten, unter Bedingungen zu leben, wo sie nicht ständig danach bewertet werden, inwieweit sie in ihrer Körperlichkeit von der sozial erwünschten Körper- und Affektkontrolle abweichen, oder wo sie in geschützter Umgebung Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben können, um sich mit ihrem umbrochenen Körper wieder dem gesellschaftlich verlangten Standard anzunähern. Diese Sub- und Exosysteme erlauben es zugleich der nichtbehinderten Alterität, ihren Alltag zu führen, ohne sich wiederkehrend mit chronischer Krankheit und Behinderung, Schmerz, Angst und Scham, Verlust, Schwäche, Abhängigkeit und Ohnmacht befassen zu müssen. Außer den besonderen Sub- und Exosystemen für Menschen mit Behinderungen bestehen innerhalb des sozialen Makrosystems materielle und immaterielle Barrieren, die das Subjekt wegen seines von der Norm abweichenden Körpers von der Teilhabe am allgemeinen Leben ausschließen. Meist sind diese Barrieren der Zugänglichkeit nicht mit Absicht errichtet. Dann fehlt der Behindertenparkplatz, sodass der Rollstuhlfahrer nicht im Kaufhaus einkaufen kann, der Fahrstuhl am Bahnsteig, sodass der Gehbehinderte sich ängstigt, ob er den Umstieg von einem Zug zum nächsten in der vorgesehenen Zeit schaffen wird; oder das Leitsystem, sodass der Blinde auf Hilfe Dritter abgewiesen bleibt, um sich zurechtzufinden. Schließlich finden sich individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen von Nichtbehinderten, die Menschen mit Behinderungen aus einem sozialen System ausgrenzen (vgl. Rommelspacher 1999: 205).7 So wird nach einem körperlichen Umbruch das Subjekt von seinen Kollegen gezielt in seinen Schwächen bloßgestellt oder öffentlich als Gemüse bezeichnet, ihm gegenüber von Bekannten wohlwollend hervorgehoben, dass der Rollstuhl gar nicht auffällt, mit wiederholtem Bedauern über sein fehlendes Sehvermögen beschrieben, was sich im Raum befindet und er nicht sieht, oder ihm von seinen Angehörigen jegliches Gespräch über seinen umbrochenen Körper verweigert. Indem die als behindert Bezeichneten sich zu diesen Ausgrenzungen verhalten, gestalten sie die Wirklichkeit der verschiedenen sozialen Systeme mit, denen sie angehören. Mit ihrer Anpassung oder Gegenwehr tragen sie dazu bei, wie die behinderte und nichtbehinderte Alterität den körperlichen Umbruch erlebt und bewertet. Auswirkungen auf die zwischenmenschliche Beziehung: Wenn das Subjekt über einen Körper verfügt, der als behindert auffällt, vermeidet die Alterität es vielfach, ihm von gleich zu gleich zu begegnen und sich mit ihm zu identifizieren. Sobald das Subjekt mit 7

Dort sind verschiedene individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen beschrieben und kategorisiert.

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seinem umbrochenen Körper in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt, wenden sich die Blicke aller Anwesenden betreten von ihm ab oder mit nahezu unverhohlener Schaulust zu. Selbst diejenigen, die nach einem körperlichen Umbruch ebenfalls mit einem von der Norm abweichenden Körper leben, verhalten sich oft nicht anders. Dann wird der Besuch bei dem Subjekt, das einen körperlichen Umbruch schwerbehindert überlebte, vor der Tür des Krankenzimmers abgebrochen oder das offensichtlich behinderte Subjekt wird von Fremden, denen es nie zuvor begegnete, mit Neugier, aber ohne Anteilnahme gefragt, was ihm geschah. Da sich im sozialen Mesosystem eine Begegnung mit Behinderten nicht grundsätzlich umgehen lässt, wird der behinderte Körper vielfach zur Projektionsfläche. Mit ihm werden oft sowohl von den Behinderten als auch von der Alterität alle Schwierigkeiten des Lebens, Ablehnung, Zweifel und Unverständnis, Unsicherheit, Mühe, Angst und Einsamkeit begründet. Diese Schwierigkeiten werden nur dann als behebbar angesehen, wenn die Spezialisten des Gesundheitswesens doch noch eine Möglichkeit zur Heilung des geschädigten Körpers finden sollten oder wenn die behindernde Alterität ihr Fehlverhalten endlich einsieht, ihre Einstellung ändert und die Barrieren der Zugänglichkeit abbaut. Eine Begegnung zwischen dem Subjekt und seiner Alterität ist auch dadurch erschwert, dass der behinderte Körper vielfach nur noch Objekt ist: Als Objekt des Schmerzes und der Kränkung wird der umbrochene Körper den Spezialisten des Gesundheitswesens und den Fachleuten in den Institutionen des Sozialwesens überantwortet, damit sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen ihn in seiner somatischen und sozialen Dimension verbessern. Oder denen, die keinen entsprechenden Körper aufweisen, wird vorgehalten, dass sie durch die verwehrte Begegnung, ihre ausgrenzende Haltung, die spannungsvolle Beziehung oder die Formen der Unterdrückung erst den Schmerz und die Kränkung hervorrufen, die mit einem abweichenden Körper einhergehen können. Auch wird der behinderte Körper wegen seiner vermeintlichen Stärke zuweilen zum Objekt der Bewunderung überhöht. Weil das Subjekt sein Leben mit künstlicher Beatmung meistert, wird es zum Vorbild für Depressive erklärt; oder weil es sich nach einer Unterschenkelamputation für andere Behinderte und kriegsversehrte Soldaten einsetzt, wird in seinem Namen ein Preis für junge Menschen gestiftet, die einen Schicksalsschlag überwunden haben. Sogenannte Devotees, Pretenders und Wannabes betrachten den behinderten Körper als Objekt der Begierde und der Lust und als sexuell attraktiv (vgl. Bruno 1997: 243). Am häufigsten fühlen sich Devotees von Arm- und Beinstümpfen, von schlaff oder spastisch gelähmten Gliedmaßen und deren Bewegungen, von Krücken, Prothesen, Orthesen oder anderen orthopädischen Hilfsmitteln erregt und begehren, sie zu betrachten oder zu berühren. Pretender wiederum empfinden es als lustvoll, wenn sie das Erleben einer Behinderung am eigenen Körper nachahmen. Sie verändern gezielt ihr Aussehen, um anderen vorzugeben, sie seien behindert, indem sie einen Arm verbergen, sich Beinschienen anlegen oder ein Bein abbinden und an Krücken gehen. Wannabes schließlich haben ein starkes Verlangen, tatsächlich behindert zu sein, um sich ganz und sexuell begehrenswert zu fühlen, und fügen sich bisweilen selbst einen entsprechenden Schaden zu. Sobald der umbrochene Körper zu einem Objekt geworden ist, kann das Subjekt in seiner Beziehung zur Alterität nicht mehr selbstvergessen Körper sein oder in einem

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

sozialen System aufgehen. Wegen all der Vorstellungen, die sich an einem umbrochenen Körper festmachen, wird er ferner bisweilen von einem Objekt zu einem Abjekt (vgl. Kristeva 1982: 65), das unmittelbar ausgestoßen werden muss, damit es die bestehende Ordnung in einem sozialen System oder im erlebenden Subjekt nicht zerstört. Zwar ist es in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende verpönt, Behinderte zu töten, wenn sie einmal am Leben sind, wie es von 1940 bis 1945 im Deutschen Reich geschah (vgl. Richarz 1987: 142–198), doch es wird nicht bezweifelt, dass es den Spezialisten des Gesundheitswesens gestattet ist, behinderte Menschen daran zu hindern, ins Leben zu treten, falls ihre Geburt den Eltern nicht zuzumuten ist. Auswirkungen auf das Erkennen: Da die Unterscheidung in behinderte und nichtbehinderte Mitglieder des Makrosystems nicht hinterfragt und in einem umfassenden Verständnis von menschlicher Vielfalt aufgehoben wird, unterbleibt eine tiefergehende Erkenntnis von Welt, Leben und Beziehung. Während die Spaltung in behindert und nichtbehindert scheinbar Gegensätzliches bezeichnet, sind die beiden möglichen Eigenschaften des sozialen Körpers aufeinander bezogen. Denn erst die Feststellung, dass eine Körperlichkeit als behindert zu gelten hat, schafft den Freiraum, sich als nichtbehindert zu erfahren. Ohne die Bezogenheit bewusst zu erkennen, erfüllt der Behinderte dem Nichtbehinderten den Wunsch nach einem passiven, hilflosen Objekt, das er zu beherrschen vermag, während dem Behinderten sich im Nichtbehinderten der ebenso unbewusste Wunsch nach einem aktiven, unbegrenzten Objekt erfüllt. Beide erhalten sich damit die Sehnsucht ihres Selbst nach Allmacht. Beide sind sich darin einig, dass der behinderte Körper mit seinen von der Norm abweichenden Grenzen das Subjekt einschränkt, statt wahrzunehmen, wohin dieser Körper das Subjekt führen kann: Gerade er kann Erkenntnisse über Umwelt, soziale Systeme und Identität vermitteln, die mit einem nichtbehinderten Körper nicht möglich sind. Ein Austausch aber, der allen Mitgliedern des sozialen Systems etwas gibt, weil er Sichtweisen der Wirklichkeit aufzeigt, die den jeweils Anderen nicht zugänglich sind, kommt nicht zustande. Während es den Mitgliedern des sozialen Makrosystems, deren Körperlichkeit dem kulturell gültigen Ideal der Körper- und Affektkontrolle genügt, zukommt, das Leben scheinbar objektiv zu deuten, wird dem umbrochenen Körper das Vermögen abgesprochen, über eine subjektive Qualität zu verfügen. Wegen der Behinderung scheint es dem behinderten Subjekt unmöglich zu sein, das soziale System, dem es angehört, und die Alterität, auf die es bezogen ist, angemessen zu erkennen. Die Auslegungen der Konstrukte von chronischer Krankheit oder Behinderung, zu denen das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch aus eigenem Erleben gelangt, erhalten wenig Öffentlichkeit. Ebenso wird kaum beachtet, was das Subjekt mit seinem umbrochenen Körper über die Alterität, der es als Mitglied des sozialen Subsystems Gesundheitswesen immer wieder begegnet, erkennt. Nach dem Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung werden ihm Ärzte und die weiteren Spezialisten des Gesundheitswesens, Mitpatienten oder gleich ihm Behinderte zu den bedeutsamen Anderen, über deren Identität es sich Gedanken macht. Auch nimmt das Subjekt infolge der für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden körperlichen Veränderungen die vertrauten Personen in seinem Mesosystem anders wahr oder entdeckt sie neu, vielfach ohne seine Erkenntnisse mit ihnen teilen zu können. Weiterhin ändern sich nach dem körperlichen Umbruch die Ansichten des Sub-

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jekts zu Leben und Sterben. Doch gerade im Zuge der vermeintlichen Normalisierung von Behinderung werden die Erfahrungen bagatellisiert, die mit einem umbrochenen Körper gemacht werden (vgl. Willemsen 2014: 11). Dass sich die besondere Lebens- und Welterfahrung, die sich infolge eines körperlichen Umbruchs ergibt, in der Kunst kaum wiederfindet, wird oft, wenn auch verhohlen, ästhetisch begründet (vgl. Siebers 2009: 209).

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Vom Erzählen des umbrochenen Körpers

Verstehen durch Erzählen: Zu den Geschichten, in die das Subjekt bereits verstrickt ist, fügt der körperliche Umbruch neue hinzu. Diese neuen Geschichten erfüllen die Minimalbedingungen der Ungewöhnlichkeit, sodass sie erzählenswert sind; auch können sie frühere ersetzen, die angesichts der körperlichen Veränderungen an Bedeutung verlieren. In diesen Geschichten fasst das Subjekt in Worte, was ihm nach dem körperlichen Umbruch geschah, und erklärt, wie es mit seinem umbrochenen Körper handelt. Wie alle Geschichten weisen die nach dem körperlichen Umbruch erzählten zwei Eigenheiten auf (vgl. Arendt 1981: 164–180): Zum einen erschließt sich die Bedeutung der Geschichte ihren Zuhörern erst dann, wenn sie an ihr Ende gekommen ist, d.h. wenn diejenigen, über die erzählt wird, gestorben sind. Zum anderen sind auch diejenigen, die von ihrem Handeln erzählen, nie in der Lage, vollständig zu erfassen, was ihre Erzählung bedeutet, d.h. jedes Erzählen offenbart vom Erzählenden mehr, als von ihm beabsichtigt war. Das Erzählen des umbrochenen Körpers ist doppelt ausgerichtet: Es dient dem Subjekt gleichermaßen dazu, sich seines Selbst zu vergewissern wie auch mit den übrigen Mitglieder des sozialen Systems zu verständigen (vgl. Keupp et al. 1999: 229–235). Das Subjekt muss sich dabei oft überwinden, in Worte zu fassen, was es erlebte, und die Alterität an den Erfahrungen teilhaben zu lassen, die sich ihm aus dem umbrochenen Körper ergaben. Mir war klar, dass ich einmal über meine Familie und MS schreiben würde. Aber ich habe nicht geahnt, wie schwer es ist, und dass ich so ungern darüber schreiben würde.8 Damit das Erzählen des umbrochenen Körpers als gelungen gilt und von der Alterität angenommen wird, sollte in ihm der Verlust der gewohnten Körperlichkeit und der bisherigen Identitätsentwürfe und -projekte dargestellt sein. In der Geschichte hat es auch darum zu gehen, mit welchen Gefühlen das Subjekt den veränderten körperlichen Zustand erfasste, wie es sein Verhältnis zur Umwelt und den sozialen Systemen neu gestaltete und was für ein angepasstes allgemeines Identitätsempfinden es sich erarbeitete und in die Tat umsetzte (vgl. Frank 1995: 4–7). Das Subjekt muss seine Erzählung von der veränderten Körperlichkeit mit seiner bisherigen Geschichte verbinden, die trotz allem weitergegangen ist. Wenn ihr zugehört wird, vermag seine Erzählung die krankheitsbedingte Unterbrechung der bisherigen Narration aufzuheben.

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Lürssen 2005: 56.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

So ist eine kollektive Korrespondenz entstanden, die ich Monat für Monat fortsetze und dank derer ich immer mit allen, die ich liebe, in Verbindung bin. Mein Stolz hat Früchte getragen. Von einigen Unerbittlichen abgesehen, die hartnäckig schweigen, haben alle begriffen, daß man mich in meiner Taucherglocke erreichen kann, auch wenn sie mich manchmal an die Ränder unerforschter Welten davonträgt.9 Die Geschichten, die das Subjekt von seinem umbrochenen Körper erzählt, müssen nicht lange sein. Wesentliche Aussagen können in Kernnarrationen zusammengefasst oder in kürzelhaften Selbstdeutungen verdichtet sein. Das Subjekt vergewissert sich so seiner Erfahrung, was dem umbrochenen Körper gut tut. Ich muss an mich selber glauben, für mich und meinen Körper etwas tun. Dabei ist es ziemlich egal was.10 Diese zusammenfassenden oder verdichteten Erzählungen ergeben sich bisweilen unmittelbar aus den Erfahrungen, die das Subjekt mit dem umbrochenen Körper tatsächlich machen musste. »Einmal mehr aufstehen als hinfallen.« Das ist seitdem mein Motto.11 In der Kürze bezeichnet das Subjekt ein übergeordnetes Identitätsziel, das die veränderte Körperlichkeit einbezieht. Ich will mein Leben trotz und mit MS genießen.12 Es werden Teilidentitäten benannt, die das Subjekt nicht befriedigen. Ich weiß, dass sich hinsichtlich einer Partnerschaft nichts erzwingen lässt, und mit Sicherheit finde ich niemanden, wenn ich krampfhaft danach suche.13 Wenn sich das Subjekt an die Alterität wendet, erzählt es in verdichteter Form, was sich nach dem körperlichen Umbruch für seine Identitätsarbeit bewährte. Wichtig war und ist für mich immer wieder, meine eigene Beziehung zu meiner Umgebung herauszufinden. Ist die Situation, so wie sie ist, richtig oder muss und kann ich selbst etwas ändern? Sprich mit den anderen und über dich selbst, gerade die Menschen, die dir am wichtigsten sind, müssen wissen, wie es dir geht, nicht täglich, aber ab und zu, ohne Dramatik, aber ernsthaft.14 Erzählen und Identität: Mit dem Erzählen des umbrochenen Körpers gestaltet das Subjekt seine Identität: Zum einen gewinnt es im Erzählen sein Selbst einschließlich des Körperselbst wieder, von dem es durch das Widerfahrnis des körperlichen Umbruchs entfremdet war. Dadurch, dass dem Subjekt durch seine Identitätsarbeit bewusst wird, dass es auch mit seinem umbrochenen Körper etwas erlebt, was es als Subjekt ausmacht 9 10 11 12 13 14

Bauby 1997: 82. Lürssen 2005: 24. Lürssen 2005: 28. Lürssen 2005: 43. Ruscheweih 2005: 42. Lürssen 2005: 56.

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und erzählenswert ist, gewinnt es die Deutungshoheit über seinen veränderten Körper zurück. Mit seinem Erzählen überzeugt sich das Subjekt, dass zu seinem Erleben mehr gehört als das, was von seinem Körper in der medizinischen Fallgeschichte festgehalten wird. Zum anderen überprüft das Subjekt im Erzählen die Identitätsarbeit, die es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit geleistet hat. Dadurch, dass die Alterität die von ihm erzählten Geschichten, wie es durch den körperlichen Umbruch in seiner Identität beeinflusst wurde und wie es sein Leben mit dem umbrochenen Körper gestaltete, annimmt, zurückweist oder hinterfragt, wird die Identitätsarbeit des Subjekts bestätigt, verworfen, ergänzt oder fortgeführt. Außerdem macht sich das Subjekt im Erzählen sein unbewusstes Selbst bewusst und repräsentiert es psychisch. Dadurch, dass mit den von ihm erzählten Geschichten über den umbrochenen Körper sein Wesen in einem Ausmaß sichtbar wird, wie es zuvor nicht der Fall war, verleiht die Alterität mit ihrer Antwort seinem Handeln die Worte, über die das Subjekt bis dahin nicht selbst verfügte, und gibt ihm die Geschichte, die ihm hilft, sich seines Selbst oder Körperselbst bewusst zu werden. Das Subjekt weiß, dass es das Erzählen des umbrochenen Körpers braucht, um sich selbst besser zu verstehen. Es macht sich seine Identitätsarbeit und die Passung an den veränderten Körper bewusst. Dies ist kein medizinisches oder therapeutisches Fachbuch, sondern die sehr persönliche Geschichte einer Erkrankung. Diese hat manche Veränderung bewirkt und viele Zusammenhänge blieben mir zunächst unklar. So habe ich meiner Gewohnheit gemäß schließlich zu Papier und Feder gegriffen, um mir selbst mehr Klarheit zu verschaffen. Diese Aufzeichnungen waren also für den Eigenbedarf gedacht; schreibend lernte ich selbst mehr über mich und die neue Situation, und ich lernte dabei langsam, besser damit fertig zu werden.15 Diese Bedeutung des Erzählens wird mit der Zeit weniger, sodass das Bedürfnis des Subjekts nachlässt, seine Geschichte in Worte zu fassen. Ich zeichnete die Dinge auf, die mich stark bewegten; wenn mich etwas verwirrte oder mir Freude machte, sagte ich das, was ich sagen mußte, um mir selbst bei der Auseinandersetzung mit dem, was geschah, zu helfen. Ich setzte das drei Jahre lang fort, und allmählich nahm das Bedürfnis, noch mehr Aufzeichnungen zu machen, ab.16 Bei manchen Erzählungen geht es dem Subjekt aber nicht darum, sich dadurch seiner Identität zu vergewissern, sondern viel umfassender darum, dadurch sein Leben an sich zu bewahren. Mir laufen die Wörter weg, oder ich bilde es mir ein. Um sie nicht zu verlieren, halte ich sie im Schlaf bei mir, rede, rede im Traum Geschichten, die ich sehe, höre ständig meine Stimme, die mich erzählt oder mir erzählt, was aus dem Zusammenhang fallen könnte. Ich überlebe im Schlaf. Ich halte mich erzählend am Leben.17

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Peinert 2002: 19. Hull 1992: 12. Härtling 2007: 75.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Das Subjekt entschließt sich zum Erzählen, da es hofft, dass seine Geschichte nicht nur ihm etwas gibt, sondern auch denjenigen, die sie zuhörend miterleben. Deshalb habe ich notiert, wovon ich glaube, dass es auch andere interessieren könnte – Behinderte, Nichtbehinderte, Wissende und Nichtwissende, Suchende und Fragende. Ein paar Erlebnisse einer »kleinen Kaputten«, die im besten Falle Nachdenken machen sollen: Schönes und Grausames, Wichtiges und Nichtiges, Lustiges und Trauriges. Das aufzuschreiben, hat mir selbst geholfen. Wenn es auch anderen helfen kann, wäre es das schönste Kompliment, das man mir machen kann.18 Erzählen und Alterität: Entsprechend der doppelten Ausrichtung des Erzählens bestätigt das Subjekt in seinen Geschichten nicht nur sein Selbst, sondern vermittelt auch der Alterität, was sein Selbstverständnis mit dem umbrochenen Körper ausmacht. Im Erzählen zeigt das Subjekt der Alterität, dass es noch da ist und noch wert ist, dass ihm zugehört wird (vgl. Frank 1995: 53–56). Indem das Subjekt von sich erzählt, setzt es seine Geschichte gegen die Geschichten, die über es erzählt werden. Sein Erzählen beruht auf einer Entscheidung. »Am 8. Juni werden es sechs Monate, daß mein neues Leben angefangen hat.« Das waren die ersten Worte des ersten Rundbriefs aus Berck, den ich im späten Frühjahr meinen Freunden und Bekannten zu schreiben beschloß. An etwa sechzig Empfänger gerichtet, erregte dieses Schreiben ein gewisses Aufsehen und korrigierte den durch Gerüchte angerichteten Schaden ein wenig.19 Mit seiner Geschichte teilt das Subjekt außerdem der Alterität mit, wie es sich jetzt sieht. Indem es von der zurückliegenden Identitätsarbeit erzählt, von den Identitätsentwürfen und -projekten, die neu entstanden, sowie von den übergeordneten Identitätszielen und deren Veränderungen verdeutlicht das Subjekt seine Absichten und Vorhaben, Hoffnungen, Ängste und Erwartungen an das vor ihm liegende Leben mit der veränderten Körperlichkeit. Also erklärte ich geduldig: »Erstens bin ich kein Behindertensportler, sondern ein Sportler mit einer Behinderung. Zweitens haben wir uns ebenso für unser Olympia qualifizieren, bestimmte Zeiten, Weiten oder Plätze bei vorangegangenen Championaten schaffen müssen, wie das bei den ›Fußgängern‹ der Fall war.« Ob es wenigstens einige Ohren erreichte? Es kam auf jeden an, der zuhörte und dabei nicht weghörte20 . Ferner erklärt das Subjekt im Erzählen sein Handeln mit dem umbrochenen Körper. Mit seinen Geschichten weist es sich gegenüber der Alterität als jemand aus, der sich trotz der veränderten Körperlichkeit auf frühere Taten und Entschlüsse berufen und den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems sagen kann, was er weiter zu tun beabsichtigt. Da jedes Subjekt einzigartig ist, muss es sich erzählend der Alterität zuwenden, um sich mit ihr zu verbinden. Nach dem körperlichen Umbruch ist dem Subjekt daran 18 19 20

Buggenhagen 1996: 159. Bauby 1997: 81. Buggenhagen 1996: 115f.

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Körperlicher Umbruch

gelegen, den Anderen auf ihre Zuwendung zu antworten und ihnen ein Zeugnis seines Lebens mit dem umbrochenen Körper zu geben. Eure Briefe sammeln sich im Schrank, Eure Zeichnungen an der Wand, und da ich nicht jedem einzeln antworten kann, kam ich auf die Idee dieser Samisdats, um von meinen Tagen, meinen Fortschritten und Hoffnungen zu berichten.21 Das Subjekt will es der Alterität mit seiner Geschichte erleichtern, mit ihm und dem umbrochenen Körper umzugehen. [Bei meinen Aufzeichnungen; B.R.] ist zunächst nur an meine engsten Angehörigen und Freunde gedacht gewesen, und es hat sich gezeigt, daß auch sie besser verstehen und besser mit der neuen Lage zurechtzukommen lernten.22 Oder das Erzählen vom umbrochenen Körper soll denen helfen, mit ihrem Erleben zurechtzukommen, die ihre gewohnte Körperlichkeit auf die gleiche Weise verloren wie das Subjekt. Mit dem Versuch, meine Vergangenheit aufzuzeichnen, möchte ich an Parkinson erkrankte Leser ermuntern, in ihre eigene Geschichte einzutauchen, und sie in die Lage versetzen, selbst herauszufinden, welche – falls vorhanden – die frühesten wichtigen Anzeichen für die Krankheit waren. Ohne den Verlauf beeinflussen zu können, wird das Verständnis für die eigene Vergangenheit den jetzigen Zustand doch lebenswerter machen.23 Unabhängig, an welche Alterität sich das Subjekt wendet, ist das Erzählen manchmal mühevoll. Ich will ein Tagebuch meiner Reise auf der Stelle verfassen und muß mir den Anfang ausdenken, bevor die Abgesandte meines Verlegers kommt, um ihn sich Buchstabe für Buchstabe diktieren zu lassen. In meinem Kopf drehe und wende ich jeden Satz zehnmal, lasse ein Wort weg, füge ein Adjektiv hinzu und lerne meinen Text Absatz für Absatz auswendig.24 Oft ist jedoch das, was das Subjekt mit seinem umbrochenen Körper an Ungewöhnlichem erlebt, keine Geschichte, der die Alterität gerne zuhört. Wenn sie die Begegnung mit ihm vermeidet und sich nicht mit seinen Erfahrungen identifizieren will, stiftet das Erzählen des umbrochenen Körpers keine Beziehung und vermittelt dem Subjekt keine Empfindung seines Selbst (vgl. Lucius-Hoene: 1998). Es ist nicht meine Krankheit, die mich eines Tages umbringen wird. Es wird eine grundtiefe Resignation auf mich zukommen, eine Resignation, die mich dem Tode näher bringt.25

21 22 23 24 25

Bauby 1997: 81. Peinert 2002: 19. Todes 2005: 21. Bauby 1997: 8. Balmer 2006: 80.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Mögliche Formen und Inhalte: Wie das Subjekt der Alterität vom umbrochenen Körper erzählt, ist ihm freigestellt. Doch wenn es von ihr verstanden werden will, muss es sowohl die erzählerischen Gepflogenheiten seiner Kultur berücksichtigen als auch die Identität der Zuhörer. Um von der Alterität als glaubhaft angenommen zu werden, muss das Erzählen des umbrochenen Körpers die Bedingungen erfüllen, die für jedes Erzählen gelten (vgl. Keupp et al. 1999: 229–232): Die Geschichte muss die Ereignisse in einer bestimmten Ordnung darstellen, wobei üblicherweise in chronologischer Reihenfolge erzählt wird. Sie soll so aufgebaut sein, dass die einzelnen Ereignisse stimmig miteinander verbunden sind und sich das nächste aus dem vorhergehenden ergibt. Die Geschichte muss das Wesentliche erfassen und sich auf die Ereignisse beschränken, die wichtig genug sind, um erzählt zu werden. Dabei ist die Auswahl erschwert, wenn der Endpunkt fehlt oder eine Geschichte noch nicht ihr Ende erreicht hat. Auch muss die Geschichte bei Unterbrechungen zu ihrem Handlungsfaden zurückkommen und nicht nur einen Beginn, sondern auch ein Ende aufweisen. Denn erst aus dem Endpunkt heraus erhalten die dargestellten Ereignisse ihren Sinn. Falls die Erzählung des umbrochenen Körpers die Geschichte einer Suche ist (vgl. Frank 1995: 115–136), bedingt die krankheitsbedingte Unterbrechung der bisherigen Geschichte kein anhaltendes Scheitern. Vielmehr erzählt das Subjekt, wie es durch den Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit zu einer vertieften Erkenntnis des Selbst und zu einer Erweiterung seiner Identität kommt. Es zeigt auf, dass der Verlust der körperlichen Unversehrtheit keinen Untergang bedeuten muss und dass es möglich ist, das eigene Leben zu gestalten, selbst wenn der veränderte Körper schmerzt, ängstigt oder beschämt. Als ich ganz unten war, hätte ich nie für möglich gehalten, was die Zukunft noch für mich bereithält. Keiner weiß das. Das ist es, was ich mitteilen möchte.26 Solche Erzählungen der Suche können drei Formen aufweisen (vgl. Frank 1995: 119–126): Als Memoiren verbinden sie die Geschichte des körperlichen Umbruchs mit anderen Ereignissen im Leben des Erzählers und besagen, dass die Krankheit sich in das Leben hat einfügen lassen. Geschichten in Form eines Manifests hingegen vermitteln, dass durch die Krankheit eine Wahrheit gefunden wurde, die für die Alterität so wichtig ist, dass sie nicht verschwiegen werden darf. Es war mir ein Anliegen, den Leuten zu sagen, wie wichtig es ist, die Diagnose vom ersten Augenblick an zu akzeptieren, nicht in Selbstmitleid zu versinken, sondern dem Feind die Stirn zu bieten und sofort den Kampf aufzunehmen. Ich wollte demonstrieren, dass Krebskranke keine Aussätzigen sind.27 Die gefundene Wahrheit wird vom Subjekt als eine angesehen, die das soziale Makrosystem unterdrücken würde, wenn es seine Geschichte nicht erzählt. An seinem Beispiel stellt das Subjekt der Alterität dar, dass der Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht nur eine persönliche Angelegenheit ist, sondern auch eine allgemein-gesellschaftliche und dass in Solidarität mit den Betroffenen ein politisches Handeln angezeigt ist. 26 27

Buggenhagen 1996: 9. Lesch 2002: 76.

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Über all das will ich schreiben – und vielleicht kann es helfen, das immer noch tiefe Wasser zwischen denen, die »normal« sind, und denen, die »anders« sind – wobei sich die Perspektive durch einfache Umdrehung der Standpunkte ja ebenfalls total verändert –, etwas flacher werden zu lassen. Eine Erziehung der Gefühle, die allerdings voraussetzt, daß man zum »Fühlen« in der Lage ist. […] Ich schreibe dies auf, um Wissen um und über uns zu vermitteln, um die Ausrede »gedankenlos« oder »das habe ich nicht geahnt« ein Stückchen unmöglicher zu machen. Dafür benutze ich meine Popularität, und jene Personen mit Einfluß oder gar Macht, die ich dadurch kennenlerne. Ich erinnere die »Promis«, die schnell etwas versprechen, an ihre Aussagen, damit sie nicht vergessen. Die Beispiele für »Behinderung durch Behinderung« sind Legion, jeder, der im Rollstuhl sitzt, der amputiert, blind oder gehörlos ist, wird sie mit eigenen Erlebnissen verlängern können.28 Bei der Automythologie als der dritten Form einer Geschichte der Suche wird der individuelle Prozess, nicht die soziale Reform betont. Mit Verweis auf die eigene grundsätzliche und anhaltende Veränderung wendet das Subjekt die spezifische persönliche Erkrankung in ein Beispiel für universelle Konflikte. Der Körper des Erzählers wird zum Dreh- und Angelpunkt, der Mikrokosmos und Makrokosmos miteinander verbindet. Ich kann kein gleichmütiges oder sachliches Buch schreiben; ich muß auf meine eigene Weise schreiben, muß versuchen zu verstehen, was mit mir geschieht. Dazu gehört auch, daß ich mich bemühe, das Blindsein als solches und mein eigenes Blindsein zu verstehen.29 Wenn sich die Erzählung des umbrochenen Körpers als Geschichte einer Wiederherstellung verstehen lässt (vgl. Frank 1995: 75–96), teilt sie mit, dass körperliches Leid, Schmerz, Angst und Scham mit medizinischer Hilfe überwunden werden können, dass die körperlichen Veränderungen zwar das gewohnte Leben unterbrechen, dass es aber nach Heilung der Krankheit wieder aufgenommen werden kann. Diese Geschichte macht es den Zuhörern leicht, da sie in dem bestätigt werden, was sie in Hinblick auf einen Umgang mit krankheitsbedingten körperlichen Veränderungen für sich selbst zu hören erhoffen; sie müssen ihre Identität nicht in Frage stellen, weil auch der Erzähler keinen Umbau seiner Identität vornehmen musste. Es wäre schön, sagen zu können, daß es ein Happyend gegeben hat, daß ein Wunder geschah, aber es geschah keins.30 Demgegenüber ist die Erzählung über das Chaos, das durch den körperlichen Umbruch bedingt ist, nur schwer auszuhalten (vgl. Frank 1995: 97–114). Weil sie Verletztheit, Ohnmacht und Abhängigkeit beinhaltet, macht sie den Zuhörern Angst. Sie zeigt, dass alle Fortschritte der Medizin körperliches Leid letztlich nicht zu beseitigen wissen und dass jeder davon betroffen sein kann. In ihrer reinen Form enthält sie soviel an nicht bewältigtem Verlust, dass Worte nicht ausreichen, ihn abzubilden, und in den Zuhörern ruft

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Buggenhagen 1996: 8, 103 Hull 1992: 185. Hull 1992: 12.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

sie soviel Abwehr hervor, dass sie ihr nicht folgen wollen. Das Verstummen jeglicher Erzählung schließlich geht zurück auf ein Geschehnis, bei dem der körperliche Umbruch traumatisch war und das Subjekt jegliche Identitätsarbeit einstellte. Um so angenehmer ist es für die Zuhörer, wenn es nicht soweit kommt und es ihnen erspart wird, eine solche Erzählung anhören zu müssen. Alle waren sie erleichtert. Dass ich ganz normal geschildert hatte, wie mein Tagesablauf so ist, wie ich zu den Ärzten gehe, ins Krankenhaus, wie meine Therapie funktioniert, was ich erlebe, was ich fühle und wie es mir geht.31 Nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ist das Subjekt manchmal nicht in der Lage, selbst von seinem umbrochenen Körper zu erzählen. Wegen des durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung schwer geschädigten Körpers ist es darauf angewiesen, dass die Alterität sich in sein Erleben empathisch einfühlt, um dann sprachlich an seiner Stelle auszudrücken, was es selbst nicht mitzuteilen vermag. Ich bewege meine Augen nach oben, was so viel heisst wie »Ja«. Es gibt nur »Ja« und »Nein«. »Einigermassen«, »ungefähr«, also so genannte Zwischenfragen und -antworten, gibt es nicht und kann es nicht geben, ansonsten wäre die Kommunikation nicht möglich.32 Oder das Subjekt braucht die Alterität mit ihren kulturellen Ressourcen und ihrer Bereitschaft, sie ihm gegenüber auch anzuwenden, um sein Selbst erzählend entäußern zu können. Man buchstabiert mir das ABC in der ESA-Version, bis ich meinen Gesprächspartner mit einem Blinzeln bei dem Buchstaben anhalte, den er sich notieren soll. So geht es mit den folgenden Buchstaben weiter, und wenn kein Fehler passiert, erhält man ziemlich schnell ein ganzes Wort, dann mehr oder weniger verständliche Satzteile. Das ist die Theorie, die Gebrauchsanweisung, die Erläuterung. Nicht alle kommen gleich gut mit dem Code zurecht, wie man diese Art, meine Gedanken zu übersetzen, auch nennt.33 Mögliche Folgen des Erzählens: Wie jedes Erzählen berührt das des umbrochenen Körpers die Alterität emotional und löst in ihr Empfindungen aus, die nicht mehr zurückzunehmen sind. Vor allem die Erzählungen der Suche fordern die Zuhörer in ihrer Identität und setzen in ihnen einen reflexiven Prozess in Gang. Sie können die Zuhörer dazu anregen, über sich und ihr Leben nachzudenken, neue Identitätsentwürfe zu entwickeln oder angedachte Identitätsprojekte in die Tat umzusetzen. Lieber Michael, als ich von deiner schweren Krankheit erfuhr – so kurz nach dem Tod von Klaus Wennemann –, war ich doch sehr schockiert. Als ich dich dann einige Tage später im Fernsehen sah, beeindruckten und motivierten mich deine Aussagen zum Umgang mit der Krankheit doch wieder sehr.34

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Lesch 2002: 77. Balmer 2006: 132. Bauby 1997: 22. Lesch 2002: 79.

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In ihren Antworten drücken die Zuhörer aus, was eine Geschichte in ihnen auslöste. Sie können das Subjekt in seinem Erzählen bekräftigen und es dazu auffordern, seine Geschichte zu verbreiten. Denn die Zuhörer weisen den Erzähler darauf hin, dass es wichtig ist, wenn weitere Personen von dem erfahren, was er zu sagen hat. Man hat mir nahegelegt, die Aufzeichnungen doch einem größeren Kreis zugänglich zu machen. Sie könnten auch anderen Menschen hilfreich sein.35 Bisweilen vermitteln die Zuhörer dem Erzähler, dass seine Geschichte für andere bereits wichtig wurde. Meine Vorlesung war die Grundlage für einen nachfolgenden Artikel in The Lancet über dasselbe Thema und in gewisser Weise ein Vorläufer zu diesem Buch. Er wurde übersetzt und in verschiedenen Sprachen gedruckt. […] und so erhielt ich zahllose Rückmeldungen – nicht nur von Erkrankten, sondern auch von ihren Familien. Mein Aufsatz hatte Gefühle und Gedanken in Worte gefasst, die sie erlebten, aber nicht artikulieren konnten.36 Die Zuhörer berichten, wie sie sich in der Geschichte erkannten oder sich und andere durch sie besser als zuvor verstanden. Oft hatten die Leute, die zu mir kamen, selbst eine Geschichte zu erzählen von einem Freund oder Verwandten, der ebenfalls ein Glied verloren hatte. Manchmal sagten sie, es hätte sie inspiriert, über mich etwas gelesen oder mich im Fernsehen gesehen zu haben, denn es hätte ihnen zu der Erkenntnis verholfen, der Verlust eines Beins sei nicht das Ende der Welt.37 Dabei melden die Zuhörer nicht nur zurück, dass die Geschichte ihnen etwas bedeutet, sondern mit ihren Antworten bestätigen sie auch den Erzähler in seinem Selbst. Die Resonanz der Leser auf diese sehr persönliche Studie unterstützte meine These stark: In vielen Briefen wurde erwähnt, dass die Betroffenen ebenfalls einen ihnen nahen Menschen verloren hatten und dass dieser Verlust beim Auslösen der Krankheit eine Rolle gespielt hatte.38 Die Rückmeldungen der Zuhörer sind für den Erzähler überaus wichtig, denn sie helfen, sein Leben zu erhalten. Das Subjekt, das es auf sich nahm, der Alterität von seinem umbrochenen Körper zu erzählen, empfängt sie mit großer Dankbarkeit. Ich bekomme bemerkenswerte Briefe. […] Ob es drei Zeilen oder acht Seiten sind, ob sie aus dem fernen Morgenland oder aus Montmorency kommen – ich hebe all diese Briefe wie Schätze auf. Eines Tages möchte ich sie gern aneinanderkleben, um ein kilometerlanges Band daraus zu machen, das wie eine Fahne zum Ruhm der Freundschaft flattert. Das wird die Geier fernhalten.39 35 36 37 38 39

Peinert 2002: 19. Todes 2005: 75, 76, Kursivierung im Original. Mills 1996: 257f. Todes 2005: 21. Bauby 1997: 82, 83.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Denn wenn das Subjekt sich dazu entschließt, sich zu öffnen und von seinem umbrochenen Körper zu erzählen, geht es ein Wagnis ein. Im Augenblick seines Erzählens weiß es nicht, ob es mit seiner Geschichte wirklich Zuhörer erreichen wird und wie sie aufnehmen werden, was es ihnen sagen will. Das Subjekt ist sich bewusst, dass auch die Möglichkeit besteht, mit seiner Geschichte verkannt und abgelehnt zu werden. Im Jahre 2003 wurde ein Dokumentarfilm über mein Leben, die Krankheit und meine Lebensphilosophie ausgestrahlt. Mein begleitender Arzt und ich haben im Film sehr offen über das Sterben Auskunft gegeben und gingen damit auch das Risiko ein, massive Kritik und Missverständnisse auszulösen.40 Das Erzählen des umbrochenen Körpers ist deshalb von der Sorge begleitet, wie die Zuhörer die Geschichte aufnehmen, und der Angst, von ihnen abgewertet zu werden. Nachdem ich das Ganze noch einmal durchgelesen habe, hoffe ich, dass kein Neurologe das liest. Er könnte auf die Idee kommen, ich leide unter unangebrachter Euphorie.41 In der Tat hat das Erzählen vom körperlichen Umbruch und dem Leben mit dem veränderten Körper für das Subjekt manchmal nachteilige Folgen. Das Subjekt ist enttäuscht, weil ihm die Antwort zeigt, dass nicht das gehört, aufgenommen oder weitergegeben wurde, was es mitzuteilen beabsichtigte. »Neugier genügt« war eine etwa halbstündige Sendung über MS. Ich ärgere mich, dass ich da mitgemacht habe. Die meiste Zeit habe ich über mein Leben als gehfähige MSPatientin geredet, gerade weil man uns nicht ansieht, welche Schwierigkeiten wir haben. […] Diese Sendung allerdings wiederholte einfach das alte Vorurteil, MS bedeute, an den Rollstuhl gefesselt zu sein. Da hat mein vieles Reden nichts genützt.42 Das Subjekt ärgert sich nach dem Erzählen, nicht besser auf sich geachtet zu haben und sich weiter in seiner Identität entäußert zu haben, obwohl ihm die Abwehr der Alterität bereits auffiel. Ich schweige, denn ich bin überaus müde, und, obschon ich nicht schlafen kann, möchte ich mich auf keine Diskussionen einlassen. Und ich tue es trotzdem. Ich könnte mich schlagen!43 Der Kreis der Zuhörer kann auch zu groß gewesen sein, sodass die Rückmeldungen, die von ihnen eingehen, das Subjekt überwältigen. Anschließend wurde ich zu einem Fernsehprogramm eingeladen, in dem regelmäßig gezeigt wird, wie Menschen vermeintlich unmögliche Dinge zustande bringen. Zwölf Millionen Zuschauer wußten nun Bescheid über den Schwimm-Marathon, wußten aber auch von mir, und das erwies sich doch als etwas problematisch.44

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Balmer 2006: 66. Lürssen 2005: 43. Lürssen 2005: 85. Balmer 2006: 135. Mills 1996: 257.

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Aber das Subjekt muss auch erkennen, dass es nachteilig ist, seine Geschichte nicht erzählt zu haben. Es merkt: Das Sprechen unterlassen zu haben, wo es angestanden hätte, sich der Alterität zu erkennen zu geben und das eigene Handeln zu begründen, war ein Versäumnis. Ich hätte meinen Gastgebern gleich erklären müssen, worum es mir tatsächlich ging; weshalb ich ihre Einladung angenommen hatte, obwohl ich wusste, wie sehr die Reise mich strapazieren würde: Unlängst, nach zwei Schlägen ins Herz und ins Hirn, kam ich dem Vater nah, indem ich zu sterben drohte. Ich erreichte die Grenze sechzig Jahre nach seinem Tod; ich bin dreißig Jahre älter, als er geworden ist. Jemand, der zu Selbstgesprächen neigt wie ich, braucht, um das Gespräch zu lernen, Gräber.45 Bisweilen schweigt das Subjekt, weil es die Belange der Alterität mehr berücksichtigt als seine eigenen oder weil es gelernt hat, seine Geschichte besser nicht zu erzählen. Warum habe ich dann die Diagnose verschwiegen? Zum einen habe ich geglaubt, meine Mutter würde sich schuldig fühlen. Sie ist in einer Umgebung aufgewachsen, in der Krankheit immer etwas mit Schuld zu tun hatte. Zum anderen mache ich viel mit mir selbst aus, möchte andere nicht mit meinen Problemen belasten. Das ist wohl auch eine Form von Selbstschutz.46

5.4

Vom Handeln des umbrochenen Körpers

Handeln und Identität: Mit dem Handeln des umbrochenen Körpers gestaltet das Subjekt ein Geschehen, das seinem angepassten allgemeinen Identitätsempfinden entspricht. Im Gegensatz zum Geschehen, von dem das Selbst beim körperlichen Umbruch überwältigt war, schafft sich das Subjekt jetzt von innen heraus die eigenen Lebensbedingungen und macht sich die von außen auferlegten zu eigen. Um dabei Erfolg zu haben, muss das Subjekt in seiner Identitätsarbeit genügend Identitätsentwürfe, auf die es zurückgreifen kann, entwickelt und im weiteren Verlauf genügend Identitätsentwürfe zu Identitätsprojekten verdichtet haben. Auch muss das Subjekt, um mit seinem umbrochenen Körper erfolgreich zu handeln, einige Voraussetzungen in seinem Selbst erfüllen (vgl. Arendt 1981: 178–183, 231–233): Es muss über den Mut verfügen, den es braucht, um zu beginnen und einen Anfang zu setzen, und über das Vertrauen, um das Begonnene der Alterität zu übergeben und von ihr fortführen zu lassen. Das Selbst des Subjekts braucht die Fähigkeit zu dulden, d.h die Folgen des Handelns der Alterität zu ertragen, da es die Kehrseite des eigenen Handelns darstellt. Auch muss das Selbst bereit sein, sich der von ihm begangenen Taten zu verantworten und die Schuld anzuerkennen, die sich daraus ergibt, dass jedes Handeln die Alterität erfasst. Es muss weiterhin in der Lage sein, der Alterität zu verzeihen und für sich um Verzeihung zu bitten, um wegen der Unwiderruflichkeit jedes Handelns von der Vergangenheit frei zu werden. Schließlich muss das Selbst der Alterität, auf die es in einem sozialen Systemen

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Härtling 2007: 99f. Anonym [Gudrun] 2005: 105.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

bezogen ist, Versprechen geben und sie einhalten, um ihr angesichts der Unabsehbarkeit des Handelns die Zukunft sicher zu machen. Unabhängig davon, ob durch eine Handlung mit dem umbrochenen Körper eine Veränderung bewirkt oder ob sie verhindert werden soll, liegt jedem Handeln ein Wissen zugrunde, was dadurch erreicht werden soll. Dieses Wissen um das Ziel der Handlung kann das Subjekt sprachlich fassen, auch wenn der Alterität diese Erklärung nicht immer einsichtig erscheinen mag. Um das vorgestellte Ziel zu erreichen, setzt das Subjekt in der Handlung Mittel ein, die ihm aus seiner bisherigen Identität heraus als geeignet erscheinen. Dabei vermag es die Wahl seiner Mittel ebenso wie die seines Ziels mit seinen Vorstellungen, Glaubensannahmen oder Absichten sprachlich zu begründen. Weil dem Subjekt sein Selbst, aus dem heraus es handelt, aber nur zu einem Teil bewusst ist, weiß es stets nur teilweise, warum es wirklich tut, was es tut. Demnach gehören zu jeder Handlung des umbrochenen Körpers nicht nur die Erzählungen des Subjekts, sondern auch die Geschichten der Alterität über sein Handeln, die zu dessen Verständnis ebenso wichtig sind wie seine eigenen (vgl. Balog 1998: 27–36, in Anlehnung an Max Weber). Handeln und Alterität: Jedes Handeln – auch das des umbrochenen Körpers – findet im sozialen Raum statt. Es bezieht sich auf die Alterität, vor der es ausgeführt wird. In ihm teilt das Subjekt mit, was es nach dem körperlichen Umbruch bewegt, was es aber noch nicht ganz in Worte zu fassen weiß. Aus Sicht der Alterität lassen sich drei Arten des Handelns unterscheiden, die sich ergänzen und überlappen und die sich in jeder Handlung erkennen lassen (vgl. Schülein 1998: 308): Zum Ersten findet sich ein intentionales Handeln, bei dem die Handlung angemessen zu dem Ereignis ist, auf das sie antwortet, und stimmig zu der Identität, aus der sie entworfen wird. Zum Zweiten gibt ein intentionales Handeln, bei dem die Handlung zwar auch dem äußeren Ereignis angepasst und strategisch darauf ausgerichtet ist, bei dem aber die Absichten des Subjekts und die intrapsychischen Kompromissbildungen verdeckt sind. Zum Dritten passt beim nicht-intentionalen Handeln die Handlung nicht stimmig zu dem Ereignis, auf das sie bezogen ist, sondern ist durch unbewusste Übertragung aus früheren Erfahrungen entstanden; es wird als Agieren (vgl. Freud 1999: 129) bezeichnet. Auch wenn jedes Handeln des umbrochenen Körpers ähnlich dem Erzählen der Alterität stets mehr vom Selbst zeigt als das handelnde Subjekt denkt, ist das, was als Handlung ausgeführt wird, immer weniger als das, was sich während Entwurf und Umsetzung einer Handlung im Selbst des Handelnden abspielte. Jedes Mal, wenn Identitätsentwürfe zu -projekten verdichtet und in körperliche Funktionen übersetzt werden, gehen unweigerlich intrapsychische Inhalte verloren. Jede Handlung, die das Subjekt macht, stellt einen Kompromiss dar. Daher kann jedes Handeln als überdeterminiert angesehen werden (vgl. Schülein 1998: 304–307): Erstens beruht es auf der subjektiven Verknüpfung eines Ereignisses mit den Vorerfahrungen und den dadurch bedingten retrospektiv- und prospektiv-reflexiven Prozessen. Zweitens beinhaltet es die durch das Ereignis ausgelöste unbewusste Übertragung von Erfahrungen der früheren Lebensgeschichte und anderer Lebensbereiche. Drittens berücksichtigt es die gegenwärtige Gruppendynamik und Bedürfnislage des Subjekts. Und viertens bezieht es die Möglichkeiten der vorhandenen ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen von Makro- und Mesosystem ein.

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Körperlicher Umbruch

Nicht nur, dass seine Körperlichkeit das Subjekt begrenzt, sondern jedes Handeln wird, bevor es ausgeführt wird, darauf überprüft, ob es in die Umwelt passt, inwieweit es den Normen, Werten, Traditionen und Konventionen des sozialen Systems entspricht und wie es sich zu den Erfahrungen verhält, die das Subjekt vor oder nach dem körperlichen Umbruch mit der Alterität machte. Mut und Vertrauen: Ebenso wie es zur Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch gehört, dass das Subjekt die Geschichte seines umbrochenen Körpers erzählbar macht, hat es in der Beziehung zur Alterität die Fähigkeit zum Handeln wiederzugewinnen, handelnd die geleistete Identitätsarbeit auf ihre Wertigkeit zu überprüfen sowie sich handelnd den Anderen über die veränderte Körperlichkeit mitzuteilen. Um wieder handlungsfähig zu werden, muss das Subjekt den Mut aufbringen, den das Beginnen einer Handlung verlangt. Dabei kann das Subjekt auf eigene Bedenken oder die der Alterität stoßen. Er reagierte vorsichtig. »Es ist vielleicht ein bißchen zu früh, Heather.« »Ich versuche es«, antwortete ich. Immer wieder sagte man mir, ich müsse warten, mir Zeit lassen, nicht so ungeduldig sein, aber ich wollte das [Skilaufen auf einem Bein; B.R.] wirklich gern ausprobieren, denn ich mußte wieder anfangen, normal zu leben.47 Es ist möglich, dass das Subjekt eine Handlung aus Angst vor den Folgen unterlässt. Die Vorstellung, was Unangenehmes geschehen könnte, wenn es mit dem umbrochenen Körper handeln würde, ist stärker als die Überlegung, die dafür spricht, die Handlung auszuführen. Aber ich verlasse das Haus nicht mehr. Der Supermarkt ist doch nur zwei Minuten von unserer Wohnung entfernt. Von der Terrasse aus kann ich ihn sehen. Es wäre so einfach: Ich ziehe mir eine weite Hose an, darüber ein großes T-Shirt. Und ich gehe jetzt einfach da hin. Ich fühle mich doch gut, und ich habe Appetit auf das, was ich auf meinen Einkaufzettel geschrieben habe. Also, was hindert mich? Nichts! Außer meiner Angst!48 Das Subjekt stellt fest, dass es sich verlor, als es nicht zum Handeln bereit war. Gestern ging ich mit meiner ältesten Tochter Imogen zum Lunch aus. Während wir aßen, fing ich an, mich merkwürdig fern zu fühlen. Die Kellner richteten kein einziges Wort an mich. Alles wurde mit Imogen besprochen, und ich fand es am einfachsten, wenn ich meine Bestellungen über sie an die Kellner weitergab. Ich hätte das nicht zulassen dürfen, weil es mich noch weiter entfernte.49 Das Subjekt führt auch deshalb Handlungen nicht aus, weil es ihre möglichen Folgen aus gutem Grund als zu gefährlich ansieht. Ein »Retortenbaby«, das ich dann ausgetragen und per Kaiserschnitt zur Welt gebracht hätte, war also möglich. Doch die Probleme lagen bei mir. Man hatte einen Nierenscha-

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Mills 1996: 239. Lesch 2002: 109. Hull 1992: 191.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

den festgestellt, der die Schwangerschaft komplizieren würde. Es blieb ein Restrisiko für Mutter und Kind, das wir nicht eingehen wollten.50 Wenn das Subjekt mit dem umbrochenen Körper zu handeln beginnt, ist es früher oder später darauf angewiesen, dass die Alterität sein Anliegen aufgreift, fortsetzt oder unterstützt. Dafür ist es erforderlich, dass das Subjekt von seiner geplanten Handlung, deren Beweggründen und deren Zweck erzählt. Es würde nicht so leicht sein, wie ich es mir vorgestellt hatte. Doch am nächsten Tag sollte ich im Radio ein Interview geben, und ich hoffte, daß mir das ein paar Türen öffnen würde. Ich erwähnte, daß ich Prothesen suchte, und die Reaktion war unmittelbar. Kaum war ich wieder in meiner Wohnung, klingelte auch schon das Telefon.51 Auf diese Weise klärt das Subjekt, ob es der Alterität vertrauen kann, dass sie in seinem Sinne handeln wird. Als ich ihn am Telefon dazu befragte, vermutete Prof. Youdim, dass dies wahrscheinlich mithilfe von injizierten Eisenpräparaten geschehe. […] Das klang nach der viel versprechenden Empfehlung eines erprobten und erfolgreichen Experten auf diesem Gebiet, und trotz meiner Abneigung gegen weitere Versuchsreihen überlegte ich, mich über diese Möglichkeiten näher zu informieren.52 Das Erklären der eigenen Absichten, Vorhaben und Handlungen schafft die Voraussetzungen, dass das Subjekt dann auf die Alterität zurückgreifen kann, wenn es sie braucht. Und wieder einmal griff der Zufall ein. An dem Abend, als ich die Auszeichnung der Britischen Handelskammer verliehen bekam, hatte ich den Vorsitzenden und den Marketingleiter der Transportfirma TNT kennengelernt. Sie hatten mir ihre Karten gegeben und gesagt, falls ich jemals ihre Hilfe bräuchte, genüge ein Anruf. Ihr Versprechen erwies sich als absolut zuverlässig; ein TNT-Wagen brachte die Beine schon am nächsten Tag nach Bournemouth.53 Zu erleben, dass die Alterität die eigenen Anliegen aufgreift, fortsetzt oder unterstützt, ist für das Subjekt beglückend. So kommt es in die Lage, sein Identitätsprojekt wirkungsvoll weiter zu verfolgen. Ich habe jetzt das Glück, über einen Sponsor aus der Branche zu verfügen, dessen Hilfe mich von der materiell-technischen Seite her wettbewerbsfähig macht.54 Für welche Handlungen des umbrochenen Körpers das Subjekt die Alterität heranzieht, ist unterschiedlich: Es können Handlungen sein, die dem Zweck dienen, das Ausmaß seines körperlichen Umbruchs zu begrenzen.

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Buggenhagen 1996: 81. Mills 1996: 265. Todes 2005: 102. Mills 1996: 266. Buggenhagen 1996: 56.

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Ich wälzte medizinische Literatur und forderte zahlreiche Artikel an, die mit der Parkinson-Krankheit zu tun hatten. Kollegen, die bereit waren, ihre Forschungsergebnisse mit mir zu diskutieren, brachten mich auf die Idee, einiges an mir selbst auszuprobieren. Ich suchte nach Referenzen zur Erkrankung in pharmakologischen und medizinischen Zeitschriften. Freunde auf der ganzen Welt, die von meinem Interesse wussten, durchforsteten ihre Tageszeitungen und versorgten mich mit Zeitungsartikeln. Ich bezog Pharmakonzerne in meine Nachforschungen ein, die bereitwillig mit mir zusammenarbeiten wollten, glücklich über die Aussicht, mich als ihr akademisches Versuchskaninchen gewinnen zu können.55 Auch beansprucht das Subjekt die Alterität für Handlungen, welche die Auswirkungen des körperlichen Umbruchs auf seine Nächsten verringern sollen. Rick nahm einen Gipsabdruck von meinem Stumpf und versprach, sein möglichstes zu tun, damit die Prothese rechtzeitig bis zu Raffaeles Besuch fertig wäre. Er verstand, wie wichtig mir das war.56 Oder das Subjekt spricht die Alterität an, damit sie Handlungen ausführt, die sich aus der veränderten Körperlichkeit ergeben haben, es aber nicht selbst in die Tat umzusetzen vermag. Daher stand nun mein Umzug an. Vorher mussten aber noch einige behinderungsbedingte Umbauten durchgeführt werden. Diese Umbaumaßnahmen betreute mein Vater, aber wir hatten auch Firmen und Handwerker, auf die wir uns verlassen konnten.57 Es ist immer ein wechselseitiges Geschehen, das das Subjekt und die Alterität im Handeln miteinander verbindet. Ein so komplexes Krankheitsbild mit mehreren Grund- und Folgediagnosen kann gar nicht gesamthaft erfasst werden, und die Medizin und ihre Helfer sind darauf angewiesen, dass ich selber mitdenke und mithandle. In einem kataplektischen Zustand müssen die Menschen um mich »mich übernehmen«.58 Das Subjekt tut gut daran, die Alterität, die sich bereit erklärt, in seinem Sinne zu handeln, durch seine Zuwendung zu bestärken. […] Dr. Tonkovič begrüßte mich noch am selben Tag in seinem Büro. […] »Sie wollen unserm Volk also neue Beine bringen. Das ist gut. Ihnen liegt kroatisches Volk am Herzen, was?« Er zog eine Augenbraue hoch. »Keine Sorge, Sie bekommen Erlaubnisschein. Überlassen Sie das mir.« Ich lächelte ihn an, den ich war sicher, wenn irgendeiner die apathischen Beamten in diesem Haus auf Trab bringen konnte, dann dieser Mann.59

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Todes 2005: 17. Mills 1996: 249. Ruscheweih 2005: 22. Balmer 2006: 132f. Mills 1996: 262, 263.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Sich mit dem eigenen Anliegen der Alterität anzuvertrauen und dabei zu erleben, wie von ihr das eigene intentionale Handeln unterstützt wird, stärkt die Beziehung, die das Subjekt zu ihr hat. Ohne Jörg hätte ich im Sport nie so erfolgreich sein können, wie ich es war und bin. Er hält mir den Rücken frei, und wenn ich abends, von nachmittäglichem Training ermattet, beim Versuch, einen Film im Fernsehen länger als ein Drittel seiner Spieldauer zu verfolgen, in seinen Armen einschlafe, dann gibt es nichts, wo ich ohne Worte mehr spüren kann, wie sehr man zueinander gehört.60 Für das Subjekt ist jedoch nicht immer befriedigend, wie die Alterität mit seinem begonnenen Handeln umgeht. Mitunter verunsichert ihr Verhalten das Subjekt. Es fragt sich, ob es richtig war, der Alterität sein Vertrauen geschenkt zu haben. Denn ihr Verhalten lässt es zweifeln, ob sie wirklich bereit ist, in seinem Sinne an der von ihm begonnenen Handlung mitzuwirken und das Identitätsprojekt zu verwirklichen. Um neun Uhr gab ich auf und ging ins Bett. In diesem Moment fühlte ich mich bedrückter als je zuvor seit meinem Unfall. Vielleicht wollten die Kroaten die Prothesen überhaupt nicht. Vielleicht stimmten meine Informationen alle nicht. Vielleicht hatte mich Tonkovič die ganze Zeit nur hingehalten…61 Oder das Verhalten, mit dem die Alterität sein Handeln aufgreift, enttäuscht das Subjekt, weil es annahm, mehr von ihr erwarten zu können. Von jedem wurde eine Einzelaufnahme erstellt und wir hatten bestimmt über vier Stunden Fernsehen live in unserem Seminar. Das war ziemlich anstrengend und wir glaubten, einen großen Beitrag über MS fürs Fernsehen produziert zu haben. Leider war die Sendung dann ziemlich enttäuschend. Vielleicht sechs Minuten von den vier Stunden wurden gesendet, und MS war nicht einmal das Thema der Sendung.62 Dulden des fremden Handelns: Zum Handeln des umbrochenen Körpers gehört, dass das Subjekt dem Handeln der Alterität ausgesetzt ist. Es belastet das Subjekt, wenn den Anderen die Einfühlung fehlt. Ich mußte blinzeln. Beim Erwachen beugte sich eine wirkliche kleine Krankenschwester mit rundlichen Armen und einer Taschenlampe in der Hand über mich: »Ihre Schlaftablette, soll ich sie Ihnen jetzt oder erst in einer Stunde geben?«63 Doch es kommt vor, dass sich die Alterität nicht für die nachteiligen Folgen ihres Handelns verantwortlich fühlt. Sie versucht vielmehr, das Subjekt dafür verantwortlich zu machen, dass es die Folgen ihres Handelns ertragen muss. Meine Erlebnisse der letzten Tage führte er darauf zurück, dass ich so weit weg von zu Hause und ohne Spanischkenntnisse völlig isoliert gewesen sei, nicht auf einen Fehler

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Buggenhagen 1996: 79. Mills 1996: 271. Lürssen 2005: 87. Bauby 1997: 112.

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seines Teams. Er schien sich von jeglicher Verantwortung für meine Paranoia freizusprechen, die er nicht behandeln konnte und wollte.64 Unter solchen Umständen kann das Subjekt sich bemühen, zu verstehen, was die Alterität zu dem Handeln bewegte, das es zu erdulden hatte. Nicht der Staat als solcher hatte uns damals ein Kind verweigert, es waren ganz konkrete Menschen, die kraft ihres Amtes ihren beschränkten Horizont in Beschlüsse umsetzten, die wie Gerichtsurteile für Unschuldige waren. Es hat weniger mit Ideologien zu tun als mit ganz persönlichen Haltungen: mit Intoleranz, Gleichgültigkeit, Feigheit, Flucht.65 Unabhängig davon, wodurch das zu ertragende Handeln der Alterität bedingt ist, wird es vom Subjekt unterschiedlich verarbeitet. Zu den Empfindungen, die ihr Handeln auslöst, gehören Überraschung und Fassungslosigkeit. Trotzdem verblüffte mich der vollständige Mangel an Interesse, auf den meine Nachfragen beim Gesundheitsministerium stießen. Tagelang versuchte ich ohne Erfolg, die Zulassung zu bekommen, künstliche Gliedmaßen zu importieren.66 Die Ahnungslosigkeit der Alterität geht für das Subjekt mit einer körperlichen Anstrengung einher, die es dann auszuhalten hat. Wie man sich allerdings mit einem Rollstuhlfahrer unterhält, wissen selbst meine Kollegen nicht, denn sie bleiben immer stehen und gehen selten in die Hocke, um auf Augenhöhe zu sein. Für den Rollstuhlfahrer ist es ganz schön anstrengend immer den Kopf in den Nacken zu legen, um den Gesprächspartner (=Fußgänger) anzusehen.67 Wenn die Alterität ein gerade begonnenes Identitätsprojekt ablehnt, nimmt es dem Subjekt die Freude, die es bei seiner Umsetzung zuerst empfand. Die erste orthopädische Klinik gab zwar zu, ein Paar hundert alte Beine gelagert zu haben, aber sie waren nicht sicher, ob sie sie mir zur Verfügung stellen sollten. Als ich sie fragte, ob sie als Sammelpunkt dienen könnten, falls ich einen öffentlichen Spendenaufruf organisierte, reagierten sie noch abweisender. Eine ähnliche Reaktion erhielt ich von allen anderen Krankenhäusern, die ich anrief. Mein erste Freude verpuffte rasch.68 Wenn sich die Alterität als unfähig erweist oder ratlos ist, wie die Intention einer begonnenen Handlung aufzugreifen ist, lässt ihr Unverständnis das Subjekt so sehr verzweifeln, dass es sein Leben an sich in Frage stellt. Überforderung und Unruhe breiten sich im Krankenzimmer aus. Es stehen mindestens sechs Leute um mein Bett und niemand, aber auch gar niemand ist handlungsfähig. Es ist die Hölle. Ich würge und zapple mit meinen Beinen, weine. Ich sehe nichts, denn

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Todes 2005: 92f. Buggenhagen 1996: 84. Mills 1996: 262. Ruscheweih 2005: 51. Mills 1996: 265.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

meine Augen kann ich nicht öffnen. Ich hege Gedanken, am liebsten nicht mehr leben zu wollen.69 Das Subjekt setzt sich bisweilen nur äußerst ungern einer Situation aus, von der es weiß, dass es die Folgen der Handlungen von anderen zu erdulden haben wird. Es ist für mich jedes Mal eine wirkliche Überwindung, ins Krankenhaus zu gehen und darum schiebe ich den Termin immer wieder hinaus, obwohl ich weiß, dass es hilft. Leider erwarten die meisten Krankenhäuser immer noch, dass der Patient am Eingang sein Gehirn abgibt, Gott ergeben zu allem Ja und Amen sagt, nie nachfragt und geduldig auf den Tag der Entlassung wartet.70 Auch wenn das Handeln der Alterität angemessen ist, kann es Folgen haben, die für das Subjekt unangenehm sind. Es wird schmerzhaft auf die Grenzen seines somatischen Körpers verwiesen, wie sie infolge des körperlichen Umbruchs entstanden. An diesem Wochenende ist mir tief bewußt geworden, in welchem Maße sehende Kinder in einer visuellen Welt leben. Ihr Spielen, ihr Humor, ihre Verkleidungen und ihr Herumtollen, das alles findet im Kontext des Sehens statt. Aufgrund meines Andersseins im Vergleich dazu hat sich in mir das Gefühl entwickelt, daß ich nicht mit diesen sehenden Kindern zusammen bin.71 Auch das eigene Handeln kann dem Subjekt die veränderten körperlichen Grenzen bewusst machen. Gelegentlich zeigten sich bei mir auch Anzeichen für Überforderungsängste, wenn ich komplizierte Aufgaben lösen soll. Dann erschwert mir die eigene hektische Ungeduld die Lösung.72 Manchmal ist es angebracht, dass das Subjekt nicht duldend hinnimmt, wozu seine Alterität es auffordert. Nachdem es Lösungen gefunden hat, verbessert sich sein Befinden. Sobald ich zur Ruhe komme, spüre ich Verspannungen im Halsbereich und viele andere »Wehwehchen«, die das Leben manchmal ganz schön versalzen können. Immer wenn ich mich gegenüber Ärzten darüber beklagte, wurde mir beschieden, dass man bei einer solchen Grunderkrankung nichts dagegen machen könne. Man kann allerdings sehr wohl was machen. Nur durch beharrliches Weitersuchen, Ärztewechsel und immer wieder darauf aufmerksam machen, habe ich heute die meisten dieser Beschwerden mit den passenden medikamentösen, homöopathischen oder physikalischen Therapien im Griff – nicht schmerzfrei, aber Linderung.73 Die Folgen des Handelns der Alterität nicht auszuhalten, verlangt Kraft. Wenn das Subjekt über sie nicht verfügt, bleibt ihm doch nichts anderes als das Dulden übrig. 69 70 71 72 73

Balmer 2006: 38. Lürssen 2005: 35. Hull 1992: 151. Peinert 2002: 95. Lürssen 2005: 34.

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Wie gerne hätte ich [dem Chefarzt; B.R.] einen Vortrag über Ethik, Verhalten gegenüber Patienten und Bevormundung im Spital gehalten. Da es mir aber nicht besonders gut geht, habe ich dazu keine Kraft, und ich betrachte es eigentlich auch nicht als meine Aufgabe, einen Chefarzt darüber aufzuklären.74 Im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Handeln der Alterität wird aus Enttäuschung und Hass manchmal Zuneigung und Dankbarkeit. Anfangs haben manche [Krankenschwestern und Pfleger; B.R.] mich in Angst und Schrecken versetzt. Ich sah in ihnen nur meine Gefängniswärter, die Gehilfen bei einem abscheulichen Komplott. Später habe ich andere gehaßt, wenn sie mir den Arm umdrehten, während sie mich in den Rollstuhl setzten, mich eine ganze Nacht vor dem eingeschalteten Fernseher vergaßen, mich trotz meines Kopfschüttelns in einer schmerzhaften Haltung sitzenließen. Einige Minuten oder einige Stunden lang hätte ich sie umbringen können. Und dann, da die Zeit die kälteste Wut verschlingt, sind sie Vertraute geworden, die ihrer heiklen Mission, so gut es geht, nachkommen: unser Kreuz ein wenig aufzurichten, wenn es unsere Schultern zu sehr wund scheuert.75 Verantworten des eigenen Handelns: Wie zu jedem Handeln gehört zu dem des umbrochenen Körpers, dass das Subjekt bereit ist, die Verantwortung für dessen Folgen zu übernehmen. Bisweilen dauert es eine Zeit, bis das Subjekt überhaupt die Verantwortung spürt, die mit einer Handlung verbunden ist. Es erlebt diese Verantwortung als Belastung. Zum ersten Mal machte mir jetzt die Verantwortung für das Unternehmen zu schaffen, das ich da begonnen hatte. Wenn nun alles schief ging? Wenn man uns nun trotz der Papiere nicht über die Grenze ließ? Wenn nun die Amputierten, die dem Krankenhaus zufolge ein neues Bein wollten, nicht erschienen? Das BBC-Team sollte am Dienstag eintreffen, was zusätzlichen Druck bedeutete. Wenn vor den Kameras etwas schieflief, konnte man nichts vertuschen. Wenn alles in einem Fiasko endete, würde es keinen weiteren Konvoi mit Prothesen geben. Also mußte es einfach klappen.76 Im Subjekt entsteht daraus das Bedürfnis, seine Verantwortung mit der Alterität zu teilen. In dieser seit fast zehn Jahren wohl vertrauten Gruppe finde ich Verständnis für meine oft auch nicht einfache Beratungssituation. Letztlich trage ich ja für den MS-Patienten, den ich berate, auch einen Teil Verantwortung für die Einstellung zu seiner Krankheit, eine wichtige Weichenstellung für den Rest seines Lebens.77 Eine Verantwortung ergibt sich mitunter allein daraus, dass das Subjekt über Möglichkeiten des Handelns verfügt, die sich ihm ohne den körperlichen Umbruch gar nicht

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Balmer 2006: 61. Bauby 1997: 109f. Mills 1996: 270f. Lürssen 2005: 68.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

ergeben hätten. Die besondere Möglichkeit des umbrochenen Körpers nicht wahrzunehmen, würde dazu führen, dass das Subjekt sich selbst oder der Alterität gegenüber schuldig fühlen würde. Die Gelegenheit, durch die Begegnungen mit Menschen, die – als Politiker, Unternehmer, Medienvertreter oder was auch immer – Dinge auf den Weg bringen können, die sonst gern überhört oder -sehen werden, ist eine Chance, die ich nicht verschenken möchte.78 Die Notwendigkeit, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, ergibt sich für das Subjekt daraus, dass es die Alterität verunsicherte und in ihr belastende Fragen aufkommen ließ. Der [über mich, meine Krankheit und meine Lebensphilosophie gedrehte; B.R.] Dokumentarfilm »Keine Zeit zu sterben« löste bei einigen meiner ehemaligen Pflegerinnen Unsicherheiten aus: »Was ist, wenn sich unsere Patientin das Leben nimmt beziehungsweise die Beatmungsmaske nicht mehr aufsetzt? Sind wir dann schuldig? Was können wir tun, um das zu verhindern? Müssen wir etwas tun? Sind wir geschützt?« Es waren berechtigte Fragen, die mir zeigten, dass wir mit der Thematik einige Jahre zu früh waren, dass ein Dokumentarfilm kein geeignetes Mittel ist, so komplexe, individuell zu lösende Fragen dem Publikum verständlich zu machen. Wir provozierten Ängste, was wir bestimmt nicht wollten. Wir lösten Schuldgefühle aus anstatt dass wir Verständnis dafür schufen, wo Lebensqualität begrenzt sein kann und wie ein Mensch in Würde sterben kann.79 Meist geschieht es unabsichtlich, dass das Subjekt die Alterität mit seinem Handelns belastet. Bisweilen liegt dem aber auch eine bewusste Entscheidung zugrunde. Da beide Hände mit Lenken bzw. Gasgeben beschäftigt waren, wurde vor allem das Anfahren an Kreuzungen zum Problem. Die Frage »Wer legt den Gang ein?« war knifflig, und so gewöhnte ich mir an, bereits 60–80 Meter vor solch sensiblen Stellen so langsam zu fahren, daß ich den ersten Gang wählen konnte, um danach wieder gut wegzukommen. Das trug einem zwar den Ärger der hinter einem Fahrenden und eindeutige Fingerzeige zur Stirn ein, aber was half’s? Wat mutt, dat mutt.80 Dem Subjekt wird bewusst, dass es nicht vermeiden kann, an der Alterität schuldig zu werden, wenn es seine Identität entfalten und mit dem umbrochenen Körper handeln will. Denn es gibt sich auf, wenn es Handlungen unterlässt, mit denen es die Alterität belastet. Ich habe wahrscheinlich eine Lackmuspapierprobe entdeckt, ein soziales Testverfahren, das es mir erlaubt, bestimmte Dinge über meine neuen Bekannten schnell und häufig auch zuverlässig in Erfahrung zu bringen. Es ist gräßlich, Menschen ständig sol-

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Buggenhagen 1996: 8. Balmer 2006: 66f. Buggenhagen 1996: 94f.

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che Dinge abzufordern. Die Alternative dazu wäre wahrscheinlich aber eine beinahe vollständige gesellschaftliche Marginalisierung und Passivität.81 Eine eigentlich anstehende Handlung zu unterlassen, erzeugt eine nicht gut zu machende Schuld dem eigenen Selbst gegenüber. Aber seit diesem Schub ziehe ich das linke Bein nach: Ich bin einfach zu spät ins Krankenhaus gegangen.82 Wenn sich das Subjekt für seine Handlungen verantwortlich fühlt, unabhängig davon, ob es sie mit oder ohne Absicht ausführte, kann es erforderlich werden, die Alterität um Verzeihung zu bitten. Dieses Wochenende war der reine Horror. Nichts klappte, alles tat mir weh, ich war übellaunig, ungerecht, voller Wut und verteilte meine schlechte Laune auf die ganze Familie. Jetzt tut es mir leid, und ich sollte allen einen lieben Brief schreiben.83 Umgekehrt kann das Subjekt der Alterität verzeihen, wenn es deren Handeln ertragen musste. Aus dem Wissen um sein Selbst versteht das Subjekt das verletzende Handeln der Alterität und ihre Beweggründe. Und wenn die, die ihren Mangel an Vollkommenheit offen zugeben und nicht verstecken, auf die Mehrheit zugehen, dann antwortet diese in einer Mischung aus Verklemmung, Berührungsangst, Unverständnis und Komplexen zumeist mit Abwehr. Darüber kann ich nicht mal in jedem Fall böse sein, wenn ich bedenke, wie lange ich gebraucht habe, um mich selbst in meiner Rolle anzunehmen.84 Indem sich das Subjekt an sein früheres Handeln erinnert, wird es bereit, der Alterität zu verzeihen. Denn es stellt fest, dass ihm das verletzende Handeln der Alterität nicht fremd ist. Dadurch, dass das Subjekt sich mit der Alterität identifiziert, hebt es die Spannung auf. Und ich habe meinen Dickkopf durchgesetzt. Ich bin nicht zu meinem Onkel ins Krankenzimmer gegangen. Und heute? Heute vergebe ich allen, die mich nicht besucht haben. Ich liege ja da wie Onkel Hans.85 Wiedergewonnene Selbstwirksamkeit: Wenn es dem Subjekt gelingt, das eigene Leben im Allgemeinen und den körperlichen Umbruch im Besonderen handelnd zu gestalten, ist es nicht mehr von äußeren Umständen abhängig und ohnmächtig der Alterität ausgeliefert. Vielmehr spürt es seine Stärke und fühlt sich eigenständig in seiner Tatkraft (vgl. Keupp et al. 1999: 235–239). Das Handeln des umbrochenen Körpers und die bestätigenden Antworten der Alterität vermitteln dem Subjekt, dass seine Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch richtig war. Es erlebt sich dadurch wieder selbstwirksam. Diese Erfahrung betrifft den privaten Bereich. 81 82 83 84 85

Hull 1992: 117f. Ruscheweih 2005: 18. Lürssen 2005: 43. Buggenhagen 1996: 43. Lesch 2002: 130.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Aber die Nacht war noch nicht vorbei. Raffaele sah so vornehm aus in seinem Ausgehanzug, daß ich nun für den perfekten Abend das perfekte Ende wünschte. »Raffaele, sperr die Tür zu, ich will mit dir schlafen.« […] »Komm schon«, flüsterte ich. »Experimentieren wir einfach.« Wir experimentierten die ganze Nacht, und als er am nächsten Morgen ins Büro fuhr, war ich bereit für einen guten Schlaf. »Sie grinsen ja wie eine satte Katze«, sagte die Schwester, die meinen Verband wechselte. »Was führen Sie nur im Schilde?« Wenn du wüßtest, dachte ich nur, wenn du wüßtest…86 Diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit betrifft auch den öffentlichen Bereich. Daß ich in den Jahren seit der Wende eine Person öffentlichen Interesses geworden bin, Prominente, Politiker, Leute, die man gemeinhin als VIPs, Very Important Persons, bezeichnet, treffe, gibt mir die Möglichkeit, diese kleinen Punkte öffentlich zu benennen und auf Änderung zu dringen. Ich kann Probleme anschneiden, und weil ich nicht mehr nur eine »kleine Kaputte« bin, ist es schwerer geworden, mich einfach zu überhören.87 Die erreichte Selbstwirksamkeit erstreckt sich zudem auf den Umgang mit dem umbrochenen Körper. Also [den Rollstuhl namens; B.R.] Scotty raus, aufgestellt, alles Notwendige verstaut, Radfahrerhandschuhe angezogen und los ging es. Da noch nicht viele Besucher unterwegs waren, gestaltete sich der Kirmesbesuch sehr angenehm. Ich konnte meine Umgebung genießen. Bei Bedarf, an einigen Ständen, stieg ich aus, ansonsten bin ich mit Scotty gefahren oder – wenn ich mir etwas zu essen gekauft hatte – haben mich zwei Freundinnen geschoben. Im Anschluss – wieder zu Hause – war ich überhaupt nicht geschafft, sondern immer noch fit. […] Jedenfalls war es ein wunderschöner Nachmittag, den ich in vollen Zügen genoss.88 Die Fähigkeit, mit dem umbrochenen Körper zu handeln, wirkt sich günstig auf die Beziehung zur Alterität aus. Wenn ich beschlossen habe, daß es an der Zeit ist, das Gespräch mit jemandem zu beenden, bitte ich ihn einfach, sich im Zimmer umzuschauen und mich zu jemand anders zu bringen. […] Diese Prozedur wiederhole ich immer wieder. Auf diese Weise gelingt es mir, während einer fünfzehnminütigen Kaffeepause mit einem Dutzend Menschen zu sprechen. Ich lerne auch neue Leute kennen, denn meine Freunde stellen mich den Menschen vor, die sie kennen.89 Das Subjekt ist zufrieden, wie es seinen umbrochenen Körper zu belasten vermag. Ich war glücklich, mich selbst zu entdecken. Glücklich, meinen Körper zu spüren, der doch mehr als ein Wrack oder Ersatzteillager war. Ich war glücklich, nach dem Training

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Mills 1996: 233. Buggenhagen 1996: 107. Ruscheweih 2005: 49. Hull 1992: 116, 116f.

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erschöpft und müde zu sein. Ich war glücklich, wenn ich am nächsten Tag Muskelkater hatte.90 Das Handeln des umbrochenen Körpers gibt dem Subjekt wieder einen guten Bezug zu seinem Selbst. Dies Handeln hat mein Selbstbewußtsein ungemein gestärkt, ich kann gelassener und normaler auch Hilfe annehmen, ohne mich minderwertig zu fühlen. Ich kann mit Überlegung vorsichtig sein, denn ich brauche mir nicht mehr Mut oder Männlichkeit zu beweisen, wenn ich es »tun« kann.91 Die erreichte Selbstwirksamkeit wird selbst dann nicht grundlegend in Frage gestellt, wenn das Handeln des umbrochenen Körper misslingt, die Erwartungen enttäuscht oder Schmerzen bereitet. Denn das Subjekt sieht den Fehler bei sich, aber nicht in seiner Körperlichkeit. Es hat die äußeren Bedingungen nicht genügend bedacht. Um vom Haus Sorrel aus auf die Straße zu gelangen, muß ich drei Parkplätze überqueren, deren rauher, unebener Belag eine schwere Prüfung für den Hintern ist. Ich hatte den Parcours, mit dem ich mir den Ausflug erkämpfen muß, vergessen, seine Kanaldeckel, seine Schlaglöcher und seine auf dem Bürgersteig geparkten Autos.92 Ein Schaden kommt dadurch zustande, dass das Subjekt seiner Umwelt nicht aufmerksam genug folgt und bei seiner unwillkürlichen Handlung die veränderten körperlichen Gegebenheiten nicht genügend berücksichtigt. Ich saß in meinem Rollstuhl auf dem Bonner Flughafen, als ich mich vorbeugte. Ich hatte nicht gemerkt, daß Tanya eine Zeitung kaufen gegangen war, und so kippte der Rollstuhl nach vorn, so daß ich wieder auf meinen Stumpf fiel. Das Interview brachte ich nur unter höllischen Schmerzen hinter mich. Mein Bein pulsierte so stark, daß ich kaum über die Fragen nachdenken konnte.93

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An den Grenzen des sozialen Systems

Verschiedenartige Grenzen: Im Erzählen und Handeln des umbrochenen Körpers stößt das Subjekt an die Grenzen des sozialen Systems, mit denen das kulturell erstrebte Ideal der Körper- und Affektkontrolle geschützt wird. Da die meisten Mitglieder des sozialen Mesosystems dem Subjekt im Alltag vermitteln, dass es mit seiner negativ von der Norm abweichenden Körperlichkeit unwillkommen ist, fällt es ihm schwer, wohlklingenden Worten von Nichtbehinderten zu glauben, die ihm eine volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zusichern. Aus eigener Anschauung weiß das Subjekt, dass sich Worte und Taten im Umgang mit Behinderten oft widersprechen. Es hat guten

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Buggenhagen 1996: 54. Peinert 2002: 90. Bauby 1997: 85, Kursivierung im Original. Mills 1996: 242.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Grund anzunehmen, dass nicht wirklich ernst gemeint ist, was bei feierlichen Anlässen bekundet wird, und dass die Wirklichkeit davon unberührt bleibt. Bei den wohlfeilen Sätzen des IOC-Präsidenten über Behindertensport habe ich meine Zweifel. […] Die Olympischen Spiele wollen nicht touchiert werden von uns »Kaputten«, nicht durch einen Hauch von »Behindert-Sein« auch nur eine müde Sponsorenmark einbüßen.94 Dem Subjekt, das einen körperlichen Umbruch überlebte und danach als chronisch krank oder behindert gilt, werden in einem sozialen System auf verschiedene Weise Grenzen gesetzt. Obwohl es nicht üblich ist, dass Behinderte sprachlich ausgegrenzt werden, erlebt das Subjekt, dass es infolge seiner veränderten Körperlichkeit diskursiv ausgegrenzt wird. Zunächst bat man uns zehn Meter nach vorn, um aus dem Schwenkbereich der Kameras zu verschwinden, dann wurden es 100 Meter, schließlich eine Nebenstraße, in die uns kräftige, junge Männer in ziviler und dennoch Fast-Einheitskleidung expedierten. Die Begründung war unverfroren und dreist: Man könne es den Fernsehzuschauern nicht zumuten, wenn nach dem Start minutenlang Behinderte im Bild zu sehen seien.95 Solch diskursive Ausgrenzung geschieht allerdings nur selten. Denn im sozialen Makrosystem gilt, dass dessen Mitgliedern unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Religion, sexueller Orientierung, Klasse, Alter oder Behinderung dieselbe Achtung und Höflichkeit entgegengebracht wird; und rassistische, sexistische oder ableistische Auffassungen werden missbilligt, wenn sie doch einmal öffentlich geäußert werden. Dennoch wird das Subjekt vielfach als andersartig wahrgenommen. Den umbrochenen Körper als eine Abweichung von der Norm abzulehnen, ihn als geschädigt und behindert anzusehen und die Begegnung mit ihm zu meiden, entspricht der kollektiven Identität, sodass nicht eigens mehr begründet werden muss, wenn ihr gefolgt wird. Das Subjekt erwartet, dass ihm die Grenzen des sozialen Systems informell vermittelt werden, sich in alltäglichen Verhaltensweisen oft am Rande des Bewusstseins ausdrücken und auf sein Selbst einwirken, ohne dass sie klar auszumachen sind (vgl. Young 1990: 130–135). Aus Erfahrung weiß das Subjekt um die unausgesprochene Haltung der Alterität, und es ist darauf eingestellt, ihr begegnen zu müssen. Das erste Mal mit Rollstuhl in meiner Heimatstadt unterwegs zu sein, wird sicherlich noch merkwürdiger als damals mit dem Rollator.96 Die Haltung der Alterität äußert sich auch in Witzen und Bildern, ästhetischen und moralischen Urteilen, Verlautbarungen der Massenmedien oder beiläufigen Bemerkungen im Gespräch. Es ist eine Ausgrenzung, die sich unmerklich in den Gesten, in einer kleinen Bewegung, in der Sprache oder im Tonfall der Stimme vollzieht. Auch wenn es so zu ihm nicht gesagt worden ist, erklärt sich das Subjekt die Grenzen, die ihm gegenüber 94 95 96

Buggenhagen 1996: 59. Buggenhagen 1996: 59. Ruscheweih 2005: 49.

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gezogen werden, damit, dass es mit seinem umbrochenen Körper nicht der Vorstellung entspricht, die sich die Alterität von einem vollwertigen Menschen macht. Die Antwort war so kalt wie jedes Wort davor. »Was wir gesehen haben, reicht uns.« Materiell und körperlich gab es im Grunde kein Hindernis. Wir hatten alles, was nötig war, um ein Kind behütet aufwachsen zu lassen. Uns fehlte nur eine einzige Voraussetzung: Wir waren keine Nichtbehinderten.97 Manchmal beruht die Ausgrenzung, mit der das Subjekt sich wegen seiner Körperlichkeit zu befassen hat, auf Gedankenlosigkeit. Wenn jemand in der Kaffebar die Jukebox anstellt, dann überdeckt der Klang buchstäblich die Stimmen meiner Freunde. Es ist, als wäre ich allein. Sie verschwinden. Nur die Jukebox existiert. Ihr Lärmen spült die übrige Wirklichkeit fort.98 Das Verhalten der Alterität verortet das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch – ob bewusst oder unbewusst – schließlich praktisch außerhalb des sozialen Systems. Das Handeln des umbrochenen Körpers wird alltäglich behindert, da er der üblichen Körper- und Affektkontrolle nicht entspricht. Große Kaufhäuser kenne ich im Prinzip nur von außen. Schon zwischen den Ständern vor den Eingängen ist es so eng, daß man als Behinderter so etwas wie einen ShoppingBummel vergessen kann. Und drinnen – das ist für Rollstuhlfahrer eh Sperrgebiet. In Postämtern oder anderen Einrichtungen sind Schalterfenster oft so hoch angebracht, daß man als jemand, der eine Etage tiefer sitzt, schlichtweg übersehen wird. Stattdessen werden Hintermann oder -frau angesprochen, »Was kann ich für Sie tun?« […] Nicht mal eine Currywurst könnte ich ohne Probleme essen. Denn die runden Tische vor den Kiosken haben eine solche lichte Höhe, daß ich sie fast unterfahren könnte. Meine Currywurst müßte ich blind tastend suchen – also werde ich zum Verzicht gezwungen.99 Dadurch, dass das kulturell erstrebte Ideal der Körper- und Affektkontrolle normiert ist, wird nicht nur der umbrochene Körper aus dem sozialen System ausgeschlossen, sondern vielfach das Subjekt als solches in Beziehungen unsichtbar. Wenn die Alterität nicht achtet, was es mit seinem umbrochenen Körper sagt oder macht, steht es nicht nur mit seinem sozialen Körper außerhalb des sozialen Systems, sondern auch mit seinem somatischen Körper am Rande des Lebens. Der Verlust eines anerkannten Selbst lässt das Subjekt an seiner Existenz zweifeln. Nach einer Phase, in der sich meine Krankheit verschlechterte, musste ich auf der Intensivstation mit einer »grossen« Maschine beatmet werden. Ich lag vor mich hin, konnte und hatte nichts. Ich konnte nicht mehr sprechen, ich konnte mich kaum noch bewegen, ich versank immer wieder in einen Dämmerschlaf. Nur meine Gedanken, die waren immer da. Ich fühlte mich behandelt als Klumpen Fleisch, der beatmet wird,

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Buggenhagen 1996: 83. Hull 1992: 197. Buggenhagen 1996: 103f., 104

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

dem der Hintern geputzt wird. […] In diesen Stunden fragte ich mich, ob ich nun sterben oder leben wollte.100 An seinem sozialen Körper erfährt das Subjekt, wie der kollektiven Identität zufolge der umbrochene Körper zu behandeln ist. Die Alterität, die das Subjekt mit ihrem Handeln abwertet, erniedrigt oder ausgrenzt, fühlt sich dazu berechtigt und zweifelt nicht an ihrem Tun. Sobald sie die Macht dazu hat, setzt sie bisweilen ohne Zögern durch, was mit dem von der Norm abweichenden Körper ihre Meinung nach zu geschehen hat. Zwei Rollstuhlfahrer, die miteinander tanzen, brauchen Platz. Platz, den man ihnen geben oder lassen muß. […] Die Erfahrungen damit sind eher negativ. Ich erinnere mich noch gut, wie wir Anfang der 80er im Metropol-Café plötzlich einen adrett gekleideten Herrn im Kellner-Livré neben uns hatten und ihn sagen hörten: »Bitte verlassen Sie die Tanzfläche, einige unserer Gäste sehen das nicht so gern…«101 Mit ihrem Verhalten folgt die Alterität den Normen, Werten, Traditionen und Konventionen des sozialen Makrosystems, die sie von klein auf verinnerlichte und nicht bezweifelte. Ebenso selbstverständlich werden sie oft auch von denjenigen, mit einem umbrochenen Körper leben, als gegeben hingenommen. Auch wenn wir kein speziell für Blinde adaptiertes Spiel spielen, finde ich das jetzt nicht mehr so störend wie früher. Ich bin anscheinend häufiger schon zufrieden, wenn ich einfach dabeisitze und gesagt bekomme, was ich tun soll, vielleicht die Würfel zu schütteln oder einen begeisterten Kommentar abzugeben, was für die Kinder offenbar eine vollkommen ausreichende Form der Beteiligung ist.102 Umgang mit den Grenzen: Wenn das Subjekt erzählend oder handelnd an die Grenzen des sozialen Systems stößt, beeinflusst es seine Selbstbezogenheit. In seinem Narzissmus beeinträchtigt, will es sich der Alterität überhaupt nicht mehr mitteilen und von ihr in seiner Identität anerkennen lassen. Ich hatte die Vorstellung, nie wieder eine glückliche Beziehung eingehen zu können. Zu groß war die Angst, wieder verletzt zu werden. Aber auch mein Selbstbewusstsein war auf einem derartigen Nullpunkt angelangt, dass ich mir hinsichtlich einer eventuellen Beziehung nichts mehr zutraute. Wer wollte schon mit einer Frau, die MS hat und aufgrund ihres Medikaments keine Kinder bekommen sollte, eine Partnerschaft eingehen?103 An die Grenzen des sozialen Systems zu stoßen, löst im Subjekt Affekte aus. Es fühlt sich schuldig, den körperlichen Umbruch überlebt zu haben, auf die Alterität angewiesen zu sein und ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen in Anspruch zu nehmen.

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Balmer 2006: 140. Buggenhagen 1996: 79. Hull 1992: 213. Ruscheweih 2005: 60.

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Körperlicher Umbruch

Wenn ich all die Kabel und Schläuche um mich sehe, verspüre ich Schuld gegenüber mir und jenen Menschen, die mich begleiten. Ich wähne mich als Belastung, wenn man fortwährend sagt, dass die Kosten der medizinischen Therapien und Hilfsmittel enorm sind, dass man behinderte Föten besser abtreiben sollte, dass es für beatmete, schwer erkrankte Menschen kaum geeignete Wohnplätze gibt, dass ich mich gefälligst zusamenzureissen habe. […] Ich fühle mich schuldig, dass es mich noch gibt, und ich suche nach Rechtfertigungen für mein Dasein.104 Auch kann das Subjekt darüber wütend werden, wie die Alterität es daran hindert, sich zu verwirklichen, welchen Platz im sozialen System sie ihm zuweist oder wie wenig sie bereit ist, seine Bedürfnisse als gleichberechtigt anzuerkennen. Ein neues öffentliches Dorfgebäude. Sämtliche Einwohner freuten sich und waren stolz auf das moderne Gebäude: Arztpraxis, Physiotherapie, Post, Bank und sogar die Gemeindeverwaltung inklusive Gemeinderatszimmer waren nun alle im gleichen Komplex. Nur eine Dorfbewohnerin meckerte und freute sich gar nicht. Natürlich wieder eine Behinderte, wie könnte es auch anders sein! Das Dorfgebäude war das Resultat modernen Denkens eines Architekten. Leider wurde beim Konzept »Arztpraxis, Physiotherapie und öffentliche Ämter in einem Gebäude« der Rollstuhlparkplatz vergessen. Ich stiess mit meinem Anliegen auf taube Ohren. Mir blieb also nichts anderes übrig, als bei meinen Arztbesuchen weiterhin zwei Parkplätze zu belegen, um überhaupt meinen Rollstuhl ausladen zu können.105 Um mit den diskursiv, informell oder praktisch vermittelten Grenzen des sozialen Systems umzugehen, kann das Subjekt zwischen Assimilation und Akkommodation wählen: Wenn es sich assimiliert, ist es bemüht, seinen umbrochenen Körper möglichst wenig sichtbar werden zu lassen, schwächt die Bedeutung seiner körperlichen Veränderungen ab und sieht seine Identität nicht vom körperlichen Umbruch geprägt. Wenn das Subjekt sich akkommodiert, wehrt es sich gegen die Grenzen, die es aus dem sozialen System fernhalten, widerspricht den Rollen des chronisch Kranken oder Behinderten und verstößt bewusst gegen die Vorgaben der Alterität, wie es wegen seiner von der Norm abweichenden Körperlichkeit sein soll. Beklemmung, Angst, Verdrängung, Gleichgültigkeit, Intoleranz, Ignoranz, Resignation setze ich – aus Erfahrung klug – Offenheit, Mut, Teilnahme, Verständnis, Auflehnung entgegen. Das wird die Welt nicht ändern, wird nicht per Handstreich an die Stelle von Verweigerung Integration setzen, aber jeder Zentimeter Sich-Aufeinander-Einlassen ist ein Gewinn. Für beide Seiten.106

104 Balmer 2006: 98, Einzüge im Original. 105 Balmer 2006: 56. 106 Buggenhagen 1996: 8.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Im Verlauf der Identitätsarbeit und der zunehmenden Passung des umbrochenen Körpers in das Identitätsempfinden wandelt sich das Verhalten des Subjekts zu den Grenzen des sozialen Systems. Falls es in der Assimilation zu viel Selbstaufgabe und zu wenig Selbstbehauptung oder in der Akkommodation zu wenig Dulden und zu viel Kämpfen gab, verändert sich dies in dem Maße, wie das Subjekt seinen umbrochenen Körper anzunehmen lernt. Es ist nicht länger bereit, sich damit abzufinden, dass es wegen seines umbrochenen Körpers aus dem sozialen System ausgegrenzt wird. Hätte ich den Wunsch, mal am Kudamm Kaffeetrinken zu gehen, dann käme ich noch mit der S-Bahn von Buch bis zum Alexanderplatz, aber dann wäre Schluß. Und eine Autofahrt wiederum muß daran scheitern, daß ich die Blechkutsche auf der Flaniermeile niemals parkend loswerden kann. Und ist es eben kein Niederflurbus, der an einer Haltestelle vorfährt, dann bleibe ich draußen stehen, wie Sperrmüll. Habe ich mich damit abzufinden, weil ich Rollstuhlfahrer bin, weil ich, wie es der Sprachgebrauch früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte formulierte, zu den »Narren, Kretins, Krüppeln, Invaliden, Unfähigen« gehöre?107 Das Subjekt nimmt nicht mehr selbstverständlich hin, wie es von der Alterität sozial verortet und wie es behandelt wird, selbst wenn es wohlmeinend war. Eine Woche später leistete ich meinen eigenen Schwimm-Marathon im Oasis-Club in London. Am Ende schwamm ich auf Duncans Vorschlag in einer Staffel mit drei anderen zusammen und mußte daher nur fünfzig Bahnen zurücklegen. Das enttäuschte mich ein wenig, denn ich hätte zweihundert geschafft.108 Aus der Erkenntnis, welche Nachteile es in Kauf nahm, um im Erzählen und Handeln des umbrochenen Körpers nicht an die Grenzen des sozialen Systems zu stoßen, erwächst im Subjekt das Bedürfnis, vor der Alterität die Bedingungen des eigenen Körpers nicht weiter verbergen zu müssen. Es könnte sein, dass der innere Konflikt, der mit der Nichtanerkennung meiner Krankheit verbunden war, sich endlich zeigen wollte. Ich konnte nicht länger darüber schweigen und wollte ihn auch nicht länger für mich behalten.109 Wenn sich das Subjekt gegenüber den Grenzen des sozialen Systems stärker behauptet, wird es von der Alterität vielfach nicht ernst genommen wird oder bekommt gesagt, es solle sich nicht so anstellen, es sei so nicht gemeint oder seine Wahrnehmung stimme nicht. Um doch Gehör zu finden, muss das Subjekt sich anders darstellen, als es eigentlich ist. Ich bin nicht ein Mensch, der ständig jammert. Aber manchmal werde ich geradezu gezwungen zu »jammern«, damit man mein »Leiden« als »Leiden« wahrnimmt.110

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Buggenhagen 1996: 108. Mills 1996: 257. Todes 2005: 52. Balmer 2006: 92.

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Körperlicher Umbruch

Mit seinem umbrochenen Körper zu erzählen und zu handeln, fällt dem Subjekt leichter, wenn es sich in einer Gemeinschaft befindet, die ihn aus ihrer Körperlichkeit heraus versteht. Eine halbe Stunde lang hechtete ich durch den Pool. Dabei war es mir völlig egal, wie mein Bein aussah. Unter den Hippocrates-Patienten gab es niemanden mit einem perfekten Körper: Unfälle oder Krankheiten hatten allen von uns eine Menge abverlangt.111 Mit der Zeit wird das Subjekt bereit, sich zu zeigen, um damit die Grenzen des sozialen Systems zu überwinden, an die es von außen gestoßen ist. Es weiß, dass es damit nicht nur für sich handelt. Ich habe meine Deckung seit langem verlassen, das Versteck aufgegeben, sage: Hier bin ich, schaut mich an, nehmt mich, wie ich bin. Offenheit, die auch offensiv ist, weil der Abstand zwischen »uns da unten« und »euch da oben« nur kürzer werden kann, wenn man sich bewegt.112 Einfaches Coming-out: Wenn sich das Subjekt in dem Merkmal der Identität, wegen dem es jenseits der Grenzen des sozialen Systems verortet wird, der Alterität auf Grund eines bewussten Entschlusses zu erkennen gibt, handelt es sich um ein Coming-out (vgl. Wiesendanger 2005). In sehr ernstem und eindringlichen Ton fragte er mich: »Bist du blind?« »Ja, das bin ich«, antwortete ich.113 Dabei weist jedes Coming-out zwei Komponenten auf: Intrapsychisch integriert das Subjekt bei einem Coming-out einen bis dahin abgespaltenen Bereich des Erlebens in sein Selbst und verfügt in Beziehung zur Alterität über ihn als einen Teil der Identität. Bei einem körperlichen Umbruch bedeutet es, dass das Subjekt die veränderte Körperlichkeit erkannt und angenommen hat. Intersubjektiv meint Coming-out, dass das Subjekt der Alterität mitteilt, was es als bestimmenden und unveräußerlichen Anteil seines Wesens ansieht und was sein Selbst von dem der Anderen unterscheidet. Einem mehr oder weniger ausgewählten Kreis von Bezugspersonen – in der Regel sind es Eltern, Geschwister, Freunde und Arbeitskollegen – legt das Subjekt die Erfahrungen mit seiner veränderten Körperlichkeit offen. Es verlangt von ihnen, ihre Wahrnehmung auf diesen Teilbereich seiner Identität zu richten. Das war ein sehr ernstes und wichtiges Gespräch. Zum ersten Mal kamen kaputte Augen, blind sein, nicht sehen können und keine Bilder sehen können in einem Zusammenhang vor. Die Erkenntnis, daß mich das von Thomas unterscheidet und daß es Teil meiner persönlichen Lebensgeschichte ist, ist nun vollzogen.114

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Mills 1996: 249. Buggenhagen 1996: 115. Hull 1992: 93. Hull 1992: 94.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Mit dem Coming-out verschiebt das Subjekt die Last, die durch die Ausgrenzung aus dem sozialen System bedingt ist, von sich zur Alterität. Statt selbst zwischen Assimiliation und Akkomodation zu wählen, stellt das Subjekt die Anderen vor die Wahl, ihn mit dem Merkmal seiner Identität, das dem Ideal der Körper- und Affektkontrolle widerspricht, anzunehmen oder ihn offen abzulehnen. Mit dem Coming-out fordert das Subjekt die Alterität auf, von sich aus die Grenzen des sozialen Systems zu überwinden, um die Beziehung zu erhalten. Da es nicht länger zwischen Enthüllen und Verbergen lavieren will (vgl. Goffman 1967: 136), entscheidet sich das Subjekt dafür, der Alterität von seinem umbrochenen Körper zu erzählen. Ich erinnere mich, dass ich ihm mitteilte, bei mir sei kürzlich die Diagnose Parkinson mitgeteilt worden. Ich hatte das Gefühl, als gäbe es ein Geheimnis um meinen Körper, das mit anderen Geheimnissen durchsetzt war, und die gerade erfahrene Demütigung trieb mich dazu, den inneren Druck freizulassen. Mir war klar, dass ich, solange ich dieses Geheimnis für mich behielt, quasi auf einem Fass Dynamit saß.115 Für ein Coming-out darf das Subjekt sich der Besonderheit seines Körpers nicht mehr schämen. Es muss bereit sein, sich mit den umbrochenen Körper der Alterität auszusetzen. Er fragte zögerlich: »Sie haben keine Augen? Sie sind weg?« Ich setzte meine Brille ab und zeigte ihm mein linkes Auge, das vollkommen weiß ist. Ich sagte ihm, daß dies ja nun wirklich kein normales Auge sei. Wesentliche Teile davon waren entfernt oder zerstört worden. Ich sagte ihm, daß ich keine Linsen mehr in den Augen hatte und daß die Netzhaut beider Augen schon seit langem zerstört war.116 Um seine Identität zu bewahren und den unzutreffenden Zuschreibungen der Alterität sein Selbstverständnis entgegenzusetzen, muss sich das Subjekt zu erkennen geben. Die Überbringer falscher Nachrichten wurden nicht mehr erschossen. Wenn ich beweisen wollte, daß mein intellektuelles Potential weiterhin dem einer Schwarzwurzel überlegen war, konnte ich nur auf mich selbst bauen.117 Zum Coming-out kann es kommen, da das Subjekt selbst die Zeit dafür als reif befindet oder da äußere Umstände es ihm nahelegen, es jetzt zu tun. Als aber gestern die Kölner Bild-Zeitung bei uns anrief und der Lokalredakteur, den ich von einem ausführlichen Interview über den »Fahnder« kannte, mich zum Thema Krebs befragen wollte, wussten wir, was die Stunde geschlagen hatte. Für mich und Christina war klar: Wir gehen jetzt offensiv mit meiner Krankheit um. Wir verschweigen nichts! Wir verharmlosen auch nichts! Wir sagen, wie es ist.118 Aus dem Coming-out lässt sich ein Geschäft machen.

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Todes 2005: 16. Hull 1992: 103f. Bauby 1997: 82. Lesch 2002: 65, Kursivierung im Original.

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Fünf Minuten später lächelte ich sechs Reporter an, die sich erwartungsvoll um mein Bett gescharrt hatten. »Also, ihr wollt diese Story, aber ihr bekommt sie nicht umsonst. Geht zurück zu euren Redakteuren und sagt ihnen, wer das meiste zahlt, bekommt ein Exklusivinterview und jede Menge Fotos. Ich kooperiere, so gut ich kann. Aber erst, wenn Knete auf dem Tisch liegt. So einfach ist das.«119 Unabhängig davon, aus welchem Grund es zum Coming-out kommt, geht damit einher, dass das Subjekt nun die Erfahrungen, die es aus seinem Leben mit dem umbrochenen Körper gewinnt, nicht länger verbirgt. Indem das Subjekt von sich spricht, sieht es sich nicht mehr ohnmächtig dem Handeln der Alterität ausgesetzt, sondern gibt ihr vor, was es braucht, um sich wohl zu fühlen. Sich zu zeigen, verlangt Überwindung und verunsichert. Durch Vermittlung von Frau Jung, einer engagierten, ehrenamtlichen, nichtbetroffenen Mitarbeiterin unserer Gruppe, kam eine Journalistin von der örtlichen Tageszeitung zu uns. Zum ersten Mal in meinem Leben sagte ich öffentlich Ja zu meiner MS. Nun stand mein Name mit Telefonnummer in der Zeitung – ein seltsames Gefühl.120 Auch wenn das Coming-out lange geplant ist, bleibt es ein Wagnis. Denn zum einen ist im Vorhinein nie gewährleistet, dass die Alterität eine Eröffnung wertschätzen wird, und falls sie es nicht tut, ist das Subjekt bloßgestellt. Zum anderen begegnet das Subjekt sich selbst, wenn es sich zeigt. Vom Beginn an hatte ich Lust, meine letzten Augenblicke als perfekt funktionierender Erdbewohner zu erzählen, aber ich habe es so lange aufgeschoben, daß mir jetzt, im Moment des Sprungs zurück in meine Vergangenheit, schwindlig wird.121 Aus dem einen wie dem anderen Grund zieht es das Subjekt bisweilen vor, sich der Alterität nicht erkennen zu geben. Auch wenn ihm bewusst ist, dass es nachteilig ist, es zu unterlassen. Theoretisch weiß ich, dass ich meinen Lieben sagen sollte, dass es mir heute schlecht geht, denn Schmerzen, Unzufriedenheit und Verzweiflung sieht man nicht.122 Wenn das Subjekt sich aber der Alterität mitteilen will und es nicht kann, dann ist seine Qual groß. Hätte ich sprechen können, einen Laut von mir geben können, hätte ich vor Schmerz geschrien. Hätte ich meine Arme bewegen können, hätte ich den Arzt in dessen Flanke gekniffen. Hätte ich meine Beine bewegen können, hätte ich dem Arzt einen Tritt in den Hintern gegeben. Aber ich lag da: gelähmt, geschwächt, sprachlos, innerlich lachend und schreiend gleichzeitig.123

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Mills 1996: 235. Lürssen 2005: 64. Bauby 1997: 117. Lürssen 2005: 43. Balmer 2006: 113.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Vertieftes Coming-out: Wie die Arbeit an der Identität ist auch ihre Entäußerung in einem Coming-out prozesshaft. Es lassen sich vier Phasen unterscheiden (vgl. Wiesendanger 2005: 23): Das Prä-Coming-out umfasst als erste Phase die Zeit des Verlusts der gewohnten Körperlichkeit und des Verbergens des umbrochenen Körpers, der wegen des Scheiterns am kulturellen Ideal der Körper- und Affektkontrolle als geschädigt und behindert angesehen wird; es geht mit der ständigen Angst einher, von der Alterität entdeckt zu werden. Im einfachen Coming-out gegenüber einem ausgewählten Kreis von Bezugspersonen beginnt das Subjekt in einer zweiten Phase, sein Erleben des umbrochenen Körpers mitzuteilen, nachdem es die veränderte Körperlichkeit angenommen und gegen die verinnerlichten Einschränkungen zu rebellieren begonnen hat. Indem das Subjekt benennt, was es bisweilen jahrelang abwehrte, gewinnt der Selbstanteil, den es bis dahin nicht als zu sich gehörig empfand, zusätzlich an Bedeutung und kann noch weiter zugelassen werden. In der dritten Phase des Ausprobierens erkennt das Subjekt durch den steten Wechsel von Erleben und Benennen immer deutlicher, dass es mit seiner veränderten Körperlichkeit nicht allein steht. Dadurch, dass es ein Erzählen und Handeln des umbrochenen Körpers wagt und die gesellschaftlichen Hintergründe bestimmt, die es hemmen, entlastet sich das Subjekt. Doch befürchtet es weiterhin, die erreichte Anerkennung wieder zu verlieren, und benötigt noch ein Feindbild, auf das es seine Ablehnung des umbrochenen Körpers projizieren kann. Ich ging wütend nach Hause und schrieb einen Brief an den Leiter des lokalen NHS, in dem ich meinen Abscheu über die abwegige und respektlose Behandlung, die mir [durch meine Kollegen; B.R.] zuteil wurde, Ausdruck verlieh.124 Im vertieften Coming-out gelingt dem Subjekt schließlich in der vierten Phase die vollständige Annahme seines umbrochenen Körpers; jetzt klärt es auch, wem gegenüber es sich bisher bewusst nicht mitteilte oder welche Konfrontationen es in seinem Alltag noch vermied. Indem das Subjekt nicht nur einmal, sondern wiederholt vor der Alterität von seinem umbrochenen Körper erzählt und mit ihm handelt, bezieht es die veränderte Körperlichkeit, die durch sie vermittelten Affekte und die durch sie gewonnene Lebens- und Welterfahrung kohärent in seine Identität ein. Zu einem vertieften Coming-out nach dem körperlichen Umbruch gehört, dass das Subjekt erkennt, wo es – vermeintlich die Anderen schonend – vor allem sich selbst davor bewahrt hat, von der Alterität verletzt zu werden und seinem eigenen Schmerz zu begegnen. Es muss bereit sein, diesen Schmerz auszuhalten, die Wut über die gemachten Einschränkungen spüren und die Trauer zulassen, die es angesichts der eigenen Selbstaufgabe und nicht gelebten Lebens empfindet. Dazu gehört, dass sich das Subjekt der Vorgabe der Alterität entzieht, dass seine veränderte Körperlichkeit als geschädigt und behindert gilt, und seine eigene Haltung findet. Das vertiefte Comingout beinhaltet weiter, dass das Subjekt sich darüber klar wird, wie es die eigene Ablehnung des umbrochenen Körpers auf die Alterität projizierte, und wahrnimmt, wo es kulturell übliche behindertenfeindliche Anschauungen übernommen hat. Bei diesem Prozess löst sich das Subjekt daraus, Opfer der Umstände, der Alterität oder seines Körpers zu sein. Es gewinnt mehr und mehr Handlungsfähigkeit, indem es schon seit 124 Todes 2005: 99.

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längerem bestehende Blockierungen seiner Vitalität aufhebt und Energien, die es in seiner Entwicklung stagnieren ließen, für sich nutzt. Auch findet es zu sich und zu seiner Alterität eine bessere Beziehung und erreicht eine größere Lebensqualität und Lebenszufriedenheit. Auch in diesem Zusammenhang ist unerheblich, was das Coming-out tatsächlich bedingt, ob es aus einem Entschluss des Subjekts veranlasst oder von außen angestoßen wird. Letzten Endes war der Rollstuhlschock heilsam. Die Dinge wurden klarer. Ich entwarf keine tollkühnen Pläne mehr und konnte die Freunde aus ihrem Schweigen entlassen, die seit meinem Hirnschlag einen liebevollen Schutzwall um mich errichtet hatten. Da das Thema nicht mehr tabu war, haben wir über das Locked-in-Syndrom zu sprechen begonnen.125 Wie beim einfachen Coming-out muss das Subjekt auch beim vertieften Spannungen in der Alterität und der Identität eingehen. Sich mit dem umbrochenen Körper noch umfangreicher erkennen zu geben, kann immer dazu führen, dass das Subjekt zurückgewiesen wird und seine soziale Anerkennung verliert. Das Verhalten der Alterität muss nicht nur wohlwollend sein, sondern kann von versteckten Vorwürfen bis zur offenen Missbilligung reichen. Wenn das Subjekt mit dem umbrochenen Körper handelt und sich im Alltag zeigt, nimmt die Alterität daran Anstoß. Bis jetzt habe ich eigentlich nur positive Erfahrungen mit der Wirkung meines Rollators auf meine Mitmenschen gemacht. Nun jedoch habe ich gemerkt, dass es auch andere Reaktionen geben kann: Ich bin zu einer »Fontane-Matinee« gefahren und habe mich in dem Museum, in dem die Lesung stattfand, natürlich mit dem Rollator bewegt. Die Reaktionen hättest du mal sehen sollen: Es hat nur noch gefehlt, dass ich gefragt hätte, ob ich mich mit dem Rollator dort aufhalten dürfte. Die schiefen Blicke – als ich mich in die Schlange an der Kasse eingeordnet habe, aber auch die Blicke, als ich von der Behindertentoilette kam, waren schon sehr beredsam.126 Das Verhalten der Alterität bleibt bisweilen unbestimmt, sodass das Subjekt nicht weiß, ob es sie mit der Entäußerung seiner Identität erreicht hat und wie es von ihr gesehen wird. Ich weiss nicht, ob die Frau mich verstanden hat. Wir wünschen uns gegenseitig einen schönen Tag und gehen unsere verschiedenen Wege.127 Das Subjekt bleibt von der Alterität unverstanden, obwohl es ihr etwas Wichtiges mitteilte. Es ist so schwierig, den Leuten klarzumachen, daß mein Problem nicht physische Mobilität ist. Sorge bereitet mir meine soziale Mobilität.128

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Bauby 1997: 13. Ruscheweih 2005: 53. Balmer 2006: 61. Hull 1992: 182.

5. Die Entäußerung der angepassten Identität im Erzählen und Handeln

Wenn sich das Coming-out des umbrochenen Körpers vertieft, hat es weitreichende Folgen für die Lebenswirklichkeit des Subjekts (vgl. Wiesendanger 2005): Aus der Akzeptanz seiner Körperlichkeit zieht das Subjekt das Wissen, um sich konstruktiv mit den Bedingungen des Lebens zu befassen. Jenseits des Normenzwangs wird es zu einer eigenständigen Persönlichkeit und distanziert sich von der Idealisierung des unversehrten Körpers. In der Öffentlichkeit als noch gehfähiger Patient Rollstuhl zu fahren, bedarf schon einer Menge Mut. Aufstehen und dann weitergehen ist eine Überwindung, aber es lohnt sich.129 Selbst wenn die Lebens- und Welterfahrung, die das Subjekt mit dem umbrochenen Körper gewinnt, in der Gesellschaft kaum Widerhall findet, kann es nach dem Comingout seine Ansichten offen vertreten. Unabhängig von der Alterität und ihrem Wohlwollen setzt sich das Subjekt mit ihr über die Normen und Werte, Traditionen und Konventionen der kollektiven Identität auseinander. Ich habe es nie unterlassen zu sagen, wo die Probleme der Behinderten liegen, nie unterlassen anzustoßen, auch wenn ich damit mal aneckte. Von Fall zu Fall hat es etwas genutzt und bewegt.130 Die Grenzen des sozialen Systems, auf die das Subjekt stößt, stellen seinen Wert nicht mehr in Frage. An der Kofferraumtür [meines Autos; B.R.] brachte ich einen deutlich zu sehenden Kleber mit dem Rollstuhlsignet an, obschon ich dies absolut diskriminierend fand. Aber was macht man nicht alles, um zu beweisen, dass man eigentlich die gleichen Ansprüche wie alle anderen hat, aber unmöglichen Grenzen ausgesetzt wird.131 In der Beziehung zur Alterität erfährt das Subjekt Verständnis, sodass es seine frühere Einsamkeit verliert. Seit unserem gemeinsamen Aufenthalt in Bad Wildbad vor fast zwei Jahren haben wir viel Papier verbraucht und mit unserem Buchprojekt viel positive, wie auch ablehnende Kritik geerntet. Die für mich ermutigendste Zustimmung kam von meiner Schwiegermutter: »Das habe ich alles so nicht gewusst, es tut mir wirklich leid.« Seitdem ist unser Verhältnis zueinander freundlich, verständnisvoll und locker. Schon aus diesem Grund war das Schreiben für mich ein Erfolg.132 Für die emotionale Inkompetenz der Alterität im Umgang mit dem umbrochenen Körper fühlt sich das Subjekt nicht mehr schuldig, sodass es sich im Alltag unbefangen zeigt.

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Lürssen 2005: 33. Buggenhagen 1996: 151. Balmer 2006: 56. Lürssen 2005: 91f.

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Doch die Probleme haben sich in gewisser Weise verlagert. Nicht mehr ich habe sie mit Nichtbehinderten, sondern diese mit mir.133 Das Subjekt verliert die ehedem vorhandene psychische Störung. Meine Angst habe ich irgendwann fast unmerklich auf der Strecke verloren. Warum sollte ich mir selber peinlich sein? Ich kann darüber lächeln, wenn mich eine Journalistin fragt: »Wenn Sie wieder aus dem Rollstuhl raus sind, werden Sie dann weiter Sport treiben?«134 Der Narzissmus des Subjekts, d.h. die von der Alterität vermittelte Selbstbezogenheit, wird positiv. Es war schön zu sehen, dass die MS – ich erwähnte sie gleich beim ersten Date im Laufe des Gesprächs – nur in ganz wenigen Fällen zur offenen Ablehnung führte. Langsam wurde mein Selbstbewusstsein wieder aufgebaut […].135 Nach seinem vertieften Coming-out ist das Subjekt mit sich im Reinen. Wenn es sich mit dem umbrochenen Körper erzählend und handelnd vor der Alterität seines Selbst entäußert, weiß es um die von ihm geleistete Identitätsarbeit und sieht sich in seinem angepassten allgemeinen Identitätsempfinden bestätigt. Oskar, so nannten die Kinder spontan den Gehstock, der mir 1988 verschrieben wurde. Zuerst hatte ich einige Hemmungen mich damit sehen zu lassen, mit 44 Jahren fühlte ich mich einfach noch zu jung für eine Gehhilfe. Ich machte den Fehler, Stock mit alter Frau gleich zu setzen. Besonders gut gemeinte Kommentare wie: »Was macht eine so junge Frau mit einem Stock?«, waren nicht sehr hilfreich. Aber jetzt fiel ich nicht mehr so oft hin und schon bald wurde Oskar zu meinem ständigen Begleiter. Heute trage ich den Stock wie andere Leute eine Brille, er hilft mir besser im Alltag zurecht zu kommen. Mein »Ausgehstock«, Silberknauf mit schwarzem Holz, ist richtig schick.136

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Buggenhagen 1996: 115. Buggenhagen 1996: 115. Ruscheweih 2005: 41. Lürssen 2005: 30.

Dritter Teil

Der umbrochene Körper im sozialen System

Nachdem im ersten Teil das körperliche Geschehen und im zweiten Teil die psychische Verarbeitung des körperlichen Umbruchs geschildert worden ist, widmet sich der dritte Teil dem umbrochenen Körper im sozialen System. Dabei wird im ersten Kapitel dargelegt, dass die kollektive Identität von westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende genauso dazu beiträgt, den Verlust der gewohnten Körperlichkeit zu einem Widerfahrnis zu machen, welches das Subjekt und das soziale System erschüttert, wie die pathische Erfahrung des körperlichen Umbruchs wieder in eine sozial anerkannte Ordnung einzufügen. Im Anschluss daran befasst sich das zweite Kapitel damit, wie das Subjekt die sozialen Systeme entdeckt, denen es mit dem umbrochenen Körper angehört, und die Alterität erkundet, der es begegnet, was seine Auslegung der Konstrukte von chronischer Krankheit und Behinderung beinhaltet und welche Lebensansichten es infolge seiner besonderen Körperlichkeit vertritt. Ausgehend vom Widerspruch zwischen der rechtlich zugesicherten Inklusion chronisch kranker und behinderter Menschen und den ausgrenzenden Barrieren im Alltag beschreibt das dritte Kapitel die Anerkennung, die dem Subjekt für die von ihm geleistete Identitätsarbeit im sozialen Makro-, Meso- und Mikrosystem zuteil wird, und den Zuwachs an Selbstwert durch ihre Verinnerlichung. Das vierte Kapitel zeigt, dass das Subjekt in der Lage ist, mit dem umbrochenen Körper ein hohes Kohärenzempfinden zu erreichen. Die einzelnen Merkmale der Kohärenz, also die Kohäsion des Selbst, die Kontinuität des Erlebens und die Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen, werden mit Bezug zum umbrochenen Körper erläutert. Im fünften Kapitel schließlich wird verdeutlicht, wie sich Vitalität, Tiefe und Reife – neben der Kohärenz die weiteren Eigenschaften von Authentizität – mit einem umbrochenen Körper umsetzen lassen; dazu gehört, dass das Subjekt, das über eine authentische Identität verfügt, die sozialen Systeme bereichert. Mit der Authentizität erfüllt das Subjekt nach einer in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende verbreiteten Auffassung eine wesentliche Voraussetzung für ein gelingendes Leben.

1. »So bin ich im Tunnel um eine Kurve gebogen.« – Das Pathische im sozialen System

Wenn ein Geschehen das ganze Sein erfasst, wird es als pathisch bezeichnet; es kann das Selbst eines einzelnen Subjekts überwältigen oder auch das gesamte soziale System betreffen. Die kollektive Identität gibt gleichermaßen vor, welche Geschehnisse pathisch wirken, wie sie Möglichkeiten aufweist, um dem Fremden eines Widerfahrnisses zu antworten und die gestörte Ordnung wieder herzustellen. In diesem Kapitel wird zuerst erläutert, wie sich das subjektive Pathos bei einem körperlichen Umbruch aus der kollektiven Identität und der dort anerkannten Körper- und Affektkontrolle herleitet (1.1). Danach geht es um das pathische Körpererleben, welches sich bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergibt (1.2). Im Weiteren wird ausgeführt, dass bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht nur die subjektive, sondern auch die kollektive pathische Erfahrung wieder in eine Ordnung eingefügt werden muss (1.3). An den Beispielen von Medizin, Behindertenrolle und den Narrativen über Krankheit und Behinderung wird gezeigt, wie sich das absolut Fremde der ursprünglichen körperlichen Veränderung zum relativ Anderen des umbrochenen Körpers wandelt (1.4). Abschließend wird das Subjekt auf den Reisen begleitet, die es mit dem veränderten Körper macht (1.5). Damit wird deutlich, dass selbst nach einem körperlichen Umbruch der Körper entsprechend dem kulturell anerkannten Ideal der Körper- und Affektkontrolle eingesetzt werden kann.

1.1

Kollektive Identität, Körperlichkeit und subjektives Pathos

Zum Wesen kollektiver Identität: Der körperliche Umbruch und die danach folgende Identitätsarbeit ereignen sich innerhalb der sozialen Systeme, denen das Subjekt angehört, nämlich dem sozialen Makrosystem der Gesellschaft sowie dem Gesamt des Mesosystems mit seinen verschiedenen Mikrosystemen Beruf, Freizeit und Familie. Ihnen kommt jeweils eine kollektive Identität zu, die darauf zurückwirkt, in welchem Verhältnis die Mitglieder des sozialen Systems zueinander stehen (vgl. Ferrara 1998: 108): Die Mitglieder eines sozialen Systems teilen dauerhaft Anliegen miteinander, die ihnen

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allen bedeutsam sind, und leiten ihren Bezug, den sie zueinander haben, aus vergangenen gemeinsam gemachten Erfahrungen ab. Sie fühlen sich bei aller Verschiedenheit einander zugehörig und weisen ein bestimmbares Verhältnis zu anderen sozialen Systemen und deren Mitgliedern auf. Dazu versichern sie sich ihrer Gemeinsamkeit durch wiederholte Erzählungen und wiederkehrende Handlungen. Die Mitgliedschaft in einem sozialen System kann durch Geburt übernommen sein wie bei einer Familie oder einer Glaubensgemeinschaft, auf Antrag oder durch Verdienst erworben werden wie bei einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft oder einer Künstlervereinigung, freiwillig erfolgen wie bei einem Sportverein oder einem Unternehmen, erzwungen sein durch eine berufsständische Kammer oder eine Einweisung in ein Pflegeheim, selbst gewählt aus Neigung oder von außen zugewiesen bei besonders auffallenden körperlichen Eigenschaften infolge von Herkunft, Alter oder Behinderung. Je nach Art der Mitgliedschaft wird sie vor der Alterität stolz gezeigt, schamhaft verborgen oder mit Gleichgültigkeit gehandhabt. Gerade in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende bilden sich vermehrt soziale Subsysteme, deren Mitglieder in ihrer Körperlichkeit Merkmale aufweisen, die sie von der Norm absondern, etwa Selbsthilfegruppen für chronisch Kranke und Behinderte, Theaterensembles für Gehörlose, Tagesstätten für Kinder, Senioren-Treffs oder Vereinigungen für People of Colour. Die kollektive Identität, die sozialen Systemen zukommt, macht mehr aus als die bloße Ansammlung von Einzelwesen oder die Summe der Vorkommnisse, die sich in ihnen ereignen. Sie hat eine eigene Wirkkraft, lenkt das Denken, Fühlen und Empfinden ihrer Mitglieder und bestimmt diese umfassend bis in die Körperlichkeit. Wie sich in den verschiedenen sozialen Mikrosystemen die jeweilige kollektive Identität ausbildet, ist wiederum beeinflusst vom übergeordneten sozialen Makrosystem. Seine Struktur und Dynamik zeigt sich in der Kultur einer Gesellschaft, in ihren Normen und Werten, Traditionen und Konventionen, in den Institutionen, den theoretischen Konstrukten, der sozialen Matrix oder dem kollektiven Unbewussten. Aus der kollektiven Identität des sozialen Makrosystems ergibt sich, wie das Subjekt den Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung erlebt, wie es mit dem körperlichen Umbruch umgeht und welches allgemeines Identitätsempfinden es mit den körperlichen Veränderungen erreicht. Formen kollektiver Identität: Je nach der Art des sozialen Systems lassen sich verschiedene kollektive Identitäten beschreiben. Sie unterscheiden sich darin, wie die Mitglieder des sozialen Systems dessen Vergangenheit betrachten und was sie dabei für wesentlich halten, zu welchem Zweck und auf welche Weise sie in der Gegenwart den Bestand des jeweiligen sozialen Systems erhalten, wie sie sich seine Zukunft vorstellen und was sie dabei für sich erwarten (vgl. Ferrara 1998: 109–111): Bei einem sozialen System, bei dem die kulturelle Identität überwiegt, wie einer ärztlichen Fachgesellschaft oder der Fakultät einer Hochschule, teilen die Mitglieder Gepflogenheiten, Überlieferungen, Wissen und Kenntnisse, die über die Zeit gewachsen sind und durch Riten und Texte lebendig gehalten werden. Es besteht eine gegenwärtige Struktur, mit der die kulturelle Identität reproduziert wird, und sind alle Mitglieder weitgehend ähnlicher Auffassung, welcher Zustand des sozialen Systems ihnen für dessen Zukunft angemessen und vernünftig erscheint.

1. Das Pathische im sozialen System

Wenn bei einem sozialen System die politische Identität vorherrscht, wie bei einer Partei oder einer Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen, finden sich bei den Mitgliedern gemeinsame Vorstellungen über den Ursprung, die Geschichte und die heutige Grenze ihrer Gruppe. Es sind Abläufe festgelegt, um die Legitimität der Autorität und die gemeinsame Willensbildung zu sichern, und stimmen alle Mitglieder weitgehend darin überein, wie sich ihr soziales System in einem Netzwerk politischer Beziehungen zukünftig positionieren soll. Die soziologische Identität eines sozialen Systems wie einer Behörde oder einer Institution des Gesundheitswesens ist dadurch gekennzeichnet, dass die Mitglieder zwar ebenfalls durch Vorstellungen über Ursprung, Geschichte und heutige Grenze ihrer Gruppe untereinander verbunden sind, dass aber eine von allen anerkannte Ordnung besteht, um die Arbeit zu verteilen, die soziale Schichtung zu bewahren und die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Untergruppen auszugleichen. Alle Mitglieder streben für die Zukunft einen ähnlichen Zustand des sozialen Systems an, ohne sich im Unterschied zur kulturellen Identität mit dem sozialen System zu identifizieren oder darauf stolz zu sein, ihm anzugehören. Bei einem sozialen System wie einer Familie oder einem Freundeskreis mit seiner psychologischen Identität erinnern sich die Mitglieder an dieselben früheren affektiv bedeutsamen Erlebnissen. Ihnen ist das Anliegen gemeinsam, gegenwärtige emotionale Bedürfnisse zu befriedigen, und sie ähneln sich darin, wie sie sich zukünftig in ihrem sozialen System aufeinander beziehen wollen, um ihr Wohlbefinden zu sichern. Auch wenn sich verschiedene kollektive Identitäten unterscheiden lassen, gehen sie ineinander über oder verbinden sich miteinander, sodass sich in einem sozialen System mal mehr, mal weniger Eigenschaften der verschiedenen kollektiven Identitäten finden lassen. Das gültige Ideal der Körper- und Affektkontrolle: Gleich allen anderen sozialen Systemen bestimmt in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende die kollektive Identität des Makrosystems nicht nur das Denken, Fühlen und Empfinden seiner Mitglieder, sondern auch ihre Körperlichkeit (vgl. Schroer 2005: 18). Die kollektive Identität gibt ein kulturell gültiges Ideal der Körper- und Affektkontrolle vor, an dem die Mitglieder des Makrosystems sich beim Umgang mit ihrem Körper meist unbewusst ausrichten. Wie die Körperlandschaften der Mitglieder zeigen, ist in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende der soziale Körper immer weniger davon geprägt, dass der volkswirtschaftliche Mehrwert durch harte körperliche Arbeit erzielt werden muss. Seit die Arbeitsprozesse durch technologischen Fortschritt grundlegend verändert bzw. ganz in Staaten der damals sogenannten Dritten Welt ausgelagert wurden, wird das Mühevolle von Arbeit, nämlich Schweiß, Schmerz, Quälerei, Erschöpfung oder Verletzung, im Sport körperlich erfahren. Was früher bei der Arbeit vom Leben erzwungen und leidvoll ertragen wurde, wird im Sport freiwillig gesucht, stolz vorgezeigt und lustvoll überwunden (vgl. Bette 2005: 306–314). Der soziale Körper dient nicht mehr der Produktion, sondern dem Konsum; er wird eingesetzt, um den körperlichen Genuss zu steigern. Im Austausch mit der Welt werden mit viel Zeit und großem Aufwand körperlich vermittelte Freuden gesucht, sei es durch exotische Eindrücke auf Fernreisen, exquisit zubereitete Speisen oder erregende sexuelle Praktiken, durch besonders kraftvolle Automobile, durch Schmuck und Kos-

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metik oder durch eine betonte Natürlichkeit des Ausdrucks. Allgegenwärtig sind in den Medien die Bilder der Idealkörper (vgl. Vernaldi 2007). An ihnen richten die Mitglieder des sozialen Makrosystems ihren eigenen Körper aus, ohne das angestrebte Ziel infolge seiner Unbestimmtheit je zu erreichen. An die Stelle der Kontrolle von außen ist die Selbstkontrolle getreten, und über den eigenen Körper zu verfügen, gilt als Zeichen des freien Menschen (vgl. Schroer 2005: 19–21, 35). Der Körper ist nicht mehr hinzunehmendes Schicksal, sondern von den Eingeweiden bis zur äußeren Hülle der Haut mittels Entschlackung, Diät, Muskeltraining, Schönheitschirurgie, Piercing oder Tattoos zu gestalten. An Geräten der Fitness-Studios und in Wellness-Oasen ist ein makel- und faltenloser, glatt gestylter Körper zu schaffen, der andauernde Jugendlichkeit vermittelt (vgl. Klein 2005: 85–87). Unzulänglichkeiten des Körpers werden schnell als subjektives Versagen, Ausdruck von Unwissenheit oder Hinweis auf Armut gedeutet. Im Alltag herrscht eine zunehmende Konformität des äußeren Erscheinungsbildes, die bewusst gesucht wird (vgl. Schroer 2005: 36). Da soziale Zugehörigkeit über die Gestalt des Körpers erreicht wird, lohnt es sich, Arbeit in den Körper zu stecken. Er ist ein Gut, das zu pflegen und zu bewahren und mit dem Gewinn zu erzielen ist. Mit seiner Erscheinung kann der Körper Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung sichern, gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen oder beruflichen und privaten Erfolg verschaffen. Der Körper ist momentaner Ausdruck des Selbst und zeitüberdauernder Garant der Identität (vgl. Lyon/Barbalet 1994: 51, auch Schroer 2005: 22, 33). Bei diesem angestrebten Ideal der Körper- und Affektkontrolle kommt der Medizin neben der Krankenbehandlung die wesentliche Aufgabe zu, den Körper gesund zu erhalten. Aus Furcht vor dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit erscheint es angezeigt, jeden Körper dem medizinischen Handeln zu unterwerfen. In gesellschaftlichem Einvernehmen wird durch Vorsorgeuntersuchungen und eine Diagnostik zum Ausschluss des Unwahrscheinlichen die Angst der Gesunden gebannt, ihre körperliche Unversehrtheit zu verlieren, und zu diesem Zweck werden große finanzielle Mittel aufgebracht. Weiterhin kommt der Medizin die Aufgabe zu, körperliche Merkmale, die eine Person aus dem sozialen System ausschließen könnten, zu beseitigen oder erst gar nicht sich ausprägen zu lassen, während es gleichzeitig Mode ist, dem Körper selbstbestimmt Attribute zuzufügen, welche die Einzigartigkeit des Subjekts betonen. Der Körper als Objekt: In der kollektiven Identität der westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende wird der Körper vor allem als Objekt begriffen. Indem ihm als Zeichen Bedeutung zukommt, geht von ihm eine politische Botschaft aus, doch als Abbild eines Diskurses ist er entmaterialisiert (vgl. Turner 1994: 28). Von der Bürgerrechtsbewegung in den USA, dann seit den 1970er Jahren von der Frauenbewegung, der Behindertenbewegung und der Schwulen- und Lesbenbewegung wird gefordert, dass jeder Person unabhängig von ihrer Körperlichkeit gleiche Rechte zukommen. In der Annahme, dass der Körper äußeren Kräften ausgesetzt ist, die auf ihn einwirken, denen er sich unterordnet und die ihn entsprechend zurichten, wird er zum Gegenstand der Repräsentation, ohne selbst lebendig zu sein (vgl. Lyon/Barbalet 1994: 48f., 54). Zugleich ist der Körper mehr und mehr das Mittel, mit dem Subjekt sich sich sozial verortet. Als sein Objekt wirken auf ihn innere Kräfte ein, wenn er nach den Identitätszielen des Subjekts inszeniert wird, um es in einem sozialen System bestmöglich zu positionieren. So wie

1. Das Pathische im sozialen System

es als Stärke angesehen wird, den eigenen Körper zu beherrschen, gilt es als Schwäche, im Schmerz, in der Krankheit oder im Alter dem körperlichen Sein ausgesetzt und dem gewohnten Selbst entfremdet zu sein. In dem Maße, wie der Körper dazu dient, die anerkannten Lebensvorstellungen zu verwirklichen, gewährleistet er Zugehörigkeit zu einem sozialen System. Mit Programmen der Prävention und Rehabilitation wird versucht, sie selbst dann noch zu erhalten, wenn Umstände eingetreten sind, die das verlangte körperliche Funktionsniveau gefährden oder beeinträchtigen (vgl. Bette 2005: 304). Doch geht dadurch, dass es als Sache des einzelnen Subjekts gesehen wird, den Körper so zu kontrollieren, dass er den kulturellen Standards genügt, das Bewusstsein dafür verloren, dass der Körperlichkeit als solcher eine soziale Dimension zukommt. Da so viel Wert darauf gelegt wird, einen Körper zu haben, und so wenig bedacht wird, was es heißt, körperlich in der Welt zu sein, tritt zurück, dass menschliche Kultur stets an lebendige Körper gebunden ist (vgl. Csordas 1994: 6). Selbst wenn der Körper nicht bewusst empfunden wird, ist er in die Umwelt eingebettet und mit ihr in ständiger Wechselbeziehung verbunden (vgl. Fuchs 2013: 85); nicht nur beim Säugling sind Körper und Welt nicht voneinander getrennt. Ebenso wie die äußere Welt auf den Körper wirkt, gestaltet er sie. Er schafft die Wirklichkeit, in der das Subjekt lebt. Nur wer körperlich in der Welt ist, weiß um die Grenzen des Körpers und um seine Verletzlichkeit. Gerade in den Zeiten, in denen das selbstverständliche Einssein von Körper und Welt gestört ist, entsteht ein Empfinden dafür, was es heißt, einen Körper zu haben oder ein Körper zu sein. Den Körper vor allem als Objekt zu begreifen und gleichzeitig das körperliche Sein in der Welt kaum zu bedenken, scheint mit einer Sehnsucht nach Unsterblichkeit einherzugehen. Der Tod wird in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende als Fehlschlag abgelehnt, und die Trauer über ein verlorenes Leben ist verpönt (vgl. Aries 1982: 736–751). Die pathische Erfahrung: Vor diesem Hintergrund macht die kollektive Identität, wie sie in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende besteht und wie sie sich in den einzelnen sozialen Subsystemen der Familie, des Betriebs, der Gemeinde und in den Institutionen des Gesundheitswesens oder des Sozialwesens wiederfindet, den Verlust der gewohnten Körperlichkeit für das Subjekt zu einer Erfahrung, die von den fünf pathischen Kategorien (vgl. Weizsäcker 2005), nämlich dem Müssen, Dürfen, Wollen, Sollen und Können, geprägt ist. Als pathisch wird die Erfahrung bezeichnet, der ein Geschehen zugrunde liegt, welches das Subjekt in seinem ganzen Sein erfasst und sein Selbst überwältigt (vgl. Waldenfels 2002: 14–98). In namenloser Furcht, trunken vor Glück, rasend vor Wut, ekelerfüllt, beherrscht von Trauer, sprachlos vor Überraschung – das Subjekt ist ganz Körper. Es ist von dem Geschehen, das ihm widerfährt, beherrscht, ohne es als solches benennen zu können. Dieses Etwas, das noch nicht als ein Etwas erscheint, hat keine Bedeutung, lässt sich noch nicht in Worte fassen, aber im äußersten Fall bricht die Welt des Subjekts dadurch zusammen. In seinem Sein ist es von etwas angerührt, ohne sich dem entziehen zu können, es weiß nicht, was und wie ihm geschieht, nur, dass ihm gerade etwas widerfährt, das es erschüttert. Bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung ist die pathische Erfahrung mehrstufig. Es sind die Augenblicke, wo unerklärliche Vorgänge im somatischen Körper das Erleben bestimmen und es dem Subjekt

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nicht gelingt, sich davon abzulenken; wo ihm der Arzt als der anerkannte Spezialist für veränderte Körperzustände die Diagnose eröffnet und das bisherige Leben hinfällig wird; wo infolge der Krankheit oder durch deren kulturell übliche Behandlung der Körper auf schier unerträgliche Weise schmerzt, ängstigt und beschämt.1 Plötzlich wird dem Subjekt durch das Verhalten seiner Alterität deutlich, dass es nun dauerhaft als Behinderter leben muss, es erlebt sich deswegen abgewertet, verlassen oder ausgegrenzt und ist dem Geschehen um seinen Körper ratlos und hilflos ausgesetzt. Es weiß nicht mehr eigenständig zu handeln, scheitert, mit dem umbrochenen Körper sein gewohntes bisheriges Leben fortzuführen, und bekommt dadurch vermittelt, was alles nicht mehr geht. Sein Selbstwert ist abhanden gekommen, es bleibt nur noch Verzweiflung und die Tabletten, um sich mit ihnen das Leben zu nehmen. Es sind aber auch die Augenblicke, wo das Subjekt im Wissen und Können der Ärzte und der anderen Spezialisten des Gesundheitswesens Halt findet und Schmerz, Angst und Scham nachlassen. Das Subjekt begegnet einer Alterität, die vor seiner Andersheit nicht zurückschreckt und es als Person annimmt, wie es ist. Auf einmal gelingt etwas mit dem umbrochenen Körper, was es bis dahin vergeblich versucht und schon nicht mehr zu hoffen gewagt hat.

1.2

Der psychische Körper: pathisch

Formen des pathischen psychischen Körpers: In den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende besteht kaum ein Zweifel daran, dass das überwältigende Pathos des körperlichen Umbruchs auf die körperlichen Veränderungen zurückzuführen ist. Das Subjekt vermag seinen Körper nicht mehr als Objekt zu nutzen, ihn für den Konsum einzusetzen und mit ihm den körperlichen Genuss zu steigern. Vielmehr ist es ganz Körper. Es erlebt dessen andauernde Gegenwart als einen Schmerz in verschiedenen Qualitäten und Intensitäten. Es veranschaulicht Missempfindungen mit dem Laufen von Ameisen, benennt die Folge seines Sehverlusts allgemeinverständlich als blind, bezeichnet die von ihm gespürte veränderte Muskelspannung fachlich richtig als Spastik, erklärt den körperlichen Zustand mit Begriffen, die es von den Spezialisten des Gesundheitswesens gehört hat, auf Deutsch als Schlaganfall oder in der Fachsprache als Infarkt und betrachtet sein fehlendes Bein poetisch, als wäre jemand gestorben. Im Austausch mit der Welt überwältigt seine Körperlichkeit das Subjekt immer wieder aufs Neue. Die durch den körperlichen Umbruch entstandene Wirklichkeit passt nicht zur bisherigen Ordnung des psychischen Körpers mit dem neuropsychologischen Körperschema, dem psychodynamischen Körperselbst und dessen bewusster Repräsentation, der Körperidentität. Weil das Körperschema noch nicht darauf eingestellt ist, was mit der Halbseitenlähmung zu schaffen oder besser zu unterlassen ist, bringt sich das Subjekt in Lebensgefahr, als es seinem Bedürfnis nach einem Bad in der Ostsee nachgibt. Es hat die veränderten Körpergrenzen noch nicht verinnerlicht, sodass es 1

Die Beispiele, die hier und im Folgenden genannt werden, greifen Zitate aus den Erfahrungsberichten auf, die in den vorhergehenden Kapiteln belegt wurden. Sie werden deshalb nicht noch einmal neu nachgewiesen.

1. Das Pathische im sozialen System

Schmerzen durchdringen, als es sich reflexhaft mit dem Bein abstützen will, aber auf den kaum verheilten Stumpf fällt. Da das Körperschema noch nicht speicherte, dass bei dem künstlichen Darmausgang die Exkremente nicht auf die Straße laufen, sondern von einem Beutel aufgefangen werden, traut sich das Subjekt nicht aus dem Haus. Im Körperselbst bekommt das Subjekt Angst, als es seine Lunge spürt, weil es ein Körperteil ist, der eigentlich keine Aufmerksamkeit verlangen sollte. Umgekehrt erschrickt es, als es die eigene Hand nicht als Teil seines Körpers erkennt, denn dass sie eigentlich zu ihm gehört, weiß es in der bewussten Repräsentation seines Körperselbst. Wenn es im Rollstuhl mit einem Handtuch auf dem Kopf über den Hof geschoben wird, schämt es sich – das entspricht nicht dem Bild, wie es von der Alterität gesehen werden will. Nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit überwältigt das Selbst im Austausch mit der Welt aber auch die Freude, als die Beinprothese das fehlende Glied täuschend echt zu ersetzen vermag, oder der Stolz, als mit einer der Blindheit angepassten Technik ein Vortrag erstmals frei gehalten werden kann. Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden: In der Begegnung mit der Alterität wirkt der psychische Körper pathisch, weil das Subjekt sich bewusst ist, dass es nach dem körperlichen Umbruch nicht mehr dem gesellschaftlichen Ideal entspricht und keinen fitten und makellosen Körper aufweist. Das Subjekt weiß, dass sein Körper es vielmehr als blind zu erkennen gibt oder als Schlaganfallopfer verrät. Selbst wenn es dies der Alterität überhaupt nicht mitteilen will, wird von ihr wahrgenommen, wie sich der Umbruch in seinen Körper eingeschrieben hat. Die Alterität sieht den Rollstuhl, in dem das Subjekt sitzt, seinen kleinschrittigen Gang, mit dem es sich fortbewegt, oder die fahle Farbe seines Gesichts. Die Alterität hört auch das Zischen seiner Beatmungsmaschine. Sie kann nicht anders, als ihrer Wahrnehmung die Bedeutung zu geben, welche die kollektive Identität des sozialen Systems nahelegt, nämlich dass sie einem chronisch Kranken oder Behinderten begegnet, seine Lebens- und Welterfahrung zählt wenig. In der Begegnung gibt die Alterität dem Subjekt zu verstehen, dass sie sich ihm überlegen fühlt, weil sein Körper umbrochen ist. In der Pflege wird das Subjekt missbraucht. Den Ärzten dient es vor allem als Objekt der wissenschaftlichen Forschung. Am Arbeitsplatz ist es nur noch ein kranker, aber nicht mehr ein fähiger Kollege. Wegen seines unsicheren Gangs wird es auf der Straße für betrunken angesehen, festgehalten und zum Trinken gezwungen. Auf Grund seiner Körperlichkeit erscheint es der Alterität als Gemüse. Dem Subjekt wird vorgehalten, nicht dafür dankbar zu sein, dass es überhaupt noch lebt. Oder die Alterität meidet ganz, ihm zu begegnen. Das Subjekt sieht das Entsetzen in den Augen seiner Mitpatienten, bevor sie sich abwenden, wenn sie in der Gymnastikhalle seinen umbrochenen Körper erblicken. Es bekommt mit, wie Besucher vor seinem Krankenzimmer umkehren, ohne eingetreten zu sein, und es hört die Ärzte, die nicht mit ihm reden, sondern über es. Dazu weckt die Begegnung mit der Alterität Vorerfahrungen, die das Subjekt früher schon überwältigten. Als es in ein Krankenhaus aufgenommen wird, muss es daran denken, wie es dort als Kind enttäuscht und von einem Arzt belogen wurde. Wenn dem Subjekt das Rauchen verboten wird, wird es daran erinnert, wie unsicher es als Jugendlicher war, bis es die Zigaretten für sich entdeckte, und dass der Vater trotz der Diagnose Lungenkrebs bis zu seinem Tode weiter rauchte. Ebenso lässt die Begegnung mit

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der Alterität das Subjekt ahnen, wie sie sich zukünftig auf ihn beziehen wird. Es muss sich damit befassen, dass der Gestalt des umbrochenen Körpers nachteilige seelische Eigenschaften zugeschrieben werden. Auch wird seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten ein Wert für das soziale System abgesprochen. Die Alterität empfindet es zudem als peinlich oder sieht es als unschicklich an, wie sich sein umbrochener Körper mit der Welt austauscht. Zum Körpererleben, das in der Begegnung mit der Alterität pathisch wirkt, gehört aber nicht nur das Leid, sondern auch die Krankenschwester, die nachts dem schlaflosen Patienten aufmerksam zuhört und ihm ein Buch empfiehlt, das ihn sein Körpererleben verstehen lässt, ebenso der Mitpatient, der in der Kur vermittelt, wie mit dem Rollstuhl elegant umzugehen ist, oder das Kind, das sich im Unterschied zu den Erwachsenen vom umbrochenen Körper nicht abschrecken lässt und neugierig fragt, was es denn mit dem Sterben auf sich hat. Auswirkungen auf die psychische Steuerung: Außer im Austausch mit der Umwelt und in der Begegnung mit der Alterität wird das Körpererleben dadurch pathisch, dass das Subjekt den umbrochenen Körper nicht mehr in dem Maße zu steuern weiß, wie es üblicherweise als normal erachtet wird. Vielmehr muss das Subjekt wahrnehmen, dass es seinen Körper nicht mehr beherrscht. Ausgehend vom vertrauten Körperselbst stellt es fest, dass es seinem Körper trotz aller Anstrengung nicht gelingt, willentlich sensomotorische Handlungen auszuführen. Die Finger treffen die Tasten der Schreibmaschine nicht, der Arm hängt bloß herab und rührt sich nicht. Nach dem körperlichen Umbruch vermag das Subjekt nicht wie gewohnt selbstbestimmt zu handeln. Es ist erschüttert, dass es wegen seiner Infusionen auf ein Rollgestell angewiesen ist oder dass es gewaschen werden muss. Im Krankenhaus wird ihm jetzt ein Zimmer mit unerträglichen Mitpatienten zugewiesen – auch kann es nicht mehr einfach in den Keller gehen, um sich eine Flasche Wein auszusuchen. Dem Subjekt dient sein Körper nicht mehr. Während es früher die Nahrungsaufnahme genossen hat, schmeckt ihm das Essen nicht mehr oder langweilt es sogar. Wenn es mit dem umbrochenen Körper die Straße entlang geht, wird ihm nicht mehr bewundernd nachgepfiffen, sondern spürt es in seinem Rücken den mitleidigen Blick, der ihm wegen seines Hinkens zugeworfen wird. Der Körper, den das Subjekt mit Stolz betrachtete, weil er den Kindern ihr Leben geschenkt hat, scheint sie nun zu gefährden, da er möglicherweise die Ursache des eigenen Leids an sie vererbt hat. Auch ist das Subjekt nicht mehr in der Lage, den Körper nach seinem Bedürfnis zu gestalten: Es ist ihm unterworfen und muss ihm folgen. Gegen seinen Willen versinkt es ins Koma, dämmert vor sich hin oder wechselt ständig zwischen Ohnmacht und Wachen hin und her. Doch auch bei der willentlichen Steuerung des umbrochenen Körpers kommt es zu einem Körpererleben, von dem das Subjekt im Positiven überwältigt wird. Entgegen seiner Befürchtung, was für ein eingeschränktes Leben es mit dem umbrochenen Körper leben muss, kann es mit ihm Außerordentliches erleben. Es ist von Stolz erfüllt, wenn ihm mit der Beinprothese die Ski-Abfahrt auf der schwarzen Piste gelingt. Beglückt entdeckt das Subjekt nach der Erblindung, wie reichhaltig es die Welt allein durch das Hören wahrzunehmen vermag. Auswirkungen auf das bewusste körperliche Empfinden: Mit dem veränderten Körper ist es dem Subjekt nicht mehr möglich, selbstvergessen körperlich zu sein, und wehrt sich

1. Das Pathische im sozialen System

lange dagegen. Es braucht zwei Jahre, bis es endlich realisiert, dass es fortan das Leben als Blinder führen wird. Es hat die Folgen des Schlaganfalls zwar wahrgenommen, aber anfangs geglaubt, sie schnell zu überwinden. Bewusst erleben zu müssen, einen Körper zu haben, der nach den Vorstellungen des sozialen Systems als unzulänglich und minderwertig gilt, wirkt pathisch. Das Subjekt erblickt seine Gestalt im Spiegel und erschrickt vor ihr. Es sieht den eitrigen und blutigen Stumpf seines Beines und findet selbst, dass er furchtbar aussieht. Die Erschütterung, dass ein Weg, den die Anderen als kurz bezeichneten, ihn an den Rand seiner Kräfte bringt, nimmt das Subjekt mit. Es spürt, wie bedrohlich seine Lage ist, als die Beatmungsmaschine ein Ersatzteil benötigt und sich die Lieferfirma gleichgültig zeigt. Als das Subjekt erstmals in einen Rollstuhl umgesetzt wird, bemächtigt es die Erkenntnis, von nun an ein Behinderter zu sein. Es ist verzweifelt, weil es mit dem umbrochenen Körper seine bisherigen Lebensziele nicht erreicht, und hasst sich selbst, weil sein Körper nicht mehr genügt. Auch in der sozialen Dimension wird sich das Subjekt bewusst, dass es einen Körper hat, und zwar einen, der von dem der Anderen abweicht. Weil das Subjekt merkt, dass ihnen das Verständnis für seine Körperlichkeit fehlt, will es ihnen nichts von seinem Erleben erzählen. Wenn die Alterität bewundert, wie gut es mit seinem umbrochenen Körper umgeht, fühlt es sich nicht erkannt. Selbst bei den Mitpatienten erregt sein Körper Unbehagen. Bei der Visite im Krankenhaus wird sein Körper den anderen Ärzten demonstriert und mit der Symptomatik vorgestellt. Auf der Behörde wird nur der Rollstuhl gesehen, aber nicht die Person, und das Anliegen abgelehnt. Wegen seiner Körperlichkeit wertet sich das Subjekt schließlich selbst ab. Es erlebt sich als aussätzig. Hat ein unbestimmtes Empfinden von Minderwertigkeit. Fühlt sich wertlos und als Frau uninteressant. Unterlässt das eigentlich notwendige Benutzen einer Gehhilfe, weil es seiner Meinung nach in den Augen der Alterität peinlich aussieht. Ebenso ist möglich, dass das Subjekt diejenigen abwertet, deren Körperlichkeit der seinen gleicht. Selbst blind vermeidet es den Kontakt zu anderen Blinden. Mit M. Parkinson diagnostiziert, verbindet es mit einer Parkinson-Erkrankung schlurfende, sabbernde, sprachgeschädigte alte Frauen und Männer. Wenn das Subjekt den umbrochenen Körper bewusst wahrnimmt, macht es aber auch pathische Erfahrungen, die es bestärken. In seiner Verzweiflung, die gewohnte Körperlichkeit verloren zu haben, sprechen ihm Angehörige Mut zu. Es fühlt sich getröstet, als es sich nach langem Zögern erstmals unter Blinden befindet. Da das Subjekt damit rechnet, wegen seines umbrochenen Körpers von den anderen Urlaubern abgelehnt zu werden, überrascht es ihre Hilfsbereitschaft. Die Haltung der Krankenschwester, die sachlich den künstlichen Darmausgang versorgt, lindert die Verzweiflung. Auswirkungen auf die Selbstbestimmung: Ein weiterer Grund, dass das Erleben des umbrochenen Körpers pathische Erfahrungen vermittelt, liegt darin, dass das Subjekt es nicht schafft, über seinen Körper selbst zu bestimmen, wie es von den Mitgliedern des sozialen Makrosystems verlangt ist. Weil das Subjekt seine gewohnte Körperlichkeit verloren hat, lebt es fortan mit Angst. Nach dem Herzinfarkt ängstigt ein Zucken in der linken Seite, das nicht einzuordnen ist, und nach mehreren knapp überlebten Blutvergiftungen fürchtet das Subjekt bei geringsten körperlichen Anzeichen den Beginn einer weiteren. Da das Subjekt mit der Halbseitenlähmung nach einem Schlaganfall das Treppensteigen noch nicht wieder erlernt hat, schreckt es vor Treppen zurück. Als

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ihm sein Blindsein bewusst wird, bekommt es Panik. Davon abhängig, dass die von ihm beanspruchten Hilfsmittel richtig gewartet sind, befürchtet das Subjekt deren Versagen. Nach dem körperlichen Umbruch merkt das Subjekt, dass es einer Alterität ausgesetzt ist, die es fortlaufend in seinem Handeln beschneidet. Von den Ärzten bekommt es verboten, wieder tauchen zu gehen. Es darf nicht seinen Beruf ausüben und Krankenschwester werden. Wegen der verordneten Medikamente soll es keine Kinder kriegen, wird deswegen vom Partner verlassen und muss die ganze Lebensplanung ändern. Darauf angewiesen, dass die Anderen einfühlsam reagieren, schluckt es seinen Ärger herunter, wenn sie eine falsche Hilfe anbieten. Des Weiteren muss das Subjekt erkennen, dass es auch seinem Körper ausgesetzt ist. Die Reduktion der Medikamente nimmt ihm die Eigenständigkeit und macht es hilfsbedürftig. Durch die Lähmung eines Armes erlebt es sich der autonomen Persönlichkeit beraubt. Wegen der Behinderung ist es so beansprucht und müde, dass es seinen täglichen Pflichten nicht nachkommen kann. Seine Körperlichkeit hindert es daran, für sich zu sorgen. Es ist verzweifelt, weil die Alterität seine Aufgaben übernimmt, wird durch ihr Verhalten erst recht auf sein Behindertsein aufmerksam und leidet darunter, sie beanspruchen zu müssen. Da das Subjekt so sehr von der gesellschaftlichen Vorstellung abweicht, selbstbestimmt über den Körper zu verfügen, fühlt es sich wie tot. Es sieht sich als Krüppel. Als Blinder fühlt es sich wie ein Klumpen Fleisch, der von der Alterität herumgekarrt wird. In seinem Selbstwert ist es so verletzt, dass es niemanden an sich heranlässt. Es lässt sich gehen und bezichtigt sich des Selbstmitleids. Auch bezogen auf die Selbstbestimmung vermittelt der umbrochenen Körper nicht nur ein pathisches Körpererleben. Die Freude des Subjekts ist groß, wenn es gleich den Anderen für sich eintreten und sich seine Selbständigkeit im Alltag beweisen kann. Es ist erleichtert, dass ihm nach dem Schlaganfall das Sprechen unverändert möglich ist. Seine Entdeckung, durch das Blindsein weniger als zuvor von einer männlichen Konditionierung geleitet zu werden, macht es glücklich. Auswirkungen auf den Umgang mit den Grenzen des Lebens: Während diejenigen wegen ihrer Körperlichkeit gefeiert werden, die im Sport Grenzen überwinden, ist für das Subjekt das Körpererleben pathisch, weil ihm der umbrochene Körper die Begrenztheit des Lebens aufzeigt. Vor Schmerz kann das Subjekt das Zimmer nicht verlassen. Es kann nicht selbst essen, sondern muss gefüttert werden und hat nur noch so viel Kraft, um zwei Stunden am Tag zu sprechen. Die pathische Erfahrung kann auch darauf beruhen, dass das Subjekt das Vertrauen in die Welt und sein Gefühl von Geborgenheit in der Welt verliert und mit der medizinischen Diagnose sämtliche Lebensvorstellungen- und planungen in Frage gestellt sind. Das »Ich kann nicht mehr« des Todes, das ihm sein umbrochener Körper vermittelt, nimmt das Subjekt völlig in Beschlag, ohne dass es über die Worte verfügt, um sich mitzuteilen. Es fühlt sich in seiner Blindheit begraben. In den Versprechungen der Medizin findet es keinen Trost. Selbst mit dem Arzt des Vertrauens kann es nicht über seine Angst sprechen, sterben zu müssen. Das Subjekt wird von der Angst des möglichen Todes überwältigt. Es stellt für sich fest, dass es sich in der Welt der Sterbenden befindet, die Alterität in der Welt der Lebenden. Von der veränderten Körperlichkeit entsetzt will das Subjekt nicht mehr leben. Es sieht keinen Sinn mehr und versucht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Es bekommt

1. Das Pathische im sozialen System

den Tod anderer mit, die einen vergleichbaren körperlichen Umbruch erlebten, an der Krankheit starben oder sich deswegen suizidierten. Wiederum gibt es beim Umgang mit den Grenzen des Lebens ein Körpererleben, das pathisch wirkt und das Subjekt bestätigt. Die Begrenztheit des Lebens zu erfahren, bereichert sein Identitätsempfinden. Das Subjekt erkennt, was ihm wesentlich ist. Es gibt seine überzogenen Pläne auf und findet einen neuen Lebenssinn. Weil es erfahren musste, wie schnell das Leben vergehen kann, schenkt das Subjekt der Alterität Zeit. Es steht ihr in ihrem Leid bei und leitet sie an, es zu überwinden. Auswirkungen auf die innere Freiheit: Schließlich wirkt der psychische Körper pathisch, weil das Subjekt annimmt, es habe mit der gewohnten Körperlichkeit die Freiheit zur Selbstinszenierung verloren. Während in der Pop-Kultur das Ideal des subjektiven Ausdrucks verherrlicht wird, bleibt es auf die bei ihm diagnostizierte Krankheit bezogen. Das Subjekt verhandelt, hadert mit dem umbrochenen Körper und kann nicht annehmen, was geschehen ist. Im Krebs sieht es seinen Drehbuchautor, der ihm seine Rolle vorschreibt, und versucht hartnäckig, die MS in Griff zu bekommen. Um nicht von seinem umbrochenen Körper beherrscht zu sein, wehrt das Subjekt seine Wirklichkeit ab und bleibt ihr gerade dadurch ausgeliefert. Selbst dann verleugnet es noch die Schwere der Verletzung, wo die Amputation seines Beines bereits stattgefunden hat. Trotz fortschreitender Immobilität durch einen M. Parkinson hält es für sich am Bild des Körpers in Bewegung fest. Von den Tatsachen unbeeindruckt redet das Subjekt sich ein, dass die medizinische Behandlung erfolgreich und sein Leiden grundsätzlich aufgehoben ist. Es bewahrt sich das magische Gefühl, in allen Situationen die völlige Körperkontrolle zu haben. Die Prognose des Arztes, dass es über kurz oder lang auf den Rollstuhl angewiesen sein wird, will es nicht hören. Außer sich und überwältigt von dem ungewohnten körperlichen Geschehen gibt das Subjekt seine innere Freiheit auf. Bereitwillig unterwirft es sich den Vorschriften des Krankenhauses, fragt nicht nach, wozu es die verordneten Medikamente einnehmen soll, und überlässt dem Arzt die Entscheidung über seine Behandlung. Innerlich unfrei geworden lebt das Subjekt in der Angst, die Alterität, auf die es bezogen ist, zu verlieren, falls es mit seinem umbrochenen Körper sichtbar werden sollte. Durch den Beutel für den Darminhalt fühlt es sich minderwertig und zieht sich aus allen Beziehungen zurück. Es verheimlicht die Erkrankung an MS und lügt den Bekannten etwas über seine Beschwerden vor. Zur pathischen Erfahrung, neben dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit auch die Freiheit verloren zu haben, gehört aber auch der Neubeginn. Dann meidet das Subjekt nicht mehr die, die ihm gleichen, sondern entschließt sich, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Es leidet nicht mehr unter dem Verlorenen, sondern sucht sich Aufgaben, die zu seinem umbrochenen Körper passen. Die Benutzung eines Rollstuhl verbindet das Subjekt mit einem Training für die paralympischen Spiele. Während es in seiner Mobilität eingeschränkt bleibt, unternimmt es zahllose Reisen. Selbst beinamputiert, beschafft es Prothesen für Kriegsversehrte in Kroatien. Durch seine Körperlichkeit lässt sich das Subjekt nicht behindern. Bewegungs- und sprachlos diktiert es mit dem Blinzeln seiner Augen ein ganzes Buch. Als Blinder hält es eine Professur für Religionspädagogik und wird mehrfach Vater.

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Körperlicher Umbruch

1.3

Fremdheit und Ordnung, subjektiv und kollektiv

Zonen der Fremdheit: In den zahllosen Augenblicken des pathischen Erlebens reißt die Wahrnehmung der veränderten Körperlichkeit das Subjekt aus der Selbstvergessenheit. Wo es vor dem körperlichen Umbruch mit seinem Körper und mit sich selbst eins gewesen ist, ohne sich dessen bewusst zu sein, hat es nun einen Körper, der ihm nicht passt. In seinem Selbst fühlt es sich fremd, es lassen sich fünf Zonen der Fremdheit unterscheiden (vgl. Waldenfels 2002: 182, 186–285): Die erste Zone der Fremdheit ist die invasiv-evasive. Mit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ist dem Subjekt das Selbst entglitten. Noch ohne benennen zu können, was ihm geschieht, ist es dem ausgesetzt, was in seinem Körper abläuft, und von Gefühlen beherrscht, die damit einhergehen. Es ist ohne Bewusstsein. Es ist der Schmerz. Es ist die Angst, und es ist die Verzweiflung. Auch ist es das Leid, das es in diesem Augenblick gerade trifft. Noch unfassbar ist das Geschehnis, von dem sein Körper besetzt wird, das in das Selbst eingedrungen ist, ohne dass dessen Verlust bereits empfunden werden kann. Die zweite Zone der Fremdheit ist die ekstatische. Mit dem körperlichen Umbruch gerät das Subjekt außer sich und sein Körperselbst. Es weiß nicht mehr, wie dem veränderten Körper zu vertrauen ist, oder muss ihm wegen seiner Dysfunktionalität eine Aufmerksamkeit widmen, die es von anderer Tätigkeit ablenkt. Weder findet es in sich ein Verständnis dessen, was ihm geschieht, noch ist es in dem aufgehoben, was es tut, um seinem Leid abzuhelfen. Frühere Überzeugungen, was seine Identität ausmacht, gelten nicht mehr, und seine Beziehungen zur Alterität vermitteln ihm ein unvertrautes Selbst. Die dritte Zone der Fremdheit ist die duplikative. Im körperlichen Umbruch spaltet sich das Selbst auf, und das Fremde im Selbst wird in den Körper oder in die Alterität verlegt, ohne dass das Subjekt sich davon zu lösen vermag. Die Kränkung durch den umbrochenen Körper erfolgt durch die Ärzte, wenn sie die Diagnose stellen, die Benutzung eines Rollstuhls empfehlen oder nicht mit dem Kranken, sondern über ihn sprechen. Der Zorn, das bisherige Leben nicht mehr fortführen zu können, richtet sich auf die, die abfällig über Behinderte reden, sie unterdrücken oder mit ihnen die Begegnung vermeiden. Die vierte Zone der Fremdheit ist die extraordinäre. Mit dem körperlichen Umbruch gerät das Subjekt jenseits dessen, was regelgerecht und sinnhaft innerhalb der von ihm gewohnten Ordnung gesagt oder erfahrbar ist. Das Subjekt kommt in einen Stillstand des Werdens, wo es seine Welt nicht mehr deuten kann, wo es sich beziehungs- und handlungsunfähig von der Alterität zurückzieht und wo ihm der Sinn seines Lebens verloren geht. Aber in seinem Selbst findet es auch Antworten auf den Verlust der gewohnten Körperlichkeit, die es über das Gewohnte seiner Ordnung hinausführen können. Die fünfte Zone der Fremdheit ist die liminale. Durch das Widerfahrnis wird im Subjekt freigesetzt, was bis dahin unterhalb der Schwelle seiner Ordnung abgelegt und verborgen war. Es zeigt sich nun erschreckend ungeordnet, gleichermaßen verstörend wie verheißungsvoll. Wenn es psychiatrisch auffällig, depressiv, suchtmittelabhängig oder suizidal wird, beunruhigt es sich und die Alterität, auf die es bezogen ist. Von unterhalb der Schwelle stammen aber auch die Träume, die mit ihren Bildern dem Subjekt

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einen Weg aus der Krise weisen, und seine Vorerfahrungen, auf die es sich in seiner Not bezieht. Die subjektive pathische Erfahrung: Außer dem psychischen Körper lassen sich beim körperlichen Umbruch die pathischen Erfahrungen auch weiteren Bereichen des Erlebens zuordnen, aus denen das Subjekt sein Selbstverständnis gewinnt: Subjektiv pathisch wirkt erstens die unterbrochene Kohärenz, etwa das nicht zu beendende Schütteln des Körpers wegen des Schmerzes in den Röhrenknochen, die Unendlichkeit der immer langsamer vergehenden Zeit, die Infusionen mit den Medikamenten statt der geplanten Flitterwochen in Florida oder die zwei Sonnen, die beim Aufwachen eines Morgens ins Schlafzimmer scheinen, zusammen mit noch weiteren Doppelbildern, die Illusion und Wirklichkeit ununterscheidbar machen. Zweitens vermittelt die veränderte Alterität dem Subjekt pathische Erfahrungen. Zu nennen sind beispielsweise der Augenarzt, der, ohne es anzukündigen, mit Nadel und Faden ein Auge zunäht, der Krankenpfleger, der nicht kommt, nachdem der Blasenkatheter herausgerutscht und das Bett von Urin durchnässt ist, die Mitpatienten ohne Haare, mit wachsbleichen, ausgemergelten Gesichtern, in denen der Tod steht, oder die Kollegen, die auf den Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen drängen. Drittens macht die aufgehobene Narration das subjektive Erleben pathisch. Es ist unter anderem die unverständliche Sprache der Spezialisten mit ihren Besonderheiten in Stil und Ausdruck oder die fehlende Bereitschaft der Alterität, der Geschichte des Kranken zuzuhören und seine Gefühle auszuhalten, die das Selbst überwältigen und von sich entfremden. Viertens ergeben sich subjektive pathische Erfahrungen aus der Anwendung von Ressourcen. Der Misserfolg der durchgeführten Operation, die fehlende Kostenerstattung durch die Krankenversicherung oder die alptraumhafte Vorstellung, künftig den Rollstuhl benutzen zu müssen, können das Selbst so beherrschen, dass das Subjekt nicht weiß, wie es auf das Geschehen antworten soll. Fünftens wirkt schließlich die Entäußerung der angepassten Identität auf das Subjekt pathisch. Es ist möglich, dass durch das Erzählen und Handeln des umbrochenen Körpers das ganze Sein des Subjekts erfasst wird, wie beispielsweise durch die Resignation infolge der verweigerten zwischenmenschlichen Begegnung und durch die Strapazen, die damit einhergehen, die Einladung zu einer Reise angenommen zu haben. Auch die hektische Ungeduld beim Lösen einer Aufgabe oder die Aufforderung, als Rollstuhlfahrer bitte die Tanzfläche zu verlassen, können das Selbst beherrschen. In den verschiedenen Bereichen kommt es aber auch zu pathischen Erfahrungen, die das Selbst positiv besetzen. Das Subjekt empfindet eine vage Lust am Gewaschenwerden. Der aufnehmende Arztes strahlt eine verlässliche Sicherheit aus. Der überraschende Brief eines Unbekannten, der Ähnliches erlebte macht Mut. Nach langer Ungewissheit löst die zutreffende Diagnose die Anspannung. Das Subjekt ist dankbar über die respektvolle Aufnahme in ein Wohnheim für hoch gelähmte, geistig vitale Menschen. Es wird durch die Resonanz auf eine persönliche Mitteilung beglückt. In der Erschöpfung nach dem Training freut es sich darüber, dass der eigene Körper mehr ist als ein Wrack oder Ersatzteillager. Die kollektive pathische Erfahrung: Zum subjektiven Pathos des körperlichen Umbruchs gehört das kollektive. Während im Mikrosystem der Familie oder eines Betriebs

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das ganze soziale System bereits erschüttert wird, wenn ein einzelnes Mitglied durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung seine gewohnte Körperlichkeit verliert, braucht es im Makrosystem der Gesellschaft dafür unvorhergesehene Ereignisse, welche die Körperlichkeit vieler ihrer Mitglieder schädigen – Ereignisse wie einen Unfall in einem Atomreaktor, eine Naturkatastrophe oder eine Epidemie (vgl. Dott 2020: 99–106). In diesen Fällen wird das soziale Makrosystem von dem Fremden und Widrigen bestimmt, das mit einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit einhergeht. Auf verschiedene Weise kann es zu einer kollektiv pathischen Erfahrung kommen: Erstens ergibt sie sich daraus, dass die Kohärenz des sozialen Systems unterbrochen ist. Angesichts der Lebensbedrohung prallen unterschiedliche Auffassungen, welche Bedeutung dem Geschehnis zukommt und wie am besten mit ihm umzugehen ist, aufeinander. Da das Verhalten der Mitglieder des sozialen Systems von Panik bis Verleugnung reichen kann, ist der gewohnte Konsens in Frage gestellt. Alltägliche Abläufe sind nicht mehr gewährleistet; Rituale, die ansonsten Gemeinschaft bilden und Sinn stiften, sind aufgehoben. Die Zukunft, die sich die Mitglieder gemeinsam vorgestellt haben, gilt nicht mehr. Kollektiv pathisch wirkt zweitens, dass die Alterität innerhalb des sozialen Systems verändert ist. Andere Personen als sonst werden wichtig. Fachleute, die bis dahin im Verborgenen wirkten, treten an die Öffentlichkeit, während andere in Bedeutungslosigkeit versinken. Mit den Erwartungen an Schutz und Hilfe sind die einen überlastet, während andere als Sündenböcke gebrandmarkt werden. Misstrauen schleicht sich in die zwischenmenschlichen Beziehungen, Nähe wird ganz vermieden, und unerbittlich um den eigenen Vorteil gekämpft. Als drittes ist die kollektiv pathische Erfahrung auch dadurch bedingt, dass die bisherige Narration aufgehoben ist. Was sonst im Alltag erzählt wurde, erscheint nun unerheblich; andere Themen bestimmen den öffentlichen Diskurs. Oft nur schwer ist dabei zu unterscheiden, was auf Wahrheit beruht, was verdreht oder erlogen ist. Vermutungen mischen sich mit Behauptungen, Gewissheiten mit Gerüchten. Das Gespräch kehrt immer wieder zu dem Geschehnis zurück, welches das Bestehen des sozialen Systems gefährdet. Zum Vierten ist ein kollektiv pathisch Erleben darauf zurückzuführen, dass Ressourcen beansprucht werden müssen. Dadurch werden allen Mitgliedern des sozialen Systems Einschränkungen abverlangt. Die Spannungen innerhalb des sozialen Systems verstärken sich, falls diese Ressourcen nicht allen im selben Maß zur Verfügung stehen. Zudem können sie trotz großen Aufwands nur eingeschränkt wirken oder die in sie gesetzten Hoffnungen enttäuschen. Schließlich wirkt fünftens kollektiv pathisch, dass die Identität des sozialen Systems prozesshaft dem Widerfahrnis angepasst werden muss. Denn nach dem Ereignis ist nichts mehr wie davor. Die finanzielle Last dauert an, die Angst ist nicht weg, und der Bruch in der Gesellschaft nicht behoben. Eine neue verlässliche Ordnung, die das Geschehene einbezieht, ist noch nicht entstanden, und noch weniger sind die dafür erforderlichen Maßnahmen umgesetzt. Wie bei der pathischen Erfahrung des Subjekts kann aber bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit auch ein soziales System im Positiven überwältigt werden. Zuvor Unbekannte überraschen mit ihrer Hilfsbereitschaft. Schwache Mitglieder der

1. Das Pathische im sozialen System

Gesellschaft erfahren ungeahnte Solidarität. Es wird eine Dankbarkeit für das Leben gezeigt, die Verletzlichkeit menschlichen Seins anerkannt oder übergeordnete Werte neu bestimmt. Jenseits der Grenzen der Ordnung: Das Fremde und Widrige, das bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht nur im Subjekt, sondern auch im sozialen System ein pathisches Erleben bedingt, verweist auf das Ideal der Körper- und Affektkontrolle und ihre Grenzen. Wie jede Ordnung schafft auch die kulturell übliche Körper- und Affektkontrolle in einem gleichzeitigen Ein- und Ausgrenzen ein Drinnen und ein Draußen, ein Davor und ein Danach; denn sie beseitigt das Ungeordnete nicht, sondern grenzt es nur vorübergehend aus (vgl. Waldenfels 2002: 241–252). Nachdem durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung mit Staunen oder Schreck, mit Neugier oder Angst eine Grenze überschritten worden ist, können sich infolge des ungewohnten körperlichen Geschehens die Mitglieder des sozialen Systems nicht mehr nur auf das beziehen, was ihnen innerhalb ihrer Ordnung vertraut ist, sondern müssen sich mit dem befassen, was dort nicht vorhanden ist. Dabei lassen sich Außen- und Binnengrenzen unterscheiden, die durch einen Verlust der gewohnten Körperlichkeit überschritten werden. Die Binnengrenzen hegen innerhalb der Ordnung die Bereiche relativer Andersheit ein, wo zwar etwas unbekannt ist oder etwas fehlt, das sich aber ergänzen lässt und nicht die Ordnung als solche gefährdet. Bei einem körperlichen Umbruch ist zwar eine Genesung des Körpers nicht möglich, aber die körperliche Veränderung bedroht nicht das Leben. Die Außengrenzen dagegen kennzeichnen die Bereiche absoluter Fremdheit, wo die gestörte Ordnung nicht mehr zu beheben ist. In ihnen ist eine Heilung nicht mehr möglich und das Weiterleben wenn nicht des somatischen Körpers, dann zumindest des sozialen gefährdet. Da die Bereiche absoluter Fremdheit mit der bestehenden Ordnung unvereinbar sind, werden sie wie zum Beispiel im Falle lebensverändernder Krankheit nicht freiwillig betreten. Die Spezialisten des Gesundheitswesens, die sich dort aufhalten, werden dafür bezahlt. Die Außen- und Binnengrenzen des sozialen Systems, die bei einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit überschritten werden, lassen sich näher bestimmen (vgl. Waldenfels 2002: 244–248): Ihre Durchlässigkeit besagt, inwieweit der Austausch über die Außen- und Binnengrenzen geduldet, gefördert oder behindert wird. Bei einem körperlichen Umbruch hängt es davon ab, ob die körperlichen Veränderungen als Gefährdung der Ordnung auftreten oder als solche empfunden werden. Gelten sie als bedrohlich, sind im Alltag die Barrieren für chronisch Kranke oder Behinderte hoch, und sie bleiben ausgegrenzt. Der Schärfegrad der Grenzen besagt, ob es an ihnen ein Entweder-Oder bzw. ein Mehr-oder-Weniger gibt. Je nach dem, ob sie bei den körperlichen Veränderungen scharf oder unscharf gezogen sind, wird klar zwischen krank und gesund, behindert und nichtbehindert unterschieden oder finden sich gleitende Übergänge im Umgang mit der von der Norm abweichenden Körperlichkeit. Die Dauerhaftigkeit der Grenzen besagt schließlich, für welche Zeit sie bestehen. Bei körperlichen Veränderungen können sie im sozialen System für längere Zeit oder auf Dauer gezogen sein oder vorübergehend aufgehoben, allmählich verschoben und plötzlich durchbrochen werden. Dann verändert sich, was als chronisch krank oder behindert angesehen wird, und das Verhalten gegenüber den Betroffenen wandelt sich.

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Körperlicher Umbruch

Wenn durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit Außen- oder Binnengrenzen überschritten werden und absolut Fremdes oder relativ Anderes aufscheint, ist damit noch nicht besagt, wie durchlässig, scharf und dauerhaft die Grenzen des sozialen Systems im Weiteren gezogen sein werden. Es hängt davon ab, wie sehr es die kollektive Identität erschüttert, dass der Körper nicht mehr wie gewohnt dem Konsum zu dienen vermag oder Objekt der Selbstinszenierung sein kann. Weil der umbrochene Körper das Ausgegrenzte der Ordnung bewusst werden lässt, ist er für das betroffene Subjekt und die Alterität un-heimlich (vgl. Freud 1999: 254–263). Solange die kollektive Identität dadurch gestört ist, dauert das pathische Erleben im sozialen System an. Kollektives Antworten: Nicht nur das subjektiv pathische Geschehen des körperlichen Umbruchs, sondern auch das durch ihn bedingte kollektiv pathische verlangt eine Antwort. Es ist nicht möglich, darauf nicht zu antworten, wobei das bewusste NichtAntworten auch eine Antwort sein kann. Erst die Antwort gibt dem als sinnlos erlebten Geschehnis eine Geschichte, die über den Augenblick des Getroffenseins hinausgeht, in die Vergangenheit zurückweist und eine Zukunft aufzeigt. Um überhaupt subjektiv und kollektiv antworten zu können, muss das Widerfahrnis bestimmt worden sein (vgl. Waldenfels 2002: 54–62). Indem sich zu dem Getroffensein ein Wovon fügt, erhält das Überwältigende, Verletzende und zuerst nicht Fassbare eine Bedeutung. Wenn sich das Erleiden in ein Antworten wandelt, wird der nicht beherrschbare Affekt, der durch das Widerfahrnis bedingt ist, zu einer Aufforderung. Dabei gehen Aufforderung und Antwort ineinander über, kommt es zwischen ihnen zu Vor-, Rück- und Übergriffen. Jedes Antworten zerteilt sich in ein Was, worauf geantwortet wird, und in ein Wem, dem geantwortet wird. Es knüpft an Bekanntes an und geht zugleich darüber hinaus. Indem das Antworten eine gesetzte Ordnung überschreitet, ist es schöpferisch und erfinderisch. Falls es gelungen ist, erscheint es passend, und aus dem Passenden kann wieder gewählt werden, was besonders einfallsreich erscheint (ebd.: 238f.). Dabei lassen sich in der kollektiven Identität fünf verschiedene Wege bezeichnen, wie auf das Fremde, das durch ein Widerfahrnis freigesetzt wird, geantwortet und es wieder in eine Ordnung eingefügt wird (vgl. Douglas 1975: 57–59):2 Erstens lässt sich das Fremde wissenschaftlich betrachten. Indem es systematisch erforscht, als Spezies bestimmt und klassifiziert wird, verliert es seinen Schrecken. Da damit die Fremdheit beseitigt, die Andersheit aber nicht aufgehoben wird, bleibt die Frage, wie mit denen, welche die Andersheit verkörpern, weiter umzugehen ist. Gleichermaßen lässt sich begründen, sie der Norm anzugleichen oder in der Andersheit zu belassen. Während ersteres mit Behandlung oder Erziehung, mit Therapie oder Pädagogik einhergeht, kann letzteres Pflege und Fürsorge in Heimen und Anstalten bedeuten, Verwahrung und Überwachung in Lagern und Ghettos, aber auch Integration und Inklusion. Zweitens ist es möglich, das Fremde zu vernichten und die Fremden zu töten, um die Ordnung wieder herzustellen. Es ist der Versuch, sich dauerhaft und endgültig dessen zu entledigen, von dem angenommen wird, man könne es nicht bei sich behalten. Dann wird in der Gesellschaft eine Minderheit von der Mehrheit umgebracht, 2

Dort ist aus ethnologischer Sicht beschrieben, wie sogenannte primitive Gesellschaften mit dem Unreinen und dem Schmutz, also allem, was die Ordnung stört, umgehen. Eine frühere Fassung der folgenden Aufzählung findet sich in Walser-Wohlfarter/Richarz 2018: 224f.

1. Das Pathische im sozialen System

die Existenz von Menschen mit Behinderungen vor oder nach der Geburt beendet oder geschwiegen, wenn Zehntausende, die es darauf anlegen, die gesicherte Außengrenze eines Staates zu überwinden, dabei ihr Leben verlieren. Drittens kann das Fremde oder die Andersheit der Anderen benutzt werden, um das Wir-Gefühl einer Gemeinschaft zu stärken und den Zusammenhalt des sozialen Systems zu sichern. Diesen Zweck erfüllen Horrorgeschichten und Science Fiction, dienten am Ende des 19. Jahrhunderts die Freakshows und tun es heute noch das TrashFernsehen oder bestimmte Formen des Tourismus. Viertens kann das Fremde oder die Andersheit der Anderen abgewertet werden. Das Fremde gilt dann als für das Leben an sich gefährlich wie Flüchtlinge, die als potentielle Terroristen angesehen werden, bestimmte Formen der Ernährung und die dadurch bedingte Körperlichkeit oder früher die Onanie. Oder das Fremde wird für moralisch schlecht erklärt, wie ein nichtheterosexuelles oder nichtmonogames Sexualverhalten und die Sicherung des Lebensunterhalts durch Hochstapelei, Betrug und Diebstahl. Schließlich kann das Fremde ästhetisch beurteilt werden, sodass asymmetrische Körperformen, Adipositas oder Schmucknarben als hässlich gelten. Fünftens lässt sich das Fremde und die Andersheit der Anderen künstlerisch darstellen. Indem zur Wahrnehmung gebracht wird, was sich noch nicht in Begriffe fassen lässt, wird das Fremde in das soziale System eingeführt. Was so entsteht, ist für viele verstörend, weil es nicht dem Gewohnten entspricht, etwa in den 1920er Jahren Bilder der Kriegskrüppel in der Malerei von Otto Dix oder um die Jahrtausendwende Videokunst mit Filmen realer Gewalt. Wie in der kollektiven Identität auf den Verlust gewohnter Körperlichkeit geantwortet wird, bestimmt, welche Bedeutung dem körperlichen Umbruch subjektiv wie kollektiv zukommt, wie das Subjekt mit dem umbrochenen Körper umzugehen vermag oder wo die Grenzen verlaufen, mit denen im sozialen Makrosystem das kulturell gültige Ideal der Körper- und Affektkontrolle geschützt wird, und wie sie ausgestaltet sind. Historische Tradition: Die Antworten, die in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende möglich sind, wenn es zu einem Verlust der gewohnten Körperlichkeit kommt, stehen in einer historischen Tradition.3 Seit sich mit der Aufklärung eine von der Vernunft geleitete Körper- und Affektkontrolle sozial durchgesetzt hat, werden alle abweichenden Körperlichkeiten mit Aufmerksamkeit bedacht (vgl. Stammberger 2011: 13–53, Schumacher 2008: 18–83, Krüger-Fürhoff 2001: 25–48, Schmidt 2001: 97f.). Als die Menschen im 17. Jahrhundert begannen, sich darin zu vergleichen, wie sie ihre Körper- und Affekte kontrollieren, und sich nach dem Grad ihrer Naturbeherrschung zu unterscheiden, erwarteten sie, jenseits der ihnen bekannten Welt auf Monster zu stoßen, nämlich auf Wesen, die ihnen ähnlich und zugleich auch fremd sind. Im 18. Jahrhundert wurde dann das Fremde als Monstrosität inmitten der Gesellschaft entdeckt. Als ein Beispiel für das Unregelmäßige der Natur, aber als ein Teil der bestehenden Ordnung und als eine von vielen Möglichkeiten des Lebens wurde es von den Machthabern in ihren Kunst- und Naturalienkabinetten zusammen mit den anderen Merkwürdigkeiten der Welt gesammelt. Je mehr dadurch das Abweichende in den 3

Eine kürzere Fassung des folgenden Abschnitts findet sich in Walser-Wohlfarter/Richarz 2018: 223f.

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Blick geriet, zeigte sich, dass das Andere der Vernunft nicht ab-, sondern zunahm und dass auch der Körper als ein versehrter zu denken war. Als ein schon von der Wirklichkeit bedrohtes Ideal wurde im Klassizismus die Schönheit des weißen Jünglings verherrlicht, wie sie in der antiken Statue des Lichtgotts Apolls dargestellt ist, und zugleich im Torso die Qualität des Unvollkommenen entdeckt. Im 19. Jahrhundert wurden die Monstrositäten zu Objekten der Wissenschaft. Nun wurde nicht mehr der Körper als Ganzes betrachtet, sondern zerlegt in seine Fragmente. Diese wurden vermessen und seziert, in Systemen kategorisiert und damit wieder zu einem Teil der Welt, der zwar nicht als vernünftig angesehen, doch mittels der Vernunft zu beherrschen und sinnhaft zu handhaben war. Den Krüppeln, Lahmen und Bresthaften widmeten sich die Orthopäden, den Irren und Schwachsinnigen die Psychiater, den Wilden die Ethnologen, Anthropologen und Rassenkundler, den Perversen und Urlingen die Sexualwissenschaftler, den Verbrechern die Kriminologen, den Frauen die Gynäkologen und den Kindern die Pädagogen. In der Pathologie wurden tote Körper mit ihren Missbildungen, Wucherungen und Zersetzungen in Spiritus eingelegt und aufbewahrt. Durch die Fotografie als dem neuen Medium der bildhaften Darstellung entstand eine Ikonografie des Hässlichen, die das Krankhafte ebenso entpersönlichte wie das kulturell Andere. In Tierparks und Völkerschauen wurde das Fremde zur Belehrung und Unterhaltung des Publikums vorgeführt, während die Kunst das Außerordentliche des Virtuosentums feierte. Nachdem das Normale zu einem Ordnungsprinzip geworden war, wurden im 20. Jahrhundert Maßnahmen ergriffen, um die relativ Anderen zu normalisieren oder das absolut Fremde zu vernichten. In Missionsschulen wurde versucht, die sogenannten Wilden oder Primitiven durch christlichen Glauben und abendländisches Wissen zu zivilisieren. Die gefallenen Mädchen wurden in Erziehungsheime eingesperrt, um sie zu bessern. Bei Sexualverbrechen sollte durch Kastration der Trieb gezähmt werden. Psychisch Kranke erhielten Behandlungen mit Malariaerregern, Elektrokrämpfen und Insulin, bekamen Schnitte ins Gehirn und Arzneien von Opiaten bis Neuroleptika, um die vor sich hin Dämmernden wacher und die Tobenden ruhiger zu machen. Bei Umsiedlungen ganzer Völker wurde der Tod billigend in Kauf genommen und in Aktionen, in denen die Anderen als Geisteskranke, Juden, Armenier, Zigeuner oder wie auch immer kategorisiert, erfasst und ausgesondert wurden, gezielt herbeigeführt. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, als in Pop und Sport weltweit die Stars der Körperbeherrschung höchste Anerkennung genossen und der Idealkörper sich demokratisiert hatte, wurde schließlich mit dem Konzept der Integration versucht, den Anderen, die es noch immer oder sogar mehr denn je gab, einen Platz in der Gesellschaft zu geben, und ihnen mit dem Konzept der Inklusion das Recht zugestanden, dass sie von Anfang an zu den sozialen Systemen dazugehören. Subjektives Antworten: Die historische Tradition des Umgangs mit dem umbrochenen Körper beeinflusst, wie das Subjekt in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende auf den Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit antwortet. Jedes Mal geschieht es aus einer Position der absoluten Fremdheit. Für das Subjekt ist es eine Fremdheit, die weder auf Eigenes oder Allgemeines zurückzuführen noch mit dem Gegenteil gleichzusetzen ist. Sie ist zudem doppelt. Dem Subjekt ist nicht nur das Widerfahrnis fremd, auf das es antworten muss, sondern durch dessen Erleben ist es auch seinem Selbst

1. Das Pathische im sozialen System

entfremdet. Daher kommt die erste Antwort meist von außen: Ein Arzt bestimmt das körperliche Geschehen, welches das Selbst mit Schmerz, Angst und Scham beherrscht, und von ihm wird es als Krankheit gedeutet, nachdem er die Anamnese erhoben und zur Diagnostik den Körper vermessen, mit Instrumenten in sein Inneres geblickt und die Abweichungen von der Norm befundet hat. Ist dann das körperliche Geschehen benannt, legt der Arzt mit der von ihm verschriebenen Therapie fest, wie darauf zu antworten ist, und bringt zugleich das für das Subjekt Fremde und Widrige in eine Ordnung zurück. Im Erleben des Subjekts ist damit dem körperlichen Geschehen aber nicht unbedingt ein Sinn gegeben. Auch wenn es nun weiß, wie die körperlichen Veränderungen heißen und zu erklären sind, und sich infolge der Prognose, die sich aus dem medizinischen Wissen zu seiner Krankheit erstellen lässt, auf Kommendes einstellen kann, hat der Verlust der gewohnten Körperlichkeit noch keine wirkliche Bedeutung; das Subjekt vermag daher nicht, auf ihn zu antworten. Bis es für sich eine passende Antwort gefunden hat, bleibt es in dem von der Gesellschaft zugebilligten Moratorium und von seinen üblichen sozialen Verpflichtungen entbunden. Durch eine ärztliche Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit, eine stationäre oder ambulante Rehabilitation oder eine befristete Erwerbsunfähigkeitsrente erhält das Subjekt die Zeit, die es braucht, um das pathische Erleben zu überwinden und die ungültig gewordene Vorstellungen des Selbst aufzuheben. Wenn es beginnt, die Veränderungen seines Körpers unter lebensweltlicher, zeitlicher und inhaltlicher Perspektive mit seiner Identität zu verknüpfen, wird das körperliche Geschehen von einem Widerfahrnis zur Aufforderung. Um dann darauf zu antworten, hat das Subjekt zwei Möglichkeiten: Zum einen kann es den Verlust der gewohnten Körperlichkeit animativ bewältigen, bestimmt vom körperlichen Geschehen und dessen Wahrnehmung unternimmt es ohne vorgefassten Plan, sondern Schritt für Schritt das, was ihm im Augenblick hilfreich erscheint und erst im Rückblick seine Richtung erhält. Zum anderen kann es den körperlichen Umbruch agentiv gestalten, die übergeordnete Ziele seiner Identität geben ihm vor, wie es mit dem körperlichen Geschehen umgeht und wie es den umbrochenen Körper in sein Leben einbezieht. Auf die eine wie die andere Weise löst sich das Subjekt aus der absoluten doppelten Fremdheit, die mit dem körperlichen Umbruch verbunden ist: Es bestimmt sein persönliches Widerfahrnis, macht sich bewusst, was ihm geschehen ist und wer es ist, und gewinnt Identität. Dabei kann das Subjekt jedoch mit seiner Antwort in einen Widerspruch zu dem geraten, wie üblicherweise kollektiv auf die pathische Erfahrung des Verlusts der gewohnten Körperlichkeit geantwortet wird.

1.4

Vom absolut Fremden zum relativ Anderen

Wege der Wandlung: In den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende vollzieht sich die Wandlung des absolut Fremden, das mit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit in die Ordnung des Selbst und des sozialen Systems eingebrochen ist, in das relativ Andere, mit dem ein Weiterleben innerhalb des sozialen Makrosystems möglich ist, überwiegend in den Institutionen des Gesundheitswesens und des Sozialwesens. Weitgehend unbemerkt geschieht diese Wandlung tagtäglich in den Krankenhäusern,

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Körperlicher Umbruch

den Praxen der Haus- und Fachärzte, der Logopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten, den ambulanten Pflegestationen oder den Büros der Rentenversicherungsanstalten und Versorgungsämter. Auch wenn alle Mitglieder des Makrosystems mit ihren Steuern und Sozialabgaben dazu beitragen, diese Institutionen zu unterhalten, wissen die meisten nur ungefähr, was in ihnen vorgeht. Sie sind beruhigt, dass es sie gibt, und gleichzeitig froh, sie nicht beanspruchen zu müssen. Solange diese Institutionen mit ihren Spezialisten und Fachleuten nicht benötigt werden, bestehen sie als soziale Exosysteme unterhalb der Schwelle der gesellschaftlichen Bewusstheit und sind, so ihr Sinn bezweifelt wird, immer wieder Sparmaßnahmen ausgesetzt. Doch nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit wird mit ihnen das subjektive und kollektive Pathos wieder in eine Ordnung eingefügt. Dass sich dabei einmal mehr das kulturell anerkannte Ideal der Körper- und Affektkontrolle in seinen eigenen Körper einschreibt, vermag das Subjekt kaum zu erkennen, sieht es doch sein Leid medizinisch ausreichend erklärt. Es ist erleichtert, dass sich seine Beschwerden lindern lassen. Was dem Subjekt als Rettung erscheint, folgt der kollektiven Identität des sozialen Makrosystems. Auch wenn die verschiedenen Angebote, die pathische Erfahrung zu überwinden, als Wahrheiten vermittelt werden, die unabhängig von der Gesellschaft, gewissermaßen objektiv, bestehen, sind die natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse, mit denen der Verlust der gewohnten Körperlichkeit vom absolut Fremden zum relativ Anderen gewandelt wird, nicht von dem sozialen System zu trennen, in dem sie entstanden sind. Sie können wahr sein und trotzdem beinhalten, dass es weitere, ebenso sinnvolle Wege gibt, die aber unter den gesellschaftlichen Umständen nicht weiter verfolgt wurden und sich nicht in der kollektiven Identität niederschlugen (vgl. Hacking 1999: 96–110). Falls in einem körperlichen Umbruch nicht die verlorenen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der Selbstbestimmung gesehen werden, wie es in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende üblich ist, sondern sich in der körperlichen Besonderheit die kosmische Ordnung manifestiert, wie es in einigen indigenen Gesellschaften angenommen wird (vgl. Fadiman 1997), sind die für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden körperlichen Veränderungen sogar nicht einmal ein pathisches Geschehen, vom Subjekt oder vom sozialen System muss dann auch nicht eigens darauf geantwortet werden. Das Angebot der Medizin: In den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende zeigt die Medizin den anerkannten, kaum hinterfragten Weg auf, wie angemessen auf das Widerfahrnis des körperlichen Umbruchs zu antworten ist (vgl. Fuchs 2013: 87). Sie erfüllt damit eine Aufgabe, die zu früheren Zeiten von der Religion übernommen wurde. Wie der christliche Glaube mit der Institution der Kirche verspricht nun die medizinische Wissenschaft den Verzweifelten eine Heilung bzw. eine Linderung ihrer Not, wenn sie sich in ihrem Leid an die Einrichtungen des Gesundheitswesens wenden. Indem die Ärzte als die Spezialisten für die negativ von der Norm abweichenden Körperzustände sich dem geschädigten somatischen Körper zuwenden, hilft die Medizin dem körperlich Fremden und Widrigen ab. In mehreren Schritten, deren Ablauf genau festgelegt und in der alten Ärzteweisheit »Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt« zusammengefasst ist, wird das pathische Geschehen in eine übergreifende Ordnung gestellt.

1. Das Pathische im sozialen System

Durch die Anamnese, die Inspektion des Körpers und seine fachgerechte Untersuchung, das Messen seiner Funktionen, den apparativen Blick in sein Inneres und den Vergleich der gewonnenen Befunde mit der Norm erhält das Leid einen Namen, er bricht dessen Macht. Die Diagnose gibt an, wie das Überwältigende und Unfassbare des körperlichen Umbruchs zu erklären und im weiteren zu behandeln ist. Selbst wenn die Diagnose schwer wiegt und die aus ihr abgeleitete Prognose Unheil voraussagt, kann sie erleichtern, besteht nun doch Gewissheit, was dem Subjekt fehlt und was es erwarten hat: Das Widerfahrnis ist als Krankheit benannt. Das pathische Erleben, bis dahin unfassbar, wird zu einem Gegner, der bekämpft werden kann. Es kriegt eine Geschichte, die erklärt, wie es dazu gekommen ist, und erhält eine Zukunft, die vorhersehbar macht, wie es sich weiter entwickeln wird. Mitunter sind die Namen, mit denen der Verlust der gewohnten Körperlichkeit gefasst wird, wie Leukämie, M. Parkinson, Multiple Sklerose oder Amyotrophe Lateralsklerose, mit solch großem Schrecken verbunden, dass selbst die Spezialisten des Gesundheitswesens sich lange scheuen, sie auszusprechen. Doch die Namen der Krankheiten geben dem Subjekt und dem sozialen System gleichermaßen vor, wie sie sich zum körperlichen Umbruch zu verhalten haben. Hat es früher das Sündenbekenntnis gebraucht, damit die Seele vom Priester gerettet und vor ewiger Verdammnis bewahrt wird, ist jetzt die Bereitschaft verlangt, die Rolle des Kranken anzunehmen, damit behoben wird, was dem Körper widerfahren ist. Mit ihrer Fachsprache objektivieren die Spezialisten des Gesundheitswesens, was sie gefunden haben. Sie schaffen einen Abstand vom Leid, geben den Beschwerden der Kranken Bedeutung und betrachten sie wissenschaftlich. Sie wissen, was zu tun ist. Das Subjekt hofft, bald das Krankenhaus zu erreichen. Es wartet auf den Arzt, dass er kommt. Es vertraut seiner Ruhe und verlässt sich auf seine Kompetenz. Es mag die Schwestern und Pfleger. Die Logopädin wird zum Schutzengel. Nach der Operation sind die Schmerzen weg, und mit der Cortison-Stoßtherapie verschwindet die Lähmung. Das Ordnende der Behindertenrolle: Wenn die körperlichen Veränderungen durch die Medizin nicht zu heilen waren, die Behandlung die frühere, unversehrte Körperlichkeit nicht wiederherzustellen vermochte, somit das pathische Körpererleben nicht überwunden ist und die Entfremdung von Körper und Selbst andauert, bietet das soziale Makrosystem einen weiteren Weg, die Rolle des Behinderten. Dieser Weg, das Widerfahrnis des körperlichen Umbruchs wieder in eine Ordnung einzufügen, besteht seit den 1970er Jahren, als mit dem Konstrukt Behinderung erstmals länger bestehende, negativ bewertete körpergebundene Abweichungen verschiedener Art in einem Begriff zusammengefasst wurden. Sie entlastet das Subjekt von der Verpflichtung, sich für die körperliche Abweichung und deren Folgen rechtfertigen zu müssen, und gibt ihm zugleich einen Anspruch auf Leistungen, mit denen es seine Teilhabe am sozialen Leben, d.h. an Bildung, Arbeit, Wohnen, Verkehr und Freizeit, erreichen, erhalten oder verbessern kann (vgl. Cloerkes 2007: 67–76, 165–168). Die Behindertenrolle anzunehmen, lehrt das Subjekt, was es heißt, mit einem somatischen Körper zu leben, der von den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems abgewertet wird. Welche Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung dieser Weg bieten kann, wird dem Subjekt auf verschiedene Weise von der Alterität vermittelt: Informell

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in zwischenmenschlichen Begegnungen oder institutionell im Peer Counseling weisen erfahrene Behinderte weniger erfahrene darauf hin, was es braucht, um den Alltag mit einem umbrochenen Körper zu bewältigen. In Selbsthilfegruppen oder in Fachgesellschaften wie der Deutschen Schlaganfallhilfe wird von den Betroffenen Wissen über therapeutische und rehabilitative Maßnahmen ausgetauscht, um von sogenannten Professionellen unabhängiger zu werden. In den Interessenvertretungen Selbstbestimmt Leben kommen behinderte Menschen zusammen, um ihr Leben selbst bestimmt zu führen und nicht in Heimen betreut werden zu müssen.4 Von der Behindertenbewegung als einem sozialen Subsystem, bei dem die politische Identität überwiegt, wird zudem statt karitativer Zuwendung die Integration bzw. Inklusion von behinderten Menschen in die Gesellschaft gefordert. Dazu kommen weitere soziale Systeme mit unterschiedlicher kollektiver Identität, die verschiedene Möglichkeiten aufzeigen, wie sich mit dem umbrochenen Körper erfüllt leben lässt: Behindertensportvereine machen behinderten Menschen Angebote, die zum einen den Freizeitbereich betreffen, zum anderen auf einen Wettkampf mit anderen vorbereiten, der bis zum paralympischen Niveau reichen kann. In den Disability Studies befassen sich behinderte und nichtbehinderte Wissenschaftler unter sozialen, kulturellen und historischen Gesichtspunkten interdisziplinär mit dem Konstrukt Behinderung und ziehen in einem soziokulturellen Modell gesellschaftliche Bedingungen und kulturelle Gepflogenheiten im Umgang mit einem geschädigten Körper heran (vgl. Dederich 2007: 9–29). In den Disability Arts wird unabhängig davon, ob der Künstler behindert ist oder nicht, künstlerisch thematisiert und ästhetisch dargestellt, was es heißt, behindert zu sein, während unabhängig von der gewählten Thematik Behindertenkunst das Schaffen von behinderten Künstlern zusammenfasst. So sehr der Weg, den die Behindertenrolle anbietet, um mit der veränderten Körperlichkeit klar zu kommen, sich von dem der Medizin unterscheidet, sind sie sich darin ähnlich, dass sie beide versuchen, die subjektive und kollektive Entfremdung infolge des körperlichen Umbruchs dadurch zu überwinden, dass dessen Folgen für das Subjekt oder für das soziale System verringert werden. Während die medizinischen Maßnahmen auf den somatischen Körper bezogen sind, bezieht sich die Behindertenrolle auf den sozialen Körper. Verstehen durch Narrative: Ein weiterer Weg, auf das Widerfahrnis des körperlichen Umbruchs zu antworten, der sich dann eher auf den psychischen Körper bezieht, ergibt sich aus den Narrativen, die im sozialen Makrosystem über Krankheit und Kranke bzw. Behinderung und Behinderte sowie über die Medizin und die Spezialisten des Gesundheitswesens verbreitet werden. In deutschen Medien hat sich die Zahl dieser Narrative zwischen 1955 und 1995 deutlich erhöht, sodass sie in den 1990er Jahren um ein Vielfaches größer war als in den 1950er und 1970er Jahren. Auch ihr Inhalt hat sich verändert (vgl. Soll et al. 1999: 21–24): 1955 wurden meist die Erfolge der Medizin und besonders der Chirurgie, die ärztliche Leistung und die Fortschritte der Wissenschaft

4

Angaben folgen der Selbstdarstellung der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. https://isl-ev.de/index.php/component/content/article/45-organisation/das-origin al-isl/51-geschichte [abgerufen am 13.03.2020]

1. Das Pathische im sozialen System

und Technologie sowie die Bedrohung durch unheilbare Krankheiten wie Poliomyelitis hervorgehoben, während Behinderte als abhängig von der sozialen Umwelt und den Ärzten sowie als angewiesen auf Unterstützung, Mitleid und Hilfe dargestellt wurden. 1975 war es dann bereits ziemlich anders: Nun standen die Fehlhandlungen der Ärzte und deren Auswirkungen auf die Patienten im Vordergrund, wurden Ärzte als Halbgötter in Weiß demontiert und Patienten zu Schadensträgern ihrer Fehlleistung. Behinderte wurden allerdings nicht als emanzipierte Mitbürger, sondern weiterhin als Opfer bzw. Empfänger positiver und negativer Zuwendung durch Nichtbehinderte beschrieben. Um das Jahr 1995 lieferten sachliche Berichte über neue wissenschaftliche Erkenntnisse bei der medizinischen Behandlung Informationen, welche die Betroffenen unabhängig von den Spezialisten machten, während Behinderte sich selbstbewusst an die Öffentlichkeit wandten, für ihre eigenen Belange oder die von anderen eintraten, außergewöhnliche, von ihnen nicht erwartete Aktivitäten ausführten und Prominente offen über ihre Krankheiten sprachen. Ebenfalls nahm die Zahl der literarischen Werke, die sich mit Krankheit befassten, seit Mitte der 1970er Jahre zu. Inhaltlich betrachtet war Krankheit dabei oft der Anlass, das bisherige Leben grundlegend in Frage zu stellen und nach neuen Lebensformen zu suchen (vgl. Anz 1989: 55–57). Der Kranke erschien wie im Werk Thomas Bernhards als ein Grenzgänger, der zugleich der Welt der Krankheit und der der Gesundheit angehörte, unter ihnen lebte und hier wie dort fremd war, oder als ein Rückkehrer, der mit den Erfahrungen aus der Krankheit das Leben tiefer erkannte, aber dafür mit Einsamkeit bezahlte (ebd.: 159). Indem Literatur über die biologische Sichtweise auf den Menschen hinausgeht, ordnet sie das Kranksein in den Zusammenhang menschlicher Existenz ein (vgl. Jagow/ Steger 2009: 11–15). Dabei reflektieren die inhaltlichen Veränderungen, die in den literarischen Werken über die Zeit zu beobachten sind, einen gesellschaftlichen Wandel (vgl. Soll et al. 1999: 24): In den 1950er Jahren waren noch gesellschaftliche Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse konstituierend, und entsprechend wurde auch über Krankheit und Behinderung berichtet. In den 1970er Jahren ging es gesellschaftlich um ein Streben nach Emanzipation, und die Patienten befreiten sich aus ihrer Abhängigkeit vom Arzt. In den 1990er Jahren fanden sich schließlich disparate Lebens- und Kulturformen nebeneinander. In den Narrativen wird die Medizin als der wesentliche Weg, auf den körperlichen Umbruch zu antworten, vielfach kritisch betrachtet. Oft findet sich in ihnen eine Vorstellung von Leben, Gesundheit, Krankheit und Tod, die in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende als unwissenschaftlich gilt. Pathische Wirkungen: Auch wenn die verschiedenen Wege, um das Widerfahrnis des körperlichen Umbruchs zu überwinden, dazu geeignet sind, die Zonen der subjektiven und kollektiven Fremdheit aufzuheben, die durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit entstanden sind, können sie ihrerseits für das Subjekt pathisch wirken. Da sie einer bereits gegebenen Ordnung entstammen, die wie jede Ordnung gleichsetzt, was nicht gleich ist, sind sie an sich ungerecht. Sie anzuwenden, kann das Subjekt erneut verletzen, überwältigen und beherrschen. Sie können es dazu nötigen, dem Widerfahrnis in einer Art und Weise zu antworten, die für es nicht unbedingt die Beste sein muss, und die andere, ebenfalls sinnvolle Möglichkeiten ausschließt. In der Medizin verstört

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Körperlicher Umbruch

das Handeln der Spezialisten: Dann wird die Aufnahme in das Krankenhaus als Hinrichtung gefürchtet. Der Arzt glaubt den beklagten heftigen Schmerz nicht. Stundenlang wartet der Kranke vergessen im Flur. Auch die Art der Behandlung kann das Selbst überwältigen. Bei der Bestrahlung beschämt die Entblößung. Wortlos wird ein Augenlid zugenäht. Die Gabe des Kontrastmittels löst einen Schlaganfall aus. Ein Medikament hat dramatische Nebenwirkungen. Die Prognose der kommenden Rollstuhlpflichtigkeit erschüttert. Mit den zugewiesenen Mitpatienten im Krankenzimmer gibt es kein Auskommen. Die Annahme der Behindertenrolle vertieft die Entfremdung. Der Schwerbehindertenausweis belegt die Minderwertigkeit. Die Nutzung des Rollstuhls kränkt. Der Anblick eines anderen Behinderten entsetzt. Die von der Norm abweichende Körperlichkeit veranlasst die Alterität dazu, die Identität des Subjekts auf dieses eine Merkmal herunterzubrechen. Des Weiteren führt der umbrochene Körper dazu, dass eine nähere Begegnung mit dem Subjekt vermieden wird, oder lässt die Forderung des Behinderten nach einer gleichberechtigten Beziehung die Nichtbehinderten empören. Die Narrative über Krankheit und Behinderung versagen die von ihnen erhoffte Antwort, wenn die literarischen Werke nicht kritisch reflektieren, was in der Gesellschaft geschieht, sondern es nur ästhetisch reproduzieren. Dann wird auch dort Kranksein und Krankwerden tabuisiert, rückt der Kranke aus dem Blickfeld und geht es nur um Gesundheit, die zu bewahren ist (vgl. Jagow/Steger 2009: 95f.). Die Behinderung wird zu einer Metapher, mit der sich eine soziale oder politische Wirklichkeit kritisieren lässt, oder eine behinderte Person zu einem Träger gesellschaftlicher Stereotype, aber die Wirklichkeit des behinderten Lebens nicht erfahrbar (vgl. Mitchell/Snyder 2000: 15–45). Ferner vermag die Literatur das Fremde und Widrige des körperlichen Umbruchs nicht für die Betroffenen zu ordnen, falls sie nur das Außerordentliche des Lebens mit einem umbrochenem Körper hervorhebt. In diesem Fall dient sie nur denen, die den körperlichen Umbruch für ihre Zukunft befürchten, weil sie sie hoffen lässt, dass selbst nach dem Verlust gewohnter Körperlichkeit das Leben lebenswert ist, belässt aber diejenigen, die sich in ihrer Identität darauf einzustellen haben, für längere Zeit oder auf Dauer mit körperlichen Veränderungen zu leben, in der Sprachlosigkeit. Soziale Neuverortung: Die verschiedenen Möglichkeiten, dem kollektiven und subjektiven Pathos des körperlichen Umbruchs zu antworten, verwandeln nicht nur das absolut Fremde in ein relativ Anderes, sondern verorten auch das Subjekt, das seine gewohnte, der Norm entsprechende Körperlichkeit verloren hat, sozial neu. Durch diese soziale Neuverortung wird es vom absolut Fremden, der sich durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit jenseits der Außengrenzen des sozialen Systems befindet und als Gefahr für dessen Bestand gilt, zum relativ Anderen, der sich mit seinem umbrochenen Körper jenseits der Binnengrenzen aufhält und mit dem sich leben lässt. In westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende wird das Subjekt nicht nur dann außerhalb eines sozialen Systems verortet, wenn eine Krankheit in eine Defektheilung gemündet ist und es deshalb als chronisch krank oder behindert gilt, vielmehr kann es immer dann geschehen, wenn das Subjekt eine von der Norm abweichende Körper- und Affektkontrolle aufweist und sich darin zu erkennen gibt oder darin erkannt wird. Falls bestimmte Subjekte ausgegrenzt werden, ist es durch die kollektive Identität des sozialen Systems bedingt, ohne dass die tatsächliche Gegebenheit der besonderen

1. Das Pathische im sozialen System

Merkmale, mit der die Ausgrenzung begründet wird, abzustreiten ist. Dieser Vorgang ist an sich nicht ungewöhnlich, denn jedes soziale System hat seine Anderen, die das ihm Fremde verkörpern, weil sie der kollektiven Identität mit ihren Normen und Werten, Traditionen und Konventionen nicht entsprechen.5 Die Anderen des sozialen Systems in ihrer Andersheit zu bezeichnen und sie jenseits von seinen Grenzen zu verorten, macht sie erst zu den Anderen, als die sie zugleich faszinierend wie verstörend in Erscheinung treten. Auch wenn die Grenzen, die ihnen gegenüber gezogen werden, unterschiedlich durchlässig, scharf oder dauerhaft sind, ist es unmöglich, ein soziales System ganz ohne Binnen- und Außengrenzen aufzubauen. Mit seiner Ordnung bildet sich das soziale System vielmehr erst dadurch, dass es seine absolut Fremden und seine relativ Anderen bezeichnet. Die Entscheidung, wer dazu gehört und wer nicht, obliegt dem Souverän. Diejenigen können vorübergehend oder dauerhaft aus dem sozialen System ausgeschlossen oder sogar vernichtet werden, die offen oder verborgen nicht bereit sind, die der kollektiven Identität entsprechende Lebensweise anzunehmen. Ebenso kann es diejenigen betreffen, die vermeintlich dazu unfähig sind, auch wenn sie selbst das Gegenteil beteuern, oder von denen die Normalen behaupten, sie seien dafür untauglich. Dagegen sind diejenigen als Mitglieder des sozialen Systems unbestritten, deren Körperlichkeit die Anforderungen der kollektiven Identität erfüllt und der dort üblichen Körper- und Affektkontrolle entspricht (vgl. Baumann 2005: 191–195). Die soziale Neuverortung des Subjekts, das einen körperlichen Umbruch überlebt hat, erfolgt in einem Doppelschritt: Nachdem das Subjekt infolge eines Unfalls, einer Verletzung oder einer Erkrankung aus dem Bereich des Normalen herausgefallen ist, verkörpert es das absolut Fremde, ehe es auf den verschiedenen Wegen, die das soziale Makrosystem kennt, wieder in eine anerkannte Ordnung eingefügt und über die Außengrenzen des sozialen Systems zurückgeführt wird. Doch weil das Subjekt weiterhin das relativ Andere verkörpert, verbleibt es jenseits der Binnengrenze der Gesellschaft, denn mit seiner veränderten Körperlichkeit kann es den normalen Bereich nicht mehr erreichen.

1.5

Mit dem umbrochenen Körper unterwegs

Abschnitte einer Reise: Nachdem das Subjekt dort angekommen ist, wohin es mit seinem umbrochenen Körper sozial neu verortet wurde, und es sich mit der von ihm geleisteten Identitätsarbeit innerlich bewegt hat, erkundet es die Welt, wie sie ihm jetzt zugänglich ist. Es stellt fest, dass es sich mit seinem veränderten Körper nicht nur innerlich, sondern tatsächlich von einem Ort zu einem anderen bewegen kann. Auf einer oder mehreren Reisen oder zumindest auf Ausflügen will das Subjekt wieder einen Bezug zu seinem Selbst finden, das ihm durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit fremd geworden ist, und hofft es, Eigenes zurückzugewinnen. Wie innere und äußere Be-

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Eine frühere Fassung der folgenden Gedanken findet sich bei Walser-Wohlfarter/Richarz 2018: 224f.

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wegung zusammenhängen, benennt ein Subjekt, das einen Herzinfarkt überlebte. Es erklärt vor seinem Aufbruch sein Vorhaben: Marrakesch ist Afrika. 52 Tagesetappen bis nach Timbuktu. Meine Ziele: mein Leben neu organisieren und ein Chamäleon kaufen.6 Die Suche nach dem Leben und nach dem Lebensweg gehört zum Reisen, wie das Reisen eine Metapher für das Leben ist. Es ist das Kennzeichen einer Reise, dass sie in Abschnitten verläuft. Dabei lassen sich Abschied, Ankunft, Höhepunkt, Abreise vom Ziel und Rückkunft ausmachen und als besondere Orte hervorheben, in denen sich das Geschehen verdichtet (vgl. Ette 2020: 150–193). Am Ort des Abschieds wird vom Gewohnten, von Heimat und Herkunft aufgebrochen. Hier wie im Weiteren verbinden sich die Innenwelt des Reisenden und der Blick auf die Außenwelt. Jede Reise, die bevorsteht, löst im Voraus Gefühle und Erwartungen aus. Es kann Freude sein. Bei einem Subjekt, das mehrere Krankenhausaufenthalte hinter sich hat und noch durch einen Herz- und einen Hirninfarkt gezeichnet ist, heißt es: Nach dem Geburtstag erwartete mich eine Reise, auf die ich mich freute und die ich hörend vorbereitete – eine Spanne möglicher Rekonvaleszenz. Frau Rey, die Pressereferentin des Windsbacher Knabenchors, hatte mich eingeladen, in der Vorweihnachtszeit 2003 bei Konzerten des Chores Erinnerungen, vor allem unfeierliche, an den Heiligen Abend vorzulesen.7 Genauso vermag eine bevorstehende Reise Ängste auszulösen. So bewegt das erblindete Subjekt vor seiner Abreise nach Australien in die Stadt, in der er aufwuchs, aber seit Jahren nicht mehr war, folgende Überlegung: Mich bekümmerte und ängstigte der Gedanke, daß ich [die Menschen, die ich wiedersehen sollte; B.R.] durch Klänge und Berührungen ein zweites Mal kennenlernen mußte […]. Nun waren alle meine bildhaften Erinnerungen an diese geliebten Gesichter im besten Falle irrelevant und verhinderten im schlimmsten Falle, daß ich eine echte und neue Beziehung mit ihnen eingehen konnte. Ich war aufgeregt bei dem Gedanken, so viele Wochen lang ohne meine Routine auskommen zu müssen. Ich würde den Weg um so viele neue Häuser und Gebäude herum lernen, mich mit neuen Haushaltsgeräten vertraut machen und mir die Namen so vieler neuer Menschen einprägen müssen. Ich hatte Angst, daß ich in dieser Situation noch stärker marginalisiert, noch weit passiver sein würde, als ich es jetzt sowieso schon bin.8 Während den ersten äußeren Bewegungen der Reise die inneren Bewegungen des Abschieds vorausgegangen sind, ist das Geschehen jetzt zukunftsoffen. Ist der Höhepunkt der Reise erreicht, kommt etwas hinzu, was das bisherige Geschehen umfassend verändert und dem Reisenden mystische oder heroische Züge verleiht. Mit der Ankunft ist das eigentliche Ziel erreicht, was dem Höhepunkt entsprechen kann, aber nicht muss. Damit beginnt für den Reisenden ein neues Leben, seine Wandlung endet. Er hat viel 6 7 8

Huth 2003: 89. Härtling 2007: 71. Hull 1992: 134.

1. Das Pathische im sozialen System

zu tun, zu sehen, zu bedenken. Doch geht es dem Subjekt am Ort der Ankunft nicht so sehr um die Wahrnehmung oder die Entdeckung der Anderen als vielmehr um eine Selbstvergewisserung und eine Bestätigung seiner Überzeugungen. Daher erfüllt sich die Reise für ihn weniger darin, dass er nun endlich dem Fremden begegnet, sondern eher darin, dass er in Wirklichkeit erlebt, was er sich bereits vor der Reise zu erleben vorgestellt hat. Das Subjekt, das infolge einer Multiplen Sklerose im Gehen eingeschränkt ist, nahm sich vor der Fahrt in die stationäre Rehabilitation vor, den Aufenthalt zu nutzen, um einen besseren Umgang mit dem Rollstuhl zu erlernen. Es erklärt: Daher hatte das Rollstuhltraining im Quellenhof neben der Krankengymnastik oberste Priorität für mich. Aber das hieß auch, dass ich einen Leicht-Lauf-Rollstuhl brauchte, denn meiner, den ich vor 4 Jahren bekam, war viel zu schwer dafür, mit ihm klappte das Rolli-Training überhaupt nicht. Mit einem Aktiv-Rollstuhl komme ich viel besser über Bordsteinkanten und kleinere Hindernisse, kann mich aber auch viel leichter und lockerer in und mit ihm bewegen. […] Mein Selbstbewusstsein, meine Akzeptanz hinsichtlich des Rollstuhls ist gewachsen.9 Mit der Abreise ist das Bilanzieren verbunden. Wenn sich die Erwartungen der Reise nicht erfüllt haben, kann sich aus dem Abschied dennoch ein Gewinn ergeben. Das geschieht, falls der Reisende aus einer enttäuschenden Erfahrung heraus die Ziele seines Lebens überdenkt oder falls er andere Wege findet, wie er trotz des ersten Fehlschlags sein Ziel in einem zweiten Anlauf erreichen kann. So meint ein Subjekt, das einen Rollstuhl nutzt, als es vom Besuch der paralympischen Spiele 1996 enttäuscht ist, im Rückblick: Für mich sind die Paralympics von Atlanta, eben weil sie so waren, wie sie waren, allerdings sogar ein Anreiz geworden. Denn danach habe ich mir gesagt: Marianne, noch einmal »richtige« Olympische Spiele erleben, das ist dein Ziel. Sydney 2000 – wieder einmal habe ich einen großen Traum.10 Nach der Feststellung, dass die Hoffnungen, die mit der Reise verbunden waren, sich nicht erfüllten, richtet sich der Blick auf das eigene Selbst und die notwendige innere Bewegung. So überlegt das Subjekt, das den Aufenthalt in Marrakesch nutzen wollte, um sein Leben zu ordnen, bei seiner Abreise: Tapfere Theorien von Genesung sind leicht aufzustellen, wenn man noch satte Monate vor sich hat. Jetzt ist der Kredit verspielt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn vernünftig genutzt habe […]. Tatsache: Man muss nicht sein Leben ändern, man muss sich selber ändern – und versuchen Sie das mal. Disziplin wäre nicht schlecht, aber die habe ich offensichtlich schon immer mit Pflichtbewusstsein verwechselt. Und mich natürlich feige dahinter versteckt, weil es leichter ist, zu funktionieren, als etwas zu ändern. Auf jeden Fall sich selbst. Wenn das überhaupt geht – ich habe mich immer erfolgreich davor gedrückt.11

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Ruscheweih 2005: 48. Buggenhagen 1996: 131. Huth 2003: 122, 123.

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Mit der Rückkunft tritt der Reisende wieder in seine Heimat ein. Aus dem Abstand heraus nimmt er Vertrautes anders wahr, doch scheitert die Hoffnung auf Heimkehr, weil nicht nur er sich veränderte. Nach der Rückkehr hat eine neue Passung zu erfolgen, deren Darstellung zum eigentlichen Gegenstand eines Reiseberichts werden kann. Auch wenn die äußere Bewegung der Reise zum Stillstand gekommen ist, dauert die innere meist noch an. Erst dann schließt sich der Kreis der Reise, wenn sich sowohl in der Identität des Subjekts als auch in der Alterität Neues und Altes, Eigenes und Fremdes versöhnt haben. So dauerte es auch seine Zeit, bis das nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmte Subjekt, das bei einem Ausflug an die Ostsee gestürzt war und nur mit Hilfe Dritter wieder auf die Beine kam, das Geschehen verarbeitete. Das Ergebnis seiner inneren Bewegung fasst es mit den Worten zusammen: Ich mußte also auch Rückschläge verarbeiten, aber ich konnte wenigstens wieder baden gehen, selbst wenn ich auch heute noch nicht allein schwimme und zur Sicherheit immer jemand in der Nähe habe, der mir notfalls helfen kann. Ich habe akzeptieren müssen, daß auch das selbständige Schwimmen nur langsam und auf Umwegen möglich sein wird.12 Äußere Reise und innere Bewegung: In den Erfahrungsberichten über chronische Krankheit oder spät erworbene Behinderung finden sich Erzählungen von unterschiedlichen Reisen, die mit dem umbrochenen Körper unternommen werden. Ein Subjekt, das durch einen Verkehrsunfall ein Bein verlor, reist nach Kroatien, um amputierten Kriegsopfern zu Prothesen zu verhelfen. Nachdem es sich davon überzeugt hat, dass wirklich eine Notlage besteht und sein Angebot daher willkommen ist, gibt es kein Zurück mehr. Es erlebt eine Abfolge von Schwierigkeiten, die es sowohl vor als auch nach der Abreise zu bewältigen hat. Obwohl das Subjekt die Prüfung jedes Mal besteht, kommt es kurz vor dem eigentlichen Höhepunkt der Geschichte, nämlich der Versorgung der ersten Patienten mit Prothesen, an seine Grenzen. Alles, was es in den Tagen, Wochen und Monaten davor geschafft hat, droht am Ende doch noch zu scheitern: Hatten die [Behörden; B.R.] sich gegen uns verschworen? […] Vor Frustration schäumend ging ich ins Hotel zurück. […] Leider waren auch unsere beiden Lastwagen [mit den Prothesenteilen; B.R.], die achtundvierzig Stunden zuvor London verlassen hatten, noch nicht aufgetaucht. Die Fahrer hatten angerufen, sie seien an der Grenze aufgehalten worden, weil die Beamten dort angeblich mit ihren Papieren nicht klar kamen. Das Ganze wurde allmählich zu einem einzigen Alptraum. Größeren Streß hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt.13 Doch auch nachdem die ersten drei Patienten eingetroffen sind, um eine Prothese zu erhalten, ist das Subjekt noch einmal persönlich gefragt. Als Model gewohnt, mit dem Körper zu arbeiten, setzt es ein, was ihm vertraut ist. [Der zweite der drei Patienten; B.R.] schien sich überhaupt nicht auf sein neues Bein zu freuen, zeigte nur wenig Interesse an den Prozeduren und beantwortete Renatas

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Peinert 2002: 89. Mills 1996: 273f.

1. Das Pathische im sozialen System

Fragen höchst einsilbig. […] Als ich in Sashas bedrücktes Gesicht sah, dachte ich, eine Schocktherapie könnte vielleicht Wunder wirken. […] Dann setzte ich mich neben ihn. »Schau mal, Sasha«, sagte ich und zog mein Bein ab. »Dein Stumpf ist genau wie meiner.« In seinem Gesicht offenbarte sich die totale Verblüffung.14 Die Erzählung dieser Reise nach Kroatien endet mit dem Höhepunkt. Als ein acht Jahre altes Mädchen sich bewegt dafür bedankt, dass es wieder gehen kann, hat das Subjekt für sich erreicht, was es zuvor zu erreichen erhoffte. Ich verkniff mir die Tränen und drückte sie fest an mich. »Ich danke dir, Martine«, sagte ich dann. »Danke, daß Du mir geholfen hast, mir einen Traum zu erfüllen.«15 Auch ein kurzer Ausflug ans Meer kann denselben Ablauf haben. Vor der äußeren steht die innere Bewegung, nämlich der Wunsch des bewegungs- und sprachlosen Subjekts nach Wochen oder Monaten wieder einmal aus dem Krankenhausbezirk herauszukommen und den von der sorglosen Julimenge überfüllten Strand zu sehen. Auch hier hat das Subjekt Prüfungen zu überstehen, nämlich zuerst die für seinen Po durch das Rollen über den rauen Belag von Parkplätzen, dann still anzuhören, wie sein alter Freund, den das Subjekt seit mehr als 25 Jahren kennt, der jungen Frau, mit der es seit 14 Tagen bekannt ist, von ihm erzählt, wie es vor dem körperlichen Umbruch als Mensch war, und schließlich den Halt vor der breiten Treppe, die ihm wie alle Treppen nur noch eine Sackgasse ist. Auch in der Erzählung von diesem kurzen Ausflug geht es darum, nicht aufzugeben, um ankommen zu können. »Willst du zurück?« fragt Brice. Ich protestiere energisch, indem ich den Kopf nach allen Seiten schüttele. Umkehren kommt nicht in Frage, bevor ich das eigentliche Ziel dieser Expedition erreicht habe.16 Die kleine Reise findet ihre Erfüllung, als das Ziel erreicht ist und sich das Subjekt wie erhofft an den Ausdünstungen einer Fischbude laben kann, auch wenn die für seine beiden Begleiter nach altem Fett stinken. Während hier die Erzählung endet, beziehen andere Berichte über die Reisen, die mit dem umbrochenen Körper gemacht wurden, die Schilderung der Rückkunft ein. Bevor ein an Amyotropher Lateralsklerose erkranktes Subjekt in seinem Erfahrungsbericht von der komplikationsreichen und beinahe tödlichen Behandlung seiner Ateminsuffizienz erzählt, der es sich unmittelbar nach seiner Rückkehr von einer Kreuzfahrt im Mittelmeer notfallmäßig unterziehen muss, steht die Schilderung dieser Reise. Auch hier wird ein Reiseverlauf dargestellt, der von Anfang an von vielen Problemen geprägt ist, die mit vereinten Kräften aller Beteiligten gelöst werden müssen, bis der Höhepunkt erreicht wird. Dort wartet dann allerdings noch ein letzte Hürde, die zu überwinden ist. Ein paar Stunden später standen wir trotz der schlechten Nacht mit wenig Schlaf in Istanbul vor der Blauen Moschee und hatten erneut ein Problem. Meine Begleiter zogen ihre Schuhe aus. Doch wie kam ich mit meinem Rollstuhl in das Glaubenshaus, ohne 14 15 16

Mills 1996: 277. Mills 1996: 279. Bauby 1997: 87.

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den heiligen Boden mit meinen dreckigen Pneus zu berühren? […] Schliesslich trugen mich meine Begleiter mit Hilfe des Imam schwebend in die Moschee. Unser Führer legte über den heiligen Teppich einen alten, den ich mit meinen Rollstuhlpneus berühren durfte. Tief bewegt und beeindruckt sass ich mit meinem Rollstuhl und meiner Beatmungsmaschine in der Moschee und spürte diese Vollkommenheit.17 Bei den unterschiedlichen Reisen, die mit einem umbrochenen Körper unternommen werden, kann die innere Bewegung noch fortdauern, wenn die äußere Reise schon längst beendet ist, sodass sich das Selbstverständnis des Subjekts dadurch ändert. Ein Subjekt, das von seiner Erblindung lange überwältigt war und sich während des Aufenthalts in Melbourne, dem Zielort seiner Reise, vom Blindsein verschlungen fühlte, bemerkt einige Wochen nach seiner Rückkehr, dass sein Körpererleben eine neue Qualität bekommen hat: Ich bin im Tunnel um eine Kurve gegangen. Bis jetzt war noch Licht an seinem Ende. Zwar habe ich mich von diesem Licht fortbewegt, immer tiefer von ihm fort; dennoch ist das Licht immer dagewesen, hinter mir. [S]o bin ich um eine Kurve gebogen. Der winzige Lichtpunkt scheint verschwunden zu sein.18 Weitere Wochen später erklärt dasselbe Subjekt noch bestimmter: Nun, wo ein befriedigendes Weihnachten hinter mir liegt, spüre ich noch deutlicher als zuvor, daß die Australienreise im vergangenen Sommer ein Wendepunkt, wenn nicht sogar ein Durchbruch in meinem Trauern über den Verlust des Sehens war.19 Auch wenn die innere Bewegung am Zielort begonnen haben mag, ist das, was die Reise nach der Rückkehr in die Heimat bewirkt, bisweilen viel wichtiger als ihr Verlauf. So erwähnen zwei Subjekte, die sich in einem Kurbad im Nordschwarzwald kennenlernten, nur am Rande, dass sich die Reise erfüllte, die sie unternommen hatten, um die Folgen des letzten Schubs ihrer seit Jahren bestehenden Multiplen Sklerose zu überwinden. Bedeutsamer ist für sie, dass sie dort ein Vorhaben vereinbaren, das sie für mehr als drei Jahre begleitet und ihnen Gelegenheit gibt, von ihren Behinderungserfahrungen zu erzählen. Es passierte während einer stationären Rehabilitation in Bad Wildbad. Eine Mitpatientin, völlig erschüttert über die Aussicht, demnächst einen Rollstuhl benutzen zu müssen, heulte in ihr Abendessen. Für uns hat der Rollstuhl seinen Schrecken schon länger verloren – im Gegenteil, damit kommen wir ohne Anstrengung fast überallhin, ausgeruht und sicher. Auf dem Weg aus dem Speisesaal sagte die eine: »Man müsste ein Buch schreiben«, und die andere antwortete: »Ich bin gerade dabei, wollen wir es zusammen versuchen?«20 Verbindungen zwischen verschiedenen Reisen: Die verschiedenen Reisen mit dem umbrochenen Körper können sich inhaltlich ergänzen und aufeinander aufbauen. Bei einem 17 18 19 20

Balmer 2006: 23. Hull 1992: 160. Hull 1992: 172. Lürssen/Ruscheweih 2005: 9.

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Subjekt, das einen Herz- und Hirninfarkt erlitt, sind es zwei Reisen, die im Erleben zusammengehören, nämlich zuerst eine Tournee mit einem Knabenchor durch mehrere deutsche Städte, bei der es als ein schon älterer Dichter begleitend Geschichten aus seiner Kindheit vorträgt, und dann ein Aufenthalt in der niederösterreichischen Stadt Zwettl, wo es in einer Veranstaltung zum Gedenken an die Besatzung durch die russische Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs einen Vortrag halten soll und die es schon einmal auf der Suche nach dem Grab seines Vaters besucht hatte, der dort als Kriegsgefangener verhungert war. Auf der ersten Reise vermischen sich für das Subjekt das Draußen und das Drinnen: Nachdem ich das Weihnachtskapitel vorgelesen habe, in dem Großmama beinahe an einem Würstel erstickt, 1943, als Vater, was er nicht ahnen konnte, zum letzten Mal seine Familie weihnachtlich traktierte, singt der Chor: »Nun sei willkommen, Herre Christ«, und ich sehe den Jungen, der ich gewesen bin, gerade so alt wie die frechen Zwerge in der ersten Reihe, in einem riesigen Lazarettsaal, ein Pimpf als Hilfssanitäter, als Geherda und Bringmirdas, Spielball sarkastischer Wünsche von Invaliden, die allein von Verbänden zusammengehalten werden, einen Kuchen von zu Hause sollte ich bringen, Pariser bitte schön, wenn du weißt, um was es sich handelt, und Senf. Senf! Senf war als pikanter Aufstrich sehr begehrt. Und verboten. Ich wurde zum Senfschmuggler. Wenn die Kinder wüssten, welche anderen Stimmen ich höre, wenn ich vorlese. Im Kyrie trennen sich die Stimmen, und die Soprane setzen ihre kühnen Bögen auf die dunkler getönten Säulen.21 Doch diese erste Reise erfüllt nicht ihren Zweck. In ihrem Verlauf wandelt sich die Vorfreude, wie sie vor dem Aufbruch bestand, in völlige Erschöpfung an ihrem Ende. Anders dagegen die zweite Reise. Angekommen am Zielort ergibt sich für das Subjekt die Frage: Was ist das für ein Zwettl, in dem ich ankomme? Vielleicht wiederhole ich die Ankunft, weil in die leere Topographie ein Grab eingezeichnet ist. Ich brauche das Grab, um mit ihm zu sprechen, um ein Stück Kindertrauer nachzuholen.22 Diese zweite Reise erfüllt die in sie gesetzten Erwartungen – jedoch nicht, weil das Subjekt sein ursprüngliches Ziel erreicht, sondern weil es durch seine innere Bewegung bedeutungslos wird. Beim Bilanzieren ist sich das Subjekt gewiss, dass es dem Vater innerlich verbunden ist, da sie beide, jeweils dem Tode nahe, ein ähnliches Draußen und Drinnen erlebt haben. Es hat erkannt, dass es das Grab des Vaters nicht finden muss, um ihm nahe zu sein. Daher weiß das Subjekt auch, dass nach der Rückkehr sein Leben anders weitergehen wird. Es stimmt, sobald ich dieser Erfahrung traue: Durch Zwettl läuft die Grenze zwischen Draußen und Drinnen, meine Lebenslinie. Es ist auch der Ort, an dem meine Erinnerung die Richtung wechselt.23

21 22 23

Härtling 2007: 79f. Härtling 2007: 94. Härtling 2007: 109.

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Weiterhin kommt es vor, dass mehrere Reisen mit dem umbrochenen Körper sich in ihrer Gegensätzlichkeit spiegeln. So vergleicht ein Subjekt, dass zweimal zu paralympischen Spielen reiste, um dort an den Wettkämpfen teilzunehmen, die beiden Erfahrungen. Die erste Reise sieht das Subjekt positiv: Die Spiele in Barcelona begannen eindrucksvoll, bewegend und hatten die Athleten in den Mittelpunkt gestellt. Es blieb so bis zur letzten Minute, die suchenden Zweifel, die nach dem Haar in der Suppe spürten, blieben unbefriedigt – welch wunderbare Erfahrung! […] Barcelona war, obwohl Gegenwart, ein Vorgriff auf die Zukunft von Behindertensport und Umgang mit Menschen, die »anders« sind.24 Die zweite Reise mit demselben Ziel sieht das Subjekt negativ. Atlanta, das war am Ende […] eine vergebene Chance. »Para«, dieser Präfix übersetzt sich mit »neben, daneben«. So gesehen haben die Spiele in Georgias Hauptstadt ihrem Namen alle Ehre gemacht. Die Athleten wurden als Nebensache behandelt, so lagen eben auch die Paralympics »daneben«.25 Auch ist es möglich, dass verschiedene Reisen sich in ihrem Ablauf wiederholen. Nachdem ein Subjekt, bei dem ein M. Parkinson diagnostiziert wurde, schon zweimal mit großen Erwartungen von seiner Heimatstadt London aus aufgebrochen ist, um sich bei international renommierten Spezialisten einer neuen Heilmethode zu unterziehen, und beide Male schwer enttäuscht nach Hause zurückgekehrt ist, bricht es ein drittes Mal erwartungsvoll auf, dieses Mal um nach Birmingham zu reisen. Als das Subjekt dort wie geplant am Gehirn operiert wurde, ist das von ihm lang ersehnte Ziel erreicht. Das Subjekt wartet gespannt auf die Veränderungen seines Befindens. Die Träume nahezu ganzer zehn Jahre meines Lebens waren in Erfüllung gegangen, und ich wollte wissen, ob und wann Verbesserungen meines Zustandes für mich sichtbar würden.26 Doch lange nach der Rückkehr ist das Subjekt wieder enttäuscht: Während die Monate langsam verstrichen, wuchs in mir ein Gefühl der Enttäuschung. […] Aus Angst hatte ich mich bislang vor der Erkenntnis geschützt, dass die Operation vielleicht fehlgeschlagen war oder, noch viel schlimmer, dass dabei andere, unersetzbare Zellen verletzt worden waren. […] Ich kam zu dem traurigen Schluss, dass die Operation zu früh stattgefunden und ich etliche Risiken nicht berücksichtigt hatte.27 Einen ähnlichen Verlauf, also große Erwartungen bei der Ankunft am ersehnten Zielort und Enttäuschung bei der Abreise, erlebt das Subjekt, das einen Herzinfarkt überlebte, bei einer einzelnen Reise. Der Höhepunkt ist der schon vor dem Aufbruch in Hamburg geplante Kauf eines Chamäleons auf dem Basar von Marrakesch.

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Buggenhagen 1996: 118, 121. Buggenhagen 1996: 130f. Todes 2005: 143. Todes 2005: 148, 149, 150.

1. Das Pathische im sozialen System

Schließlich erreiche ich über Hunderte von Umwegen den Sklavenmarkt, den ich gesucht habe. Gleich am ersten Stand gibt es ein Chamäleon mit gelben Punkten. […] Ein Junge mit schlechten Zähnen in einem dreckigen Umhang holt das gelb gefleckte Tier aus seinem Drahtkäfig, dessen Boden mit Salatblättern bedeckt ist. Er gibt mir die Echse, und das Chamäleon krabbelt zielsicher an meinem T-Shirt in Richtung Kopf. Es hat schon gewonnen. Ein gutes Chamäleon. […] Ich habe das Chamäleon nicht ohne Hintersinn gekauft. Vielleicht kann ich von ihm lernen. Ihre Langsamkeit hat mich schon immer fasziniert.28 Und dann muss das Subjekt am Tag vor der Abreise erleben: Das Chamäleon stirbt so langsam, wie es gelebt hat. Ich finde es zusammengesunken in seinem Käfig an dem Tag, an dem ich es in die Freiheit lassen will. Es ist ganz dunkel, die Augen sind geschlossen. Die Wirbelsäule ist gebogen, ich sehe die Rippen, bevor ich sie fühle. Ich hebe das Tier hoch, es öffnet die Augen. […] Ich setze mich mit dem Tier unter den Zitronenbaum und halte es in der Hand. Zwei Stunden sitze ich im Schatten. Dann öffnet das Chamäleon sein Maul, und die lange, klebrige Zunge fällt heraus. Es entleert seinen Darm auf die Kacheln. Die Augen brechen. Das Chamäleon ist tot. Ich muss weinen.29 Verschiedene Reisen verbinden sich im Subjekt auch dann, wenn es wegen des körperlichen Umbruchs eine geplante Reise zuerst einmal nicht unternehmen kann. Das Subjekt, das sich wegen einer Leukämie behandeln lassen muss, verfügt nicht mehr über die Körperlichkeit, die es braucht, um wie geplant zu verreisen. Wir wollten eigentlich nur heiraten. Das wäre unser »Jahrhundertereignis« gewesen. Statt Hitze in Miami, statt Flitterwochen in Palm Beach gab es Infusionen.30 Genau ein Jahr und eine lange Behandlung später kann das Subjekt dann die Reise doch antreten. Und dann flogen Christina und ich am 21. Dezember in die Dominikanische Republik. […] Und dann kam der 28. Dezember. Unser Hochzeitstag. […] Und dann sah ich sie. […] In einem traumhaft schönen, champagnerfarbenen Brautkleid. Die Sonne fing langsam an, glutrot unterzugehen. […] Wir traten vor den kleinen, mit weißen Blumen umrankten Tisch, hinter dem der Friedensrichter auf uns wartete. Er sprach natürlich Spanisch. Und ich weiß nur noch, dass ich immer »Si, si, si, si« sagte. Und dann sagte auch Christina »Si«. Es war ein bewegender Augenblick, es war einfach der schönste Augenblick in meinem Leben.31 Botschaften des Reiseberichts: Das Subjekt, das mit dem umbrochenen Körper wieder reisefähig ist, gibt der Alterität, auf die es in den verschiedenen sozialen Systemen bezogen ist, zu verstehen, dass es das Widerfahrnis des körperlichen Umbruchs überwunden hat und nicht länger einem pathischen Körpererleben ausgesetzt ist. Da Reisen 28 29 30 31

Huth 2003: 100f., 101, 102. Huth 2003: 117, 118. Lesch 2002: 63. Lesch 2002: 192, 193, 194.

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Körperlicher Umbruch

zudem eine Metapher für den Lebensweg ist, teilt das Subjekt mit seinem Reisebericht darüber hinaus mit, dass es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Lebensreise wieder aufgenommen hat, auch wenn sich vielleicht einzelne Ziele geändert haben mögen. Indem es reist, zeigt das Subjekt, dass Aufbrechen, Unterwegssein und Ankommen auch mit dem umbrochenen Körper möglich ist. Es beweist sich und der Alterität, dass es die ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen des sozialen Systems gut nutzte, um sein entfremdetes Selbst neu zu ordnen, dass es sich selbst wandelte und dass aus demjenigen, dem etwas widerfuhr, wieder einer wurde, der etwas geschehen lassen und gegebenenfalls kämpfen kann. Nicht zuletzt sagt das Subjekt auf diese Weise, dass es die schmerzhafte Entwurzelung aus dem Gewohnten inzwischen als Möglichkeit begreift, eine größere Wahrheit zu erlangen, und dass das Heil nicht im früheren, sondern im jetzigen Leben liegt. Genau diese Botschaft sendet das Subjekt sowohl seinem Selbst als auch der Alterität immer wieder aufs Neue, wenn es nicht nur einmal, sondern mehrfach auf Reisen geht: In der Wiederholung liegt die Bekräftigung. Das Subjekt, das wegen einer seit mehr als 25 Jahren progredienten Multiplen Sklerose einen elektrischen Rollstuhl nutzt, ist mit dem umbrochenen Körper viel gereist: Seit acht Tagen erleben wir die Toskana im Herbst. […] Mit der »Hurtigruten« zusammen mit der ganzen Familie, die norwegische Küste entlang, war ein unvergessliches Erlebnis. Beide Male, einmal im Sommer während der hellen Mittsommernachtswochen bis nach Spitzbergen, und als Kontrast dazu während der Osterferien durch die verschneiten Fjorde, waren einfach traumhaft. […] Die Osterferien 1989 in Südspanien werde ich nie vergessen. […] Venedig war und ist eine faszinierende Stadt, alles flach und die meisten Straßen mit ebenen, großen Platten belegt. […] Auf dem Rückflug von Moskau zusammen mit Inge wurde ich auch im Rolli an Bord begleitet. […] Schön war auch die Fahrt mit dem Wohnwagen durch Norwegen und Schweden. […] Anders erging es uns auf Teneriffa, mitten in Puerto del Carmen während der Weihnachtsfeiertage, eine unendliche Parkplatzsuche in der Innenstadt. […] Ich wollte Dir schon lange von unserer herrlichen Reise durch die südöstlichen USA berichten. […] In dieser Zeit waren wir von South Carolina bis New Mexico fast jede Nacht in einem anderen Hotel.32 Doch weiß dasselbe Subjekt auch, was es bedeutet, nicht dabei sein zu können, wenn die übrigen Mitglieder des sozialen Mikrosystems verreisen. Reiterferien in Island für Vater und Töchter. Mir war sofort klar, dass ich da nicht mitkann. Ich muss neiderfüllt zu Hause bleiben […].33 Da das Subjekt mit der Mitteilung der wieder gewonnenen Reisefähigkeit und der von ihm mit dem umbrochenen Körper gemachten Reisen sich innerhalb der Grenzen bewegt, was das ordnende soziale System, auf das es bezogen ist, billigt, kann es sicher sein, für sein Handeln von dessen Mitgliedern anerkannt zu werden. Durch seinen Reisebericht teilt das Subjekt mit: Selbst mit einem umbrochenen Körper entspricht es dem, was in der kollektiven Identität westlicher Gesellschaften der Jahrtausendwende 32 33

Lürssen 2005: 75, 76, 78, 79, 80, 92, 93. Lürssen 2005: 57.

1. Das Pathische im sozialen System

von der Körperlichkeit verlangt ist; gleich allen anderen ist es fähig, seinen Körper zu lustvollem Konsum einzusetzen. Auf seiner Lebensreise ist das Subjekt damit an einem neuen Ort angekommen: Es beginnt ein neues Leben, die Wandlung endet. Auf einer tatsächlichen Reise erfüllt sich dem Subjekt das Angekommensein weniger darin, dass es dem Fremden begegnet, sondern dass es in der selbstverständlichen Anerkennung der umbrochenen Körperlichkeit beglückt erfährt, was es sich davor lange ersehnte und im sozialen Makrosystem in der Heimat nicht erfuhr. Die innere Bewegung der Suche und die äußere Bewegung durch den Vergnügungspark, die Lebensreise und die tatsächliche Reise fallen am Ende der Schilderung in eins zusammen. In Orlando/Florida besuchten meine Töchter und ich das Walt Disney World Resort Magic Kingdom; für Behinderte nahezu ein Paradies. Schon der Zugang zur Monorail (Einwegbahn) war bequem ohne Treppen zu erreichen. Es gibt ein Behindertenabteil und zum Einsteigen eine bequeme, transportable Aluschiene, die ohne Anforderung und blitzschnell für mich und meinen Rolli gelegt wurde. Beim Eingang ins »Magic Kingdom« standen Schiebe- und Elektrorolli zum Aussuchen und Mieten am Weg, wie ich sie schon bei anderer Gelegenheit gesehen hatte. Mit der Eintrittskarte erhielten wir einen speziellen Führer mit einer genauen Beschreibung der Attraktionen und Vorführungen sowie deren Zugangsmöglichkeit im Rollstuhl. Meist wurden wir an den Anfang der langen Warteschlangen geschleust und von gut geschulten und gut gelaunten Helfern in die unterschiedlichen Vehikel gesetzt. Selbstverständliche Hilfe, gekonnt, ohne Aufsehen und meist blitzschnell. Oft standen eine ganze Reihe unterschiedlicher Rollstühle leer an den Wänden der Eingänge und warteten auf ihre »vergnügungssüchtigen« Benutzer. Du siehst, ich bin begeistert von der Behandlung, die mir im Rollstuhl dort zuteil wurde. Freundlich, unauffällig, souverän, aber nicht bevormundend, so würde ich gerne auch zu Hause behandelt.34

34

Lürssen 2005: 93f.

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2. »Auch Querschnittsgelähmte erzählen sich Witze.« – Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Einleitend wird in diesem Kapitel ausgeführt, dass das Subjekt bei einem körperlichen Umbruch wider willen zu einem Hermeneuten wird. In der Hermeneutik als der Lehre von der sachgerechten Interpretation wird nicht das Offensichtliche ausgelegt, sondern das Verborgene und Aufzudeckende. Eine Interpretation beruht stets auf Vorwegnahmen, sodass letztlich ein bereits zuvor gegebenes Verstehen ausgearbeitet wird. In der Interpretation lässt sich nicht unterscheiden, was aus dem verstehenden Subjekt und was aus dem zu verstehenden Objekt in die Auslegung eingeflossen ist. Die enge Beziehung zwischen Gegenstand und Hermeneut beinhaltet, dass nicht nur der Gegenstand ausgelegt wird, sondern jeder Hermeneut auch durch das von ihm interpretierte Objekt verwandelt wird, was dann wiederum sein Verständnis vertieft. Vor diesem Hintergrund wird im Einzelnen beschrieben, mit welchen Bewegungsfiguren das Subjekt das soziale System entdeckt, dem es mit seinem umbrochenen Körper angehört, und die Alterität erkundet, der es begegnet (2.1). Danach wird dargestellt, wie das Subjekt das Konstrukt chronische Krankheit auslegt (2.2), wie es das Blind- und Behindertsein interpretiert (2.3), welche Erkenntnisse über die Alterität es gewinnt (2.4) und welche Lebensansichten es infolge seiner besonderen Körperlichkeit vertritt (2.5). Damit fasst dieses Kapitel die Lebens- und Welterfahrung chronisch kranker und behinderter Menschen zusammen, die ansonsten im gesellschaftlichen Diskurs wenig repräsentiert ist.

2.1

Hermeneut wider Willen

Schilderungen einer Lebensreise: Manche – und nicht zuletzt diejenigen, die sie verfassten – sehen die Erfahrungsberichte über den körperlichen Umbruch als Schilderung einer Reise. Dieses Bild liegt dem Subjekt, das infolge eines Locked-in-Syndroms nicht mehr dazu in der Lage ist, sich zu bewegen und sprechend mitzuteilen, so nahe, dass es von ihm gleich zu Beginn seines Berichts benutzt wird:

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Körperlicher Umbruch

Ich will ein Tagebuch meiner Reise auf der Stelle verfassen […].1 Ein anderes Subjekt, das erblindet ist, fasst die Darstellung seiner Erfahrungen mit dem umbrochenen Körper am Ende damit zusammen, dass es sich auf einer Reise befindet, die noch weiter andauern wird: Wenn eine Reise ins Licht eine Reise zu Gott ist, dann ist eine Reise in die Finsternis eine Reise zu Gott. Darum reise ich weiter, nicht hindurch, sondern hinein.2 Aus Anlass des fünften Jahrestages seiner letzten Augenoperation nennt dieses Subjekt vier Stationen, über welche die von ihm mit dem umbrochenen Körper unternommene Reise bisher verlief: Zuerst gab es eine Periode der Hoffnung, die ein Jahr oder achtzehn Monate dauerte. Sie wurde durch ein Nachlassen meiner Sehkraft im Sommer 1981 beendet […]. Darauf folgte eine Periode, in der ich daran ging, die Probleme zu überwinden. […] In dieser Zeit war das Blindsein eine Herausforderung. Das dritte Stadium […] war die Zeit, in der ich tief verzweifelt war […] und mein waches Leben von dem Bewußtsein erdrückt wurde, daß ich unaufhaltsam immer tiefer in das Blindsein hineingetragen wurde. Die vierte und noch andauernde Periode hat im Herbst 1984 begonnen, das heißt, nach der Erholung von der Reise nach Australien, während der mich das Blindsein verschlungen hatte.3 Doch werden die Erfahrungsberichte über den körperlichen Umbruch nicht nur als Schilderung einer Reise aufgefasst: Manche Leser sehen in ihnen die Darstellung einer Initiation, die durch die Aufnahme in ein Krankenhaus oder eine Operation erfolgt ist und den Betreffenden in einen anderen Seinszustand gebracht hat. Von der überstandenen Krankheit sichtbar gezeichnet gewinnt der Erzähler ein Weltverständnis, über das seine Alterität ohne die Krankheitserfahrung nicht verfügt. Weil er die äußerste Gefährdung überlebt und den Tod anderer gesehen hat, ist er hellsichtig geworden und kommt nun auf Gedanken, die er ohne Krankheit nicht gehabt hätte; und als ein unter die Lebenden Zurückgekehrter zeichnet ihn ein Willen zum Eigentlichen aus, dem gegenüber die Gesunden als minderwertig erscheinen (vgl. Anz 1989: 160–163). Manche Leser ordnen die Erfahrungsberichte über den körperlichen Umbruch dem Typus der Heldengeschichte zu, wobei das Heldenhafte für sie nicht das Niederringen eines Gegners ist, sondern die Ausdauer (vgl. Frank 1995: 119). Am Anfang der Heldengeschichte steht der Ruf, dem zu folgen der Held oft zögert, bis er sich dann doch überwindet und es kein Zurück mehr gibt. Der Held begibt sich dann auf den Weg der Prüfungen, auf dem er mehrfach zu scheitern droht, sich aber doch behauptet, bis er mit sich und seiner Herkunft versöhnt ein Bewusstsein dafür erlangt, auserwählt zu sein. Ein weiteres Merkmal der Heldengeschichte ist die Segnung, bei der dem Held eine besondere Gabe zuteil wird, womit er die Welt, aus der er aufgebrochen ist, retten kann. Am Ende steht die Rückkehr, die ihm nur mit äußerer Hilfe möglich ist und bei

1 2 3

Bauby 1997: 8. Hull 1992: 242. Hull 1992: 207f., 208.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

der er zuerst auf Unglauben und Unverständnis stößt, bis es ihm doch gelingt, sein neu erworbenes inneres Wissen und die äußeren Anforderungen zu vereinen und seine Mitmenschen in eine größere Freiheit zu führen (vgl. Campbell 1978: 63–263). Wie es zu einer Heldengeschichte gehört, beinhalten auch die Erfahrungsberichte über ein Leben mit einem umbrochenen Körper allgemein Erkenntnisse über die Gesellschaft und ihren Umgang mit Krankheit und Behinderung, die ihre Verfasser im Lauf ihrer Lebensreise gewonnen haben. Unfreiwillige Reise: Dadurch, dass die westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende das Subjekt, das einen körperlichen Umbruch erlebte, als einen relativ Anderen jenseits der Binnengrenzen des sozialen Makrosystems verorten, verliert es zwar den bisherigen Bezug zur äußeren Welt, gewinnt aber zugleich eine neue Sichtweise. Wie ein Reisender in fremden Ländern kann es die sozialen Systeme erkunden, denen es mit seinem umbrochenen Körper angehört, die Alterität entdecken, der es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit begegnet, das von ihm Gefundene mit dem Bekannten vergleichen und das Fremde mit dem unwiederbringlich Verlorenen messen. In seinem Erfahrungsbericht erzählt das Subjekt von keiner freiwilligen Expedition. Nicht aus Neugierde, Überdruss oder Langeweile hat es die Reise mit dem umbrochenen Körper angetreten, sie gleicht eher einer Vertreibung oder Verschleppung; ihr liegt keine freie Wahl zugrunde. Als das Subjekt die gewohnte Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung verlor und diese Reise antreten musste, war es in seinem Leben gerade an einem guten Ort angekommen. Es war mit sich und seiner Umgebung in Einklang. Es war vielleicht nicht alles gut, aber besser als zuvor: Die Tätigkeit als Model befriedigte und zeigte erste Erfolge. Die Ausbildung zur Krankenschwester wurde begonnen oder die zur Physiotherapeutin abgeschlossen. Der Ruhestand wurde erreicht. Trotz erheblicher körperlicher Einschränkungen war eine Kreuzfahrt erfüllend. Dann beendete plötzlich und unvorhergesehen der körperliche Umbruch das, was mit Vorfreude und Hoffnung begonnen worden war: Die Probefahrt mit dem neuen BMW muss abgebrochen werden, der Theaterbesuch mit dem Sohn entfällt. Die Aussprache mit dem Freund kommt nicht zustande. Die bereits terminierte Hochzeit muss auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Der Kinderwunsch ist hinfällig. Fremdes bricht in Vertrautes ein und schwemmt es hinweg: Die Liebesnacht geht in einen Herzinfarkt über. An die Stelle der Reise nach Hiddensee tritt die Fahrt mit dem Notarztwagen ins Akutkrankenhaus und der anschließende Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik. Wenige Stunden vor der Feier des Kindergeburtstags wird M. Parkinson diagnostiziert. Mitten im Urlaub kann der Urin nicht mehr gehalten werden. Indem das Subjekt sich aus der Krise seiner Identität löst, beginnt es eher notgedrungen als freiwillig, sich mit den Bedingungen zu befassen, unter denen es weiterleben muss. Im Verlangen, sich wiederzufinden und die Entfremdung des Selbst aufzuheben, kann es nicht umhin, diejenigen genauer kennenzulernen, denen es mit dem umbrochenen Körper ausgesetzt ist, und sich damit näher vertraut zu machen, wie die verschiedenen soziale Systeme, denen es jetzt als ein relativ Anderer, nämlich als ein chronisch Kranker oder als ein Behinderter, angehört, auf sein Erleben einwirken.

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Körperlicher Umbruch

Zum Wesen der Hermeneutik: Mit dem umbrochenen Körper wird das Subjekt zu einem Hermeneuten wider Willen. Infolge seiner von der Norm abweichenden Körperlichkeit sieht das Subjekt sich in besonderem Maße als empfindsam an. Vielleicht haben Menschen, die – wie ich – auf eine besondere Art »anders« sind, deshalb Sensoren, die auf eigene Weise auf all das ansprechen, das so hochtrabend unter den großen Begriff Leben gefaßt ist.4 Weil das Subjekt seine gewohnte Körperlichkeit verlor, befasst es sich mit den Konstrukten von chronischer Krankheit oder Behinderung. Außerdem begegnet es einer Alterität, die ihm nicht vertraut ist. In sozialen Exosystemen, die dem Subjekt vor dem körperlichen Umbruch nicht oder kaum bekannt waren, trifft es auf die Ärzte, Krankenschwestern und weiteren Spezialisten des Gesundheitswesens oder auf die verschiedenen Fachleute aus Institutionen des Sozialwesens, stößt es auf Mitpatienten oder andere, gleich ihm Behinderte. Auch wird mit ihm auf eine dort übliche, ihm aber fremde Weise umgegangen und hört es Begriffe zu seinem Zustand, deren Bedeutung sich ihm erst allmählich erschließt. Selbst ihm eigentlich vertraute soziale Systeme stellen sich anders dar als zuvor. Von seinen Angehörigen, von den Bekannten, Freunden und Kollegen wird das Subjekt infolge des umbrochenen Körpers anders als bisher angesprochen, und aus dem Blickwinkel des chronisch Kranken oder des Behinderten, zu dem es geworden ist, nimmt es im Alltag vieles, was ihm bis dahin selbstverständlich gewesen ist, anders wahr oder entdeckt es manches, was ihm bis dahin unbemerkt geblieben ist. Indem das Subjekt sich auf dieses Geschehen einlässt, erkennt es allmählich, was in den verschiedenen sozialen Systemen, denen es mit dem umbrochenen Körper angehört, unter chronischer Krankheit und Behinderung verstanden wird. Dabei ist der Gegenstand der Hermeneutik und der Erkenntnisgewinn ein doppelter (vgl. Grondin 2009: 31–42, in Anlehnung an Heideggers Verständnis von Hermeneutik): Zum einen deutet das Subjekt durch seine Erfahrungen die Konstrukte von chronischer Krankheit oder Behinderung. Zum anderen legt es durch diese Konstrukte die sozialen Systeme aus, in denen sie verwendet werden. Bei dem einen wie dem anderen geht es nicht darum, dass das Subjekt interpretiert, was sich auf den ersten Blick zeigt, sondern vielmehr, was verborgen ist und aufgedeckt werden muss. Das zu Deutende liegt hinter dem Offensichtlichen und zugleich gehört es zu dem, was sich zuerst zeigt, wesenhaft dazu. Da jede Hermeneutik auf Vorwegnahmen beruht, arbeitet das Subjekt in seinen Interpretationen nur aus, was es bereits zuvor verstanden hat. Diese Vorwegnahmen können aufgefasst werden erstens als Vorhabe, nämlich als ein Horizont, aus dem das Verstehen geschieht, zweitens als Vorsicht, nämlich als eine Richtung, in der es geschieht, und drittens als ein Vorgriff, nämlich als Entfaltung in einer bereits gegebenen Begrifflichkeit. Zwar ist möglich zu bestimmen, wie Vorwegnahmen eine Auslegung beeinflussen, aber unmöglich, ihren Einfluss wirklich aufzuheben. Sie ergeben sich aus dem Leben, das der Hermeneut führt, und den Neigungen, denen er folgt, sodass sie das besondere Verhältnis des Subjekts zu seinem Gegenstand bedingen. Weil sie aus seinem Leben stammen und vom Subjekt in 4

Buggenhagen 1996: 7.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

die Auslegung hineingetragen werden, müssen sie für eine sachgerechte Interpretation immer wieder am zu verstehenden Gegenstand auf ihre Gültigkeit überprüft werden (Grondin 2009: 46, in Anlehnung an Bultmann). Jeder Gegenstand entfaltet bei seiner Auslegung eine eigene Kraft und zieht den Hermeneuten unweigerlich in sich hinein. Er verwickelt ihn in eine Begegnung, in der die Subjektivität des Hermeneuten nur soweit erhalten bleibt, wie sie sich dem fügt, was ihm der Gegenstand in seiner Objektivität aufzwingt (vgl. Grondin 2009.: 54–67, in Anlehnung an Gadamers Verständnis von Hermeneutik). Daher wird der Hermeneut unweigerlich durch den Gegenstand verwandelt, mit dem er sich befasst. Indem er ihn in einem hermeneutischen Zirkel auslegt, erkennt er nicht nur Wesentliches an ihm, sondern auch an sich selbst, was dann wiederum in sein Verstehen des Gegenstandes einfließt. Indem er allmählich für sein Erkennen Sprache findet, löst sich der Hermeneut aus der Verschmelzung, in die er mit dem Gegenstand geraten ist, wie es umgekehrt die Sprache ist, die ihm das Erkennen erlaubt. Am Ende lässt sich in der Interpretation nicht mehr unterscheiden, was aus dem verstehenden Subjekt und was aus dem zu verstehenden Objekt in die Auslegung eingeflossen ist. Hermeneutische Bewegungsfiguren: Die Bewegung durch die sozialen Systeme, aus der heraus das Subjekt in die Lage kommt, die Konstrukte von chronischer Krankheit oder Behinderung, die sozialen Systeme, denen es anhört, und die Alterität oder das Leben an sich vertieft zu verstehen, kann auf verschiedene Weise stattfinden. Bisweilen vollführt das Subjekt mehr als eine der möglichen Bewegungsfiguren (vgl. Ette 2020: 194–225):5 Die Bewegung mit dem umbrochenen Körper kann als Kreis erfolgen. Ausgangs- und Endpunkt der Bewegung sind eins: Das Subjekt kehrt, verändert durch die gemachten Erfahrungen, zum Eigenen zurück. Der Bericht über das Erleben eines M. Hodgkin ist entsprechend aufgebaut. Ausgangs- und Endpunkt ist dabei die Hochzeit des bekannten Schauspielers, die der Verlust der gewohnten Körperlichkeit zuerst verhindert und dann nach der Heilung seiner Erkrankung doch noch gefeiert wird. Auch der Bericht über das Erleben eines Herzinfarkts folgt dieser Bewegungsfigur. Ausgangs- und Endpunkt ist die Sinnlosigkeit im Leben des Journalisten, die nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit genauso besteht wie davor und die seinen Umgang mit dem körperlichen Umbruch bestimmt. Ebenso findet sich der Kreis im Bericht über das Erleben einer Ateminsuffizienz bei Amyotropher Lateralsklerose. Dieses Mal ist Ausgangs- und Endpunkt das Sterben, das die Erzählerin zu Beginn als Nahtoderlebnis und als Traum aus dem Jugendalter einführt und dem sie durch ihre Krankheit wieder begegnet. Die Bewegung mit dem umbrochenen Körper kann auch ein Pendeln sein. Gleichzeitig und in den Erfahrungen sich überlagernd stellt das Subjekt zwei oder mehrere wesentliche Lebensbereiche dar: Das Bewegen zwischen ihnen wird dagegen wenig beschrieben. Beim Bericht über das Erleben eines M. Parkinson findet das Pendeln statt zwischen verschiedenen medizinischen Behandlungen der Erkrankung und dem Alltag, beim Bericht über das Erleben einer Erblindung in Folge einer Netzhautablösung zwischen der Familie und dem Beruf bzw. zwischen dem Wachen und dem Träumen. 5

Die dort beschriebenen hermeneutischen Bewegungsfiguren des Reiseberichts sind auf die Erfahrungsberichte zu chronischer Krankheit und Behinderung übertragen worden.

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Körperlicher Umbruch

Zeitweise sprach ich täglich, Tag für Tag etwas auf meine Kassette, manchmal aber auch im Abstand von Wochen. […] Ich sprach über meine Kinder, meine Arbeit, meine Beziehungen zu Frauen und zu Männern, und ich zeichnete meine Träume auf. […] Die Traumerzählungen bilden eine Art zweiten Handlungsstrang, wenn Handlung überhaupt das richtige Wort ist, denn am bewußten Material wird ja sichtbar, wie das Unbewußte mit dem Problem rang.6 Im Pendeln werden die verschiedenen Erfahrungsräume verglichen, dabei vertieft aus den jeweiligen Blickwinkeln betrachtet, bis sie sich nach und nach zusammenfügen. Eine andere hermeneutische Bewegungsfigur des umbrochenen Körpers ist die Linie. Von einem klar bestimmten Ausgangspunkt erfolgt die Bewegung zu einem gegebenen Zielpunkt, der erreicht werden soll: Mit den von ihm gemachten Erfahrungen nähert sich das Subjekt allmählich seinem Ziel, wobei es nicht beabsichtigt, dorthin zurückzukehren, wo es hergekommen ist. Das bisher Geschehene ist nur eine Szene in einem viel größeren Bild. Es gibt noch riesige leere Flächen. Aber ich bin sicher, meine Prothesen-Konvois werden immer im Mittelpunkt dieses Bildes stehen. Der Mangel ist so groß.7 In den Erfahrungsberichten über das Erleben einer Querschnittslähmung und über das einer traumatischen Beinamputation finden die Erzählerinnen am Ende eine Erfüllung, nachdem sie davor verschiedene Stationen dargestellt haben, die von ihnen auf ihrem Weg durchschritten wurden und an denen sie reifen mussten – beginnend in der Kindheit und den körperlichen Umbruch einbeziehend. Die Bewegung mit dem umbrochenen Körper lässt sich des Weiteren in der Form eines Sterns fassen. Ausgehend von einem Mittelpunkt werden Bewegungen in verschiedene Richtungen unternommen, sodass sich allmählich ein Raum erschließt: Die Erfahrungen, die das Subjekt unterwegs macht, werden gesammelt und nach der Rückkehr zum Zentrum bewertet. Im Bericht über das Erleben eines Locked-in-Syndroms sind die Halt gebenden Erinnerungen an die Zeit vor dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit das Zentrum, von dem aus in mehreren Episoden die Folgen des körperlichen Umbruchs erfasst werden. Im Bericht über das Erleben eines Herz- und Hirninfarkts ist zuerst der körperliche Umbruch als Linie beschrieben, ehe der veränderte körperliche Zustand zum neuen Zentrum wird, von dem aus in den zwei erzählten Episoden aufgebrochen, Vergangenes erinnert und anders als zuvor verarbeitet wird. Eine letzte Bewegungsfigur kann als Springen aufgefasst werden. Ohne einen festgelegten Ausgangs- oder Zielpunkt werden vom Zufall bedingte Bewegungen in verschiedene Richtungen getätigt: Das Subjekt macht eine Vielzahl von Erfahrungen, die in sich keinen Anfang und kein Ende aufweisen, sodass auch kein Sinn durch eine Gerichtetheit entsteht. In den beiden Berichten über das Erleben von Multipler Sklerose werden nach den kurzen linearen Darstellungen des Krankheitsverlaufs die Erfahrungen, die mit dem umbrochenen Körper in verschiedenen Lebensbereichen gemacht

6 7

Hull 1992: 12. Mills 1996: 281.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

wurden, in loser Reihenfolge abgehandelt. Ähnlich ist der Bericht über das Erleben eines Hirninfarkts aufgebaut, nur dass dabei die Bewegung der Linie größer und die des Springens kürzer ausgeführt ist. In diesen Bewegungen erfährt das Subjekt, das einen körperlichen Umbruch erlebte, sein Selbst, die sozialen Systeme, denen es angehört, und die Alterität, auf die es bezogen ist. Als Hermeneut dreht es den gewohnten Blick um. Während es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit für die Alterität zu einem chronisch Kranken oder Behinderten wird, der von ihr betrachtet wird, sobald er auftaucht, fasst es mit seiner Auslegung in Worte, was ihm mit seiner Körperlichkeit an der kollektiven Identität als besonders auffällt. Mit den Erfahrungen, die es mit seinem Körper macht, interpretiert das Subjekt nicht nur die Konstrukte von chronischer Krankheit oder Behinderung auf seine Weise, sondern gewinnt Erkenntnisse über die Alterität in den sozialen Systemen, die diese Konstrukte anwendet, sowie allgemein über Leben und Tod. Bedingungen gelingender Interpretation: Gleich welche Bewegungsfigur vorherrscht, ist das Subjekt nur insoweit zu einer Interpretation in der Lage, wie es das Widerfahrnis des körperlichen Umbruchs überwunden und in eine Ordnung eingefügt hat. Diese Ordnung auszulegen und zu erkennen, ist ihm unmöglich, solange es von Schmerz, Angst und Scham überwältigt ist und das Selbst vom ungewohnten körperlichen Geschehen besetzt, außer sich, in sich gespalten sowie von extraordinären oder von liminalen Regungen und Empfindungen bestimmt bleibt. Zu sehr ist das Subjekt dann noch darauf angewiesen, dass seiner Not abgeholfen wird, als dass es den Abstand finden könnte, den es für eine gelingende, d.h. vertieft verstehende Deutung braucht. Eine Interpretation ist dem Subjekt auch dann nicht möglich, wenn es von den verschiedenen Wegen, auf denen die Gesellschaft dem Pathos des körperlichen Umbruchs antwortet, überzeugt ist. Allerdings setzt eine Auslegung der Konstrukte von chronischer Krankheit oder Behinderung und eine Erkenntnis der sozialen Systeme und der Alterität durch diese Konstrukte voraus, dass das Subjekt sich mit ihnen identifiziert hat; denn erst dadurch wird der auszulegende Sachverhalt oder die zu erkennende Person innerlich abgebildet. Was nach einer Distanzierung interpretiert wird, ist damit nie objektiv und nie subjektiv, sondern eine Neuschöpfung, die einzigartig das interpretierende Subjekt wie das zu interpretierende Objekt beinhaltet. Damit die Interpretation gelingt, d.h. durch sie etwas bis dahin Verborgenes gezeigt wird, muss das Subjekt sich nicht nur aus seiner Identifikation lösen, sondern auch den Anteil bestimmen, den es durch seine Identität in die Auslegung eingebracht hat. Indem das Subjekt zwischen Identifikation und Distanzierung wechselt und seine Affektivität reflektiert, versteht es zunehmend genauer, was die Konstrukte von chronischer Krankheit oder Behinderung bedeuten und was sich durch sie über die sozialen Systeme und die Alterität aussagen lässt. Jede Interpretation bewegt das Subjekt affektiv, so dass sie wiederum sein allgemeines Identitätsempfinden verändert. In einem hermeneutischen Zirkel vermag es aus diesem veränderten Identitätsempfinden heraus dann den Gegenstand, den es auslegen will, nämlich die Konstrukte von chronischer Krankheit oder Behinderung sowie die Alterität, vertieft zu verstehen. Durch seine Deutungen und Erkenntnisse eignet das Subjekt sich an, was ihm durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit alles an Fremden in seiner Umwelt, in seinem Körper, in den sozialen Systemen und in seinem Selbst begegnet. Ist es zu

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Körperlicher Umbruch

Beginn der Reise mit dem umbrochenen Körper einsam gewesen, fühlt es sich jetzt wieder verbunden. Wenn das Subjekt im Eigenen das Allgemeingültige findet, versteht es wieder, sich von sich aus auf die Alterität zu beziehen. Besondere Lebens- und Welterfahrung: Weil das Subjekt durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erfuhr, was es heißt, Körper zu sein, und wie das Körperliche Wirklichkeit schafft, kann es seinen umbrochenen Körper nutzen, um eine Wirklichkeit der sozialen Systeme und des Lebens zu erfassen, die mit einem als normal geltenden Körper nicht zu erfassen ist. Dadurch, dass der geschädigte somatische Körper, der behinderte soziale Körper und der pathische psychische Körper die Welt anders aufnehmen und anders auf sie einwirken als der normale, gewinnt das Subjekt eine besondere Lebens- und Welterfahrung. Als chronisch Kranker oder Behinderter betrachtet es das soziale System, in dem der Gesunde unbewusst lebt, von außen, und durch die innere und äußere Bewegung seines umbrochenen Körpers tritt für das Subjekt hervor, was der Alterität, die das Normale verkörpert, verborgen bleibt. Dieses Wissen ist aber aus dem allgemeinen Diskurs, was Leben bedeutet, weitgehend ausgeschlossen (vgl. Wendell 1996: 64–66) und in der kollektiven Identität der Gesellschaft kaum repräsentiert. Um die Lebens- und Welterfahrung, die sich aus dem umbrochenen Körper ergibt, öffentlich zu machen, muss das Subjekt sich innerlich bewegt haben: Es muss zuerst die pathische Erfahrung des körperlichen Umbruchs überwunden haben und auch die, die von der Medizin, der Behindertenrolle oder den Narrativen von chronischer Krankheit oder Behinderung ausgehen kann. Dann hat es als nächstes merken müssen, dass das gesellschaftliche Ideal, den Körper makellos und fit zu halten, seiner Erkenntnis widerspricht, dass der Körper verletzbar und sterblich ist. Weiterhin muss ihm klar geworden sein, dass der Körper nicht nur der Inszenierung und Vermarktung des Selbst dienen kann. Schließlich muss es verstanden haben, dass es keine moralische Schwäche ist, dem körperlichen Sein ausgesetzt zu sein, sondern eine Illusion, stets selbstbestimmt über den Körper verfügen zu wollen. Wenn das Subjekt in der Öffentlichkeit seine Erfahrungen mit dem umbrochenen Körper schildert, wiederholt es, was es in seinem Alltag schon öfters getan hat, nämlich handelnd und sprechend sich mit dem von der Norm abweichenden und negativ bewerteten Körper zu erkennen zu geben. Solch ein Coming-out ist dem Subjekt vertraut: Es machte es, als es dem Zweifelnden durch Absetzen der Blindenbrille das vollkommen weiße Auge zeigte, den Kollegen die Diagnose Parkinson mitteilte, in einem Exklusivinterview mit einer Menge Fotos von der Amputation des Beins nach dem Unfall berichtete oder beim ersten Date die Multiple Sklerose erwähnte. Im Unterschied dazu spricht das Subjekt nun aber von allgemeinen Erkenntnissen, die es im Prozess seiner Identitätsarbeit mit dem umbrochenen Körper gewonnen hat.

2.2

Auslegungen des Konstrukts chronische Krankheit

Die Wirklichkeit der Krankheit: Das Subjekt, das den körperlichen Umbruch überlebte, weiß aus eigener Anschauung, wie Krankheiten verlaufen. Selbst wenn sie die gewohnte Körperlichkeit für längere Zeit oder auf Dauer verändern, können sie unmerklich

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

beginnen. Das körperliche Geschehen wird dadurch bewusst, dass die Kohärenz nachlässt. All dies zeigt mir heute, daß die Ereignisse in so einer Ausnahmesituation wie ein fremder Film an einem vorbeilaufen, ohne wirklich aufgenommen zu werden. Ins Bewußtsein und in die Erinnerung dringt nur, was man emotional oder physisch konkret als Schmerz oder Erregung spürt.8 Falls dank medizinischer Hilfe in Folge einer Erkrankung nur die gewohnte Körperlichkeit verloren ist, aber nicht das ganze Leben, löst das nicht immer Dankbarkeit aus. Zu groß ist der Verlust und der Austausch mit der äußeren Welt zu sehr herabgesetzt. Früher wurde das »Hirnschlag« genannt, und man starb ganz einfach daran. Der Fortschritt der Reanimationstechnik hat die Strafe verfeinert. Man übersteht es, aber in einem Zustand, den die angelsächsische Medizin so treffend locked-in syndrome getauft hat: Von Kopf bis Fuß gelähmt, ist der Patient mit intaktem Geist in sich selbst eingesperrt, und das Schlagen des linken Augenlids ist sein einziges Kommunikationsmittel.9 Gerade die Aufforderung der Alterität, die Krankheit als eine Chance zu sehen, entspricht oft nicht dem Empfinden des Subjekts. Angesichts des körperlichen Umbruchs empfindet es sie als Hohn. Gibt es auch etwas Positives an einem Herzinfarkt? Ja, denn: Wenn man überlebt, hat man eine prima Chance, sein Leben zu ändern. Und nach der OP bekommt man Morphium.10 Falls die Krankheit länger besteht, kann sie mit einem Kontrollverlust einhergehen. Die Berechenbarkeit des eigenen Lebens schwindet. Es ist dem Subjekt nicht mehr möglich, über die Zukunft zu verfügen, weil das körperliche Geschehen nicht vorauszusehen ist. Es gibt bei der MS nur eine Sicherheit: die Unsicherheit, das Nicht-Wissen, wie die Krankheit verläuft.11 Aus der Fachliteratur lässt sich keine Gewissheit ziehen, was den Krankheitsverlauf angeht. Denn die Wirklichkeit, wie sie vom kranken Subjekt erfahren wird, weicht davon ab. Viele Veröffentlichungen zum Morbus Parkinson erwecken den Eindruck, die Krankheit entwickle sich linear; in Wirklichkeit gleicht sie jedoch einer Achterbahnfahrt, die man nur deswegen auf sich nimmt, weil man keine Wahl hat.12 Auch wenn das Subjekt schon länger mit einer Krankheit lebt, wird es im Alltag immer wieder von ihr überrascht. Ihr Verlauf ist unberechenbar.

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Peinert 2002: 23. Bauby 1997: 6f., Kursivierung im Original. Huth 2003: 24. Ruscheweih 2005: 62. Todes 2005: 163.

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Eine lange Planung ist bei MS oft schwierig, meist kommt es sowieso anders als man denkt.13 Das eigene Selbst, wie es dem Subjekt in der Krankheit bewusst wird, entspricht nicht den Erwartungen. Das Subjekt muss in der Rekonvaleszenz erkennen, dass es nicht so selbstwirksam ist, wie es von sich vermutete. Tapfere Theorien von Genesung sind leicht aufzustellen, wenn man noch satte Monate vor sich hat. Jetzt ist der Kredit verspielt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn vernünftig genutzt habe.14 Die Mühen der Behandlung: Wenn der Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch den Arzt als chronische Krankheit bestimmt ist, muss das Subjekt die Institutionen des Gesundheitswesens wiederkehrend oder dauerhaft in Anspruch nehmen. Denn mit der Bestimmung einer chronischen Krankheit ist besagt, dass sie mit dem Wissen der Medizin nicht rückgängig gemacht, sondern bestenfalls gelindert werden kann. In diesem Fall ist die Beziehung zu den behandelnden Spezialisten von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Gerade bei chronischen Erkrankungen ist das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ganz wichtig. Nur wenn ich zu meinem Arzt Vertrauen habe, kann ich mit ihm über die anfallenden Symptome und die daraus resultierenden Probleme und Schwierigkeiten ausführlich sprechen.15 Auch wenn die Suche nach einem Spezialisten, zu dem ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann, bisweilen mühevoll ist, zahlt sich der Aufwand aus. Jeder Patient – nicht nur ein MS-Patient – sollte den richtigen Arzt finden. Es dauert manchmal länger, aber es lohnt sich. Man kann sich auch bei den Krankenkassen erkundigen.16 Diese Mühe lohnt sich auch bei der Suche nach der richtigen Institution. Ich denke, es ist ganz wichtig, als MS-Patient immer in das Krankenhaus zu gehen, in dem einen die Ärzte kennen, denen man vertraut und in dem man sich – soweit das möglich ist – wohl fühlt. Denn auch diese Erkenntnis ist wichtig für den Erfolg der Behandlung: habe ich das Gefühl, nicht vernünftig behandelt zu werden und nicht als Mensch, sondern als »die MS von Zimmer XY« gesehen zu werden, dann fehlt mir auch die Compliance, die Bereitschaft, die Behandlung der Ärzte, Krankengymnasten und Ergotherapeuten anzunehmen.17 Denn Unzulänglichkeiten der Institution wirken sich nachteilig auf die Behandlung aus.

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Ruscheweih 2005: 60. Huth 2003: 122. Ruscheweih 2005: 39. Ruscheweih 2005: 38. Ruscheweih 2005: 38f.

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Man sollte organisatorisch vermeiden können, daß ein Kurbeginn von der Klinik auf den Donnerstag vor Pfingsten gelegt wird, so daß man nach seiner Ankunft bis zum Pfingstmontag, also fünf lange Tage lang, ohne jede Kuranwendung bleibt, sich ohne rechte Einweisung langweilt und nur Zeit vertrödelt!18 Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der medizinischen Behandlung liegt also in der vertrauensvollen Beziehung zu der Person, die die Behandlung vornimmt, oder zu der Institution, wo sie vorgenommen wird. Nur in Zusammenarbeit können die gesellschaftlich vorhandenen Ressourcen mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt werden. Die Behandlung des Parkinson setzt eine Allianz zwischen Arzt und Patient voraus, um die Reaktionen des Patienten auf die Medikamente zu lenken und zu optimieren.19 Dabei liegt Verantwortung für die fachgerechte Behandlung des veränderten Körpers bei dem Spezialisten des Gesundheitswesens, der sie ausführt. Krankengymnastik […] sollte unter guten Bedingungen ablaufen. […] Die Erkenntnis, welche Therapie für den Patienten notwendig ist, muss jeder Therapeut anhand eines Befundes herausfinden.20 Bevor ein Kranker eine Ressource, wie sie zur Behandlung der ungewohnten Körperlichkeit angeboten wird, nutzt, ist die Anspannung oft groß. Gleichzeitig besteht aber auch Hoffnung. In keine Operation geht man unbeschwert jubelnd, immer ist ein wenig Unsicherheit und Angst dabei. Aber auch Vorfreude: Was werde ich noch alles anstellen können, wenn ich dann und nach der Rehabilitation wieder »voll« einsatzfähig bin!21 Während der Behandlung ist das Wohlbefinden gering. Und dann diese Schmerzen. Dass man generell Schmerzen hat ist das eine, dann aber kommt in der zweiten Woche nach der Chemotherapie dieses Gliederreißen, das sich durch den ganzen Körper zieht, und auch die Schmerzmittel können dann keine Abhilfe mehr schaffen. Man liegt einfach da und wartet, dass es losgeht. Und dann kommen sie, diese Schmerzen, und überrollen dich wie ein Flutwelle.22 Zur Behandlung gehören Schmerzen, die nur teilweise zu lindern sind. Mit den modernen Medikamenten kannst du natürlich die Schmerzen in erträglichen Grenzen halten, aber sie sind da. Besonders dann, wenn du – was die moderne Medizin ja fordert – nach einer Operation wieder aufstehen und dich bewegen sollst.23 Doch eine fachlich gute Behandlung ist hilfreich. Denn sie vermag den Umfang der körperlichen Veränderungen zu verringern. 18 19 20 21 22 23

Peinert 2002: 51. Todes 2005: 165. Ruscheweih 2005: 70. Buggenhagen 1996: 129. Lesch 2002: 135. Lesch 2002: 102.

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Das Ergebnis beweist, wie gut die Chancen für eine erfolgreiche Bewältigung der Krisensituation Schlaganfall sein können, wenn von allen Beteiligten richtig und schnell gehandelt wird.24 Die fachlich gute Behandlung weckt die anerkennende Bewunderung des Subjekts, dem sie in seiner Not zuteil wird. Die Logopädie ist eine Kunst, die es verdient, daß man sie kennt.25 Angesichts der Not, die mit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit einhergeht, ist im Allgemeinen die Motivation zur Behandlung gut. Aber wer bleibt schon freiwillig in dem finsteren Loch, in das er plötzlich gefallen ist, wenn er auch nur den leichten Schein eines Lichts an einem möglichen Ausgang wahrnimmt?26 Dann nimmt das Subjekt hin, dass die Behandlung in ihrem Verlauf nicht nur schmerzvoll, sondern auch anstrengend ist. Auch die Zeit der Erholung ist nicht einfach. Doch es dauert schon verdammt lange, bis man wieder Kondition hat.27 Zwischendurch kommen Zweifel auf. Schwieriger wird die Antwort [, ob sich die ganze Mühe lohnt; B.R.], wenn man erfahren muß, daß die sichtbaren Erfolge doch lange auf sich warten lassen, daß man allein mit Willenskraft kaum etwas bewegen kann und schon gar nicht als schneller als die Natur es zuläßt.28 Mit der Behandlung fortzufahren, scheint selbst dann angezeigt zu sein, wenn die Zweifel stark sind. Das Subjekt weiß, dass sich der Erfolg einer Behandlung nicht immer unmittelbar einstellt. Es ist also nötig, aktiv und engagiert mit der Therapie fortzufahren, selbst dort, wo Erfolge nach außen nur wenig sichtbar sind.29 Langfristig gesehen, lohnt es sich für den Kranken, sich immer wieder von Neuem zu überwinden. Wer bereit ist, sich den Mühen der Behandlung zu unterziehen, kann dadurch für sich mehr erreichen, als er zuvor vermutet, aber auch nicht alles, was er erhofft hat. Es immer wieder zu versuchen, diese Möglichkeiten zu erkunden, gegen die scheinbar übermächtige Lähmung, die einem flüsternd suggeriert »Laß sein, das hat doch alles keinen Sinn!«, das ist verdammt schwer und verlangt vor allem Kopfarbeit. Man schafft

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Peinert 2002: 107. Bauby 1997: 42. Peinert 2002: 92. Lesch 2002: 167. Peinert 2002: 93. Peinert 2002: 96.

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nicht alles, was man nur will, aber man schafft mehr, als man am Beginn des Kampfes um das bißchen Existenz jemals glaubte.30 Es ist für das Subjekt erfreulich, wenn es merkt, wie sich das körperliches Befinden durch seine Bemühungen tatsächlich bessert. Wenn man sieht, wie ein bloße Störung des Gleichgewichts zwischen Anspannung und Entspannung von Muskeln es verhindert, daß man gehen kann, und wie nach wochenlangem Üben plötzlich die Balance sich wieder einzustellen scheint und auf einmal – vielleicht nur für wenige Schritte – das Knie sich wieder locker durchbiegt und ein richtiger Schritt möglich wird, so ist dies ein ungemein befriedigender Lohn für jede Mühe und ein unendlich größerer Erfolg als jeder zusätzlich bewältigte Kilometer.31 Nachdem der Verlust der gewohnten Körperlichkeit zu einer chronischen Krankheit geführt hat, verlangt – so weiß das Subjekt – der umbrochene Körper einen ständigen Einsatz. Der Satz »Rast‹ ich, so rost‹ ich!« hat bei der Behandlung von Schlaganfallgeschädigten sicher seinen Sinn.32 Durch diesen ständigen Einsatz lässt sich eine Menge bewirken. Die durch den körperlichen Umbruch gestörte Selbstbezogenheit wird durch begleitende Maßnahmen zusätzlich gebessert. Gerade Sport hat einen hohen Anteil am langsam zurückkehrenden Selbstbewußtsein der Gelähmten: Rollstuhlfahren, Tischtennis, Bogenschießen, Schwimmen – meist ist es viel mehr, als die Patienten in ihrem Leben als Nichtbehinderte für ihren Körper getan haben.33 In dem Fall, dass die körperlichen Veränderungen eine psychische Krise verursachen, stehen weiterführende Hilfen zur Verfügung. Psychotherapie ist eine effektive, aber häufig übersehene Maßnahme. In den Händen eines fähigen Therapeuten kann sie stabilisierende Einsichten in die Beziehung zwischen Psyche und Körper in kritischen, emotional äußerst belastenden Zeiten ermöglichen. Sie ist besonders hilfreich, wenn ein Patient aufgrund der Krankheit in eine Depression verfällt, aber auch, wenn eine Neigung zu Depressionen schon vor beginnender Erkrankung bestanden hat. Psychotherapie kann außerdem bei Depressionen helfen, die durch Medikamente verursacht wurden.34 Bei der Durchführung der Behandlung ist zu berücksichtigen, dass es Zeit braucht, bis sie wirkt, und dass in ihrem Verlauf von den Bedürfnissen des Patienten auszugehen ist.

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Buggenhagen 1996: 92f. Peinert 2002: 93. Peinert 2002: 81. Buggenhagen 1996: 91. Todes 2005: 165.

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Klar, daß alles ohne Druck geschehen muß. Man kann niemanden gegen seinen Willen zu seinem Glück zwingen. Das bedeutet, sich Zeit zu nehmen füreinander. Die Rehabilitation dauert so lange sie eben dauert. Es kann keine Vorgaben geben, in die man die Entwicklung der Patienten preßt – und wenn diese nicht aufgehen, einen Mißerfolg konstatieren. Es muß genau umgekehrt sein, die Vorgaben richten sich nach dem individuellen Verlauf bei jedem Einzelnen.35 Allerdings wird bisweilen von Seiten der Institution zu wenig Zeit angeboten. Auch bemerke ich erst jetzt so richtig, daß 30 Minuten pro Gymnastikeinheit einfach zu kurz sind. Ergotherapie und Krankengymnastik, die ich für die wirkungsvollsten Therapiemaßnahmen zur Behebung von Lähmungen nach einem Schlaganfall halte, hätten meines Erachtens noch mehr bringen können, wenn sie jeweils als doppelt so lange Einheiten, nämlich für 60 statt nur 30 Minuten verordnet worden wären.36 Die Patientenrolle: Wenn das Subjekt wegen einer chronischen Krankheit auf eine medizinische Behandlung angewiesen ist, wird es zu einem Mitglied des sozialen Subsystems Gesundheitswesen. Es gehört ihm in der Rolle des Patienten an. Diese Rolle beinhaltet, dass man sich als Person aufgeben und der Institution unterwerfen muss. Ein Patient ist […] ein Mensch, der die Souveränität der eigenen Entscheidung mehr oder weniger freiwillig aufgibt und sich schließlich in diesem Zustand sogar wohlfühlt, ja er verliert den Willen und schließlich sogar die Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen. Das ganze ist ein Akt der Unterwerfung, der natürlich nicht spannungsfrei erfolgt.37 Das Wesen des Patienten lässt sich noch näher dadurch kennzeichnen, dass er nichts selbst entscheiden mag und zulässt, dass die Spezialisten des Gesundheitswesens über ihn bestimmen. Ein typischer Patient entscheidet nichts selber, sondern unterwirft sich freiwillig dem Krankenhaussystem und läßt schließlich sogar gern seine Ärzte und Schwestern entscheiden. Man verliert im Laufe der Zeit geradezu die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und übergibt sich wie ein Kind dem fremden Willen. Man hat als Patient mangels Sachkenntnis auch gar keine Chance, sich anders zu verhalten.38 Am Ende steht als Gewissheit, was die Rolle des Patienten verlangt: Patient heißt, geduldig sein (to be patient).39 Indem sich das Subjekt, das einen körperlichen Umbruch erlebt, in die Rolle des Patienten fügt, verliert es den Bezug zu den übrigen sozialen Systemen, denen es noch angehört. Dazu trägt bei, dass sich das Subjekt als Patient an einem besonderen Ort aufzuhalten hat, der die Wahrnehmung der Außenwelt verringert. 35 36 37 38 39

Buggenhagen 1996: 92. Peinert 2002: 51. Peinert 2002: 65. Peinert 2002: 67. Peinert 2002: 29.

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Was außerhalb der Klinikmauern vor sich geht, rückt in weite Ferne und wird nur noch verschwommen wahrgenommen. Man fällt als Patient ein wenig »aus der Welt«.40 Der Patient sehnt sich nach Begegnungen von gleich zu gleich. Man braucht als Patient einfach Menschen, die bereit sind, mit einem zu sprechen.41 Wie sich das Subjekt durch seine Zugehörigkeit zum sozialen Subsystem Gesundheitswesen zu einem Patienten wandelt, lässt sich erklären. Es geschieht in mehreren Schritten. Dieser Einschränkung unterwirft sich [der Patient; B.R.] zunächst zwangsläufig, schon wegen seiner physischen Beschränkungen und aus Mangel an eigenen Fachkenntnissen im Vertrauen auf Heilung durch den Fachmann. Der eigene Wille bleibt in dieser Rolle ausgeschaltet. Der Patient empfindet sich dann leicht als bloß fremdbestimmtes Objekt ohne eigenen Einfluß auf die Geschehnisse. […] Ein Aufbegehren erscheint sinnlos, man befindet sich ohnehin in völlig fremder Umgebung und weiß nicht, was nun mit einem geschehen soll. […] Man ordnet sich im allgemeinen als Patient schließlich der vermeintlichen und medizinisch auch tatsächlichen fachlichen Autorität von Ärzten und Schwestern unter.42 Doch was die Rolle des Patienten verlangt, entspricht nicht unbedingt dem Wesen des Subjekts. Gerade als chronisch Kranker stellt es sich seine Rolle anders vor. Es möchte nicht, dass über ihn verfügt wird. Wir als MS-Patienten sollten versuchen ein Mitspracherecht bei der Behandlung zu erreichen, denn wir kennen den Verlauf unserer Erkrankung, kennen unsere Symptome – jedenfalls, wenn der Krankheitsverlauf schon einige Jahre andauert.43 Das Subjekt verweist auf seine einzigartigen Erfahrungen im Umgang mit der Krankheit. Das Wissen eines Patienten, das aus dem täglichen Umgang mit seiner Krankheit entspringt, macht ihn mit der Zeit zu einem Experten seiner eigenen Form des Parkinson und wird das Wissen des Arztes zwangsläufig übersteigen […].44 Daher wünscht sich das Subjekt eine medizinische Behandlung, in die es seine Bedürfnisse einbringen kann. Es gibt keine allgemeingültige Therapie. […] Dabei sollte der Patient zu Anfang der Behandlung seine Vorstellungen und Erwartungen an die Behandlung dem Therapeuten mitteilen.45

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Peinert 2002: 35. Peinert 2002: 26. Peinert 2002: 64, 65, 66. Ruscheweih 2005: 39. Todes 2005: 165. Ruscheweih 2005: 70.

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Da die Wirklichkeit in den Institutionen des Gesundheitswesens diesen Vorstellungen oft nicht entspricht, entstehen in der Beziehung zu den Spezialisten Spannungen. Alle Parkinson-Patienten beschweren sich darüber, ihre Ärzte würden ihnen zu wenig Zeit widmen. In überfüllten Klinken beschränkt sich das Gespräch mit dem Neurologen auf die Details der Medikamenteneinnahme, statt auf die neu entstandenen Probleme des Allgemeinzustandes und des Alltags einzugehen.46 Bei aller Freundlichkeit, die von den Spezialisten gegenüber dem Patienten aufgebracht wird, herrscht ein Machtgefälle zwischen den Mitgliedern des sozialen Subsystems, wie es sonst in der Gesellschaft ungewöhnlich ist. Die Ärzte erklären einem alles und befinden darüber, was mit einem los sei und was zur Besserung des Zustandes zu geschehen habe. Dazu gehört unter anderem eben auch, daß sie entscheiden, ob man nach Hause darf. Das an sich selbstverständliche demokratische Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsortes – sonst nur Strafgefangenen auf Grund eines Gerichtsbeschlusses vorenthalten – ist für den Patienten außer Kraft gesetzt, solange er bereit ist, eben Patient zu bleiben.47 Auswirkungen auf das Selbst: In der Auslegung des Konstrukts chronische Krankheit findet das Subjekt, dass der Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht nur als somatisches Geschehen zu betrachten ist. Der körperliche Umbruch wirkt sich auch nachteilig auf das Selbst aus. Ein kranker Körper trägt auch ein gehemmtes, gestraftes Ich in sich; Selbstrespekt und Eigenliebe nehmen ab.48 Das gegenwärtige körperliche Erleben und frühere Erfahrungen und Prägungen ergänzen sich, sodass die chronische Krankheit Wohlbefinden und Lebensführung beeinträchtigt. Alle Parkinson-Kranken werden in ihrem Gleichgewicht von realen und eingebildeten Gefahren bedroht. Erstere verursachen Schäden an Organen, Letztere das Auftreten früherer regressiver Verhaltensweisen, die sich in Schüchternheit, mangelndem Selbstbewußtsein und sexuellem Rückzug äußern, da alte instinktgesteuerte und psychische Konflikte durch die Krankheit wiederbelebt werden.49 Die Auswirkungen auf das Selbst sind mitunter gegensätzlich: Erwachsene verhalten sich kindisch, Kinder reifen vorschnell. [D]ie Krankheit kann einen Menschen derart verändern, dass das Verhalten für Gesunde kaum nachvollziehbar wird. Umgekehrt können sich kranke Kinder, die durch ihr Leiden kaum noch Kinder sein können, schnell zu erwachsenen Menschen entwickeln.50 46 47 48 49 50

Todes 2005: 165. Peinert 2002: 64. Todes 2005: 166. Todes 2005: 71. Balmer 2006: 69.

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Dass die Auswirkungen des körperlichen Umbruchs auf das Selbst so umfassend sind, lässt sich damit erklären, dass die chronische Krankheit nicht nur die somatischen Funktionen, sondern auch das Körperselbst des Subjekts grundlegend verändert. Die Reaktionen der Psyche auf einen veränderten Körper und deren Bedeutung für das ganze Selbstbild des eigenen Körpers sind erheblich […]. Beim Parkinson entsteht durch die Auswirkungen der Krankheit auf Haltung, Gang, Handschrift und letzten Endes auch Kommunikation ein neues Körperbild – alles Ergebnisse eines vorzeitigen Alterungsprozesses.51 Unmittelbar nachdem der körperliche Umbruch eingetreten ist, lässt sich weiterhin beobachten, wie der Verlust der gewohnten Körperlichkeit zu Selbstvorwürfen führt. Motorrad-, Auto- und Badeunfälle sind in der Mehrzahl für die Querschnittslähmungen verantwortlich, das sinnlose Rätseln aus »Hätte, wenn und aber« – »wäre ich mit dem Bus gefahren, dann könnte ich heute meinen Surf-Urlaub vor Sylt genießen« – ist eine der selbstquälerischen Hauptbeschäftigungen in den ersten Tagen. Das hat zwar keinen therapeutischen Effekt, aber es ist besser, der tiefsitzenden Verzweiflung, ja, auch dem Selbstmitleid, am Anfang ihren Lauf zu lassen und nur sanft gegenzusteuern. Ein solch fürchterlicher Einschnitt in das Leben, in Träume, Hoffnungen, Zukunftspläne, der hat das Recht auf ängstliche Niedergeschlagenheit.52 Die chronische Krankheit geht mit Verzweiflung, Sinnverlust und Selbstanklage einher. [Parkinson-Patienten; B.R.] verzweifeln an ihrem Bedürfnis danach, eine Erklärung für ihre unerklärliche Krankheit zu finden, und verurteilen sich selbst für ihren Verfall; dennoch sind sie nicht in der Lage, den Prozess umzukehren.53 Die Scham über den Verlust der gewohnten Körperlichkeit kann gewaltig sein. Das Subjekt will die Krankheit vor seiner Alterität verbergen. Es ist allerdings erstaunlich, […] wie wichtig es für viele Leute ist, die Krankheit vor anderen geheim zu halten. Diese Geheimniskrämerei zieht sich durch alle Klassen- und Bildungsunterschiede, ist aber am stärksten bei den Patienten ausgeprägt, die älter als 50 sind und vor der allgemeinen Liberalisierung und wachsenden Toleranz in unserer heutigen Gesellschaft aufwuchsen und deshalb nicht davon profitieren konnten.54 Das Subjekt ist bemüht, die Wirklichkeit der chronischen Krankheit selbst nicht bewusst mitbekommen zu müssen. Bei einer fortschreitenden Erkrankung […] leugnet man die zunehmende Behinderung, die körperliche Unbeweglichkeit und das Unbehagen. Man sucht vielleicht nach Behandlungsmöglichkeiten, die diese Idealvorstellung [vom eigenen Körper; B.R.] realisieren sollen, anstatt sich mit kleinen Fortschritten zufrieden zu geben. Man sehnt sich nach dem »endgültigen« Medikament oder der »perfekten Transplantation«, die 51 52 53 54

Todes 2005: 163. Buggenhagen 1996: 91. Todes 2005: 68. Todes 2005: 165.

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alle zusätzlichen Medikationen unnötig macht. Man wird anfällig für Methoden, die Wunder versprechen.55 Das Bedürfnis, die chronische Krankheit vor der Alterität und vor sich selbst zu verbergen, lässt sich darauf zurückführen, dass das Subjekt sie als einen selbst verursachten Makel ansieht. Daher muss es sich ermutigen. MS zu haben, ist keine Schande und nichts, was man vor der eigenen Familie, vor Verwandten oder Nachbarn verstecken muss und kann.56 Dennoch kommt es vor, dass sich das Subjekt schuldig fühlt, chronisch krank zu sein. Um sich in diesen Schuldgefühlen nicht zu verlieren, muss es sich klarmachen, dass es einem körperlichen Geschehen ausgesetzt ist, das nicht durch sein Selbst bedingt ist. Der Unmöglichkeit, sich zu gewissen Zeiten bewegen zu können, und der Hilflosigkeit, die diese begleitet, begegnet man am besten als einem unabhängigen Geschehen, nicht mit einem Gefühl der Schuldzuweisung – d.h. dem Empfinden, für seine Krankheit selbst verantwortlich zu sein –, egal ob dieses Gefühl von außen projiziert wird oder man selbst davon überzeugt ist.57 Aus seinem Erleben stellt das Subjekt fest, dass es nicht angemessen ist, sich für eine chronische Krankheit schuldig zu fühlen. Ob man sich selbst oder einem anderen die Schuld für eine Krankheit gibt, es ist allemal kein fairer Gedanke.58 Vielmehr kommt es darauf an, eine Einstellung zu dem körperlichen Geschehen zu finden. Das Wissen, wie man in Beziehung zu seiner Krankheit steht, macht das unverständliche Ereignis für den Kranken annehmbar statt erschreckend. Es hilft ebenso, sich auf der jeweiligen Entwicklungsstufe zu orientieren, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht hat.59 Gegen die Wirklichkeit der chronischen Krankheit leben zu wollen, scheint die nachteiligen Auswirkungen auf das Selbst zu vergrößern. Ich glaube, nur wer ganz bewusst ja sagt, kann mit dieser Krankheit leben. Jammern hilft auch wenig, die meisten Menschen hören sich das einmal, höchstens zweimal an und dann haben sie keine Zeit mehr für dich.60 Um mit der chronischen Krankheit einvernehmlich leben zu können, hat das Annehmen des körperlichen Geschehens bis in die alltäglichen Kleinigkeiten zu gehen.

55 56 57 58 59 60

Todes 2005: 164. Lürssen 2005: 56. Todes 2005: 63. Balmer 2006: 97. Todes 2005: 21f. Lürssen 2005: 56.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Es ist wichtig, dieses Ruhebedürfnis des Körpers zu akzeptieren, und es wäre grundlegend falsch, sich selbst aufgrund dieses gesteigerten Bedürfnisses abzulehnen und Gefühle von Selbsthass zu nähren.61 Das ist nicht ohne Schwierigkeit. Denn die Wirklichkeit eines Lebens mit einem umbrochenen Körper – gilt er nun als chronisch krank oder behindert – muss erlernt werden. Der Prozess ist hart. Mit anderen Worten, das Blindsein unterwirft den Benutzer eines weißen Stocks einem ehernen Gesetz. Laternenpfähle, Bordkanten und Treppen sind die besten Lehrmeister.62 Daher gehört zu den Auslegungen des Konstrukts chronischer Krankheit, die das Subjekt mit dem umbrochenen Körper macht, die Erkenntnis: Daß es Mut, Energie, Ausdauer, Zuwendung bedarf, um weiterzuleben und vor allem im Weiterleben einen Sinn zu sehen, […].63 Aus den Erfahrungen nach dem körperlichen Umbruch weiß das Subjekt, was es braucht, damit der Verlust der gewohnten Körperlichkeit sich nicht nachteilig auf das Selbst auswirkt. Es erfordert einen bestimmten Grad an emotionaler Reife, mit dem sich verändernden Körperbild umgehen zu können und ein gewisses Gefühl der Kontrolle über die Situation zu behalten.64 Auswirkungen auf die Alterität: In seiner Auslegung des Konstrukts chronische Krankheit findet das Subjekt weiter heraus, dass der körperliche Umbruch nicht nur es selbst betrifft, sondern stets auch seine Alterität, vor allem die Angehörigen im sozialen Mikrosystem der Familie. Es stellt fest, dass die Auswirkungen seiner Erkrankung auf die übrigen Mitglieder des sozialen Systems vielfach übersehen werden. Bei einem plötzlichen Einbruch von Krankheit in eine Familie wird oft die Belastung der Angehörigen neben dem Kranken selbst vergessen.65 Aus seinen Erfahrungen verweist das Subjekt darauf, dass eine chronische Krankheit keineswegs als ein rein individuelles Geschehen verstanden werden kann. Es zeigt sich also immer wieder, daß in der Geschichte eines Schlaganfalls die Angehörigen des Betroffenen mitbetroffen sind.66 Weil eine chronische Krankheit nicht nur das erkrankte Subjekt, sondern auch die Alterität betrifft, beeinflusst sie das Zusammenleben. Eine chronische Krankheit lässt ein bestimmtes Umgehen miteinander angezeigt erscheinen. 61 62 63 64 65 66

Todes 2005: 166. Hull 1992: 30. Buggenhagen 1996: 33. Todes 2005: 68. Peinert 2002: 27. Peinert 2002: 97.

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Ein harmonisches Zusammenleben besonders mit chronisch Kranken ist mehr als Glückssache. Alle sollten sich der Tatsache bewusst werden, dass nicht nur der Patient MS hat, sondern die ganze Familie betroffen ist. Dann müssen alle Familienmitglieder zusammen ohne falsche Rücksichtnahme darüber reden und praktische Lösungsversuche finden.67 Infolge der für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden Veränderung der Körperlichkeit lassen sich oft die gewohnten Rollen nicht mehr aufrechterhalten. Die chronische Krankheit führt dadurch zusätzlich zu psychischer Belastung. Es kommt in den Familien häufig zu einem mehr oder weniger gewünschten Rollentausch. Kann der [betroffene väterliche Elternteil als; B.R.] »Ernährer« seinen Beruf nicht mehr ausüben, fällt diese Rolle der gesunden Ehefrau zu. Eine Rolle, mit der viele Männer aufgrund ihrer Erziehung und Einstellung Schwierigkeiten haben.68 Durch die chronische Krankheit entsteht eine Wirklichkeit, welche im sozialen Mikrosystem nur schwer zu handhaben ist. Das wird noch gefördert, wenn sich der Kranke zu viel um die Alterität sorgt. Für Mütter sind diese Krankenhauszeiten sehr schwierig zu organisieren und schwer zu ertragen, auch wenn für die Familie gesorgt wird. Man sorgt sich trotzdem immer.69 Oder der Kranke denkt zu sehr an sich und zu wenig an die Alterität. Wieder zeigt sich, daß die Belastung der Angehörigen durch einen Krankheitsfall leicht unterschätzt wird und daß besonders der Kranke selbst bei seiner Irritation nicht berücksichtigt, daß der Angehörige in solchen Augenblicken ja Verantwortung für ihn trägt.70 Aus seinen Erfahrungen heraus befürwortet es das Subjekt, das als chronisch Kranker in einer Familie lebt, dass von allen Beteiligten über die chronische Krankheit und ihre Folgen offen gesprochen wird. Auch sonst sollten die Partner miteinander über die MS reden, darüber, welche Schwierigkeiten vorliegen oder auf sie zukommen können. Es geht aber auch um ganz alltägliche Dinge wie Haushaltsführung, Einkäufe oder Urlaubsplanung.71 Das Subjekt weiß, wie wichtig es gerade für die Kinder ist, dass es zu Gesprächen kommt, in denen ausgesprochen wird, was die Einzelnen beschäftigt. Auf diese Offenheit haben besonders die Schwächsten im Familienverband ein Recht. Kinder sind unendlich sensibel und registrieren unbewusst jede Veränderung.72

67 68 69 70 71 72

Lürssen 2005: 55. Ruscheweih 2005: 62. Lürssen 2005: 29. Peinert 2002: 70. Ruscheweih 2005: 63. Lürssen 2005: 56.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Das Subjekt rät für den Fall, dass ein Mitglied einer Familie die gewohnte Körperlichkeit verliert, dringend dazu, dass das gesamte soziale System eine fachliche Hilfe angeboten erhält. Es ist nötig, bei ernsten Krankheitsfällen auch die Probleme der Angehörigen, besonders die der Ehepartner ins Blickfeld zu rücken und, wo möglich, sie ebenfalls therapeutisch oder psychologisch zu begleiten. Das dürfte für beide Partner hilfreich sein. Schließlich sind beide von einem Schlaganfall »getroffen«.73

2.3

Interpretationen des Blind- und Behindertseins

Die Wirklichkeit der Behinderung: Das Subjekt, das sich selbst und den Anderen als behindert gilt, interpretiert das Konstrukt Behinderung aus eigener Anschauung. Es merkt, dass es in einer Welt lebt, die nicht für die Bedürfnisse gemacht ist, die sich aus dem umbrochenen Körper ergeben. Allerdings ist es ganz schön schwierig mit dem Rollstuhl über Kopfsteinpflaster zu rollen. […] Kinder und Behinderte werden bei der Planung von Kopfsteinpflasterstraßen einfach übergangen.74 Doch es ist nicht nur der somatische Körper, der nach dem körperlichen Umbruch nicht in die Welt passt und es erschwert, auf sie einzuwirken. Auch vom sozialen Körper wird im Allgemeinen die Fähigkeit abverlangt, sich in den sozialen Systemen mit einer der Norm entsprechenden Körperlichkeit auszutauschen. Die gesamte Struktur unserer gewöhnlichen, alltäglichen Gespräche setzt eine sichtbare Welt voraus.75 Nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit als ein Behinderter weiterzuleben, ist oft ein so tiefer Einschnitt, dass mit dem umbrochenen Körper nicht einfach der vorherige Lebensstil weitergeführt werden kann. Nicht jeder Top-Athlet, der durch einen Unfall oder andere Umstände plötzlich querschnittsgelähmt ist, ist später auch automatisch ein Behindertensportler. Zu dramatisch verändert ist die persönliche Situation, zu gewandelt die Lebensbedingungen, als daß ein direkter Weg prognostiziert werden kann. Jeder entscheidet für sich, jeder weiß um die Wichtigkeit für sich selbst.76 Alles andere, was zuvor wichtig war und was die Identität ausmachte, tritt zurück. Das Subjekt erklärt, woran es liegt: [D]enn das Blindsein hat kein Ende.77

73 74 75 76 77

Peinert 2002: 72. Ruscheweih 2005: 49. Hull 1992: 45. Buggenhagen 1996: 53. Hull 1992: 12.

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Weil die körperliche Schädigung andauert, muss die Identität neu bestimmt werden. Ob die Veränderung der Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung bedingt ist und ob der körperliche Umbruch einer körperlichen, sensorischen, seelischen, geistigen oder anderen Behinderung entspricht, ist dabei unerheblich. Angesichts des unumkehrbaren Verlusts ist die Herausforderung stets dieselbe. Das Blindsein ist wie ein riesiger Staubsauger, der sich über dein Leben herabsenkt und beinahe alles wegsaugt. Deine Erinnerungen an Früheres, deine Interessen, deine Wahrnehmung der Zeit und wie du sie verbringst, der Ort, sogar die Welt, alles wird herausgesaugt. Dein Bewußtsein wird leergeräumt, und es liegt an dir, es wieder zu füllen, was auch erfordert, ein neues Zeitgefühl, eine neue Wahrnehmung des Körpers im Raum und so weiter zu entwickeln. In einer solchen Situation ist es wahrscheinlich, daß die Prioritäten neu gesetzt und dabei drastisch verändert werden.78 Mit einer Behinderung hat das Subjekt sich in einem Dasein einzurichten, das sowohl nach seiner eigenen Ansicht als auch nach der seiner Alterität demjenigen unterlegen ist, das mit einem normalen Körper zu erreichen ist. Die Identität als Behinderter ist durch das Verhältnis zu denen, die das Normale verkörpern, bestimmt. Ob es einem gefällt oder nicht, Blinde sind schwach. Blindsein ist eine kleine Welt, authentisch und in sich ein organisches Ganzes, und ist doch von einer größeren Welt, von der Welt der Sehenden umgeben und in ihr enthalten. Wie können die Kleinen die Großen verstehen, ohne eifersüchtig zu sein, und wie können die Großen die Kleinen verstehen, ohne mitleidig zu sein?79 Behinderung als Defizit: In seiner Auslegung des Konstrukts Behinderung erfasst das Subjekt, dass damit die Vorstellung eines Defizits verbunden ist, nämlich dass damit ein Zustand bezeichnet wird, in dem etwas fehlt oder nicht möglich ist. Dabei ergibt sich das vermeintliche Defizit der Behinderung zum Ersten aus dem veränderten Verhältnis des somatischen Körpers zur Umwelt. Gleich welche Art von Behinderung besteht, scheint der Verlust der gewohnten Körperlichkeit sich ungünstig auf den Austausch mit der äußeren Welt auszuwirken. Im subjektiven Erleben ist die Welt weniger geworden, weil sie sich der körperlichen Verfügbarkeit entzieht. Die Lückenhaftigkeit der akustischen Welt ist eines ihres beeindruckendsten Merkmale. Im Gegensatz dazu ist die sichtbare Welt dauerhaft und kontinuierlich. Die gesehene Welt kann deinen Augen nicht entfliehen. Sogar im Dunkeln kann man die Dinge dazu zwingen, sich zu zeigen, wenn man eine Fackel nimmt […].80 Behindert zu sein, bedeutet auch, weniger auf die Welt einwirken zu können. Für einen Blinden besteht das Problem beim Gehen darin, daß er keine potentiell erreichbare Welt, sondern nur eine tatsächlich erreichbare Zone hat, die durch die Berührung seiner Füße mit dem Boden entsteht. Er weiß nicht, ob eine Straßenbiegung

78 79 80

Hull 1992: 202. Hull 1992: 241f. Hull 1992: 101.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

in Sicht ist oder ob vor ihm eine Hügelkette liegt. Dem Blinden fehlt also der Ansporn zur Ausführung einer zielgerichteten Handlung, die etwas, was potentiell greifbar ist, in etwas überführt, das aktuell verwirklicht wird.81 Behindert zu sein, bedeutet weiterhin, die Welt weniger in den Körper aufnehmen zu können. Der Mangel, der sich daraus ergibt, wird bewusst erfasst. Ein zweiter Faktor ist vielleicht, daß jeder Blinde in bestimmtem Umfang an informeller Unterernährung leidet.82 Das Defizitäre einer Behinderung beinhaltet nicht nur, dass sie das In-der-Welt-Sein verändert und den Austausch des somatischen Körpers mit der Welt vermindert, sondern auch dass sie die üblichen Grenzen zwischen der Welt und dem Körper verschiebt oder ganz aufhebt. Nun kann es sein, dass die Welt unvermittelt in den Körper eindringt und das Selbst überwältigt. Das Verschwinden des Gesichts ist dabei nur das erschütterndste Beispiel für die Entmaterialisierung des Körpers [beim Blindsein; B.R.]. Menschen werden zu bloßen Klängen. Dies hat eine weitere Konsequenz. Da ja nichts zwischen den unberührbaren Klängen der Stimmen und der unmittelbaren körperlichen Begegnung vermittelt, wird der Körperkontakt um so verwirrender. Ein Händeschütteln oder eine Umarmung wird zu einem Schock, denn der aus dem Nichts kommende Körper wird plötzlich Wirklichkeit.83 Durch den verminderten oder bisweilen auch gesteigerten Austausch des behinderten Körpers mit einer Welt, die ihrerseits als verändert erscheint, sowie durch die verschobenen oder ganz aufgehobenen Grenzen ergibt sich, dass der Raum, in dem sich das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch gut aufgehoben fühlt und leben kann, kleiner wird. Das Blindsein nimmt einem das Recht auf ein Territorium. Man verliert Territorium. Der Radius der Aufmerksamkeit und des Wissens verkürzt sich, so daß man in einer kleinen Welt lebt. Fast jedes Territorium wird potentiell feindlich. Nur das Gebiet, das mit dem Körper berührt oder mit dem Stock angetippt werden kann, wird zu einem bewohnbaren Raum.84 Neben dem Erleben des Raumes ist auch das der Zeit durch ein Weniger bestimmt. Der Mangel wird durch den Vergleich mit den Möglichkeiten deutlich, über die Nichtbehinderte verfügen, um die Zeit nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Sehende Menschen erleben die Zeit manchmal als langsam und manchmal als schnell. Wenn sie einmal faul gewesen sind, können sie das durch späteres Beeilen wettmachen. Bestimmte Dinge können innerhalb weniger Minuten erledigt werden. Es ähnelt ein wenig der Veränderung in deinem Zeitgefühl, wenn du dir ein Auto kaufst. Reisen,

81 82 83 84

Hull 1992: 204. Hull 1992: 109. Hull 1992: 72. Hull 1992: 70.

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die vorher zwei Stunden dauerten, dauern nun zwanzig Minuten. Du staunst, wieviel mehr du in einen bestimmten Zeitabschnitt packen kannst. Auf diese Weise zwingst du der Zeit deinen Willen auf.85 Dass Behinderung vermeintlich ein Defizit darstellt, lässt sich nach der Interpretation des Subjekts zum Zweiten aus dem veränderten Verhältnis des sozialen Körpers zur Alterität ableiten. Unabhängig von der Art der Behinderung scheint der Verlust der gewohnten Körperlichkeit die zwischenmenschlichen Beziehungen in sozialen Systemen dauerhaft nachteilig zu beeinflussen. Die Begegnung mit der Alterität ist verändert. Wer behindert ist, der ist in der Interaktion weniger geschützt. Dies bringt uns zu der andersgearteten Wahrnehmung von Menschen durch einen Blinden. Für einen Gehörlosen sind andere Menschen ständig anwesend. Sie sind da, die ganze Zeit, jeden Tag. Für einen Blinden sind andere Menschen erst da, wenn sie sprechen. […] Wenn man blind ist, wird man plötzlich von einer Hand gepackt. Eine Stimme spricht einen unvermittelt an. Ohne Vorausahnung oder Vorbereitung. Da gibt es kein Verstecken hinter einer Ecke. Kein Verbergen.86 Infolge der Behinderung fehlt die Möglichkeit, entsprechend dem eigenen Bedürfnis mit der Alterität in Beziehung zu treten. Es ist nicht möglich, die Nähe herzustellen, die mit der Alterität gerne eingegangen würde. Ein normaler Mensch kann, wenn er durch die Straßen oder über den Marktplatz geht, wählen, mit wem er sprechen will. Die Menschen sind bereits für ihn da; sie sind schon anwesend, bevor er sie anspricht, und er kann entscheiden, ob er aus dieser Anwesenheit eine Beziehung machen will, indem er einen Bekannten anredet. […] Einer der schwierigsten Aspekte des Blindseins ist, daß es einen zur Passivität beim Kennenlernen von Menschen verführt. Nicht frei entscheiden zu können, mit wem man sprechen will, den anderen nicht dadurch besser kennenlernen zu können, daß man ihn oder sie bevorzugt anspricht […].87 Als Behinderter zu leben, heißt vielfach, nicht mehr die gewohnte und als normal erachtete Eigenständigkeit zu besitzen. Durch das Blindsein entsteht eine seltsame Variante der sattsam bekannten menschlichen Verhaltensmuster von Abhängigkeit und Unabhängigkeit.88 Auch ist der Verlust der gewohnten Körperlichkeit mit der Angst verbunden, sozial nicht mehr zu genügen. Bei Männern ist es meist die Frage nach dem Geschlechtsleben, die oft vor allen anderen gestellt wird. Wie geht das jetzt? Ist es für immer vorbei? Werde ich je wieder eine Frau »glücklich« machen und mit ihr schlafen können?89

85 86 87 88 89

Hull 1992: 95. Hull 1992: 112, 113. Hull 1992: 113, 115f. Hull 1992: 120. Buggenhagen 1996: 93.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Zum Dritten lässt sich das vermeintliche Defizit der Behinderung darauf zurückführen, dass sich durch den körperlichen Umbruch das Verhältnis des psychischen Körpers zum Selbst änderte. Jede Behinderung scheint das Identitätsempfinden dauerhaft zu beeinträchtigen. Denn das Erkennen der Welt ist anders. Wenn das Subjekt sein Bewusstsein der Welt mit dem der Nichtbehinderten vergleicht, hat es den Eindruck, dass ihm etwas fehlt. Da Blinden diese Eigenschaft des Raumes [, nämlich eine Qualität der Dauer, der statischen Gleichförmigkeit; B.R.] nicht mehr zugänglich ist, ist ihnen das Unveränderliche weniger bewußt. Die Welt der Blinden ist eher flüchtig, Töne kommen und gehen. […] Bei einem Blinden ist dieses Bewußtsein, sich an einem Ort zu befinden, weniger deutlich ausgebildet.90 Nicht nur der behinderte Körper verkleinert die Welt, in der das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit lebt, sondern auch die symbolische Repräsentation der Welt in der Sprache. Die Behinderung scheint das mögliche Wissen zu verringern. Wenn man blind ist, wird einem bewußt, wie viel in unserer Sprache auf Metaphern des Sehens aufgebaut ist. Es ist nur natürlich, daß sich auch Sehende dessen deutlich bewußt werden, wenn sie mit einem Blinden sprechen. »Was ist Ihre Ansicht?« »Haben Sie etwas beobachtet?« »Ich verstehe einfach nicht, wie Sie das sehen.« »Schau Dir das an, mein Freund.« […] »Mal sehen, ob ich Dir helfen kann.« In Redewendungen wie diesen werden die Einstellungen, Absichten, Forderungen und die Hinweise auf Wissen und Verstehen ausschließlich durch die Verwendung von visuellen Metaphern zum Ausdruck gebracht. Zwischen Sehen und Wissen besteht ein enger Zusammenhang. Blindsein führt zum Nichtwissen.91 Weil nach dem körperlichen Umbruch die Beziehung zur Welt und zur Alterität beeinträchtigt ist, scheint die Reife verloren zu gehen, die sich das Subjekt im Laufe des bisherigen Lebens erwarb. Vertrautheit, Vorhersagbarkeit, die gleichen Gegenstände, die gleichen Menschen, die gleichen Wege, die gleiche Handbewegung, um dies oder das zu lokalisieren: Nimmt man das fort, dann wird der blinde Mensch in jenes Stadium der Infantilität zurückversetzt, in dem man einfach nicht weiß, wie man in der Welt zurechtkommen soll, wie man in sie hineingehen und sie kontrollieren kann, wie man in einer Beziehung mit dieser Welt existieren kann, wenn das mühsam errungene Gleichgewicht zwischen Vertrauen und Furcht gestört ist und man von dem Gedanken überwältigt wird, daß die Welt, zu der man eine Beziehung haben will, diese Beziehung verwehrt, weil sie entweder unwirklich oder unerreichbar ist.92 Um das vermeintliche Defizit des umbrochenen Körpers auszugleichen, gibt es eine Vielzahl von Hilfsmitteln. Doch ist es nicht immer einfach, die möglichen Ressourcen

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Hull 1992: 111. Hull 1992: 44f., 45. Hull 1992: 69.

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in Anspruch zu nehmen. Auch wenn sie für die Identität von großer Bedeutung sind, kann es schwierig sein, sie in der erforderlichen Qualität zu finden. Hilfsmittel zu benutzen, heißt am öffentlichen Leben teilnehmen zu können. […] Um das richtige Hilfsmittel zu bekommen, ist viel Ausdauer, Eigeninitiative und auch Wissen erforderlich […].93 Die gefundenen Hilfsmittel dann anzuwenden, beschämt. Auch wenn sich durch sie die Lebensmöglichkeiten verbessern, verschlechtern sie oft das Selbstbild. Hilfsmittel haben bei jeder Art und Form von Behinderung eine wichtige Funktion. Sicherlich ist jedem Betroffenen ihre Nützlichkeit rein theoretisch bekannt, allein der Einsatz bei sich selbst bedeutet eine Überwindung, ändert sich doch plötzlich das persönliche Bild. Dabei bedeutet Hilfsmittel – etwa in Form von Gehhilfen – nur eine optische Veränderung, der Benutzer bleibt der Gleiche, der er vorher war. Nur jetzt hat er entweder einen Stock, einen Rollator oder einen Rollstuhl. Die Lebensqualität hat sich verändert, aber nicht der Benutzer. Aber diese Einstellung zu bekommen, zu haben und anderen gegenüber zu vertreten und durchzusetzen, ist schwer.94 Damit wird die Anwendung von Hilfsmitteln zu einem Beispiel, wie das Konstrukt Behinderung pathisch wirkt. Die durch die heftigen Affekte bedingte Entfremdung des Selbst beeinträchtigt die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Der Gedanke, einen Rollstuhl zu brauchen, setzt eine Unmenge an Emotionen frei und verstellt den Blick auf die Realität.95 Tatsächlich vermag gerade die Anwendung des geeigneten Hilfsmittels eine passende Antwort auf das Widerfahrnis des körperlichen Umbruchs zu sein. Sie hilft, nicht von dem Verlust bisheriger Identitätsentwürfe überwältigt zu werden. Rollator, Gehstock oder Rollstuhl sind nicht gleichzusetzen mit Berentung, Abschied vom Berufsleben und damit Verlust einer wichtigen sozialen Kommunikationsquelle. Auch oder gerade mit diesen Hilfsmitteln kann man – berufsabhängig natürlich – seinen Beruf noch ausüben.96 Aus seiner Erfahrung weist das behinderte Subjekt die Alterität, sei sie behindert oder nicht, darauf hin, dass die nachteiligen Folgen der körperlichen Veränderungen verringert werden, wenn die geeignete Ressource genutzt wird. Der Rollstuhl ist ein Hilfsmittel der besonderen Art. Gerade für den noch mobilen MSKranken wird Laufen schnell zur Überforderung und dadurch könnte ein neuer Schub unnötig ausgelöst werden.97

93 94 95 96 97

Ruscheweih 2005: 81. Ruscheweih 2005: 81. Ruscheweih 2005: 32. Ruscheweih 2005: 81. Ruscheweih 2005: 33.

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Im Makrosystem stehen weitere Ressourcen zur Verfügung, durch die das Defizit, das sich aus dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit angeblich ergibt, ausgeglichen werden kann. Der Betroffene kann auch versuchen, in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt eine Umschulung zu machen, oder mit Hilfe der Hauptfürsorgestelle und dem Arbeitgeber den Arbeitsplatz behindertengerecht zu gestalten. Da die Erkrankung viele junge Menschen trifft, die gerade in der Berufsfindung stehen, sollte man Kontakt zu Arbeitsämtern und Sozialarbeitern aufnehmen oder eine Rehabilitationsmaßnahme ergreifen, um herauszufinden, welche Hilfen einem zur Berufsfindung bzw. Berufsausbildung zuteil werden können.98 Behinderung als Anderssein: Seine Erfahrungen haben das Subjekt gelehrt, dass eine Körperlichkeit, die als behindert gilt, nicht durch ihr Defizit bestimmt werden muss, sondern in ihrem Anderssein wahrgenommen werden kann. Mit einem umbrochenen Körper unterscheidet sich das Erleben der Welt von dem, das ansonsten in der Gesellschaft üblich ist, ohne deswegen weniger wert sein zu müssen. Das betrifft den eigenen Umgang mit Raum und Zeit. Vielleicht führen alle schweren Behinderungen zu einer Verengung des Raumes und zu einer Ausdehnung der Zeit. […] Die moderne Technik versucht, den Raum des Menschen auszudehnen und die Zeit des Menschen zu verdichten. Ein Behinderter hingegen macht die Erfahrung, daß der Raum verengt und die Zeit erweitert ist.99 Auch das mit dem umbrochenen Körper erlebte Geschehen in Raum und Zeit weicht von dem ab, was die Alterität erlebt, und muss deshalb eigens erklärt werden. Blinde gewöhnen sich daran, nicht zu wissen, woher die Dinge kommen und wohin die Dinge gehen. Die Dinge rauschen vorbei: Man befindet sich inmitten eines tumultartigen Geschehens, man erwartet nicht, Ursprünge und Ankunftsorte zu sehen.100 Das Anderssein, das durch den behinderten Körper bedingt ist, bezieht sich ebenso auf die Alterität. Sie wird in einer Weise erkannt, die von der der Nichtbehinderten abweicht. Die Einzelpersonen in der ihn umgebenden Menschenmenge sind [für den Blinden; B.R.] nicht in ihrer räumlichen Verteilung, als eine bestimmte Menge von Farbflächen, faßbar, aber sie haben Tiefen. Sie sind wie Stimmen auf Stelzen – eine Gegenwart, die aus einer Vergangenheit emporragt, die sich in der Zeit ausdehnt und nicht im Raum. Als Sehender hat man die Möglichkeit, einen Querschnitt durch das augenblickliche Leben eines anderen Menschen herzustellen. Ein Blinder jedoch muß einen Längsschnitt durch die Zeit herstellen. Dadurch gewinnt er nicht nur einen tieferen Einblick in das Leben eines Menschen, sondern es dauert auch länger, sich diesen zu verschaffen.101 98 99 100 101

Ruscheweih 2005: 81. Hull 1992: 96, 97. Hull 1992: 127. Hull 1992: 115.

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Durch das Leben mit einem umbrochenen Körper versteht das Subjekt allmählich, was es dabei Tag für Tag im Austausch mit der Welt, mit der Alterität in den sozialen Systemen und mit dem eigenen Selbst erlebt. Mit einem umbrochenen Körper stehen die äußere und die innere Wirklichkeit in einem anderen Verhältnis. In vieler Hinsicht lebt ein Blinder in einer merkwürdig dinglosen Welt. […] Nur wenige Dinge locken ihn aus sich selbst heraus, ins Leben hinein. […] Der blinde Mensch lebt im Bewußtsein. Aus diesem Bewußtsein gibt es kein Entrinnen, oder ein Entrinnen ist nur gelegentlich in Träumen gestattet.102 Das Subjekt verweist darauf, dass es mit den Fähigkeiten seines Körpers die Alterität richtig und zutreffend zu erfassen vermag. Das Entscheidende bei jeder neuen Bekanntschaft ist der Klang der Stimme. Ich lerne immer mehr über die erstaunliche Fähigkeit der menschlichen Stimme, die Persönlichkeit zu zeigen.103 Nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit findet ein Prozess statt, in dem das Subjekt lernt, mit einem umbrochenen Körper zu leben. Er beginnt oft mit dem bewussten Erleben des Defizits. Dazu gehören am Anfang die Zweifel, ob es je möglich sein wird, zu ersetzen, was verloren gegangen ist. Ein Mann, der als Erwachsener das Sehvermögen verliert, braucht wahrscheinlich sehr lange, bis er die Auslöser für sexuelle Erregung vom Sehen auf andere Sinne verschiebt. Es gibt vermutlich viele Männer in dieser Lage, die sich fragen, ob sie jemals wieder zu echter sexueller Erregung fähig sein werden. Die Abspaltung des Bedürfnisses von der bildhaften Vorstellung ist sehr sonderbar und verwirrend.104 Doch allmählich ändert sich der Umgang mit dem umbrochenen Körper. Für das Subjekt ist nicht mehr so entscheidend, was fehlt, sondern es genießt, was ihm möglich ist. Daß zur Liebe auch Sexualität gehört, ist ganz normal. Bei Behinderten wie Nichtbehinderten. Aber die »können« doch gar nicht mehr, höre ich sofort von denen, für die die körperliche Liebe ausschließlich auf den Orgasmus festgelegt ist. Doch sie »können« – nur eben ein bißchen anders. Die Verhaltens-Liturgie ist sozusagen auf den Kopf – oder sollte man besser sagen »auf die Füße«? – gestellt. Das Vorspiel wird zur Hauptsache, zum Höhepunkt. Der Orgasmus, der nach üblichem Muster eigentliche Akt, gerät, so er denn überhaupt nötig, erwünscht oder möglich ist, zur Nebensache. Ist das zu bedauern? Sicher ist die körperliche Vereinigung in ihrer höchsten Form ein Art von Ineinandersein, die, so sie nicht auf den einen winzigen Moment reduziert ist, sondern im Kopf miterlebt wird, etwas Wunderbares. Aber auf der anderen Seite ist unsere Gefühlswelt, die von Querschnittsgelähmten, auf erzwungene Weise bereichert. Das Werben umeinander ist intensiver und ausgeprägter, man geht bewußter

102 Hull 1992: 225, 226. 103 Hull 1992: 39. 104 Hull 1992: 67.

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miteinander um, läßt die Phantasie spielen. Zärtlichkeit und Sex gehören auch für uns Querschnittsgelähmte zum Leben. Nur eben etwas anders als bei Nichtbehinderten. Es ist ein Lieben, das man auch lernen muß, in dem man in sich und den anderen hineinhört. Ein Lieben, das Übung braucht. Daß Behinderte keine Sexualität haben, ist blanker Unsinn.105 Mit dem umbrochenen Körper wird Anderes als zuvor bedeutungsvoll, Materielles wie Geistiges. Wenn man immer tiefer in das Blindsein hineingeht, dann werden die Dinge, die man einst für selbstverständlich hielt und die man, als sie verschwanden, zunächst betrauerte und für die man später die unterschiedlichsten Kompensationen zu finden versuchte, am Ende bedeutungslos. Irgendwie scheint es gar nicht mehr wichtig, wie Menschen aussehen oder wie Städte aussehen. […] Man beginnt mit anderen Interessen, anderen Werten zu leben. Man beginnt in einer anderen Welt zu leben.106 Das Subjekt empfindet etwas als schön, was denen, die sich als nichtbehindert ansehen, gar nicht auffällt. Kann der Wind Sehenden ebensoviel bedeuten? Da er unsichtbar ist, sind sie Blinden gegenüber hier nicht im Vorteil. Natürlich kann ein Blinder nicht sehen, wie die Welt vom Wind in Bewegung versetzt wird, wie die Wolken ziehen und die Bäume schwanken. Andererseits hat der Wind für einen Blinden eine ganz eigene Schönheit. […] Ein Blinder erlebt den Wind, wenn er ihn auf seinem Körper spürt und wenn er ihn in den Bäumen singen hört.107 Wenn die besonderen Möglichkeiten des umbrochenen Körpers erschlossen sind, stößt das bei denen, die ihren Körper für normal halten, bisweilen auf Unverständnis. Sehende finden es schwierig nachzuvollziehen, daß für einen Blinden der Körper selbst zum Sinnesorgan geworden ist. Wenn man den weißen Stock und die Umgebungsgeräusche mal beiseite läßt, so endet das, was der Körper von seiner Umgebung weiß, an seinen eigenen Grenzen. Für den Körper ist das eine so merkwürdige Position, eine so seltsame Realität des In-der-Welt-Seins, daß Sehende sie kaum begreifen können.108 Die Bedürfnisse, die sich aus dem umbrochenen Körper ergeben, werden von den Nichtbehinderten meist nicht erahnt. Sie verstehen nicht, was das Besondere einer behinderten Körperlichkeit ausmacht. Weil sie von ihrer als normal geltenden Körperlichkeit ausgehen, können sie sich nicht vorstellen, was einem Behinderten schwerfällt. Was einem Blinden Schwierigkeiten bereitet sind glatte, offene Räume. Es sind genau die Gebiete, die nach Ansicht vieler Sehender das Beste für einen Blinden sind, weil hier nicht die Gefahr besteht, danebenzutreten. Vom Standpunkt eines Blinden aber

105 106 107 108

Buggenhagen 1996: 80. Hull 1992: 216. Hull 1992: 126, 127. Hull 1992: 180.

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ist eine flache, offene Landschaft nicht so leicht zu bewältigen, weil es hier keine Orientierungspunkte gibt. Ihr fehlt die Struktur.109 Ebenso wenig können sich Nichtbehinderte vorstellen, was einem Behinderten angenehm ist. Eine Treppe ist für einen Blinden einer der sichersten Orte. Nie bleibt auf der Treppe ein Stuhl oder ein Eimer stehen oder ein Ziegelstein liegen. Nie klafft zwischen zwei Stufen einer Treppe eine Lücke, und alle Stufen haben die gleiche Höhe. Fast immer gibt es ein Geländer oder zumindest eine Wand. Wo die oberste und wo die unterste Stufe ist, kann ein Unsicherheitsfaktor sein, aber mit dem weißen Stock wird dieses Problem vereinfacht. Das verblüfft die meisten Sehenden, die zu der Annahme neigen, daß Treppen für einen Blinden gefährlich sind. Sehende wissen, daß sie manchmal auf Treppen danebentreten und stürzen, und sie gehen davon aus, daß, wenn ein Sehender schon mal danebentritt, ein Blinder zwangsläufig danebentreten muß.110 Das Subjekt, das mit der Zeit sein körperliches Anderssein anzunehmen gelernt hat, weiß mit dem Erstaunen zu spielen, das die Besonderheit seines umbrochenen Körpers bei Unkundigen auszulösen vermag. Die Gefahr von Verbrennungen ist [bei einer Querschnittslähmung; B.R.] groß. Daß dieses Handicap auch eine ganze Reihe von Situationen schafft, mit der man die nichtbehinderte Umwelt verblüffen und später darüber herzlich lachen kann, ist die Kehrseite.111 Verwirklichung anerkannter Lebensvorstellungen: Zu den auf den eigenen Erfahrungen beruhenden Auslegungen des Konstrukt Behinderung gehört des Weiteren, dass das Subjekt, das als behindert bezeichnet wird, auch mit einem umbrochenen Körper erreicht, was im sozialen Makrosystem als erstrebenswert gilt. Auch wenn wegen des körperlichen Defizits dafür andere Wege gefunden werden müssen, sind die allgemein anerkannten Lebensvorstellungen verwirklichbar. Mit geeigneten Hilfsmittel ist es möglich, zu arbeiten. Der Rollstuhl am Arbeitsplatz ist eine sehr große Hilfe, viel häufiger sollte bedacht werden, ob dadurch nicht eine allzu frühe Berentung verhindert werden könnte.112 In der Freizeit kann die Lebensfreude gesteigert werden. Und im Rollstuhl zu tanzen, ist so wunderbar, wie seine Beine im Takt zu bewegen. Der Unterschied ist minimal, erst recht, wenn man zur heutigen Rockmusik einen aufs Parkett legt. Nichtbehinderte stehen rum und wackeln mit dem Oberkörper, wir sitzen eben rum. Rollstuhltanz ist längst eine faszinierende sportliche Disziplin geworden, mit wunderbarer Ästhetik und Bewegung, mit Grazie und Kraft.113

109 110 111 112 113

Hull 1992: 121. Hull 1992: 120. Buggenhagen 1996: 86. Ruscheweih 2005: 52. Buggenhagen 1996: 78.

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Reisen lassen sich durchführen, wenn auf die körperlichen Besonderheiten geachtet wird. Ob Urlaube in südlichen Ländern wegen der Wärmeunverträglichkeit problematisch sind oder genau das Gegenteil der Fall ist, jeder Patient reagiert anders und muss sich selber vorsichtig testen. […] Man reist ja als MS-Patient anders. Jeder hat da so seine eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen und muss ausprobieren, welches Beförderungsmittel für ihn richtig ist.114 Der Einsatz eines Hilfsmittels schließt nicht aus, begehrenswert zu sein. Attraktivität ist nicht allein abhängig von Gesundheit, sondern auch davon, wie selbstsicher bzw. selbstbewusst man sich mit und in dem Hilfsmittel bewegt. Auf die Einstellung kommt es an, darin unterscheidet sich ein Behinderter nicht von einem Gesunden.115 Selbst wenn nach dem körperlichen Umbruch eine Körperlichkeit vor allem durch ihr Defizit bestimmt zu sein scheint, steht sie einer langfristiger Bindung nicht entgegen. Behinderung durch MS ist kein Grund für das Scheitern einer Partnerschaft […].116 Wenn die körperlichen Gegebenheiten nicht verleugnet, sondern berücksichtigt werden, ist es ebenso möglich, Kinder zu kriegen. Daher sollte die Entscheidung – Kind Ja oder Nein – gründlich mit allen Für und Wider besprochen werden. […] Es sollte auch über die im schlimmsten Fall eintretenden Situationen gesprochen werden – auch wenn man sie gerne weit nach hinten schiebt.117

2.4

Erkenntnisse über die Alterität

Ärzte und weitere Spezialisten des Gesundheitswesens: In westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende trifft das Subjekt, das durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung seine gewohnte Körperlichkeit verliert, nahezu unvermeidlich auf Ärzte. Als anerkannte Fachleute für veränderte Körperzustände stellen sie eine medizinische Diagnose und überführen das überwältigende, nicht fassbare absolut Fremde des körperlichen Umbruchs in ein relativ Anderes, das wieder Teil einer Ordnung ist. Ein Arzt nimmt den Kranken dazu in das soziale Subsystem des Gesundheitswesens auf und verortet ihn in einen Raum, der jenseits der Binnengrenze, aber diesseits der Außengrenze des sozialen Makrosystems liegt. Mit der Therapie, die er nach der Diagnose verschreibt und die von ihm selbst oder von weiteren Spezialisten des Gesundheitswesens durchgeführt wird, soll die von der Norm abweichende Körperlichkeit möglichst so behandelt werden, dass der Patient geheilt wird und in den normalen Bereich des sozialen Systems zurückkehren kann. Wenn aber die Normalisierung der Körperlichkeit nicht gelingt, 114 115 116 117

Lürssen 2005: 76. Ruscheweih 2005: 52f. Lürssen 2005: 43. Ruscheweih 2005: 62.

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soll die Behandlung die veränderte Körperlichkeit zumindest so weit stabilisieren, dass das Subjekt nicht erneut dem absolut Fremden anheimfällt. In seiner Dankbarkeit, dass ihm in seiner Not geholfen wird, erkennt das Subjekt, dass die Spezialisten des Gesundheitswesens an ihm eine Arbeit verrichten, die schwierig ist und andere nicht zu leisten vermögen. Wie gut, daß es Menschen gibt, die zu solchen »Dienstleistungen« ohne Widerwillen bereit sind, und diese so verrichten, daß man keinerlei Peinlichkeit empfindet, sondern nur Dankbarkeit.118 Damit die Tätigkeit der Spezialisten sich positiv auf die Befindlichkeit des Patienten auswirkt, bedarf es bei ihnen nicht nur eines fachlichen Wissens, sondern auch einer inneren Haltung. Das Subjekt hat erfahren, […] wie wichtig eine menschlich-verständnisvolle Betreuung für einen kranken Menschen ist, und wie dies unmittelbar zur Besserung beiträgt. Gerade nach einem Schlaganfall muß der Patient aus Passivität und Resignation herausgerissen werden, um selbst an der Besserung seines Zustandes aktiv mitwirken zu können. Hier kommt Ärzten und Pflegern eine ganz wichtige therapeutische Funktion zu, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.119 Einige der Spezialisten verstehen es gut, den Heilungsprozess dadurch anzuregen, dass sie die Bemühungen des Kranken würdigen. Wenn etwa eine Schwester lobt, dann geht alles das nächste Mal noch einmal so gut. Oder wenn die Krankengymnastin die Fortschritte sieht: »So gut wie heute sind Sie noch nie gegangen«, dann gelingen die nächsten Schritte fast automatisch gleich besser.120 Die Erkenntnisse des Subjekts führen aber nicht nur zu Dankbarkeit, sondern auch zu Enttäuschung. Es stellt fest, dass ein Arzt nicht in der Lage ist, sich in seinen Patienten einzufühlen. [D]och der gute Mann [der Augenarzt; B.R.] verbringt zwar seine Tage damit, die Augen anderer unter die Lupe zu nehmen, aber deswegen kann er noch lange nicht die Blicke lesen.121 Die Spezialisten führen die Behandlung der Krankheit sachlich und emotional unbeteiligt durch. »Wenn die Chemo durchgelaufen ist, klingeln Sie bitte wie immer«, sagte mir der Arzt. »Ich komme dann mit dem nächsten Tropf. Bis später.« Ärzte!122 Die Behandlungen werden je nach Vorgeschichte zugeteilt.

118 119 120 121 122

Peinert 2002: 32. Peinert 2002: 83. Peinert 2002: 84. Bauby 1997: 55. Lesch 2002: 123.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Es gibt also Bypasspatienten (im Jargon »Operierte«) und Infarktpatienten (»Nichtoperierte«). Die Operierten werden ein bisschen besser behandelt und bekommen so viele Massagen verschrieben, wie sie möchten.123 Auch wenn die Spezialisten es gut meinen, verhalten sie sich dabei mitunter übergriffig. [Ärzte und Schwestern; B.R.] waren alle sehr freundlich und fürsorglich, selbst wenn Krankenschwestern in ihrer Fürsorge wohl dazu neigen, den Patienten zu bevormunden.124 Am Erleben des Patienten nehmen die Spezialisten oft keinen Anteil und fragen auch nicht nach seiner Sicht. Sprachlose lässt man eh nicht zu Wort kommen.125 Durch die unbewusste Emotionalität der Spezialisten wird die Beziehung zum Patienten ungünstig beeinflusst. Auffällig ist dabei […].die Angst der Ärzte, die Krankheit zu benennen […].126 Außerdem sagen die Spezialisten nicht immer die Wahrheit. Meistens wird in der Medizin gelogen, wenn Angst, Hilflosigkeit und Mitleid gegenüber dem Patienten dominieren.127 Die Enttäuschung beruht oft darauf, dass trotz aller fachlicher Qualifikation menschlich wenig auf den einzelnen Patienten eingegangen wird. Wenn auch die Behandlung im Hospital medizinisch heute fast in allen Fällen korrekt ist, so könnte der Patient doch etwas mehr beachtet werden.128 Eine mögliche Erklärung lässt sich darin finden: Leider ist eine psychotherapeutische Gesprächsführung nicht Teil der üblichen Arztausbildung.129 Das Subjekt vermutet, dass die Spezialisten des Gesundheitswesens eine ganzheitliche Sicht der Krankheit abwehren. Ein weiterer Grund, Psychotherapie zu vernachlässigen, liegt in der »Alles-oderNichts«-Einstellung der Neurologen zu der Krankheit, die tendenziell eindeutig organisch eingestuft anstatt dem psychosomatischen Spektrum zugeordnet wird.130

123 124 125 126 127 128 129 130

Huth 2003: 42. Peinert 2002: 67. Balmer 2006: 60. Lürssen 2005: 24. Balmer 2006: 58. Lürssen 2005: 35f. Todes 2005: 165. Todes 2005: 71.

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Körperlicher Umbruch

Beim Versuch, mehr zu verstehen, warum sich manche Spezialisten des Gesundheitswesens verstörend und verletzend gegenüber dem Patienten verhalten, mutmaßt das Subjekt, was ihre Stellung in der Institution sein könnte. Im Lauf der Wochen habe ich mich gefragt, ob das Krankenhaus nicht absichtlich einen so garstigen Menschen beschäftigt, um das dumpfe Mißtrauen, das das medizinische Personal irgendwann bei den Langzeitpatienten hervorruft, auf ihn zu konzentrieren. Eine Art Prügelknabe.131 Zu den Erkenntnissen des Subjekts über die Spezialisten des Gesundheitswesens gehört auch, dass ihr medizinisches Handeln begrenzt ist. Nicht immer schaffen sie es, die veränderte Körperlichkeit zu normalisieren und den Kranken in das erhoffte Leben zurückzuführen. Auch wenn sie ihren Patienten nicht gesund machen, können sie dennoch etwas geben, was für ihn wichtig ist. Das Subjekt hat gemerkt, […] dass die Medizin meistens keine Heilung anbieten kann. Aber Lebensqualität und damit Mitgefühl können auch Ärzte anbieten.132 Auch wenn es unerfreulich ist, muss – so weiß das Subjekt – der Arzt den Patienten auf möglicherweise kommende Gefährdungen durch die Krankheit hinweisen. Aus seinem Fachwissen heraus macht er darauf aufmerksam, wenn das relativ Andere des körperlichen Umbruchs, das medizinisch beherrscht wird, wieder in das absolut Fremde abzugleiten droht. Neurologen können Angst einflößen, denn sie führen dem Patienten vor, wie die Anfälligkeit vom Herz in den Kopf wandert.133 Mitpatienten: Zu den Erkenntnissen über die Alterität, die das Subjekt auf der Reise durch die sozialen Systeme gewinnt, gehören auch die über die Mitpatienten. Dabei äußert sich das Subjekt über eine Personengruppe, zu der es selbst zählt. Sein Bild von dieser Personengruppe ist eher negativ. Patienten sind offenbar nicht nur ungeduldig, sondern auch wenig rücksichtsvoll.134 In den Mitpatienten trifft das Subjekt auf eine Alterität, die gleich ihm durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung ihre gewohnte Körperlichkeit für längere Zeit oder auf Dauer verlor. So wie es selbst werden sie in den Institutionen des Gesundheitswesens medizinisch behandelt, verkörpern das relativ Andere des sozialen Makrosystems und sind wegen ihrer Körperlichkeit jenseits der Binnengrenze des sozialen Systems verortet. Auch sie hoffen, durch das Wirken der Spezialisten des Gesundheitswesens in die Normalität zurückzukehren, und fürchten, dem Pathos des körperlichen Umbruchs zu erliegen. Unfreiwillig mit den Mitpatienten am selben Ort zusammen zu sein, strengt an.

131 132 133 134

Bauby 1997: 56. Balmer 2006: 59. Härtling 2007: 28. Peinert 2002: 31.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Auch das zwangsweise Bett-an-Bett-Zusammenleben mit wildfremden Menschen und deren Besuch kann fürchterlich belastend werden.135 Im Zusammensein mit den Mitpatienten lässt sich wahrnehmen, wie schlecht es ihnen geht. Alle scheinen ein Kreuz auf ihren schon gebeugten Schultern zu tragen, ein Galeerenschicksal mitzuschleppen, in dem der Aufenthalt in Berck nur eine Station zwischen einer Kindheit als geschlagener Hund und einer Zukunft als Arbeitsloser ist.136 Dabei gehen die Mitpatienten verschieden damit um, dass sie zum Patienten geworden sind. Zwar erkennt das Subjekt bei einigen von ihnen an, wie sie ihr Leid handhaben, doch hat es Angst, sich ihnen in Verhaltensweisen anzugleichen, die es für sich ablehnt. Manche Mitpatienten versuchen, Dritten die Schuld an ihrem körperlichen Zustand zu geben. Es gibt viele behinderte und kranke Menschen […], die ihren schweren Lebensweg gehen und unseren Respekt verdienen. Es gibt auch die anderen, die die Schuld für ihr Schicksal bei den Eltern, den Vorgesetzten, bei der Gesellschaft suchen. Die Gefahr, irgendwann zu der zweiten Gruppe zu gehören, ist keineswegs klein.137 Andere Mitpatienten fühlen sich in keiner Weise dafür verantwortlich, dass sie das Gesundheitswesen in Anspruch nehmen müssen. Die Manager-Risikofaktoren sind alle gleich. Die meisten haben geraucht, die meisten aber haben ein anstrengendes Privatleben, weil sie entweder eine anstrengende Segelyacht oder eine anstrengende Geliebte haben. Dazu kommt der Arbeitsstress, natürlich. […] Wenn Segelyacht, Geliebte und Job zusammenkommen, bestraft dich dein Körper irgendwann mit Bypass.138 Wieder andere Mitpatienten gehen in großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass sie das soziale Subsystem bald verlassen und ihre gewohnte Lebensführung wieder aufnehmen. Die Manager tragen auch häufig ganz lässig T-Shirts von Regatten auf Aruba und Curaçao. Die Manager haben alle jede Menge Haare auf der Brust, und zwar schlohweiß auf braun gegerbt. Die Manager sind tapfere Jungs, so drei, vier, fünf Jahre vor der Rente, die sich einreden, das hier sei auch nichts anderes als ein Vierwochentrip in einem Abenteurerclub. Die Manager wollen alle wieder zurück an ihre Schreibtische.139 Manche Mitpatienten schämen sich Dritten gegenüber ihres körperlichen Zustandes, wegen dessen sie sich in einer Institution des Gesundheitswesens befinden müssen.

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Lürssen 2005: 36. Bauby 1997: 107. Balmer 2006: 92. Huth 2003: 42. Huth 2003: 40.

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Es gibt wenige Frauen in der Curschmann-Klinik […]: Sie schämen sich ein bisschen mehr als die Männer, vor allem, wenn sie eine Bypassoperation über sich ergehen lassen mussten. Bei den Anwendungen sind sie allerdings mit Feuereifer dabei. Bei fast allen ist Übergewicht der Grund für den Infarkt, und das wurde vorher schon mit Gymnastikgruppen zu bekämpfen versucht.140 Ebenso gehen die Mitpatienten mit der erhofften Rückkehr in die Normalität unterschiedlich um. Neben denen, die sich ihrer sicher sind, gibt es diejenigen, die davon überzeugt sind, dass sie nur in die Normalität zurückkehren können, falls sie die richtige Behandlung durch die Spezialisten des Gesundheitswesens erhalten werden. Immer wieder habe ich den Eindruck, dass sich viele MS-Patienten zu sehr auf Medikamente verlassen. Mit dem Wunsch »Mach‹ du mich gesund!«, gibt der Patient die Verantwortung in fremde Hände. Und dann bleibt den Selbstheilungskräften, die fast in jedem Menschen schlummern, kein Raum.141 Andere Mitpatienten ziehen sich darauf zurück, Patient zu sein. Sie haben es aufgegeben, aktiv am normalen Leben teilzunehmen. Fragt man mich, warum Parkinson-Patienten in vielen sozialen Situationen so wenig sprechen, ist dies meiner Meinung nach die Folge einer komplizierten Beziehung oder Interaktion zwischen dem Patienten und den Mitmenschen, in der der Patient nicht wirklich gehört wird und ihm die anderen Gesprächsteilnehmer infolgedessen keine richtige Aufmerksamkeit schenken, so dass der Patient schließlich sämtliche Bemühungen aufgibt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Ein laufendes Gespräch aufrechtzuerhalten bereitet große Schwierigkeiten. Die eigene Stimme kommt dem Patienten zunehmend fremd vor, weshalb sie in solchen Situationen immer leiser wird. Anstatt lauter zu reden und weiterhin am Gespräch teilzunehmen, neigt der Patient schließlich dazu, nur noch Zuhörer zu sein.142 Wiederum andere Mitpatienten wollen nicht mehr weiterleben und ihr Dasein als Patient durch ihr Sterben beenden. Häufig erklären mir Patienten, die siebzig und älter sind, dass sie ihr Leben gelebt haben und keine lebensverlängernden Massnahmen treffen wollen. Auch diese Patienten und nicht nur jene, die überleben wollen, verdienen höchsten Respekt. Denn es braucht sehr viel Mut sowohl sich fürs Sterben als auch für das Überleben zu entscheiden. Überleben kann je nach Situation gar beängstigender sein als Sterben.143 Angesichts eines großen Leids handelt es sich um einen selbstbestimmten Freitod. Er scheint einem Patienten zuzustehen, solange er zurechnungsfähig ist. Die Entscheidung eines »Selbstmordes« liegt bei der schwer kranken Patientin, die diese Option selbst in Betracht ziehen kann. Die Patientin sollte sehr aufrichtig und offen

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Huth 2003: 45. Lürssen 2005: 24. Todes 2005: 161. Balmer 2006: 57.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

darüber sprechen. Eine minimale Lebensqualität kann nur die Patientin selbst definieren. Selbstverständlich bei intaktem geistigen Zustand.144 Doch gerade Patienten mit lebensbedrohlichen Krankheiten werden von der Alterität in ihrer Kraft unterschätzt. Menschen mit tödlichen Erkrankungen sind jedoch meistens stärker, als man von ihnen denkt, und können Wahrheiten besser ertragen als gut gemeinte Lügen […].145 Nach all dem, was das Subjekt an den Mitpatienten beobachtet und als Patient selbst erfahren hat, weist es darauf hin, dass der Wunsch von Patienten, in die Normalität zurückzukehren, mitunter so ausgeprägt ist, dass sie sich durch ihre Bemühungen selbst gefährden. Das Subjekt befürwortet es, Techniken anzuwenden, die sie davor bewahren. Inzwischen erscheint es mir wichtig, dass die Patienten die Vorgänge ihrer Krankheit aufschreiben, um so ein persönliches Profil über den Verlauf für jene bereitzuhalten, die nach ihnen erkranken. Hierfür sehe ich verschiedene Gründe; einer von ihnen ist, Vorsicht walten zu lassen und die Teilnahme an haarsträubenden Studien zu vermeiden, die in der Hoffnung auf Heilung durchgeführt werden.146 Das Subjekt macht außerdem darauf aufmerksam, dass die erfahreneren Patienten den jüngeren etwas mitgeben können. Auch wenn die älteren Patienten mit ihren körperlichen Veränderungen abschreckend wirken, lohnt es sich für die unerfahreneren Patienten, die Gelegenheit einer Begegnung wahrzunehmen. Sie erhalten dadurch ein Wissen über die Krankheit, das ihnen weiterhelfen kann. Sicherlich ist es als frisch betroffener junger Patient schwer, mit der Vielfalt der bei MS auftretenden Symptome, die man in einer Rehabilitationsklinik durch andere Mitbetroffene erlebt, fertig zu werden. Aber man sollte diese Maßnahme auch als Chance sehen, mehr über die Erkrankung und den Umgang mit ihr zu erfahren.147 Das Subjekt verweist schließlich noch darauf, dass viele Patienten ein starkes Bedürfnis nach einem Austausch haben, der nicht vom Fachwissen der Spezialisten bestimmt ist. Solch ein Austausch kommt zu Stande, wenn einer der Patienten beginnt, seine Lebenswirklichkeit offen mitzuteilen. Die Resonanz der Leser auf die sehr persönliche Studie […] machte mir auch bewusst, wie wenige der vorliegenden Publikationen von Parkinson-Patienten verfasst worden waren.148 Behinderte und Nichtbehinderte: Als einen wesentlichen Teil seiner Alterität lernt das Subjekt, das mit einem umbrochenen Körper lebt, diejenigen genauer kennen, die gleich

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Balmer 2006: 67. Balmer 2006: 58. Todes 2005: 20f. Ruscheweih 2005: 82. Todes 2005: 21.

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ihm als Behinderte bezeichnet werden.149 Das Subjekt stellt fest, dass Behinderte ganz unterschiedlich mit ihrem umbrochenen Körper umgehen. Obwohl sie ein Hilfsmittel benutzen, fallen manche durch ihre Eleganz auf. Auch unter Rollstuhlfahrern gibt es »Gazellen«, die durch die Ästhetik ihrer Bewegungen das etwas andere Sportgerät praktisch vergessen lassen.150 Ebenso stellt das Subjekt fest, dass Behinderte ganz unterschiedlich miteinander umgehen. Auch wenn der Körper bei allen durch die gleiche Krankheit geschädigt ist, verhalten sich nicht alle gleich. Alle [Selbsthilfe-; B.R.] Gruppen sind verschieden und persönlich durch die Leiter geprägt. Einige erinnern mich sehr an Altenclubs mit etwa der gleichen Mitgliederstruktur, andere bemühen sich um vorwiegend wissenschaftliche oder kulturelle Themen. Manchmal wird vor Beginn ein Kirchen- oder Volkslied gesungen und die Bewirtung durch ehrenamtliche Helfer ist übereifrig. Andere MS-Gruppen lehnen jede Hilfe ab und treffen sich am liebsten in der Kneipe. Immer unterliegen sie einem dauernden Wandel und jedes Gruppenmitglied kann seine Gruppe ändern.151 Doch viel bedeutsamer als das Unterschiedliche ist die Erkenntnis, dass sie als Behinderte Gemeinsames verbindet. Sie sprechen eine Sprache, die nur ihnen vertraut ist. Es gibt eine Sprache der Blindheit.152 Behinderte werden deswegen von denen, die gleich ihnen als behindert gelten, meist verstanden, aber von denen, die sich für nichtbehindert halten, oft nicht. Behinderte scheinen ein eigenes System von Bedeutungen miteinander zu teilen, mit dem sie sich austauschen (vgl. Jackson: 1994: 201–224).153 Dabei ist ihre Verständigung nicht an Worte gebunden. Oft verstehen sie sich intuitiv. Nur Betroffene wissen um diese oder ähnliche körperliche Empfindungen.154 Das behinderte Subjekt geht davon aus, dass es infolge seiner Körperlichkeit etwas erlebt, dass so grundsätzlich anders ist, dass es von denen, die das Normale verkörpern, kaum nachzuvollziehen ist. Ein Blinder, der sich verirrt hat, kennt weder seine Richtung noch seinen Standort. Er muß aber seinen Standort wissen, um seine Richtung wiederzufinden. Das ist ein so

149 Bewusst wird hier und im Folgenden vielfach die Bezeichnung für Menschen mit Behinderungen verwendet, die zu der Zeit, in der die von mir erzählte Geschichte des körperlichen Umbruchs spielt, üblich war. 150 Buggenhagen 1996: 44. 151 Lürssen 2005: 66. 152 Hull 1992: 45. 153 Dort werden die Besonderheiten herausgearbeitet, wie Schmerzpatienten sich erleben und über ihr Erleben kommunizieren. 154 Lürssen 2005: 45.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

tiefes Verlorensein, daß es sich die meisten sehenden Menschen nur schwer vorstellen können.155 Der umbrochene Körper stellt eben nicht nur eine Erfahrung in der somatischen Dimension dar, sondern ebenso in der sozialen und psychischen: Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit beeinflusst alle Lebens- und Identitätsbereiche. Das Subjekt weiß um das Defizit, das mit seiner Körperlichkeit verbunden wird. Ein behinderter erwachsener Mann verliert einen Teil seiner Männlichkeit, einen Teil seines Erwachsenseins und einen Teil seiner Menschlichkeit.156 Behinderte kennen die Ausgrenzung aus einem sozialen System. Es ist so leicht, einen Blinden an den Rand zu drängen, in bestimmten Situationen ist es nahezu unvermeidlich.157 Auch werden Behinderte im Alltag in ihren Fähigkeiten unterschätzt. Es steht fest, dass Parkinson-Kranke härter und länger arbeiten können, als ihnen oft zugetraut wird […].158 Weiterhin begegnen Behinderte Vorurteilen. Das ändert nichts daran, daß Nichtbehinderte noch oft weit davon entfernt sind, [zu] akzeptieren, [daß Rollstuhlfahrer keine abhängigen, hilflosen Geschöpfe und Außenseiter der Gesellschaft sind; B.R.]. Das Bild von uns in der Öffentlichkeit ist ziemlich schief, vor allem weil die Unkenntnis gewaltig ist. Diese Tatsache bekommt jeder von uns fast täglich auf dem Tablett serviert. Querschnittsgelähmt? Ach ja, das sind die im Rollstuhl, die sich nicht so recht bewegen können, aber das kriegt man doch irgendwie hin? Oder? Machen wir uns nichts vor, das ist die Realität, die sich nur scheibchenweise ändert. Die meisten Menschen verhalten sich abwartend, wenn nicht abwehrend, ängstlich und bemitleidend.159 Schließlich werden Behinderte mit unverhohlener Neugier von ihrer Alterität als Andere angestaunt. Manchmal wird ein Blinder merken, daß er im Mittelpunkt einer Aufmerksamkeit steht, die er gar nicht will. Er ist ein Gegenstand der Neugier. Wenn er den Raum betritt, sind alle Blicke auf ihn gerichtet.160 Behinderte teilen miteinander die Erkenntnis, dass nicht der somatische Körper sie zu einem Anderen des sozialen Systems macht, sondern der soziale.

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Hull 1992: 167f. Hull 1992: 124. Hull 1992: 132. Todes 2005: 50. Buggenhagen 1996: 99. Hull 1992: 125.

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Behindert ist man nicht, behindert wird man gemacht.161 Angesichts der alltäglichen Ausgrenzung hat das Zusammensein mit denen, die dasselbe erfahren haben, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Schon alleine die Möglichkeit, solche Freundschaften in der [Selbsthilfe-; B.R.] Gruppe zu finden, sollte für jeden MS-Kranken Motivation genug sein, eine solche Gruppe zu besuchen.162 Auch wenn sie als Behinderte jenseits der Binnengrenze des sozialen Systems leben, verweisen sie darauf, dass sie nicht anders sind. Auch Querschnittsgelähmte erzählen sich Witze, sind an trivialem Klatsch interessiert, fordern den Schiedsrichter, den »Dünnbrettbohrer«, ans Telefon, wenn sie bei einer Fernsehübertragung eine Fehlentscheidung entdeckt zu haben glauben.163 Vielfach sind sich Behinderte darin einig, dass es wichtig ist, dass gerade sie auf die nichtbehinderte Alterität zugehen. Sie müssen sich mit ihrer Körperlichkeit, die im Allgemeinen als negativ von der Norm abweichend eingestuft wird, zeigen, damit sie und alle anderen, die ebenfalls als behindert gelten, nicht länger ausgegrenzt werden. Wir Rollstuhlfahrer müssen auf die Nicht-Rollstuhlfahrer zugehen, leider ist es nicht umgekehrt. Ich glaube, dass viele sich nicht trauen, sich mit ihrer Behinderung in der Öffentlichkeit zu bewegen. Es ist wichtig, dass sich Menschen mit einem Handicap auch in der Öffentlichkeit sehen lassen, nur dann kann sich das Bewusstsein für Behinderung und Behinderte in der Öffentlichkeit verändern.164 Behinderte sehen es als ihre Aufgabe an, sich gegen die Vorurteile zu behaupten und zu vermitteln, dass sie trotz ihrer vermeintlichen Defizite denen gleich sind, die keinen körperlichen Umbruch erlebten. Der Behinderte hat keine – wie manche es gerne mitleidig äußern – aussichtslose Zukunft. Es liegt an uns, wir müssen die Initiative ergreifen und unserer Umgebung zeigen, dass wir ganz normale Menschen sind, die lediglich in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sind.165 Dazu gehört, dass Behinderte sich in verschiedene soziale Subsysteme einbringen. Ich finde es ganz wichtig, dass behinderte Eltern sich mit ihren Kindern im Rahmen ihrer Möglichkeiten in Schule, Sportverein oder Gemeinde engagieren.166 Das Subjekt stellt fest, dass es eine bestimmte Haltung braucht, um als Behinderter wie alle am Leben teilzuhaben.

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Buggenhagen 1996: 101. Lürssen 2005: 65. Buggenhagen 1996: 90. Ruscheweih 2005: 53. Ruscheweih 2005: 81. Lürssen 2005: 29.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

»Behinderte«, die in unserem Sozialstaat gleichberechtigt leben wollen, können nicht anders als mühsam sein und Grenzen überschreiten.167 Dazu gibt es technische Möglichkeiten, welche die Teilhabe am Leben leichter machen. Auf das Auto sollte kein Behinderter verzichten […], so nicht zwingende Gründe dafür sprechen.168 Bei den Bemühungen, die Grenzen des somatischen und sozialen Körpers zu überwinden, ist es geboten, die des psychischen Körpers zu wahren. In der Tat muß man als Rollstuhlfahrer wissen, was man sich zumuten kann und was nicht, aber im Grunde besteht da kein Unterschied zu Nichtbehinderten.169 Dabei begegnet das behinderte Subjekt, das am sozialen Leben teilhaben will, häufig einer Alterität, die es ihm aus Unachtsamkeit oder Eigennutz erschwert. Sie missachtet die Rechte, die ihm zustehen. Wie behindert müssen Nichtbehinderte sein, um auf einem deutlich markierten Behindertenparkplatz ihr Auto abzustellen? Und das nur, weil der Weg zur Post oder zum Briefkasten ein paar wenige Schritte kürzer ist?170 Wer als behindert gilt, erlebt die Abwehr, die seinem Körper entgegengebracht wird. Und wenn die, die ihren Makel an Vollkommenheit offen zugeben und nicht verstecken, auf die Mehrheit zugehen, dann antwortet diese in einer Mischung aus Verklemmung, Berührungsangst, Unverständnis und Komplexen zumeist mit Abwehr.171 Die nichtbehinderte Alterität ist oft nicht fähig oder bereit, sich in die Lage des Behinderten einzufühlen und dadurch zu verstehen, was es heißt, behindert zu sein. Unbewusst geht sie von sich selbst aus und legt ihre Lebensansicht in die Person des Behinderten hinein, obwohl er wegen seines umbrochenen Körpers im sozialen System als ein Anderer aufgefasst wird. Was [Behinderte; B.R.] allerdings nicht brauchen, ist die schematische Übertragung von Erfahrungen und Praktiken der Nichtbehinderten auf ihr Leben.172 Damit es zu einer zwischenmenschlichen Begegnung über die alltäglichen sozialen Grenzen kommen kann, muss das Subjekt lernen, wahrzunehmen und damit umzugehen, was es mit seiner Körperlichkeit bei denen auslöst, die sich für normal erachten. Ein Behinderter tendiert dazu, andere Menschen machtlos zu machen. Er bringt sie durcheinander, versetzt sie in Verwirrung, überzieht sie mit Unsicherheit und Beschämung, vermittelt ihnen das Gefühl, linkisch und herzlos zu sein, läßt sie erleben, daß

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Balmer 2006: 51. Buggenhagen 1996: 96. Buggenhagen 1996: 51. Balmer 2006: 57. Buggenhagen 1996: 43. Buggenhagen 1996: 80.

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sie nicht wissen, was sie tun sollen oder daß sie damit nicht gut umgehen können. Alle diese Empfindungen kann die behinderte Person der normalen aufdrängen. Sich über den angemessenen Gebrauch dieser Macht Rechenschaft abzulegen ist ein wichtiger Teil dessen, was ein Behinderter lernen muß.173 Das Subjekt, das als behindert gilt, erkennt, dass die Qualität seines Lebens nicht von körperlichen Funktionen bestimmt wird. Wessen Leben ärmer oder reicher ist, entscheidet sich nicht daran, ob man Laufen kann oder Rollen muß.174 Das Subjekt sieht, dass es mit seiner Körperlichkeit wie alle anderen Mitglieder des sozialen Systems eine Möglichkeit des Menschseins verkörpert. Ein Blinder ist ganz einfach jemand, bei dem die spezialisierte Funktion des Sehens auf den ganzen Körper übergegangen ist und sich nicht mehr auf ein einzelnes Sinnesorgan beschränkt. Ein Mensch zu sein, der mit dem ganzen Körper sieht, heißt, die condition humanine an einer herausragenden Stelle zu erleben. Es ist eine Seinsweise, wie jung sein oder alt sein, ein Mann sein oder eine Frau sein, es ist eine Existenzform des Menschen.175 Die normale Alterität: Mit seinem umbrochenen Körper bewegt sich das Subjekt nicht nur durch die Institutionen des Gesundheitswesens und des Sozialwesens, mit denen es vor dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit kaum einen Kontakt hatte, und begegnet dort mit den Ärzten und den weiteren Spezialisten des Gesundheitswesens, den Patienten und den Behinderten einer Alterität, die ihm bis dahin fremd war. Sondern nach dem körperlichen Umbruch kommt es auch wieder in die sozialen Systeme, denen es seit langem angehörte und mit denen es vertraut war. Das Subjekt ist dankbar, wenn die Beziehungen andauern, auch wenn es nun als relativ Anderer betrachtet wird. Ich glaube, es ist nicht selbstverständlich, daß eine Frau so an der Seite eines Mannes steht. Es hätte ja durchaus sein können, dass ein Mensch in einer solchen Situation sagt: »Ja, eigentlich wollte ich ja sorgenfrei und unbeschwert durchs Leben an der Seite eines erfolgreichen Mannes gehen – und wenn das nicht mehr so ist, dann muss man sich halt trennen.« Verdammt, ich hatte schon ein unverschämtes Glück, diese Frau vor über zehn Jahren […] getroffen zu haben.176 Dadurch, dass das Subjekt in die sozialen Systeme als chronisch Kranker oder Behinderter zurückkehrt, denen es vor dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit als Normaler angehörte, muss es feststellen, dass die Alterität, auf die es bereits bezogen war und die ihm eine Identität vermittelte, dem körperlichen Umbruch mit wenig Anteilnahme begegnet. Oft wehrt die Alterität das Geschehen ab. Was das Subjekt aus seinem Leben reißt und zu einem Anderen macht, lässt sie nur kurz die alltäglichen Abläufen unterbrechen. 173 174 175 176

Hull 1992: 125. Buggenhagen 1996: 34. Hull 1992: 241. Lesch 2002: 188.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Auch ein blutiger Unfall hält die Leute nicht lange von ihren Geschäften ab, und der Verkehr geriet allmählich wieder in Bewegung.177 Es ist eher Sensationslust, was die Alterität dazu bringt, sich dem körperlichen Umbruch zuzuwenden. Es gibt eine Hitliste von Fragen, die einem nach dem Herzinfarkt am häufigsten gestellt werden. Platz 1: Dachtest du wirklich, dass du stirbst? Platz 2: Welche Nummer wählt man denn da: 110 oder 112?178 Vielfach weiß die Alterität dem Subjekt, das seine gewohnte Körperlichkeit verlor, nicht zu geben, worauf es angewiesen ist. Was ein »Kranker« braucht, sind keine Vergleiche, sondern Mitgefühl und Verständnis.179 Die Alterität scheint keinen Wert darauf legen, mit einem Kranken oder Behinderten in eine Beziehung zu treten. Wissen sollten aber alle, […] daß diese Anteilnahme sehr wichtig für die Genesung ist, und daß der Kranke unendlich dankbar dafür ist.180 Die Alterität bemüht sich, einem Kranken oder Behinderten nicht begegnen zu müssen. Wer Krebs hat – den meiden die Menschen.181 Durch die veränderte Körperlichkeit ist die Alterität verunsichert. Es zeigt sich […] die allgemeine Unfähigkeit, mit der Diagnose umzugehen.182 Die Alterität, die davon ausgeht, die Normen, Werte und Ideale des sozialen Systems in sich zu verkörpern, und nicht daran zweifelt, auf der richtigen Seite der sozialen Binnengrenze zu stehen, will mit dem Leid, das mit dem körperlichen Umbruch einhergeht, möglichst wenig zu tun haben. Der Mensch verdrängt ja unglaublich gut. Dinge, die er nicht wahrhaben will, die er nicht sehen will. Mit Leid und Elend wollen wir uns nicht befassen. Wir wollen schön, jung, dynamisch und erfolgreich sein.183 Ohne es sich weiter bewusst zu machen, ist die Alterität darauf ausgerichtet, von sich fern zu halten, was sie in ihrem Selbstverständnis in Frage stellt und was sie daher als gefährlich, schlecht oder hässlich ansieht. Das wiederum alarmiert das Subjekt, das als behindert gilt.

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Mills 1996: 218. Huth 2003: 15. Balmer 2006: 61. Peinert 2002: 85. Lesch 2002: 130. Lürssen 2005: 24. Lesch 2002: 53.

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Alles, was »anders« ist, als bedrohlich zu empfinden und zu bekämpfen, das trifft auch uns Behinderte und weckt die Erinnerung an die Euthanasie-Verbrechen der Nazis, die »unwertes Leben« einfach aus der Welt morden wollten.184 Wenn es trotz der Abwehr zu einer zwischenmenschlichen Begegnung kommt, kann das Subjekt mit einer Behinderung die Alterität erkennen. Die Einzelnen verhalten sich angesichts seines umbrochenen Körpers verschieden, wenn es sich für sie nicht vermeiden lässt, auf ihn Bezug zu nehmen und ihm fehlende Funktionen zu ersetzen. Die Empfindsamen verlieren am schnellsten die Orientierung. Mit tonloser Stimme rasseln sie das Alphabet herunter, notieren auf gut Glück ein paar Buchstaben und rufen angesichts des Resultats ohne Hand und Fuß tapfer aus: »Ich bin einfach unfähig!«. […] Die Bedürftigen dagegen machen nie Fehler. Sie notieren gewissenhaft jeden Buchstaben und versuchen nie das Geheimnis eines Satzes herauszufinden, bevor er fertig ist.185 Die Alterität bewertet auch den umbrochenen Körper je nach dem, welche Krankheit ihm zugeschrieben ist, unterschiedlich. Der Unterschied ergibt sich daraus, wie sehr die Krankheit die gesellschaftlich übliche Körper- und Affektkontrolle beeinträchtigt. Außerdem bringen die meisten Menschen für einen Herzinfarkt mehr Verständnis und Sympathie auf als für die Parkinson-Krankheit. […] Nach einem Herzinfarkt kann man rehabilitiert werden und danach wieder ein aktives Leben führen. Die Parkinson-Erkrankung dagegen ist eine chronische Krankheit.186 Die Körperlichkeit des Behinderten ist der Alterität, die sich für normal erachtet, ziemlich fremd. Wie befremdlich es für Sehende sein muß, daß es ein menschliches Wesen gibt, das einen Stock zur Erweiterung seiner Wahrnehmung benutzt! Es fällt Sehenden nicht leicht, sich vorzustellen, was es heißt, daß für einen Blinden, sieht man einmal von Klängen ab, die Welt auf die Ausdehnung seines eigenen Körpers oder auf die Verlängerung seines Körpers, die er durch einen Stock erreichen kann, begrenzt ist.187 Die normale Alterität scheint kein Verständnis für die Lebenswirklichkeit des Subjekts zu haben, das mit einem umbrochenen Körper lebt. Die gedankliche Vorstellung, nicht sehen zu können, hat so viele Bestandteile. Das Kind setzt diese nicht zu einem umfassenden Begriff zusammen, ebensowenig wie ein Erwachsener. Viele Erwachsene können nicht sofort nachvollziehen, daß es sinnlos ist, einem Blinden zu sagen, daß etwas dort drüben ist. Die Worte ›hier»› und ›dort‹ müssen bei einem Blinden in in anderer Weise benutzt werden. Man kann sagen, daß ein solcher Erwachsener die linguistischen Implikationen des Blindseins nicht verstanden hat. Ein Kind begreift vielleicht die farblichen Implikationen des Blindseins nicht. Ein

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Buggenhagen 1996: 138. Bauby 1997: 23. Todes 2005: 155f. Hull 1992: 53.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Erwachsener ist vielleicht überrascht von dem Gedanken, daß ein Kind nicht begreift, daß ein Blinder keine Farben sehen kann, ein Blinder könnte aber auch überrascht davon sein, daß ein Sehender die verbalen Implikationen des Blindseins nicht verstanden hat.188 Das chronisch kranke oder behinderte Subjekt kann weiterhin beobachten, dass sich die Alterität in irgendeiner Weise dafür verantwortlich zu fühlen scheint, dass es nicht mehr über die gewohnte Körperlichkeit verfügt. Daraus entsteht aber kein Gespräch. Oft habe ich das Gefühl, Mütter von MS-Patientinnen fühlen sich schuldig an der Krankheit ihrer Kinder, speziell der Töchter. Dadurch entsteht ein Klima der Sprachlosigkeit und des Verdrängens. Keiner will den anderen verletzen, aber dadurch wird alles nur noch schlimmer. Das Wort MS wird zum Tabu.189 In der Interaktion führt die Alterität fort, was sie gewohnt ist. Man setzt in einem Gespräch mit einem Blinden kein Pokerface auf, nur weil er einen nicht sehen kann. Man hört nicht auf, einen Blinden anzulächeln, weil er dieses Lächeln nicht sehen kann. Wenn man lächelt, fühlt man sich gut.190 Der Alterität scheint es schwer zu fallen, ihre Gewohnheiten aufzugeben, wenn sie mit einem Behinderten zusammen ist. Für den blinden Partner kann jedoch die frontale Position [beim sexuellen Verkehr; B.R.] nicht mehr die gleiche Bedeutung für die Herstellung von Verbundenheit haben, die sie für den sehenden Partner haben muß. Ich glaube nicht, daß ein Sehender das so einfach akzeptieren kann, denn die folgenreiche Übereinkunft über die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Körper wird aufgekündigt.191 In der Begegnung erkennt das Subjekt, wie sich die Alterität auf ihn, der als chronisch Kranker und Behinderter angesehen wird, bezieht. Sie bemerkt trotz der von ihm erbrachten Leistung vor allem, was ihm fehlt. Leistungsorientierter Behindertensport hat nach wie vor kaum eine Lobby, eine geringfügige Akzeptanz und wird vor allem über die Mitleidsschiene reflektiert: Was die armen Kerle trotz fehlender Arme, Beine, trotz fehlenden Augenlichts oder Rollstuhl leisten!192 Die normale Alterität äußert leichthin ihr Mitleid. Denn sie sieht vor allem die Behinderung.

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Hull 1992: 146. Lürssen 2005: 58. Hull 1992: 52. Hull 1992: 71. Buggenhagen 1996: 67.

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Das Klischee, man müsse seine Behinderung ständig als seelische Last mit sich herumtragen, wie Atlas die Welt auf dem Rücken, ist weit verbreitet und eine der wichtigsten Ursachen für die tränenreiche Mitleidsarie, die wir uns so oft anhören müssen.193 Oder die Alterität schweigt über das, was unübersehbar ist. Obwohl alle im sozialen System durch die veränderte Körperlichkeit belastet sind, wird nicht miteinander gesprochen: Die Familie redet über alles, aber nie über ihr größtes, gemeinsames Problem, die MS.194 Am ehesten für eine Begegnung offen sind diejenigen, die selbst noch nicht gleichberechtigt und gleichwertig dem sozialen System angehören. Sie sind aufgeschlossen und neugierig auf die ungewöhnliche Körperlichkeit und deren Bedingungen. Die Kinder lernen viel eher den Rollstuhl als Hilfsmittel anzunehmen und müssen nicht nur Rücksicht nehmen. Sie lernen das Hilfsmittel Rollstuhl als Zeichen einer erweiterten Lebensqualität beim familiären Handicap kennen. Sie lernen, dass man mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann.195 Die Begegnung zwischen dem Subjekt, das nach dem körperlichen Umbruch als ein relativ Anderer des sozialen Systems ausgemacht ist, und denen, die der Norm entsprechen, ist von Ungleichheit bestimmt: Diese ersetzen bisweilen, was jenen offensichtlich fehlt. Die Menschen im Supermarkt, in der Stadt oder bei Veranstaltungen sind sehr freundlich und hilfsbereit.196 Die Alterität, die dem chronisch Kranken oder Behinderten bereitwillig hilft, stärkt dadurch ihren Selbstwert. Sie denkt nicht darüber nach, ob sie mit ihrer Hilfe nicht dem Subjekt, das mit einem umbrochenen Körper lebt, auch etwas nimmt. Ihr Helfen hat Nachteile, die sie sich nicht vorstellen kann. Meistens meinen es ja aus ihrer Sicht die nichtbehinderten Mitmenschen nur gut, wenn sie dem Betroffenen helfen wollen, ohne aber zu bedenken, dass es für den Behinderten auch um ein Stück Selbstbestimmung und Selbstsicherheit geht.197 In ihrem Wunsch, für den chronisch Kranken oder den Behinderten zu sorgen und ihm zu helfen, übersieht die Alterität das Subjekt oft vollständig. Es fragt sich, warum es für sie unsichtbar wird. Für intelligente und sensible Menschen ist es natürlich sehr beschämend, wenn sie dabei ertappt werden, daß sie einem Behinderten gegenüber die »Nimmt-er-Zucker?«-

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Buggenhagen 1996: 31f. Lürssen 2005: 55. Ruscheweih 2005: 62. Ruscheweih 2005: 53. Ruscheweih 2005: 81.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Methode anwenden. Alle diese Menschen sind sensibel und spüren genau, wie demütigend diese Art des Umgangs ist. Es stellt sich also die Frage, warum tun sie das?198 Die Alterität tut sich schwer, das rechte Maß an Unter- und Überforderung zu finden. Entweder macht sie zu viel oder zu wenig. Entlastet man einen kranken Menschen in allen Belangen von Erwartungen, Aufgaben, Verrichtungen, entbindet man ihn von allen Verpflichtungen und Rechten, wird er sich übergangen, überflüssig, wert- und nutzlos fühlen. Überlässt man ihm alles, was er vor der Krankheit auch getan hat, wird er sich überfordert fühlen, nicht ernst genommen in seinem Leiden, nicht unterstützt und begleitet, er vermisst Mitgefühl (obschon Mitgefühl vorhanden sein kann). Sowohl der Kranke als auch der ihn umgebende Gesunde sind immer überfordert.199 Oft glaubt die Alterität nur dem chronisch kranken oder behinderten Subjekt, das sich so verhält, wie sie es erwartet. Anscheinend muss man sich in solch einer Situation so verhalten wie sich NichtBehinderte Behinderte vorstellen: hilflos und unattraktiv. Sonst vermittelt man eher den Eindruck, dass man nur simuliert; ganz schön armselig dieses Verhalten.200 Als Zeichen ihres Wohlwollens gegenüber chronisch Kranken und Behinderten will die Alterität die vermeintlichen Reste einer diskursiv vollzogenen Unterdrückung beseitigen. In ihrer Selbstbezogenheit bedenkt sie wiederum nicht, was sie dem Subjekt damit nimmt. Müssen Behinderte auf den Teil der Sprache verzichten, der die Behinderung, an der sie leiden, metaphorisch verwendet? Wie absurd das wäre! Das würde Menschen, die bereits behindert sind, eine neue Behinderung aufnötigen.201 Die Alterität ist aber sprachlos, wenn das Subjekt, das wegen seiner Körperlichkeit aus dem sozialen System ausgegrenzt ist, ihnen von gleich zu gleich begegnet. Wenn ich Leute begrüße und »Schönen Tag noch!« sage, reagieren sie manchmal gar nicht oder wirken überrascht. Die Vorstellung eines schönen Tages ist überwiegend visuell. Ein schöner Tag ist, wenn der Himmel klar und blau ist. […] Ein Sehender würde es nicht als schönen Tag und schon gar nicht als herrlichen Tag bezeichnen, wenn es bedeckt wäre.202 Das Subjekt erkennt, dass auch diejenigen in seiner Alterität, die sich für normal halten, ihre Defizite haben. Die Behinderung ist vielleicht sogar dort, wo man Unversehrtheit voraussetzt, größer als bei jenen, denen man das Anderssein so deutlich ansieht. Nichtbehinderten fällt es

198 199 200 201 202

Hull 1992: 132. Balmer 2006: 98f. Ruscheweih 2005: 53. Hull 1992: 45. Hull 1992: 31.

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Körperlicher Umbruch

schwerer, über ihre zweifellos vorhandenen Makel zu reden, weil sie so gern makellos sein wollen.203 Die Alterität muss sich nicht nur diskursiv, sondern praktisch verändern, damit es zu einer Begegnung von gleich zu gleich kommt. Es reicht nicht, Integration mit Großbuchstaben in Hochglanz-Broschüren zu schreiben. Das ist der zweite Schritt vor dem ersten. Der erste ist, den eigenen Kopf freizuräumen von all dem Schutt an Befangenheit und Vorurteilen.204 Die Alterität muss dazu bereit werden, sich mit denen zu identifizieren, die nach dem körperlichen Umbruch aus dem sozialen System ausgegrenzt sind, und deren Benachteiligung zur eigenen Sache zu machen; denn erst dann verändert sich die Gesellschaft. Erst wenn Nichtbehinderte die Barrieren, die Behinderten in ihrer Umwelt willkürlich und unwillkürlich in den Weg gestellt werden, ebenfalls als solche sehen und empfinden, dann ist Integration nicht mehr nur eine leere Worthülse, sondern ein Versprechen auf die Zukunft.205 Nicht in allen westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende sind die Grenzen, die zu überwinden sind, gleich stark. Anscheinend geht das Ausland wirklich mit Behinderungen anders um. [In Holland; B.R.] sieht man viel häufiger Gehbehinderte und Rollstuhlfahrer als in Deutschland. Auch die Restaurants z.B. haben sich auf gehbehinderte Gäste eingestellt: in Form von stufenlosen Eingängen und Behindertentoiletten.206

2.5

Lebensansichten chronisch Kranker und Behinderter

Leben und Tod: Das Subjekt, das in einem sozialen System als chronisch Kranker oder Behinderter lebt, gewinnt nicht nur Erkenntnisse über die Alterität, sondern auch über das Leben an sich. Durch den hinter ihm liegenden körperlichen Umbruch lernt es schätzen, wenn es der somatische Körper von sich aus vermag, im Austausch mit der äußeren Welt ein inneres Zuviel oder Zuwenig auszugleichen und Wohlbefinden zu erzielen. Gesundheit ist das größte Geschenk, das wir auf Erden bekommen können.207 Auf Grund seiner Erfahrungen verweist das Subjekt zum einen darauf, wie wichtig es ist, dass von einem sozialen Makrosystem genügend Ressourcen bereit gestellt werden, um überhaupt einen körperlichen Umbruch zu vermeiden.

203 204 205 206 207

Buggenhagen 1996: 43. Buggenhagen 1996: 46. Buggenhagen 1996: 100. Ruscheweih 2005: 54. Lesch 2002: 171.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Hier zeigt sich, wie wichtig bevölkerungsweite Aufklärung und die Einrichtung von Vorsorgeuntersuchungen analog zur regelmäßigen Krebs- oder Lungenvorsorge wären.208 Zum anderen macht das Subjekt darauf aufmerksam, was es braucht, die körperliche Schädigung möglichst gering zu halten. [H] ier zeigt sich eindringlich, wie nötig und wie hilfreich die Einrichtung von spezialisierten Schlaganfallstationen mit personeller und materieller Fachausstattung zur Erstversorgung unmittelbar nach dem Anfall in den allgemeinen Krankenhäusern ortsnah zum Patienten wirken könnten.209 Am eigenen Beispiel verdeutlicht das Subjekt, dass die finanziellen Aufwendungen für eine Nachbehandlung volkswirtschaftlich sinnvoll sind. Man könnte aber auch argumentieren, daß lebenslange Therapie und eigene Aktivität hier dem Steuerzahler die hohen Kosten eines Pflegefalls erspart haben.210 Das Subjekt fordert, dass Maßnahmen verpflichtend werden, die es allen Mitgliedern eines sozialen Systems ermöglichen, unabhängig davon, ob sie wegen ihrer Körperlichkeit diesseits oder jenseits von dessen Binnengrenzen verortet sind, am allgemeinen Leben teilzuhaben. Barrierefreies und behindertengerechtes Bauen, von vorneherein in Planungen, Entwürfen und schließlicher architektonischer Umsetzung berücksichtigt, ist in aller Regel keinen Pfennig teurer. Erst die nachträglichen Korrekturen gehen ins Geld. […] Auf jeden Fall sollte alles, was neu gebaut wird – bei Androhung von Strafe bei Nichterfüllung – dem Anspruch »behindertengerecht« genügen.211 Durch die Veränderung seines somatischen Körpers musste sich das Subjekt nicht nur mit der relativen Begrenztheit des Lebens auseinandersetzen, sondern auch mit der absoluten. Es erfuhr körperlich, dass die Lebenszeit endlich ist und es nicht möglich ist, dem endgültigen »Ich kann nicht mehr« auszuweichen. Das Subjekt erkannte, dass die Abwehr der Sterblichkeit in die Irre führt. Vielmehr weiß es: Der Tod gehört zum Leben. Dadurch, dass wir danach streben, alles Leben um jeden Preis zu erhalten, verlernen wir, mit dem Tod umzugehen. Dabei sind Leben und Tod unzertrennlich, unzertrennbar.212 Das Subjekt erlebt den Tod bei der Alterität. Die Zeit ist vergangen, und die Menschen verschwinden allmählich.213

208 209 210 211 212 213

Peinert 2002: 39. Peinert 2002: 109f. Peinert 2002: 96. Buggenhagen 1996: 104f., 105. Balmer 2006: 153. Bauby 1997: 75.

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Körperlicher Umbruch

Das Subjekt erwartet den eigenen Tod. Es empfiehlt, dem Sterben gegenüber eine bestimmte Haltung einzunehmen. Wir sollten keine Angst vor dem Ende haben. Wir sollten uns achten, was wir daraus machen, wie wir damit umgehen.214 Das Subjekt rät dazu, rechtzeitig und immer wieder aufs Neue zu bedenken, wie man das Ende des Lebens gestalten will, und eine Patientenverfügung zu verfassen. Eine solche Verfügung bedarf einer Auseinandersetzung mit Ethik und Sterben, was Monate und Jahre dauert und allenfalls immer wieder überarbeitet und aktualisiert werden muss.215 Dem Subjekt geht es um eine Selbstbestimmung auch im Tode. Es will nicht erleben müssen, dass die Alterität nach ihrem Maßstab über den Wert seines Lebens entscheidet und danach seinen Tod festlegt. Damit scheint die Sache klar zu sein: Der Patient scheint zu leiden, also leidet er und so müssen wir dem Leiden ein Ende bereiten. Leider vergisst man, dass dies eine masslose Interpretation ist und möglicherweise gar nicht den Tatsachen entspricht.216 Doch hat das Subjekt Angst, dass den Schwerkranken die Selbstbestimmung mehr und mehr genommen und ihr Leben von der Alterität beendet wird. Denn immer mehr werden Selektionierungen auf uns zukommen. Immer mehr wird über uns entschieden, ob ein Leben lebenswert ist oder eben nicht. Immer mehr werden bei diesen Entscheidungen die Kosten ausschlaggebend sein. Jene, die bisher von Krankheiten verschont wurden, werden diese Diskriminierungen spätestens im hohen Alter erfahren.217 Das Subjekt will aber auch die Freiheit behalten, von sich aus sein Leben zu beenden, wenn ihm danach zu Mute ist. Es verweist darauf, dass ohne die Möglichkeiten der Medizin der Tod oft bereits viel früher eingetreten wäre. Meiner Ansicht nach gilt es sowieso zu differenzieren, was eigentlich »Selbstmord« ist und bedeutet. Ein von schwer Krankheit heimgesuchter Mensch, der künstlich beatmet wird, weiss, dass er ohne Beatmung längst tot wäre. Dieser Mensch kann nun, wenn er keine Lebensqualität mehr verspürt, die Maschine abstellen lassen, er stirbt. Kann man da wirklich von »Suizid« sprechen?218 Aus seinem Erleben heraus sieht das Subjekt die Identitätsarbeit erst im Sterben vollendet.

214 215 216 217 218

Balmer 2006: 11. Balmer 2006: 66. Balmer 2006: 80. Balmer 2006: 80. Balmer 2006: 67.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Während Reife stets ein Erfahrungsprozess ist, erlangt ein Mensch die absolut erreichbare Weisheit, die ein Individuum je erreichen kann, erst während des Sterbeprozesses.219 Die Beziehung zur Alterität: Das Subjekt, das nach dem körperlichen Umbruch als ein relativ Anderer unter den sogenannten Normalen lebt, gewinnt durch seinen sozialen Körper Erkenntnisse darüber, was es bedeutet, in einer Beziehung zu stehen. Die Beteiligten setzen eine Wechselseitigkeit selbstverständlich voraus. In all unseren Beziehungen zu anderen Menschen setzen wir ganz natürlich Reziprozität voraus. Ich spreche und erwarte, daß du sprichst. Ich strecke die Hand aus und erwarte, daß du die Hand ausstreckst. Ich lächle und erwarte, daß du mein Lächeln erwiderst. So ist es auch mit dem Sehen. Ich sehe dich, und ich erwarte, daß du mich siehst.220 Was vom Gegenüber kommt, wird aufgegriffen. Lächeln ist meistens Erwiderung. Man lächelt spontan, wenn man ein Lächeln erhält.221 Das Subjekt hat erkannt: Es ist wesentlich für eine gute Beziehung, sich fortlaufend mit der Alterität auszutauschen, innerhalb eines sozialen Systems Gegensätze auszutragen und voneinander zu lernen. Dann sind die Voraussetzungen dafür gegeben, dass das Zusammensein gelingt. Harmonie alleine bringt kein intaktes Familienleben. Wichtig sind Diskussionen, eigene Standpunkte erklären, den anderen zuhören und vor allen Dingen miteinander reden; Zuwendung, Vertrauen und Zeit lassen und geben, damit die Dinge reifen können, aus eigenen und anderen Fehlern lernen.222 Auch wenn es im Gespräch über den körperlichen Umbruch und seine Folgen ernst wird, darf gelacht werden. Lachen ist nicht verboten, es muß nicht geflüstert und darf geflucht werden. Auch Tragik hat eine Dimension, die nicht unermeßlich steigerbar ist.223 Bei zwischenmenschlichen Verletzungen ist darauf zu achten, dass sie nicht weiter schwären und zu Verhärtungen führen, sondern bald wieder heilen. Wunden, und sind sie noch so klein, müssen schnell behandelt werden, ehe sie zu Narben werden können. Die Zeit ist zu kostbar, als daß man damit so leichtfertig umgehen könnte, als habe man sie im Überfluß.224

219 220 221 222 223 224

Balmer 2006: 154. Hull 1992: 57. Hull 1992: 50. Lürssen 2005: 56f. Buggenhagen 1996: 89f. Buggenhagen 1996: 79f.

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Körperlicher Umbruch

Wenn es möglich ist, selbst dann eine Beziehung zur Alterität aufrechtzuerhalten, wenn sie enttäuscht und verletzt, ist persönliches Wachstum möglich. Das Leben ist sein eigener Lehrmeister. Die Liebe erst recht!225 Doch die Beziehungen zur Alterität gelingen nicht immer. Nicht alles, was dem Subjekt von ihr entgegengebracht wird, ist angenehm. Wenn bei dem Gegenüber eine Haltung der Angst und Unsicherheit vorherrscht, kommt eine Begegnung auf gleicher Ebene nicht zustande. Alle drei Gefühle [nämlich Angst, Hilflosigkeit und Mitleid; B.R.] drohen das Gegenüber zu ersticken, was bei Mitgefühl, beim Versuch nachzufühlen, nicht der Fall ist.226 Wenn vom Gegenüber eine Beziehung von oben herab aus dem Empfinden von Überlegenheit hergestellt wird, kommt es zur Unterdrückung. Gerade so, wie man jedem Menschen – auch nicht Beatmeten – die Luft zum Atmen nehmen kann. Es gibt verschiedene Bezeichnungen für »Das-Jemandem-die-LuftNehmen«: einengen, bevormunden, befehlen, bestimmen, für jemanden zu sehr denken, hinterlistig sein, interpretieren.227 Was an Inhalten in einer Beziehung von der Alterität mitgeteilt wird, ist enttäuschend, wenn es nicht den Bedürfnissen genügt. Das trifft auch zu, wenn die Inhalte von den Medien kommen. Horror wird gesendet, Aufklärung scheint nicht die Aufgabe von Rundfunk, Presse und Fernsehen zu sein.228 Das Subjekt rät, von sich aus zu handeln statt etwas hinzunehmen, was einem nicht gefällt. Nicht schweigend erdulden, sondern reden, reden und nochmals reden, das ist das Wichtigste.229 Das kann schwierig sein, weil man sich dadurch verletzbar macht, sodass manche sich lieber zurückziehen. Wenn man seine persönlichen Hoffnungen und Frustrationen, die aggressiven Fantasien, aber auch die liebevollen Wünsche offen zeigen kann, muss man bereit sein, vieles aus der alten Erziehung hinter sich zu lassen, um sich sozusagen zu outen. Viele Leute, besonders aus der älteren Generation, empfinden gerade so etwas als fremd oder auch regelrecht unmöglich und ziehen sich deshalb zurück. Sie stützen sich stattdessen lieber auf ihre religiösen Überzeugungen und persönlichen, schon früh erlernten Strategien, um ihre Gefühle zu schützen.230 225 226 227 228 229 230

Lesch 2002: 188. Balmer 2006: 58. Balmer 2006: 43. Lürssen 2005: 86. Buggenhagen 1996: 90. Todes 2005: 165.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Zwar lässt sich verstehen, dass man sich durch Härte vor möglichen Verletzungen schützen will. Doch kann das verhindern, überhaupt berührbar zu sein, […] weil die meisten Menschen ja nicht einmal mit den eigenen Gefühlen umgehen können. Sie verstecken sich unter kantiger Unnahbarkeit, legen sich eine seelische Hornhaut zu, um nur nichts an sich heranzulassen. Sicher, manchmal braucht man die, um nicht zu ertrinken, wenn das Wasser zu hoch zu steigen droht. Aber sie darf nicht undurchdringlich sein.231 Eigenständiges Handeln zahlt sich oft aus. In der Regel wird sozial anerkannt, wer etwas von sich aus beginnt. Komisch, wenn man die Kontrolle über eine Situation übernimmt, haben die Leute gleich mehr Respekt vor einem.232 Nicht immer ist man sofort erfolgreich. Bisweilen braucht es viele Versuche, bis man erreicht, was man ersehnt. Gerade um private Beziehungen aufzubauen, braucht es Ausdauer. Man muss viele Frösche küssen, um den Prinzen zu finden.233 Um gesellschaftliche Missstände zu ändern und die gewünschte Qualität von Beziehungen im sozialen System zu erreichen, ist es erforderlich, das eigene Anliegen von sich aus nach außen zu vertreten. Sich nicht zu behaupten, heißt, bestehendes Unrecht billigend hinzunehmen. Wer still abwartet, daß sich diese Dinge durch Einsicht ändern, der nimmt Diskriminierung hin.234 Wenn das Verhalten der Alterität zu sehr enttäuscht, kommt der Wunsch auf, sie zu strafen. Man müsste wirklich mal die Fernsehmacher zwingen, sich eine Woche lang ihre eigenen Sendungen anzusehen. In einer leichten Isolationshaft.235 Mitunter beruht die Enttäuschung darauf, dass eine Beziehung zur Alterität gar nicht zustande kommt. Gerade die Verständigung über die Grenzen von sozialen Systemen kann schwierig sein. Zu sehr sind ihre Mitglieder bisweilen in ihren Annahmen, Vorurteilen oder Absichten gefangen, als dass sie sich für einen relativ Anderen öffnen könnten. Aufgrund des Kastendenkens und der Engstirnigkeit des Menschen fällt es uns schwer, über die Grenzen der verschiedenen Seinsweisen hinweg Kontakte zu knüpfen. Der einen Ordnung des Menschen fällt es schwer, die andere Ordnung zu verstehen. Die

231 232 233 234 235

Buggenhagen 1996: 77. Mills 1996: 235. Ruscheweih 2005: 41. Buggenhagen 1996: 103. Lesch 2002: 109.

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Körperlicher Umbruch

Ordnungen unterteilen sich in Hierarchien der Macht und des Prestiges, einige sind oben, andere sind unten, einige sind drin, andere sind ausgeschlossen.236 Für den chronisch Kranken oder Behinderten, der wegen seiner Körperlichkeit auffällt, ist es mühsam, im richtigen Maß sowohl auf die Anderen bezogen als auch bei sich zu sein. Es ist so schwierig, einen Mittelweg zu finden, der zwischen Nichtbeachtung und Zentrum-der-Aufmerksamkeit-Sein liegt. Es ist so schwierig, ein normaler Mensch zu sein, wenn man kein normaler Mensch ist.237 Umgang mit Krisen: Das Subjekt, das nach dem körperlichen Umbruch sich ein Selbstverständnis erarbeitet, das die veränderte Körperlichkeit einbezieht, gewinnt auch Erkenntnisse darüber, wie sich Spannungen und Krisen in der Identität bestehen und überwinden lassen. Durch den umbrochenen Körper bekommt es Ansichten vermittelt, die von denen der sich normal Fühlenden abweichen. Das Subjekt behält einen Abstand zu der ansonsten weit verbreiteten Auffassung über den Sinn des Lebens. Es scheint so, als ob in einer Welt, die »Männlichkeit« und Manneskraft oder -attraktivität über das »Leistungsvermögen« des bißchen Wurmfortsatzes definiert, der Verlust der körperlichen Liebesfähigkeit als Verlust von Lebenssinn empfunden wird.238 Das Subjekt kennt die Abgründe des Lebens und weiß, wie sie zu bestehen sind. Es gibt Situationen im Leben, da muß man einen langwierigen und würdevollen Krieg gegen die Verzweiflung führen und darf es nicht zulassen, daß man mit seinen Gefühlen zum Sklaven jener gemacht wird, die falsche Hoffnungen wecken.239 Und das Subjekt weiß zu sagen, dass es Depressionen verschlimmert, wenn das Leid durch Hinweise auf das Positive leichthin abgewehrt wird. Es bringt auch nichts, einem depressiven Menschen aufzeigen zu wollen, wie schön die Natur ist, wie toll das Leben sein kann. Es wird ihn in seiner Verstimmung noch mehr bestärken und noch mehr herunterziehen.240 Vielmehr verlangt es persönlichen Aufwand, sich schwierigen Lebensumständen zu fügen, ohne die Zuversicht zu verlieren, dass eine Besserung eintreten wird. Auch Geduld haben ist nämlich eine Mühe.241 Gerade wenn das Geschehen sinnlos erscheint, ist es wichtig weiterzumachen. Wie mit den Schwierigkeiten eines Lebens umzugehen ist, lässt sich aus der Erfahrung des Subjekts kurz zusammenfassen.

236 237 238 239 240 241

Hull 1992: 241. Hull 1992: 125. Buggenhagen 1996: 93. Hull 1992: 105. Balmer 2006: 61. Peinert 2002: 93.

2. Zur Hermeneutik chronischer Krankheit und Behinderung

Das Ende ist da, wo man sich aufgibt.242 Eine angemessene innere Haltung trägt dazu bei, den Widerfahrnissen des Lebens nicht zu erliegen. Auch die bittersten Erfahrungen lassen sich mit der nötigen Entfernung positiv und dennoch mit Humor betrachten.243 Was fremd war, wird mit der Zeit vertraut. [U]nd der Mensch gewöhnt sich an so vieles.244 Bisweilen sind hinter einer Maske der Fröhlichkeit Trauer und Verzweiflung verborgen, damit sie kein anderer mitbekommt. Ein lachender Clown mit Tränen hinter seiner Maske ist ein guter Clown.245 Wenn nach einem einschneidenden Lebensereignis eine neue Passung zwischen Identität und veränderten Lebensumständen hergestellt werden muss, ist das oft einfacher gesagt als getan. Tatsache: Man muss nicht sein Leben ändern, man muss sich selber ändern – und versuchen Sie das mal. Disziplin wäre nicht schlecht, aber die habe ich offensichtlich schon immer mit Pflichtbewusstsein verwechselt. Und mich natürlich feige dahinter versteckt, weil es leichter ist, zu funktionieren, als etwas zu ändern. Auf jeden Fall sich selbst. Wenn das überhaupt geht – ich habe mich immer erfolgreich davor gedrückt.246 Es kommt vor, dass deshalb ganz vermieden wird, diese Passung herzustellen. Statt dessen werden andere Wege gesucht. Sich in seiner und in anderer Schuld zu baden, ist die einfachste Art, Probleme zu lösen.247 Bei der Identitätsarbeit finden sich Irrwege, die nicht ans Ziel führen. Eine Gefahr, der man ausgesetzt ist, wenn man eine Bedeutung ins Zentrum des eigenen Lebens rückt, ist die Reduzierung. Nur zu gern baut man dann eine Maschine zur Herstellung von Bedeutungen auf, die wie eine Maschine zur Herstellung von Würstchen funktioniert, so daß unabhängig davon, welche Erfahrungen man an dem einen Ende eingibt, am anderen Ende stets exakt die gleichen Würstchen oder Bedeutungen herauskommen. Was damit nicht übereinstimmt, wird ausgeschieden, nur das Homogene bleibt erhalten. Das Ergebnis ist zwar eine starke, aber starre Identität.248 Und es gibt Ansätze, die sich bewähren. 242 243 244 245 246 247 248

Buggenhagen 1996: 87. Lürssen 2005: 43. Lesch 2002: 137. Balmer 2006: 103. Huth 2003: 123. Balmer 2006: 56. Hull 1992: 187.

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Glauben ist eine schöpferische Handlung. Durch den Glauben verwandeln wir die zufälligen Ereignisse unseres Lebens in Symbole unserer Bestimmung. Glück ist ein Zufallsprodukt, aber Bedeutung entsteht, wenn das zufällige Geschick durch symbolische Wiedergeburt verklärt wird. […] Das Wichtigste im Leben ist nicht Glück, sondern Bedeutung.249 Das Subjekt verlässt sich darauf, dass das Leben im Lauf der Zeit kohärent wird. Die Einzelheiten erhalten einen inneren Zusammenhang, es wird deutlich, was wesentlich ist, und es entsteht eine zeitliche Kontinuität, die aus der Vergangenheit in die Zukunft weist. Das Leben ist ein Puzzle, das aus vielen verschiedenen Teilen besteht. Am Anfang hat man nicht die geringste Ahnung, wie das fertige Bild aussehen wird. Erst wenn man älter wird und die einzelnen Teile des Lebens an ihren Platz rücken, kann man eines Tages sagen: O ja, jetzt sehe ich, um was es eigentlich geht!250 Gleichzeitig erhält die Gegenwart eine größere Bedeutung. Ich denke, man muss lernen, den Augenblick zu genießen, die schönen Seiten einzufangen. Im Jetzt und Heute zu leben, den Moment genießen, auch oder gerade weil er so kurz ist.251 Wenn es möglich ist, anzunehmen, was gegenwärtig ist, ohne davon überwältigt zu sein, folgt daraus eine innere Ruhe. Aus ihr ergibt sich im Alltag eine überlegene Handlungsfähigkeit. So souverän reagiert man nur, wenn man gelassen und in sicherer seelischer Balance über den Dingen steht.252

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Hull 1992: 221. Mills 1996: 281. Ruscheweih 2005: 60. Peinert 2002: 69.

3. »Das Gefühl, begehrt zu werden, war wunderschön.« – Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

In Abhängigkeit von der kollektiven Identität erhält das Subjekt die Anerkennung, die es braucht, um sich der Gültigkeit seiner Identitätsarbeit zu versichern. Es erfährt soziale Anerkennung im Makrosystem durch kognitive Achtung in Form des Rechtsverhältnisses, im Mesosystem durch Wertschätzung als Solidarität und im Mikrosystem durch affektive Zuwendung in der Liebesbeziehung. Ausgehend von der allgemeinen Bedeutung sozialer Anerkennung wird im Folgenden zuerst aufgezeigt, dass der Kampf behinderter Menschen um Anerkennung ihnen zwar das gesellschaftliche Recht auf Inklusion gesichert hat, sie aber in Gemeinschaften weiterhin vielfach durch Barrieren ausgegrenzt sind (3.1). Danach wird im Einzelnen auf die verschiedenen Formen sozialer Anerkennung eingegangen, die dem Subjekt nach dem körperlichen Umbruch zuteil werden, nämlich auf die kognitive Achtung (3.2), die soziale Wertschätzung (3.3) und die affektive Zuwendung (3.4). Zum Schluss wird ausgeführt, dass das Subjekt durch die soziale Energie, die mit jeder Anerkennung verbunden ist, Selbstachtung, Selbstschätzung und Selbstvertrauen sowie Selbstwertempfinden gewinnt (3.5). Damit legt das Kapitel dar, dass die soziale Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen zu einer Selbstbezogenheit führen kann, die den umbrochenen Körper einbezieht.

3.1

Inklusion und Barrieren

Formen und Bedeutung sozialer Anerkennung: Soziale Anerkennung bestätigt das Subjekt für seine Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch. Sie erfolgt in verschiedenen Formen (vgl. Honneth 1994: 151): Zum Ersten wird dem Subjekt kognitive Achtung zuteil, weil es gleich allen anderen sich rational einen Willen zu bilden und moralisch vernünftig zu entscheiden vermag. Darauf gründet im Makrosystem der Gesellschaft das Rechtsverhältnis. Zum Zweiten erfährt das Subjekt soziale Wertschätzung, wenn es Leistungen erbringt, mit denen es die Zielvorstellungen der kollektiven Identität erfüllt. Die Wertschätzung führt im Mesosystem der Gemeinschaften von Selbsthil-

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Körperlicher Umbruch

fegruppe, Bekanntenkreis, Kirchengemeinde, Partei, Sportverein oder Nachbarschaft zur Solidarität. Zum Dritten erhält das Subjekt affektive Zuwendung, weil es wegen seiner menschlichen Bedürftigkeit die Anderen anrührt, das zeigt sich im Mikrosystem der Familie oder der Freundschaften als Liebesbeziehung. Daneben äußert sich Anerkennung noch als emotionale Einstimmung, gegenseitige Beeinflussung, aktives Miteinander oder gemeinsames Bewusstsein, wie sie in der offenen Kritik, im ehrlichen Zweifel, in heimlicher Marginalisierung oder in lautstarker Ermahnung verborgen sein mag (vgl. Benjamin 1990: 19). Unabhängig davon, in welcher Form und in welchem sozialen System Anerkennung vermittelt wird, gewinnt das Subjekt durch sie eine positive Selbstbezogenheit. Die achtende, wertschätzende oder zugewandte Antwort der Alterität auf das Erzählen und Handeln des umbrochenen Körpers vermittelt ihm, was für sie an der zurückliegenden Identitätsarbeit wahr und gültig ist. Was an sozialer Anerkennung deklarativ in Worte gefasst oder im Verhalten prozedural ausgedrückt wird, kann sich ergänzen und ersetzen, unabhängig voneinander erfolgen oder sich widersprechen. Da in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende niemand wegen Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Religion, sexueller Orientierung, Klasse, Alter oder Behinderung diskriminiert werden darf und verlangt wird, allen denselben Respekt und dieselbe Höflichkeit entgegenzubringen, werden behinderte Menschen in einem sozialen System diskursiv meist anerkannt; in alltäglichen Gewohnheiten und Verhaltensweisen, in beiläufigen Gesten, im Ton der Stimme, in Körperhaltungen und -spannungen kann sich aber praktisch das Gegenteil mitteilen. Wenn das Subjekt durch die Alterität anerkannt wird, gewinnt es die Sicherheit, seiner Identität entsprechend handeln zu können, ohne sich dadurch in dem sozialen System, dem es angehört, zu gefährden. Unter keinen Umständen kann völlig auf soziale Anerkennung verzichtet werden, auch wenn jedes Subjekt ihrer in einem anderen Maß bedarf und dieses Maß wiederum bei ein und demselben Subjekt je nach Zeit und Umständen verschieden ausfällt. Welche Anerkennung das Subjekt für seine Identitätsarbeit bekommt, hängt von dem sozialen System ab, zu dem es gehört (vgl. Taylor 1993: 13). Falls es das, was es in einem sozialen System an kognitiver Achtung, sozialer Wertschätzung und affektiver Zuwendung erfährt, verinnerlicht und in die Struktur seiner Identität aufnimmt, wird es unabhängig davon, stets von Neuem durch die Alterität anerkannt werden zu müssen (vgl. Keupp et al. 1999: 256–258). Heilung des gestörten Narzissmus: Das Subjekt, das nach dem körperlichen Umbruch für seine Identitätsarbeit soziale Anerkennung erhält, vermag die Störung des Narzissmus zu überwinden, zu der es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch das Scheitern am kulturell erstrebten Ideal der Körper- und Affektkontrolle oder durch die Diskriminierung, Ausgrenzung oder Unterdrückung im sozialen System gekommen sein mag. Die durch die Alterität gestörte Selbstbezogenheit lässt sich nach dem unterscheiden, was dem Subjekt im sozialen System geschah (vgl. Honneth 1994: 211): Wenn ihm in der Gesellschaft Rechte verwehrt wurden und es seine Machtlosigkeit erfuhr, wurde seine Selbstachtung geschädigt. Bekam es in einer Gemeinschaft vermittelt, dass seine Leistung nicht zählte, war es der Willkür ausgesetzt war oder wurde seine Welt- und Lebenserfahrung im allgemeinen Diskurs nicht beachtet, untergrub die Dynamik im sozialen System seine Selbstschätzung. Wenn das Subjekt in ständiger Bedrohung lebte und in seinem Alltag damit rechnen musste, durch Übergriffe, Demüti-

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

gung oder Spott plötzlich verletzt zu werden, schädigte das neben seinem Weltvertrauen auch sein Selbstvertrauen. Wurde das Subjekt körperlich missachtet oder misshandelt, vermag die soziale Anerkennung seinen gestörten Körperbezug zu heilen. Dann lehnt das Subjekt den umbrochenen Körper nicht mehr ab, hasst ihn nicht mehr ganz oder in Teilen, vernachlässigt ihn nicht mehr oder versucht nicht mehr, ihn trotz seiner negativen Abweichung von der Norm entsprechend dem kulturell angestrebten Ideal der Körper- und Affektkontrolle zu gestalten. Doch nicht nur der Anerkannte, sondern auch der Anerkennende gewinnt durch die von ihm gewährte Anerkennung eine positive Selbstbezogenheit. Auch diejenigen, die das Subjekt wegen des Verlusts seiner gewohnten Körperlichkeit nicht anerkennen, können als narzisstisch gestört betrachtet werden. Denn solange sie dem chronisch kranken oder behinderten Subjekt keine Rechte zuerkennen und keine Wertschätzung oder Liebe entgegenbringen, bleiben sie allein auf sich bezogen und der Vorstellung ihrer Grandiosität verhaftet. Ebenso besteht bei denjenigen, die von sich annehmen, das Normale zu verkörpern, der gestörte Körperbezug fort. Da sie an der Richtigkeit der von ihnen verinnerlichten Körper- und Affektkontrolle nicht zweifeln, perfektionieren sie ihren Körper weiter so, wie es die in Pop und Sport verherrlichten Idole vormachen, und schämen sich, falls es ihnen nicht gelingt. Erst wenn sie dem Subjekt, das einen körperlichen Umbruch erlebte, wohlwollend begegnen und ihm Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Verbundenheit zeigen, müssen sie nicht mehr heimlich, gleichermaßen fasziniert wie voller Abscheu, diejenigen, die jenseits der Grenze des sozialen Systems verortet sind, beneiden, weil sie von kulturellen Zwängen frei zu sein und von einem Leben zu wissen scheinen, an dem sie selbst keinen Anteil haben. Kampf behinderter Menschen um Anerkennung: Sobald das Subjekt, das nach dem körperlichen Umbruch als chronisch krank oder behindert gilt, um soziale Anerkennung zu kämpfen beginnt, ist es dabei, eine positive Selbstbezogenheit zurückzugewinnen. Wenn dabei in der Kränkung das Allgemeingültige aufscheint, das über die individuelle Erfahrung hinausgeht, kann aus dem Kampf des Subjekts sogar die moralische Kraft für eine soziale Bewegung erwachsen. Bisweilen wird das gesamte soziale System zu weiterer Entwicklung angeregt, wenn das Subjekt erst einmal erkannt hat, was ihm verwehrt oder angetan wurde und was es bis dahin klaglos hingenommen hatte (vgl. Honneth 1994: 256–263). Das behinderte Subjekt, das um Anerkennung kämpft, steht in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende nicht allein. Denn in ihnen wird kaum noch um eine gerechte Verteilung der materiellen Güter gekämpft, sondern um Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit körperlicher Verschiedenheit. Die Behindertenbewegung, die seit den 1970er Jahren die Anliegen behinderter Menschen in die Öffentlichkeit brachte, trug mit der Übereinkunft über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die unter ihrer Mitwirkung in fünfjähriger Vorarbeit entstand und 2006 von der UNO-Vollversammlung verabschiedet wurde, wesentlich dazu bei, dass Menschen mit Behinderungen sozial stärker anerkannt wurden. Diese sogenannte UN-Behindertenrechtskonvention hält fest, dass Behinderten von staatlicher Seite die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten ist und dass ihnen ihre Rechte weder eigens zuerkannt werden müssen noch ihnen aberkannt werden können. Die kognitive Achtung ist damit nicht länger von den Gegebenheiten des somatischen Körpers abhängig. Verlangt wird vielmehr solch ein Umgang mit der

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Körperlicher Umbruch

jeweiligen Körperlichkeit, dass alle Mitglieder des sozialen Makrosystems von vorneherein vollumfänglich am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Ausdrücklich werden in einzelnen Artikeln verschiedene Bereiche genannt, auf welche diese Festlegung anzuwenden ist, nämlich unter anderem auf Politik, allgemeine Öffentlichkeit, Bildung, Arbeit und Beschäftigung, Wohnen, Kultur, Erholung, Freizeit und Sport. Weil soziale Anerkennung nicht mehr vom richtigen Körper abhängt und ihre Einschränkung sich nicht länger medizinisch begründet lässt, schafft die UNBehindertenrechtskonvention die Voraussetzungen für eine freiheitliche und gleichberechtigte Inklusion von behinderten Menschen (vgl. Bielefeldt 2009: 4–10). Statt der Unrechtserfahrung gesellschaftlicher Ausgrenzung können auch diejenigen, deren Körper mehr als sechs Monate negativ von der Norm abweicht, ein Bewusstsein eigener Würde entwickeln und aufrechterhalten. So, wie diese Übereinkunft erst dadurch möglich wurde, dass die Behindertenbewegung das soziale Makrosystem der Gesellschaft verändert hatte, wird sie dadurch, dass in ihr Behinderung als ein Bestandteil menschlichen Lebens anerkannt wird, die Gesellschaft auch weiter verändern. Zugehörigkeit zur Gesellschaft: Als behinderten Menschen mit Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich 2008, in Deutschland 2009 und in der Schweiz 2014 das Recht auf Inklusion zuerkannt wurde, war in den westlichen Gesellschaften das Ideal des Konsumentenkörpers bereits an die Stelle des Produzentenkörpers getreten (Baumann 2005: 196–212). Eine Körperlichkeit, die über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus als verkrüppelt, siech, lahm, blind, taubstumm oder schwachsinnig bezeichnet wurde, war bis dahin aus der Gesellschaft ausgegrenzt, weil sie nicht in der Lage war, genügend zu produzieren. Sie vermochte nicht als Arbeiter große Lasten zu tragen und schwere Maschinen zu bedienen, als Soldat in den Krieg zu ziehen oder als Hausfrau und Mutter den körperlich fordernden Widrigkeiten des Alltags standzuhalten, und wurde deshalb in Anstalten verwahrt und in der Arbeitstherapie zumindest zu geringfügiger wirtschaftlicher Wertschöpfung angehalten. Doch erwies sich der somatisch als geschädigt und sozial als behindert geltende Körper als fähig, ausreichend zu konsumieren. Daher war es möglich, dem Anliegen der Behindertenbewegung zuerst nach Integration, d.h. Aufhebung der früheren Aussonderung, und später nach Inklusion, d.h. Zugehörigkeit zur Gesellschaft von Anfang an, zu entsprechen, ohne dass sich dadurch ein Widerspruch zu dem inzwischen gültigen Ideal der Körper- und Affektkontrolle aufgetan hätte. Denn auch der behinderte Körper kann fit sein, d.h. aufnahmefähig für die Wonnen, die bereits im Angebot sind oder noch ins Angebot kommen, und eingestimmt auf die bekannten und unbekannten, schon vorhandenen oder noch nicht absehbaren Freuden (ebd.: 200). So gibt es spezielle Mode für Blinde, nämlich mit haptischen Elementen, oder für Rollstuhlfahrer, nämlich Hosen ohne Gesäßtaschen und Jackets, die hinten kurz geschnitten sind, barrierefreies Yoga, bei dem die Übungen den körperlichen Gegebenheiten angepasst sind, stylish designte Arm- und Beinprothesen oder sexuelle Dienstleistungen durch auf Behinderung geschulte Prostituierte. Wenn behinderte Menschen darauf verweisen, dass sie wegen ihrer Körperlichkeit zwar anders, aber letztlich doch gleich den Nichtbehinderten arbeiten, Sport treiben, verreisen, lieben, Beziehungen führen und Kinder kriegen, zeigen sie auf, dass sie sowohl bereit als auch

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

fähig sind, die der kollektiven Identität entsprechende Lebensweise anzunehmen, und dass sie daher ihre Inklusion zu Recht verdienen. Barrieren in der Gemeinschaft: Zwar lässt sich in der Gesellschaft durch Verträge und Gesetze anordnen, dass ein Subjekt in Form von Rechtsverhältnissen anerkannt wird, doch ist im Mesosystem soziale Anerkennung nicht mit einem Verweis auf die rechtlich zustehende Inklusion erreichbar. Denn Gemeinschaften sind frei, ihre Zwecke zu bestimmen, solange diese nicht moralisch schlecht sind oder jemand anderen in der Ausübung seiner Interessen schaden. Sie dürfen dem entsprechend ihre Mitglieder auswählen, und die Affekte, auf denen Familien und Freundschaften gründen, lassen sich nicht erzwingen (vgl. Felder 2012: 254–259). Auch wenn mit dem Recht auf Inklusion das behinderte Subjekt den Anspruch erworben hat, die Ressourcen zu erhalten, die es ihm ermöglichen, an einer Gemeinschaft teilzuhaben oder eine Familie zu führen, sind soziale Wertschätzung in Form von Solidarität oder affektive Zuwendung in Form von Liebesbeziehungen nicht juristisch einklagbar. Zudem sehen die übrigen Mitgliedern eines sozialen Systems es oft als wenig wertvoll an, was das behinderte Subjekt einzubringen hat, und wegen seiner vermeintlichen Bedürftigkeit und verinnerlichten Vorerfahrungen erscheint es ihnen vielfach als wenig liebenswert. In vielen Lebensbereichen finden sich Barrieren, die behinderten Menschen den Zugang erschweren oder eine Teilhabe an einer Gemeinschaft verunmöglichen. Diese Barrieren lassen sich zum Beispiel in bauliche, institutionelle, kommunikative oder mentale noch weiter unterscheiden. Besonders schwer wiegen die mentalen Barrieren: Auch wenn bei einem Arbeitsverhältnis das Integrationsamt die Kosten für die notwendigen Hilfsmittel übernimmt, kann der Arbeitgeber zögern, den behinderten Bewerber einzustellen, weil dessen Behinderung ihn verunsichert; bei der Freizeitveranstaltung, die als inklusiv gekennzeichnet ist, bleiben Menschen mit Behinderungen unter sich, weil es für Nichtbehinderte nicht lohnenswert erscheint, mit ihnen Zeit zu verbringen; und bei der Online-Partnerschaftsvermittlung können sich behinderte Menschen zwar barrierefrei anmelden, doch müssen sie sich vor dem ersten Treffen überlegen, wie sie ihre Körperlichkeit einführen. Oft wirken die verschiedenen Barrieren zusammen, sodass selbst nach Überwindung von einer oder mehreren immer noch eine andere fortbesteht (vgl. Walser-Wohlfarter/Richarz 2020: 160f.).1 Das Fortbestehen von Barrieren erklärt sich möglicherweise damit, dass Nichtbehinderte ihre Körperlichkeit absolut setzen und nicht daran denken, dass es auch Behinderte gibt, damit, dass Nichtbehinderte nicht dazu bereit oder fähig sind, sich in die Bedürfnisse von Behinderten einzufühlen, oder damit, dass Nichtbehinderte meinen, der finanzielle Aufwand für den Abbau der Barrieren lohne sich nicht. Damit lebt das Subjekt, das als behindert gilt, in einem Spannungsfeld. Während es ihm durch verschiedene Barrieren erschwert wird, in Gemeinschaften soziale Wertschätzung oder affektive Zuwendung zu erfahren, ist ihm in der Gesellschaft kognitive Achtung zugesichert; während es im Mesosystem jenseits von dessen Grenze verortet wird und weiterhin um Solidarität und Liebesverhältnisse kämpfen muss, befindet es

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Dort wird am Beispiel der Tanzpädagogik dargestellt, wie diese verschiedenen Barrieren zusammenwirken und einen Unterricht erschweren, der eine körperliche Vielfalt im Tanz anstrebt.

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Körperlicher Umbruch

sich im Makrosystem diesseits von dessen Grenze und ist vollumfänglich in das Rechtsverhältnis einbezogen.

3.2

Kognitive Achtung

Zum Wesen kognitiver Achtung: Im Makrosystem der Gesellschaft kann sich das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch dadurch für Prozess und Struktur seiner Identität anerkannt fühlen, dass ihm kognitive Achtung zuteil wird. Sie zeigt sich in Form des Rechtsverhältnisses (vgl. Honneth 1994: 173–195). Diese Form der sozialen Anerkennung beruht darauf, dass die Alterität dem chronisch kranken oder behinderten Subjekt dieselben kognitiven Fähigkeiten zuschreibt wie sich selbst. Ihrer Meinung nach ist es in der Lage, wie sie es selbst vermag, sich rational einen Willen zu bilden und in moralischen Fragen vernünftig zu entscheiden. Die Bedingungen, die das Subjekt erfüllen muss, um kognitiv geachtet zu werden, liegen stets in seiner Identität oder Teilidentität begründet; sie sind zudem von der Gesellschaft, zu der das Subjekt gehört, bestimmt, und wandeln sich über die Zeit hinweg entsprechend der kollektiven Identität. So erhielten im Verlauf des 20. Jahrhunderts Frauen durch ihre Emanzipation mehr Rechte, wohingegen im nationalsozialistischen Deutschland die jüdische Bevölkerung die kognitive Achtung entzogen bekam und rechtlos wurde. Auch nachdem das Subjekt durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung die gewohnte Körperlichkeit verloren hat, bleibt es Rechtsträger bzw. Rechtssubjekt – vorausgesetzt, dass seine moralische Zurechnungsfähigkeit bewahrt ist. Solange es mit dem umbrochenen Körper die Bedingungen des Makrosystems erfüllt, stehen ihm dieselben Rechte zu wie allen anderen Mitgliedern. Auch nach dem körperlichen Umbruch verfügt es über die liberalen Freiheitsrechte, wie sie im Verlauf des 18. Jahrhunderts errungen wurden, um Freiheit, Leben und Eigentum vor dem unberechtigten Eingriff des Staates zu schützen, über die politischen Teilhaberechte, wie sie während des 19. Jahrhunderts erkämpft wurden, um die Prozesse der öffentlichen Willensbildung mitzugestalten, und über die sozialen Wohlfahrtsrechte, wie sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts erworben wurden, um ein gewissen Maß an Lebensstandard zu sichern und die anderen Rechte überhaupt auszuüben. Die Interessen des Subjekts bilden dabei den Gegenstand des Rechtsverhältnisses. Ihm wird das Recht zugestanden, in der Gesellschaft zu handeln, um seine existentiellen Bedürfnisse wie Nahrung, Schutz und Zugehörigkeit zu befriedigen, die Pläne, die sich aus seiner Identität ergeben, umzusetzen und die Ziele, auf die es übergeordnet in seiner Identität ausgerichtet ist, zu verfolgen. Dabei ist das Subjekt allein begrenzt von den Pflichten, die es gegenüber der Alterität hat, sie ergeben sich daraus, dass ihm Rechte zustehen. Neben dem Rechtssubjekt und dem Rechtsgegenstand gehört zum Rechtsverhältnis als drittes das Rechtsobjekt bzw. der Pflichtenträger (vgl. Felder 2012: 39). Damit wird die Person oder Institution bezeichnet, der es zukommt, die dem Subjekt zugesprochenen Rechte zu erfüllen. Weil dadurch die Freiheit des Rechtsobjekts eingeschränkt wird, müssen die Interessen des Subjekts, die durch das Recht geschützt werden, besonders gewichtig sein. Rechten und Pflichten: Als kognitiv geachtetes Mitglied des Makrosystems und anerkannter Rechtsträger steht dem Subjekt nach dem körperlichen Umbruch nicht nur die

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

Freiheit zu, sein Selbst nach seinen Bedürfnissen zu verwirklichen, sondern auch die rechtliche Sicherheit, die es dafür braucht (vgl. Felder 2012: 31–47). Unabhängig davon, ob die Rechte moralisch oder juridisch begründet sind, ob sie auf Gewohnheit oder auf Gesetz beruhen, kann das Subjekt sich infolge des Rechtsverhältnisses darauf verlassen, dass die Alterität ihm in einer Weise antwortet, die seine Interessen wahrt, wenn es in der Gesellschaft handelt. Denn seine Rechte und die Pflichten der Anderen sind wechselseitig aufeinander bezogen. Das Subjekt kann sich gewiss sein, dass seinen negativen Rechten negative Pflichten der Alterität entsprechen; das heißt, die Anderen müssen alle Handlungen unterlassen, die es in seiner Freiheit einschränken, seine Interessen zu verfolgen. Dazu entsprechen seinen positiven Rechten positive Pflichten der Alterität entsprechen; das heißt, die Anderen müssen bestimmte Handlungen vornehmen, um es ihm zu ermöglichen, seine Interessen zu verfolgen. Infolge des Rechtsverhältnisses kann sich das Subjekt auch darin gewiss sein, dass es ihm zusteht, die Wahrung seiner Rechte vor einer Autorität einzuklagen und die Anderen damit zu zwingen, ihrer Pflicht zu entsprechen. Dabei ist vorausgesetzt, dass seine Interessen für das Wohlergehen schwer genug wiegen, um wirklich die Freiheitseinschränkung der Anderen zu rechtfertigen, und es überhaupt in der Macht der Anderen liegt, ihre Pflicht zu erfüllen. Wem die kognitive Achtung im sozialen Makrosystem zuteil wird, um in der Gesellschaft frei zu handeln und sicher zu leben, muss nicht gleichzeitig den anderen Formen der sozialen Anerkennung Genüge tun. Denn das auf kognitiver Achtung beruhende Rechtsverhältnis zeichnet sich gerade dadurch aus, dass das Subjekt nicht geschätzt oder geliebt werden muss, um seine Freiheits-, Teilhabe- und Wohlfahrtsrechte ausüben zu können. Das ihm zustehende Rechtsverhältnis führt aber dazu, dass das Subjekt gleichzeitig der Alterität gegenüber zum Pflichtenträger wird, sobald es von ihr als moralisch zurechnungsfähig anerkannt ist. Weil durch die kognitive Achtung dem chronisch kranken oder behinderten Subjekt im sozialen Makrosystem der Gesellschaft Rechte zustehen, sind ihm auch Pflichten auferlegt, die der Alterität gegenüber zu erfüllen sind und die wieder seine Freiheit einschränken. Als Rechtsobjekt ist es in derselben Weise der Alterität gegenüber verpflichtet, bestimmte Handlungen zu unterlassen oder auszuführen, wie sie es ihm gegenüber ist. Weil das Rechtsverhältnis die Beteiligten gegenseitig verpflichtet, ist das, was dem Subjekt nach dem körperlichen Umbruch auf Grund seines anerkannten Rechts zusteht, auch nicht als Dienstleistung oder Akt der Wohltätigkeit anzusehen. Sonderrechte chronisch Kranker und Behinderter: Um in der Lage zu sein, nach dem körperlichen Umbruch vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu bleiben, erhält das Subjekt, das auf Grund seiner körperlichen Veränderungen von den Ärzten als chronisch Kranker oder als Behinderter anerkannt ist, zusätzliche Rechte. Wie es auch bei Alten und Hochbetagten oder bei Kindern und Jugendlichen der Fall ist, sind diese Rechte in der besonderen Körperlichkeit begründet. Während jedoch bei diesen die von der Norm abweichende Körper- und Affektkontrolle dem zu erwartenden Ablauf des Lebens folgt, entspricht ihr Auftreten nach dem körperlichen Umbruch zwar ebenfalls einem natürlichen Geschehen, aber nicht einem üblicherweise vorherzusehenden; vielmehr ist bei chronisch Kranken oder Behinderten die körperliche Veränderung vorzeitig eingetreten und geht auch nicht vorüber. Moralisch werden die Sonderrechte dadurch gerechtfertigt, dass chronisch kranke oder behinderte Mitglieder eines sozialen Systems mehr

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Ressourcen brauchen, um gleich einem nichtbehinderten ihre Interessen zu verfolgen und Wohlergehen zu erreichen. Denn erstens ist ihr Körper in der somatischen Dimension geschädigt und damit nur eingeschränkt in der Lage, sich, wie die Anderen es vermögen, mit der Welt auszutauschen, sie in sich aufzunehmen oder auf sie einzuwirken; zweitens ist ihre Körperlichkeit in der sozialen Dimension darin behindert, die als Ideal geltende, von den übrigen Mitgliedern des Makrosystems angestrebte Körper- und Affektkontrolle zu erfüllen, sodass sie ausgegrenzt und abgewertet werden; und drittens wirkt die vermeintlich negativ von der Norm abweichende Körperlichkeit in der psychischen Dimension pathisch, wenn sie das Selbst emotional überwältigt und von sich selbst entfremdet. Um die körperlich bedingten Nachteile auszugleichen, wird es als recht und billig angesehen, dem chronisch kranken oder behinderten Subjekt Ressourcen zuzugestehen, über welche die Alterität, die keinen körperlichen Umbruch hatte, nicht verfügt. In diesem besonderen Rechtsverhältnis ist zudem ein Rechtsobjekt benannt, das den Anspruch des Subjekts sicherzustellen hat und das es durch Einsatz von Rechtsmitteln dazu zwingen kann. Der Anspruch auf Selbstverwirklichung, der dem chronisch kranken oder behinderten Subjekt zusteht, gilt nach langen Kämpfen der Anerkennung als moralisch so hohes Gut, dass ihm durch die UN-Behindertenrechtskonvention weltweite Geltung verschafft ist. Das Subjekt soll durch positive und negative Rechte gegenüber einem Pflichtenträger zu zweierlei ermächtigt werden (vgl. Graumann 2009: 58): Erstens soll das Subjekt mit dem umbrochenen Körper gleichberechtigt Zugang zu allen Bereichen der Gesellschaft haben. Sein Recht kann die Alterität dazu bringen, ihm diesen Zugang zu ermöglichen. Eine Dringlichkeitsbescheinigung sorgte dafür, daß der Wagen innerhalb eines halben Jahres zur Verfügung stand und ich nicht die widersinnige Wartezeit von einem Jahrzehnt und länger, die in der DDR normal war, in Kauf nehmen mußte.2 Ebenso kann das Wissen um ihre positive Pflicht die Alterität veranlassen, entsprechend zu handeln. Ich wurde in meinen Ansprüchen endlich ernst genommen und kurzerhand übermalte man einen Parkplatz mit einem gelben Behindertenzeichen.3 Zweitens ist sicherzustellen, dass das Subjekt auch nach dem Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit in der Lage ist, sein Leben selbstbestimmt und unabhängig zu führen. Bisweilen ist es gerade der vorausgegangene körperliche Umbruch, der es dem Subjekt ermöglicht, freier als die Alterität zu handeln. Immerhin durfte ich von nun an in den Westen reisen. Ein Recht, das ich mir mit meiner Behinderung »verdient« und den meisten anderen DDR-Bürgern voraus hatte.4 Kognitiv geachtet vermag das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch seine Interessen zu befriedigen und seine Pläne zu verwirklichen. Aus seinem Recht auf gesell2 3 4

Buggenhagen 1996: 94. Balmer 2006: 57. Buggenhagen 1996: 39f.

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

schaftliche Inklusion ergibt sich, dass allgemein die Voraussetzungen zu schaffen sind, damit es ihm möglich ist, gleich den Anderen am Leben teilzuhaben. Wenn es der Fall ist, verbessert sich sein Befinden. Zu meiner Freude ging ein großer Aufzug in die Tiefe und gegen den Rolli hatte niemand Einwände. Noch größer war unsere Verblüffung, als wir unten auch wieder einen ausgeschilderten Rollstuhlweg fanden. Irgendwann war das Ende der Wegstrecke angezeigt, aber weil es noch immer ganz ordentlich aussah, schob Klaus mich weiter. Nach einigen Metern erschien ein Ranger, aber er hielt uns keine Standpauke, weil wir weitergingen. Als er nichts sagte, fragten wir, ob wir denn hier weiter könnten. »Selbstverständlich«, war die Antwort, »jetzt wird es nur etwas anstrengender. Wenn es wirklich steil wird, passt der Rollstuhl sowieso nicht mehr durch die Barrieren.« Ich habe meinen Ausflug in die bizarre Tropfsteinhöhle genossen.5

3.3

Soziale Wertschätzung

Zum Wesen sozialer Wertschätzung: Im Mesosystem der Gemeinschaften wird das Subjekt dadurch anerkannt, dass ihm für Prozess und Struktur seiner Identität soziale Wertschätzung entgegengebracht wird. Es erfährt sie als Solidarität (vgl. Honneth 1994: 196–210). Diese Form der sozialen Anerkennung beruht darauf, dass die Alterität wahrnimmt, dass das von ihr anerkannte Subjekt gleich ihr fähig ist, die Zielvorgaben des gemeinsamen sozialen Systems umzusetzen. Die Bedingungen, die das Subjekt erfüllen muss, um sozial wertgeschätzt zu werden, ergeben sich aus der kollektiven Identität der Gemeinschaft. Unabhängig davon, ob sie eher hierarchisch ausgerichtet ist und eine Rangskala der Werte aufweist oder ob sie eher horizontal angelegt ist und in ihr verschiedene Werte nebeneinander stehen, bildet sie den Maßstab, der festlegt, wie viel soziale Wertschätzung dem Subjekt zuteil wird. Je nach dem, wie sehr die Identität des Subjekts den übergeordneten Vorstellungen des sozialen Systems entspricht und ihnen dient, fällt die Anerkennung größer oder kleiner aus. Welche Merkmale seiner Identität wie beurteilt werden, ist also von dem sozialen System bestimmt, das die Anerkennung ausspricht. Im Unterschied zu den allgemeinen Eigenschaften bei der kognitiven Achtung sind es bei der sozialen Wertschätzung aber immer besondere, die allein dem betreffenden Subjekt zukommen. Nicht nur in der Leichtathletik mischte ich vorne mit, auch im Tischtennis, Schwimmen, Kegeln, Pfeilwurf oder Rollstuhlgeländefahren sammelte ich Urkunden und Edelmetall. Jahr für Jahr stockte ich meine Titelsammlung auf, mal waren es acht, mal neun, mal zehn. An die 130mal werde ich wohl DDR-Meister gewesen sein, als sich das DreiBuchstaben-Land 1990 in den Staub der Geschichte verflüchtigte.6 Da sich mit der Zeit die kollektive Identität der jeweiligen Gemeinschaft wandelt, weil in ihr stets verschiedene Gruppen um Anerkennung kämpfen, ist der Maßstab der Aner-

5 6

Lürssen 2005: 94. Buggenhagen 1996: 55.

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kennung in stetem Fluss. So verliert dann das Subjekt die Wertschätzung, die es zuvor unter den anderen Umständen genossen hat. Da der Maßstab in verschiedenen Gemeinschaften unterschiedlich ist, kommt es vor, dass dasselbe Subjekt in dem einen sozialen System wertgeschätzt ist, in dem anderen aber nicht. Wenn das Subjekt, das als chronisch Kranker oder Behinderter gilt, in einer Gemeinschaft von sogenannten Normalen sozial anerkannt sein will, ist es hilfreich, wenn es körperlich möglichst unauffällig erscheint, aber auch nicht zu sehr über den eigenen Zustand hinweg täuscht, sich möglichst leistungsfähig zeigt, Hilfestellungen dankbar annimmt und Vorurteile nicht auf die eigene Person bezieht (vgl. Goffman 1967: 143–153). Anderes wiederum ist von dem Subjekt verlangt, wenn es als Mitglied einer Selbsthilfegruppe oder eines Behindertensportvereins sozial anerkannt werden will, denn in diesen Gemeinschaften sind andere Eingenschaften und Fähigkeiten verlangt, um der kollektiven Identität zu entsprechen. Wenn das Subjekt die Bedingungen des sozialen Systems, auf das es bezogen ist, erfüllt und in ihm wertgeschätzt wird, teilt es sein Erleben gerne mit der Alterität. Noch wertvoller sind für mich die vierteljährlichen Treffen der Betroffenen-Berater aus den verschiedenen Bezirken. An einem solchen Nachmittag trifft sich ein von der DMSG zur Verfügung gestellter Psychologe mit uns. Hier können wir unsere Erlebnisse, egal ob positiv oder fürchterlich deprimierend, endlich einmal loswerden […].7 Die Anerkennung, die das Subjekt in einem sozialen System erfährt, beruht darauf, dass sich dessen Mitglieder auf eine gemeinsame Werteordnung beziehen. Wenn es ihr genügt, gewinnt das Subjekt die Gewissheit, dass die Alterität seine Eigenschaften und Fähigkeiten anerkennt. Vom bloßen Kranken war ich zum Behinderten geworden, so wie im Stierkampf der Novillero zum Torero wird, wenn er zum ersten Mal den Kampf mit einem großen, ausgewachsenen Stier wagt. Man hat mir nicht applaudiert, aber fast.8 Das Subjekt erhält Lob, weil es die Anliegen der kollektiven Identität und dessen allgemeine Zielvorstellungen gut verwirklicht hat. Meine Kolleginnen geraten des öfteren ins Staunen: »Mensch Marianne, wie hast Du das gemacht? Als ich gefragt habe, war er nicht bereit, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.« Sie kommen und sagen »Mach mal!«, und fast immer schaffe ich es dann auch, daß die Gemeinten mitmachen.9 Die soziale Wertschätzung in der Gemeinschaft ermutigt das Subjekt, seine Identitätsentwürfe und -projekte in die Tat umzusetzen und seinen übergeordneten Zielen zu folgen.

7 8 9

Lürssen 2005: 68. Bauby 1997: 10. Buggenhagen 1996: 92.

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

Hans war derweil die Kinnlade heruntergeklappt: »Mensch, Marianne, das ist ja fast DDR-Rekord! Da kannste was draus machen. Wenn Du ein bißchen mehr trainierst, kannst du bei den Meisterschaften mitmachen.«10 Dadurch, dass ihm Wertschätzung entgegengebracht wird, lernt das Subjekt zu vertrauen, dass die Alterität bereit ist, seine Handlungen fortzuführen, oder dass sie zumindest wohlwollend von ihnen spricht. Dabei kommt es vor, dass die Wertschätzung auf einem Missverständnis beruht. Der Arzt stach vorsichtig, langsam in meine rechte Wange, tief ins Fleisch. »Da, ja, sehr gut. Ja, ich sehe sie. Schön sieht sie aus, die Parotis. Jetzt! Ja, du kannst das BotoxDepot spritzen«, ereiferte sich der Radiologe. Das Spritzen tat gar nicht weh. Nein, nein, ich hätte nur schreien können, hätte ich schreien können. »Sie ist eine sehr Tapfere!«, meinte der Arzt anerkennend, den Wirkstoff langsam reinspritzend. Tapfere? Meinte der mich?11 Soziales Ansehen: Wenn das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch mit seiner Identität im sozialen Mesosystem anerkannt wird, erhält es soziales Ansehen. Innerhalb einer Gemeinschaft verfügt das Subjekt über Eigenschaften und Fähigkeiten, die in der kollektiven Identität der Gemeinschaft als wertvoll gelten. Es ist möglich, dass das Subjekt gar nicht mit der Wertschätzung gerechnet hat. Beim Besuch eines Töpferstudios, in das mich ein Kollege mitnahm, wurde mir ein Klumpen Ton überlassen, den ich auf die Töpferscheibe warf. Es überraschte mich zu entdecken, dass ich ein gewisses Talent zum Töpfern besaß, und freute mich darüber, dort als Schüler angenommen worden zu sein.12 Bisweilen schätzt die Alterität das Subjekt gerade für Eigenschaften und Fähigkeiten, die ihm erst durch den vorausgegangenen Verlust der gewohnten Körperlichkeit zuteil wurden. Einige [Patienten; B.R.] wissen, daß ich als Sportlerin im Rollstuhl außerordentlich erfolgreich bin, sie fühlen sich in gewisser Weise geschmeichelt, von einer Olympiasiegerin betreut zu werden. Einer der Gründe dafür, daß ich bei ihnen in aller Regel mehr erreiche als eine nichtbehinderte Schwester. Die Akzeptanz ist eine andere, bestimmte Bitten, Vorschläge oder Anordnungen werden eher hingenommen, auch dann, wenn der Sinn zunächst nicht einleuchtet. Die muß es schließlich wissen, sagen sich meine Schützlinge […].13 Die Alterität vergibt das soziale Ansehen auch dafür, dass sich das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch durch die Identitätsarbeit Eigenschaften und Fähigkeiten erwarb und nun Werte umsetzt, die in der Gemeinschaft geschätzt sind.

10 11 12 13

Buggenhagen 1996: 55. Balmer 2006: 113. Todes 2005: 49. Buggenhagen 1996: 91f.

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Mir ist es vielleicht der bedeutendste Lohn meiner Bemühungen um die Bewältigung des Apoplex, daß mir mein Sohn bestätigt, er könne jetzt besser mit mir auskommen als früher, und ich hätte durch die Krankheit mehr Verständnis für andere entwickelt.14 Es ist möglich, dass das Subjekt nicht weiß, wofür es wertgeschätzt wird. Es vermag nicht anzugeben, wie es mitwirkt, die Zielvorstellungen der kollektiven Identität umzusetzen, und wundert sich über die institutionelle Anerkennung. Später hatte man mir am 7. Oktober 1988, am »Tag der Republik«, sogar die ArturBecker-Medaille der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in Gold verliehen, »in Anerkennung und Würdigung hervorragender Verdienste bei der kommunistischen Erziehung der Jugend der DDR«. Was daran »kommunistisch« war, wenn ich Querschnittsgelähmten ein Stück Lebenstüchtigkeit zurückgab, ihnen beibrachte, wie man auf geschickte Weise einen Kamm hält und damit seine Behinderung überlistet, das konnte mir zwar keiner sagen, aber sei’s drum – offenbar war man davon überzeugt, daß ich einigermaßen gut mit Menschen umzugehen wußte.15 Die Alterität kann das soziale Ansehen auch informell zum Ausdruck bringen. Marilyn erzählte mir, daß eine feinfühlige Freundin sie gefragt hatte, ob mein Blindsein, durch das es mir möglich war, mich stärker zu konzentrieren, für die Kreativität verantwortlich sei, die ich, wie sie glaubte, in den vergangenen Monaten entwickelt hatte.16 Aus dem sozialen Ansehen, das das Subjekt besitzt, leiten sich Folgehandlungen der Alterität ab. Als Zeichen ihrer Wertschätzung erfährt es Solidarität. Die Alterität unterstützt es in der Umsetzung der Identitätsprojekte, die sich ihm aus seiner Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch ergaben. Sie hilft ihm, als es an seine Grenzen kommt. Das kann diskursiv geschehen. Verzweifelt rief ich in Vladimir Tonkovičs Büro an und bat, zu ihm durchgestellt zu werden. Zu meiner Überraschung klappte das sofort. »Dr. Tonkovič«, sagte ich. »Es tut mir furchtbar leid, Sie bemühen zu müssen, aber ich habe immer noch keine Antwort Ihres Ministeriums erhalten.« »Was?« Seine Stimme klang ungläubig. »Das kann ich gar nicht glauben!« Dann folgte eine Pause, ehe er etwas leiser hinzufügte: »Ich werde Krokodil. Ich verspreche, Miss Mills, ich werde Krokodil!«17 Oder es geschieht praktisch, auch wenn es vor der Öffentlichkeit verborgen bleibt. [Franziska von Almsick; B.R.] hat sich mehrfach für die Belange der Behindertensportler eingesetzt, auch finanziell, und das in aller Stille, ohne Publicity. Das spricht für mich dafür, daß ihre Anteilnahme wirklich von innen kommt und nicht mit der Berechnung geschieht, vielleicht eine gute Schlagzeile zu haben.18

14 15 16 17 18

Peinert 2002: 97. Buggenhagen 1996: 82. Hull 1992: 201. Mills 1996: 270. Buggenhagen 1996: 141.

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

Indem die Alterität die vom Subjekt eingeleitete Handlung aufgreift, vermag es etwas zu erreichen, was ihm allein nicht möglich gewesen wäre. In den nächsten zwei Monaten gelang es uns mit Hilfe von Darren und seinen Freunden von »Siloam«, die gesamte Bürokratie zu besiegen und viertausendfünfhundert Prothesen aus allen Landesteilen zusammenzutragen.19 Durch Unterstützung der Alterität wächst das Subjekt über sich hinaus und erringt einen ungeahnten Erfolg. Ich hätte nie für mich möglich gehalten, daß mich Zuschauer so feiern würden, und erstmals in einem sportlichen Wettbewerb fühlte ich mich durch eine Welle der Sympathie und Begeisterung zu einer regelrechten Leistungsexplosion animiert. Die sind nur wegen dir gekommen, Marianne, nun gib ihnen etwas zurück, feuerte ich mich selbst an.20 Äußerungen der Wertschätzung: Da das soziale Ansehen vor allem aus den Identitätsprojekten erwächst, die das Subjekt erfolgreich umsetzte, besagt die soziale Wertschätzung, die ihm zuteil wird, dass es mit seiner Form der Selbstverwirklichung den Zielvorstellungen der Gemeinschaft dienlich gewesen ist. Diese soziale Wertschätzung äußert sich auf verschiedene Weise. Die Alterität versichert dem Subjekt, ihm zukünftig beizustehen. In einem anderen Krankenhaus hatte ich eine Buchlesung und lernte dort einen anderen Lungenfacharzt kennen. […] Der Lungenfacharzt hat mir bis heute nie versprochen, dass ich durch eine andauernde Beatmung überleben würde, aber er sicherte mir Lebensqualität zu.21 Das soziale Ansehen des Subjekts bringt die Alterität dazu, wohlwollend über es zu sprechen. Diskursive und praktische Wertschätzung stimmen überein. Ich habe Freunde gewonnen, die mit mir bangen, sich mit mir freuen und ärgern, die zu mir gehören. Behinderte und Nichtbehinderte, für die das Gefühl »Wir da unten, ihr da oben«, das mich oft noch beschleicht, wenn ich irgendwo »herumgezeigt« werde, nicht gilt. Sogar einen eigenen Fan-Club habe ich inzwischen. Einige West-Berliner, die irgendwann plötzlich da waren und mir erklären, daß sie mich »gut« fänden und das auch, wann immer es ging, demonstrieren wollten.22 Infolge des sozialen Ansehens würdigt die Alterität das Subjekt für die Identitätsarbeit, die es nach dem körperlichen Umbruch leistete. Eine Schulklasse elfjähriger Kinder besuchte mich im Rahmen des Religionsunterrichts. Sie stellten sehr interessierte Fragen über das Leben mit einer Krankheit. Drei Mädchen standen vor mich hin und lasen stolz das Gedicht vor, das sie verfasst hatten: Sie meistern Ihr Leben,/wie wachsende Reben./So stark wie Sie leben,/mit Gottes 19 20 21 22

Mills 1996: 266. Buggenhagen 1996: 119. Balmer 2006: 59. Buggenhagen 1996: 114.

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Körperlicher Umbruch

Segen./Ihr Inneres ist lieblich,/so wie auch Ihr Blick./Sie leben prächtig./Und auch mächtig.23 Wenn die Alterität für sich nutzen will, was sich das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit in seiner Identität erwarb, erfährt es dafür ebenfalls Wertschätzung. Pia, heute ist das eingetreten was ich mir erhofft habe: Einer unserer Patienten hat mich gefragt, was für einen Typ Rollstuhl ich habe. Seiner sei zu schwer, um ihn die Treppe herunterzutragen, daher möchte er gerne einen leichteren haben, um sich bei Bedarf in diesen zu setzen und sich so die Wege zu erleichtern. Er hat sich x-mal entschuldigt, dabei wollte ich für meine Patienten auch Ansprechpartnerin für Fragen hinsichtlich Leichtlaufrollstühlen werden.24 Falls das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch wertgeschätzt und von der Alterität als dienlich für die Gemeinschaft angesehen wird, ergibt sich daraus, dass ihm neue Aufgaben zufallen, durch die es sogar ein Einkommen erzielt. »Wir haben gerade die Aufnahmen fürs Frühstücksfernsehen beendet«, sagte er, »und da fiel mir ein, daß sie als Gastmoderatorin perfekt wären. Könnten Sie zu einem Gespräch mit dem Produzenten herkommen?« Zwei Monate später hatte ich einen sechsmonatigen Vertrag mit der BBC.25 Von den Vertretern verschiedener Gemeinschaften erhält das Subjekt immaterielle Auszeichnungen. Die Artur-Becker-Medaille der FDJ in Gold von 1988, sozusagen Alt-Last heute, machte den Anfang. Dann folgte 1990 das Goldene Band der Berliner Sportjournalisten, der Victory Award der USA-Regierung in Washington und das Silberne Lorbeerblatt des Bundespräsidenten 1993. 1994 wählte mich der Deutsche Staatsbürgerinnenverband neben Regine Hildebrandt und Rita Süssmuth zur »Frau des Jahres«, verlieh mir der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen den Verdienstorden des Landes Berlin, machten mich die Stimmen der ARD-Zuschauer zu Deutschlands »Sportlerin des Jahres«. Im Jahr darauf wurde ich in Los Angeles mit dem Noel Foundation Award geehrt. 1996 schließlich zeichnete mich die Bruderschaft der Ex-Prinzen von Montabaur mit ihrem »Goldenen Stiefel« aus.26 Wegen seiner gelungenen Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch wird das Subjekt darüber hinaus für die Alterität zum Vorbild erklärt. Diese Auszeichnung [der Tageszeitung ›Daily Star‹; B.R.] war die erste einer ganzen Reihe von Preisen, die ich von Zeitungen und Organisationen erhielt. Die ›Times‹ verlieh mir etwas später im gleichen Jahr eine Auszeichnung für mitmenschliche Leistungen, die Britische Handelskammer stimmte nicht nur für mich als herausragende

23 24 25 26

Balmer 2006: 123. Ruscheweih 2005: 51f. Mills 1996: 269. Buggenhagen 1996: 147.

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

junge Persönlichkeit des Jahres, sondern stiftete einen neuen Preis in meinem Namen, den Heather-Mills-Award, der jährlich einem jungen Menschen verliehen werden sollte, der ein größeres Problem oder ein Handicap erfolgreich überwunden hatte.27

3.4

Affektive Zuwendung

Zum Wesen affektiver Zuwendung: Im Mikrosystem von Familie, Partnerschaft oder Freundeskreis erfolgt die soziale Anerkennung des Subjekts dadurch, dass es affektive Zuwendung bekommt. Sie äußert sich als Liebesbeziehung (vgl. Honneth 1994: 153–172). Die Fähigkeit des Subjekts, sich in der Beziehung zur Alterität glückhaft zu entgrenzen, ist eine der Möglichkeiten, mit denen sich die Bedingungen menschlichen Lebens überwinden lassen (vgl. Fromm 2009: 17–97). Nur über eine begrenzte Lebenszeit zu verfügen, als ein Einzelner abgesondert von der Alterität zu sein und den übermächtigen Kräften der Natur und der Gesellschaft ausgesetzt zu sein, wird in der Liebe in einer Weise bewältigt, wie es sonst nicht der Fall ist – weder in den orgiastischen Zuständen der autosuggestiven oder drogeninduzierten Trance oder der in Gemeinschaft begangenen kulturellen Rituale noch im Aufgehen in der Konformität mit der Masse, in der symbiotischen Verschmelzung mit dem Anderen, in der masochistischen Unterwerfung oder der sadistischen Beherrschung. Denn während hier der Selbstbezug vorübergehend ganz aufgehoben ist, wird durch die affektive Zuwendung das Selbst bewahrt und die Identität gestärkt. Diese Form der sozialen Anerkennung erhält das Subjekt, weil die Alterität es in seiner Bedürftigkeit wahrnimmt und sich in ihm wiederfindet. Hans-Jürgen Krüger war ein sehr aufmerksamer Mann, wenn er mich sonntags besuchte, brachte er stets Rosen mit. Ein für die DDR beachtliches Kunststück in der Organisation von Raritäten. Ich hatte zu tun mit meiner »psychogenen Gangstörung«, er mit »psychogenen Kopfschmerzen«. Wir nahmen uns gegenseitig einander an, wohl weil wir beide spürten, daß geteiltes Leid halbes Leid ist.28 Diese Wahrnehmung der eigenen Bedürftigkeit im Anderen erfolgt unabhängig vom Lebensalter. Die Mutter von Joël trug während ihrer Schwangerschaft eine Klangkugel, eine sogenannte »Schwangerschaftskugel«, die das Kind im Bauch beruhigen sollte. Zwei Jahre später, Patenkind Joël lernte gerade laufen, schenkte er mir zu meinem zweiunddreissigsten Geburtstag voller Stolz »seine« Klangkugel, die mich behüten soll. Ich werde die kleinen Händchen nie mehr vergessen, wie sie mir die Kugel überreichten.29 Die Bedingungen, die das Subjekt erfüllen muss, um affektive Zuwendung zu bekommen, gründen in der Erfahrung, zumindest in den ersten Monaten des Lebens selbst geliebt worden zu sein. Denn unbewusst wiederholt jede Liebesbeziehung, unabhängig 27 28 29

Mills 1996: 259. Buggenhagen 1996: 73. Balmer 2006: 125.

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Körperlicher Umbruch

davon, ob sie nach dem körperlichen Umbruch in der Beziehung zu einem Kind, mit einem Lebenspartner oder in einer Freundschaft verwirklicht wird, was das Subjekt an Verschmelzung und Trennung in der frühen Kindheit erlebte. Damit unterscheidet sich die affektive Zuwendung von der sozialen Wertschätzung, wo das Subjekt von der Alterität für das anerkannt wird, was es für die Gemeinschaft zu leisten vermag. Um seine Identität in ihren verschiedenen Bereichen zu entfalten, braucht das Subjekt Solidarität und Liebe, wobei das eine nicht durch das andere ersetzbar ist. Menschen standen mir bei, indem sie mich nicht an dem maßen, was ich nicht konnte, sondern mich dafür schätzten, was ich war. Das waren Nachbarn, Patienten, Ärzte, Sportkameraden, Behinderte wie Nichtbehinderte, ganz normale Leute eben und sogar Journalisten, für die ich mehr als eine Geschichte verkörperte. Und dann war da noch einer, für den ich etwas ganz Besonderes wurde – was ich in diesem Falle ausnahmsweise gerne hinnehme –, so wie er etwas ganz besonderes für mich ist: Jörg, Rollstuhlfahrer wie ich, erst mein Patient in Buch, dann seit 1978 mein Mann.30 Von ihrem Wesen her bleibt die Liebesbeziehung auf einige wenige Personen beschränkt. In stetem Wechsel umfasst sie Zeiten der glückhaften Entgrenzung wie im selbstvergessenen Gespräch, in der sexuellen Vereinigung oder im ungezwungenen Zusammensein eines Spiels und Zeiten des Rückzugs oder der Selbstbezogenheit. Kommt es dann zur gemeinsamen Entgrenzung, erlebt sich das Subjekt mit der Alterität versöhnt und eins. Die Musik war kraftvoll und erregend. Ich war in Hochstimmung und fühlte mich beschenkt. Durch den Lärm des Händeklatschens und Singens hindurch schrie mir Thomas ins Ohr: »Was singen sie in ihren Liedern?« »Sie singen von der Freiheit«, erwiderte ich. Er lachte vor Freude, und ich lachte auch.31 Zur sozialen Anerkennung in Form der Liebesbeziehung gehört das Vertrauen des Subjekts, dass der geliebte Andere auch dann mit ihm in Zuneigung verbunden bleibt, wenn er seine Aufmerksamkeit einmal von ihm abgezogen und sich der Umwelt zugewandt hat. Erst wenn die affektive Zuwendung durch die Alterität beides umfasst, nämlich Verschmelzung und Trennung, wird sie zur Liebe. Wenn die Liebe dem Subjekt zuteil wird, erhält sie es am Leben. Es ist kaum vorstellbar, wie wichtig einem in diesem Krankheitszustand Bestätigung und Aufmerksamkeit werden. Ich bin davon überzeugt, daß ich ohne die überwältigend große Resonanz, die mein Schlaganfall bei nächsten Angehörigen, Verwandten, Freunden und Bekannten hatte, heute bei weitem nicht wieder soweit erholt wäre. […] Meine Frau kam täglich zu mir ins Krankenhaus und half mir, den Kontakt zum normalen Leben nicht zu verlieren. Sie war mir so eine ganz unentbehrliche Stütze in der Fremde des Klinkums. Besonders dankbar erinnere ich mich auch an die zuverlässig jeden Abend kommenden Ferngespräche mit meiner Tochter, meine Hannoveranrufe, und auch daran, daß mein Sohn es sich nicht nehmen ließ, trotz seiner eigenen starken

30 31

Buggenhagen 1996: 46. Hull 1992: 215f.

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Arbeitsbelastung mich immer wieder im Rollstuhl in den Klinikgarten und in die Frühlingssonne zu fahren. Das waren die bald sehnsüchtig erwarteten Höhepunkte meiner Klinikzeit.32 Die Liebesbeziehung, die das Subjekt trägt, kann sich auch in der Fantasie vollziehen. An einem sehr windigen Tag habe ich es sogar gewagt, mich ihr zu nähern, und habe mein Gesicht zwischen den Falten ihres Kleides aus weißer Gaze mit breiten Satinstreifen vergraben. Es war weich wie Schlagsahne und so frisch wie der Morgentau. Sie hat mich nicht zurückgestoßen. Sie ist mir mit den Fingern durch das Haar gefahren und hat sanft, mit einem spanischen Akzent, ähnlich dem der Neurologin, zu mir gesagt: »Nun, mein Kind, du mußt sehr geduldig sein.«33 In der Liebesbeziehung finden die Beteiligten zwischen Selbständigkeit und Bindung ein Gleichgewicht, das ihrer Bedürftigkeit Genüge tut, das aber für jede einzelne affektive Zuwendung wieder anders ausfällt. Aber das Schönste von allem war, dass keiner der anderen [an der Rehabilitationsgruppe im St. Charles’ Hospital; B.R.] teilnehmenden Handwerker, Arbeiter oder Geschäftsleute mich als chronisch Kranken behandelte. Meine Schweigsamkeit hielten sie für »ärztliche Zurückhaltung« und das Resultat meiner jahrelangen Anforderung als Arzt, zuhören und nicht reden zu müssen. Sie nahmen mich ohne Vorbehalt als Mitglied ihrer Gruppe an und ließen mich an ihren Problemen und Sorgen teilhaben.34 Wenn es den an einer Liebesbeziehung Beteiligten gelingt, ihre Identität in der angemessenen Spannung von individueller Selbstbehauptung und symbiotischer Selbstpreisgabe zu halten, erfahren sie durch ihre Liebe, dass sie zugleich in ihrer Eigenständigkeit bejaht und begleitet sowie von der Alterität freigegeben und doch sicher an sie gebunden sind. Durch die Wechselseitigkeit ihrer Liebesbeziehung ermutigen sie sich, die Einsamkeit, die mit einer authentischen Identität unvermeidlich zeitweise einhergeht, auszuhalten. Die Beteiligten bestärken sich, ihr jeweiliges Leben in Identität zu führen und sie weiter zu verwirklichen. Ich blickte Renata an. Mein Kroatisch war immer noch sehr schlecht. »Was hat [Martine; B.R.] gesagt?« Renata lächelte. »Sie sagte: ›Danke, daß du mir geholfen hast, wieder zu gehen.‹« Ich verkniff mir die Tränen und drückte sie fest an mich. »Ich danke dir, Martine«, sagte ich dann. »Danke, daß Du mir geholfen hast, mir einen Traum zu erfüllen.«35 Wechselseitige Verbundenheit: Was in der Liebesbeziehung eines Elternteils mit seinem Kind, zwischen Paaren oder unter Freunden geschieht, entspricht dem, was das Subjekt als Kind in der Beziehung zur Mutter erlebte. In noch undifferenzierter Intersubjektivität, die der Symbiose von Mutter und Kind entspricht, wird von Subjekt und Alterität gemeinsam Gemeinsames gefühlt; sie handeln miteinander, ohne dass es möglich ist, 32 33 34 35

Peinert 2002: 84f. Bauby 1997: 26. Todes 2005: 157. Mills 1996: 279.

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Körperlicher Umbruch

auszumachen, was im Einzelnen von wem ausgeht, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Zwischen ihnen ist die Beziehung entgrenzt, bis allmählich ihre wechselseitige Identifikation nachlässt und sie sich vermehrt den Dritten und der Umwelt zuwenden. Aus der glückhaften Verschmelzung kommt es zur schmerzhaften Trennung. Die Wut darüber haben die Beteiligten auszuhalten, wie die Mutter die Wut ihres Kindes anzunehmen hat, wenn sie es verlässt. Wenn die an einer Liebesbeziehung Beteiligten von ihrer Wut nicht vernichtet werden, werden sie sich ihrer Identität bewusst und gewinnen Eigenständigkeit. Indem es ihnen gelingt, die Grenzen ihres Selbst in der Auseinandersetzung zu bestimmen, wissen sie sich zwar von der Liebe des jeweils Anderen abhängig, stehen sie aber auch gleichzeitig für sich selbst. Durch affektive Zuwendung sozial anerkennt zu werden, führt zu einer Beziehung, bei der sich das Subjekt und die Alterität wechselseitig verbunden fühlen. Das Subjekt erkennt sich im Anderen und den Anderen in sich. Der Mann sah mich immer noch an, ich suchte seine Augen und da, da war es wieder: das Licht, das Leuchten in den Augen. Mein Herz begann heftig zu schlagen, Unbehagen überfiel mich. Meine Augen konnten sich von den seinen nicht lösen. Ich war wie gefesselt. Ich spürte eine tiefe Verbundenheit zu dem Mann, die ich mir nicht erklären konnte. Und dann, ganz plötzlich, konnte ich »sein Leiden« erahnen. Ich wusste ganz tief in meiner Seele, dass unsere Verbundenheit einen Grund hatte.36 Die Beziehung, die entsteht, nachdem das Subjekt in der Alterität dieselbe Bedürftigkeit wie in sich selbst entdeckt hat, beglückt, weil es dabei merkt, wie es selbst erkannt worden ist. Bei diesem Paar handelte es sich um einen jungen Mann und seine Frau, die beide ein Bein verloren hatten, als ein Taxi vor ihrem Motorrad einfach kehrtmachte. Sie hatten zwei kleine Kinder, und die Auswirkungen des Unfalls auf ihr Leben waren ungeheuerlich. Als ich sie in ihrem Krankenzimmer besuchte, war Mandys Entzücken kaum zu beschreiben. Raffaele und ich besuchten sie zweimal, und jedes mal war ich gerührt und dankbar, welche Wirkung das auf sie hatte.37 Es kann zu einer tiefen Verbundenheit im Augenblick der Begegnung selbst dann kommen, wenn die Beziehung nur in der Fantasie entstanden ist. Mein vergnügtes Röcheln hat Eugénie erst einmal aus der Fassung gebracht, ehe sie sich von meiner Erheiterung anstecken ließ. Wir haben gelacht, bis uns die Tränen kamen […], und ich war so fröhlich, daß ich gern aufgestanden wäre, um Eugénie zum Tanz aufzufordern, wenn die Umstände es erlaubt hätten.38 Im Schutze der verinnerlichten affektiven Zuwendung verstehen es das Subjekt und die Alterität, sorglos für sich zu sein. Denn sie haben erfahren, was es heißt, aus sich heraus zu sein und in Identität zu handeln, ohne von der Alterität verlassen zu werden.

36 37 38

Balmer 2006: 146. Mills 1996: 258. Bauby 1997: 27.

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Kurz vor seinem Sterben teilte er mir über eine ABC-Tafel Worte mit, die ich immer in meinem Herzen tragen werde, die mich trotz aller Widrigkeiten, die nebst schönen Seiten im Leben auch da sind, weiterleben lassen: »Sonja, ich gebe dir all meine Kraft!«39 Spielarten glückhafter Entgrenzung: In der Liebesbeziehung erlebt das Subjekt die glückhafte Entgrenzung auf verschiedene Weise: Auch nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit findet es sie im Gespräch. Sie löst die Fremdheit, mit der dem Subjekt die Andersheit der Anderen, aber auch das Selbst bewusst geworden ist. Seminare fangen meist mit einem gemeinsamen Abendessen an. Da sitzt man, fühlt sich fremd; aber nach 2 Tagen habe ich mich zum Seminarfan gewandelt. […] Die Gespräche abends mit Unbekannten, die aber doch die gleichen Probleme haben, geben dir das Gefühl nicht alleine zu sein.40 Diese anfängliche Fremdheit lässt sich dadurch überwinden, dass sich das Subjekt der Alterität zuwendet und sich ihr erzählend und handelnd zu erkennen gibt. In Houston lernte ich einen prächtigen katholischen Priester kennen. […] Wir sprachen über das Problem, an einem Tag nicht viel fertigzubringen. Ich erzählte ihm von meiner Methode, mir kleine Nahziele zu stellen und mich zu freuen, wenn ich am Ende des Tages wenigstens drei oder vier Seiten gelesen habe. Er pflichtete mir bei.41 Ebenso kann die anfängliche Fremdheit überwunden werden, indem das Subjekt sich in seiner Identität zurücknimmt und damit der Alterität Raum und Zeit gibt. Man muß zuhören können, auch mal ganz still sein, nur da sein. Die Patienten lassen, wenn sie Vertrauen gewinnen, die Schutzhülle aus Verletzlichkeit, Schamgefühl, Angst fallen und mich auf intime Weise in ihr Leben. Eine Öffnung, die ich mit Offenheit beantworte und die eine verständnisvolle Nähe erzeugt.42 Wenn es dem Subjekt und der Alterität gelingt, die Grenzen des jeweiligen Selbst aufzuheben, schaffen sie miteinander ein gemeinsames Drittes, bei dem sich nicht mehr ausmachen lässt, wer von ihnen was in ihre Beziehung hineingegeben hat. Peter versprach mir, mich mit seiner Frau Beatrice im Krankenhaus zu besuchen. Sie kamen auch zwei Tage später, und wir verbrachten einige wunderbare und intensive Stunden, wie immer, wenn wir uns sahen. […] Wir erinnerten uns an unsere gemeinsamen Ferientage in der Toscana, an die Ausflüge an das geliebte weite Meer. Wir lachten und hatten es gut zusammen.43 Das Subjekt und die Alterität teilen miteinander den Augenblick und erweitern ihr Selbst, indem sie sich über ihr Erleben austauschen.

39 40 41 42 43

Balmer 2006: 142. Lürssen 2005: 67. Hull 1992: 68. Buggenhagen 1996: 97. Balmer 2006: 144.

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Ich genieße den raschen Wechsel von Gesprächspartnern. Die Tempi springen, Erinnerungen suchen in Bildern und Fragen nach ihrer Gemeinsamkeit. Ja, ich erinnere mich an Sie! Weißt du denn nicht mehr? Sie alle, die sich hier zusammengefunden haben, sind mir damit vertraut, indem sie eine Geschichte von mir und mit mir erzählen könnten.44 Das Erleben der Gemeinsamkeit im Gespräch bewegt das Subjekt in seinem Selbst. Ich bin berührt. So klein Nuria auch ist – sie kann ja kaum sprechen –, realisiert sie bereits genau, wie es um mich steht, ich kann ihr nichts vormachen. Umso mehr Mitgefühl und Liebe kann ihr Herzchen vermitteln.45 Zur glückhaften Entgrenzung kann es des Weiteren in der Sexualität kommen – auch nach dem körperlichen Umbruch. Wie im Gespräch ist bei der Sexualität eine anfängliche Fremdheit zu überwinden. Das ist durch eine anhaltende Werbung möglich, durch die sich das Risiko der Zurückweisung verringern lässt. Gerade in der Sexualität findet sich zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, aber auch zwischen den Behinderten oft eine Barriere, die eine Begegnung verhindert (vgl. Zander 2002: 44–48). Um in der Sexualität auf die Alterität einzugehen, braucht das Subjekt genügend Stärke in der Identität, denn auch hier ist nicht gewiss, was ihm geschehen wird, wenn es seine Grenzen aufgehoben haben wird. Jörg machte mir ganz einfach den Hof, er flirtete und versteckte sein Verliebtsein nicht. Ein schönes Gefühl für eine Frau, begehrt zu sein und zu werden. Zwei, drei Monate vergingen, und die Vertraulichkeit wie das Vertrauen zwischen uns waren stetig gewachsen. Im Dezember 1977 […] rollte er plötzlich auf mich zu und fragte mit angestrengter Stimme, als habe er seinen Text wie ein Schauspieler wieder und wieder geübt: »Marianne, was hältste davon, willste es nicht mal mit mir probieren? Ich liebe dich, ich brauche dich.«46 Die Sehnsucht, in der Sexualität sich mit der Alterität zu verbinden, kann sich erfüllen. Im Austausch mit dem fremden Körper wird der eigene lustvoll erlebt, wobei das Wechselseitige des Geschehens das Empfinden der Verbundenheit verstärkt. Aber die Nacht war noch nicht vorbei. Raffaele sah so vornehm aus in seinem Ausgehanzug, daß ich nun für den perfekten Abend das perfekte Ende wünschte. »Raffaele, sperr die Tür zu, ich will mit dir schlafen.« […] »Komm schon«, flüsterte ich. »Experimentieren wir einfach.« Wir experimentierten die ganze Nacht, und als er am nächsten Morgen ins Büro fuhr, war ich bereit für einen guten Schlaf. »Sie grinsen ja wie eine satte Katze«, sagte die Schwester, die meinen Verband wechselte. »Was führen Sie nur im Schilde?« Wenn du wüßtest, dachte ich nur, wenn du wüßtest…47 Falls das Subjekt durch die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch eine Kohärenz erreicht hat, die sein Körperselbst einschließt, versteht es die sexuelle Vereini44 45 46 47

Härtling 2007: 68. Balmer 2006: 28. Buggenhagen 1996: 75. Mills 1996: 233.

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gung so zu gestalten, wie es den Gegebenheiten des somatischen Körpers am besten entspricht. Dabei ist das Subjekt frei, die kulturellen Vorgaben, wie Sexualität zu sein hat, abzuwandeln, sodass sein umbrochener Körper es nicht daran hindert, seine sexuellen Bedürfnisse auszuleben. Wenn wir uns liebhaben wollen, dann liegen wir oft stundenlang beieinander, streicheln uns, sehen uns in die Augen, tauschen Zärtlichkeiten aus – da, wo wir sie fühlen. Im Grunde gibt es nichts, was man nicht kann, aber man tut das, was etwas bringt, wovon man etwas hat. Jörg spürt seinen Körper bis in Brusthöhe, das heißt, dort spürt er auch meinen. Meine Haut auf seiner, das ist mehr Vereinigung als ein Geschlechtsakt mit irgendwelchen Hilfsmitteln. Das sind so viele Höhepunkte, die nicht nach ein bißchen Sperma enden.48 Durch die wiederholt erlittene und ausgehaltene Trennung vom geliebten Partner lässt sich die Sexualität über die Zeit so verinnerlichen, dass allein die Vorstellung früherer oder kommender Begegnungen erneut zur glückhaften Entgrenzung führt. Die durch den Sport bedingten häufigen längeren Trennungen haben sich als Stimulans für unsere Liebe erwiesen. Es ist schön, intensiv an den anderen zu denken, ihn zu streicheln, auch wenn er körperlich gar nicht präsent ist, sich zu sehnen nach der Umarmung und den warmen, weichen Lippen, die bei der Rückkehr auf dem Flughafen warteten.49 Schließlich kommt es auch nach dem körperlichen Umbruch im zweckfreien Zusammensein zu einer glückhaften Entgrenzung. Das gemeinsame Spielen von Eltern und Kindern lässt die Beteiligten die Grenzen von Raum und Zeit ebenso vergessen wie die von Körper und Selbst. Vor ein paar Wochen hatten Thomas und ich einmal viel Spaß, als wir an einem Samstagvormittag mit diesem Baukasten spielten. Wir bauten ein Weltraumgeschütz und dann einen hohen Stuhl für den Teddy. Er hatte Räder und alles. So befriedigend wie dieses Mal hatten wir noch nie zusammen gespielt. Ich tat etwas, und wir taten es gemeinsam.50 Oder es ist die gemeinsame Entspannung, welche die in der Liebesbeziehung entstandene Verbundenheit mit der Alterität bestätigt. [W]enn ich abends, von nachmittäglichem Training ermattet, beim Versuch, einen Film im Fernsehen länger als ein Drittel seiner Spieldauer zu verfolgen, in seinen Armen einschlafe, dann gibt es nichts, wo ich ohne Worte mehr spüren kann, wie sehr man zueinander gehört.51

48 49 50 51

Buggenhagen 1996: 80f. Buggenhagen 1996: 81. Hull 1992: 173. Buggenhagen 1996: 79.

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Körperlicher Umbruch

3.5

Über soziale Energie in psychische Struktur

Voraussetzungen der anerkennenden Alterität: Um diejenigen, die in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende den Vorstellungen der kollektiven Identität nicht genügen und wegen ihrer Körperlichkeit jenseits der Binnengrenzen eines sozialen Systems verortet sind, anzuerkennen, sei es im Makrosystem durch kognitive Achtung, sei es im Mesosystem durch Wertschätzung oder im Mikrosystem durch affektive Zuwendung, muss die Alterität, die vermeintlich das Normale verkörpert, ihre gewohnte Selbstbezogenheit aufgeben. In ihrem Narzissmus hat sie vom alleinigen Bezug auf ihr Selbst und die normale Körperlichkeit Abstand zu nehmen. Auch muss sie darauf verzichten, alles als gefährlich, schlecht oder hässlich abzutun, was ihr fremd ist. Vielmehr muss die anerkennende Alterität über die Binnengrenzen des sozialen Systems hinausgehen, sich an die für sie relativ Anderen binden und sie in seiner Eigenständigkeit und Selbsttätigkeit entdecken (vgl. Benjamin 1990: 32–49). Erst wenn sich die anerkennende Alterität ihrer Angst bewusst ist, selbst eines Tages den Körper nicht mehr genügend zu beherrschen und dem sozialen Tod anheimzufallen, falls sie gleich den chronisch Kranken oder Behinderten daran scheitert, der kulturell üblichen Körper- und Affektkontrolle zu entsprechen, kommt sie in die Lage, das Subjekt, das einen körperlichen Umbruch erlebte, zu achten, wertzuschätzen oder zu lieben. Dabei lässt sich Verschiedenes ausmachen, was ihre Anerkennung begründet haben könnte: Dem Subjekt gelang es nach dem Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit, sich über den umbrochenen Körper zu erheben und die Grenzen seines Selbst zu erweitern, womit es ein Widerfahrnis überwand, das die Alterität für unüberwindbar hielt (Sloterdijk 2009: 305–318). In seinem Selbst wurde das Subjekt mit dem eins, was die Alterität als schrecklich empfand, ohne ihm unterlegen zu sein, und machte zu einem Teil seiner Identität, was ihm von außen auferlegt war. Schließlich nahm das Subjekt den Tod der bisherigen Identität an, um nach dem Pathos wie neugeboren zu leben, und widerlegte damit die Alterität, die es für unmöglich hielt. Wenn die Alterität in der Lage ist, das als chronisch krank oder behindert geltende Subjekt anzuerkennen, hat für sie das kulturell gültige Ideal der Körper- und Affektkontrolle seine übergeordnete Gültigkeit verloren. Sie ist bereit, sich in ihrer Freiheit einzuschränken und bis dahin von ihr verfolgte Identitätsentwürfe oder -projekte aufzugeben. Außerdem verpflichtet sie sich dazu, Handlungen zu unterlassen, die dem Subjekt schaden könnten, und andere vorzunehmen, die ihm dienen (vgl. Honneth 2003: 22–27). Über die Grenzen des sozialen Systems hinweg schafft die Anerkennung eine Verbindung zwischen denen, die zuvor getrennt waren. Durch ihre Empathie nimmt die Alterität in ihre Identität auf, was sie bis dahin als fremd von sich abspaltete. Bedingungen des anerkannten Subjekts: Die soziale Anerkennung in den Formen von Rechtsverhältnis, Solidarität und Liebesbeziehung vollzieht sich wechselseitig zwischen dem Subjekt und der Alterität. Um für die geleistete Identitätsarbeit von der Alterität anerkannt zu werden, muss auch das anerkannte Subjekt Bedingungen erfüllen. Als Erstes hat es seine Alterität anzuerkennen: Wenn es von Schmerz, Angst und Scham in seinem somatischen Körper überwältigt ist, muss es die Spezialisten des Gesundheitswesens anerkennen, um sich von einem Arzt medizinisch untersuchen und als Kranker

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

mit den sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten behandeln zu lassen. Nachdem die Krankheit mit einem bleibenden Defekt ausgeheilt ist, muss es die Fachleute in den Institutionen des Sozialwesens anerkennen, damit ihm sie ihm besondere Ressourcen zugänglich machen, deren Inanspruchnahme ihm hilft, mit dem umbrochenen Körper selbstbestimmt an den sozialen System teilzuhaben und Wohlbefinden zu erreichen. Auch muss das Subjekt die ihm vertraute Alterität in den sozialen Systemen anerkennen, sobald es sich im Alltag als chronisch Kranker oder Behinderter zu erkennen gibt, um in Beziehung zu ihnen ein Leben zu finden, das seinen Vorstellungen entspricht. Als Zweites muss sich das Subjekt eingestehen, dass es die Anerkennung der Alterität braucht, selbst wenn sie über seinen Körper verfügt und es von ihr als ein relativ Anderer ausgegrenzt wird. Immer wieder muss das Subjekt sich bewusst zur Alterität hinwenden und sich auf sie beziehen, gerade weil sie anders und von ihm verschieden, getrennt und unabhängig ist und es sich ihr deshalb stets aufs Neue über sein Befinden, seine Geschichte und seine Vorhaben zu öffnen hat. Um anerkannt zu werden, ist als Drittes vom Subjekt verlangt, sich der Alterität in seinem Wesen zu zeigen. Das beinhaltet, dass es sich der Gefahr aussetzt, bei der Entäußerung seiner Identität zurückgewiesen oder vernichtet zu werden, d.h. als Kranker nicht angenommen, als Behinderter diskriminiert und unterdrückt oder als Person mit den neuen Identitätsentwürfen und -projekten, die sich nach dem körperlichen Umbruch ergaben, abgelehnt oder verurteilt zu werden. Nur wenn das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch bereit ist, die Alterität, von der es anerkannt sein will, selbst anzuerkennen, kommt es in die Lage, sein Selbst um das veränderte körperliche Erleben zu erweitern und sein Identitätsempfinden der veränderten Körperlichkeit anzupassen. Auch um die erfahrene Anerkennung zu verinnerlichen und von ihr unabhängig zu werden, muss es selbst die anerkennende Alterität anerkennen (vgl. Honneth 1994: 126). Anerkennung als Energie: Die Energie, die das Subjekt dazu antreibt, seine neu gefundenen Identitätsentwürfe und -projekte mit dem umbrochenen Körper umzusetzen, die es bewegt, über sich zu erzählen und aus sich zu handeln, und die es der der Alterität zuteil werden lässt, stammt nicht als Trieb aus der Sexualität oder als Ideal aus dem Geist, sondern aus seinen zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Anerkennung, die das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch im sozialen System durch kognitive Achtung, soziale Wertschätzung und affektive Zuwendung erfährt, kann ihm psychische Energie sein (vgl. Benjamin 1990: 25). Diese Sozialenergie (vgl. Ammon 1982: 117–123), die das Subjekt von der Alterität erhält, beeinflusst die Entwicklung seines Selbst bis ins Körperliche hinein und schlägt sich in der Struktur der Identität nieder, wenn es sie verinnerlicht. Die sozial vermittelte Energie muss jedoch nicht immer konstruktiv, d.h. aufbauend für die Identität sein, wie es der Fall ist, wenn das Subjekt mit seiner Alterität durch Rechtsverhältnissen verbunden ist, es von ihr Solidarität erhält und ihm Liebe zuteil wird. Die sozial vermittelte Energie wirkt destruktiv, d.h. zerstörerisch auf die Identität, wenn dem Subjekt Rechte verwehrt werden und es auf Grund von Teilidentitäten wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Religion, sexueller Orientierung, Klasse, Alter oder Behinderung von der Alterität verfolgt wird, wenn es für das, was es leistet, entwürdigt oder beleidigt wird und wenn ihm Gewalt und Hass entgegenschlägt. Dem

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Subjekt fehlt die sozial vermittelte Energie, d.h. sie ist defizitär für die Identität, wenn es im Makrosystem als absolut Fremder jenseits von dessen Grenzen verortet und völlig rechtlos ist, wenn es trotz seiner körperlichen Anwesenheit im Mesosystem unsichtbar bleibt und wenn es im Mikrosystem emotional vernachlässigt wird. Je nach dem, wie das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch sozial anerkannt wird bzw. was für eine Sozialenergie es von der Alterität bekommt und wie es sie in seinem Selbst verinnerlicht, wird es sich seinerseits den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems zuwenden. Was es in der Struktur der Identität an Sozialenergie gespeichert hat, kann es im Erzählen und im Handeln wieder freisetzen. Das Subjekt, das nach dem Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit in seinem retrospektiv- und prospektivreflexiven Prozess der Identitätsarbeit erkennt, wie es geachtet, geschätzt und geliebt worden ist, versteht es, die Alterität, auf die es von gleich zu gleich intersubjektiv bezogen ist, die es als Selbstobjekt nutzt und mit der es gemeinsam fühlt und sich in Wechselwirkung verhält, zu achten, zu schätzen und zu lieben. Gewinn von Selbstachtung: Die Erfahrung des Subjekts, nach dem körperlichen Umbruch in Form von Rechtsverhältnissen in der Gesellschaft sozial anerkannt zu sein, führt dazu, dass es Selbstachtung gewinnt (vgl. Honneth 1994: 191–195). Weil das Subjekt von seiner Alterität kognitiv geachtet wird, achtet es sich selbst und sieht es sich ihr gleich als moralisch zurechnungsfähig an. Indem es die ihm entgegengebrachte konstruktive Sozialenergie verinnerlicht, ist sich das Subjekt gewiss, im Makrosystem der Gesellschaft Ansprüche erheben zu können, deren Erfüllung als gerechtfertigt gilt, und zur Teilhabe an der allgemeinen Willensbildung für fähig erachtet zu werden. Durch die erfahrene kognitive Achtung weiß das Subjekt, dass sein Handeln mit einem umbrochenen Körper innerhalb des Makrosystems, mit es durch das Rechtsverhältnis verbunden ist, als Äußerung seiner Autonomie begriffen wird und dass es sich zur Selbstbestimmung ermächtigt fühlen darf. Zur Selbstachtung des Subjekts trägt weiterhin bei, dass ihm neben den Rechten auch Pflichten zugewachsen sind und dass es diese der Alterität gegenüber erfüllt. Wie bei jeder Form der sozialen Anerkennung erfasst auch bei der kognitiven Achtung das Subjekt erst ganz, was sie für seine Identität bedeutet, wenn sie ihm verwehrt wird. Das Rechtsverhältnis, das nach dem körperlichen Umbruch nicht mehr oder noch nicht vorhanden ist, zeigt dem Subjekt, wie selbstverständlich seine Selbstachtung von der kognitiven Achtung geprägt war, die ihm vor dem Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit als anerkanntes Mitglied des sozialen Makrosystems tagtäglich zuteil wurde. Falls das Subjekt in einem sozialen System in einer anderen Form anerkannt wurde und es diese Anerkennung in der Identität verinnerlichte, fühlt es sich innerlich stark genug und kämpft um die kognitive Achtung, falls es sie nicht in dem Maße erhält, wie sie für alle Mitglieder festgelegt ist. Es ist jenes Selbstbewußtsein, das ich durch den Sport erworben habe, das mich befähigt, nicht nur meine Rechte – siehe Grundgesetz – zu kennen, sondern sie auch für mich und meinesgleichen zu reklamieren. Wenn jetzt einige Errungenschaften für Be-

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

hinderte im Zuge von Sparmaßnahmen wieder gestrichen werden sollen, dann bin ich nicht bereit, das ohne jeden Widerspruch hinzunehmen.52 Gewinn von Selbstschätzung: Nach dem körperlichen Umbruch in Form von Solidarität in einer Gemeinschaft sozial anerkannt zu sein, lässt das Subjekt Selbstschätzung gewinnen (vgl. Honneth 1994: 208–211). Jeder kann sich [im Sport; B.R.] nach seinen Möglichkeiten betätigen, und – das ist das Wichtigste – für sich selbst Leistungssteigerungen erreichen. Das produziert Selbstvertrauen, Lust auf mehr, und schließlich Anerkennung. Das letztere einen Schub für das eigene Wertgefühl bedeutet, kann ich nachhaltig bestätigen.53 Die erfahrene Wertschätzung trägt dazu bei, dass die Spannung in der Identität, die nach dem körperlichen Umbruch entstanden ist, weniger wird. Trotz der oben beschriebenen Grenzen meiner Selbstbeherrschung meinen [meine Frau und meine Kinder; B.R.], es sei insgesamt leichter geworden, mit mir umzugehen, auch wenn es sicher noch nicht einfach ist. Mich beruhigt der Gedanke sehr.54 Wenn das Subjekt in dem Mesosystem, dem es angehört, anerkannt wird, vermag es sich selbst zu schätzen und den Wert der von ihm erbrachten Leistungen für die Gemeinschaft zu erkennen. Bei den Kollegen war ich anerkannt, in einer Beurteilung durfte ich wenige Jahre später lesen, ich vermittele geschickt meine eigenen Erfahrungen an »unerfahrene Rollstuhlfahrer«. Von den Jugendlichen würde ich wegen meiner Energie und ruhigen, bescheidenen Art geachtet. Das tat wohl, vor allem damals in den Mittsiebzigern, als ich immer noch nicht den Frieden mit mir selbst gefunden hatte.55 Weil das Subjekt sein Selbst in der ihm gezeigten Wertschätzung wiederfindet, ist es in der Lage, die ihm entgegengebrachte konstruktive Sozialenergie zu verinnerlichen. [A] ber daß die Auszeichnung »für Leute, die auf dem richtigen Weg sind«, vergeben wird, das gefiel mir ausnehmend gut. Weil Optimismus und Zuversicht statt Resignation dafür kennzeichnend seien, stehe mir die Ehrung zu, sagte der Präsident der Bruderschaft, Dr. Reinhold Fuchs, in seiner Laudatio. Genau das entspricht meiner inneren Einstellung, und so war mir der »Stiefel« am Ende lieber als manch andere formal umgehängte Medaille.56 Das Subjekt ist sich gewiss, über Eigenschaften und Fähigkeiten zu verfügen, die es von der Alterität unterscheiden und in seiner Identität besonders machen. Durch die ihm gegenüber gezeigte Wertschätzung verlässt es sich darauf, dass sein Handeln innerhalb des Mesosystems, mit dem es sich durch die erfahrene Solidarität verbunden fühlt, als ein auch für sie wichtiger Beitrag angenommen ist. 52 53 54 55 56

Buggenhagen 1996: 108. Buggenhagen 1996: 114f. Peinert 2002: 97. Buggenhagen 1996: 39. Buggenhagen 1996: 147f.

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Körperlicher Umbruch

Die Resonanz […] war nach den ersten erstaunten Blicken sehr positiv. Die Kommentare der Patienten gingen von: »Keine Lust zu laufen?« bis »Ist die Schnelligkeit eigentlich vom TÜV abgenommen?«, »Der sieht ja gar nicht nach Rollstuhl aus?« oder »Der rote Porsche kommt«. Das sind Äußerungen, mit denen ich besser klarkomme, als wenn man hinter meinem Rücken tuschelt.57 Insofern ist sich das Subjekt, das die erfahrene Wertschätzung verinnerlichte, sicher, dass es von der Alterität nach dem körperlichen Umbruch nicht nur passiv geduldet wird, sondern dass sie aktiv für sein Wohlergehen sorgen wird. Zur Selbstschätzung des Subjekts trägt weiterhin bei, dass es nicht nur die Solidarität der Alterität erfährt, sondern dass es sich auch ihr gegenüber solidarisch zeigen kann, indem es ihr beisteht. Mein Job, den ich ungern so bezeichne, macht mich zugleich zur Seelsorgerin, Beichtschwester, Vertrauten, Mutter, zur Trostspenderin, Mutmacherin, Intimfreundin und Geheimnisträgerin. Meine Arbeit in der beruflichen Rehabilitation auf der Bucher Station, die mir als Spezialaufgabe die Betreuung »frisch Verunfallter« – welch fürchterliches Mediziner-Deutsch – zuweist, ist für mich ein Glücksfall, weil ich wohl nirgends sonst ein solches Gefühl des Gebrauchtwerdens, des Zu-etwas-nutze-sein hätte.58 Das Subjekt fühlt sich wiederum in seinem Handeln bestätigt, wenn die von ihm gezeigte Solidarität von der Alterität anerkannt wird. Als Carlos entlassen wurde, konnte er wieder für sich selbst sorgen. »Sie haben mir ein neues Leben gegeben«, schrieb er mir später und hatte es sich doch selbst erarbeitet. Noch heute bekomme ich von ihm regelmäßig Post, eine schöne Bestätigung dafür, daß meine Arbeit nicht nutzlos ist.59 Gewinn von Selbstvertrauen: Dadurch, dass das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch in Form von Liebesbeziehungen in Familie, Partnerschaft oder Freundeskreis sozial anerkannt wird, gewinnt es Selbstvertrauen (vgl. Honneth 1994: 172, 211). [Es; B.R.] entwickelten sich auch aus Bekanntschaften Freundschaften, die heute noch bestehen und mir viel bedeuten. […] Langsam wurde mein Selbstbewusstsein wieder aufgebaut, langsam verschwand auch die Unsicherheit, die ich seit der Trennung von Viktor hatte. Ich merkte damals und merke noch heute, dass frau auch mit Behinderung interessant sein kann […].60 Weil das Subjekt affektive Zuwendung von seiner Alterität erfährt und diese seinem Selbst vertraut, glaubt es an sich selbst. Das Subjekt verlässt sich nicht nur auf sein bereits vorhandenes Selbst, sondern ebenso auf sein kommendes Selbst, das erst durch Umstände wach gerufen werden wird, die ihm noch gar nicht bekannt sind (vgl. Safranski 2015: 194). Bisweilen dauert es lange, bis sich das Vertrauen, das das Subjekt in sein kommendes Selbst gesetzt hat, wirklich auszahlt.

57 58 59 60

Ruscheweih 2005: 50. Buggenhagen 1996: 89. Buggenhagen 1996: 98. Ruscheweih 2005: 41.

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

Die ersten drei oder vier Jahre nach meiner Erblindung verbrachte ich ausschließlich damit, mir neue Methoden zur Vermittlung des Lehrstoffs zu erarbeiten. Erst mit Beginn des akademischen Jahres 1984/85 gewann ich wieder Selbstvertrauen.61 Zum Vertrauen in das eigene Selbst gehört weiterhin noch das in den Teil des Selbst, der auf die Alterität bezogen ist, nämlich dass dieser Selbstanteil den Anderen affektiv zugewandt bleiben und es sich für sie lohnen wird, dem Subjekt nicht nur jetzt, sondern auch zukünftig in Liebe verbunden zu sein. Wenn das Subjekt die erfahrene affektive Zuwendung verinnerlicht, geht es davon aus, dass ihm die Beziehung zu seinem Selbst nicht abhandenkommen wird. In dem Maße, wie das Subjekt dem eigenen Selbst vertraut, ist es im Alltag in der Lage, eigenständig zu handeln. Gibt es in diesem Kosmos einen Schlüssel, um meine Taucherglocke aufzuriegeln? Eine Metrolinie ohne Endstation? Eine genügend starke Währung, um meine Freiheit zurückzukaufen? Ich muß anderswo suchen. Ich mache mich auf den Weg.62 Infolge der ihm von der Alterität gezeigten affektiven Zuwendung ist sich das Subjekt sicher, dass es sich im Mikrosystem, dem es angehört, immer wieder aufs Neue der Liebe mit ihrem lebenslangen Wechsel von Entgrenzung und Rückzug hingeben kann, ohne dadurch sein Selbst oder seine Identität zu verlieren. Dem Subjekt ist durch die soziale Anerkennung in Form der affektiven Zuwendung bewusst, dass es in seiner Alterität einen bleibenden Halt hat, der nicht wie bei der Wertschätzung durch besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten oder die von ihm erbrachten Leistungen bedingt ist oder nicht wie bei der kognitiven Achtung durch allgemeine Eigenschaften seiner Identität, sondern dass dieser Halt allein durch sein Selbst und dessen Wesen begründet ist. Wenn das Subjekt diesen Halt spürt, fühlt es sich in der Welt aufgehoben. Die erste Hälfte des Programms bestimmt Schubert, die zweite Mozart. Unter ihrem Schutz treten Freunde und Freundinnen auf, erzählen mir mein Leben, und der Boden unter meinen Füßen wird mit jedem Satz fester.63 Zum Selbstvertrauen des Subjekts trägt weiterhin bei, dass es selbst die Alterität liebt und ihr Vertrauen in seine Identität durch seine affektive Zuwendung aufrecht erhält. Später gestand er mir, daß er nach diesem kurzem Gespräch gewußt habe: »Das ist sie! Die mußt du haben.« Seine Liebe auf den ersten Blick ist Liebe nach dem zig-tausendsten Blick geblieben, und mir hat er mit seiner beharrlichen und zärtlichen Zuneigung mein verschüttetes Selbstwertgefühl als Frau zurückgegeben. Was langsam wächst, das steht auf festem Halm – ich liebe ihn und brauche ihn.64 Gewinn von Selbstwertempfinden: Durch die soziale Anerkennung für die von ihm geleistete Identitätsarbeit und die damit einhergehende konstruktive Sozialenergie gewinnt das Subjekt ein Selbstwertempfinden, das den umbrochenen Körper einbezieht.

61 62 63 64

Hull 1992: 202. Bauby 1997: 129. Härtling 2007: 67. Buggenhagen 1996: 73.

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Sie habe niemals erwartet, daß ich mein Leben so meistern würde, wie ich es jetzt tue, hat mir meine Mutter einmal gesagt. Ein Lob, das mich stolz macht und genauso viel oder gar mehr zählt, als alle späteren Medaillen und Rekorde als Sportlerin.65 Indem das Subjekt erlebt, wie es in einem sozialen System, dem es angehört, nicht übersehen, diskriminiert oder unterdrückt, sondern gehalten, gespiegelt und gebraucht wird und indem es sein Selbst einschließlich seines umbrochenen Körpers mit dem anerkennenden Blick der Alterität wahrnimmt, wird es bereit, sich auch für eine affektive Zuwendung zu öffnen. Als ich zur Rehabilitation im Nordschwarzwald war, habe ich viele nette Mitpatienten getroffen: Wir klönten stundenlang über alles Mögliche. Ich dachte überhaupt nicht daran, jemanden kennen zu lernen und dann passierte es. [D]ieses Gefühl, begehrt zu werden, war wunderschön.66 Dagegen bleibt das Subjekt im Selbstwertempfinden gestört, wenn ihm die Anerkennung verweigert wird oder wenn sie ihm zwar zuteil wird, es sie aber nicht annehmen kann. Ich bin, so habe ich es oft gesagt und auch gemeint, nur eine einfache, kleine »Kaputte«.67 Da das Subjekt sein Selbstwertempfinden daraus erwirbt, wie die Alterität auf sein in der Beziehung sichtbar gewordenes Selbst antwortet, und auch daraus erfährt, was es besonders macht, bleibt es ohne soziale Anerkennung in seinem Wesen unbestimmt. Ich war zu einem vegetierenden Etwas geworden.68 Dabei wächst das Selbstwertempfinden mit jeder erneuten Anerkennung, die das Subjekt erfährt. Wenn es die erfahrene soziale Anerkennung verinnerlicht hat und dadurch unabhängig von äußerer Bestätigung oder wiederkehrender Bewunderung wird, vermag das Subjekt den umbrochenen Körper zu nutzen, um mit ihm sein Selbst und die Alterität zu erkennen. Ja, ich gewinne die Überzeugung, daß ich wirklich eine Art Lackmustest habe. Welches Maß an Freiheit wird diese neue Person mir zugestehen wollen? Wird es diesem Sehenden gelingen, mir soviel Unabhängigkeit und Würde zu bewahren wie nur möglich? Wird mich diese Person in Besitz nehmen, kontrollieren wollen, wird sie dafür sorgen, daß ich mich noch behinderter fühle als ich ohnehin bin, indem sie mich nicht die geringste Sache selber tun läßt? Und wie kann ich es wiederum den Sehenden leichter machen? Meine Politik fröhlich gegebener einfacher Anweisungen funktioniert bei manchen Menschen, bei anderen aber nicht.69

65 66 67 68 69

Buggenhagen 1996: 24. Ruscheweih 2005: 42. Buggenhagen 1996: 7. Lesch 2002: 135. Hull 1992: 131.

3. Formen sozialer Anerkennung chronisch kranker und behinderter Menschen

Das Leben, wie es ist und wie es von ihm mit dem umbrochenen Körper erlebt wird, macht dem Subjekt Freude. Es erscheint ihm anregend; es kann ihm mit Neugierde begegnen. Weil sich das Subjekt seines Selbst einschließlich seines Körperselbst gewiss ist, versteht es, sein Selbstwertempfinden vor einer möglichen Abwertung durch die Alterität zu schützen. Auf keinen Fall möchte ich arm genannt werden. Vieles, was den Gesunden selbstverständlich ist und Teil ihrer Lebensqualität darstellt, kann ich nicht, aber ich habe gelernt, dass ich auch so wertvoll sein kann. Ich habe Zeit für andere, kann zuhören und fragen, und meine Aufgabe ist es, mit meiner MS ein für mich und meine Familie befriedigendes Leben zu führen.70 Das Selbstwertempfinden, welches das Subjekt nach seinem körperlichen Umbruch gewinnt, bleibt nicht auf sein eigenes Selbst beschränkt. Weil die Lebensfreude, über die es verfügt, mit dem Bedürfnis verbunden ist, das Selbst in all seinen Bereichen zu verwirklichen, die bereits vorhandene Kohärenz zu vergrößern und sich durch die Umsetzung der Identitätsentwürfe und -projekte zu erfreuen, belebt das Subjekt die Beziehungen, in denen es steht. Es ist stolz darauf, dass die Anerkennung, die es erhalten hat, sich positiv auf diejenigen auswirkt, die gleich ihm einen körperlichen Umbruch überlebten, aber noch nicht bereit sind, sich mit ihrem umbrochenen Körper öffentlich zu zeigen. Für mich ist diese Auszeichnung unermeßlich viel wert. Nicht materiell, sondern ideell. Vor allem, weil sie eine Ermutigung für meinesgleichen ist, die sich noch ängstlich verstecken.71

70 71

Lürssen 2005: 59. Buggenhagen 1996: 68.

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4. »Die Bedeutung entsteht nach dem Ereignis.« – Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Nachdem das Subjekt die körperliche Inkohärenz, zu der es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit gekommen ist, durch seine Identitätsarbeit überwunden hat, verfügt es über ein Kohärenzempfinden, das den umbrochenen Körper einbezieht. In diesem Kapitel wird zuerst allgemein beschrieben, wie das Kohärenzempfinden die Bewertung des körperlichen Umbruchs und das Erleben des Subjekts beeinflusst und durch welche äußeren Bedingungen es wieder zugenommen hat (4.1). Danach werden aus Sicht des Subjekts und mit Bezug zum umbrochenen Körper die Merkmale des Kohärenzempfindens im Einzelnen behandelt, nämlich die Kohäsion des Selbst (4.2), die Kontinuität des Erlebens (4.3) und die Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen (4.4). Abschließend wird dargestellt, dass sich aus dem hohen Kohärenzempfinden die Fähigkeit des Subjekts ergibt, mit den Belastungen des Lebens selbstwirksam umzugehen und ihnen einen Sinn zu geben (4.5). Damit zeigt das Kapitel, dass das Subjekt mit dem umbrochenen Körper in der Lage ist, eines der wesentlichen Ziele zu erreichen, auf das die Identität in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende übergeordnet ausgerichtet ist: eine größtmögliche Kohärenz.

4.1

Zum Erhalt der Kohärenz

Kohärenzempfinden und Bewertung des körperlichen Umbruchs: Wenn das Subjekt es vermag, mit einem umbrochenen Körper seinen Alltag befriedigend zu gestalten, und wenn es dabei noch versteht, Außeneinflüsse zu berücksichtigen und eigene Identitätsziele umzusetzen, ist sein Kohärenzempfinden als hoch einzuschätzen. Die Inkohärenz nach dem körperlichen Umbruch ist aufgehoben. Durch die Identitätsarbeit nimmt das Subjekt an, was ihm geschehen ist und wie sich dadurch seine Körperlichkeit verändert hat. Obwohl es als chronisch krank oder behindert gilt, ist ihm eine Teilhabe an den sozialen Systemen möglich. Es wird in verschiedenen Formen anerkannt und verbindet stimmig Alterität und Identität. Das Subjekt bewertet es selbst als Bereicherung, was

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Körperlicher Umbruch

es nach dem körperlichen Umbruch nun mit seinem somatischen Körper Besonderes erlebt. Ich rolle statt zu laufen. Aber ich liebe mit der gleichen Leidenschaft, Wärme und Zärtlichkeit wie jemand, der läuft statt zu rollen. Womöglich sogar intensiver, weil mein aus gelebten Erfahrungen erweitertes Blickfeld ein größeres ist.1 Zum Wohlbefinden infolge der wieder gewonnenen bzw. neu gefundenen Kohärenz gehört, dass das Subjekt von den Affekten nicht mehr überwältigt wird, die mit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit verbunden waren. Das Subjekt erlebt sie vielmehr als einen Teil seines Selbst und muss sie nicht länger abwehren. Der Schmerz darüber, was ich alles verloren hatte, verschwand allmählich. Zugegeben, ich musste den Schock, in einer Institution weiterzuleben, überwinden. Der Schmerz ist heute noch da, aber leise in der Tiefe versenkt. Da darf er durchaus sein. Jedoch nicht mein Leben beeinträchtigen.2 Das Subjekt, das über ein hohes Kohärenzempfinden verfügt, geht mit dem körperlichen Umbruch anders um als das mit einem niedrigen. Es empfindet weniger Schmerz, Angst und Scham über die körperlichen Veränderungen, vermag angemessener mit den psychosozialen Folgen umzugehen und leichter Ressourcen aus dem sozialen System zu beanspruchen. Dabei gelten folgende Zusammenhänge (vgl. Antonovsky 1997: 125–138): Je höher das Kohärenzempfinden ist, desto weniger wird das Subjekt vom Verlust der gewohnten Körperlichkeit belastet. Wenn es durch ihn aber belastet wird, nimmt es ihn bereitwillger als Herausforderung an. Falls es den körperlichen Umbruch doch als bedrohlich erlebt und durch ihn in seiner Identität erschüttert wird, bewertet es ihn so, dass es vor ihm nicht fliehen, sondern sich ihm stellen will. Bei der Verarbeitung des Geschehens bezieht sich das Subjekt vermehrt auf seine Vorerfahrungen und versteht die vorhandenen Ressourcen so zu nutzen, dass sie die Spannung in der Identität lösen und die Bedrohung beseitigen. Bei seiner Identitätsarbeit ist das Subjekt eher dazu fähig, seine Handlungen zu überprüfen, gegebenenfalls auch zu abzuändern, und, falls sie erfolgreich gewesen sind, passt es seine ursprüngliche Haltung dem Widerfahrnis gegenüber an. Umgekehrt gilt entsprechend: Je niedriger das Kohärenzempfinden ist, desto eher wird das Subjekt bei einer ersten Deutung der körperlichen Veränderungen durch das Geschehen in seinem Selbst überwältigt und von ihm in Spannung versetzt. Wenn es den Verlust der gewohnten Körperlichkeit pathisch erlebt, sieht es darin eher eine Bedrohung. Wenn es den körperlichen Umbruch als bedrohlich empfindet, neigt es dazu, ihn so zu bewerten, dass es sich ängstlich, ausgeliefert, hilflos und ratlos fühlt. Im Umgang mit dem Geschehen verharrt das Subjekt mehr in seinen Gefühlen oder versucht, mehr sie zu verändern statt zu handeln. Auch bevorzugt es das Subjekt, die Handlungen, die es bislang durchgeführt hat, fortzusetzen, selbst wenn sie keinen Erfolg gezeigt haben, als sie in der Identitätsarbeit zu überprüfen, oder verstärkt sie sogar noch.

1 2

Buggenhagen 1996: 78. Balmer 2006: 35.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Verschiedene Untersuchungen belegen die Zusammenhänge: Wenn das Kohärenzempfinden hoch ist, zeigen Kranke mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung geringere krankheitsbedingte Behinderungen (vgl. Keil et al. 2017). Kranke mit ParkinsonSyndrom setzen effektivere Bewältigungsstrategien ein (vgl. Pusswald et al. 2012). Auch wenden Kranke mit primär chronischer Polyarthritis weniger Bewältigungsstrategien an, die mit Resignation verbunden sind, sondern wählen sie eher solche, welche die Bedeutung der Krankheit verändern und emotionsregulierend wirken, und werten sie die Belastungssituation positiver (Witte 2004: 101f.). Weiterhin weisen Kranke mit Brustkrebs im Längsschnitt höhere Werte in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität auf (vgl. Rohnani et al. 2015). Ferner passen sich Behinderte auf Grund von Querschnittslähmung oder von Lähmung infolge zerebrovaskulärer Erkrankung besser an die veränderte Körperlichkeit an (vgl. Rean et al. 1996). Schließlich finden bei hohem Kohärenzempfinden behinderte Frauen mit neurologischen Erkrankungen oder nach Unfällen langfristig eher eine befriedigende Partnerschaft (vgl. Dangoor/Florian 1994). Die wiedergewonnene bzw. neu gefundene Kohärenz teilt sich dadurch mit, dass das Subjekt durch seine Erfahrungen mit dem umbrochenen Körper erkennt, wie das, was ihm wesentlich ist und seine Identität ausmacht, nicht von seiner Körperlichkeit abhängt. Es kommt nicht darauf an, daß ich blind bin, sondern daß ich gekannt und bei der Hand geführt werde und daß mein Leben, ob als Sehender oder als Blinder, voller Lob ist.3 Wiederkehrende Inkohärenz als Möglichkeit: Selbst wenn das Subjekt durch die Identitätsarbeit nach einem körperlichen Umbruch seine veränderte Körperlichkeit als einen Teil seiner Identität anzunehmen lernt und es die Identität wieder als kohärent empfindet, bedeutet es nicht, dass es nicht zugleich auch Inkohärentes erlebt. Falls das geschieht, dann ist das Subjekt wieder nicht mehr selbstvergessen Körper, sondern hat es einen Körper, der ihm mit Schmerz, Angst oder Scham bewusst wird, fühlt es sich in dem sozialen System, dem es sonst selbstverständlich angehört, ausgegrenzt, oder ist es von Affekten überwältigt und seinem Selbst entfremdet. Auch bei hoher Kohärenz widerfährt dem Subjekt immer wieder von Neuem etwas, was zuerst einmal außerhalb seiner bisherigen Identität liegt und daher ein inkohärentes Erleben und Verhalten bedingt. Gerade dadurch, dass das Subjekt etwas erlebt, was ihm mit der vorhandenen Identitätsstruktur nicht verstehbar, handhabbar oder sinnhaft ist, sondern es erstaunt, verunsichert oder überwältigt, wird es veranlasst, über sich zu reflektieren und die Mühen einer weiteren Identitätsarbeit auf sich zu nehmen. Vor einem körperlichen Umbruch wie danach weist eine kohärente Identität stets einzelne Fragmente auf, die zudem noch in sich widersprüchlich sein können, Optionen, die anstehen, in der weiteren Zeit noch verwirklicht zu werden, oder Bereiche von Diffusion, in denen die Grenzen sowohl innerhalb des Selbst als auch zwischen dem Selbst und den Anderen nicht oder nicht eindeutig bestimmt sind. Vor einem körperlichen Umbruch wie danach braucht das Subjekt genügend Inkohärenz und Spannung in der Identität, damit es sich weiter entwickeln kann. Dabei werden die Grenzen dessen, was das Subjekt in seine Identität einbezieht, nur allmählich erweitert. Es geschieht behutsam, indem zuerst einmal

3

Hull 1992: 87.

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auf Zeit und erst danach dauerhaft, zuerst einmal unter sicheren und erst danach unter unsicheren Bedingungen inkohärente Bereiche in das Selbst aufgenommen werden. Gewissermaßen betrachtet das Subjekt diese Bereiche zuerst einmal versuchsweise als einen Teil der Identität, ehe es bereit ist, sie ganz in sie einzubauen (vgl. Antonovsky 1997: 39f.). Wann immer das Subjekt einem inkohärenten Erleben eine Bedeutung zuschreibt, beginnt es, das Kohärenzempfinden zu erweitern. Der Zustand zu Hause hatte große Ähnlichkeit mit einem, der unter dem Einfluß von Betäubungsmitteln entsteht. Während ich mit dem Mobile spielte, fühlte ich mich so, wie wenn man vor einer Operation gerade die Narkose bekommen hat. Man beginnt zu spüren, wie der Schlaf einen übermannt. […] Offenbar ist das der Schutz vor einer unerträglichen Situation. Ich höre, wie die Kinder und alle anderen auch vor Entzücken jauchzen und wie sie reden, und es ist, als machte sich das Wissen, das ich habe, über das Wissen, das ich nicht habe, lustig, während das Schmerzliche dieses Kontrasts mich dazu bringt, daß ich überhaupt nichts mehr wissen will.4 Bereichernde Kohärenz: Zum Kohärenzempfinden im umbrochenen Körper gehört, dass das Leben an sich reichhaltiger wird. Das Subjekt nimmt seine Affekte bewusst als Gefühle wahr und hält sie aus. Es gibt nicht der Alterität die Schuld für das eigene, mitunter unangenehme und qualvolle Erleben, sondern sieht sich selbst dafür verantwortlich (vgl. Antonovsky 1997: 138–140). Ich übertreibe, mache mir etwas vor, erfinde Ängste, besonders die Angst, nicht mehr schreiben zu können. Mir laufen die Wörter weg, oder ich bilde es mir ein. Um sie nicht zu verlieren, halte ich sie im Schlaf bei mir, rede, rede im Traum Geschichten, die ich sehe, höre ständig meine Stimme, die mich erzählt oder mir erzählt, was aus dem Zusammenhang fallen könnte. Ich überlebe im Schlaf. Ich halte mich erzählend am Leben.5 Es ist ein Zeichen der wiedergewonnenen bzw. neu gefundenen Kohärenz, dass das Subjekt auch heftige Gefühle eingeht und aushält. Es sieht sie geradezu als eine Bedingung seines Weiterlebens an. Wie die Luft zum Atmen brauche ich es, Gefühle zu haben, zu lieben und zu bewundern. Der Brief eines Freundes, ein Gemälde von Balthus auf einer Postkarte, eine Seite Saint-Simon geben den Stunden, die vergehen, einen Sinn. Aber um auf dem Quivive zu bleiben und nicht in lauer Resignation zu versinken, bewahre ich mir ein Quantum Wut und Abscheu, nicht zuviel und nicht zuwenig, so wie der Schnellkochtopf sein Ventil hat, um nicht zu explodieren.6 Nachdem das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit seine Identität dem umbrochenen Körper angepasst hat, bleiben nicht nur die schmerzhaften Affekte kohärent. Selbst existentielle Fragen wie Verlust, Rückschlag und Scheitern führen

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Hull 1992: 175. Härtling 2007: 75. Bauby 1997: 56f.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

nicht zur Aufgabe der Identität. Das Subjekt vermag auch schwere Enttäuschungen zu verarbeiten. Obwohl die Ergebnisse der Operation meine Hoffnungen auf eine Verbesserung meines Gesundheitszustandes enttäuscht haben und ich mich nun mit dem weiteren Fortschreiten der Krankheit und dem dadurch verursachten unaufhaltsamen Sterben weiterer Zellen in meinem Gehirn konfrontiert sehe, bemühe ich mich weiterhin, Fortschritte mit Hilfe neuer Medikamente, therapeutischer Verfahren und Alternativen zu Transplantationen zu erzielen.7 Sogar Krankheit und Tod geraten bei hoher Kohärenz nicht außerhalb die Grenze dessen, was das Subjekt als Teil seiner Identität empfindet. Sie beeinflussen die Identität, bestimmen sie aber nicht. Ja, mit dem Sterben durch meine Krankheit hatte ich mich längst abgefunden. Der Tod würde schleichend, unbemerkt mein Leben einholen.8 Weil bei einem hohen Kohärenzempfinden das Subjekt aus der Vergangenheit schöpft, trägt die Erinnerung an früheres Erleben dazu bei, dass ihm das heutige erträglich wird. Es hält aus, dass es mit dem umbrochenen Körper keine der Identitätsziele mehr umzusetzen kann, die ihm früher wichtig waren. Ich kultiviere die Kunst, Erinnerungen aufzukochen. Man kann sich jederzeit zwanglos zu Tisch setzen. Wenn ich ins Restaurant gehe, brauche ich nicht zu reservieren. Wenn ich selbst koche, gelingt es immer. Das Bœuf bourguignon ist zart, das Rindfleisch in Gelee ist durchsichtig, und der Aprikosenkuchen hat die nötige säuerliche Note.9 Dadurch, dass das Subjekt mit dem Körper, wie er geworden ist, etwas erlebt, das seinem Selbst entspricht, erschließt sich ihm aus seiner Gegenwart eine Zukunft, der es erwartungsvoll entgegensieht. Ich hingegen fühlte mich völlig frisch, als ich seinem Flugzeug nachwinkte. Ich war nicht nur in einen wunderbaren Mann verliebt, der mich in jeder Hinsicht unterstützte, sondern konnte auch endlich wieder gehen. Jetzt würde mich nichts mehr zurückhalten.10 Kohärenz durch Konsistenz, Belastungsbalance und Partizipation: Unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Klasse, Alter oder Behinderung wirkt es sich günstig in Hinblick auf ein hohes Kohärenzempfinden aus, wenn das Subjekt Erfahrungen macht, die vor allem durch Konsistenz, Belastungsbalance und Partizipation gekennzeichnet sind (vgl. Antonovsky 1997: 93). Durch die geleistete Identitätsarbeit nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ist es dem Subjekt wieder möglich, solche Erfahrungen zu machen. Damit geht einher, dass die Kohäsion des Selbst nicht mehr verringert, die Kontinuität des Erlebens nicht mehr beeinträchtigt und die Flexibilität der Grenzen

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Todes 2005: 167. Balmer 2006: 109. Bauby 1997: 37f. Mills 1996: 251.

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nicht mehr gestört ist. Dabei bedeutet Erhalt, Bewahrung oder Wiedergewinn der Kohärenz durch Konsistenz, dass dem Subjekt das, was es mit dem umbrochenen Körper erlebt, geordnet, übersehbar und erwartbar ist. Das betrifft unmittelbar sein körperliches Erleben. In dieser Phase meiner Krankheit empfand ich es als hilfreich, die verschiedenen Arten des Denkens und Fühlens, die mit den On- und Off-Zuständen verbunden sind, voneinander abzugrenzen […].11 Es beinhaltet auch, dass das Subjekt mit dem umbrochenen Körper eine soziale Situation ebenso verlässlich erfasst wie die Alterität, auch wenn die Art, wie es geschieht, sich unterscheidet. Mit einem oder zwei anderen Kollegen führe ich oft Vorstellungsgespräche mit Bewerbern um einen Studienplatz. […] Ich bin erleichtert und auch ein wenig überrascht, wenn ich merke, daß mein Urteil über den Kandidaten nicht weniger präzise ausfiel oder daß ich ganz ähnliche Eindrücke von ihm hatte. Die sehenden Kollegen können bestimmte Einzelheiten ergänzen. […] Fast immer stellt sich dann heraus, daß diese Einzelheiten mit verschiedenen Eindrücken vom Charakter und der Persönlichkeit übereinstimmen, die ich allein aus dem Sprechen gewonnen hatte.12 Dazu gehört weiterhin, dass dem Subjekt erwartbar ist, dass sich sein Erleben nicht mehr mit dem seiner Alterität deckt. Mir ist aufgefallen, daß die Intensität, mit der ich mein Blindsein empfinde, immer dann zunimmt, wenn ich mit Menschen zusammen bin, deren Leben ich teilen will. Zum Beispiel ist es mir, wenn ich arbeite, nicht sonderlich bewußt, daß ich blind bin. Das meiste, von dem, was ich an der Universität tue, ist meinen Möglichkeiten angepaßt. […] Mit der Familie ist es anders. […] Natürlich bin ich ein Objekt in ihrem Gesichtsfeld, aber die Welt der gemeinsamen Erfahrung, die Welt, die wir gemeinsam kennen, die Welt, der wir als füreinander Anwesende gegenüberstehen, sie ist durch das Blindsein fragmentiert.13 Die Kohärenz durch Belastungsbalance zu erhalten, zu bewahren oder wiederzugewinnen heißt, dass das Subjekt mit seinem umbrochenen Körper die Aufgaben erfüllt, die es im Alltag zu bewältigen hat, und dass es sie als Herausforderungen einschätzt, denen es gewachsen ist. Aus dem Wissen um die eigene Körperlichkeit versteht das Subjekt Aufgaben handzuhaben, die der Alterität als schwierig erscheinen. »Die Röntgenbilder werden aber nicht gut kommen«, zweifelte [die Röntgenassistentin; B.R.]. Ich […] erklärte ihr, wie man bei einem Patienten im Rollstuhl ein Lungenröntgenbild machen kann. Die Qualität der Röntgenbilder war genial, und mein Hausarzt konnte sie sehr gut beurteilen.14

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Todes 2005: 110. Hull 1992: 37. Hull 1992: 151. Balmer 2006: 47.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Das Subjekt gestaltet seinen Alltag so, dass es durch die anstehenden Aufgaben weder über- noch unterfordert ist. Aus seinen Erfahrungen ist es sich gewiss, dass es durch mögliche Geschehnisse nicht überwältigt wird. In der Arbeit kann ich das Bombardement [durch Eindrücke; B.R.] zumindest in einem gewissen Umfang steuern, indem ich mir einen vorhersehbaren Tagesablauf schaffe. Ich habe sozusagen die Hand am Hahn und kann mehr oder weniger nach meinen Wünschen den Fluß verstärken oder abschwächen. Ich kann das Gespräch beenden. Sogar wenn ich in einem Seminar oder einer Komiteesitzung feststecke, weiß ich, daß sie in ungefähr einer Stunde vorüber ist.15 Im Vertrauen, dass sich Lösungen finden werden, geht das Subjekt das Risiko des Ungewissen und eines möglichen Scheiterns ein. Es weiß, dass es sich lohnt, all das anzufangen, was sich ihm in seinem Alltag als Herausforderung stellt. Es geht also! Man muß es nur tun! Das ist das Wichtigste, was ich gelernt habe, seitdem ich Hand, Bein und Selbstvertrauen verlor. Ich habe damit ein Stück von mir selbst wiedergewonnen.16 Mit Freude erlebt das Subjekt bewusst, wie es eigene Bedürfnisse umzusetzen vermag. Es ist sich sicher, dass es sich mit dem umbrochenen Körper die Welt erschließen kann, wie es mag. Die Oper war wundervoll, aber auch wenn sie furchtbar gewesen wäre, hätte es keine Rolle gespielt. Für mich reichte es einfach, dort zu sein. Es bewies mir, daß ich immer noch Spaß haben konnte. Mein Leben war nicht vorbei. Ich konnte immer noch gut aussehen. Ich konnte ausgehen und mich amüsieren wie alle anderen.17 Die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben wächst dadurch an, dass das Subjekt lernt, für sich nur die Aufgaben zu wählen, die es mit seiner Körperlichkeit bewältigt. Es gibt Dinge im Leben, die sind veränderbar. Auf die stürze ich mich, und wenn ich es schaffe, etwas zu bewegen, dann macht mich das stolz, selbstbewußt und lebenshungrig. Was ich absolut nicht ändern kann, das nehme ich auch im Kopf nicht mit. Ich lasse es links oder rechts liegen, akzeptiere es vielleicht mit Bedauern, aber letztlich gelassen. So habe ich immer Sachen vor mir, die durch Veränderung positiv werden können – eine Art Daseinsbewältigung, die dazu führt, daß ich im Grunde eine Frohnatur bin. Liebe dein Leben ständig, denn du bis länger tot als lebendig – solch ein Motto, halb Kalauer, halb Rezept, gefällt mir.18 Wenn die Kohärenz durch Partizipation erhalten, bewahrt oder wiedergewonnen wird, besagt es, dass sich das Subjekt mit seinem veränderten Körper an den Entscheidungen beteiligt, die es betreffen.

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Hull 1992: 184. Peinert 2002: 90. Mills 1996: 232. Buggenhagen 1996: 31.

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Körperlicher Umbruch

Ich stelle eine neue Generation von Patientinnen dar. Ich bin vollumfänglich über meine Krankheit, über das Leben und Sterben mit ihr, über alle medizinischen Optionen aufgeklärt und weiss genau, was in den jeweiligen Situationen zu tun ist. Dadurch, dass ich mir Kenntnisse über die medizinischen Behandlungen erworben habe, übernehme ich die Verantwortung für mein Leben. […] Ich trage gerne Eigenverantwortung, schließlich geht es um meinen Körper, meine Seele und meinen Geist.19 Die Beteiligung betrifft nicht nur die Körperlichkeit, sondern auch die sonstigen Bereiche der Identität, die dem Subjekt bedeutsam sind. Später wurden beide Kinder eingeschult, und ich wurde in der Schulpflegschaft aktiv. Zwar konnte ich die Kinder bei Ausflügen und ähnlichen Unternehmungen nicht begleiten, aber dennoch half ich bei vielen Anlässen, wie Nikolaus- und Karnevalfeiern sowie Sommerfesten mit, trotz der doch deutlich sichtbaren Behinderung.20 Das Subjekt ist bereit und willens, die Folgen zu bedenken und zu untersuchen, die sich aus den Entscheidungen, an denen es beteiligt ist, ergeben. Es fühlt sich verantwortlich für das, was ihm geschieht, und erkennt aus seinem Erleben heraus die besonderen Bedingungen seiner Körperlichkeit. Ich muß darüber nachdenken, was der Verlauf des Weihnachtsfests zu Hause für mich bedeutete. […] Es machte mir die Inflexibilität des Blinden bewußt, oder ich sollte besser sagen, das inflexible Leben, zu dem das Blindsein die Blinden zwingt.21 Indem das Subjekt immer wieder selbstverantwortlich entschieden hat, was es mit seinem umbrochenen Körper umsetzen will, vermag es ein Leben zu führen, das es erfüllt. Und ich treibe gern Sport, quäle mich gern. Wenn dann das Ganze abrechenbar ist wie im Wettkampf, umso besser. Beruf und Sport, das wurden wichtige Säulen in meinem Leben, das nicht nur einfach so dahinplätschern, sondern auf eine mich befriedigende Weise erfüllt sein sollte.22 Lohn der Verknüpfungen: Durch die Identitätsarbeit wird die Kohärenz in dem Maße wieder vermehrt, wie das Subjekt das Geschehen in seinem somatischen, sozialen und psychischen Körper mit seinen Vorerfahrungen verknüpft. Aus den Verknüpfungen unter lebensweltlichen Gesichtspunkten entsteht die Kohäsion des Selbst wieder neu. Bisweilen kommt es allein dadurch dazu, dass das Subjekt von verschiedenen Erlebnisse zur selben Zeit und am selben Ort angesprochen wird. Mein Zimmer tritt langsam aus dem Halbdunkel. Ich betrachte ausführlich die Fotos meiner Lieben, die Kinderzeichnungen und Poster; den kleinen Radfahrer aus Blech, den mir ein Freund eines Tages vor dem Radrennen Paris – Roubaix geschickt hat, und

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Balmer 2006: 80f., 81. Lürssen 2005: 29. Hull 1992: 69. Buggenhagen 1996: 46.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

den Galgen über dem Bett, in dem ich seit sechs Monaten eingekapselt liege wie ein Einsiedlerkrebs auf seinem Felsen.23 Weil Ereignisse unter zeitlichen Gesichtspunkten mit Vorerfahrungen verknüpft werden, bildet sich die Kontinuität des Erlebens wieder neu. Durch ein weiteres Widerfahrnis im Verlauf des körperlichen Umbruchs fügen sich für das Subjekt der Beginn und das Ende der körperlichen Veränderungen zusammen. Nun, quasi auf der Zielgeraden, erwischte es mich. Mein geschundenes Immunsystem konnte keinen Widerstand mehr leisten. Ich bekam eine so genannte »Bettlungenentzündung«, hervorgerufen durch das lange Liegen. »Schon komisch«, dachte ich, »alles fing mit einer Lungenentzündung an, und zum Schluss der ganzen Geschichte fängst du dir wieder eine ein.«24 Entsprechend bezieht das Subjekt infolge einer körperlichen Erfahrung auch Anfang und Ende seines Lebens aufeinander und bedenkt sie zusammen. Ich wurde im Herbst geboren. Diese Jahreszeit wurde mir im Laufe meiner Lebensjahre die liebste. Mit 31 Jahren lag ich sterbend im Bett. Es war Sommer und die Sonne schien leuchtend gelb, die Natur zeigte sich kräftig grün. Nie hätte ich gedacht, dass ich im Sommer sterben könnte.25 Durch die Verknüpfungen unter inhaltlichen Gesichtspunkten, ist wieder eine Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen zu erreichen. Das Subjekt stellt fest, dass sich ihm bestimmte Abläufe in ähnlicher Weise mehrfach wiederholten. Ich hatte nun ein Muster, nach dem ich mich selbst im Angesicht einer Krise ins Krankenhaus befördern konnte, etabliert, das sich später in Spanien und darauf in Birmingham wiederholte […]. Diese Vorfälle hatten auch unbewusst eine Verbindung zueinander: Sobald ich in den Ferien von meiner psychoanalytischen Denkweise pausierte, trieb es mich einen Zufluchtsort zu suchen.26

4.2

Die Kohäsion des Selbst

Bedingungen der Neuentstehung: Das Kohärenzempfinden des Subjekts, das nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit mit einem umbrochenen Körper lebt, beruht auf der Kohäsion des Selbst, d.h. darauf, dass die einzelnen Selbstanteile zusammenhängen und ein Ganzes bilden. Damit in der Identitätsarbeit die Kohäsion des Selbst wieder neu entsteht, müssen verschiedene Bedingungen für einen günstigen Prozess zusammenwirken: Das Subjekt versteht es, die Möglichkeiten, die sich in der Medizin, in der Behindertenrolle oder in den herkömmlichen Narrativen von chronischer Krankheit und Behinderung finden lassen, für sich zu nutzen, ohne ihrer pathischen Wirkung

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Bauby 1997: 6. Lesch 2002: 160f. Balmer 2006: 128. Todes 2005: 59.

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Körperlicher Umbruch

zu erliegen. In den sozialen Systemen bekommt das Subjekt den nötigen Halt, um das unbewusste Ausagieren der fragmentierten Selbstanteile und die verringerte Kohäsion dem Bewusstsein zugänglich und damit aufhebbar zu machen, und wird für die von ihm geleistete Identiätsarbeit anerkannt. Zudem weiß das Subjekt aus seinen Vorerfahrungen, was es heißt, die Kohäsion des Selbst und vor allem die des Körperselbst in mitunter spannungsvollen Prozessen wiederherzustellen. An der Alterität schließlich beobacht das Subjekt, wie sie mit körperlichen, sozialen, kulturellen, politischen, ökonomischen oder ökologischen Umbrüchen umgeht und wie sich daraus persönliches Wachstum ergibt. Wenn es dem Subjekt durch seine gegenwärtigen Beziehungen oder seine Vorerfahrungen gelingt, nach dem körperlichen Umbruch die Kohäsion des Selbst wieder neu entstehen zu lassen, vermag es im Rückblick den Prozess zu erfassen, den es dafür durchmachte. Über diesen Prozess sagt das Subjekt, dass er in seinem Verlauf nicht vorhersehbar, nicht geradlinig und durchaus mühevoll war. Natürlich ist es immer mein Ziel gewesen, wieder möglichst normal und gesund zu werden. Der Weg dahin erwies sich jedoch nicht als gerade und als konsequent zielstrebig.27 Das gilt gleichermaßen für den Alltag, in dem das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch versucht, die geschädigte Körperlichkeit zu bessern, wie für den Prozess, durch den es über das Körperselbst hinaus weitere Selbstanteile erfasst und verändert. Von der Rollstuhl-Athletin, als die ich mich heute getrost bezeichnen kann, war ich soweit entfernt wie ein Frosch vom Fliegen. Ich saß im Stuhl wie eine Ente, trotz Rückenstatik und Bewegungstherapie. Für Rolli-Kollegen bot ich vermutlich einen amüsanten Anblick. Unbeweglich, dick und faul – und im Umgang mit dem fahrbaren Untersatz jemand, der ein großes »A« am Wagen verdient hätte.28 Dabei versteht sich solch eine prozesshafte Identitätsarbeit nicht von selbst. Bisweilen muss das Subjekt in seinem Rückblick feststellen, dass es bei ihm zu solch einem Prozess nicht kam, es die Bedeutung des körperlichen Umbruchs für die Identität zumindest vorerst abwehrte und die verminderte Kohäsion des Selbst nicht wieder anwuchs. Drei Monate, vom Erwachen im totalen Schmerz bis in das Hotelzimmer in Casablanca. Mit der Bilanz kann ich kaum zufrieden sein. Ich habe wieder geraucht. Ich habe wieder Kaffee getrunken. Ich denke wieder nach. Rote Karte, klar. Aber geht man wirklich los und sagt: Ein neues Leben, bitte schön, und dann kommt es auf dem Silbertablett? 33 alte Jahre, die sind nicht so schnell wegzukriegen.29 Zwischen verringerter Kohäsion und Neuentstehung: Dass das Subjekt etwas, was ihm geschieht, mit bewusster Identitätsarbeit in sein Selbst integrieren muss, stellt die Ausnahme dar. Da die Eigenart der menschlichen Wahrnehmung bedingt, dass einzelne Elemente meist als eine zusammenhängende Gestalt gedeutet werden, kommt es im 27 28 29

Peinert 2002: 75. Buggenhagen 1996: 53. Huth 2003: 122.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Alltag kaum vor, dass die Kohäsion des Selbst mit einer Verbindung von verschiedenen Lebensbereichen nicht entsteht. Falls die Kohäsion aber einmal nicht aus sich heraus gewahrt wird, weil sie etwa durch ein pathisches Geschehen in Frage gestellt ist, kann das Ereignis noch dadurch in das Selbst integriert werden, dass das Subjekt in sich geht, nachsinnt oder träumt oder dass es sich mit der Alterität darüber austauscht. Erst wenn das Subjekt wie die Alterität, auf die es bezogen ist, davon überfordert sind, ein Geschehnis wie den Verlust der gewohnten Körperlichkeit zu verarbeiten und es zur invasiv-evasiven, ekstatischen, duplikativen, extraordinären oder liminalen Entfremdung des Selbst kommt, wird dessen Kohäsion verringert. Falls es dann dazu gekommen ist, heißt es nicht, dass das Subjekt gleich damit beginnen muss, das Geschehnis mit anderen Erfahrungen zu verbinden und die verringerte Kohäsion wiederherzustellen. Denn das Subjekt kann über lange Zeit mit einem entfremdeten Selbst leben. Da es die Bedeutung der körperlichen Veränderung so weit abwehren kann, dass es nicht daran zerbricht oder dass die Identität nicht in eine unerträgliche Spannung versetzt wird, ist der bewusste Umgang mit einem körperlichen Umbruch bisweilen auch aufgeschoben – und damit auch die Notwendigkeit, die Kohäsion des Selbst neu entstehen zu lassen. Das Subjekt versteht es, einstweilen weiterzuleben, als sei ihm nichts geschehen, bis sich zusätzlich etwas ereignet, das die Abwehr nicht länger bestehen lässt. Rückblickend vermag das Subjekt zu erkennen, dass es zuvor Hinweise seines somatischen Körpers nicht wahrnahm und ihnen nicht die angemessene Bedeutung gab. Ich hätte es als Warnung verstehen müssen, dass ich mit den Fingern die Tasten der Schreibmaschine nicht mehr traf. Der Einschlag in der rechten Hirnhälfte setzte mich zufällig außer Betrieb.30 Wenn das Subjekt die Kohäsion des Selbst wieder neu entstehen lassen will, mag es damit beginnen, die im Laufe seines Lebens zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gemachten Erfahrungen miteinander zu verknüpfen. Dabei ist das, was es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit mit dem umbrochenen Körper erlebt, nicht das Einzige, das es auf Erfahrungen aus anderen Lebensbereichen zu beziehen hat. Das bedeutet, daß ich das Blindsein nicht einfach nur hinzunehmen habe, daß ich es aber auch nicht zurückweisen darf. Ich muß es integrieren. Ich muß versuchen, das Blindsein mit dem Sehen, das Bewußtsein mit dem Unbewußten, Gott mit dem Teufel, das Leben der Menschheit mit dem Kosmos, die Kräfte der Schöpfung mit den Kräften der Zerstörung in einen Zusammenhang zu stellen.31 Im Rückblick sieht das Subjekt, wie der körperliche Umbruch zum Ausgangspunkt einer Entwicklung wurde, die eine neue Kohäsion des Selbst entstehen ließ. Im August hatte ich zu einem Reporter gesagt, eine Tür in meinem Leben habe sich zwar geschlossen, aber ich sei sicher, eine andere würde sich öffnen. Ich glaube nicht,

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Härtling 2007: 64f. Hull 1992: 187.

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daß ich mir damals sehr sicher war, daß das stimmte, sondern ich versuchte vermutlich nur, tapfer zu sein. Aber dieser Satz erwies sich schließlich als wahr. Ich hatte zwar kaum noch Model-Aufträge, aber zahlreiche andere Verpflichtungen, die mich auf Trab hielten.32 Nachdem das Subjekt den körperlichen Umbruch einmal angenommen hat, erkennt es, was es zuvor durch seine Abwehr versäumte. Diese Erkenntnis trägt ebenfalls dazu bei, dass die Kohäsion des Selbst wieder neu entsteht. Auch wenn der umbrochene Körper unverändert fortbesteht, fühlt das Subjekt sich danach wie geheilt. Erst mit dem Rollstuhl, dem gefürchteten, gehaßten, verfluchten, wurde mein Leben wieder bunter. Er war Befreiung und Erlösung zugleich, das vergegenständlichte Endergebnis meiner Krankheitsgeschichte.33 Verlauf der Neuentstehung: Die Neuentstehung der Kohäsion des Selbst fängt mit der Erkenntnis an, dass etwas außerhalb des Selbst liegt, was eigentlich zum Sein wesentlich dazu gehört. Denn bevor etwas integriert werden kann, muss das Subjekt feststellen, dass etwas überhaupt der Integration bedarf. Nachdem das Subjekt den ersten Schritt getan und dem Abgewehrten eine Bedeutung gegeben hat, ist für dessen Integration die bis dahin bestehende Differenzierung zwischen dem Außen und dem Innen vorübergehend aufzuheben. Während dieser Zeitspanne fühlt das Subjekt sich schlecht, verunsichert oder schuldig, bis es die Grenzen zwischen innen und außen in einem weiteren Schritt neu bestimmt und es das bis dahin Abgewehrte als Teil des Selbst angenommen hat. Das kann sich daran zeigen, dass das Subjekt ein körperliches Geschehen, das es bereits bei verschiedenen Gelegenheiten wahrnahm und das ihm bis dahin unerklärlich und sinnlos erschien, plötzlich in seiner Bedeutung erkennt. Das Subjekt erfährt eine Ganzheit, die davor nicht bestand. In dieser Nacht im Bett verstand ich plötzlich, warum meine Uhr nicht gelaufen war: Ihr Aufziehmechanismus was abhängig von der rhythmischen Bewegung meines Armes. Es war nicht nur mit meinem Arm etwas nicht in Ordnung – ich erinnerte mich auch an Krämpfe, die ich im Rücken gespürt hatte, als ich während unseres Sommerurlaubs auf einem dänischen Bauernhof die flachen, trostlosen Straßen Jütlands entlanggefahren war. Das Mosaik fügte sich nun langsam zusammen.34 Wenn es dem Subjekt nach dem körperlichen Umbruch möglich gewesen ist, eine Kohäsion des Selbst einschließlich des Körperselbst wieder neu entstehen zu lassen, beziehen sich die verschiedenen Dimensionen, in denen sich sein Leben entfaltet, wie Körperlichkeit, Sexualität, Intellektualität, Spiritualität oder Alterität aufeinander; das gilt auch für die verschiedenen Rollen, die es in den sozialen Systemen innehat. Die Dimensionen seines Lebens wie seine sozialen Rollen ergänzen und fördern sich wechselseitig, ohne deshalb spannungsfrei sein zu müssen. Es ist vielmehr ein Zeichen für die Kohäsion des Selbst, dass Spannungen im Selbst oder zwischen dem Subjekt und

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Mills 1996: 255. Buggenhagen 1996: 43. Todes 2005: 15.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

der Alterität eingegangen und ausgehalten werden können. So bleibt auch die Beziehung zwischen dem umbrochenen Körper und der Alterität spannungsvoll. Ich bin überaus dankbar für diese moderne Technik, die mir unsere heutige Zeit bringt. Manchmal aber habe ich Bedenken und bekomme das Gefühl, dass man nicht mehr mich als Person, sondern nur noch die Geräte wahrnimmt. Wenn ich nicht sprechen kann und mit meinem Kommunikator »spreche«, schauen alle auf das Gerät statt auf mich.35 Zu den Spannungen kommt es, weil das Subjekt in den verschiedenen Dimensionen des Lebens bzw. den verschiedenen Bereichen des Selbst Unterschiedliches bis Gegensätzliches gleichzeitig erlebt. In meinem Zimmer treffen wir uns für die letzten Gefühlsbezeigungen. »Wie geht’s dir, mein Freund?« Dem Freund ist die Kehle zugeschnürt, er hat Sonnenbrand auf den Händen, und sein Steißbein ist vom langen Sitzen im Rollstuhl zu Brei geworden, aber er hatte einen wunderbaren Tag.36 Innerhalb des durch den körperlichen Umbruch veränderten Körperselbst treten bisweilen so heftige Spannungen auf, dass sie das Subjekt verzweifeln lassen. An die Schläuche habe ich mich gewöhnt, aber an die Komplikationen, die sie mit sich bringen, nicht. Wenn mich eine Infektion mit Bakterien, die mich einst mit Blutvergiftungen fast umgebracht haben, heimsucht, würde ich jedes Mal am liebsten auf der Stelle sterben. Und immer wieder lebe ich noch.37 Ist die Kohäsion des Selbst stark genug, um das unterschiedliche bis gegensätzliche Erleben zu vereinbaren, vermag das Subjekt in der Identität zu bewahren, was von ihm gleichzeitig als gut und als schlecht bewertet wird. Ich fuhr mit meinem Elektrorollstuhl auf den Flur und wartete neben dem Aufenthaltssaal auf mein Taxi. Die Stimmung auf der Station war bedrückt und zugleich munter. Abschiednehmen und Freude über die Heimkehr waren nicht einfach unter einen Hut zu bringen. Ich befand mich in einem absoluten Gefühlschaos.38 In seinem Selbst verfügt das Subjekt über eine reife Ambivalenz. Wenn das Blindsein ein Geschenk ist, dann ist es keines, das ich jedem wünsche. Es ist kein Geschenk, das ich erhalten möchte. Es ist eins, das ich viel lieber zurückgeben möchte, aber trotzdem nur entgegennehmen kann.39 Lohn der neu entstandenen Kohäsion: Die nach dem körperlichen Umbruch wieder neu entstandene Kohäsion des Selbst führt dazu, dass sich das Subjekt mit dem umbrochenen

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Balmer 2006: 96. Bauby 1997: 76. Balmer 2006: 97. Balmer 2006: 145. Hull 1992: 229.

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Körperlicher Umbruch

Körper wohlfühlt. Es geschieht immer dann, wenn es etwas erreicht, was es zu erreichen nicht für möglich hielt, oder wenn es in seinem Selbst etwas zusammenfügt, was ihm bis dahin getrennt war. Ich bin an den Strand gefahren, habe aufs Meer gesehen, weit weg das dumpfe Tuten der Ozeandampfer gehört und ein Gefühl der Entspannung verspürt, wie seitdem nie wieder. Ich war im absoluten Einklang mit mir selbst, mit dem Umfeld, mit allem.40 Allein dadurch, dass sich abzeichnet, dass die Kohäsion des Körperselbst nicht noch weiter beeinträchtigt werden wird, kommt im Subjekt Wohlbefinden auf. An dem Tag, als die Ärzte bei »Hippocrates« mein Bein für infektionsfrei erklärten, flippte ich regelrecht aus vor Freude.41 Schon ein leichter Fortschritt in dem, was der umbrochene Körper zu bewerkstelligen vermag, beglückt das Subjekt. An meinem Geburtstag ist es Sandrine gelungen, mich dazu zu bringen, das ganze Alphabet verständlich auszusprechen. Ein schöneres Geschenk hätte man mir nicht machen können. Ich hörte eine heisere Stimme aus der Tiefe der Zeiten, die die sechsundzwanzig Buchstaben dem Nichts entriß. Diese erschöpfende Übung gab mir das Gefühl, ein Höhlenmensch zu sein, der dabei ist, die Sprache zu entdecken.42 Auch kann das Subjekt von einer ungewohnten Aufnahme der Welt in den sensomotorischen Körper positiv überwältigt sein. Manchmal erlebt ein Blinder einen Wind, der noch viel aufregender ist, weil es ihn schon aus weiter Entfernung kommen spürt. Ich höre von fern, wie sich auf der anderen Seite des Parks die Bäume hin und her werfen; er kommt wie eine Woge, die über einen Strand hinwegrollt. Jetzt trifft er wie eine Bö, wie ein Stoß, wie eine Faust auf meinen Körper auf. Das ist sehr aufregend, weil man es schon vorausahnt und weil man das wunderbare Gefühl hat, daß man mit dem Körper weiß, was vorgeht.43 Ebenso kann die durch den körperlichen Umbruch veränderte Aufnahme der Welt in viszeralen Körpers das Subjekt mit Freude erfüllen. »Hören Sie es?«, fragte mein Lungenarzt Franz Michel und führte mich unter die grosse Kuppel. Ich lauschte. Was er wohl meinte? Ich vernahm zuerst nur Stille, zwischendurch Geflüster von Besuchern, die ihre Bewunderung über die Geschichte und Architektur der Hagia Sophia ausdrückten. Doch jetzt hörte ich es, das Geräusch. »Tsch … tsch….tsch….tsch«, hallte meine Beatmungsmaschine, mein Atem in der Hagia Sophia. Mit Tränen, im Rollstuhl sitzend, hoch hinauf zur Kuppel starrend, dem Geräusch lauschend, fühlte ich zum ersten Mal, seit ich auf eine Beatmungsmaschine angewiesen war, eine tiefe Verbundenheit zu ihr.44 40 41 42 43 44

Buggenhagen 1996: 119. Mills 1996: 248. Bauby 1997: 42. Hull 1992: 127. Balmer 2006: 23.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Ähnlich erfreut es das Subjekt, wenn es ihm möglich ist, durch ein Hilfsmittel das Einwirken des sensomotorischen Körpers auf die Welt über die Grenze hinaus zu vergrößern, die ihm zuvor durch den körperlichen Umbruch gesetzt war. Bei schönem Wetter fahre ich [mit meinem Elektrorolli; B.R.] einfach auch mal nur so rum, das ist die Freiheit auf Rädern. Weite Entfernungen kann, will und soll mich niemand schieben. Außerdem kann ich endlich mit Klaus wieder spazieren gehen, nebeneinander und unabhängig. Beim ersten Mal erfüllte mich ein unglaubliches Glücksgefühl.45 Bei solchen Ereignissen erlebt das Subjekt seinen umbrochenen Körper mit Wohlbefinden. Sie vergrößern die neu entstandene Kohäsion des Selbst weiter. Da das Subjekt nicht nur weiß, was es mit dem umbrochenen Körper zu erleben vermag, sondern auch, womit es sich körperlich gutfühlt, setzt es Identitätsentwürfe und -projekte in die Tat um, die ihm angenehm sind. Es hat mit dem umbrochenen Körper an zwischenmenschlichen Beziehungen teil. Als Thomas gegen sieben Uhr hereingerannt kam, sagte ich ihm, er sollte alle Sachen holen, die er zu seinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte, sie heraufbringen und sie auf dem Bett ausbreiten, und ich wollte sie mir mit ihm zusammen anschauen. Er freute sich, und das ging sehr gut. Als ich die Dinge nacheinander in der Stille auf dem Bett verteilte, begriff ich anhand seiner Beschreibungen, was für Spielsachen oder Spiele das waren. Ich hatte Zeit, die Sachen gründlich abzutasten, alles mögliche an ihnen zu entdecken und herauszufinden, ob ich mit ihm gemeinsam damit spielen konnte. Ohne den gesellschaftlichen Zwang, sofort Bewunderung äußern zu müssen, konnte ich das sehr genießen. Ich war ein kleines Stück in seine Geburtstagswelt eingetreten.46 Das Subjekt wirkt erzählend und handelnd auf die äußere Welt ein, erträgt Belastungen und löst sie auf. In der nächsten Stunde machte Bob einen Abdruck von Srpaks Stumpf. Ein einziges Bein bewirkte zwar hier keinen Unterschied, aber es war immer noch besser, als däumchendrehend herumzusitzen. Der Rest der Woche würde schon noch hektisch genug werden. Psychologisch gesehen war es sehr wichtig, daß wir anfingen. Allmählich bekamen wir wieder bessere Laune und waren sehr viel positiver gestimmt.47 Die Kohäsion des Selbst führt dazu, dass das Subjekt sich als Einheit und als sicher und verwurzelt erlebt. Es geht davon aus, dass es anerkannter Teil eines von ihm gewählten sozialen Systems ist. Gestern hatte ich einen sehr glücklichen Tag mit der Familie. Imogen war für das Wochenende hier, und nach dem Frühstück spielten alle Kinder »Mensch ärgere dich nicht« mit mir. Mitten am Vormittag trafen einige Besucher ein und blieben zum

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Lürssen 2005: 75f. Hull 1992: 211. Mills 1996: 274.

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Mittagessen. Am Nachmittag fuhren Marilyn und ich mit den Kindern im Auto zu einem Spielplatz. Ich schob sie auf der Schaukel an und drehte die Drehscheibe, auf der sie saßen.48 Das Subjekt ist beglückt durch all das, was es mit seinem umbrochenen Körper bewirkt. In der Tat gewann ich mit Kugel, Speer und sogar im Fünfkampf – ich schwebte auf »Wolke sieben«. Vor allem nach dem Mehrkampf-Sieg.49 Neu entstandene Kohäsion und Erinnerung: Zu der Kohäsion des Selbst, die nach dem körperlichen Umbruch wieder neu entsteht, gehört, dass sich das Subjekt zu erinnern vermag. Durch den umbrochenen Körper werden Erinnerungen an Geschehnisse geweckt, an die das Subjekt lange nicht mehr gedacht hat. Dadurch werden Erfahrungen zusammengeführt, die eng mit dem körperlichen Umbruch verbunden sind. Was ein Stent ist, wird mir beschrieben, […]. Was ich höre, wächst zu kleinen, skurrilen Schaubildern zusammen. Ich erinnere mich an den ersten Katheter, an die Blutfontäne, nachdem der Schlauch aus der Leiste gezogen worden war. Ich erinnere mich an die dunkle Wolke der Kontrastfarbe. An die Hitze, die durch den ganzen Körper schoss. An den Lachreiz.50 Dem Subjekt fallen Umstände ein, die mit dem früheren Besuch bei einem Spezialisten des Gesundheitswesens verbunden waren. Ein wenig früher, vielleicht als ich dreizehn Jahre alt war, sagte ich einmal, als ich morgens zum Frühstück kam, es sei ein sehr nebliger Morgen. Meine überraschte Mutter widersprach mir und fuhr dann, nachdem ihr eingefallen war, daß ich einmal darüber geklagt hatte, daß ich die Tafel in der Schule nicht hatte sehen können, mit mir nach Bendigo zu meinem ersten Augenarzt. 38 Jahre später sollte mich mein letzter Augenarzt abschreiben.51 Auch erinnert sich das Subjekt an frühere Bezugspersonen, die körperlich etwas Ähnliches erlebten wie es selbst und ihm dadurch jetzt so nahe sind, wie sie es schon lange nicht mehr waren. Ich liege in meinem Bett und versuche, mein Leben, meine Vergangenheit zu ordnen. Krebs ist mir kein Fremdwort. Der Bruder meiner Mutter, Onkel Hans, starb an Krebs. An welchem Krebs? Er starb an Lungenkrebs! Warum? Mein Onkel hat stark geraucht. Sehr stark geraucht! […] Ich liebte meinen Onkel heiß und innig. Und dann hieß es plötzlich: »Dein Onkel ist krank.« Ich war damals zwölf Jahre alt. Das war Ende der sechziger Jahre.52 Die Kohäsion des Selbst wächst an, wenn diese Erinnerungen vom prozeduralen Gedächtnis in das semantische und episodische überführt werden. Indem sich das Ge48 49 50 51 52

Hull 1992: 182. Buggenhagen 1996: 65. Härtling 2007: 12. Hull 1992: 19. Lesch 2002: 129.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

dächtnis für seine unbewussten Inhalte öffnet, bekommt das Erleben eine Bedeutung, die über den Augenblick hinausgeht. Im Subjekt werden Bilder seiner Kindheit lebendig. [Papa; B.R.] hat mir auch das Foto vom Minigolfplatz geschickt. […] Mit einem Mal sind in meinem privaten Kino lange vergessene Bilder erschienen, Bilder eines Wochenendes im Frühling, an dem meine Eltern mit mir zum Durchlüften in einen windigen Marktflecken, in dem nicht viel los war, gefahren waren. Mit seiner regelmäßigen, gestochenen Handschrift hat Papa auf dem Bild nur vermerkt: Berck-sur-Mer, April 1963.53 Das Subjekt schaut auf ein Erwachsenenalter vor dem körperlichen Umbruch zurück, wo es noch mit dem gewohnten Körper handelte und in Beziehungen zur Alterität trat, oder in Zeiten, wo schon sein Körper seine Leistungsfähigkeit zu verlieren begann. Die Fortsetzung des Fests, oben auf der Alb. […] Hier haben wir mit den Kindern, als sie noch nicht zur Schule gingen, die Ferien verbracht, hinterm Hügel in Erpfingen, wir kamen aus Berlin, aus Frankfurt. Die Leute, die ich hier oben traf, folgten waghalsigen Träumen und waren schon mit ihnen gescheitert. Ich konnte damals noch kilometerweit gehen. Kein Schritt machte mir Angst. Später träumte ich mit den Melchingern, wir spazierten über die Hügel, und mein Atem nahm dabei ab.54 Die Öffnung des Selbst zu den Inhalten des früher Erlebten, die im Gedächtnis abgespeichert sind, geht mit unterschiedlichen Affekten einher. Sie bestimmen beglückend die Gegenwart. Zu meinem Vergnügen greife ich auf die lebendige Erinnerung an Geschmäcker und Gerüche zurück, ein unerschöpfliches Reservoir an Empfindungen. […] Je nach Laune leiste ich mir ein Dutzend Schnecken, Sauerkraut mit Speck und Würstchen und eine Flasche Gewürztraminer, eine goldgelbe Spätlese, oder ich genieße ein einfaches weichgekochtes Ei, in das ich ein Stück Brot mit gesalzener Butter tunke. Wie köstlich!55 Dadurch, dass früher Erlebtes bewusst erinnert, mit Affekten erlebt und der Alterität erzählt wird, beeinflusst es das Selbstverständnis des Subjekts (vgl. Waller/Scheidt 2010: 59–65). Die Verknüpfung von gegenwärtigem und vergangenem Erleben bringt das Subjekt in Bereiche seines Selbst, die es lange nicht mehr betrat, die nun aber in großer Lebendigkeit vor ihm erscheinen. Die Verknüpfung ist bisweilen durch die Sinneseindrücke bedingt, die vom sensomotorischen Körper aufgenommen werden. Es kann das Sehen sein. Durch das Fenster sehe ich die ockerbraunen Klinkerfassaden, die im Licht der ersten Sonnenstrahlen heller werden. Der Stein nimmt genau die rosa Färbung der griechischen Grammatik von M. Rat an, eine Erinnerung an die vierte Klasse. Ich war bei weitem kein brillanter Hellenist, aber ich mag diesen warmen, tiefen Farbton, der mir

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Bauby 1997: 47, Kursivierung im Original. Härtling 2007: 68, 69. Bauby 1997: 37, 38.

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Körperlicher Umbruch

noch immer ein Universum des Wissens eröffnet, in dem man auf Tuchfühlung mit Alkibiades’ Hund und den Helden der Thermopylen kommt.56 Genauso kann es das Hören sein. Doch sobald Céleste – ziemlich falsch, übrigens – die ersten Takte dieses Ohrwurms trällert, fällt mir unerwartet präzise jeder Ton, jede Strophe, jede Einzelheit des Chors und der Orchestrierung wieder ein, bis hin zum Tosen der Brandung, das über der Einleitung liegt. Ich sehe die Plattenhülle vor mir, das Foto des Sängers, sein gestreiftes Hemd mit Button-down-Kragen, das ein unerreichbarer Traum für mich war, weil meine Mutter es vulgär fand. Ich erinnere mich sogar an den Donnerstagnachmittag, an dem ich diese Platte bei einem Cousin meines Vaters kaufte, einem sanften Hünen, der einen winzigen Laden im Untergeschoß der Gare du Nord hatte und dem eine ewige Mais-Gitane im Mundwinkel hing.57

4.3

Die Kontinuität des Erlebens

Die Verbindung verschiedener Lebensabschnitte: Außer der neu entstanden Kohäsion des Selbst trägt die Kontinuität des Erlebens dazu bei, dass das Kohärenzempfinden des Subjekts nach dem körperlichen Umbruch wieder hoch ist. Infolge der zurückliegenden Identitätsarbeit versteht das Subjekt, in seinem Selbst miteinander zu verbinden, was bis dahin in seinem Leben geschehen ist. Damit sich nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Kontinuität des Erlebens wieder neu bildet, müssen Erfahrungen, die zu verschiedenen Zeiten mit dem Körper gemacht wurden, aufeinander bezogen werden. Erst mehr als zehn Jahre später begann ich zu verstehen: Meine Krankheiten begannen im Jugendalter.58 Das Subjekt muss Erfahrungen zusammenfügen, die es vor und nach dem körperlichen Umbruch machte. Mein Leben als MS-Patient begann vor ca. 30 Jahren. Ich war 24 Jahre alt, seit 2 Jahren technische Assistentin an der Uni Köln, habe gerne und ich glaube auch ganz gut gearbeitet, voller Pläne für mein vor mir liegendes Leben.59 Die Erfahrungen, die zusammengebracht werden, können gegensätzlich sein. Die erste Reaktion auf die morgendliche Medikation, etwa eine halbe Stunde nach der Einnahme, ist ein Gefühl von Wohlbefinden und Energie. Ich ruhe in mir selbst, bilde eine psychische Einheit mit den Erlebnissen aus meiner Vergangenheit, bin gleichzeitig der Zukunft zugewandt und traue mir zu, ein aktives Leben zu führen, in dem

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Bauby 1997: 99. Bauby 1997: 75, Kursivierung im Original. Balmer 2006: 17. Lürssen 2005: 25.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

ich wieder mit anderen konkurrieren kann. […] Durch den allmählichen Wirkungsverlust am Ende einer Dosis spüre ich vorübergehende, aber intensive negative Gefühle. Wenn diese abklingen – oder selbst wenn sie einmal nicht auftreten –, fühle ich mich erschöpft und abhängig von anderen: die Gefühle eines Säuglings, die aus der Hilflosigkeit resultieren.60 Es sind Erfahrungen eines Tages gleichermaßen wie die von Jahrzehnten. Irgendwann um das Jahr 1973 hatte ich angefangen, mit einer Lupe zu lesen, und als ich im Jahre 1977 Shardik von Richard Adams beendete, beschloß ich, daß dies der letzte Roman sein würde, den ich mit meinen Augen lesen würde. Ich dachte an die Zeit vor dreißig Jahren, als ich mich beeilt hatte, mit dem Westernroman zu Ende zu kommen, während die Katarakte wuchsen. Von nun an wollte ich die mir verbliebene Sehkraft nur noch dazu benutzen, für meine Arbeit zu lesen.61 Die Kontinuität des Erlebens führt dazu, dass dem Subjekt in jedem Augenblick das Soeben-Vergangene noch gegenwärtig ist und es zugleich vom Künftigen erwartungsvoll angezogen wird. Es erlebt die Zeit nicht punktuell, sondern als Zeitspanne (vgl. Safaranski 2015: 72f.). Dem Subjekt erscheint sein Leben als Einheit. Veränderungen gibt es nur an meinem Kopf. Ich kann ihn jetzt um 90° hin und her bewegen, und mein Gesichtsfeld reicht vom Schieferdach des Gebäudes nebenan zu der seltsamen Mickymaus mit der heraushängenden Zunge, die mein Sohn Théophile gemalt hat, als ich den Mund nicht öffnen konnte.62 Während beim Erleben zeitlicher Diskontinuität ein Tag dem anderen ohne Sinn und Zweck folgt und das Vergangene in ein Nichts fällt, ohne Vorspiel, Ausgangspunkt, Eröffnung oder früheres Stadium von Irgendetwas zu sein, empfindet das Subjekt beim Erleben zeitlicher Kontinuität sein Leben als fließend (vgl. Kramer 2001: 148–152). Das eine ergibt sich aus dem anderen, eine Handlung begründet stimmig die nächste. In der Narration weiß das Subjekt der Alterität zeitlich geordnet seine früheren und jetzigen Gedanken und Gefühle zu vermitteln und mit seinen auf die Zukunft gerichteten Erwartungen verbunden darzustellen. Beim Erleben zeitlicher Kontinuität verbinden sich kleine und beieinander liegende Lebensabschnitte, aber auch große und weit auseinander liegende. Bei der offiziellen Eröffnung des Schwimm-Marathons im März fuhr ich mit Duncan ins Gateshead-Schwimmbad. Das war für mich sehr eigenartig. Eine Gruppe Schüler von meiner alten Schule war mit meinem alten Schwimmlehrer da, um mich zu sehen. Ich war ja inzwischen eine bekannte »Ehemalige«. Seit damals war eine Menge Wasser die Themse hinabgeflossen! Als ich hier zum letzten Mal geschwommen war, war ich selbst noch Schülerin gewesen. Es war der Tag, als Dad Fiona durch die Haustür warf. Fast erwartete ich, Dad unter den Zuschauern zu sehen, aber ich wußte, wie unmöglich

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Todes 2005: 110f., 111. Hull 1992: 26f., Kursivierung im Original. Bauby 1997: 17.

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das war. Seit seinem letzten Schlaganfall war er praktisch ans Haus gebunden. Aber mir war ziemlich unheimlich bei dem Gedanken.63 Beim Erleben zeitlicher Kontinuität kommen im Subjekt Affekte auf, die auf die Zukunft gerichtet sind und sich im Hoffen oder Befürchten äußern, oder solche, die aus der Vergangenheit stammen. Die Affekte können beglücken. Ich habe es als Kind nie geschafft, mehr als ein paar Minuten mit dem Kopf unter der Bettdecke zu bleiben. Einige Sekunden, bevor ich mich in panischer Angst befreien musste, um nach Luft zu schnappen, hatte ich immer das Gefühl, als würde ich wie ein prallvoller Ballon zerplatzen. Mehr als 25 Jahre später erwachte ich nach einem Luftröhrenschnitt unter meiner Bettdecke. Ich hatte sie unbewusst im Schlaf bis über meinen Kopf gezogen. Kein Herzklopfen, kein Schwitzen. Keine Frage: Ich hatte genügend Luft, um zu atmen. Die Beatmungsmaschine versorgte mich durch einen Schlauch mit Atemluft. Ich erinnerte mich an meine Kindheit und musste lächeln. Ein Kindheitstraum ging in Erfüllung. Wenn auch nur ein kleiner.64 In einem Augenblick bilden verschiedene Lebensabschnitte mit unterschiedlichen Ereignissen und Erfahrungen ein Ganzes. Für mich war die Rückkehr nach Kroatien mit den Lastwagen voller Prothesen der Schlüssen zu meinem Puzzle. Als dieses Stück an seinem Platz saß, ergaben auch viele andere Erfahrungen in meinem Leben einen Sinn. Alles, was bisher geschehen war, schien mich nur auf dieses Aufgabe vorbereitet zu haben. Wenn ich als Kind nicht so auf mich selbst gestellt gewesen wäre, wenn ich nicht so sehr hätte kämpfen müssen, um mir als Model einen Namen zu machen, wäre ich vielleicht nie so entschlossen gewesen, meinen Konvoi durchzubringen. Wenn Mum nicht nach dem drohenden Verlust ihres Beines allen Ärzten zum Trotz wieder getanzt hätte, hätte auch vielleicht ich gedacht, der Verlust meines Beines sei das Ende meines Lebens. Selbst mein Skuirlaub in Jugoslawien – ein ganz spontane Idee – scheint wesentlich mehr gewesen zu sein, wenn man bedenkt, wohin er geführt hat. Wenn ich nicht gefahren wäre, hätte ich Kroatien nie kennengelernt.65 Ohne dass die Kontinuität des Erlebens verloren geht, wandelt sich über die Zeit die Bedeutung, die das Subjekt einzelnen Lebensabschnitten gibt. Der Teil des Lichts, den meine Jahre in Birmingham repräsentierten, wurde ganz allmählich von Erinnerungen aus den Jahren meines Blindseins überlagert.66 Das Jetzt in einem größeren Zusammenhang: Vor dem Hintergrund der bewusst gelebten Vergangenheit und der erwarteten Zukunft versteht das Subjekt, sein gegenwärtiges Erleben selbst zu deuten und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Bewusst erlebt es den Unterschied zwischen jetzt und früher.

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Mills 1996: 256f. Balmer 2006: 36. Mills 1996: 281. Hull 1992: 160.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Ich habe einmal Bücher geliebt. Ich liebte es, mich mit meiner kleinen Sammlung von Büchern aus dem achtzehnten Jahrhundert zu befassen, die alte Schrift zu betrachten, mir die Holzschnitte oder Kupferstiche anzuschauen und über die alten handschriftlichen Einträge nachzudenken, die man oft auf den Innenseiten findet. Wenn ich heute ein neues Buch habe, macht es mir schon Freude, es in der Hand zu halten.67 Genauso bewusst erfasst das Subjekt, was sich im Jetzt an Früherem wiederholt. Es ist ein gewöhnlicher Morgen. Um sieben Uhr beginnt das Glockenspiel der Kapelle wieder jede Viertelstunde das Entschwinden der Zeit zu skandieren. Nach der nächtlichen Ruhepause fangen meine verschleimten Bronchien wieder an, laut zu rasseln. Meine verkrampft auf dem Bauch liegenden Hände tun mir weh, ohne daß ich entscheiden kann, ob sie heiß oder eiskalt sind. Um etwas gegen die Gelenksteife zu tun, löse ich eine Reflexbewegung aus, die Arme und Beine um einige Millimeter dehnt. Das reicht oft, um ein schmerzendes Glied zu entlasten.68 Indem das Subjekt das, was im Jetzt geschieht, mit seinen Vorerfahrungen vergleicht und daraus schließt, wie es weitergehen wird, findet es einen inneren Abstand, der ihm hilft, nicht seinem gegenwärtigen Erleben zu erliegen. Mit der Feststellung, dass der Übergang in Würzburg zum Zug nach Bayreuth ziemlich knapp sei, versetzte [der Schaffner; B.R.] mich in einen aufgeregten Wartezustand. Ich drückte meinen Rücken in den Sitz und redete mit mir: Du spinnst, du benimmst dich wie ein hilfloser Tattergreis. Du bist ein halbes Leben lang mit der Bahn unterwegs gewesen. Die stumme Rede half.69 Auch misst beim Erleben zeitlicher Kontinuität das Subjekt seine Gegenwart daran, inwieweit sie seinen übergeordneten Identitätszielen entspricht, und bewertet sie danach. Das hilft ihm auszuwählen, was gut für sein Selbst ist oder was es besser unterlassen sollte. Was also war ich kurz nach meiner Rückkehr [nach Hause; B.R.]? Ich war nicht mehr der klassische Patient, obwohl ich mich noch immer dagegen wehren mußte, wie ein typischer Patient zu reagieren. Ich war noch nicht wieder voll der gesunde Mensch mit dem naiven Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, der ich vor meiner Krankheit gewesen war.70 Weil das Subjekt seine Gegenwart in einem größeren Zusammenhang sieht, bleibt es gelassen, wenn sein Leben nicht gut zu laufen scheint. Es geht davon aus, dass sich das Jetzt wieder ändern und weder das Positive noch das Negative ewig andauern wird. In diesem Wissen vermag das Subjekt sich voll und ganz auf seine Gegenwart einzulassen. Den Tag der Feier genoss ich in vollen Zügen. Aus allen Richtungen der Schweiz reisten meine Freundinnen und Freunde zu mir. Ich wusste, das ich tags darauf ins Kranken-

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Hull 1992: 224. Bauby 1997: 7. Härtling 2007: 87f. Peinert 2002: 75f.

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haus eintreten musste, um mich einer kleinen, aber wichtigen Operation zu unterziehen.71 Schließlich ist es beim Erleben zeitlicher Kontinuität möglich, sich dem natürlichen Ablauf der Zeit mit ihren Phasen der besonders starken Bewegung und des scheinbaren Stillstands hinzugeben. Das Subjekt befürchtet dabei nicht, dass es sich in ihrem Fluss verlieren könnte. Ebenso vertraut es darauf, dass der Fluss der Zeit bestehen bleibt und nichts ewig dauert. Auch wenn seine Gegenwart noch nicht dem entspricht, was es sich wünscht, gewinnt das Subjekt Zuversicht, wenn es um den Weg weiß, den es zurücklegte, um hier zu sein, wo es jetzt ist. Es hat aber noch weit über ein Jahr gedauert, ehe ich durch die konsequent und regelmäßig weitergeführte Krankengymnastik langsam Schritt für Schritt ganz kleine Verbesserungen in meinem Bewegungsvermögen zu spüren begann. Als es mir schließlich hier und da gelang, auch einmal über etwas längere Strecken das linke Bein beim Gehen wieder lockerer durchzuschwingen und den Fuß normaler abzurollen, da fing ich an zu glauben, daß ich heimkehren werde!72 Das Besondere eines Augenblicks: Wie das Subjekt das Jetzt in einem größeren Zusammenhang zu sehen vermag, kriegt es das Besondere eines Augenblicks mit. Wenn der eine Augenblick das gesamte Erleben beherrscht, kann er zu einem Ärgernis werden. Seit einer halben Stunde ertönt der Alarm des Apparates, der meine Ernährung reguliert, ins Leere hinein. Ich kenne nichts Dümmeres und Abscheulicheres als dieses schrille »piep, piep«, das am Gehirn nagt.73 Bisweilen erfasst das Subjekt in solch einem besonderen Augenblick, dass der körperliche Umbruch das eigene Leben grundlegend veränderte. Das war wohl der Augenblick, in dem mir endgültig klarwurde, was geschehen war.74 Auch kann der besondere Augenblick dem Subjekt deutlich machen, dass sein Leben gefährdet ist. Es war dieser Novemberabend, der besonders bei mir, aber wohl auch bei Ärzten die Befürchtung konkrete Formen annehmen ließ, das Schwert des Damokles könne herabstürzen, bevor rettende Maßnahmen, eben die Operation durchgeführt werden konnte.75 Das Subjekt vermag genau den Zeitpunkt anzugeben, zu dem ihm bewusst wurde, dass sein Leben nicht mehr erfüllen wird, was es von ihm erhofft hat. Meine Betreuer haben mit mir eine Runde durch das Stockwerk gedreht, um zu überprüfen, ob die sitzende Haltung keine unkontrollierten Krämpfe auslösen würde, aber

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Balmer 2006: 138. Peinert 2002: 90. Bauby 1997: 59. Mills 1996: 226. Peinert 2002: 104f.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

ich bin ruhig geblieben, ganz damit beschäftigt, die brutale Abwertung meiner Zukunftsperspektiven zu ermessen.76 Indem beim Erleben zeitlicher Kontinuität das Wissen um die eigene Geschichte und die noch nicht verwirklichten Identitätsentwürfe und -projekte zusammenkommen, verschränken sich in einmaliger Art und Weise Erfahrungen aus der Vergangenheit und zukünftige Erwartungen ineinander. Immer wieder gibt es Momente, in denen das Subjekt merkt, dass die Gegenwart, in der es mit dem umbrochenen Körper lebt, anders ist als seine Vergangenheit vor dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit, denn es kann nicht umhin, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Gerade aus der Kontinuität des Zeiterlebens wird dem Subjekt deutlich, dass etwas zu Ende gegangen ist und dass es sich nun etwas Neuem stellen muss. Jedes Mal, wenn ich nun noch einmal an einem dieser Orte bin [, die ich als Blinder noch nicht wieder besucht habe; B.R.], wird mir schmerzlich bewußt, daß ich keine neuen visuellen Bilder aufnehmen, die vorhandenen Erinnerungen nicht auffrischen, Veränderungen nicht gedanklich festhalten und nicht mehr herausfinden kann, was hinter dieser Wegbiegung liegt, wohin zu gehen ich früher keine Zeit hatte. Statt dessen muß ich jetzt ganz von vorn anfangen, wobei mir zwar die visuellen Erinnerungen bis zu einem gewissen Umfang helfen, dennoch muß ich die Stadt als Teil einer anderen Welt neu kennenlernen.77 Das Subjekt kann angeben, was an früheren Erfahrungen in einem Augenblick lebendig wird, und ebenso, was sich in ihm löst. [M]ittlerweile kann ich mich ohne Hilfe im Einbeinkniestand halten. Eine Position, die seit Jahren für mich sehr schwierig war, wenn nicht sogar unmöglich. Das ist jetzt kein großes Problem mehr für mich – sicherlich ein Erfolg der besseren krankengymnastischen Voraussetzungen.78 Auch nimmt das Subjekt wahr, wenn sich gerade etwas wiederholt, was ihm bekannt ist, und genauso, wenn etwas geschieht, was ihm unbekannt ist. Wenn ich heute zurückblicke, glaube ich, daß ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal als Blinder in meiner eigenen Welt, in der ich mich gefahrlos und leicht bewegen konnte, das Gefühl von Gelassenheit und Vertrauen hatte.79 Das Besondere des Augenblicks fällt dem Subjekt auf, ohne dass es ihm schon eine Dauer zugestehen will. Heute wache ich morgens wieder ohne Durchfall, Schwitzen, Zittern und Hyperventilieren auf. Wenn die erlebte, lebensbedrohliche Situation nicht wieder da ist.80 Zu einem benennbaren Zeitpunkt wird etwas Einmaliges erlebt. 76 77 78 79 80

Bauby 1997: 10. Hull 1992: 161. Ruscheweih 2005: 69. Hull 1992: 172. Balmer 2006: 94.

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Wenn Gefühl leichter in Worte zu setzen wäre, könnte ich vielleicht mehr als eine Ahnung des »Himmelhochjauchzend« vermitteln, in das mich die Tage in Assen versetzten. Es war unbeschreiblich schön, so etwas hatte ich noch nie erlebt.81 Wenn im Erleben zeitlicher Kontinuität der eine besondere Augenblick hervorsticht, verdichtet sich in ihm die Zeit. Das Subjekt ist von seinem Erleben überwältigt. Es sind diese Momente, in denen ich mich mit der Natur vereint fühle, während denen mich unendliche Dankbarkeit und Freude einholen. Momente, die mich demütig sein lassen und mich zu Tränen rühren. Endlichkeit wandelt sich in Unendlichkeit. Es gibt keine Worte für das, was ich im Herzen spüre, was ich mit meinem Intellekt zu verstehen versuche.82 Auch ist es möglich, mit der Alterität eine besondere Zeit zu erleben. Wir feiern Vatertag. Bis zu meinem Hirnschlag hatten wir nicht das Bedürfnis, dieses aufgezwungene Miteinander in unseren Gefühlskalender einzutragen, aber jetzt verbringen wir diesen symbolischen Tag zusammen, wahrscheinlich um zu bezeugen, daß eine Andeutung, ein Schatten, ein Stückchen Papa immer noch ein Papa ist.83 Bezogen auf die Alterität erkennt das Subjekt auf einmal, dass Selbst- und Fremdbild nicht übereinstimmen. Ich stand an der Ampel in der Bristol Road und wartete auf den Piepton. Plötzlich empfand ich ganz stark den Kontrast zwischen dem Anblick, den ich bot, und dem Selbstgefühl. Alle diese Leute, die da in ihrem Auto vorbeirasten, dachten sicherlich: »Ach Gott! Da steht ja ein Blinder. Hoffentlich tritt er nicht gerade vor mir auf die Straße. Möchte wissen, ob er das schafft. Ich sollte vielleicht langsamer fahren oder nachsehen, ob er Hilfe braucht. Möchte wissen, warum er keinen Hund hat.« Innerlich war ich jedoch heiter, fühlte mich kompetent und in einer Situation, die ich, wie ich wußte, bewältigen konnte.84 Oder in einem Augenblick nimmt das Subjekt die Anerkennung bewusst wahr, die es von der Alterität erhält. Der 4. Dezember 1994, das war der Tag, an dem ich Franziska von Almsick und Steffi Graf besiegt habe, ohne geschwommen zu sein oder zum Tennisschläger gegriffen zu haben. 6,78 Millionen Fernsehzuschauer staunten vermutlich genauso ehrfürchtig als ich, als der TED-Balken bei der Wahl der »Sportlerin des Jahres«, der meine Stimmen repräsentierte, immer noch weiter nach rechts lief, als der von Franziska von Almsick und Steffi Graf längst stehengeblieben war.85 Das bewusste Erleben der Zeit: Zur Kontinuität des Erlebens gehört nicht nur, dass das Subjekt in der Lage ist, die verschiedenen Abschnitte seines Leben zu verbinden, das 81 82 83 84 85

Buggenhagen 1996: 64. Balmer 2006: 29. Bauby 1997: 71f. Hull 1992: 171. Buggenhagen 1996: 67.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Jetzt in einem größeren Zusammenhang zu sehen und das Besondere eines Augenblicks zu erkennen, sondern auch, dass es die Zeit als solche bewusst zu erleben vermag. Das geschieht, als die körperlichen Veränderungen den gewohnten Alltag unterbrochen haben. Wie schnell doch die Zeit verging und durch wie viele Berge von Briefen, Rechnungen, Anfragen, Mahnungen, Mails, Telefonanrufen und nicht zu vergessen Besuchen man sich nach lediglich vier Wochen Krankenhausaufenthalt durchschlagen darf oder muss.86 Auch trägt der stete Wechsel der körperlichen Befindlichkeit über einen längeren Zeitraum hinweg zum bewussten Erleben der Zeit bei. Das letzte Jahrzehnt war ein dauerndes Auf und Ab der MS-Symptome, aber auch die unvermeidbaren Verschleißerscheinungen durch die andauernden Fehlbelastung machen mir das Leben nicht gerade einfacher.87 Durch den körperlichen Umbruch muss das Subjekt wahrnehmen, dass sein Leben unterschiedliche Zeitabschnitte aufweist, nämlich dass einer zu Ende ging und ein neuer begann, dass aber beide von demselben Selbst gelebt werden. Wenn das Verschwinden des letzten Lichtfleckens mir sagt, daß ich mich auf neue Weise im Raum orientieren muß, dann sagt es mir auch, daß ich mich auf neue Weise in meinem Leben orientieren muß. Ich befinde mich jetzt in blinder Zeit, nicht in sehender Zeit.88 Aus seiner Körperlichkeit heraus ist das Subjekt nicht nur damit vertraut, dass sein Leben unterschiedliche Abschnitte aufweist, sondern auch, dass seine Lebenszeit an sich begrenzt ist. Seit Wochen liege ich nun sterbend im Bett. Schweißgebadet, unruhig, den Schlaf nicht findend aus Angst, nie mehr aufzuwachen.89 Aber das Subjekt erlebt mit dem eigenen Körper auch, wie sich aus dem Erleben einer toten Zeit wieder eine Öffnung in die zeitliche Kontinuität und damit in eine lebendige Zeit ergibt. Durch den Rollstuhl, das begriff ich endlich, wurde ich nicht stärker behindert, sondern er nahm mir sogar Behinderungen. […] Es gab wieder so etwas wie eine Zukunft, wo vorher nur ein schwarzes Loch gähnte.90 Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit führt dazu, dass das Subjekt seine Zeit anders als zuvor erlebt. Das unterschiedliche Erleben ergibt sich daraus, dass das Subjekt sein heutiges Zeiterleben mit seinem früheren vergleicht. Oder der Unterschied wird

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Balmer 2006: 103. Lürssen 2005: 37. Hull 1992: 161f. Balmer 2006: 134. Buggenhagen 1996: 44.

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dadurch wahrgenommen, dass das Subjekt sein heutiges Zeiterleben mit dem der Alterität vergleicht. Die Zeit ist für Sehende das, wogegen sie kämpfen. Für mich als Blinden ist Zeit einfach das Medium meines Tuns. Es ist jener unerbittliche Kontext, innerhalb dessen ich tue, was getan werden muß. Daß ich es anscheinend gar nicht eilig habe, wenn ich durch das Gebäude gehe, bedeutet nicht, daß ich weniger zu tun habe als meine Kollegen, ich kann nur einfach nicht schneller gehen.91 Das aus der Körperlichkeit gewonnene Wissen um die Begrenztheit der Zeit verstärkt das bewusste Erleben in der Zeit, mag die Spanne für das Subjekt auch noch so kurz sein. Tränen rannen über meine Wangen, vermischten sich mit meinem Blut. Ich schloss meine Augen. Ein Schmetterling liess sich auf meiner Brust nieder und wärmte sich an der herbstlichen Sonne. Ich spürte, dass ich nur noch wenige Minuten zu leben hatte, und wollte den Augenblick zwischen Leben und Tod auf meinem unbekannten Weg, den ich nach meinem Leben beschreiten würde, mitnehmen.92 Im Bewusstsein um die eigene Zeit und damit notwendigerweise auch um deren Begrenzung geht das Subjekt der Frage nach, wie sich ein authentisches Leben in der Zeit führen lässt. Gerade weil es die Zeit bezogen auf die Möglichkeiten des Lebens als zu kurz empfindet, fühlt es sich dazu veranlasst, sie zu nutzen. Die Begrenztheit der Zeit lässt das Subjekt danach streben, die übergeordneten Identitätsziele umzusetzen und die Identitätsentwürfe und -projekte zu verwirklichen, die aus seinen bisherigen Erfahrungen gewachsen sind. Was ich nicht kann, regt mich nicht auf, weil es nicht veränderbar ist. Was ich dagegen kann oder könnte, das regt mich an und im positiven Sinne auf. Meine Lebenszeit wird nicht ausreichen, alles auszuprobieren.93

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Die Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen

Das Innen und das Außen: Für das Subjekt, das mit einem umbrochenen Körper lebt, ist schließlich das Kohärenzempfinden deshalb hoch, weil die inneren und äußeren Grenzen flexibel sind. Das Subjekt ist dazu fähig, sich entsprechend den eigenen Bedürfnissen und fremden Erwartungen gegenüber dem Selbst und gegenüber der Alterität zu öffnen und zu schließen. Damit nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen wieder neu erreicht wird, müssen das Innen und das Außen aufeinander bezogen sein und sich miteinander in einem Austausch befinden. Das gilt auch dann, wenn der körperliche Umbruch verändert, wie sich innen und außen zueinander verhalten.

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Hull 1992: 95. Balmer 2006: 12. Buggenhagen 1996: 66f.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Als Blinder neige ich dazu, in erster Linie meinen Körper wahrzunehmen, mich in ihm eingeschlossen und von der Welt abgeschnitten zu fühlen. […] Mein Körper tut ganz genau das, was ich ihn in der Welt tun lassen will, aber er hat keine Welt, in der er das tun kann. […] Ich kann sehr gut gehen, aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich habe keine Welt, in der ich gehen kann […].94 Nach einem Ereignis wie dem körperlichen Umbruch fällt es dem Subjekt leichter, die Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen wiederzugewinnen, wenn es in einer Beziehung zur Alterität steht, die ihm Halt gibt. In solch einer Beziehung wird dem Subjekt feinfühlig auf die Bedürfnisse geantwortet, die sich aus der veränderten Körperlichkeit ergeben, ohne dass sich der jeweils Andere in der Identifikation mit ihm verliert. So findet das Subjekt wieder oder erstmals eine Sprache für das, was ihm und seinem Körper geschehen ist, weil ihm zugehört wird, wenn es erzählt, und wird es in der Angst getragen, wenn es sich daran macht, zu viel Öffnung wieder zu schließen oder zu viel Verschlossenheit wieder zu öffnen. Flexible innere und äußere Grenzen erlauben es dem Subjekt, sich in seiner Identität klar gegenüber dem eigenen Unbewussten und der inneren Welt sowie gegenüber der Alterität und der äußeren Welt zu bestimmen und zu vertreten. Es ist in der Lage, sich in der Beziehung zu beiden als eigenständig, aber doch verbunden zu erleben und sein Verhältnis zu beiden, nach innen wie nach außen, nach seinen übergeordneten Identitätszielen zu gestalten. Mit seinem umbrochenen Körper vermag das Subjekt zwischen dem, was es sensomotorisch aus der äußeren Welt aufnimmt, und dem, wie es den Sinneseindruck in seinem Inneren verarbeitet, zu unterscheiden. Das rechte Ohr ist völlig verstopft, und links verstärkt und verzerrt meine Eustachische Röhre alle Töne jenseits von zwei Meter fünfzig. Wenn ein Flugzeug über den Strand fliegt und das Werbeband des hiesigen Vergnügungspark hinter sich herzieht, habe ich ein Gefühl, als hätte man mir eine Kaffeemühle auf das Trommelfell gepfropft.95 Die flexible Abgrenzung nach innen: Wenn das Subjekt wieder über eine flexible Abgrenzung nach innen verfügt, ist es auf ein Selbst bezogen, zu dem auch das veränderte Körperselbst gehört. Es kann das Geschehen in seinem Selbst ordnen und gestalten. Die innere Welt und das, was dem Subjekt davon bewusst wird, belastet es nicht, sondern bereichert es. Das Subjekt nimmt Träume, Phantasien und Intuitionen, Einfälle und Erinnerungen wahr, kann sie auf seinen Alltag beziehen und fügt Inneres und Äußeres stimmig zusammen. [I]n meinem Bewußtsein bringe ich das Traumbild des riesigen, wassergefüllten Schiffsrumpfes, der immer weiter in die Tiefe hinabgezogen wird, mit meinem Tagtraum über die kleine Kohlelore, die erbarmungslos immer tiefer unter das unendlich schwere Gewicht des Berges gekarrt wird, in Zusammenhang. Das verbindende Element ist eine unbezwingbare Schwere.96

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Hull 1992: 178f. Bauby 1997: 95. Hull 1992: 68.

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Gleichzeitig ist das Subjekt auf sein Selbst und auf die äußere Umgebung bezogen. Auch wenn es die eigenen Bedürfnisse zulässt und gegenüber der Alterität nach außen vertritt, unterscheidet es weiterhin zwischen seiner inneren und der äußeren Welt. Es findet Wege, im Außen der Umwelt oder der sozialen Systeme zu verwirklichen, was ihm in seinem Innen wesentlich ist. Ebenso kann es die Emotionen, die im Austausch mit der äußeren Welt entstanden sind, als eigene Gefühle erleben, benennen und aushalten. Das Subjekt vermag seine innere Welt zu nutzen, um mit ihr seine Außenwelt genauer als zuvor zu erkennen. Auch wenn es ihm nicht leicht fällt, der Alterität seine innere Welt zu zeigen, ist das Subjekt bereit, sich nach außen zu öffnen und der Alterität mitzuteilen, was es in sich gefunden hat. Denn mein ungutes Gefühl umklammerte mich. »Ich spüre, dass ich nie mehr nach Hause kommen werde«, erklärte ich und schaute beschämt zu Boden.97 Weil die inneren Grenzen flexibel sind, empfindet das Subjekt das innere Erleben bewusst. Es merkt, wie es in seinem Fühlen, Denken und Handeln von seinem Selbst beeinflusst wird. Die Atmosphäre dieses Traumes war friedlich und wohltuend. Ich erwachte mit dem Gefühl, eine Offenbarung erhalten zu haben, Zeuge von etwa Ehrfurchtgebietendem gewesen zu sein.98 Umgekehrt versteht das Subjekt dann auch, sein Erleben in der äußeren Welt mit seinem Selbst zu verbinden. Es öffnet seine Grenzen nach innen und wird zu Erinnerungen veranlasst, die es weit weg von dem Ort und der Zeit führen, wo es sich mit seinem umbrochenen Körper gerade aufhält. Es dehnt damit seine Identität über Raum und Zeit hinweg aus. Im Taxi, auf der Fahrt zum Hotel, fällt mir ein, dass Wilhelmshaven der Geburtsort meines Freundes Helmut war, Helmut Heißenbüttel, den die Schläge ins Hirn in den Rollstuhl gedrückt hatten. Im Rollstuhl besuchte er die Jahrestagungen der Berliner Akademie, wortlos und lächelnd. Oft standen wir in einem Halbkreis um ihn, redeten über sein Schweigen weg, lauter haltlose Sätze, die er vor seinem Verstummen mit Laune und nicht ohne Bosheit zitierte.99 Wenn sich das Subjekt dem Außen zuwendet, kann es so angeregt sein, dass es von seinen inneren Empfindungen überschwemmt wird. Falls es sich dabei so weit öffnet, dass es von seinen Affekten beherrscht wird, muss es sich bemühen, seine zu weit geöffneten Grenzen wieder zu schließen, um handlungsfähig zu bleiben. »Wenn Sie auf die Bühne müssen, kommen Sie dann die Rampe hoch?«, wurde ich gefragt, und in der Tat sah ich eine ziemlich steile Auffahrt, die nur mit einem mittleren Kraftakt zu bewältigen war. Aber wieso Bühne? Mußte ich denn auf die Bühne? Ich bekam nasse Hände, in meinem Bauch begann es zu rumoren, ich hatte Angst, Blase und

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Balmer 2006: 138. Hull 1992: 55f. Härtling 2007: 77.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Darm könnten verrückt spielen. Fast wie in Trance erlebte ich die nächsten Minuten […].100 Sich auf ein äußeres Geschehen einzulassen, geht mit einer Öffnung nach innen einher, die das Subjekt zuversichtlich in die Zukunft schauen lässt. A capella bauen sie mir ein wunderbares Drinnen: Ich schaue die erste Reihe lang, die »Kleinen«, die Soprane, eine Serie von Porträts im Stile Wilhelm Buschs, offen, neugierig, frech, beseelt von Bach und barocken Chören, und ich beginne mich auf die Reihe zu freuen.101 Oft tritt das innere Erleben für das Subjekt dann besonders deutlich hervor, wenn sich sein sensomotorischer Körper wenig mit der äußeren Welt austauscht. Die Stille gab mir die Möglichkeit, mich in meine Gedanken zu vertiefen. Ich erinnerte mich an verstorbene Freunde, Familienangehörige und Bekannte. Ob sie mich sehen konnten?102 Die flexible Abgrenzung nach außen: Wenn sich das Subjekt nach außen flexibel abgrenzen kann, führt es mit dem veränderten Körper ein Leben, das durch die Ereignisse, die im Außen geschehen, nicht beeinträchtigt, sondern erfüllt wird. Es versteht, die eigenen Bedürfnisse in seine Umwelt einzubringen und auf die äußeren Bedingungen seines Lebens in dem von ihm gewünschten Sinn einzuwirken. Was es im Außen erlebt, verknüpft das Subjekt mit seinen Vorerfahrungen und, wie es dieses Ereignis verarbeitet, regt es zu Handlungen an, die seinen übergeordneten Identitätszielen entsprechen. Das Subjekt ist bereit, der Alterität zu zeigen, welche Vorstellungen in ihm sind, und fühlt sich frei, ihr gegenüber seine Identität zu entäußern. Das Abgrenzen des Außen, das dem Subjekt nicht entspricht, und das Öffnen zu dem Außen, in dem es sich verwirklichen will, gehen ineinander über. Am Ende beschloß ich, die Beamten zu umgehen und mich direkt an die Spitze zu wenden. Als ich das nächste Mal ins Ministerium ging, verlangte ich eine Unterredung mit Dr. Vladimir Tonkovič, dem Gesundheitsminister.103 Das Subjekt versteht die Gestaltung des Außen mit einer überzeugenden Erklärung seines Handelns zu verbinden. Damit es dazu in der Lage ist, muss es sich seinem Selbst zuwenden, um die Bedürfnisse, die ihm und dem umbrochenen Körper entsprechen, genau zu erkennen, und sie in Worte fassen. Die Öffnung nach außen ist mit einer nach innen verbunden, und das Innere wird nach außen gebracht. Noch häufiger aber führen mich Leute, indem sie selber den Stock anfassen und damit auf Dinge zeigen, sie antippen und »Da« sagen. Meist klopfen die Leute mit dem Stock auf die jeweils nächste Treppenstufe. Ich setze ihnen dann freundlich auseinander, daß ich, wenn ich den Stock nicht selber halte, nicht die Informationen bekomme, die ich

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Buggenhagen 1996: 67f. Härtling 2007: 75. Balmer 2006: 12. Mills 1996: 262.

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Körperlicher Umbruch

benötige. »Bitte lassen Sie den Stock los«, sage ich, »lassen Sie mich nur Ihren Arm anfassen.«104 Aus seinem angepassten allgemeinen Identitätsempfinden und den Vorerfahrungen, zu denen auch die des körperlichen Umbruchs gehören, verfügt das Subjekt über eine Haltung, die es gegenüber der Alterität vertritt. Falls sie ihm nicht zustimmt, hält das Subjekt ihren Widerspruch aus, denn es empfindet seinen Standpunkt als wahr. Um sich zu behaupten, verbindet das Subjekt seine Ansicht mit seinem momentanen Affekt. [Renata; B.R.] drehte sich ziemlich ratlos zu mir um. »[Der Polizist; B.R.] sagt, heute sei Allerheiligen, der Tag, an dem sie die Toten ehren. Wir können morgen wiederkommen.« Da explodierte ich. »Tote ehren! Und was ist mit den Lebenden? Wer ehrt die?«105 Gleichzeitig ist das Subjekt bei flexiblen Grenzen nach außen in der Lage, sich auf seine Umwelt einzulassen. Mit seinem Körper nimmt es sie in sich auf. Durch die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch versteht es, diese Aufnahme der Welt in den Körper auf eine Weise zu tun, die ihm entspricht. [I]ch beobachte, daß ich häufig schon weiß, ob das Licht in einem Zimmer an ist oder nicht, wenn ich mich einfach mit nach oben gewandtem Gesicht unter die Lampe stelle. Ich spüre es jetzt auch viel deutlicher, wenn mir die Sonne ins Gesicht scheint. Meine ganze Haut nimmt offenbar Veränderungen des Luftdrucks und der Temperatur, Wind und Sonne viel feiner wahr.106 Auch vermag das Subjekt sich mit der Alterität zu verbinden und zu ihr Nähe herzustellen. Es erkennt die Befindlichkeit der Anderen und lässt sich von ihrem Schicksal berühren. Weil sich das Subjekt nach außen öffnet und es aufnimmt, was es von der Alterität bekommt, wird es von ihr in seinem Selbst erreicht. Andere Briefe schildern ganz schlicht die kleinen Dinge, die das Vergehen der Zeit anzeigen. Rosen, die in der Dämmerung gepflückt wurden, das Faulenzen an einem verregneten Sonntag, ein Kind, das vor dem Einschlafen weint. Direkt aus der Realität gegriffen, bewegen mich diese Lebenssplitter, dieses Aufwallen von Glück mehr als alles andere.107 Dadurch, dass sich das Subjekt der Alterität gegenüber öffnet, wird es in seinen Erfahrungen angerührt. Weil es sich nach innen öffnet, sind dem Subjekt die Gefühle, die von der Alterität in ihm hervorgerufen werden, bewusst. Natürlich macht es mich betroffen, wenn ein 14jähriger Junge nach einem Badeunfall mit Halsmarkschaden in die Klinik eingeliefert wird. Doch auch dann bemühe ich mich darum, Stärke herauszukehren. Es gibt immer Wege, auf denen es weitergeht.108

104 105 106 107 108

Hull 1992: 53f. Mills 1996: 273. Hull 1992: 219. Bauby 1997: 83. Buggenhagen 1996: 97.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Ohne sein Selbst zu verlieren, kann das Subjekt Erfahrungen, die von der Alterität mitgeteilt werden, in seine Identität aufnehmen. Es vermag sich von ihnen berühren zu lassen und sie für sich überprüfen, ehe es sie gegebenenfalls übernimmt. Zufällig bin ich auf eine wunderbare, mich zu Tränen rührende Wiedergabe dieses Liedes von Joan Baez und Mercedes Sosa gestossen. Die warme, mütterliche Stimme von Mercedes Sosa, umhüllt von Joan Baez’ Sopran, zieht mich in erfüllende, wenn auch zugleich traurige, von Sehnsucht getränkte Gedanken.109 Durch die Öffnung nach außen begegnet dem Subjekt eine Alterität, von deren Existenz es bis dahin nichts ahnte. Sie tritt in sein Leben ein und bereichert es. Manchen [Briefen; B.R.] fehlt es nicht an Ernst. Sie sprechen vom Sinn des Lebens, von der Überlegenheit der Seele, vom Mysterium jeder einzelnen Existenz, und in einer seltsamen Umkehrung behandeln die, mit denen ich die oberflächlichsten Beziehungen hatte, diese Grundfragen am ausführlichsten. Ihre Unbekümmertheit verbarg Tiefen. War ich blind und taub, oder bedarf es unbedingt der Beleuchtung durch ein Unglück, um einen Menschen in seinem wahren Licht zu zeigen?110 Selbst wenn die Alterität nicht besonders genau wahrgenommen wird, gibt sie dem Subjekt Halt, wenn es sich ihr gegenüber öffnet. Als ich zur Decke hochblickte, tauchten Gesichter wie geisterhafte Masken über mir auf und verschwanden wieder. Es waren vertraute Gesichter, die leise tröstende Worte von sich gaben – Raffaele, Großmutter, Shane und Ian. Sie lösten einander ab, bis nur noch meine Schwester Fiona übrigblieb.111 Aus der Öffnung nach außen und der Hinwendung zur Alterität kann sich eine Gemeinschaft bilden. Die Verbundenheit mit der Alterität trägt dazu bei, eine Bedrohung, die dem Subjekt von außen zustößt, zurücktreten zu lassen. Mir wird klar, dass wieder der Blitz eingeschlagen hat und der Notstrom sich einschaltet. Ohne grossen Lärm, Donner und Lichter am Himmel. Ich bin alleine im Zimmer. Obschon mich die Beatmungsmaschine zuverlässig weiter beatmet, fühle ich mich bedroht. […] Die Pflegerin holt im Stationszimmer eine Taschenlampe. Wir ziehen uns die Bettdecke über den Kopf und singen lustige Lieder, während die Pflegerin mit dem Taschenlampenlicht Kreise zeichnet. Plötzlich müssen wir beide schallend lachen, was die anderen Pflegerinnen in mein Zimmer holt. Wir erzählen uns Geschichten und lenken uns vom Brummen des Notstromaggregats ab.112 Die Öffnung nach außen und die Hinwendung zur Alterität kann aber nicht nur dann gesucht werden, wenn eine Grenze nach außen, sondern auch dann, wenn sie nach innen dem eigenen Selbst gegenüber gezogen werden soll. Sobald es gelingt, wird das Subjekt von Affekten entlastet, die ansonsten die Kohäsion des Selbst bedroht hätten.

109 110 111 112

Balmer 2006: 31. Bauby 1997: 83. Mills 1996: 7. Balmer 2006: 43, 44.

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Körperlicher Umbruch

Als Renata und ich an diesem Abend ziemlich niedergeschlagen vor dem Hotel spazierengingen, hörten wir Musik. Dann sahen wir ein paar Leute auf der Straße tanzen und merkten, daß im Konferenzzentrum gegenüber ein Pop-Konzert stattfand. Ein Pop-Konzert mitten im kriegszerrissenen Kroatien! Star des Abends war zudem David Byrne, Sänger der Gruppe »Talking Heads«, und da Renata und ich beide Byrne-Fans waren, beschlossen wir, ihn uns anzusehen. Dabei verging die Zeit, und meine Gedanken wurden zumindest vorübergehend von den Prothesen abgelenkt.113 Ebenso kann die Öffnung nach außen das Subjekt veranlassen, sich zusätzlich nach innen zu öffnen. Diese von außen angeregte Öffnung nach innen kann dazu führen, dass in seinem Selbst etwas geschieht, das es gar nicht zu benennen vermag, sondern lediglich in sich spürt. Ich lausche den Klängen klassischer Musik, die bis tief in meinen Körper dringen. Ich bin tief berührt, es friert mich und meine Körperhaare stellen sich auf.114 Das Subjekt entdeckt in seinem Selbst Vorstellungen, die es im Außen wiederfindet, sodass in einem Augenblick innen und außen in eins zusammenfallen. Ich versenke mich in die Betrachtung einer Zeichnung von Céleste, die gleich an der Wand aufgehängt wurde. Eine Art Fisch mit zwei Köpfen, von blauen Wimpern gesäumten Augen und bunten Schuppen. Das Interessante an der Zeichnung sind nicht diese Einzelheiten, sondern ihre Form, die auf verwirrende Weise dem mathematischen Symbol für Unendlich entspricht!115 Das Bedürfnis zum Schließen der Grenzen: Zur Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen gehört nicht nur, dass das Subjekt sie nach seinen Bedürfnissen öffnet, sondern auch, dass es in der Lage ist, sie zu schließen, wenn es ihm darauf ankommt. Das Bedürfnis, die Grenzen nach innen zu schließen, lässt sich darauf zurückführen, dass das Subjekt unbeeinflusst von seinen inneren Empfindungen leben oder handeln will. Für eine gewisse Zeit will es den Austausch zwischen seinem Körper, seinem Selbst und seiner Identität vermeiden. Es gibt nicht nach innen, was ihm in der äußeren Welt geschieht, und lässt sich von dem Außen innerlich nicht berühren. Ebenso kann das Subjekt bemüht sein, zurückzuweisen, was aus seinem Inneren hochsteigt, damit seine Identität nicht dadurch erschüttert wird; es bleibt unbewegt von seinen Vorerfahrungen oder Erinnerungen. Dieses Schließen der Grenzen nach innen kann so weit gehen, dass das Subjekt die äußere Welt herbeisehnt, um nicht von dem beherrscht zu werden, was in seinem Inneren an Affekten, Bildern oder Empfindungen geweckt wurde, und um sich nicht mit dem befassen zu müssen, was es in sich empfindet. Endlich wird es Morgen und meine Angst kann schlafen gehen. Die Vögel beginnen zu singen, die Frösche künden die Morgendämmerung mit heftigem Quaken an. Ich schaue aus dem Fenster. Das Morgenlicht beruhigt mich. Die Welt fängt an zu »leben«. Ich ziehe die Bettdecke über den Kopf. Jetzt kann es dunkel sein. Ich bin ja nicht 113 114 115

Mills 1996: 272. Balmer 2006: 133. Bauby 1997: 76.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

mehr alleine. Die Welt hat den Morgen wieder. Es werden bald genügend Menschen da sein, die meinen Schlaf überwachen können, die ein »Nicht-wieder-Aufwachen« verhindern. Erleichtert, beruhigt döse ich allmählich ein.116 Dagegen kann das Bedürfnis, die Grenzen nach außen zu schließen, dadurch bedingt sein, dass das Subjekt unbeeinflusst von äußeren Einwirkungen für sich bleiben will. Für eine gewisse Zeit will es den Austausch zwischen seinem Selbst und den Anderen, zwischen Identität und Alterität vermeiden. »Guten Morgen«, grüsst mich eine Dorfbewohnerin. Ich erwidere freundlich den Gruß und versuche, schnellstmöglich meine Einkäufe zu erledigen. Heute ist nicht einer dieser Tage, an denen ich über meine Krankheit sprechen möchte, geschweige denn mit fremden Leuten philosophieren.117 Das Subjekt zieht sich in seine innere Welt zurück, vertraut nicht dem, was ihm von außen entgegenkommt, und greift nicht auf, was um es herum geschieht. Maestro Beringer setzt sich zu uns. Auf empfindliche Menschen wie ihn, die Stimmungen aussenden, reagiere ich vorsichtig. Es hängt meistens von der Situation, vom Verlauf eines Gesprächs ab, wann der eine schrill oder ausfällig wird.118 Bisweilen wird das innere Erleben so stark, dass dem Subjekt nichts übrig bleibt, als sich der Alterität gegenüber abzugrenzen. Ich spürte in mir wiederum Urängste aufkommen, raufte mir die Haare und schwitzte. Ich konnte keine Musik, keine Filme, keine Witze – nicht einmal mehr makabrer Art, wie ich sie selbst immer erzählt hatte – mehr ertragen. Kein Lachen konnte mich zum Lachen bringen und wenn, dann kam es ganz bestimmt nicht aus der gewohnten Tiefe. Ich wurde gar wütend und zugleich traurig.119 Auch kann es sein, dass das Subjekt nicht nach außen geben will, was in ihm ist. Es zeigt sich anders, als ihm wirklich zumute ist. Oder es schweigt, verbirgt sein Inneres und zieht sich ganz zurück. »Diese traumatisierten Kinder«, sagt eine Frau am Tisch, »sind ja geradezu Mode geworden. Sogar im Radio wird ständig über ihre Schicksale diskutiert.« »Aber«, wendet eine weitere Dame ein, »die haben sich noch nicht als lebendige Bomben missbrauchen lassen.« Ich bitte den Kellner, mir ein Taxi zu rufen.120 In dem Fall, dass das Subjekt seine inneren oder äußeren Grenzen zu weit geöffnet hat, muss es in der Lage sein, sie wieder zu schließen. Das kann die inneren Grenzen betreffen.

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Balmer 2006: 63. Balmer 2006: 59. Härtling 2007: 80f. Balmer 2006: 128. Härtling 2007: 76.

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Körperlicher Umbruch

Mein Infusionsschlauch ist mit einem blauen Stöpsel versehen. Und ganz plötzlich erwache ich erneut aus tiefem Schlaf und bin der festen Überzeugung, dass sich dieser blaue Stöpsel meiner Infusion in meiner Beatmungskanüle befindet. Ich spüre ein »Spicken«, das ich verwirrt als den blauen Stöpsel wahrnehme. Panik ergreift mich, weil ich den blauen Stöpsel in meinen Lunge vermute. Ich huste heftig, um ihn loszuwerden, diesen elenden blauen Stöpsel. Wie kann ich etwas loswerden, das gar nicht ist? Ich hatte nur einen schrecklichen Traum.121 Oder das kann die äußeren Grenzen betreffen. Nur einmal, nach etwa einem Jahr, hatten wir so etwas wie eine kleine Ehe-Krise. Jörg hat sich so untergeordnet, daß er praktisch nicht mehr er selbst war: Ja, Marianne, aber gewiß, Marianne, Du hast recht, Marianne … Ich will kein Spielzeug, sondern einen Mann mit eigener Meinung, habe ich ihm gesagt. Es war ein reinigendes Kurzgewitter.122 Bisweilen braucht das Subjekt das Schließen nach innen und nach außen, um sein Selbst zu bewahren. Mich zurückzuziehen, ob innerlich oder äußerlich, war meine einzige Schutzmöglichkeit.123 Das Aufheben der Grenzen: Um nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit das Kohärenzempfinden wieder zu vergrößern, muss das Subjekt fähig sein, seine inneren und äußeren Grenzen vorübergehend aufzuheben. Ich hatte zuvor ein paar Tage Zeit, Vor- und Nachteile eines für mich überlebensnotwendigen Eingriffes abzuwägen. Ich stand an einer Kreuzung meines Weges und wurde darüber aufgeklärt, dass es nur zwei Möglichkeiten gebe: sterben oder leben. Ich stand in einem massiven Zwiespalt. Immer wieder holte mich das innige Bedürfnis ein, meine verstorbene Grossmutter endlich in meine Arme schliessen zu können. […] Andererseits wollte ich überleben. Zahlreiche Menschen und Aufgaben sowie auch ich selber erwarteten von mir, dass ich lebe.124 Je bereitwilliger sich das Subjekt einem Geschehnis, das es nicht sofort mit Vorerfahrungen abzugleichen weiß, zu überlassen vermag, desto eher kommt es dazu, sich in seinem Selbst zu entwickeln, einzelne Teilidentitäten miteinander zu verknüpfen und sich Ressourcen zu erschließen. Durch die vorübergehende Entgrenzung des Selbst fällt das Subjekt hinter die bisher erreichte intrapsychische Differenzierung zurück und gestaltet durch die Verknüpfung des gegenwärtigen Ereignisses mit seinen Vorerfahrungen die innere Struktur neu. Wenn diese Entgrenzung die inneren Grenzen aufhebt, vermag das Subjekt zeitweise nicht zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden.

121 122 123 124

Balmer 2006: 41. Buggenhagen 1996: 79. Hull 1992: 174. Balmer 2006: 149.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Eine schreckliche Atmosphäre von Grauen und Hilflosigkeit erfüllte den Traum. Mein Denken war völlig in Anspruch genommen von dem Wissen um dieses unbezwingbare Gewicht, das alles immer weiter nach unten zog, während die Freiheit und das Licht und die Geschwindigkeit des Schiffs, mit dem wir gereist waren, sich immer weiter entfernten. […] Ich erwachte mit einem Gefühl des Entsetzens, als hätte ich ein so bedrohliches Omen erhalten, daß es mein ganzes Leben erfüllte.125 Die Entgrenzung kann die vorübergehende Aufhebung der äußeren Grenzen betreffen, sodass das Subjekt für eine gewisse Zeit in seiner Umwelt ganz aufgeht. Vergangenen Freitag hatte ich das Vergnügen, mit der Londoner U-Bahn zu fahren. […] Es beginnt mit rascher Beschleunigung, immer schneller, bis wir die Höchstgeschwindigkeit erreichen. Später werden die Bremsen betätigt, und die Verlangsamung beginnt. Donnernd fahren wir schließlich in die neue Station ein, halten mit einem Ruck, und dann beginnt der ganze Prozeß von neuem. Mehr noch, die Geräusche umschließen mich ganz. Ich bin mitten in ihnen.126 Die jeweiligen Veränderungen an den inneren und äußeren Grenzen des Selbst, ihr Öffnen und ihr Schließen werden mit unterschiedlichen Affekten erlebt. Sie vermögen das Subjekt ebenso zu beglücken, wie sie es ängstigen. Dieser Traum war anscheinend ungeheuer lang. Ich erwachte erst nach und nach. Ich weiß nicht einmal genau, an welcher Stelle der Traum endete und die alptraumartige Phantasie begann. Traum und Realität waren nicht klar voneinander getrennt, und der Traum überspülte mein erwachendes Bewußtsein mit Furcht.127 Bei geöffneten Grenzen erfolgt mitunter eine Begegnung mit der Alterität, die über Raum und Zeit hinaus geht. Meine Grossmutter malte Schmetterlinge in sämtlichen Variationen. Sie liebte die zarten Geschöpfe über alles. Heute schmückt ihr Grab ein in Stein gemeißelter Schmetterling. Seit ihrem Tod werde ich und meine Familie immer wieder in verschiedensten Lebensphasen von Schmetterlingen begleitet. Es mag Zufall oder etwas anderes sein. Um sieben Uhr an einem warmen, sonnig schimmernden Sommerabend wurde ich auf die Intensivstation verlegt. Einmal mehr streikte meine Atmung. Ich schloss die Augen und sah einen Schmetterling auf meinem Finger, gerade so, als wollte meine Grossmutter mir ein Zeichen geben. […] Meine Mutter schwieg und schniefte. […] »Ich habe mindestens dreißig Schmetterlinge gesehen. Sie landeten als Schwarm draussen auf unserem Sitzplatz. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Es fällt mir schwer, es schon nur zu glauben, dass sich Schmetterlinge überhaupt als ganzer Schwarm zeigen«, erzählte sie berührt. Die Schmetterlinge »suchten« am selben Tag, als ich auf die Intensivstation verlegt wurde, gegen sieben Uhr abends meine Eltern auf.128

125 126 127 128

Hull 1992: 49. Hull 1992: 150, 151. Hull 1992: 215. Balmer 2006: 150,151.

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Körperlicher Umbruch

Um jedoch nach der Aufhebung der inneren oder äußeren Grenzen und der Hinwendung zu einem inneren oder äußeren Geschehen wieder ein Kohärenzempfinden zu erreichen, muss nach der vorübergehenden Identitätsdiffusion erneut die Trennung in ein abgegrenztes Selbst erfolgen. Diese Trennung geht wiederum mit Affekten einher. Sie kann beinahe wie ein Tod empfunden werden. Es ist fünf Uhr. Das Läuten, das mir sonst so freundschaftlich erscheint, bekommt etwas von einer Totenglocke, weil es den Augenblick der Trennung verkündet.129 Dem Subjekt fällt es leichter, den eigenen Schmerz zu ertragen, wenn von der Alterität um den Schmerz der Trennung gewusst wird. Die Pflegerin spricht ruhig: »Ich werde nun den Alarm der Beatmungsmaschine wieder aktivieren und weggehen. Ich muss zu einem anderen Patienten gehen. Ist das für dich in Ordnung?«130 Ist es dem Subjekt möglich gewesen, sich zu trennen und seine Grenzen zu schließen, kann es schmerzfrei von außen betrachten, was es einmal als einen Teil seiner Identität ansah. Meine Fahrt durch Paris hat mich völlig kaltgelassen. Dabei fehlte nichts. Die Hausfrauen in geblümten Kleidern und die Jugendlichen auf Rollschuhen. Das Brummen der Busse. Die Flüche der Motorrollerkuriere. Die Place de l’Opéra wie auf einem Gemälde von Dufy. Die Bäume im Sturmangriff auf die Fassaden und ein wenig Watte am blauen Himmel. Nichts fehlte, außer mir. Ich war anderswo.131

4.5

Selbstwirksam mit Sinn

Widerstandsressourcen und Selbstwirksamkeit: Wenn das Subjekt über ein hohes Kohärenzempfinden verfügt, ist es in der Lage, sich Widerstandsressourcen zu erschließen, die ihm helfen, durch innere oder äußere Geschehnisse nicht belastet, in seinem Selbst überwältigt oder in der Identität erschüttert zu werden. Das Subjekt ist fähig, rasch zu überprüfen, über welche Ressourcen und Vorerfahrungen es verfügt, um mit einem Ereignis zurechtzukommen. Um einem Widerfahrnis zu widerstehen und sich zu schützen, nutzt das Subjekt seine Alterität. Unsere Kinder gaben mir viel Auftrieb während ihrer Besuche wie auch in den Zeichnungen und Briefen, die sie schickten. Besonders mein ältester Sohn Gideon, der neun Jahre alt war, zeichnete einige lustige Cartoons, die sowohl reale als auch erfundene Begebenheiten meines Krankenhausaufenthaltes zeigten.132 Widerstandsressourcen ergeben sich dem Subjekt auch aus der verinnerlichten Alterität. 129 130 131 132

Bauby 1997: 76. Balmer 2006: 133. Bauby 1997: 80. Todes 2005: 57.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Heute kann ich meine Großmutter spüren, wenn ich an sie denke. Ein Lächeln bewegt meine Lippen, wenn ich mich an sie erinnere. Wehmut und Fernweh überwältigen mich, weil ich sie vermisse.133 Oder die Widerstandsressourcen des Subjekts stammen von seinen übergeordneten Identitätszielen. Ich bin sicher, dass gerade die Vision [unserer Heirat; B.R.] mir immer wieder Kraft gab weiterzumachen, diese furchtbaren Schmerzen tagtäglich zu ertragen.134 Ebenso vermag das Subjekt rasch zu überprüfen, ob es diese Ressourcen mit Erfolg einsetzen wird oder ob es sie besser durch andere ersetzt, die geeigneter sind. Für mich war der Sport der wichtigste Bestandteil meiner Rückkehr ins Leben. Kein Lebensretter, das Wort wäre vielleicht zu stark. Aber Lebenshilfe und Lebensbewältigung allemal. Seit ich aktiv Sport treibe, werde ich mit meiner Behinderung besser fertig. Der Sport hilft mir, mit jederzeit möglichen Krankheitsschüben anders umzugehen: Ich beginne zu kämpfen.135 Wenn die beanspruchten und angewandten Widerstandsressourcen hilfreich sind, erlebt das Subjekt sich bestärkt. Es steht seinem Leben und den täglichen Anforderungen zuversichtlich gegenüber. Wir gingen nach vorn und empfingen das Brot. Das ist auch ein sonderbares Geschenk, dachte ich. […] Solange ich sein Brot in mir und seinen Mantel um mich habe, werde ich in ihm leben und er in mir.136 Mit dem wiedergewonnenen oder neu gefundenen Kohärenzempfinden erfüllt das Subjekt eine wesentliche Voraussetzung, um an Ereignissen zu wachsen. Es ist davon überzeugt, dass es auch im umbrochenen Körper mit den Anforderungen des Lebens zurechtkommt und seine Identitätsziele aus eigenem Vermögen umsetzen kann. Für mich ist das Kennen der Namen [von Leuten; B.R.] die Grundlage gesellschaftlicher Mobilität. Ich halte mich bei meiner Reise an den Ellenbogen und an den Namen der Leute fest.137 Ebenso weiß das Subjekt, was ihm mit seinem umbrochenen Körper gut tut, um mit seinem Leben zufrieden zu sein. Gleichzeitig mit der Atlastherapie – aber unabhängig voneinander – habe ich mit Hatha-Yoga angefangen. Eine Therapie, die, solange ich sie in Rückenlage mache, mir sehr gut tut. Ich bin hinterher viel entspannter, kann besser laufen und fühle mich einfach ausgeglichener und ruhiger.138

133 134 135 136 137 138

Balmer 2006: 148f. Lesch 2002: 191. Buggenhagen 1996: 51. Hull 1992: 230. Hull 1992: 181. Lürssen 2005: 74.

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Diese Überzeugung der Selbstwirksamkeit (vgl. Bandura 1997) gilt entweder allgemein oder ist auf einzelne Bereiche der Identität oder nur auf einzelne Handlungen bezogen. [W]enn ich jetzt spreche, sehe ich, wie die Textabschnitte aus den Tiefen meines Gedächtnisses aufsteigen. Es ist ein bißchen so, als läse ich sie von einem Scanner ab. Während ich spreche, teilt ein anderer Teil meines Gehirns das, was ich in den nächsten Minuten sagen will, in Absätze ein, und ein noch weiter entfernter Teil ruft alternative Argumentationsketten aus einer Art Materialbank auf. Mein Vortragsstil wirkt dadurch anscheinend klarer als früher, und die Hörer können mir offenbar leichter folgen.139 Wenn das Subjekt davon überzeugt ist, selbstwirksam zu sein, führt es die erfolgreiche Anpassung seiner Identität nach dem körperlichen Umbruch auf seine Bemühungen zurück. Auch sieht es darin eine von ihm erbrachte Leistung, dass die Alterität seine Identitätsarbeit anerkennt. Schließlich geht es noch davon aus, dass es seinen Teil zu dem Vertrauen beigetragen hat, das ihm die Alterität schenkt, wenn es mit dem umbrochenen Körper handelt und von ihm erzählt. Das Subjekt nimmt an, dass es die Schwierigkeiten des Alltags dadurch überwand, dass es aktiv Bewältigungsstrategien einsetzte. Dazu gehört das regelmäßige Üben seiner körperlichen Funktionen. Nach mehreren Monaten sind die Spasmen [durch die physiotherapeutische Bemühungen; B.R.] und durch eigene bewußte Bemühungen Schritt für Schritt besser beherrschbar geworden. Das empfinde ich natürlich als Fortschritt.140 Ebenso ist das Trainieren der geistigen Fähigkeiten dazu zu zählen. Wenn es mir insgesamt zunehmend besser gelingt, die Kerngedanken von Vorlesungen und Ansprachen zusammenzufassen und zu bewerten, dann liegt das sicher nur daran, daß ich mich auf diesem Gebiet ständig übe, wenn ich mir Bücher anhöre.141 Von der eigenen Selbstwirksamkeit überzeugt zu sein, beinhaltet weiterhin, dass das Subjekt bei Rückschlägen nicht gleich aufgibt. Es zieht für sich einen Wert daraus, dass es versteht, sich gegenüber der Alterität zu behaupten. Wenn ich allerdings mit Rolli in ein Restaurant gehe und der Kellner schon eilfertig meinen Stuhl vom Tisch weggeräumt hat, setze ich mich trotzdem immer auf einen Stuhl. Das ist nicht nur therapeutisch gegen Steifheit und für die Muskeln gut, es stärkt auch mein Selbstwertgefühl ungemein.142 Das Subjekt ist sich darüber im Klaren, wie es sich bei Schwierigkeiten am besten vertritt. Ich kann Probleme anschneiden, und weil ich nicht mehr nur eine »kleine Kaputte« bin, ist es schwerer geworden, mich einfach zu überhören. Wenn ich auf dem Alexanderplatz keinen Behinderten-Parkplatz finde, wie jüngst geschehen, dann werde ich dort

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Hull 1992: 143f. Peinert 2002: 61. Hull 1992: 123. Lürssen 2005: 33.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

keinen Sitzstreik veranstalten. Aber ich werde, bei welcher Gelegenheit auch immer, den Finger solange auf die Wunde legen, bis sich möglicherweise doch etwas tut.143 Da das Subjekt von seiner Selbstwirksamkeit überzeugt ist, erlebt es die Alterität nicht gleich als bedrohlich oder feindselig. Es ist in der Lage, unangenehme Begegnungen zu ertragen oder auch den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu beenden. [Mit dem Elektrorolli; B.R.] kann ich alleine spazieren oder einkaufen fahren, wann ich will, wo ich will. Endlich wieder selbständig und unabhängig. Zwar schauen die Leute neugierig, manche Kinder zeigen mit dem Finger auf mich, aber jetzt finde ich das eher amüsant. Wir sagen dann oft leise: »Einmal gucken kostet 1 Mark, dumme Bemerkungen 5 Mark, Kinder zahlen die Hälfte.« Mit diesem Geld könnte ich mir noch so ein Gefährt leisten.144 Wieder verstehbar: Wenn das Subjekt über ein hohes Kohärenzempfinden verfügt, wird ihm wieder verstehbar, was es mit dem umbrochenen Körper erlebt. Es erklärt sich die Veränderungen seiner gewohnten Körperlichkeit, indem es als zutreffend ansieht, was die Ärzte über seinen Körper herausfanden. In den nächsten Tagen nahm ich Kontakte auf zur Welt des Krankenhauses und begann meine Lage zu registrieren. Ich hatte einen Schlaganfall, ausgelöst durch ein Blutgerinsel in der Halsschlagader, das die Blutzufuhr zum Gehirn zeitweilig unterbrochen hatte und weiter bedrohte. Das linke Bein lag gelähmt, meistens friedlich und unnütz im Bett.145 Dem Subjekt ist selbst dann noch möglich zu verstehen, was seinem Körper geschieht, wenn sein Leben in Gefahr ist. Die Beatmungsmaschine gibt immer noch Alarm und die Sauerstoffsättigung ist auch nicht zufriedenstellend, sie liegt bei 79 Prozent. Luft kriege ich schon gar nicht. »Dssssss.« Ich nehme ein leises Entweichen von Luft wahr. Mit geschlossenen Augen versuche ich das Entweichen der Beatmungsluft zu orten. »Die Beatmungsmaschine hat ein Leck«, stelle ich in Gedanken fest.146 Bei einem hohen Kohärenzempfinden sind dem Subjekt auch seine Affekte verständlich. Dabei halfen ihm die Ressourcen, die ihm die Institution des Gesundheitswesens anbot. Mich quälten so genannte Urängste. Kein Medikament konnte diese akuten Todesängste vernichten. Die Gespräche bei meinem Psychologen halfen mir zu verstehen, was die Ängste bedeuten, dass sie auch gut sein können.147 Dadurch, dass das Subjekt die Ressourcen in Anspruch nahm, die zu nutzen ihm angeboten wurde, seitdem es Mitglied des sozialen Systems Gesundheitswesen geworden 143 144 145 146 147

Buggenhagen 1996: 107. Lürssen 2005: 75. Peinert 2002: 33. Balmer 2006: 38. Balmer 2006: 95.

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war, vertiefte sich fortlaufend sein Wissen um seinen Körper. Was ihm unmittelbar nach dessen Umbruch noch unverständlich war, kann es nun mit den Erfahrungen aus den verschiedenen Lebensbereichen seines Alltags verbinden und in einen größeren Zusammenhang einfügen. [I]ch habe mit meiner Therapeutin darüber sprechen können, was ich bei den verschiedenen Körperbewegungen fühlte und was sie beobachtete. Dabei ist mir vieles klarer geworden, was ich vorher noch nicht verstanden hatte. So kann ich heute spüren, daß nicht nur mein linker Arm und mein linkes Bein betroffen sind, sondern meine gesamte linke Körperhälfte. Das erklärt mir jetzt meine Hilflosigkeit beim Schwimmen und das gestörte Gleichgewichtsgefühl beim Gehen.148 Indem das Subjekt eine zeitliche Kontinuität des Erlebens herzustellen weiß und auf seine Geschichte zurückgreift, kann es angeben, was der körperliche Umbruch für seine Identität bedeutet. Daß es mir so weh tat, nach Australien zurückzukehren, hat wohl zum Teil daran gelegen. Ich war ja mit den ersten vierundzwanzig Jahre, mit der Kindheit und Jugend jenes sehenden Ichs konfrontiert, von dem ich nun, da ich in andere Tiefen der Erkenntnis meines gegenwärtigen Ichs eingetaucht bin, abgeschnitten bin.149 Auch wenn es nicht richtig sein muss, wie das Subjekt seine heutige Körperlichkeit und seine früheren Erfahrungen verknüpft, trägt diese Verknüpfung dazu bei, dass ihm verstehbar wird, was ihm geschehen ist. Ich dachte, dass meine Prädisposition für die Parkinson-Erkrankung in solch archaischen Geist-Körper-Erfahrungen begründet sein könne.150 Als ein Ergebnis der wiedergewonnenen oder neu gefundenen Kohärenz begreift das Subjekt des Weiteren die Narrationen und Handlungen, mit denen es seine Identität gegenüber der Alterität entäußert. Auch die Affekte, die es erlebt, wenn es mit seinem umbrochenen Körper den Anderen begegnet, lassen sich einordnen. Dieser Widerspruch hilft mir, die merkwürdige Bitterkeit und Verwirrung zu verstehen, die mich in Gegenwart mir lieber Menschen erfaßt, die ich einmal sah, nun aber nicht mehr sehen kann. Das würde auch meinen Schmerz während des Besuchs bei meinen australischen Verwandten, insbesondere bei meinen Eltern, im Sommer erklären.151 Schließlich versteht das Subjekt noch, wie die Alterität, der es begegnet, sich ihm gegenüber angesichts seines umbrochenen Körpers verhält. Dies bringt mich als nächstes auf die Idee, daß Sehende keine Verwendung für mich haben. Man kann mich nicht unterhalten, nicht auf die Art, die Sehenden als Unter-

148 149 150 151

Peinert 2002: 93f. Hull 1992: 166. Todes 2005: 59. Hull 1992: 164.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

haltung gilt. Es ist unmöglich, mich in die allgemeine Bewunderung dessen, was man ausgebreitet hat, damit es bewundert wird, miteinzuspannen.152 Darüber hinaus versteht das Subjekt infolge des hohen Kohärenzempfindens die nach dem Umbruch veränderte Körperlichkeit als eine Bedingung menschlichen Lebens. Ich denke, daß ich vielleicht zu verstehen beginne, was Blindsein ist.153 Wieder handhabbar: Ein hohes Kohärenzempfinden lässt dem Subjekt handhabbar werden, was es nach dem körperlichen Umbruch erlebt. Es ist sich sicher, dass es seinen Alltag selbst zu gestalten vermag, nachdem es sich nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit zuerst einmal als abhängig von einem nicht zu beeinflussenden äußeren Geschehen gesehen hat. Zunächst wartete ich auf die »Geschenke«, die [das Dasein; B.R.] für mich bereithielt. […] Später organisierte ich mir die »Geschenke« selbst.154 Das Subjekt erreicht mit dem umbrochenen Körper inzwischen wieder, was ihm unmittelbar nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht mehr möglich war. Sie können sich nicht vorstellen, welche Turnübungen Ihre Zunge automatisch veranstaltet, um alle sprachlichen Laute hervorzubringen. Derzeit scheitere ich am »L«, ein armseliger Chefredakteur, der nicht einmal mehr den Namen seiner eigenen Zeitschrift aussprechen kann. An Glückstagen finde ich zwischen zwei Hustenanfällen den Atem und die Energie, um einige Phoneme stimmlich zu artikulieren.155 Mit den Aufgaben, die das Leben an es stellt, wird das Subjekt fertig. Es wird von ihnen weder über- noch unterfordert. Es fühlt sich dadurch wohl. Solange ich die Initiative ergreifen kann, geht es mir offensichtlich gut.156 Offen gegenüber der Umwelt erkundet das Subjekt, was es alles mit dem umbrochenen Körper erleben kann. In den kommenden Monaten habe ich wohl fast sämtliche der Menschheit bekannten Sportarten und Freizeitbeschäftigungen ausprobiert. Nach nur drei Wochen legte ich Krücke und Stock beiseite, und bald darauf tanzte ich, schwamm und spielte Tennis. Zu Beginn des neuen Jahres fuhren Raffaele und ich auf die Malediven, wo ich Tiefseetauchen lernte.157 Dem Subjekt ist klar, wie es handeln muss, um sich zu verwirklichen. Obwohl es der Alterität als chronisch krank oder behindert gilt, hat es Wege gefunden, wie es in die Tat umsetzen kann, was ihm wesentlich ist. Das betrifft die Aufnahme der Welt in den umbrochenen Körper. Auf seine Weise verschafft es sich das Wissen, das es haben möchte. 152 153 154 155 156 157

Hull 1992: 217f. Hull 1992: 216. Buggenhagen 1996: 45. Bauby 1997: 42. Hull 1992: 173. Mills 1996: 252.

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Körperlicher Umbruch

Manchmal bitte ich einen meiner sehenden Freunde, mir kurz zu beschreiben, wie jemand aussieht. […] Dies trifft insbesondere dann zu, wenn mein neuer Bekannter eine Frau ist. Welche Farbe hat ihr Haar? Was hat sie an? Ist sie hübsch? Manchmal möchte ich das unbedingt erfahren. Ich bin und bleibe schließlich ein Mann, der in einer bestimmten Kultur der Sehenden aufgewachsen ist und zu bestimmten männlichen Erwartungshaltungen konditioniert wurde.158 Das Gleiche gilt für das Einwirken des umbrochenen Körpers auf die Welt. Das Subjekt hat für sich herausgefunden, wie es vorhandene Gegebenheiten am besten nutzt, um das zu machen, was ihm bedeutsam ist. Aus diesem Grunde finde ich mich auf dem Campus leichter zurecht, denn er ist durch Stufen, kleine Hügel und Täler, niedrige Mauern und zahlreiche Veränderungen der Bodenbeschaffenheit gegliedert, und ich kann mir den Weg in Abschnitte unterteilen. Aus der Struktur wird eine Abfolge, wenn ich mich in ihr bewege.159 Darüber hinaus weiß das Subjekt, wie es seinen Alltag gestalten muss, um ihn mit dem umbrochenen Körper gut zu leben. Es ist ihm möglich, seine Identitätsentwürfe und -projekte zu verwirklichen. Man erarbeitet sich kleine Techniken, die einem helfen, kleine Dinge schrittweise zu tun. Ich werde nicht versuchen, nach Hause zu kommen; das ist zu weit. Aber ich werde bis zum Ende des nächsten Häuserblocks gehen. Ich kann nicht mehr wie früher einfach in Wörterbüchern und Enzyklopädien nachschlagen. Trotzdem werde ich die Bedeutung dieses einen Wortes herausfinden. Dieses Buch ganz zu lesen, bei diesem Tempo, würde eine Ewigkeit dauern. Na gut, ich werde es gar nicht erst versuchen. Aber ich werde bis zum Ende dieser Seite kommen, und wenn es mich umbringt.160 Wie zuvor ist das Subjekt auch mit dem umbrochenen Körper in der Lage, die übergeordneten Ziele der Identität in einzelne Identitätsentwürfe und -projekte herunterzubrechen. Es ist handlungsfähig. Abgesehen davon, daß ich mich an das neue Bein gewöhnen mußte, hatte ich noch ein anderes Problem. Ich hatte nur rechte Schuhe mitgebracht. Am Nachmittag ging ich in den Ort und kaufte mir zehn Paar flache Schuhe in allen möglichen Farben.161 Weil das Subjekt auch darum weiß, wie die Zwischenfälle verlaufen können, die sich dadurch ergeben, dass seine Körpergrenzen infolge des körperlichen Umbruchs verändert sind, erliegt es nicht den Schwierigkeiten, die in seinem Alltag auftreten. Das neue Schlauchsystem bringt mir die ersehnte Luft zum Atmen wieder. Noch einige Zeit würde mein Kopf rauschen, mich Kopfschmerzen peinigen, bis sich die Blutwer-

158 159 160 161

Hull 1992: 38. Hull 1992: 122. Hull 1992: 68. Mills 1996: 250.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

te wegen der minderen Beatmung wieder erholt haben. Langsam »erwache« ich aus meiner Lethargie, aus meiner ganzkörperlichen Muskelschwäche.162 Es werden aber nicht nur die körperlichen Veränderungen handhabbar. Das Subjekt findet für sich heraus, auf welch unterschiedliche Weise es mit seiner Alterität umgehen kann und was dieser Umgang für seine Identität bedeutet. Ich kann deinem Bild, das auf der anderen Seite des Bodens hell erstrahlt, den Rücken zukehren wollen. Nun kann ich versuchen, meine Beziehung zu dir auf dieser Seite, auf der wir uns jetzt befinden, auf einer völlig neuen Grundlage wiederaufzubauen. Oder aber es reizt mich, an der Vergangenheit festzuhalten, in der Betrachtung deines Bilds, wie ich es im Gedächtnis trage, zu schwelgen […]. Im ersten Falle versuche ich, die Vergangenheit zu zerstören. Im zweiten lebe ich in der Vergangenheit.163 Wieder sinnhaft: So bedeutsam es für das Befinden ist, dass dem Subjekt durch seine Identitätsarbeit der körperliche Umbruch verstehbar und auch handhabbar wird, noch wichtiger ist, dass ihm das Geschehene sinnhaft wird. Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit beziehen sich dabei nicht nur auf die Ereignisse, die dem Subjekt von außen zustoßen, sondern ebenso auf die inneren Prozesse, die ablaufen, wenn es in der Identitätsarbeit Entwürfe zu Projekten entwickelt und diese handelnd umsetzt. Bei hoher Verstehbarkeit weiß das Subjekt, warum es ihm schwierig ist, einen Entwurf weiter zu planen, oder warum es gerade erforderlich ist, ein Projekt abzuändern. Bei hoher Handhabbarkeit sieht das Subjekt das jeweilige Projekt, das es umsetzt, als Folge eines eigenen Entwurfs an, während es bei hoher Sinnhaftigkeit ein neues Identitätsprojekt als sinnvoll empfindet, ohne dem alten seinen Sinn abzusprechen (vgl. Keupp et al. 1999: 245). Ohne Sinnhaftigkeit überdauert in dem dann vorherrschenden subjektiven Erleben von Sinnlosigkeit selbst ein hohes Maß an Verstehbarkeit und Handhabbarkeit nur kurz. Erlebt das Subjekt ein Ereignis jedoch in hohem Maße als sinnhaft, aber zuerst einmal nicht als verstehbar oder handhabbar, bemüht es sich darum, selbst sehr schwierige Erfahrungen zu begreifen, obwohl es gar nicht möglich zu sein scheint. Es versucht, für sie Ressourcen ausfindig zu machen, die geeignet sind, ihm bei der Verarbeitung zu helfen, auch wenn es aussichtslos erscheint. Für den gesamten Prozess der Identitätsarbeit nach einem körperlichen Umbruch lassen sich Kohärenzempfinden und Sinnhaftigkeit nicht trennen. Wenn ich verstehen will, dann geht es mir um eine Bedeutung. Mit diesem Satz spreche ich bereits ein Bekenntnis aus. Ich bin bereits der Überzeugung, daß ein in sich stimmiges Leben einem in Bruchstücke zerfallenen Leben vorzuziehen und daß eine volle Bedeutung besser als eine partielle Bedeutung ist. Natürlich wird die Suche nach voller Bedeutung und nach vollständiger Integration niemals abgeschlossen sein. Es wird niemals ein fertiges Produkt geben. Dennoch bleibt das Suchen lohnenswert. Je umfassender ich annehmen, verinnerlichen und miteinander in Einklang bringen kann, was ich erlebe, desto gesünder werde ich sein.164 162 Balmer 2006: 39f. 163 Hull 1992: 164f. 164 Hull 1992: 185f.

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Körperlicher Umbruch

Wenn das Subjekt ein hohes Kohärenzempfinden aufweist, ist ihm sein Leben mit dem umbrochenen Körper sinnhaft. Es sieht sich an den Entscheidungen beteiligt, die es betreffen, für deren Folgen zuständig und mitverantwortlich für all das, was ihm geschieht. Die verschiedenen Phasen der aktiven Rehabilitation habe ich nie als Mühe empfunden. Natürlich war das alles zeitaufwendig und beanspruchte meine Aufmerksamkeit. Was aber hätte ich Sinnvolleres und Spannenderes tun können, als mich um die Verbesserung meiner Behinderungen zu kümmern, mit denen ich mich ja ohnehin bei jedem Griff und jedem Schritt mit oft ohnmächtigem Zorn zu befassen hatte?165 Das Subjekt beginnt Handlungen und führt sie fort, selbst wenn deren Sinn von der Alterität nicht geteilt wird, weil es selbst von ihnen überzeugt ist. Ich habe diesen weiten Weg nicht etwa gemacht, um ein noch nie gesehenes Panorama zu entdecken, sondern um mich an den Ausdünstungen zu laben, die einer bescheidenen Baracke am Ende des Strands entweichen. Ich werde vor dem Wind abgestellt und spüre meine Nasenflügel vor Wonne beben, als sie einen vulgären, betäubenden und für gewöhnliche Sterbliche absolut unerträglichen Duft erschnuppern. »Oje!« sagt eine Stimme hinter mir. »Das stinkt ja nach angebranntem Fett.« Ich dagegen kann gar nicht genug bekommen von dem Frittengeruch.166 Wenn dem Subjekt der körperliche Umbruch mit seinen Folgen sinnhaft ist, behauptet es die Handhabbarkeit seiner Identitätsprojekte gegen die Vorurteile, die ihm im sozialen System begegnen. In seiner Entfaltung lässt es sich durch äußere Schwierigkeiten nicht einschränken. Warum sollte ich nicht Autofahren können? Mobilität, das, was Körperbehinderte am meisten entbehren und vermissen, konnte ich so am besten kompensieren. Warum sollte ich nicht reisen, die Welt sehen? Natürlich ist das komplizierter als bei Nichtbehinderten, die morgens aufstehen, zum Flugplatz fahren, in den Flieger steigen und ein paar Stunden später in Übersee landen. Kapituliere ich vor den Hindernissen, die oftmals zudem zu beseitigen sind, wenn man nur gegen sie angeht, dann sperre ich mich selbst ein.167 Das Subjekt gibt die ihm bedeutsamen Identitätsprojekte selbst dann nicht auf, wenn die Umstände ihrer Umsetzung widrig sind. Der Gedanke, daß all diese Menschen auf unsere Prothesen warteten und die eigenen Landsleute dies anscheinend zu verhindern suchten, brachte mich allmählich zu der Frage, ob das Schicksal mich diesmal in die Irre führte. Sicher hatte es mich nicht den ganzen Weg hierhergeführt, um meine Pläne im letzten Moment zu vereiteln.168

165 166 167 168

Peinert 2002: 92. Bauby 1997: 87f. Buggenhagen 1996: 45. Mills 1996: 274.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Erfolgreiche Sinnsuche: Wie bei jeder Sinnsuche (vgl. Frankl 1977: 27–32) muss auch nach dem körperlichen Umbruch das Subjekt den Sinn in seinem Inneren finden. Der Sinn für das, was ihm geschah, und der Sinn für das, was es mit dem umbrochenen Körper sprechend und handelnd den Anderen mitteilt, kann dem Subjekt nicht von außen gegeben werden. Bei einer Sinnsuche ist es nicht möglich, dass das Subjekt dem Geschehen einfach einen Sinn gibt, um sich seines Fehlens nicht gewahr werden zu müssen. Dadurch lässt sich höchstens ein vorübergehend beruhigendes Sinnempfinden erzeugen, dem aber keine wirkliche Tiefe eigen ist. Weil es zudem in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende keinen allgemein geteilten einheitlichen Sinn mehr gibt, vermag ihn das Subjekt auch nicht von der Alterität zu übernehmen. Von den Anderen einen Sinn erhalten zu wollen, ist zudem mit dem Konstrukt einer Identität, die sich in der Beziehung zur Alterität entwickelt, nicht vereinbar. Allenfalls kann die Alterität die Suche des Subjekts anregen und befruchten oder es in einer Begegnung von gleich zu gleich bei seiner Suche begleiten. Kurz vor seinem Streben teilte er mir über eine ABC-Tafel Worte mit, die ich immer in meinem Herzen tragen werde, die mich trotz aller Widrigkeiten, die nebst schönen Seiten im Leben auch da sind, weiterleben lassen: »Sonja, ich gebe dir all meine Kraft!« […] Alex gab seine Kraft an mich weiter und damit verbunden eine Lebensaufgabe, die mir erst im Laufe der Zeit bewusst wurde: Gräben zwischen »kranken« und »gesunden« Menschen mit Erde aufzuschütten.169 Der Prozess, einen Sinn zu finden, gleicht dem der Wahrnehmung, wo plötzlich in einzelnen, schon lange vorhandenen und bekannten Teilen eine zusammenhängende Gestalt gesehen wird, die nicht mehr verloren gehen kann, nachdem sie einmal erblickt worden ist. Das war es! Die Antwort traf mich wie ein Blitz. Das konnte ich nach Kroatien bringen: Prothesen! Sie hatten mein Leben völlig verändert. Ich stellte mir vor, wie sie das Leben von Hunderten von Kroaten veränderten, deren Arme oder Beine von Granaten und Minen abgerissen worden waren.170 Dann besteht zwischen den Teilen und dem Ganzen auf einmal eine Wechselwirkung, die sich ergänzt: Das Ganze vermag ebenso sinnhaft die Teile zu bestimmen, wie die Teile es mit dem Ganzen tun. All die seltsamen Zufälle in meinem Leben: Der Unfall meiner Mutter, bei dem ihr linkes Bein verletzt wurde, ihr Tod als indirekte Folge dieses Unfalls sowie das seltsame Auftauchen des linken Fußes auf dem Foto mit den kroatischen Kriegsopfern hatten mich allmählich überzeugt, daß das Schicksal am Werk war.171 Was das Subjekt bei der Sinnsuche umfassend erkennt, ist die einzigartige und vergängliche Möglichkeit, vor dem Hintergrund seiner Wirklichkeit die eigene Identität authentisch erfüllen zu können. 169 Balmer 2006: 142f. 170 Mills 1996: 261, Kursivierung im Original. 171 Mills 1996: 260.

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Körperlicher Umbruch

[N]ur wenn wir zurücksehen, erlangt das Zufällige Bedeutung. Die Bedeutung entsteht nach dem Ereignis. Aus diesem Grunde führt die Frage »Warum ist das passiert?« eher in die Irre. [W]enn man mit »warum« nach dem alles umfassenden Zweck fragt, so als sei das Blindsein mein Schicksal, dann glaube ich nicht daran. […] Das Blindsein macht mich nicht glücklich. Ich habe es nicht gewählt, und es wurde mir auch nicht auferlegt. Als zufälliges Ereignis konnte es aber trotzdem Bedeutung erlangen.172 Ebenso wie das Subjekt, das solch einen besonderen Augenblick verstreichen lässt, an sich schuldig wird, fühlt sich das Subjekt befreit und gekräftigt, das den besonderen Augenblick erkennt und sich ihm anvertraut, ohne zu bereits wissen, wohin es der gefundene Sinn noch führen wird. Im September 1993 hatte ich einem Redakteur der ›Sun‹ erzählt: »Aus diesem Unfall wird sich auch etwas Gutes ergeben. Das Schicksal sagt mir auf diese Weise, daß es noch mehr für mich in petto hat.« Daran glaubte ich tatsächlich. […] Etwas anderes wartete auf mich, dessen war ich sicher. Aber was würde es sein?173 Der Sinn, den das Subjekt für sich findet, ist nie abstrakt, sondern stets konkret. Grundsätzlich gibt es keine Situation, in der es nicht geschehen kann. Doch sind es vor allem drei Lebensbereiche, wo sich Sinn finden lässt, nämlich erstens das Schaffen und Machen, zweitens das Lieben und drittens das Leiden (vgl. Frankl 1977: 31): Beim Schaffen und Machen stehen sich Erfolg und Scheitern gegenüber. Dabei findet das Subjekt einen Sinn, wenn ihm seine kulturell geprägten und im sozialen System als wertvoll eingeschätzten Fähigkeiten und Fertigkeiten die Anerkennung der Alterität einbringen und wenn es sie mit dem größtmöglichen Können einsetzt und weiter vervollkommnet. Auch ich war nach einigen Irrwegen bei dem Entschluß gelandet, alles aus mir herauszuholen. Das zum Lebensprinzip zu machen, will ich an meine Patienten in der Klinik weitergeben, möglichst so, daß ihnen die Irrwege erspart bleiben.174 Im Lieben stehen sich dagegen Bezogenheit und Verlorenheit gegenüber. Hier erfüllt sich die Suche des Subjekts nach einem Sinn in der Beziehung zur Alterität, wenn es sich ihr zugleich hingibt und sich in ihr erweitert. Dabei müssen die Anderen nicht unbedingt verkörpert sein, sondern können auch Idee oder geistiges Prinzip sein. Wenn ich spüre, es geht aufwärts bei einem Patienten, ist das ein Gefühl, als verlängere, verschönere sich damit auch mein Leben.175 Im Leiden stehen sich schließlich Erfüllung und Verzweiflung gegenüber. Das Subjekt gewinnt dadurch Sinn, dass es sich durch die gemachten Erfahrungen seiner Begrenztheit bewusst wird. Das Subjekt erlebt diese Begrenztheit mit Schmerz, wenn es durch ein Geschehen im Körper oder außerhalb von ihm dessen gewohnte Verfassung verliert und im Austausch mit der Welt beeinträchtigt wird. Aus der Ahnung eines fernen Sterbens wird ihm die nicht mehr abzuwehrende Gewissheit von dessen Unvermeidbarkeit. 172 173 174 175

Hull 1992: 220, 221. Mills 1996: 260. Buggenhagen 1996: 99. Buggenhagen 1996: 93.

4. Merkmale des Kohärenzempfindens nach dem körperlichen Umbruch

Das Subjekt erfährt weiterhin seine Begrenztheit mit Angst, wenn es ihm nicht mehr möglich ist, mit der Alterität von gleich zu gleich verbunden zu sein, wenn es diejenigen zu verlieren droht, denen es zugetan ist, oder wenn es in Gefahr steht, aus den sozialen Systemen herauszufallen, auf die es bezogen ist. Schließlich empfindet das Subjekt die Begrenztheit seines Lebens mit Scham, wenn seine im Körper verinnerlichten Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht mehr ausreichen, die Aufgaben des Lebens befriedigend zu erfüllen und das bisherige soziale Ansehen zu erhalten. Ob das bewusste Erleben der eigenen Begrenztheit das Subjekt einen Sinn finden lässt, ist nicht so sehr von dem Geschehen als solchem bestimmt, sondern vielmehr von der Struktur der Identität, mit dem das Subjekt das Geschehnis deutet und verarbeitet, sowie von den Ressourcen des sozialen Systems, die es nutzen kann. Auch wenn ich alle diese Umstellungen berücksichtige, glaube ich trotzdem, daß mit dem Blindsein etwas Reinigendes verbunden ist. Man muß sein Leben neu schaffen, oder man wird zerstört. Ich hatte insofern Glück, als mein Leben einen ganz starken, zentralen Kern hatte. Ich hatte einen Job, ein geborgenes Familienleben, eine Institution, die mich akzeptierte und mir half, und viele Freunde.176 Selbst wenn das Subjekt im Leiden Sinn findet, gilt es in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende nicht als erstrebenswert, Sinn durch Leiden zu finden. Sondern in ihnen wird danach getrachtet, einen Sinn dadurch zu erhalten, dass die Grenzen menschlichen Lebens im Schaffen und Machen oder im Lieben überwunden werden oder dass alles unternommen wird, um das Leiden möglichst zu vermeiden (vgl. Frankl 1977: 82). Das scheint in solch einem Umfang möglich zu sein, dass Leid in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende nicht mehr als eine Erfahrung angesehen wird, die zu jedem Leben unvermeidlich dazugehört und die sich in jedem Leben ereignet. Vielmehr wird das Leid als etwas betrachtet, das bei entsprechender Achtsamkeit von dem Betroffenen hätte vermieden werden können. Wer leidet, läuft Gefahr, dass die Alterität ihm daran die Schuld gibt. Aber das Besondere an dem Sinn, der im Leiden gefunden wird, besteht darin, dass das Subjekt ihn an der Grenze seines Lebens gewann. Ich kann mich nur erinnern, dass ich mich langsam, am Stock rechts, eingehakt links, von Bank zu Bank und weiter auf den Platz vor der Kathedrale schleppen ließ. Dort gab es weit und breit keine Sitzgelegenheit, meine Füße waren schwer wie Blei und Tränen liefen mir mitten im Sonnenschein über das Gesicht. Es war schrecklich. In diesem Moment war ich reif für den Rollstuhl und seitdem bin ich gerne mit ihm oder »Flie-Wa-Tüt« unterwegs.177 Unabhängig davon, ob das Subjekt im Schaffen und Machen oder im Lieben oder im Leiden einen Sinn findet, muss es das Wagnis eingehen, ihm zu folgen. Erst im Nachhinein kann das Subjekt abklären, ob der Sinn wirklich darin besteht, was es meint, gefunden zu haben.

176 177

Hull 1992: 202f. Lürssen 2005: 77.

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5. »Ich bin ich.« – Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Neben der Kohärenz sind Vitalität, Tiefe und Reife weitere Eigenschaften von Authentizität. Wie sie sich mit einem umbrochenen Körper umsetzen lassen, obwohl die gesellschaftlichen Bedingungen es dem chronisch kranken oder behinderten Subjekt erschweren, authentisch zu leben, wird in diesem Kapitel aufgezeigt. Zuerst wird dargelegt, was es bedeutet, wenn das Subjekt in Vitalität sein Dasein bejaht und sich mit Freude dem Gegebenen zuwendet (5.1). Danach geht es um die Tiefe der authentischen Identität, die sich das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch durch retrospektive und prospektive Selbsterkenntnis erwirbt und die mit einer Bewusstheit des eigenen Selbst einhergeht (5.2). Nachdem beschrieben worden ist, was für das Subjekt Autonomie bedeutet und worin sie sich von der Authentizität unterscheidet (5.3), wird noch die Reife aufgeführt, die durch die Auseinandersetzung mit der veränderten Körperlichkeit entsteht und die das Subjekt die äußere Realität erfassen lässt (5.4). Das Kapitel endet mit einem Überblick, wie die Authentizität des Subjekts die Beziehungen zur Alterität prägt (5.5). Damit wird deutlich, dass das authentische Subjekt es versteht, sich über die Zeiten und die Orte seines Lebens und über die Veränderungen seiner Körperlichkeit hinweg treu zu bleiben. Mit seiner Authentizität erfüllt es nach einer in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende weit verbreiteten Auffassung eine wesentliche Voraussetzung für ein gelingendes Leben.

5.1

Mit Vitalität im Hier und Jetzt

Authentizität als übergeordnetes Identitätsziel: Als authentisch bezeichnet zu werden, ist in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende vielfach ein besonderes Lob, und Authentizität ein übergeordnetes Identitätsziel. Sich auf die eigenen Werte zu beziehen und auf die eigene Kraft zu verlassen, führt angeblich nicht nur zu Gesundheit und Glück, sondern auch zu Erfolg in Beruf und Partnerschaft. Wenn dem Subjekt Authentizität zugeschrieben wird, gilt es der Alterität als echt, wahrhaftig und glaubwürdig. In seinen Lebensäußerungen verweist es auf seine Einzigartigkeit (vgl. Kra-

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Körperlicher Umbruch

mer 2001: 159–162). Bewusste Identität und unbewusstes Selbst stimmen dabei ebenso überein wie Sprechen und Handeln, Verhalten und Einstellungen, gegenwärtige Beziehungen und Lebensgeschichte, Vorerfahrungen und Zukunftspläne. Dazu gehört die Fähigkeit des Subjekts, vermeintliche persönliche Schwächen und Unzulänglichkeiten den Anderen gegenüber ohne Scham einzugestehen. Ohne Kohärenz ist Authentizität nicht möglich; aber zu ihr gehören darüber hinaus Vitalität, Tiefe und Reife (vgl. Ferrara 1998: 80). Eine authentische Identität ist mehr als das, was der Alterität bewusst mitgeteilt wird und von ihr augenscheinlich wahrzunehmen ist, denn zur Authentizität gehören auch jene Bereiche des Selbst, die der Alterität gegenüber unbewusst gezeigt werden. Selbst wenn die Authentizität als allgegenwärtiger Anspruch in allen Lebensbereichen des Alltags, im Privatleben ebenso wie im Beruf oder in der Öffentlichkeit von Politik, Sport und Kultur wieder zu einem Zwang der kollektiven Identität zu werden droht, fühlt sich das authentische Subjekt dadurch nicht eingeschränkt. Frei von äußeren Rollenzwängen kann es sein Selbst bewahren und sich verwirklichen. Auf die Reise ins eigene Innere folgt die Entäußerung der authentischen Identität in der Beziehung zur Alterität. Um nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit Authentizität zu gewinnen, hat sich das Subjekt zum einen nach außen abzugrenzen, nämlich sich von dem zu befreien, was es einengt, und nicht einfach in Identifikation nachzumachen, was im sozialen System für ein Leben mit einem umbrochenen Körper als angebracht angesehen wird. Zum anderen muss es sich nach innen öffnen, nämlich seine Vorlieben entdecken, seine Stärken ausbauen sowie seinen Vorstellungen folgen und sie verwirklichen. Wenn es dem Subjekt gelingt, in seinem angepassten allgemeinen Identitätsempfinden Authentizität zu besitzen, fühlt es sich in seinem umbrochenen Körper wohl und kann ihn so annehmen, wie er ist. Es versteht seine Emotionen und kann seine Affekte ausdrücken, ohne von ihnen beherrscht zu sein. Es ist fähig, äußere Gegebenheiten zu beurteilen und sich dennoch so zu entscheiden und zu handeln, dass es auf sein Selbst bezogen bleibt. Dabei begegnet das Subjekt einem Widerspruch: Während Menschen, die einen körperlichen Umbruch überlebt haben, persönlich gemieden werden, wird gerade im Kunstbetrieb das Authentische, das sich als chronische Krankheit oder Behinderung in den Körper eingeschrieben hat, gesucht und scheint sich ihm, wo es die künstlerische Aneignung der Wirklichkeit ersetzt, ein Markt zu eröffnen. Authentizität und umbrochenen Körper: Obwohl Authentizität als ein wesentliches Identitätsziel betrachtet wird, ist es dem chronisch kranken oder behinderten Subjekt vielfach erschwert, sie zu erreichen. Das zeigt sich bei allen vier Eigenschaften der Authentizität: Als erstes betrifft es die Kohärenz. Zwar wendet die Gesellschaft erhebliche finanzielle Mittel auf, um die körperliche Unversehrtheit ihrer Mitglieder zu bewahren, und in ihr gilt Gesundheit als hohes Gut. Doch führt die in ihnen idealisierte Körper- und Affektkontrolle dazu, dass die Kohäsion des Selbst verloren geht, wenn das Subjekt einen Unfall erleidet, verletzt wird oder erkrankt. Danach mit einem umbrochenen Körper weiterleben zu müssen, stellt für das Subjekt einen Einschnitt dar, der von einem deutlich unterschiedenen Vorher und Nachher gekennzeichnet ist und die zeitliche Kontinuität des Erlebens unterbricht. Barrieren unterschiedlichster Art verorten chronisch kranke oder behinderte Menschen jenseits der Binnengrenzen des sozialen Systems und grenzen ihr Erleben als das von relativ Anderen aus. Auch wenn

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

die Betroffenen hoffen, dass der von ihnen seit den 1970er Jahren erkämpfte Anspruch auf Inklusion, gesellschaftliche Teilhabe und Verwirklichung ihrer Persönlichkeit zukünftig daran etwas ändern wird, erhält ihre besondere Lebens- und Welterfahrung im gesellschaftlichen Diskurs wenig Aufmerksamkeit. Als zweite Eigenschaft von Authentizität betrifft es die Vitalität. Diejenigen, die wegen einer Akutbehandlung als Patienten dem sozialen System Gesundheitswesen angehören, vermögen es allenfalls kurzzeitig, sich miteinander zu verbinden, sind sie doch vor allem darauf aus, die ihnen zugewiesene Rolle möglichst bald wieder hinter sich zu lassen. Chronisch Kranke und Behinderte sehen die Gemeinschaften, die auf Grund ihrer ähnlichen körperlichen Erfahrungen unter ihnen entstehen, oft nur als Ersatz für die fehlende gesellschaftliche Integration. Die Maßnahmen, die wiederum zur Integration chronisch kranker oder behinderter Menschen beitragen sollen, werden trotz eindeutiger Rechtslage nur zögernd umgesetzt. In einem Gesundheits- und Sozialwesen, das seit den 1980er Jahren zunehmend unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrieben wird, ist genau berechnet, welche Aufwendungen sich lohnen und welche Kosten einzusparen sind, um den größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Als drittes wird es mit einem umbrochenen Körper schwieriger, eine Tiefe des Erlebens zu erreichen. Während die Auffassung kaum bezweifelt wird, dass die körperlichen Veränderungen infolge eines Unfalls, einer Verletzung oder einer Erkrankung einen Verlust bedeuten, bleibt unbeachtet, dass sie eine Möglichkeit sind, die eigene Identität zu erfüllen, die gesellschaftliche Wirklichkeit umfassender zu betrachten oder mehr über das menschliche Leben zu erkennen. Der nun bestehende körperliche Zustand ist als chronische Krankheit oder als Behinderung genügend erklärt, um ihn handhaben zu können, sodass die Sinnfindung dem davon betroffenen Subjekt überantwortet ist. Auch dass der körperliche Umbruch das Subjekt oft überfordert und beinahe regelhaft in eine Krise seines Selbstverständnisses führt, trägt nicht dazu bei, die kollektive Identität mit ihren Normen, Werten, Traditionen und Konventionen zu hinterfragen. Vielmehr werden die Besonderheiten des Lebens mit einem umbrochenen Körper dazu herangezogen, um den Wert einer individuellen Autonomie, die einer Alterität nicht bedarf, herauszustellen. Schließlich erschweren es die gesellschaftlichen Bedingungen auch, nach dem körperlichen Umbruch Reife als vierte Eigenschaft von Authentizität zu erlangen. Da der junge, fitte und von der Vernunft gesteuerte, der Selbstinszenierung und dem Konsum dienende Körper idealisiert wird und das Sterben fremd geworden ist, lösen diejenigen, die infolge eines Unfalls, einer Verletzung oder einer Erkrankung die Begrenztheit des Lebens verkörpern, Unbehagen aus. Die Last der Begegnung ist denen auferlegt, die aus dem sozialen System ausgegrenzt sind, weil sie der anerkannten Norm nicht genügen. Nachdem der umbrochene Körper zum Objekt der Behandlung, der Versorgung, des Mitleids, der Abscheu oder der heimlichen Begierde geworden ist, haben sich chronisch Kranke oder Behinderte den Mitgliedern des sozialen Systems gegenüber empathisch zu zeigen, die sich vor ihnen ängstigen. Ihnen selbst fällt es schwer, sich von der Ablehnung der Anderen, die die Norm verkörpern, unabhängig zu machen. Ein gemeinsames Lachen über den umbrochenen Körper erscheint unvorstellbar. Leben im Hier und Jetzt: Doch trotz der gesellschaftlichen Bedingungen vermag das Subjekt, das mit einem umbrochenen Körper lebt, durch seine Identitätsarbeit sich

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nicht nur ein hohes Kohärenzempfinden zurückzugewinnen, sondern auch mit Vitalität zu leben. Dabei bedeutet Vitalität (vgl. Ferrara 1998: 87–96): Aus dem unmittelbaren Erleben heraus bestärkt das Subjekt freudig seine Identität in ihrer Struktur und in ihrem Prozess. Ich bin von Kopf bis Fuß auf Leben eingestellt.1 Als Zeichen, dass bei einem körperlichen Umbruch eine neue Passung von Körper und Selbst besteht, fügen sich dem Subjekt Vergangenheit und Zukunft in seiner Gegenwart kohärent zusammen. Die Vergangenheit, die es erinnert, und die Zukunft, die es in seinem Bewusstsein vorweg nimmt, sind in einer Weise lebendig, als geschähen sie unmittelbar im Hier und Jetzt. Sein gegenwärtiges Empfinden ist ebenso mit der Erinnerung an das gebunden, was es zur eigenen Befriedigung in früheren Zeiten und in anderen Lebensbereichen erfahren hat, wie es mit Gelassenheit und Zuversicht auf die Ereignisse blickt, welche die Zukunft ihm noch bereiten wird. Ganz jung bin ich, wie du ja weißt, mit meinen 54 Jahren nicht mehr, aber irgendwie fühle ich mich immer noch jung, neugierig und will noch viel unternehmen.2 Auch wenn das Subjekt darum weiß, dass die Identität durch die Körperlichkeit unweigerlich begrenzt ist, beherrscht deren Endlichkeit nicht sein Selbstverständnis (vgl. Fromm 1979: 125f.). Nachdem sich das Subjekt infolge des körperlichen Umbruchs damit befassen musste, wie sehr seine Körperlichkeit sein Erleben beeinflusst, spürt es die Möglichkeiten seiner Identität. Die hinter ihm liegende Grenzerfahrung verdichtet das unmittelbare Dasein. Ich fühle mich jetzt klarer, wacher und intellektuell neugieriger als je zuvor in meinem Leben. Ich stelle fest, daß ich häufiger Beziehungen anknüpfe, daß mein Gedächtnis besser funktioniert, daß ich häufiger Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Dingen, die ich im Verlauf der Jahre gelesen habe und lernen mußte, erkenne. Manchmal komme ich abends nach Hause und habe das Gefühl, daß mein Kopf vor neuen Ideen und neuen Horizonten fast zerspringen will.3 Gerade weil das Subjekt infolge des körperlichen Umbruchs nun besondere Mühe aufwenden muss, wieder die Fähigkeiten und Fertigkeiten des sensomotorischen Körpers zu erreichen, die in den sozialen Systemen, denen es angehört, selbstverständlich sind und es früher es auch ihm waren, freut es sich im Hier und Jetzt, wenn es ihm gelingt, seine körperlichen Grenzen zu erweitern. Daraus vermag das Subjekt für die Zukunft Gelassenheit und Zuversicht zu gewinnen. Die therapeutische Arbeit empfinde ich insgesamt als recht anstrengend. […] Dennoch: Es gibt immer wieder Erfolge, über die ich mich fast kindlich freuen kann und die mir immer wieder Mut machen. So kann ich heute meine Lage durchaus mit innerer Ruhe und ohne Verzagen betrachten. Es lohnt sich weiterzumachen!4 1 2 3 4

Buggenhagen 1996: 8. Lürssen 2005: 24f. Hull 1992: 208f. Peinert 2002: 95.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Dem Subjekt bereitet es Freude, die Grenzen seines sensomotorischen Körpers zu erweitern und sich in Teilbereichen seiner Identität Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben, die es sich bis dahin noch nicht erschloss. Aber es gibt auch lichte Momente in dieser Zeit. Ich entdecke das Kochen als Therapie. Ich helfe beim Zubereiten unserer Abendessen. Ich schneide und rupfe, hacke und rühre. Es ist eine Menge Arbeit, das gebe ich zu. Verdammt viel Arbeit. Hätte ich vorher nie gedacht. […] Aber es macht mir Spaß, und es lenkt mich ab.5 Bewusst erlebt zu haben, dass die Körperlichkeit die Identität begrenzt, dass die Identität aber auch die Grenzen der Körperlichkeit erweitert, erlaubt es dem Subjekt, sich auf seinen Körper einzulassen und die ungewohnten Erlebnisse zu genießen, die jetzt mit ihm möglich sind. So gibt sich das Subjekt ganz der taktilen Aufnahme der Welt durch seinen sensomotorischen Körper hin. Es war ein wechselhafter Wind, der den Anbruch eines schwülheißen Tages ankündigte. Ich stand eine Zeitlang da und ließ ihn mir übers Gesicht und über die Kleider streichen. Ich drehte den Kopf hierhin und dorthin, um die verschiedenen Luftströme auszukosten. Ich lehnte mich in den Wind hinein und aus ihm heraus und atmete ihn ein. Es war herrlich.6 Genauso genießt das Subjekt ihre kinästhetische Aufnahme. Vergangenen Freitag hatte ich das Vergnügen, mit der Londoner U-Bahn zu fahren. Auf den glatten Kacheln geht es sich besser als auf den Fußwegen oben. Ich eignete mir eine bessere Technik zum Betreten und Verlassen der Rolltreppen an, was mich freute, […].7 Und das Subjekt vermag sich ihrer akustischen Aufnahme zu überlassen. Immer wieder erklang das Läuten, legte sich über das Gemurmel der Unterhaltung, durchschnitt die kühle Herbstluft, erfüllte alles mit einer sonderbaren, feierlichen Erwartung. Ich war ganz durchdrungen von Freude, und mein Herz sagte immer wieder: »Ja, ich höre euch, liebe Glocken, ich höre euch.«8 Mit verschiedenen Sinnen erforscht und begreift das Subjekt die Welt. Gabriel ist noch nicht einmal einen Monat alt, und das Zusammensein mit ihm macht mir viel Freude. Ich mag es, wie er riecht und wie er in raschen kleinen Stößen atmet, wenn ich seinen Namen rufe. Ich spüre gern, wie sein Kopf herumfährt, wenn Marilyn ins Zimmer kommt, und wie er ihn dann zurückdreht und wieder mich anschaut. Mir gefällt, wie es sich anfühlt, wenn er in meinen Armen einschläft, die Veränderung im Klang und im Rhythmus seines Atmens. Gern halte ich seine winzigen Händchen und lege meine Hand auf die Wärme seines Kopfes. Es macht mir Freude, danach zu tasten, ob sein Haar wächst, und es macht mir Freude, seine kleine Nase zu berühren. Gern 5 6 7 8

Lesch 2002: 139. Hull 1992: 126. Hull 1992: 150. Hull 1992: 218.

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halte ich einen seiner Füße, und mir gefällt, wie es sich anfühlt, wenn ich ihn über meine Schulter gelegt halte.9 Indem das Subjekt mit seinem sensomotorischen Körper die Welt aufnimmt und mit seinem Selbst erfasst, findet es seine Haltung zu ihr. Es erkennt für sich, was das Wesen der Welt ausmacht. Die Spaziergänge durch Wälder und Wiesen bringen mich zur Überzeugung, dass wir uns hier und jetzt auf Erden im Paradies befinden müssen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es irgendwo überwältigendere Eindrücke gibt, als sich in eine Pusteblumenwiese zu legen, einen Vogel bei der Futtersuche zu beobachten und dabei mit ihm ins Zwiegespräch zu kommen, den Geruch der Getreidefelder wahrzunehmen oder einfach auch nur einem Schmetterling den Finger zum Ausruhen anzubieten. Es sind diese Momente, in denen ich mich mit der Natur vereint fühle, während denen mich unendliche Dankbarkeit und Freude einholen.10 Bejahen des Seins: Infolge der Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch ist das Erleben des Subjekts nicht mehr von der Verzweiflung der Krise bestimmt. Aus einer vielschichtigen Lebensfreude und Ernsthaftigkeit heraus vermag es wieder, das eigene Dasein und Sosein grundsätzlich zu bejahen. Das Subjekt hat für sich entdeckt, dass es mit seinem umbrochenen Körper über Möglichkeiten verfügt, die es zuvor nicht erahnte. Vor einigen Monaten ging mir zum ersten Mal auf, welche Einsichten und welches tiefe Wissen man durch das Berühren von Dingen gewinnt. Neuerdings beginne ich nicht nur dieses tiefe, durch Anfassen vermittelte Wissen zu erfahren, sondern auch die damit verbundene Lust.11 Seine Lebensfreude betrifft sowohl den Austausch des sensomotorischen Körpers mit der Welt als auch die Entäußerung der Identität im Erzählen und Handeln. Am letzten Tag unserer Schiffsreise durften wir endlich die Wärme der Sonne spüren. Der Wind war jedoch bitter kalt, was aber die Passagiere nicht davon abhielt, auf Liegestühlen am Swimmingpool den wunderschönen Nachmittag zu geniessen. Warm angezogen lagen auch wir dort, lasen in unseren Büchern, philosophierten und assen vom üppigen Buffet köstliche Lachsbrötchen, bis uns fast die Bäuche platzten.12 Auch mit dem umbrochenen Körper schafft sich das Subjekt in den sozialen Systemen, denen es angehört, einen gemeinsamen Lebensraum mit der Alterität. Darin kommt es zwischen ihm und den Anderen zu einer wechselseitigen Identifikation und zu einer zwischenmenschlichen Begegnung von gleich zu gleich. Das miteinander geteilte Erleben findet sich im Umgang mit Erwachsenen und Kindern.

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Hull 1992: 213. Balmer 2006: 28f. Hull 1992: 199. Balmer 2006: 23f.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel für Blinde ist eine große Hilfe. Den ganzen Tag bis vier Uhr nachmittags habe ich vergnügt mit den Kindern gespielt.13 Die Lebensfreude ist darin begründet, dass das Subjekt sich entsprechend seiner eigenen Motivation an den sozialen Systemen beteiligt, an denen es teilhaben will. Dazu erleichtert die Inanspruchnahme von Ressourcen die Teilhabe und erhöht damit die Lebensfreude. Rückblickend muss ich sagen, es ist eine enorme Erleichterung: der Treppenlift, der Parkplatz direkt vor der Haustür, das behindertengerechte Bad, die behindertengerechte Küche. Ich genoss es in vollen Zügen […].14 Dadurch, dass sich das Subjekt gewiss ist, dass es durch seinen umbrochenen Körper dieselbe befriedigende Wechselwirkung mit der Welt hat wie durch sein angepasstes allgemeines Identitätsempfinden mit den sozialen Systemen, freut es sich auf das Kommende. Die Kohäsion des Selbst, die Kontinuität im Erleben und die Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen lassen das Subjekt wissen, dass seine Bedürfnisse in der Vergangenheit erfüllt wurden, und hoffen, dass es entsprechend in der Zukunft geschehen wird. Mit Zuversicht macht sich das Subjekt daran, seine Identitätsentwürfe und -projekte in die Tat umzusetzen. Nach dem Geburtstag erwartete mich eine Reise, auf die mich freute und die ich hörend vorbereitete – eine Spanne möglicher Rekonvaleszenz.15 Wenn das Subjekt über Vitalität verfügt, führt es sein Leben mit den Empfindungen und den Gefühlen, die in ihm beim Austausch mit der Welt und bei der Begegnung mit der Alterität entstehen, kraftvoll im Hier und Jetzt. Darüber hinaus fühle ich mich energiegeladen und brauche trotz meiner hektischen Lebensweise nur wenig Schlaf. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch.16 Gerade weil sich das Subjekt in seiner Angst kennenlernte und sich in ihr allein fühlte, versteht es, sich dem günstigen Augenblick hinzugeben, in ihm zu handeln und sich auf die Alterität zu beziehen. Der Tag, die Helligkeit waren erleichternd und beruhigend. Die Angst war verflogen, und ich konnte mich auf meine Arbeit, auf meine Mitmenschen konzentrieren. Ich fühlte mich fit und konnte die erst gerade noch wenige Stunden zuvor erlebten Ängste vergessen.17 Wie das Subjekt von Schmerz, Angst oder Scham überwältigt wurde, als es durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung seine gewohnte Körperlichkeit verlor und es sich ohnmächtig dem ausgeliefert fühlte, was in seinem Körper geschah, überlässt es sich in-

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Hull 1992: 212. Ruscheweih 2005: 23. Härtling 2007: 71. Mills 1996: 260. Balmer 2006: 93.

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folge der Vitalität, über die es wieder verfügt, den angenehmen Affekten. So kann sich das Subjekt überschwänglich freuen. Um mich herum brach Geschrei und Jubel aus, ich umarmte Bodo, riß ihm dabei die Brille von der Nase und wußte es plötzlich: Marianne, du hast gewonnen!18 In seinem Erleben geht es dem Subjekt nicht darum, etwas festhalten und besitzen zu wollen. Vielmehr lässt es sich von seiner Neugier leiten. Ich hätte lange da stehen und diesen Glocken zuhören können. Die Luft war voller Schwingungen. In meinem Kopf schien es zu läuten. Der Boden schien zu beben, und die Luft war schwer und federte von dem Widerhall. Ich versuchte zu zählen, in wie vielen unterschiedlichen Rhythmen die Glocken läuteten, und herauszufinden, wie viele wohl da oben in dem Turm hingen. Es gelang mir nicht. Ich nahm mir vor, mir über dieses wunderschöne Erlebnis genauer Aufschluß zu verschaffen. Ich versuchte, mir selbst das Wesen des Klangs zu beschreiben, verglich ihn mit dem anderer Glocken, die ich kürzlich gehört hatte.19 Das Subjekt muss nicht kontrollieren, was ihm geschieht, sondern vertraut dem Augenblick und lässt sein Erleben zu. Es scheut nicht davor zurück, die Angst einzugehen, die zur Entwicklung des Selbst dazu gehört. Damit wird das Subjekt mutig, hinter sich zu lassen, was ihm gewohnt und überholt ist. Im Wissen um die Möglichkeit des Scheiterns wagt es sich ins Ungewisse und geht über sich hinaus (vgl. Fromm 1979: 89–92). Als ich auf der Bühne stand, befragt wurde, da war plötzlich alles ganz leicht. Die Zuschauer und die Scheinwerfer habe ich gar nicht mehr gesehen. Ich habe geantwortet, was mir gerade einfiel und über die Zunge kam.20 In seiner Vitalität nimmt das Subjekt auf, was ihm von außen entgegengebracht wird. Es überschreitet damit die Grenzen seines Selbst. Dabei bringt es seine Identität in einer Weise ein, dass es mit ihr zum Leben erweckt, was von ihm berührt wird. Durch seinen Austausch mit der Alterität fühlt sich das Subjekt selbst bereichert. Ich stand dicht neben [vielleicht einem Dutzend junger Leute; B.R.] und hatte Thomas auf den Schultern. Thomas bewegte sich zum Takt der Musik hin und her und klatschte mit den Händen. Die Musik war kraftvoll und erregend. Ich war in Hochstimmung und fühlte mich beschenkt.21 Entsprechend seinen augenblicklichen Bedürfnissen geht das Subjekt flexibel mit seinen inneren und äußeren Grenzen um, öffnet oder schließt es sie, wie es ihm angenehm ist. Es genießt, wie es die Welt in sein Selbst aufnimmt. Das Subjekt wird von seinem Erleben beglückt. Ich öffnete die Vordertür, und es regnete. Ein paar Minuten stand ich da, vollkommen in diese Schönheit versunken. […] Ich bin von einem Gefühl von Vielgestaltigkeit, Verwo18 19 20 21

Buggenhagen 1996: 68. Hull 1992: 218. Buggenhagen 1996: 69. Hull 1992: 215.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

benheit und Harmonie erfüllt. […] Wenn ich dem Regen zuhöre, bin ich das Spiegelbild des Regens und mit ihm eins.22 Umgekehrt ist es dem Subjekt auch möglich, sich darauf zu verlassen, dass es mit seinen eigenen Identitätsentwürfen und -projekten auf die Alterität einwirkt und dass es sich zu seiner Freude mit ihnen verbindet. Mein Siebzigster gibt mir die Gelegenheit, unbescheiden zu feiern.23 Die Angelegenheiten, die das Subjekt mit dem umbrochenen Körper im Hier und Jetzt betreibt, macht es um ihrer selbst willen. Indem es sich ihnen widmet, verfolgt es keinen anderen Zweck. Dabei bedeutet Vitalität nicht, dass das, was das Subjekt dabei erlebt, immer angenehm sein muss. Bisweilen quält ihn sein Erleben im Hier und Jetzt auch ganzheitlich. Eine pechschwarze Fliege läßt sich auf meiner Nase nieder. Ich verdrehe den Kopf, um sie abzuschütteln. Sie klammert sich fest. Die griechisch-römischen Ringkämpfe bei den Olympischen Spielen war nicht so wild.24 In einem unmittelbaren Austausch mit der Welt oder mit den sozialen Systemen erkennt das Subjekt, was sein Selbst mit seinen Grenzen und Möglichkeiten ausmacht. Dadurch wird ihm seine Vitalität bewusst, d.h. sie wird ihm zu einem Teil seiner Identität. Ich ging mit einem sehr lebhaften Eindruck von diesem Ort fort. Ich fühlte mich nicht isoliert oder abstrakt, vielleicht deshalb, weil ich mich aktiv beteiligen konnte, die Kinder hochhob, damit sie besser sehen oder die Knöpfe drücken konnten. Da die Kinderreime und Märchen mir vertraut waren, hatten wir viel Gesprächsstoff.25 Trauern um das Verlorene: Zur Vitalität, die das Subjekt bei einem körperlichen Umbruch aufweist, gehört auch, dass es darum weiß, was es verlor und nicht wieder gewinnen wird, dass es bereit ist, die damit verbundenen Gefühle zuzulassen und sich von seinem Verlust zu lösen, und dass es offen dafür ist, sich den besonderen Möglichkeiten seines Lebens zuzuwenden. Doch sich neu binden kann das Subjekt nur, nachdem es getrauert hat, und trauern kann es nur, wenn es im langwierigen Prozess retrospektiver und prospektiver Reflexion erkannte, was ihm durch den Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit dauerhaft abhanden kam. Seine Trauer ist dadurch bedingt, dass ihm bewusst wird, wie begrenzt seine Eigenständigkeit ist und wie sehr es, um sein Leben fortsetzen zu können, auf Bedingungen angewiesen ist, die außerhalb seines Selbst liegen. »Niemand kann sich vorstellen, wie abhängig ich bin. Es zeigt mir immer wieder, dass keine Maschine sicher genug sein kann.« Ich weine.26

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Hull 1992: 46, 48. Härtling 2007: 67. Bauby 1997: 102. Hull 1992: 138. Balmer 2006: 44.

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Das Subjekt ist traurig, weil sein Körper ihm nicht mehr erlaubt zu tun, was ihm all die Zeit davor wesentlich war. Infolge seines körperlichen Umbruchs muss es Identitätsprojekte aufgeben. Für mich war das Reiten, wie Du weißt, immer ein Wunsch, doch nach einiger Zeit musste und wollte ich diesen Traum schweren Herzens aufgeben.27 Ein weiterer Grund der Trauer liegt darin, dass das Subjekt nicht mehr so ist, wie es bis dahin seinem Ideal entsprach. Zugleich muss es in seine Identität die Angst vor einer ungewissen Zukunft annehmen. Ich habe immer noch Schwierigkeiten damit, auf meine Rolle als Vater, als dem Geselligen, der anderen immer ein Gefühl des Zuhauseseins vermittelt, verzichten zu müssen. Wie lange kann ich noch darauf vertrauen, als gute Gesellschaft zu gelten?28 Schließlich kann sich die Trauer daraus ergeben, dass das Subjekt merkt, dass es sich in den sozialen Systemen nicht mehr so wie vor dem körperlichen Umbruch in seiner Identität zeigen kann. Die Narration, mit der es sich seiner Alterität sonst mitteilte, steht ihm nicht mehr in ihrer gewohnten Form zur Verfügung. Der scharfsinnigste Einfall wird stumpf und fällt durch, wenn es mehrere Minuten dauert, ihn vorzubringen. Wenn er dann endlich zur Sprache kommt, versteht man selbst nicht mehr, was einem so amüsant daran vorkam, ehe man ihn mühsam Buchstabe für Buchstabe diktiert hat. Ungelegen kommende Geistesblitze müssen also ausgespart werden. Das nimmt dem Gespräch seinen quecksilbrigen Schaum, die Bonmots, die man sich wie einen Ball abwechselnd zuwirft, und dieser erzwungene Mangel an Humor gehört für mich zu den Nachteilen meines Zustandes.29 Die Trauer ist nicht nur einmalig, sondern vermittelt durch die Erlebnisse des Alltags spürt das Subjekt sie immer wieder neu. Dann und wann muss ich an meine geniale Hightech-Wohnung denken, an meine Freunde, an meine Familie. Es sind Bilder, Gedanken, die mir Heimweh machen, und meine Tränen durchtränken mein Kissen, wie ich es wohl noch nie erlebt habe.30 Es ist ein Zeichen von Vitalität, dass das Subjekt weiß, worum es trauert, und dass es den Verlust als einen Teil seines Selbst annimmt. Infolge seiner Identitätsarbeit muss es sich nicht mehr bemühen, den Verlust im Alltag abzuwehren. Verschiedene Begleitumstände dieses Besuchs hatten mich beunruhigt. Ich hatte mich vor dem Gefühl des Verlusts gefürchtet, das sich noch einmal einstellen würde, wenn ich an einem Ort sein würde, mit dem sich für mich so viele visuelle Erinnerungen verknüpfen. […] Als Blinder plötzlich in eine Welt voller Erinnerungsbilder zurückversetzt

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Lürssen 2005: 57. Hull 1992: 135. Bauby 1997: 72f. Balmer 2006: 87.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

zu werden machte mich ganz unglücklich. Besonders bestürzte mich der Gedanke, daß ich den Anblick der Küstenlinie nicht würde genießen können.31 Auch wenn das Subjekt weiter davor zurückscheut, seiner Trauer erneut zu begegnen, lässt es sich durch das mögliche Wiedererleben seines Verlusts nicht mehr darin einschränken, seine Vorhaben und Pläne in die Tat umzusetzen. Als Ausdruck der Vitalität geht ihm die Kohäsion des Selbst nicht dauerhaft verloren, wenn das bewusste Erleben des zurückliegenden Verlusts sein Selbstverständnis erschüttert. Ich muß gestehen, daß sich alle diese Befürchtungen erfüllt haben. Drei oder vier Tage später stellte sich ein hartnäckiges Asthma ein, das sich erst nach zehn oder zwölf Tagen wieder legte. Ich habe tief gelitten, ja sogar Schmerz gespürt.32 Hinwendung zum Leben: Nur das Subjekt, das in der Lage ist, immer wieder von Neuem zu trauern, ist dazu fähig, sich dem Leben zuzuwenden und an den sozialen Systemen teilzuhaben. Doch gerade diese Hinwendung zum Leben und zur Alterität lässt dem Subjekt erst bewusst werden, was es durch den körperlichen Umbruch verlor. Erst wenn es die Trauer zulässt, hört das Subjekt auf, sich selbst zu entwerten, und gewinnt es wieder an Selbstwert. Doch bis es soweit ist, bemüht sich das Subjekt oft lange, das Geschehnis, das seine Körperlichkeit unumkehrbar aufhob, nicht wahrzunehmen und die Bedeutung des Verlusts seiner gewohnten Körperlichkeit für sein Selbst abzuwehren. Erst wenn dem Subjekt nach einer unbestimmten Zeit die Affekte aufbrechen, beginnt der Prozess der Identitätsarbeit, der zur Vitalität führt. Unter Tränen rief ich meinen Onkel an. Er war am nächsten Tag da, und wir konnten reden: über die Trennung und wie alles weitergehen sollte und konnte. […] Trotzdem, der endgültige Abschied von Viktor, die letzte Umarmung, Pia, es war furchtbar.33 Das Subjekt empfindet die Affekte unmittelbar in dem Augenblick, wo es durch den stattgefundenen oder vorausgeahnten Verlust eines wichtigen Selbstanteils in seinem Selbstverständnis erschüttert wird. Ich empfand eine tiefe Traurigkeit, die ich im Gegensatz zu Traummomenten ganz klar definieren und differenzieren konnte. Erst gerade noch heiter und glücklich, wurde ich von einer tiefen Gewissheit eingeholt. »Warum?«, fragte mich mein Arzt […]. »Ich weiss es: In diese Wohnung kehre ich nie mehr zurück, wenn ich morgen bei Ihnen ins Krankenhaus eintrete.«34 Zur Vitalität gehört auch, dass das Subjekt selbst dort seine Trauer zulässt, wo ihm noch gar nicht klar ist, worauf sie sich wirklich bezieht. Mein Blick fixierte Peters Rücken, Hinterkopf, Beine und Gangart. Ich musste schmunzeln, weil alles so ganz typisch Peter war. Und dann ganz plötzlich befiel mich eine abgrundtiefe Traurigkeit und Gewissheit im Herzen, dass ich Peter nie mehr sehen würde.

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Hull 1992: 133. Hull 1992: 134. Ruscheweih 2005: 17. Balmer 2006: 138f., 139.

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Es tat mir im Herzen weh und wiederum überwältigte mich eine starke Sehnsucht und Traurigkeit, die ich mir damals im Augenblick des Abschieds nicht erklären konnte.35 Während des Prozesses, in dessen Verlauf das Subjekt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit Vitalität gewinnt, ereignet sich in ihm Widersprüchliches. Einerseits ist es bestrebt, soviel wie möglich von seinen vertrauten Gewohnheiten zu bewahren, um sich die Mühen der Identitätsarbeit zu ersparen, andererseits setzt es sich in einem inneren Zwiegespräch mit dem auseinander, was es durch den körperlichen Umbruch verlor, sei es nun ein wichtiger Teil seines Selbst oder ein bedeutsamer Anderer. Bisweilen wiederholt das Subjekt auch unbewusst den Verlust, um dadurch Zugang zu seiner Trauer zu finden und sein jetziges Erleben mit früheren ähnlichen Widerfahrnissen zu vergleichen, zu verbinden oder abzugrenzen. Oder das Subjekt sucht zufällig oder absichtlich Orte wieder auf, die ihm früher bedeutsam waren. Beim ersten Mal hat mich Rührung überwältigt, als der Krankenwagen zufällig an dem ultramodernen Gebäude vorbeifuhr, in dem ich früher mein verwerfliches Gewerbe als Chefredakteur einer berühmten Frauenzeitschrift ausübte. […] Ich habe einige Tränen vor der Bar vergossen, in der ich manchmal das Stammessen aß. Ich kann ziemlich diskret weinen. Dann sagt man, mein Auge träne.36 Unter Inanspruchnahme äußerer Ressourcen und in retrospektiver und prospektiver Reflexion ist es dem Subjekt allmählich wieder möglich, nicht unter dem zu leiden, was es verlor. Neben dem Schmerz, der Angst, der Scham, der Wut oder der Schuld empfindet es wieder Freude über das zwar Verlorene, aber früher von ihm Gelebte. Wenn das Subjekt über Vitalität verfügt, hindert es sein Wissen um den Verlust nicht mehr, sich mit Freude dem zuzuwenden, was ihm im Hier und Jetzt zu leben möglich ist. Wenn ich an einen mir vertrauten Ort zurückkomme, wie zur Kapelle des King’s College in Cambridge, erfüllt mich oft ein tiefes Gefühl von Verlust. An einem neuen Ort kümmere ich mich gewöhnlich nicht darum, wie er aussehen mag. Ich schiebe das als unerreichbar fort und konzentriere mich auf die Aspekte, die zu mir durchdringen können.37 Während der sich über Wochen oder Jahre hinziehenden Identitätsarbeit wird dem Subjekt allmählich aus der äußeren Suche nach dem Verlorenen ein inneres Finden, sodass es den umbrochenen Körper kohärent in seine Identität einzubeziehen weiß (vgl. Kast 1982: 7–156). Das Subjekt gewinnt durch den Prozess an innerer Stärke. An den Grenzen seines Selbst begegnet es seiner Sterblichkeit und lernt in seiner Trauer, seine Vergänglichkeit in seine Identität einzubeziehen. Es erkennt, dass es nur weiterlebt, wenn es sich zu verlieren vermag. Aus seinen Erfahrungen heraus weiß das Subjekt nun, dass es selbst dann nicht in seinem Selbst zerbrechen muss, wenn es verliert, was ihm wesentlich ist.

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Balmer 2006: 144. Bauby 1997: 79, 80. Hull 1992: 218.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Ich werde unser gemeinsames Gespräch und die damit verbundene Trauer über den Verlust der eigenen Atemkraft nie mehr vergessen. Wir mussten uns für einen Luftröhrenschnitt entscheiden, um mein Leben zu retten.38 Kreativität: Wie zur Vitalität die Bereitschaft und Fähigkeit des Subjekts gehört, in der Trauer sich von dem zu lösen, was ihm durch den körperlichen Umbruch in der Identität verloren gegangen ist, gehört zu ihr sein Vermögen, bestehende Beziehungen in ungewohnte Zusammenhänge zu stellen. Mit seiner Kreativität vermag das Subjekt etwas zu schaffen, das noch nie da war und das für es selbst oder für die Mitglieder der sozialen Systeme, denen es angehört, bedeutsam ist. Indem das Subjekt zu einer stimmigen Ganzheit fügt, was bis dahin für sich blieb, bringt es berührende Kunstwerke, umstoßende wissenschaftliche Erkenntnisse oder sportliche Höchstleistungen genauso hervor wie besonders lustvolle Abläufe in der Sexualität oder überraschende Sichtweisen im Alltag. Auch dass es dem Subjekt gelingt, mit dem umbrochenen Körper wieder handlungsfähig zu werden, ist darauf zurückzuführen, dass ihm jetzt glückt, zu verbinden, was es zuvor nicht zusammenbrachte. Vier Jahre habe ich mich nun mit dem Problem herumgeschlagen, wie ich ohne Notizen in der Öffentlichkeit sprechen kann. […] Ich scheine jetzt eine Methode des vorausschauenden Denkens gefunden zu haben, ich mache mir klar, was ich sagen will. Das tut beim gewöhnlichen Sprechen jeder, sonst könnten wir keinen Satz zu Ende führen. Auf die eine oder andere Weise, und zwar ohne bewußte Anstrengung, kann ich jedoch noch weiter vorausdenken […].39 Wie es Sache des Künstlers ist, eine Vielzahl von Motiven, Materialien, Stilen und Traditionen in ein einheitliches Kunstwerk zu fügen, hat das Subjekt eine Vielzahl von Rollen, Projekten, Motivationen und Affekten in die Einheit eines einzigen Lebenslaufes zu bringen. Unabhängig davon, ob es sich um einen einzelnen kreativen Akt oder um einen gesamten kreativen Lebensstil handelt, muss das Subjekt von der Struktur seiner Identität, also von den verinnerlichten Erfahrungen her in der Lage sein, flexibel mit den inneren und äußeren Grenzen umzugehen. Dumm kann man sein, man muß sich nur zu helfen wissen. Also entwickelte ich eine Lösungsidee für das Problem, die im direkten Wortsinne Gold wert war. Ich würde Jörg heiraten, damit das Wohnungs- und Arbeitsstellenproblem, das den Hauptgrund für die angeordnete Rückkehr in die Heimat war, auf einfache Art und Weise lösen. Man konnte sich ja nach einem halben Jahr, wenn alles in die richtige Bahnen gelenkt war, wieder scheiden lassen.40 Oft wird das Subjekt gerade dann kreativ, wenn es in seiner Identität an existentielle Grenzen kommt. Weil ihm ein einzelnes Ereignis diese Grenzen bewusst macht oder weil sie ihm auf Grund früherer Erfahrungen dauernd bewusst sind, wagt es das Subjekt, bestehende Beziehungen in ungewohnte Zusammenhänge zu stellen. Der kreative

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Balmer 2006: 76. Hull 1992: 142, 143. Buggenhagen 1996: 75f.

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Prozess selbst erfolgt dabei stets in einem besonderen Übergangsraum, der zwischen dem Innen und dem Außen, dem Selbst und der Welt liegt, aber mit beiden verbunden ist. Dieser besondere Raum ist im kindlichen Spiel ebenso anzutreffen, wie er sich in der Kunst oder im Glauben finden lässt. Vielfach durch ein äußeres, aber nicht bewusst wahrgenommenes Geschehen ausgelöst erfolgt in ihm eine starke Hinwendung zum inneren Erleben. Eine zufällig wahrgenommene Anregung veranlasst das Subjekt, etwas in seinem Selbst zusammenzuführen. Dann aber gab mir eine scheinbare Kleinigkeit den entscheidenden Anstoß dazu, schließlich meinen Weg heim selbst zu suchen. An einem der schönen Sommertage, als alle Welt in leichter Kleidung an den Strand ging, sah ich einen jungen Mann in einem T-Shirt mit der provozierenden Aufschrift: »Just Do It!« Das schien mir sofort ein Motto für mich zu sein. Es galt, die scheinbaren Unmöglichkeiten einfach zu tun.41 In einer vorübergehenden Diffusion der gesamten Identität oder von Teilidentitäten entstehen neue Zusammenhänge und Verbindungen, wie es auch im Agieren oder im Träumen möglich ist. Mit der verstärkten Öffnung nach innen gelangen Vorstellungen ins Bewusstsein, die dem Subjekt bis dahin unbewusst waren. Während diese Vorstellungen anfangs ungeordnet sind und sich nur schwer benennen lassen, bekommen sie allmählich eine fassbare Gestalt und finden ihren sprachlichen Ausdruck. Nachdem sie mit früheren und anderen Erfahrungen verknüpft worden sind, schließen sich die nach innen offenen Grenzen wieder. Dann werden im Weiteren dem Subjekt seine Einfälle zu Identitätsentwürfen und -projekten, wenn es sie als wertvoll einschätzt. Sprechend oder handelnd teilt es sie der Alterität mit. Ich grinste ihn an. »Das ist es. Das tun wir. Wir sammeln alle überflüssigen künstlichen Beine in England und Wales und bringen sie nach Kroatien!«42 Die Einfälle wirken auf das soziale System zurück, in dem sie im kreativen Prozess entstanden sind. Um annehmen zu können, was das Subjekt in seiner Kreativität schafft, muss ein soziales System von seiner kollektiven Identität her in der Lage sein, die Angst aushalten, die mit der Öffnung von Grenzen einhergeht. Dann wirkt der Einfall des Subjekts sich belebend auf das gesamte soziale System aus und führt es als ganzes über seine Grenzen hinaus. Meine Begleiter waren sichtlich nicht begeistert von meiner Idee, bei dem saukalten Wetter zu baden. Schließlich schaffte ich es trotzdem, Jan Lory und Franz Michel von meinen Badegelüsten zu überzeugen. Sie entwickelten eine Strategie, wie sie mich mit möglichst wenig Anstrengung in den Swimmingpool transferieren konnten: Es musste die Beatmungsmaschine vom Rollstuhl abmontiert und neben den Swimmingpool gestellt werden, das Ventil des Beatmungsschlauches durfte nicht nass, der Kopf musste stabilisiert werden und so weiter. […] Zugegeben, der Wind war wirklich kalt. Doch

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Peinert 2002: 88. Mills 1996: 265.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

nichts konnte mich von meinem Bad abhalten. Dana zog mir einen steifen Halskragen und die schiffseigene Seenotweste an.43 Umgekehrt kann auch die Kreativität der Alterität das Selbst des Subjekts erweitern. Um anzunehmen, was dort geschaffen wurde, muss das Subjekt von seiner Seite bereit sein, Angst auszuhalten. Ich musste wegen eines Lungeninfektes eine Antibiotika-Behandlung mit Infusionen über mich ergehen lassen. Die starken Medikamente machten mich sehr müde, und ich lag Tag und Nacht auf meinem Sofa, schaute gelangweilt Fernsehen. »Ach, wenn ich doch nur wenigstens eine Minute an die kalte, frische Winterluft gehen könnte!«, jammerte ich vor mich hin. »Wo liegt das Problem?«, fragte mich meine Pflegerin und Freundin Dana. »An einer Infusion zu hängen ist noch lange kein Grund, nicht am Leben teilzunehmen und nicht spazieren zu gehen.« »Die verdammte Infusion«, antwortete ich mit hängendem Kopf. Dana kam mit dem Hausbesen in das Wohnzimmer und fragte, wo ich Schnur habe. […] Sie begann den Besen mit der Schnur an meine Rollstuhlrücklehne zu binden, hängte meine Infusionsflasche an den Besenstiel. »Nein! Das geht doch nicht. Was ist, wenn die Infusionslösung draussen gefriert?« Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, kam Dana schon mit meiner dicken Strickmütze und stülpte diese kurzerhand über die Infusionsflasche. »Nun zufrieden? Jetzt kann die Infusionslösung nicht mehr frieren.« Sie lachte. Wir gingen spazieren und anschliessend einkaufen, was einigen Dorfbewohnern die Sprache regelrecht verschlug.44 Originalität: Zur Vitalität, die bei einem körperlichen Umbruch zu beobachten ist, gehört schließlich auch die Originalität einer Identität. Durch die Art, wie das Subjekt die Ereignisse und die Struktur der Identität miteinander verknüpft, wird es einmalig und unverwechselbar. Im Umgang mit dem umbrochenen Körper passt es sich nicht einfach den Vorgaben der sozialen Systemen an, sondern verändert sie bei der Entwicklung seiner Identitätsentwürfe und -projekte nach seinen Bedürfnisse. Indem das Subjekt auf das zurückgreift, was es aus seinen Vorerfahrungen verinnerlichte, gelingen ihm Verbindungen, wie sie nur ihm möglich sind. Ich bat Fiona, mich heimlich in den nächsten Ort zu fahren, wo ich mir ein wunderbares enges blaues Kleid mit einem Seitenschlitz kaufte, damit ich mich auf Krücken bewegen und das Bein ausschwingen konnte. Dazu kaufte ich mir ein passendes blaugoldenes Chaneltuch, um es über den Verband an den Stumpf zu binden.45 Im genauen Wissen um seine körperlichen Bedingungen gestaltet das Subjekt seine Identität. Einmalig und unverwechselbar ist auch die Art, wie es sich in ein soziales System einbringt und Beziehungen zur Alterität aufnimmt Bei mir hängt das Kennen eines Menschen davon ab, ob ich seinen Namen weiß. […] In Ontario ging ich so vor, daß ich mir die Namen der Leute einzuprägen versuchte.

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Balmer 2006: 24. Balmer 2006: 119f., 120. Mills 1996: 232.

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Ich ließ mir die Teilnehmerliste immer wieder vorlesen und konnte einfach darum bitten, zu dem Träger eines bestimmten Namens hingeführt zu werden […]. Erst als ich die Stimme hörte und den Händedruck spürte, der von nun an mit diesem Namen verbunden war, konnte ich so etwas wie eine Erwartung ausbilden. Um den Namen herum baute ich die Geschichte der jeweiligen Person.46 Einmalig und unverwechselbar kann auch die Art sein, wie sich das Subjekt aus Beziehungen löst. Ich habe mir auch eine sehr zufriedenstellende Methode ausgedacht, wie ich mich am Schultor von [Thomas; B.R.] verabschieden kann. Wenn er über den Schulhof davon läuft, ruft er »bye« zu mir zurück. Ich reagiere darauf, indem ich auch »bye« rufe, und wir rufen uns abwechselnd diese »byes« zu, die immer leiser werden, je weiter er wegläuft, bis seine letzten »byes« schließlich vom allgemeinen Hintergrundgeräusch des Schulhofs verschluckt werden. Wenn ich mich, nachdem ich mit aller Kraft gewunken habe, zum Gehen wende, höre ich einen letzten, schon ganz schwachen Ruf, »bye«. Dieses Spiel umgeht das abrupte und bestürzende Verschwinden, das ein Blinder normalerweise erlebt, wenn er sich von jemandem verabschiedet.47 Da das Selbst nicht durch eine Fassade verstellt ist, wird das Subjekt von der Alterität in seinem Wesen erkannt. Es wirkt dabei echt und ursprünglich. Dennoch ist es dem Subjekt möglich, solange es notwendig ist, sich äußeren Bedingungen anpassen. Obwohl die Alterität den Eindruck haben mag, als sei die zeitliche Kontinuität der Identität unterbrochen, ist ihre Kohärenz nicht gefährdet. In seiner Vitalität verliert das Subjekt nicht sein Wissen um sein wahres Selbst. Dann wohnt selbst seinen Missgeschicken eine gewisse Originalität inne. Ich erinnere mich, wie ich mich vor Jahren in unserem Wartburg Tourist über die Ladefläche von hinten ins Fahrzeug bugsierte, die Beine hinterherwarf und sie mir genau ins Gesicht schleuderte. Mit kurioser Folge. Ich hatte mir mit den eigenen Knien das Nasenbein angebrochen! Das sollte erstmal einer nachzumachen versuchen.48

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Tiefe aus der Reflexivität

Bewusstheit für das eigene Selbst: Durch die geleistete Identitätsarbeit weist die Identität des Subjekts Tiefe auf – nach Kohärenz und Vitalität die dritte Eigenschaft von Authentizität. Dabei bedeutet Tiefe (vgl. Ferrara 1998: 96–100): Das Subjekt hat einen bewussten Zugang zu seinem Selbst, weiß um seine Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit und wahrt seine Identität selbst dann, wenn die äußeren Umstände ihm nicht gewogen sind. Nach dem körperlichen Umbruch macht es die Tiefe der Authentizität aus, dass das Selbst gerade auch die Erfahrungen einbezieht, die durch den umbrochenen

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Hull 1992: 114, 115. Hull 1992: 212. Buggenhagen 1996: 96.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Körper bedingt sind. Das Subjekt weiß, dass es durch diese Erfahrungen gewachsen ist. Fast ein Vierteljahrhundert Behindert-Sein hat mir langsam, Schritt für Schritt, Kämpfen beigebracht.49 Daher gehört zur Tiefe das Wissen um die Tragweite des körperlichen Umbruchs, bezogen auf das Selbst und bezogen auf die sozialen Systeme. Die Bewusstheit des Selbst beinhaltet den Verlust der zeitlichen Kontinuität. Meine Welt ist von nun an geteilt zwischen denen, die mich vorher gekannt haben, und den anderen. Was für ein Bild mögen sie sich von meiner früheren Persönlichkeit machen? Ich habe nicht einmal ein Foto in meinem Zimmer, das ich ihnen zeigen könnte.50 Ebenso weiß das Subjekt um die Gefährdung der Kohäsion seines Selbst, die infolge des körperlichen Umbruchs fortbesteht, und um die zurückliegende Identitätsarbeit. Schon ein einziger Tag ohne Arbeit, ohne die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren, kann von neuem ein Gefühl von Not und Leid heraufbeschwören. Ich fühle mich immer noch wie ein Mensch an einer künstlichen Niere, aber zunehmend auch wie ein Mensch, dem es gelungen ist, zu überleben.51 Die Bewusstheit für das eigene Selbst einschließlich der für das Körperselbst ist von Subjekt zu Subjekt unterschiedlich. Sie kann von der Oberfläche, die einem weitgehenden Fehlen des Wissens um sich selbst gleichkommt, bis zu einer Tiefe reichen, die fortwährend weiter vergrößert wird, solange das Leben andauert. Das Subjekt ist sich gleichermaßen der Seiten seiner Identität bewusst, die es mit Stolz erfüllen, wie derer, die für das Selbst oder seine Alterität unangenehm sind. Mühsam fühlte ich mich nicht nur, ich war es auch.52 Die Vernunft, die sich aus der Bewusstheit für das eigene Selbst ergibt, beruht nicht auf einer Abspaltung der Affekte, sondern umfasst die Gefühle in ihrer ganzen Fülle von Freud und Leid. Das Subjekt vermag aufkommende Emotionen zu beherrschen und sie in seine Identität einzuordnen, weil es sie bewusst wahrnimmt, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Die Tiefe der Identität bezieht auch die äußeren Bedingungen ein, die das Selbst prägen, auf die das Subjekt in seinem Selbstverständnis bezogen ist und derer es weiterhin bedarf, um sich zu erhalten und zu entwickeln. Auch wenn der Verlust der gewohnten Körperlichkeit die Aufnahme der Welt in den sensomotorischen Körper veränderte, ist die authentische Identität inzwischen stark genug, um sich treu bleiben zu können. Weder entstehen in ihr große Spannungen, noch muss das Subjekt seinen Bezug zur Alterität abbrechen, weil es etwas erlebt, das ihm den körperlichen Umbruch einmal mehr bewusst werden lässt.

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Buggenhagen 1996: 158. Bauby 1997: 86. Hull 1992: 209. Balmer 2006: 51.

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Körperlicher Umbruch

Verglichen mit meiner Reise hierher vor mehr als vier Jahren verspürte ich eines jedoch nicht: Groll gegen die Welt der Sehenden. Ich hatte nicht das Gefühl, mich aus der Welt der Sehenden zurückziehen und mich in der weniger fordernden und tröstlicheren Welt der Blinden, die mich verstehen würden, verlieren zu wollen.53 Die Bewusstheit für das eigene Selbst und für die Erfahrungen, die sich aus dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergeben, zeigt sich im Lebensstil (vgl. Adler 1978: 54) des Subjekts, das heißt in der langfristigen Ausrichtung seiner Identität über die Zeit hinweg. Aus dem Lebensstil ergibt sich ein Verhalten, welches das Subjekt unverwechselbar erscheinen lässt, und eine ganz eigene Art, an Aufgaben heranzutreten und Schwierigkeiten zu lösen. Ich bin nicht a priori stark, aber ich bin stärker geworden. Ich bin Marianne geblieben, aber habe enorm viel gelernt. Aus einer grauen Maus ist jetzt eine hellgraue geworden.54 Durch die Identitätsarbeit sind dem Subjekt die besonderen Erfahrungen, die dem körperlichen Umbruch entstammen, nicht mehr Last oder Behinderung. Vielmehr gehören sie selbstverständlich zu seinem Leben und bereichern sie seine Identität, geben sie ihm eine Verantwortung und vertiefen sie seine Beziehungen zur Alterität. Es ist selten, dass sich jemand in solch einer privilegierten Lage – als Patient und Arzt zugleich – befindet, und ich hoffe, dass ich diesem Privileg gerecht werde.55 Retrospektive Selbsterkenntnis: Die Selbsterkenntnis, welche die Tiefe bedingt, ist retrospektiv und prospektiv ausgerichtet (vgl. Janzen 2008: 12–22, 59–69). Bei der retrospektiven Selbsterkenntnis erfasst das Subjekt im Rückblick einzelne Teilidentitäten oder die Identität als Ganzes in ihrem jetzigen Zustand und Gewordensein immer wieder von Neuem. Ein erfülltes Sportler-Leben? Ja und nein. Erfüllt, weil ich mir selbst und vielen anderen bewiesen habe, daß man – wie Hemingway sagt – zerstört werden kann, aber nie aufgeben darf. Das habe ich, durch alle Zweifel, Ängste und Schwächen hindurch, so geschafft, daß ich heute sagen kann: Seht her, ich bin Marianne Buggenhagen. Ich habe meine Behinderung, die eine zweifache – körperlich und seelisch – zu werden drohte, besiegt. Ich hatte lange totale Minderwertigkeitskomplexe, habe geweint, wenn mich jemand bloß angesprochen hat. Fünf Jahre bin ich nicht zu Klassentreffen gefahren – aus Angst vor unvorhergesehenen Situationen. Natürlich werde ich nie wieder laufen können, aber der Gedanke daran beherrscht mich schon lange nicht mehr.56 Auch wird dem Subjekt sein Dasein und Sosein ebenso bewusst wie seine Lebensgeschichte mit den verschiedenen Internalisierungen, Identifikationen und Introjekten, die sich in der Struktur seiner Identität niederschlagen und sie formen. Dazu erkennt

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Hull 1992: 137. Buggenhagen 1996: 9. Todes 2005: 22. Buggenhagen 1996: 66.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

es die ihn jetzt und früher antreibenden Motivationen, die möglichen Verdrängungen, Projektionen und Spaltungen, die weiteren reifen und unreifen Abwehrmechanismen und die verschiedenen Bewältigungsstrategien kognitiver, emotionaler und sozialer Art. Zudem weiß es um die Vielzahl der von ihm umgesetzten und aufgegebenen Identitätsentwürfe und die einzelnen verwirklichten oder gescheiterten Identitätsprojekte. Bezogen auf die Tiefe der Identität bei einem körperlichen Umbruch lässt sich dreierlei aussagen: Zum Ersten ist das Subjekt mit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit und dessen Folgen für seine Identität vertraut. In der Retrospektion wird ihm aus den vielen einzelnen Erlebnissen inzwischen eine Ganzheit. Mein Blindwerden war die Folge von Tausenden von kleinen zufälligen Ereignissen. Sie waren kein »Weg«, und ich wurde nicht auf ihm in das Blindsein geführt. Wenn ich zurückschaue, sehe ich die Kette der Ereignisse, und sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Weg, aber jede unberührte Wüste ist von Wegspuren durchkreuzt, wenn man sie einmal durchquert hat.57 Selbstverständlich benutzt das Subjekt nun die Sprache, in der die Spezialisten des Gesundheitswesens über seinen Körper sprechen, um für sich selbst das körperliche Geschehen einzuordnen und gegenüber der Alterität die körperlichen Veränderungen zu bezeichnen. Meine Krankheit, die eine vollständige Lähmung des ganzen Körpers mit sich bringt, sollte sich in den Jahren des Überlebens komplexer zeigen, als ich gedacht hätte. Nicht in den kühnsten Alpträumen hätte ich mir vorstellen können, wie viele weitere Krankheitsbilder meine Krankheit in sich bergen kann.58 Dem Subjekt ist klar, dass sich die Veränderungen in seinem Körper nicht nur auf sein Körperselbst auswirkten, sondern dass sie andere Teilidentitäten beeinflussten und weiter beeinflussen werden. Ich konnte an mir selbst beobachten, wie die Krankheit sich von einer nur leichten Bewegungseinschränkung zu etwas entwickelte, das mich heute daran hindert, meinen Beruf auszuüben, und einen weiteren Verlust der körperlichen Beweglichkeit befürchten lässt.59 Zum Zweiten gehört es zur Tiefe der Identität nach einem körperlichen Umbruch, dass das Subjekt in der Retrospektion das körperliche Geschehen bewertet. Dabei vermag das Subjekt gleichzeitig Gegensätzliches zu empfinden. Ich hatte einen schrecklichen Verlust erlitten und dabei gleichzeitig etwas Wundervolles gewonnen.60 Das Subjekt kennt seine Einstellung zu der von ihm geleisteten Identitätsarbeit. Wenn es betrachtet, was es nach dem körperlichen Umbruch für sein Selbst erreichte, kommt

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Hull 1992: 220. Balmer 2006: 93. Todes 2005: 163. Hull 1992: 227.

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es für sich zum Ergebnis, dass sich die von ihm gewählte Bewältigungsstrategie bewährte. Schwer vorstellbar, wie diese zwanzig Jahre seit dem Basketball-Erlebnis ohne Sport verlaufen wären. Ärmer, freudloser auf jeden Fall. Dabei hatte ich zu Beginn natürlich nicht den geringsten Schimmer, daß ich mich zwei Jahrzehnte später als sechsfache Olympiasiegerin und siebenfache Weltmeisterin feiern lassen durfte.61 Das gilt sowohl für die Bewältigungsstrategie, die das Subjekt über Jahre hinweg verfolgte, als auch für diejenige, der es nur für kürzere Zeit nachging. Diese Kombination aus Gruppenübungen, Singen, Trommeln und »Pop-Mobility« half mir, die Depression zu überwinden, unter der ich seit der Operation in Birmingham gelitten hatte. Meine verbesserte Motorik und Stimmgebung halfen mir sehr dabei, die Depression zu bekämpfen, und – wie ich hoffe – den weiteren Verlauf der Erkrankung zu ändern.62 Dem Subjekt wird deutlich, dass sich durch seine Identitätsarbeit auch die Art verändert, wie es mit dem körperlichen Umbruch und den körperlichen Veränderungen umgeht. Von dem befriedigenden heutigen Zustand ausgehend ist sich das Subjekt sicher, dass es gut daran tat, zu überdenken, wie es zur Inanspruchnahme von Ressourcen steht. Meine Einstellung zum Rollstuhl hat sich geändert. Ich sehe ihn als Helfer und nicht als Schreckgespenst. Wenn mir die Wege zu lang sind, setze ich mich hinein und rolle durch die Stadt, aber ich weiß, das ich jederzeit aufstehen kann, um zu laufen. Diese Erkenntnis ist wichtig. Daran merke ich auch, dass der Quellenhof mir bei meinem Umgang mit der MS und dem Hilfsmittel Rollstuhl geholfen hat.63 Wenn das Subjekt in der retrospektiven Selbsterkenntnis bedenkt, zu welchem Ergebnis sein Bewältigungsverhalten und seine Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch kam, stellt es für sich fest, dass es insgesamt für den Aufwand einen guten Ertrag erhielt. Wer kann da noch fragen: »Hat sich denn die ganze Mühe gelohnt?« Wo wäre ich heute, hätte ich nicht aktiv mitgeholfen, die Situation zu verbessern? Ich säße hilflos, vergrätzt, meine Minderwertigkeit beweinend, mit mir und der Welt hadernd im Rollstuhl, mir und der Welt, vor allem meiner Frau, eine Last. So bin ich heute trotz allem wieder ein fröhlicher, auch in Gesellschaft verträglicher Mensch.64 Das Subjekt kann aber auch bemerken, dass es mit dem Ergebnis seiner Identitätsarbeit im Alltag noch nicht zufrieden ist.

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Buggenhagen 1996: 54. Todes 2005: 161. Ruscheweih 2005: 48. Peinert 2002: 97.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Die von mir beschriebenen Techniken, mit denen ich gegen Panik und Depression ankämpfe, sind nur zum Teil erfolgreich.65 Zum Dritten macht es die Tiefe der authentischen Identität aus, dass das Subjekt das angepasste allgemeine Identitätsempfinden betrachtet, das es durch die Arbeit an seiner Identität erreichte. Es ist sich des Weges bewusst, den es inzwischen zurücklegte. Das Subjekt sieht, wie weit es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit von seinen angestrebten Identitätszielen entfernt war. Nützlich, selbstbewußt, verläßlich [zu sein; B.R.], das wünschte ich mir lange, und ich fühlte mich doch ganz anders: Unnütz, ängstlich, verlassen. Das hatte mit mir und meiner Umwelt gleichermaßen zu tun. Ich gab mir keine Chance, war es da unnormal, daß mir die »anderen« erst recht keine gaben? Ohne den Sport wäre das womöglich immer so geblieben. Daran zog ich mich quasi am eigenen Schopfe aus dem Sumpf der Selbstaufgabe, in dem ich zu versinken drohte. Wenn ich den Sport nicht gehabt hätte, wäre ich im Pflegeheim gelandet oder asozial geworden.66 Zurückblickend stellt das Subjekt fest, wo es einen Weg verfolgte, der sich nicht bewährte. Es hing beispielsweise lange falschen Annahmen an, wie seine beruflichen und körperlichen Teilidentitäten aufeinander bezogen sind. Meinen Arbeitszwang rechtfertigte ich mit der Notwendigkeit, für die Ausbildung meiner Kinder sorgen zu müssen, und deren noch recht junges Alter machte es somit unerlässlich, noch viele Jahre weiterzuarbeiten. Diese Einstellung mag auch von einer gewissen »Parkinson-Persönlichkeit« herrühren, die ich erst Jahre später besser begriff […].67 In der retrospektiven Selbsterkenntnis hat das Subjekt weiterhin gemerkt, wie sich sein Selbstbild veränderte. Dazu gehört nicht nur, dass es Teilidentitäten nun anders aufeinander bezieht und damit die Kohärenz seiner Identität neu erschafft, sondern auch, dass es anderes als davor für wesentlich erachtet. Ich habe lernen können, den Begriff Erfolg neu zu definieren. Ein Erfolg ist nämlich nicht nur quantitativ zu messen. Nicht die Strecke in Metern oder Kilometern, die man auf seinen eigenen Füßen zurücklegen kann, mißt den Erfolg der physischen Verbesserung, sondern man lernt wieder, die kleinen Wunder des menschlichen Körpers richtiger einzuschätzen.68 Wenn das Subjekt sein verändertes Identitätsempfinden bedenkt, erkennt es, dass es mit dem Ergebnis der von ihm geleisteten Identitätsarbeit und der gegenwärtigen Struktur seiner Identität zufrieden ist. Es hebt hervor, dass es nun über Möglichkeiten verfügt, die es früher nicht hatte, dass es mehr als zuvor versteht, was die Welt ausmacht, und dass es Beziehungen zur Alterität einzugehen weiß, die von wechselseitiger Anerkennung bestimmt sind. 65 66 67 68

Hull 1992: 81. Buggenhagen 1996: 157. Todes 2005: 50. Peinert 2002: 93.

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Reisen bildet, heißt es, und aus »Unbildung« ist inzwischen bei mir wenigstens eine Art »Halbbildung« geworden. Auf drei Kontinenten – Europa natürlich, Amerika und Australien – habe ich meine Fotos geschossen, andere Menschen – nicht nur Sportler – kennen- und schätzengelernt, im Wettkampf Freundschaften geschlossen.69 Prospektive Selbsterkenntnis: So wie es eine Selbsterkenntnis gibt, die retrospektiv ist und dabei den körperlichen Umbruch und seine Folgen, den Prozess der Identitätsarbeit und das angepasste allgemeine Identitätsempfinden betrachtet, gibt es auch eine Selbsterkenntnis, die prospektiv ist. Sie erfasst die Identität in ihren Entwürfen und zukünftigen Projekten sowie in ihrer Entäußerung der Alterität gegenüber durch Handeln und Sprechen. Ich brauchte lange, bis ich gelernt hatte, daß es nicht meine Sache sein kann, Schicksal – was auch immer man darunter verstand – in stiller Demut zu ertragen. Nun will ich diese Erkenntnis auch mit aller Konsequenz ausleben. Im Grunde bin ich ein harmoniesüchtiger Mensch. Doch, wenn es verlangt wird, kann ich auch mal gegen den Strich bürsten.70 Das Subjekt kann angeben, was nach dem körperlichen Umbruch zu seinen Identitätsentwürfen und -projekten führte. Ihm ist ihre Absichtlichkeit vertraut, die sich aus den verschiedenen Empfindungen, den Hoffnungen und Befürchtungen, Auffassungen und Überzeugungen, Wünschen und Bedürfnissen, Idealen und Trieben ergibt, weiterhin ihre Bedingtheit durch gegenwärtige Erlebnisse oder durch innere und äußere Ereignisse und schließlich ihre Ausrichtung an übergeordneten Identitätszielen. Dieses Wissen beinhaltet nicht nur den langfristigen Lebensstil des Subjekts, sondern ist auch für seine alltäglichen Entscheidungen wichtig. Wenn ich mir den Fernseher einschalten lasse, darf ich mich nicht vertun. Ich muß höchst strategisch vorgehen. Es können nämlich drei oder vier Stunden vergehen, bevor die gute Seele kommt, die ein anderes Programm einschalten kann, und manchmal ist es besser, auf eine interessante Sendung zu verzichten, wenn eine tränenreiche Serie, ein abgeschmacktes Spiel und eine reißerische Talk-Show folgen. Der Beifall auf Teufel kommt raus tut mir in den Ohren weh. Ich ziehe den stillen Genuß von Dokumentarfilmen über Kunst, Geschichte oder Tiere vor. Ich sehe sie mir ohne Kommentar an, so wie man ein Holzfeuer betrachtet.71 Was das Subjekt an Tiefe gewinnt, wirkt sich auf sein Leben im Großen wie im Kleinen aus. Es hat für sich herausgefunden, was es bewahren oder was es weiterentwickeln will. Mein Bedürfnis nach innerer Übereinstimmung, ein Bedürfnis, das in meinem Falle zum Christentum geführt hat, treibt mich dazu, meinem Erleben auf den Grund zu gehen, mit ihm zu ringen, es Schicht um Schicht freizulegen, eine Bedeutung in ihm

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Buggenhagen 1996: 138. Buggenhagen 1996: 107. Bauby 1997: 100.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

zu suchen und diese Bedeutung in einen Zusammenhang mit den anderen Bereichen oder Aspekten des Lebens zu stellen.72 Dem Subjekt ist klar, was ihm wesentlich und unveräußerlich ist. Ich würde alles hergeben, um meine Würde zu erhalten: Meine Bibliothek, die CDs, die Musikanlage, meinen Fernseher, mein Aquarium, meine Fische, die Meerschweinchen, die Pendeluhr, meinen Computer, mein Sofa, meinen Rollstuhl. Ja, auch auf meine Beatmungsmaschine würde ich verzichten. Doch meine Würde, die werde ich nie, niemals hergeben. Selbst angesichts des Todes werde ich auf meiner Würde bestehen.73 Auch vermag das Subjekt mitzuteilen, was ihm wirklich wertvoll ist. Hoch dekoriert, dagegen habe ich nichts. Doch nur Dekor zu sein für was auch immer, das lehne ich ab. Ich will mich einbringen, ich selbst sein. […] Ich hoffe, daß Auszeichnungen oder Ehrungen für mich auch andere Behinderte dazu bringen, sich auch mal was zu trauen, von dem sie vorher gedacht haben, es sei unerreichbar.74 Wege der Selbsterkenntnis: Auf verschiedenen Wegen vermag das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch Selbsterkenntnis zu gewinnen; gemeinsam ist ihnen, dass bis dahin Unbewusstes bewusst wird. Das Subjekt lernt, die Rückmeldung der Alterität, mit der sie auf sein Erzählen oder Handeln antwortet, zu nutzen, um sich besser zu verstehen; denn stets erkennen die Anderen in ihrer Wahrnehmung mehr über das Selbst, als das Subjekt bis dahin erkannt hat, und unvermeidlich fließt in ihre Antwort ein, was sie an ihm bemerkt haben. Gerade das Subjekt, das über Authentizität verfügt, wird die Rückmeldung der Alterität als hilfreich erleben, weil sie über das ihm bereits vertraute Wissen seines Selbst hinausgeht. Es wird diese Rückmeldung sogar von sich aus suchen und bemüht sein, sie zu erhalten, um seine Selbsterkenntnis zu vertiefen. Auch vermag ein künstlerisches oder geistiges Werk die Selbsterkenntnis des Subjekts nach einem körperlichen Umbruch zu fördern. Falls es ein anderer geschaffen hat, kann es von diesem Werk in zuvor nicht geahnter Weise angesprochen werden und dadurch mehr von seinem Wesens erkennen. Wenn das Subjekt aber selbst ein Werk geschaffen hat, begegnet es sich unweigerlich in solchen Anteilen seines Selbst, die bis dahin außerhalb der Kohärenz seiner Identität lagen. Das Subjekt mag ein Werk sogar deshalb schaffen wollen, um sich mehr von seinem Wesen zu erschließen. Schließlich tragen auch nach einem körperlichen Umbruch die Fehlleistungen des Alltags wie das Versprechen, Vergessen, Verlegen oder Verlieren oder die Handlungen, bei denen Absicht, Plan und Ausführung nicht übereinstimmen oder bei denen es zu besonders auffallend starken Affekten kommt, dazu bei, die Selbsterkenntnis des Subjekts anzuregen. In ihnen bricht sich das Unbewusste Bahn, das im Selbst abgelegt ist, ohne bisher vom Subjekt als Teil seiner Identität angenommen zu sein. Als Königsweg, um Unbewusstes zu erkennen, gilt jedoch der Traum.

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Hull 1992: 186. Balmer 2006: 90. Buggenhagen 1996: 151.

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Ich bin seit drei Jahren als Blinder gemeldet. […] In dieser Zeit habe ich ständig weiter in Bildern geträumt. Dank der farbenprächtigen Freiheit, die ich beim Träumen erlebe, sind die Träume sogar besonders angenehm geworden.75 Der Traum drückt bildhaft aus, was das Selbst ausmacht und womit es sich gerade unbewusst befasst. Meine Träume scheinen der Realität ungefähr sechs Jahre hinterherzuhinken.76 Die Selbsterkenntnis ergibt sich aus der Bedeutung, die das Subjekt seinen Träumen gibt. Wenn es dem Subjekt gelingt, sich von ihren Affekten berühren zu lassen, ihre Bildhaftigkeit mit seinem bewussten Einfällen zu verbinden und ihre oft rätselhaften Inhalte in das gewohnte Denken zu übersetzen, versteht es, seine Träume für die alltägliche Identitätsarbeit zu nutzen. Mit Hilfe seiner Träume versteht das Subjekt, welche Struktur seine Identität gegenwärtig aufweist, in welchem Prozess sie sich befindet und auf welche übergeordneten Ziele sie ausgerichtet ist. So kann der Traum die Unsicherheit infolge der veränderten Körperlichkeit abbilden. Ich träumte, ich sei Mitglied in einem kleinen Orchester. […] Ich war in einer schrecklichen Verfassung, denn ich konnte die Noten nicht lesen. Ich war blind. Ich hatte keine Ahnung, was ich spielen sollte.77 Oder der Traum stellt die Identitätsarbeit dar, in der sich das Subjekt gerade befindet. Der Traum deutet auch an, daß überall um mich herum Fragmente meines alten Lebens, meines bewußten Lebens als Sehender, wegbrechen und in eine alles verschlingende Welt der Blindheit hinabstürzen.78 Des Weiteren zeigt der Traum die sozialen Ressourcen, die das Subjekt gerade in Anspruch nimmt. Heute nacht habe ich im Traum das Musée Grévin besichtigt. Es hatte sich sehr verändert. […] Im ersten Raum habe ich die ausgestellten Personen nicht gleich erkannt. Da der Kostümbildner sie in Stadtkleidung gesteckt hatte, mußte ich sie eine nach der anderen mustern und ihnen im Geiste einen weißen Kittel überziehen, bevor ich merkte, daß diese gaffenden Kerle im T-Shirt, diese Mädels im Minirock, diese zur Statue erstarrte Hausfrau mit ihrem Einkaufswagen, dieser junge Mann mit Motorradhelm in Wirklichkeit die Krankenschwestern und Pfleger waren, die sich von morgens bis abends an meinem Bett ablösen. Alle waren sie da, in Wachs erstarrt […]. Beim Verlassen des Raumes dachte ich, daß ich sie alle gern mag, meine Quälgeister.79 Außerdem kann im Traum ein Selbstbild vermittelt werden, das in das allgemeine Identitätsempfinden noch nicht einbezogen ist.

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Hull 1992: 28. Hull 1992: 33. Hull 1992: 59. Hull 1992: 215. Bauby 1997: 109, 111.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Im Schlaf hörte ich die Bremsen eines Lastwagens quietschen, und ich erwachte mit heftigem Herzklopfen. Der Traum wurde beendet, bevor ich erfuhr, ob wir meine Leiche tatsächlich zum Ziel bringen konnten und vor allem bevor ich wusste, was das Ziel war. Während des Traums verspürte ich weder Angst noch eine Belastung, sondern eher eine Unbeschwertheit, die ich während des Aufwachens und auch später noch mit dem Traum, mit der furchtbaren und makabren Tatsache, mich als Leiche gesehen zu haben, nicht vereinbaren konnte.80 Schließlich lässt sich im Traum sehen, wie das Subjekt Identitätsentwürfe und -projekte umsetzt. Heute morgen bin ich ganz erfrischt aufgewacht, denn ich hatte eine schöne, traumerfüllte Nacht. Eine lange Serie von sehr aufregenden Abenteuergeschichten, alle in Technicolor, wurde gezeigt, und als ich aufwachte, hatte ich ein sonderbares Gefühl der Reinheit. Mein Denken war erneuert worden, hatte Ferien gemacht, war in offene Räume gereist und hatte das freie und aufregende Leben in der visuellen Welt kennengelernt.81 Grenzen der Selbsterkenntnis: Indem das Subjekt bei einem körperlichen Umbruch seine Aufmerksamkeit nach innen richtet, erkennt es sich selbst. Beim Blick nach innen wird dem Subjekt aber auch die psychische Repräsentation der Alterität bewusst. Wie sein Selbst erkennt es die Anderen nun anders, mehr oder genauer als zuvor. Die Paralympics in Seoul 1988, das heißt, die kleinen Bruchstücke, die davon per Fernsehen und Printmedien zu mir gelangten, steigerten den Zorn und die Entrüstung über die verordnete Entmündigung. Ich verglich die Ergebnisse mit dem, was ich zu leisten imstande war, und wußte danach: Marianne, du könntest jetzt mehrfache Olympiasiegerin sein!82 Doch nie führt die Reflexivität zu einer vollständigen Bewusstheit des eigenen Selbst. Auf die Dauer des ganzen Lebens bezogen kommt die Erkenntnis des Selbst stets von Neuem an Grenzen, da sich das Subjekt im Austausch mit seiner Umwelt fortlaufend ändert; stets geschieht ihm etwas neu, was ihm sein Selbst erst bewusst werden lässt. Und auf den Augenblick bezogen ist das Subjekt gefordert, sich immer tiefer zu erkennen, weil es seine Aufmerksamkeit nur auf die Selbstanteile zu richten vermag, die durch innere oder äußere Ereignisse angeregt sind; stets bleiben Teile des Selbst einschließlich des Körperselbst unbeachtet. Daraus ergibt sich eine nicht aufzuhebende Restunsicherheit über das eigene Wesen. Ich habe mich also durchaus verändert während der Krankheit. Wie weit die Veränderungen gehen und ob sie Bestand haben, wage ich heute noch nicht abschließend zu bewerten.83

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Balmer 2006: 17. Hull 1992: 225f. Buggenhagen 1996: 60. Peinert 2002: 32.

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Körperlicher Umbruch

Dennoch kann das Subjekt eine Bewusstheit des Selbst erlangen, die es ihm erlaubt, Aussagen zu treffen, die seine Identität sowohl in ihrer Dauer als auch für den Augenblick bezeichnen. Gerade die Ereignisse, die wie der Verlust der gewohnten Körperlichkeit das gewohnte Selbstverständnis brechen, tragen dazu bei, dass das Subjekt sich tiefer als bisher bewusst macht, wer es ist und wer die Anderen sind. Jede Selbsterkenntnis, woraus sie auch immer gewonnen ist und wie begrenzt sie auch sein mag, wird erst dann vollends gültig und wahr, wenn das Subjekt sie sprachlich fasst, sie der Alterität mitteilt und sie durch die Narration in einen Kreislauf steter Erweiterung bringt. Das gilt für die Gewissheiten, aber auch für den Zweifel. Der Philosoph Brentano schuf viele seiner schöpferischen Werke, nachdem er blind geworden war, und er schrieb das seinem Blindsein zu. Soll ich beginnen, mich selbst nicht mehr als einen durch ein Gebrechen behinderten, sondern als einen mit einer Gabe ausgestattenen Menschen zu sehen?84

5.3

Autonom und versöhnt in der Realität

Zum Wesen der Autonomie: Zur Tiefe der Authentizität bei einem körperlichen Umbruch gehört nicht nur, dass das Subjekt sich selbst zu erkennen vermag, sondern auch, dass es autonom ist. Seine Autonomie führt dazu, dass es sein Denken und Handeln als von der Identität bestimmt erlebt. Sie erlaubt ihm, sich unabhängig gegenüber seiner inneren oder äußeren Realität zu verhalten statt zu agieren und zwanghaft zu handeln oder von der Alterität als Objekt behandelt zu werden. Durch die von ihm geleistete Identitätsarbeit ist das Subjekt eigenständig gegenüber der Realität außerhalb seines Selbst. Selbstbestimmt geht es ebenso mit den Bedingungen der sozialen Systeme um, in denen es mit dem umbrochenen Körper lebt, wie es sich zu deren Werten verhält, die Ansprüche handhabt, welche die Alterität an es richtet und unabhängig über all das verfügt, was es früher erlebt und in seinem Selbst abgelegt hat. Dabei meint Autonomie etwas Anderes als Authentizität (vgl. Ferrara 1998: 5–10). Jede Authentizität, das heißt Wahrhaftigkeit und Echtheit des Selbst, beinhaltet Autonomie, also Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, geht aber darüber hinaus. Deshalb ist es möglich, dass ein Subjekt autonom handelt, ohne dabei authentisch zu sein. Wenn das Subjekt seine Bedürfnisse nicht spürt oder sie betrügt, wenn es einen Lebensplan verfolgt, der nicht zu seiner Identität passt, dann denkt und handelt es ohne Authentizität, aber durchaus autonom. Das Gleiche ist der Fall, wenn das Subjekt aus Affekten heraus handelt, ohne dass ihm die bewegenden Gefühle bewusst sind. Auch Handlungen, die einer Tradition folgen, können autonom, aber nicht authentisch sein; demnach verfügt eine übernommene Identität nie über Authentizität. Schließlich sind Handlungen autonom, aber nicht authentisch, die das Subjekt begeht, um sozial anerkannt zu werden, weil authentische Identität und der Wunsch, für die eigenen Handlungen kognitive Achtung, soziale Wertschätzung oder emotionale Zuwendung zu erhalten, in sich widersprüchlich sind.

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Hull 1992: 229.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Als Eigenschaft der Authentizität ist Autonomie doppelt ausgerichtet, nämlich nach innen und nach außen, gegenüber dem Selbst und gegenüber der Alterität. Dabei braucht die Autonomie gleichermaßen gegenüber der inneren wie der äußeren Welt flexible Grenzen; und zugleich wirken Innen und Außen zusammen. Damit das Subjekt bei einem körperlichen Umbruch über innere Autonomie verfügen kann, ist es auf die Alterität angewiesen. Ich gehöre zu den jüngeren Menschen mit dieser todbringenden Krankheit. Umso schwerer ist es manchmal für meine Umwelt zu verstehen, wenn ich in gewissen Situationen das Sterben vorziehen würde. Jedoch kann ich mich erst für oder gegen das Überleben entscheiden, wenn ich alle die mir zur Verfügung stehenden Optionen kenne, das heisst, wenn ich von einem Arzt über diese aufgeklärt werde.85 Autonomie nach innen und nach außen: Die Autonomie gegenüber der inneren Welt folgt aus der Selbsterkenntnis. Wenn es dem Subjekt gelungen ist, vorhandene ungute Introjekte aufzuheben, nachteilige Identifikationen aufzulösen und schädliche Internalisierungen abzugrenzen, ist es frei, in der Gegenwart zu leben, ohne von seiner Vergangenheit beeinträchtigt zu sein. Die Autonomie gegenüber der äußeren Welt verlangt, dass das Subjekt in einem längeren Prozess lernte, die Realität außerhalb des Selbst angemessen wahrzunehmen und die von ihr auf das Selbst einwirkenden Kräfte zutreffend zu erfassen. Das Subjekt setzt seine Bedürfnisse um, selbst wenn die Alterität sie missbilligt. Gudrun erscheint nur zu besonderen Anlässen bei den Gruppentreffen. Weil sie berufstätig ist, telefonieren wir oft abends miteinander. Unsere Männer schätzen diese stundenlangen Gespräche nicht sehr, aber uns hilft’s.86 Auch versteht das Subjekt, sich zu behaupten, selbst wenn es sich dabei nicht immer Erfolg hat. Ich erklärte einer in einem medizinischen Beruf tätigen Person zum x-ten Mal, dass […] ich über mein weiteres Leben so entscheiden werde, wie es gut für mich und meine Mitmenschen ist. Worauf sie mir antwortete: »Wir Prämienzahler entscheiden, ob Sie überhaupt noch Pflege erhalten oder nicht, ob ein Arztbesuch notwendig wird oder nicht. Denn Ihre Krankenkassenprämie reicht ja nicht aus, um all die von Ihnen verursachten Kosten zu decken. Die Mehrheit entscheidet …« Wie recht die Pflegerin doch hat. Es herrsche die Demokratie!87 Darüber hinaus nimmt das Subjekt nicht nur wahr, wie ihm von seiner Alterität die Autonomie abgesprochen wird, sondern auch, wenn sie ihm von der Alterität tatsächlich genommen wird.

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Balmer 2006: 57. Lürssen 2005: 65. Balmer 2006: 50, 50f.

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Körperlicher Umbruch

Ich hatte nie die geringsten Schwierigkeiten, das Telefon zu finden, und ich bin nie an irgend etwas angestoßen, vorausgesetzt, alle Männer schliefen. Es sind diese Hilfsangebote, die mich wirklich behindern.88 Indem das Subjekt die Autonomie nach außen bewahrt, vermag es unabhängig von den sozialen Systemen, denen es angehört, zu handeln und gleichzeitig mit ihnen verbunden zu sein. Dabei bezieht es seine Vorerfahrungen ein. Ich hatte nun die Bestätigung, daß der Mangel an Prothesen groß war, und stellte mich nun der nächsten Aufgabe: die notwendigen Papiere zu besorgen, die unseren Lastwagen den Zugang ins Land erlaubten. Aufgrund meiner Erfahrung mit den Konvois aus Ljubljana wußte ich, daß die richtigen Papiere überaus wichtig waren.89 Auch wenn von außen anderes verlangt ist, folgt das Subjekt auf Grund seiner Autonomie den eigenen Werten bzw. den übergeordneten Identitätszielen. Selbst nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit wird es nicht zum willenlosen Objekt der Alterität. Trotz aller Widrigkeiten weiß das Subjekt, im sozialen System Gesundheitswesen sein Bedürfnis nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung umzusetzen. Allein deshalb, weil es ihm wichtig ist, autonom zu sein, handelt das Subjekt entsprechend. Ich konnte mit Hilfe meines Bettnachbarn einen Rollstuhl, einen fahrbaren »Toilettenstuhl« auftreiben. Dort hinein »hievte« ich mich etwas mühsam über das gesunde Bein und den gesunden Arm. Dann konnte ich nicht nur munter mit dem rechten Bein zur Toilette »rollern«, sondern auch zum Frühstückstisch. Ich glaube, ich habe in den Monaten in der Klinik nicht ein einziges Mal im Bett gefrühstückt.90 Dabei müssen die Vorgaben der Alterität, gegenüber denen das Subjekt Eigenständigkeit und Selbstbestimmung aufrecht erhält, gar nicht ausgesprochen sein. Es ist möglich, dass sie verinnerlicht sind und aus der Struktur der Identität heraus sein Denken und Handeln beeinflussen. Umgekehrt vermag das Subjekt die Struktur seiner Identität auf ihre Richtigkeit und Wertigkeit zu überprüfen, indem es seine Vorerfahrungen mit dem gegenwärtigen Erleben abgleicht. Äußere Schwierigkeiten mit Erfolg zu bewältigen, vergrößert die innere und äußere Autonomie. Die Maschine hörte nicht auf, sich selbst zu triggern. Etwa eine Viertelstunde konnte ich mit einer speziellen Atemtechnik […] ohne Beatmungsmaschine Ruhe bewahren, während ich schnellstmöglich Beatmungsschläuche austauschte, Abluftventil auseinander- und wieder zusammenbaute, Membrane überprüfte, sämtliche SoftwareEinstellungen kontrollierte, die Triggergrenzeinstellungen etwas weniger empfindlich einstellte. Endlich kam ich zum Schluss, dank Logik, dass die Software irgendwie die Daten des grünen Schläuchleins, das den aufgebauten Druck der Beatmungsmaschine misst, nicht mehr richtig verarbeitete. Und das alles selbständig.91

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Hull 1992: 171. Mills 1996: 262. Peinert 2002: 30. Balmer 2006: 104.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Autonomes Handeln: Damit das Subjekt nach einem körperlichen Umbruch autonom handeln kann, müssen Selbsterkenntnis und Realitätswahrnehmung zusammenwirken. Unter Berücksichtigung seines umbrochenen Körpers entwickelt es eigene Identitätsprojekte und setzt sie handelnd in die Tat um. Indem es vertritt, was es braucht, und sein Selbst bewahrt, ohne sich anzupassen, schafft es aus seiner Identität heraus Beziehungen zur Alterität und verortet sich in einem sozialen System. Wenn ich beweisen wollte, daß mein intellektuelles Potential weiterhin dem einer Schwarzwurzel überlegen war, konnte ich nur auf mich selbst bauen. So ist eine kollektive Korrespondenz entstanden, die ich Monat für Monat fortsetze und dank derer ich immer mit allen, die ich liebe, in Verbindung bin. Mein Stolz hat Früchte getragen.92 Bei seinen Handlungen bezieht sich das autonome Subjekt auf die Geschehnisse der inneren wie der äußeren Welt und findet gleichermaßen einen stimmigen Abstand zu seinen unbewussten Empfindungen und zu den Oberflächlichkeiten seines Alltags. Ohne Scham folgt es dem, was sein umbrochener Körper verlangt. Auch wenn das Einwirken seines viszeralen Körpers auf die Welt nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit nicht mehr dem entspricht, was sozial anerkannt ist, macht das Subjekt sich unabhängig von den Bewertungen der Alterität und handelt auf seine Weise. Was Außenstehende amüsieren und peinlich berühren mag, ist für uns eine normale Vorsichtsmaßnahme: »Pampers« im Gepäck. Muß man das schamhaft verschweigen? Nein! Ich muß es nicht vor mir hertragen, aber wer wirklich mehr über mich wissen will, vor dem muß ich aus dem »Anderssein«, was nach all dem Normalen kommt, kein Geheimnis machen.93 Die Autonomie, die nach einem körperlichen Umbruch besteht, ist dabei nicht allein auf die Körperlichkeit bezogen. Sie gilt ebenso für andere Identitätsbereiche. Ich hatte mich von dem doktrinären Vertrauen in die klassische Psychoanalyse befreit und auf eine abtrünnige Position zu bewegt, in der meine eigene Individualität nicht unterdrückt werden musste, sondern positiv und unterstützend die Interaktion mit dem Patienten beeinflusste.94 Ein autonomes Subjekt fühlt sich für Struktur und Prozess seiner Identität verantwortlich und geht die Angst ein, die zu ihrer Erweiterung gehört. Das heißt aber nicht, dass es nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit seine Autonomie allein aus sich heraus erzeugt. Es ist sich bewusst, dass es die Alterität notwendig braucht, um selbstbestimmt und eigenständig zu handeln. [Bei dem; B.R.] Prozess der Wiederfindung des eigenen Ich, das verloren gegangen war, helfen mir viele Menschen und dafür bin ich dankbar. Aber sie alle können mir den Weg zu mir nicht selbst abnehmen. Ob der Weg zum Ziel führt, kann von ihnen allen mit beeinflußt, gefördert oder auch behindert werden. Ich brauche den fachlichen Rat

92 93 94

Bauby 1997: 82. Buggenhagen 1996: 85. Todes 2005: 64.

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Körperlicher Umbruch

meiner medizinischen Helfer, die menschliche Unterstützung aller. Entscheidend aber wird sein, was ich selbst daraus mache.95 Fähigkeit zum Alleinsein: Zur Tiefe der Authentizität bei einem körperlichen Umbruch gehört weiterhin die Fähigkeit des Subjekts, allein zu sein. Diese Fähigkeit ist nicht zu trennen von der Autonomie. Vor Kummer über mein Blindsein tut mir nun nicht mehr fast ständig das Gehirn weh. Im Zustand meines Denkens hat eine merkwürdige Veränderung stattgefunden. Mein Denken hat sich offenbar nach innen gewendet und sucht bei sich selbst neue Kraftquellen. Da es auf Stimulierung durch die äußere Welt weitgehend verzichten muß, muß es seine Funktionen und Prioritäten neu bestimmen. Ich fühle mich jetzt klarer, wacher und intellektuell neugieriger als je zuvor in meinem Leben.96 Das Subjekt muss genügend gute frühere Beziehungen verinnerlicht haben, um auszuhalten, wenn es sich von der Alterität getrennt erlebt, ohne zu wissen, wann ein Bezug zu ihr wieder entstehen wird. Um die Zeit zu überbrücken, in der es nicht in seinem Selbstwert bestätigt wird, muss das Subjekt vorübergehend nicht nur sich selbst genügen, sondern auch die innere Gewissheit aufweisen, dass es wieder mit der Alterität in Beziehung kommen wird. Ich durfte in den VIP-Raum, setzte mich in eine Ecke und wurde von den Kameraleuten fast umgestoßen. Mich störte es nicht, völlig unbeachtet in Ruhe gelassen zu werden, im Gegenteil.97 Nur wenn das Subjekt in der Lage ist, die Einsamkeit auszuhalten und allein zu sein, vermag es autonom zu handeln. Denn es gehört zum Wesen der Autonomie, dass das Selbst sich von der Alterität unterscheidet und zeitweise auch von ihr getrennt ist. Ich trage in der Klinik stets Trainingssachen oder normale sportliche Kleidung, dem weißen Schwarm bei der Chefarzt-Visite gehe ich wohlweislich aus dem Wege, obwohl ich mit der Chefin gut befreundet bin. Sie tut das Ihre, ich das Meine – und dabei arbeiten wir gut zusammen und ergänzen uns bestens.98 Gerade um die Authentizität zu wahren, ist es erforderlich, dass es dem Subjekt möglich ist, sich zurückzuziehen und abzuwarten, was geschehen wird. Ich kann mich jetzt zurückhalten und geduldig darauf warten, dass andere sich für neue Testreihen zur Verfügung stellen, während ich die zweite Untersuchungsreihe abwarte, bis ich von aussagekräftigen Ergebnissen zur Wirkung einer neuen Substanz eindeutig überzeugt worden bin.99 Der Rückzug aus einer Beziehung vermag das Subjekt zu erleichtern. Es schützt damit sein Selbst. 95 96 97 98 99

Peinert 2002: 87. Hull 1992: 208. Buggenhagen 1996: 67. Buggenhagen 1996: 98. Todes 2005: 168.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Endlich kann ich alleine sein. Ich habe zwar Angst, alleine zu sterben. Aber lieber bin ich allein, als jemanden an meinem Bett zu wissen, die ich nicht kenne, die meine Vorlieben nicht kennt. Und die mir zuschaut, wie ich schlafe und gegebenenfalls sterbe.100 Versöhnung mit der Realität: Während Autonomie sich als ein Ausdruck der Tiefe begreifen lässt, ist es ein Zeichen von Reife, wenn das Subjekt mit der Realität, die sich nach einem körperlichen Umbruch ergab, versöhnt ist. Auch wenn ich alle diese Umstellungen berücksichtige, glaube ich trotzdem, daß mit dem Blindsein etwas Reinigendes verbunden ist. Man muß sich sein Leben neu schaffen, oder man wird zerstört. Ich hatte insofern Glück, als mein Leben einen ganz starken, zentralen Kern hatte.101 Ohne die Schwierigkeiten zu leugnen, die hinter ihm liegen oder noch immer bestehen, hadert das Subjekt dann nicht mit dem, was ihm geschah, sondern ist damit in Einklang. Der Sport hat aus einer verängstigten, scheuen und unsicheren Marianne Buggenhagen eine Persönlichkeit mit Charakter gemacht. Das verschafft Befriedigung und Genugtuung, auch wenn vieles um mich herum immer noch äußerst unvollkommen ist.102 Durch seine Identitätsarbeit lernte das Subjekt, sich in verschiedenen Teilidentitäten anzunehmen, nämlich in seinem Selbst, in seiner Körperlichkeit und in seinen Beziehungen zur Alterität. Die Beobachtungen der körperlichen Verbesserungen durch die Anwendungen und Bemühungen brachte mir noch weiteren Gewinn. Diese Erfahrungen haben mich auch psychisch verändert. Ich denke heute, daß mehr Geduld mit mir selbst und meinen Angehörigen, sowie mehr Verständnis und mehr Einsicht durchaus Verbesserungen meines Wesens sind und ein Lohn der Mühe, den ich schon jetzt nicht mehr missen möchte.103 Weil es ihm gelungen ist, sich anzunehmen, lebt das Subjekt erfüllt in der Gegenwart. Wenn ich an einem solchen Ort bin, denke ich nicht unentwegt daran, daß da Dinge sind, die ich nicht sehen kann. Meine Aufmerksamkeit und mein Empfinden sind von dem beansprucht, was auf mich einstürmt.104 Das beinhaltet, dass zurückliegende Erfahrungen, die das Subjekt körperlich, seelisch oder zwischenmenschlich verletzten, es nicht mehr schmerzen. Der Verlust der gewohnten Körperlichkeit mit seinen weitreichenden Folgen für das Selbst und das Verhältnis zu den Anderen wird nicht mehr der Alterität angelastet. Das Subjekt fühlt sich für sich selbst verantwortlich. 100 101 102 103 104

Balmer 2006: 136. Hull 1992: 202f. Buggenhagen 1996: 115. Peinert 2002: 96. Hull 1992: 218.

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Körperlicher Umbruch

Doch Behandlungsfehler von damals oder zu späte Reaktion auf Symptome kann ich heute nicht als Selbstrechtfertigung anbringen, um Verbitterung oder Abrechnung zu begründen. Es gab Momente, in denen ich verbittert war. Vielleicht auch welche, in denen ich mit diesem oder jenem abrechnen wollte. Doch »Schuld« an meinem Rollstuhlfahrer-Dasein haben letztlich keine Ärzte, denen ich schließlich sehr viel verdanke.105 Auch weiß das Subjekt zu schätzen, was es durch die Ressourcen bekam, die es im sozialen System Gesundheitswesen nutzen konnte. Ich hatte wohl zum einen das Glück, besonders in der Neurologie von Menschen betreut zu werden, die alle diese freundliche und grundhumane Einstellung von ihrem Wesen her mitbrachten. Ich glaube darüber hinaus, daß das Personal auch psychologisch geschult ist und um den hohen motivierenden Wert von Lob und Ermunterung weiß.106 Weil das Subjekt in seiner Reflexion eigene Fehler erkannte, kommt es dazu, der Alterität zu verzeihen, die an ihm etwas versäumte. Heute vergebe ich allen, die mich nicht besucht haben. Ich liege ja da wie Onkel Hans. Dass ich ihn damals nicht besucht habe, kann ich mir bis heute nicht verzeihen! Du bist ja in dieser Sekunde so schwach. Du hast so viel Angst. Angst davor, den anderen so hilflos zu sehen. […] Aber an meinem eigenen Beispiel lernte ich auch zu verstehen: Die denken an dich – den Mut, dich zu besuchen, haben sie nicht. Sie trauen sich ja nicht mal, dich anzurufen! Heute weiß ich: Es ist diese Angst! Es ist die pure und nackte Angst, vielleicht das gleiche Schicksal zu erleiden! Sie denken: Mein Gott, wenn mir das passiert!107 Dazu kommt, dass das Subjekt mit sich selbst versöhnt ist. Es versteht sich selbst und kann angeben, warum es seine Bedürfnisse handelnd genau so verwirklichte, wie es der Fall war. Ungeachtet der Verluste [von Nervenzellen durch die experimentellen Verfahren; B.R.] hätte ich es jedoch andererseits nicht fertig gebracht, als passiver Patient zu leben. Meine berufliche Neugier als Arzt trieb mich dazu, ein Heilmittel gegen die Krankheit zu suchen. Dabei wurde ich von dem Wunsch vorangetrieben, noch einmal ein aktives, dynamisches Leben führen zu können. Um mit meiner Krankheit anders umzugehen, hätte ich von vorneherein ein anderer Mensch sein müssen.108 Dem Subjekt ist es möglich gewesen, für sich Wege zu finden, wie es ein sinnhaftes und befriedigendes Leben führen kann, auch wenn es lange dachte, dass dem infolge des körperlichen Umbruchs Umstände entgegenstehen, die es verhindern. Die Erfahrung, solche Hindernisse überwunden zu haben, lässt das Subjekt mit der Realität versöhnt sein. 105 106 107 108

Buggenhagen 1996: 31. Peinert 2002: 83. Lesch 2002: 130, 131f. Todes 2005: 167.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Der Rollstuhl hat daran seinen Anteil. Die Alpträume nahmen ab, je länger ich mit ihm zusammenlebte. Was man mit Mühe erworben hat, kann man mit Lust genießen, sagt ein Sprichwort. Und ich erlebte von Jahr zu Jahr mehr, wie sehr es die Sache auf den Punkt traf.109 So erlebt das Subjekt die Realität außerhalb des Selbst, also auch den umbrochenen Körper, nicht mehr als behindernd für die Entwicklung der Identität. Ich denke nicht, daß mein Vergnügen an dem lauten Gesang noch größer gewesen sein würde, wenn ich die Sänger hätte sehen können oder mir jemand ihr Aussehen schon zu einem früheren Zeitpunkt beschrieben hätte. Ich glaube nicht, daß mein Gefühl, beschenkt worden zu sein, geschmälert wurde, weil das visuelle Element fehlte.110 Vielmehr versteht das Subjekt, die Bedingungen der Realität, einschließlich der körperlichen, zu nutzen, um seine Identität zu bereichern. Es wendet sich stärker den Anderen zu. [I]ch hatte gelernt, die Krankheit als Chance zu sehen: das Leben, die Menschen und meine Umgebung intensiver wahrzunehmen, aufmerksamer und interessierter zu werden bzw. zu sein. Das Leben hatte auf einmal einen anderen Stellenwert, eine andere Wichtigkeit für mich, meine Prioritäten änderten sich. Für mich wurden Freunde wichtig.111 In der Beziehung zur Alterität geht es dem Subjekt nicht darum, die eigene Großartigkeit bestätigt zu bekommen, sondern gibt sich in gesunder Selbstbetätigung einer Aufgabe hin, die über das eigene Selbst hinausgeht. Es erweitert gerade dadurch seine Identität, dass es ihre Struktur und ihren Prozess in den Dienst einer Sache stellt, die größer ist als sein Selbst. Meine bisherigen Bemühungen haben meinem Leben eine Dimension verliehen, die mir ein besseres Verständnis für meine Arbeit und andere Menschen ermöglicht. Immer wieder bin ich in tiefe Verzweiflung gestürzt und konnte schließlich doch jedes Mal wieder von neuem Hoffnung schöpfen. Ich habe wertvolle Freundschaften mit Menschen geschlossen, die die gleichen Ziele haben wie ich. Mein Leben hat ein klares Ziel bekommen. Jedes neue Bemühen, jede neue Anstrengung schloss alle Teile und Aspekte meiner Persönlichkeit ein und erweckte die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen meiner Freunde und Verwandten. Immer gab es ein Versprechen auf Erfolg, obgleich es jedes Mal von Neuem zerstört wurde. Am meisten hat es mich aber vor Selbstmitleid und der Gleichgültigkeit gegenüber anderen bewahrt.112 Schließlich kann das Subjekt so weit mit dem körperlichen Umbruch versöhnt sein, dass es ihn nicht mehr als einen Verlust betrachtet, sondern als eine Gabe, die ihm zugeteilt wurde.

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Buggenhagen 1996: 43f. Hull 1992: 216. Ruscheweih 2005: 41. Todes 2005: 169.

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Körperlicher Umbruch

Ich merkte, daß ich wieder über das Blindsein als Geschenk nachdachte. Als der Gottesdienst weiterging und als der gesamte Ort und mein Geist von dieser wunderbaren Musik erfüllt waren, hörte ich mich sagen: »Ich nehme das Geschenk an. Ich nehme das Geschenk an.« Ich war von tiefer Ehrfurcht erfüllt. Ich hatte das Gefühl, in Gottes Gegenwart zu sein […].113

5.4

Reife an den Grenzen

Realitätswahrnehmung: Das angepasste allgemeine Identitätsempfinden lässt sich schließlich durch die Reife kennzeichnen, die sich das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch erworben hat. Reife – neben der Kohärenz, der Vitalität und der Tiefe die vierte Eigenschaft von Authentizität – bedeutet (vgl. Ferrara 1998: 100–106): Das Subjekt findet sich mit den Gegebenheiten seines Lebens ab, seien sie nun körperlich, psychisch, sozial, kulturell, politisch oder ökologisch bedingt, ohne seine Identität aufzugeben. Wie bei der Tiefe das eigene Selbst zu finden ist, so erfasst bei der Reife das Subjekt die äußere Realität, wie sie ist bzw. wie sie von den verschiedenen sozialen Systemen, denen es angehört, bezeichnet wird. Erst wenn das Subjekts erkannt hat, dass etwas außerhalb seines Selbst besteht, vermag es eine Bewusstheit für sein Selbst zu gewinnen; einzig der wahrgenommene Unterschied zwischen Selbst und NichtSelbst verschafft Identität (vgl. Benjamin 1990: 39–45). Zur Erkenntnis der äußeren Realität gehört, dass das Subjekt zwischen seinen Wünschen und der Wirklichkeit sowie zwischen seinem Selbst und dem der Anderen zu unterscheiden weiß. Statt von Projektionen oder Abjektionen bestimmt zu sein, versteht das Subjekt, sich mit seiner Empathie in die Alterität einzufühlen. Es kann ihr begegnen, ohne ihr Anderssein leugnen oder sich selbst verraten zu müssen. Wenn das Subjekt nach einem körperlichen Umbruch über Reife verfügt, ist es ihm möglich, die als gut und die als schlecht bewerteten Seiten seiner Wirklichkeit wahrzunehmen. Bezogen auf die Körperlichkeit beinhaltet das, dass das Subjekt seinen umbrochenen Körper in der somatischen, sozialen und psychischen Dimension mit den sich ergebenden Folgen für den Austausch mit der Welt, den sozialen Systemen und dem Selbst bewusst erlebt, ohne davon überwältigt zu sein oder einen Teil dieses Erlebens abspalten zu müssen. Als Zeichen der Reife erträgt das Subjekt innere Ambivalenz. Ohne dass die erreichte Kohäsion gefährdet wird, hält es aus, dass es zu seinem Körper, zur Alterität oder zum eigenen Selbst gleichzeitig Gegensätzliches empfindet. Liebe und Hass, Zu- und Abneigung bestehen in seiner Identität nebeneinander. Im Nachteil erkennt das Subjekt auch den Vorteil. Hilfe in alltäglichen Situationen ist ein Geschenk. Das nehme ich gerne an und lasse mich verwöhnen. Auch wenn die Durchführung nicht immer meiner Vorstellung entspricht, ich muss es nicht unbedingt selber machen. Dafür habe ich Zeit zum Ausruhen,

113

Hull 1992: 230.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

für die Gesundheit oder etwas anderes, was ich gerne und ohne Anstrengung machen kann.114 Flexibilität: Durch seine Reife geht das Subjekt flexibel mit dem um, was auf sein Selbst einwirkt, und durch seine Selbsterkenntnis ist es sich dessen bewusst, wie es erlebt, deutet und wahrnimmt, was ihm geschieht. Weil es über Reife verfügt, vermag es von sich aus die Bedingungen außerhalb des Selbst zu gestalten. Das gilt gleichermaßen für das, was sich in seinem umbrochenen Körper ereignet, wie für das, was ihm in der äußeren Welt widerfährt. Zwischen Bouillonsuppen als überhaupt einziger Mahlzeit (nicht Henkersmahlzeit) des Tages, auseinander gebauten, auf dem Esstisch liegenden Elektrobestandteilen und Schraubenziehern versuchten [der Fachmann und ich; B.R.] dem Versagen der Beatmungsmaschine einen philosophischen »Sinn« zu geben, während die zahlreich erschienenen Besucherinnen und Besucher in einem Eckchen lässig flüssig gewordenes Schokoladenmousse schlürften. So viel zum Thema Improvisation und Flexibilität.115 Auch wenn die Realität außerhalb des Selbst widrig ist, bewahrt sich das flexible Subjekt die Handlungsfähigkeit. Obwohl wir ein Rollstuhlfahrer-Zeichen an unserem Wartburg hatten, hielt niemand an der Pannennische an, sogar ein Krankenwagen brauste vorbei. Da wir vorne im Auto keinen Rollstuhl hatten, bin ich auf dem Po um das Fahrzeug rumgerutscht, habe den Rolli aus dem Kofferraum gezottelt, um schließlich den Wagen wieder flottzumachen. Was ziemlich kompliziert ist, wenn man sich nicht aufrichten und die Dinge von oben sehen kann.116 Aus der bisherigen Selbsterkenntnis und Realitätswahrnehmung heraus bedenkt das Subjekt verschiedene Wege und wägt sie in ihrer Wertigkeit ab, um den bis dahin erreichten Grad an Autonomie zu bewahren oder sogar noch zu steigern. Ich beschliesse, auf meinen Elektrorollstuhl und auf meine Nachtbeatmungsmaschine zu verzichten und nur das Nötigste mit nach Hause zu nehmen. Das heisst, ich werde die zwei Tage in meinem Handrollstuhl hängen, da ich in diesem keine Stabilität habe. Die Beatmungsmaschine werde ich auf den Knien tragen. Ich setze mich gewissen Risiken aus, da ich nicht auch noch eine zweite Beatmungsmaschine mitnehmen kann.117 Als Ausdruck der erreichten Flexibilität passt das Subjekt die Identitätsentwürfe und -projekte der Wirklichkeit außerhalb des Selbst an. Es berücksichtigt die körperlichen Bedingungen, wie sie seit dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit bestehen. Später wurden beide Kinder eingeschult, und ich wurde in der Schulpflegschaft aktiv. Zwar konnte ich die Kinder bei Ausflügen und ähnlichen Unternehmungen nicht be-

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Lürssen 2005: 58. Balmer 2006: 105. Buggenhagen 1996: 96. Balmer 2006: 89.

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gleiten, aber dennoch half ich bei vielen Anlässen, wie Nikolaus- und Karnevalfeiern sowie Sommerfesten mit, trotz der deutlich sichtbaren Behinderung.118 Die Flexibilität einer reifen Identität beinhaltet, dass das Subjekt sich entsprechend der augenblicklichen Befindlichkeit oder der Aufgabe, die sich ihm stellt, nach innen oder außen öffnet und schließt. Es kann sich ganz der Wirklichkeit außerhalb seines Selbst, der Alterität und eben auch den Erfordernissen seines umbrochenen Körpers hingeben. Jeder hat so seine Tricks, den Darm zu reizen, die meisten benutzen Zäpfchen. Alle drei Tage nach 20 Uhr, so ist mein Turnus, und man kann dann einige Zeit damit zubringen. Man richtet sein Leben auf diese liebgewordenen Gewohnheiten ein. […] Stehen mir – wie gesagt – die Haare zu Berge, dann weiß ich eben, daß ich jetzt nicht das Haus verlassen kann. Gehen wir aus, informiere ich mich in der Regel vorher, ob es in dem Theater oder Kino eine Behindertentoilette gibt.119 Des Weiteren vermag es das Subjekt, sich ganz seinem Selbst hinzugeben, sich auf seine Affekte einzulassen und seinen Träumen zu folgen, um daraus wiederum vertieft die Realität außerhalb des Selbst zu erkennen. Es gibt das Innere nach außen, nimmt das Äußere nach innen und überlässt sich Zuständen, in denen die Grenzen zwischen Selbst und Nicht-Selbst aufgehoben sind. Das Subjekt greift auf, was ihm von den Anderen erfährt. Es ist sogar bereit, die Identität nach ihren Anregungen umzubauen, wenn es sich nach dem körperlichen Umbruch als notwendig erweist, ohne dabei sein Selbst zu verlieren. Schon in den Monaten vor der dramatischen Zuspitzung hatte ich in eigener Verantwortung und in Befolgung ärztliche Ratschläge eine Reihe von Risikofaktoren ausgeschaltet. Vor allem hatte ich, der ich früher ein starker Pfeifenraucher war, das Rauchen völlig aufgegeben.120 Annahme des umbrochenen Körpers: Das Subjekt ist reif, die Grenzen anzunehmen, die sich seinem Selbst stellen. Es wird durch den Verlust seiner gewohnten Körperlichkeit nicht mehr in seinem Selbstwert gekränkt. Wegen seines umbrochenen Körpers bezichtigt sich es nicht mehr als unwert, sondern bezieht ihn als einen wichtigen Teil des Selbst in seine Identität ein. Das Blindsein ist ein Teil meines Lebens, und ich muß versuchen, seine Besonderheiten zu verstehen, damit ich in diesen Teil Vertrauen haben kann. Ich darf jedoch niemals vergessen, daß das Blindsein nur ein Teil ist. Vor allem muß ich versuchen, den Mut aufzubringen, insgesamt Vertrauen zu haben, das heißt als Mensch, in dessen Leben dies ein Aspekt unter anderen ist.121 Das Subjekt weiß, dass es aus seinem umbrochenen Körper heraus leben und mit ihm etwas erleben kann, auch wenn es mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist.

118 119 120 121

Lürssen 2005: 29. Buggenhagen 1996: 85. Peinert 2002: 107. Hull 1992: 186f.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Ich habe akzeptieren müssen, daß auch das selbständige Schwimmen nur langsam und auf Umwegen möglich sein wird. Im physiotherapeutischen Bewegungsbad habe ich bis heute wenigstens gelernt, mich sicher in Rückenlage an der Oberfläche zu halten, auch die Beine notfalls wieder auf den Boden zu bekommen. Ob man das schon Schwimmen nennen kann, ist zweifelhaft. Immerhin ist es doch ein Fortschritt, der sich vielleicht noch verbessern kann.122 Der veränderte somatische Körper ist dem Subjekt gegenwärtig, ohne dass er übermäßig viel seiner Aufmerksamkeit beansprucht oder es in der Identität behindert. So muss es die Folgen der veränderten Körperlichkeit nicht abwehren, vielmehr ist ihm bewusst, dass seine Identität durch seinen umbrochenen Körper in eine Richtung gelenkt wird, die nicht unbedingt der entspricht, in die es sich hat entwickeln wollen. Man hatte [bei mir; B.R.] einen Nierenschaden festgestellt, der die Schwangerschaft komplizieren würde. Es blieb ein Restrisiko für Mutter und Kind, das wir nicht eingehen wollten. Das war schwer zu verdauen, doch wir fanden uns relativ schnell damit ab, denn es gab ja noch andere Möglichkeiten.123 Doch aus dem Gegensatz zwischen körperlichen Grenzen und übergeordneten Identitätszielen ergeben sich keine Spannungen mehr, die das Subjekt erschüttern. Es leidet nicht mehr darunter, dass seine Körperlichkeit nach dem Umbruch dort Grenzen aufweist, wo andere Möglichkeiten haben, und es infolgedessen einen Austausch mit der Welt pflegen muss, der es von der Alterität unterscheidet. Der psychische Körper ist nicht mehr pathisch. Ich liebe Höhlen jeder Art, aber meist ist mir die Besichtigung jetzt nicht mehr möglich, denn immer geht es steile Stiegen rauf und runter. Da bleibe ich lieber am Eingang zurück und schaue mir die verschiedenen Souvenirs, die Postkarten oder Bildbände an.124 Da das Subjekt die Grenzen annimmt, die ihm sein umbrochener Körper setzt, ist ihm nicht mehr das wichtig, was ihm infolge des körperlichen Umbruchs verwehrt ist. Vielmehr hat das Subjekt seine Identität nach den körperlichen Gegebenheiten ausgerichtet und lässt sich von ihnen leiten. Was ich nicht kann, regt mich nicht auf, weil es nicht veränderbar ist. Was ich dagegen kann oder könnte, das regt mich an und im positiven Sinne auf.125 Auch in der sozialen Dimension beachtet das reife Subjekt die Grenzen, die sich aus dem umbrochenen Körper ergeben, ohne an ihnen zuverzweifeln. Es weiß, das es durch seinen Körper dazu gebracht wird, sich der Alterität gegenüber in einer Weise zu verhalten, wie es das vor dem körperlichen Umbruch nicht tat. Aber der umbrochene Körper bestimmt nicht die Beziehung.

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Peinert 2002: 89. Buggenhagen 1996: 81. Lürssen 2005: 94. Buggenhagen 1996: 66f.

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Körperlicher Umbruch

Mir fällt auf, daß ich eine kleine Marotte entwickelt habe, die ihren Grund sicher in meinem Blindsein hat. Wenn ich Leuten die Hand schüttle, benutze ich dabei nämlich beide Hände. Irgendwie verspüre ich das Bedürfnis, mein Wissen von ihrer Anwesenheit so zum Ausdruck zu bringen, daß dadurch ein Ausgleich für meine Unfähigkeit zur Wahrnehmung ihres Lächelns entsteht.126 Das Subjekt ist sich darüber klar, dass es sich durch seine Körperlichkeit von der Alterität unterscheidet, aber sein umbrochener Körper hindert es nicht, sich als gleichwertigen und anerkannten Teil eines sozialen Systems zu erleben. Es ist immer etwas los. Schon jahrelang ging ich nicht mehr spazieren und natürlich waren auch Stadtbesichtigungen zu Fuß nur mit größter körperlicher Anstrengung und gründlicher Planung möglich. Auf unseren Reisen saß ich meistens im Café, schrieb Karten, las im Reiseführer nach, was ich nicht sehen konnte, und genoss die Atmosphäre, während meine Familie die Stadt eroberte. Zu Hause sah ich dann die Dias – auch eine Möglichkeit.127 Annahme der Sterblichkeit: Seine Reife lässt das Subjekt nicht nur den umbrochenen Körper mit seinen Grenzen annehmen, sondern auch seine Sterblichkeit. Sie ist ihm bildhaft vorstellbar. Vielleicht ist das Sterben vergleichbar mit dem Davonziehen eines Vogels. […] Es ist gar nicht schlimm, alt zu werden. Meine Haare, die grau werden, meine Haut, die faltig wird, meine Gelenke, die mich schmerzen werden, mein Körper und Geist, die zerfallen werden. Es sind Zeichen der Alterung, Zeichen des Weges zur Weisheit. Irgendwann werde ich aber meinen Angehörigen, Freunden und Ärzten nicht mehr in die Augen schauen können, weil es mir abgrundtief weh und leid tun wird, mit den Vögeln weiterziehen zu müssen.128 Die Sterblichkeit ist dem Subjekt vertraut: Durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit hat das Subjekt erfahren, dass sein Körper einem ständigen Wandel unterworfen ist. Es empfindet diesen Wandel wie einen Tod. Mit der positiven Reaktion auf das Medikament setzt die motorische Beweglichkeit wieder ein, und ich fühle mich darin bestärkt, wieder voll der menschlichen Gesellschaft anzugehören und nicht nur einem ausgestopften Tier zu ähneln. Mein Geist wurde sozusagen chemisch wiederhergestellt und erinnert mich daran, dass ein Leben ohne Bewegung oder Gefühl einem lebendigen Tod gleichkommt.129 Schmerzhaft ist dem Subjekt bewusst, dass der Tod eine Bedingung jedes Lebens ist und dass auch das eigene nicht davon ausgenommen ist.

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Hull 1992: 83. Lürssen 2005: 76. Balmer 2006: 152. Todes 2005: 111.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Nun stehe ich vor meiner schwierigsten Ausbildung: der Ausbildung zum eigenen Sterben. Der Abschluss würde dann mit dem Tod als Diplom belohnt.130 Doch durch die Reife der Identität kränkt die Sterblichkeit des eigenen Körpers das Subjekt nicht mehr so sehr, dass es sie abwehren muss. Auch löst das Wissen um seine Sterblichkeit keine ohnmächtige Wut mehr aus. Vielmehr ist sich das Subjekt im Klaren, dass gerade die Begrenztheit seines Lebens es ihm ermöglicht, seine Identität zu vollenden und seine Vergänglichkeit zu überwinden. In der Bewusstheit, dass die von ihm erlebte zeitliche Kontinuität eines Tages enden wird, schafft es sich in den Beziehungen zur Alterität eine Zukunft und eine Vergangenheit, die über sein Leben und seine Gegenwart hinausgeht. Es geht davon aus, dass in den Anderen seine Identitätsziele weiterleben werden, wie in ihm Identitätsentwürfe und -projekte lebendig sind, die von Personen stammen, deren Lebenszeit schon lange zurückliegt. Weil die Sterblichkeit zu seiner Identität gehört, vermag das Subjekt darüber nachzudenken, wo es gut sein mag zu sterben. Auf meinen Spaziergängen durch den Wald fühle ich mich in Sicherheit, mitten im Leben geborgen. […] Diese Spaziergänge sind meine persönlichen kleinen Reisen. Es gäbe keinen schöneren Ort zu sterben als vereint mit der Natur im Walde, während eines Spaziergangs im Paradies.131 Seiner Alterität gegenüber äußert das Subjekt auch diesen Teil seiner Identität. Wir sprachen auch über den Zeitpunkt, wann ich sterben würde: Entweder würde die Krankheit die Entscheidung übernehmen oder ich müsste ganz klar, in vollständig intaktem Geisteszustand signalisieren, dass ich nicht mehr leben wolle und das Sterben vorziehen möchte. Der Film stellte dar, dass der Zeitpunkt für mich dann gekommen ist, wenn ich meine Gedanken, meine künstlerischen Fähigkeiten meinem Umfeld, meinen Mitmenschen nicht mehr mitteilen kann. Die Beatmungsmaschine würde langsam zurückgestuft, so dass dieses »Hinüberschlafen«, das schlafende Sterben, erreicht würde.132 Das Subjekt bedenkt, was es nach seinem Tod den Hinterbliebenen mitteilen möchte. Bevor ich das Lied auf Deutsch übersetzen liess, habe ich erklärt, dass ich »Gracias a la vida« nach meinem Tod auf meinem Weg mitnehmen will, dass ich das Lied zu meiner Beerdigung wünsche.133 Zugleich lässt das Subjekt den Schmerz über die Begrenztheit seines Lebens zu. Als ich erfuhr, dass ich innert kurzer Zeit sterben würde, musste ich lachen. Als ich feststellte, dass mir die Medizin nicht mehr helfen konnte, musste ich kämpfen. Als ich spürte, wie mein Körper rapide zerfiel, musste ich mich ergeben. Als ich hörte, wie

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Balmer 2006: 135. Balmer 2006: 29. Balmer 2006: 66. Balmer 2006: 31.

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Körperlicher Umbruch

das Leben ohne mich weitergehen würde, war ich wütend. Als ich fühlte, dass das Abschiednehmen nahte, musste ich weinen.134 Humor: Mit der eigenen Sterblichkeit versöhnt zu sein, erlaubt es dem Subjekt als ein weiteres Zeichen der Reife, den Schwierigkeiten seines Lebens und des umbrochenen Körpers mit Humor zu begegnen. Im Humor fließt zusammen, was sich das Subjekt an Selbstverständnis erwarb. Auch ich bin dank meiner seit Jahren entwickelten Philosophie überzeugt, dass jedes Individuum einen Lebensplan hat. Und um alle Schwierigkeiten, die mir immer widerfahren, durchzustehen, benötige ich eine mächtige Portion Humor, Galgenhumor oft.135 Um über seine Unzulänglichkeiten und Schwächen, Niederlagen und Gefahren lachen zu können, muss das Subjekt bejahen, dass die körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte begrenzt sind. Das bringt das Subjekt in die Lage, seiner Begrenztheit kognitiv mit Witz und emotional mit Heiterkeit entgegenzutreten. Es wird sogar durch das Lachen der Alterität über seine Begrenztheit nicht mehr verletzt Der Arzt, dem ich den Hergang schilderte [, wie ich mir mit den eigenen Knien das Nasenbein angebrochen hatte; B.R.], hatte alle Mühe, einen Lachkrampf zu unterdrücken.136 In seinem Humor verdoppelt das Subjekt seine Schwäche, sodass seinen Schrecken verliert, was davor bedrohlich war. Brigitte bewegt meine von Gelenksteife befallenen Arme und Beine. Das heißt »Mobilisierung«, und diese kriegerische Terminologie ist lachhaft, wenn man die Magerkeit der Truppe sieht: in zwanzig Wochen habe ich dreißig Kilo abgenommen. Mit einem solchen Ergebnis hatte ich nicht gerechnet, als ich acht Tage vor meinem Hirnschlag eine Diät begann.137 Der Humor vermag das Subjekt aus einer zu großen Verstrickung mit einem Ereignis zu lösen und neue, ungewohnte Zusammenhänge zu schaffen. [Mein kosmetisches Bein; B.R.] fiel dauernd ab. Der absolute Höhepunkt passierte in einem vornehmen Restaurant. Nach dem Essen war ich aufgestanden und drei Schritte gegangen. Da hörte ich etwas aufschlagen, und das Bein lag am Boden. Das wäre nicht einmal schlimm gewesen, aber leider trug ich Strumpfhosen. Da stand ich also ohne Bein, die Strumpfhosen langgezogen bis zum Boden, und der Zwickel hing für jedermann sichtbar unter dem Saum meines Minirocks hervor. Raffaele versuchte, mich zu tragen, aber das ging nicht, weil wir so lachen mußten. Schließlich klemmte ich mir

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Balmer 2006: 137. Balmer 2006: 32f. Buggenhagen 1996: 96. Bauby 1997: 17.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

das Bein unter den Arm und hüpfte aus dem Restaurant. Es war eine ziemlich komische Aktion.138 Schmunzelnd erkennt das Subjekt, wenn es falsche Zusammenhänge herstellte. »Ich habe das weisse Licht gesehen, und dort waren ganz viele Schmetterlinge!«, erzählte ich meinen Freunden, als ich mich wieder auf dem Weg zur Besserung befand. Kein anderes Lebewesen symbolisiert Geburt, Leben und Tod auf so wunderbare Weise wie der Schmetterling. Nachdenklich schaute André aus dem Fenster. […] Inzwischen war es schon dunkel, und meine Freunde sassen immer noch bei mir am Bett. André begann laut zu lachen. »Stellt es euch vor, nein, stellt es euch vor!« Er schnappte nach Luft. Er forderte Karin und mich auf, hinauszuschauen. Meine Augen blieben an grell leuchtenden Strassenlampen haften. Mücken umschwärmten sie. »Ob ich da wohl das weisse Licht und die Schmetterlinge verwechselt habe, vor ein paar Tagen?«, fragte ich mich.139 Aus den Missverständnissen der Kommunikation entsteht dem Subjekt Freude. Die Poesie dieser intellektuellen Spiele habe ich an dem Tag begriffen, als ich dazu ansetzte, um meine Sonnenbrille zu bitten, und man mich höflich fragte, was ich denn mit der Sonne wolle…140 Indem der Humor den Blick auf das Wesentliche lenkt, verhindert er, dass das Subjekt seiner Verzweiflung erliegt. »Spielen wir was? Vielleicht Galgenmännchen?« fragt Théophile, und wenn mein Kommunikationssystem schlagfertige Antworten nicht ausschlösse, würde ich ihm gern antworten, daß es mir schon reicht den Gelähmten zu spielen.141 Wie der Humor innere und äußere Grenzen entstehen lässt, braucht er, um lebendig zu sein, eine Flexibilität im Umgang mit den Grenzen. Daß man als »Frachtgut« unter illustre Gesellschaft geraten konnte, wie ich zum Beispiel bei einer Reise von Berlin nach Ueckermünde unter Tausende weichflauschige, aufgeregt tschilpende Kücken, das steigerte den Erlebniswert solcher Touren ins schwer zu Übertreffende. Danach fühlte ich mich selbst als seltsamer biologischer Zwitter zwischen Mensch und Kücken und hatte das Gefühl, jedes Wort, das ich zu sprechen versuchte, könne nur wie das Piepsen des gelben Wattebäuschen klingen.142 Verfügt das Subjekt über Humor, wird es mit ihm wiederum auf die Alterität einwirken. Innerhalb des sozialen Systems, dem das Subjekt angehört, schafft er Gemeinschaft. Da er die Alterität zum Lachen bringt und gemeinsames Lachen verbindet, fördert der Humor den Zusammenhalt. Zugleich bildet er eine feine Grenze zwischen denen, die dazugehören und einen Witz verstehen, und denen, die außen stehen. 138 139 140 141 142

Mills 1996: 263f. Balmer 2006: 109. Bauby 1997: 23f. Bauby 1997: 72. Buggenhagen 1996: 108f.

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Körperlicher Umbruch

Die Verabschiedung gelang kaum besser. Vor Verwirrung wußte ich nicht mehr, wer wo war. Im Glauben, ihm die Hand zu schütteln, dankte ich unserem Gast für sein Kommen, nur um festzustellen, daß ich in Wirklichkeit einem meiner unmittelbaren Kollegen auf Wiedersehen sagte, der meine Hand genommen hatte, um mich zu unserem Besucher zu führen. Wir schieden voneinander, wie wir uns kennengelernt hatten, unter wechselseitiger Belustigung und mit Mißverständnissen.143 Souveränität: Aus dem Wissen um die Begrenztheit des Lebens gewinnt das Subjekt Souveränität. Es erliegt nicht mehr den Bedingungen, die der körperliche Umbruch schuf. [D]ieser erste Neubeginn im Krankenhaus nach den Ferien bestätigt mich in einer Gewißheit: Ich habe wirklich und wahrhaftig ein neues Leben begonnen, und es findet hier, zwischen diesem Bett, diesem Rollstuhl, diesen Fluren statt, und nirgendwo anders. […] Bis dahin genieße ich zum ersten Mal seit langer Zeit fast leichten Herzens die letzte Augustwoche. Ich habe nicht mehr das schreckliche Gefühl eines Countdown, der, zu Beginn der Ferien in Gang gesetzt, unerbittlich deren größten Teil verdirbt.144 Da das Subjekt um die Bedürfnisse und Eigenschaften des umbrochenen Körpers und des Selbst weiß, ist es in der Lage, im Austausch mit der Alterität seine Identität mit Überblick und Umsicht, mit Einsicht und Bedacht zu gestalten. Es erliegt nicht mehr seinen Affekten. Manchmal überfallen mich noch immer bittere Gefühle von Kummer und Verlust, insbesondere in Gegenwart der Kinder, insgesamt aber bin ich gefaßter. Das Leben ist erträglich geworden, ich bin mehr oder weniger Herr meiner Lage und meiner Arbeit und meiner damit verbundenen Gefühle.145 Der Alterität gegenüber muss das Subjekt seine Unzulänglichkeiten nicht verbergen. Es nimmt ihre Hilfe an, wo seine körperlichen Möglichkeiten begrenzt sind, ohne sich deswegen schlecht zu machen. Familie und Freunde können versuchen, mir bei eventuell auftretenden Schwierigkeiten wie Einkäufe oder Krankenhausaufenthalte zu helfen, aber ansonsten bin ich für meine Art der Lebensgestaltung, meinen Arbeitsplatz und mein Privatleben selbst verantwortlich.146 Das Subjekt ist des Weiteren in der Lage, den eigenen Vorstellungen sogar dann zu folgen, wenn die Umstände zu ihrer Verwirklichung schwierig sind. Aus der Selbsterkenntnis und der realistischen Wahrnehmung der Alterität heraus ist es ihm möglich, seine Anliegen zu vertreten. Dazu vermag das Subjekt mit dem umbrochenen Körper den Anderen zu dienen, damit sie sich in ihrem Selbst entfalten können.

143 144 145 146

Hull 1992: 236. Bauby 1997: 127, 128. Hull 1992: 172. Ruscheweih 2005: 61.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Mir wird jetzt klar, daß man nicht unbedingt sehen können muß, wenn man einem Kind das Lesen beibringen will. In den ersten Jahren meines Blindseins, als Thomas noch klein war, hatte mir dieses Problem noch viel Kummer gemacht.147 Das Subjekt kann die eigene Widersprüchlichkeit oder die der Alterität aushalten. Bei schwierigen inneren und äußeren Bedingungen bleibt es seinem Selbst treu. Durch äußere Widerstände oder innere Ängste wird es nicht entmutigt, sondern angespornt. Ich habe ein neues Selbstbewußtsein gewonnen, gelernt zu sagen: Ich bin ich, akzeptiert mich, respektiert mich, laßt mich teilhaben. Ich hatte einstweilen soviel Selbstsicherheit, daß mich Ablehnung und Ignoranz zwar erschreckten, aber nicht mehr umwarfen. Im Gegenteil, der Ärger darüber mobilisierte mich, machte mich eher trotzig als resignativ.148 Die Souveränität des Subjekts ergibt sich aus dem Wissen um den Weg, der hinter ihm liegt. Ich musste lernen, in meinen Gedanken zu reisen, mich an den »kleinsten« Dingen zu erfreuen. Erst viel später, nachdem meine Krankheiten einen Namen hatten, konnte ich meinen Körper und damit meine Seele wieder »zum Leben erwecken«, indem ich meine Krankheiten zu akzeptieren begann. Und erst da fing ich an zu reisen: in Gedanken und in andere Welten, Sitten und Länder unserer und meiner Welt.149 Da das Subjekt sich gewiss ist, welche Spannungen es bewältigte und was es leisten kann, vertraut es sich. Sicherlich war es ein langer Lernprozess, bis ich gemerkt habe, dass ich auch mit Hilfsmittel wirken kann.150 Ohne sich von Fehlschlägen entmutigen zu lassen, sucht das Subjekt bei Schwierigkeiten nach Lösungen. Es stellt fest, dass es Herausforderungen gewachsen ist. Ich scheine jetzt eine Methode des vorausschauenden Denkens gefunden zu haben, ich mache mir klar, was ich sagen will. Das tut beim gewöhnlichen Sprechen jeder, sonst könnten wir keinen Satz zu Ende führen. Auf die eine oder andere Weise, und zwar ohne bewußte Anstrengung, kann ich jedoch noch weiter vorausdenken, und wenn ich jetzt spreche, sehe ich, wie die Textabschnitte aus den Tiefen meines Gedächtnisses aufsteigen.151 In seiner Souveränität übernimmt das Subjekt Verantwortung für seine Entscheidungen, wenn sie falsch sind. Im Wissen um seine Stärken und Schwächen schätzt es sich in der Unvollkommenheit. Es muss sich deswegen vor der Alterität nicht klein machen.

147 148 149 150 151

Hull 1992: 233. Buggenhagen 1996: 158. Balmer 2006: 17. Ruscheweih 2005: 53. Hull 1992: 143f.

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Körperlicher Umbruch

Keiner ist völlig von Eitelkeit frei, aber ich bin frei davon, wenn ich mit Leuten zusammen bin, deren Ruhm meinen kleinen weit übersteigt. Es ist eher Ehrfurcht, was ich dann empfinde. Ehrfurcht, die nicht bedeutet, daß ich mich bücke und verstecke.152 Ohne die Grenzen abzuwehren, die sich aus dem umbrochenen Körper ergeben, sieht sich das Subjekt, das über Souveränität verfügt, als ganz, selbst wenn es in den sozialen Systemen, denen es angehört, als ein relativ Anderer eingeordnet wird. Ich betrachte mich zunehmend weniger als Blinden, denn das würde mich unter Bezugnahme auf Sehende definieren, verglichen mit denen mir etwas fehlte. Ich betrachte mich als einen Menschen, der mit dem ganzen Körper sieht.153

5.5

Authentisch in Beziehung zur Alterität

Vitale Beziehungen: Wenn es dem Subjekt nach einem körperlichen Umbruch gelingt, authentisch zu sein, d.h. durch seine Identitätsarbeit über Kohärenz, Vitalität, Tiefe und Reife zu verfügen, bringt es diese Eigenschaften in die sozialen Systeme ein, denen es angehört. Mit seinem umbrochenen Körper beteiligt sich das authentische Subjekt zum einen gezielt an den sozialen Systemen, um dadurch sein Selbst einschließlich des Körperselbst bewusst zu erkennen und um in Beziehung zu den Anderen sein Wesen zu erfüllen. Das Subjekt findet sich in der Alterität; dort bekommt es Halt. Meine Freunde von meinem »alten Zuhause« habe ich nicht gänzlich, nur etwas aus den Augen verloren. Obschon ich nicht weit weg bin, macht sich halt doch die örtliche Distanz bemerkbar. Und es gibt neue Freundinnen und Freunde im »neuen Zuhause«. Auch hier habe ich inzwischen Wurzeln.154 Das Subjekt sucht eine Verbindung zur Alterität auch dann, wenn sie herzustellen ihm durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit schwer wird. Es stellt fest, dass ihm durch den körperlichen Umbruch etwas fehlt, um sich wie gewohnt mit den Anderen zu verbinden, und wodurch es bedingt ist. Ich kann mich Fremden nicht mehr selber vorstellen, denn das Blindsein hat mir die Stufen, die dazu hinführen, verstellt, die kleinen Gesten des Erkennens, die halb fragenden, zögernden Annäherungen.155 Da das Subjekt dennoch fähig ist, sich zu binden, kann es andere lieben. Meine Liebe war langsam, aber stetig gewachsen, wie eine Efeu-Ranke, die allmählich immer weiter nach oben klettert. Eine immergrüne Pflanze mit unbegrenzter Haltbarkeitsdauer.156

152 153 154 155 156

Buggenhagen 1996: 151. Hull 1992: 241. Balmer 2006: 35. Hull 1992: 181. Buggenhagen 1996: 76.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Zum anderen freut sich das Subjekt an der Identität der Alterität, wie es sein eigenes Selbst schätzt. In der Hinwendung zu ihr gibt das Subjekt, was in ihm lebendig ist. Erst dadurch, dass das Subjekt sein Erleben und sein Empfinden mit der Alterität teilt, wird es wahr, und dadurch, dass sein Erleben und Empfinden von ihr angenommen wird, bereichert es wiederum das Subjekt. Sein Leben gelangt zu den Anderen. Leider sah ich die meisten Blumen nicht, denn die Schwestern meinten, daß die Pollen in der Intensivstation bei manchen Leuten Asthma verursachen könnten. Ich stimmte daher zu, daß sie unter den alten Patienten im Krankenhaus verteilt wurden.157 In Beziehung zur Alterität vermag das Subjekt sein Selbst zurückzustellen und auf Vorhaben zu verzichten. Seine Aufmerksamkeit gilt den Anderen, damit sie in der Beziehung zu ihm ihre Identität verwirklichen. Es weiß, dass dieser Verzicht ihm selbst gut tut. Jörg ist in dieser Zeit im Bett geblieben: Daß er nicht mit aufsteht, ist kein Mangel an Zuneigung oder Aufmerksamkeit. Jeder hat seinen eigenen Rhythmus, und der braucht neben Zeit auch Platz. Es bringt nichts, sich im Wege zu sein. Stattdessen wollen wir die Zeit, die uns beiden gehört, so intensiv wie möglich gemeinsam erleben.158 Indem das Subjekt auf die Alterität bezogen bleibt, auch wenn sie seinen Erwartungen nicht entspricht, ist es ihr treu und verlässlich. An ihrem Sein und Werden nimmt es Anteil, als wäre es sein eigenes. Seine Fürsorge und Verantwortung gilt ihr wie ihm selbst. Die Fahrer waren unglaublich gut. Sie waren wirklich sehr müde nach der anstrengenden Fahrt, aber nicht scharf auf ein öffentliches Lob. Sie wollten sich noch nicht einmal von dem BBC-Team filmen lassen, sondern waren nur an ihrem Job interessiert. Doch sie ließen es zu, daß ich sie am Abend zum Essen einlud, ehe sie sich wieder auf den Rückweg nach England machten. Ihre Einsatzbereitschaft beschämte mich. Sie hatten alle eine normale Arbeitsstelle. […] Für mich sind Menschen wie Dave, Alex, David und Peter die wahren Helden dieser Welt.159 Das authentische Subjekt ist gleichermaßen auf das eigene Selbst wie auf die Alterität bezogen. Es erkennt die Anderen in ihrem Wesen. Ich habe [die Krankenschwestern und Pfleger; B.R.] mit Spitznamen versehen, die nur ich kenne, damit ich sie, wenn sie mein Zimmer betreten, mit meiner dröhnenden inneren Stimme anrufen kann: »Hallo, Blauauge! Salut, großer Duduche!« Sie wissen natürlich nichts davon. Der um mein Bett tanzt und Rockerposen annimmt, wenn er mich fragt: »Wie geht’s?«, ist David Bowie. Prof bringt mich mit seinem grauhaarigen Kinderkopf und dem Ernst zum Lachen, den er aufsetzt, um den immer gleichen Satz loszulassen: »Hoffentlich passiert nichts.« Rambo und Terminator sind, wie man schon

157 158 159

Mills 1996: 222. Buggenhagen 1996: 71. Mills 1996: 275.

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ahnt, nicht gerade Muster an Sanftheit. Da ist mir Thermometer schon lieber, deren Hingabe vorbildlich wäre, wenn sie nicht systematisch dieses Utensil in meiner Achselhöhle vergessen würde.160 Dabei ist es unerheblich, ob das Subjekt sich in seiner Vitalität auf einen Gleichen bezieht wie in einer Freundschaft oder in der Partnerschaft, auf einen Schwächeren wie ein Kind oder einen Not Leidenden. In all diesen Beziehungen wird das Subjekt beglückt. Wenn ein Christoph, oder wie auch immer er heißen möge, jubelnd und mit strahlenden Augen über den Zielstrich fährt, wenn er lacht, seine Eltern und Geschwister umarmt, wenn er danach erschöpft und keuchend hervorstößt »Beim nächsten Mal, da bin ich noch besser!«, dann weiß ich: Das lohnt jeden Einsatz der Welt.161 Reife Interaktionen: Die Reife der authentischen Identität erlaubt es dem Subjekt, die Alterität nicht nur in ihrer Realität wahrzunehmen und anzuerkennen, sondern darüber hinaus mit den Anderen in eine Interaktion zu treten und seine Wahrnehmung der Realität mit der ihrigen abzugleichen. In den Schilderungen der anderen Teilnehmer finde ich meine Ängste und Erfolge oft wieder. Wenn andererseits Michael von Beratungsgesprächen, die wir gemeinsam hatten, berichtet, erlebe ich oft, dass er zwar die gleiche Situation schildert, aber für mich waren andere Dinge wichtiger. Das zeigt mir doch deutlich, dass vieles von jedem Menschen anders aufgenommen und interpretiert wird.162 Indem das Subjekt durch die Interaktion sowohl sein Selbst als auch die Realität außerhalb des Selbst, also auch seine Körperlichkeit, genauer zu erkennen vermag, vertieft es sowohl sein Wissen darum, wer es ist, als auch sein Wissen, wie es von der Alterität gesehen wird, und sein Wissen um die Anderen. Nicht nur ich habe es als schwierig empfunden, ein Gespräch zu unterbrechen, auch mein sehender Freund findet es schwierig, von mir wegzukommen. Er fühlt sich für mich verantwortlich. Er kann nicht einfach weggehen und mich stehenlassen.163 Zur Reife der authentischen Identität gehört es, dass sich das Subjekt der Alterität über seine Selbsterkenntnis und über die Wahrnehmung der äußeren Realität, die damit verbundenen Gefühle sowie die sich daraus ergebenden Bedürfnisse und Handlungen mitteilt. Dabei sind auch Spannungen möglich. Ich trainierte bis zu vier Stunden am Tag, selbst bei Schnee und Eis. Bodo schoß einige Male über das Ziel hinaus, so daß ich ihn korrigieren mußte. Das geschah ohne Streß und Aggressionen, unser Verhältnis war immer eines des gegenseitigen Gebens und Nehmens.164

160 161 162 163 164

Bauby 1997: 110. Buggenhagen 1996: 152. Lürssen 2005: 68. Hull 1992: 116. Buggenhagen 1996: 63.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Auch ist das Subjekt in der Lage, die Ansichten der übrigen Mitglieder eines sozialen Systems anzuhören und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn das Subjekt ihnen mit seinem Standpunkt entgegentritt, lässt es dabei mitunter seine körperlichen Grenzen in die Beziehung einfließen. Die Tournee ist, wie auch das Schuljahr, vorüber […]. Ich glitt an den Rand des Schlafs. »Wir sollten das wiederholen«, meinte Frau Rey. Aber mein karges »Wie?« setzte einen Punkt.165 Nach einem körperlichen Umbruch macht es die Reife der authentischen Identität aber nicht nur aus, dass das Subjekt wahrnimmt und anerkennt, dass die Realität der Alterität eine andere ist als seine eigene. Sondern es hat für sich herausgefunden, wie es gut mit dem Anderssein der Alterität umgeht und seine Identität bewahrt. Es erkennt an, dass die Anderen anders sind als es selbst, und schätzt sie gerade deshalb. Auch wenn ihr Anderssein durch die Rolle bedingt ist, die sie ausüben, vermittelt es ihm eine Wirklichkeit, die ihm ansonsten nicht zugänglich ist. Meine therapeutischen Übungen sind in den vergangenen Monaten differenzierter geworden, ich bewundere immer wieder, mit wie viel Einfallsreichtum meine Therapeutin Wege findet, bestimmte Nerven- und Muskelstränge zu aktivieren, die ich nur noch unzureichend selber spüre.166 Dank seiner Reife staunt das Subjekt über die Wirklichkeit der Alterität, selbst wenn sie ihm bisweilen unerträglich ist. Sie in der Interaktion als Gegensatz zum eigenen Selbstverständnis erleben zu müssen, kann das Subjekt wütend machen. Mit der Wut schützt es sich davor, vom Anderssein der Anderen überwältigt zu werden. »Tja, leider!«, antwortete [der Professor, ein Facharzt für Lungenkrankheiten am Universitätskrankenhaus; B.R.]. »Sowieso, wir empfehlen bei dieser schweren Krankheit auf eine weiterführende Beatmung zu verzichten. Wie Sie wissen, werden Sie am ganzen Körper gelähmt sein und nur noch die Augen bewegen können.« »Trotzdem, ich muss doch alle Möglichkeiten kennen. Ich bin 29 Jahre alt und kann mich erst für oder gegen das Sterben entscheiden, wenn ich alle Optionen, die es gibt, in Erfahrung bringe. Dazu bin ich hier bei Ihnen«, hielt ich empört fest.167 Wenn das Subjekt über Reife verfügt, vermag es auszuhalten, wenn es in der Interaktion erfährt, wie begrenzt seine Wirklichkeit ist. Im Wissen um seine Begrenztheit ist ihm das Anderssein der Anderen nicht so bedrohlich, als dass es sie vernichten müsste. Vielmehr ist es fähig, sich mit der Alterität über ihre unterschiedlichen Erfahrungen auszusprechen. Es zieht sich nicht zurück, sondern sucht den Austausch. Als Wolfgang Schäuble, damals noch Bundesinnenminister, bei einer Sportlerehrung mehr über das Leben der Behinderten in der DDR wußte als die Betreffenden selbst, da

165 Härtling 2007: 90. 166 Peinert 2002: 94. 167 Balmer 2006: 59.

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sah ich mich zu Widerspruch veranlaßt. Im Osten habe es keinen Behindertensport gegeben, weshalb uns Anerkennung doppelt und dreifach zustände. Anerkennung, gut und schön. Aber kein Behindertensport in der DDR? […] Ich bin kein künstlich geschaffener Nachwende-Homunculus, habe meine Biographie, die nicht umgeschrieben werden mußte. In einem Brief gen Bonn ließen wir das den prominenten »Rolli«-Kollegen freundlich, aber bestimmt wissen.168 Da das Subjekt um die Stärke in seinem Selbst weiß, muss es die Alterität nicht besitzen oder mit ihr verschmelzen, wenn es sie braucht, um seine Identität zu erweitern. Ohne den Bezug zu sich zu verlieren, schätzt es, was ihm von der Alterität erwiesen wird. Das Subjekt nimmt ihre Realität wahr und will von ihnen in seiner belassen werden. Kein Zweifel, Menschen, die mich schätzen, bedauern es, daß sie mich nicht dazu bringen können, die von ihnen bewunderten Dinge ebenfalls zu bewundern. Dennoch muß man sich den Tatsachen stellen. Da sie mich nicht auf ihre Seite ziehen können, ist es doch sinnlos, auf diese Art, klagend und mit Ausdrücken des Bedauerns, immer wieder darauf hinzuweisen.169 In der Interaktion erfährt das Subjekt, dass manche Mitglieder des sozialen Systems, an dem es teilhat, die Unterschiedlichkeit nicht ertragen, die sich aus seinem Verlust der gewohnten Körperlichkeit ergibt; andere wissen sich wiederum gut darauf einzustellen. Thomas ist vor einem Monat drei Jahre alt geworden. Er weiß, daß er anders mit mir umgehen muß. […] Er lernte auch, »Guck mal, Daddy!« zu sagen. Er nahm dazu meine Hand oder meinen Finger und preßte sie oder ihn auf das, was ich inspizieren sollte: Daher versteht Thomas, daß ich mit den Fingern sehe.170 Wenn das authentische Subjekt der Alterität begegnet, kann die Interaktion beide befriedigen. Weil sie sich immer wieder zu begegnen wissen, vertieft sich ihre Beziehung. In den fast zwanzig Jahren Ehe haben Jörg und ich gelernt, uns immer wieder neu zu entdecken, uns langsam aneinander ranzutasten. Er war dabei der, der immer etwas stärker drängte, ich die, die den eher schüchternen Part übernahm.171 Wenn die Interaktion mit der Alterität auf gleicher Ebene erfolgt, ergibt sich dem Subjekt bisweilen daraus eine Realität, die ihm davor nicht vorstellbar war. Dann eröffnen sich ihm bisher nicht denkbare Optionen. Auf einmal erscheinen ihm seine Identitätsprojekte umsetzbar. Ich saß irgendwann neben [Simon Wynn; B.R.] im Flugzeug, als ich zu einem Interview im Morgenfernsehen nach Birmingham flog. Als ich begann, ihm von meinen Plänen für einen Konvoi mit Prothesen zu erzählen und welche Probleme wir mit der Verschickung hätten, sah er mich nachdenklich an. »Wissen Sie, als wir den SchwimmMarathon organisierten, beteiligten sich einige Gefängnisse. Sie schienen sehr daran

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Buggenhagen 1996: 107. Hull 1992: 220. Hull 1992: 50, 51. Buggenhagen 1996: 81.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

interessiert, etwas für die Gesellschaft zu tun. Vielleicht können Sie anregen, daß sie auch Ihnen helfen.« Das schien die ideale Lösung.172 Empathiefähigkeit: Wenn sich das Subjekt der Alterität mit Empathie zuwendet, überwindet es durch seine Einfühlung den Abstand zu ihr. Gleichzeitig erlebt es sein Selbst und das, was die Anderen erleben, ohne dass die Grenzen zwischen ihnen gänzlich aufgehoben sind. In seiner Empathie hat das Subjekt kognitiv und emotional an der Realität der Alterität teil, verliert seine eigene aber nicht. Auch ohne dass die Anderen sich sprachlich mitteilen, erkennt das Subjekt sie in ihrem Sosein. Indem es ihr Empfinden erfasst, gewinnt es einen Zugang zu ihrem Inneren. Es waren seine Augen, die mir verrieten, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, oder es auch nicht mehr wollte. Seine Augen zeigten mir ein Licht, ein mir bisher unbekanntes Licht. Ein Licht zum Jenseits, das mir verriet, dass Alex Gewissheit über Leben und Tod, über die Geschichte des Universums, zu dem auch unser Planet Erde gehört, besass.173 Die Fähigkeit zur Empathie erschließt dem Subjekt die Freude und das Leid der Alterität. Daraus entsteht Beziehung. Es war jene Zeit, in der ich den Patienten Jörg Neubert in die Hände bekam. Ein verdammt armes Schwein, dachte ich und fühlte mich für den kleinen, zierlichen und blassen Burschen besonders verantwortlich.174 Seine Einfühlung lässt das Subjekt mitleiden. Das gilt auch dann, wenn sein Gegenüber ein Tier ist. [Meine Katze; B.R.] Bobo hat mich so viele Male zur Weissglut, so viele Male zum Lachen gebracht. Es war ihm ein Leichtes, mindestens zehnmal in der Nacht rein- und rausgehen zu wollen. Es blieb nie beim Wollen. Er erpresste mich, indem er leidend aus vollen Kräften vor der Tür schrie, was jedes Mal mein Herz fast zerriss.175 Um der Alterität empathisch zu begegnen, muss das Subjekt nicht nur ein Bewusstsein für deren Dasein und Anderssein haben, sondern es muss auch für sein eigenes Erleben offen sein. Nachdem sich das Subjekt nach dem körperlichen Umbruch in der Identitätsarbeit bewusst mit dessen Folgen befasst hat, ist es ihm ein Anliegen, denen beizustehen, die Ähnliches erlebt haben, es aber noch nicht bewältigten. Bei ihren Begegnungen wird es an seine eigenen Verlust erinnert. Immer wenn ich gebeten wurde, Leute im Krankenhaus zu besuchen, die gerade ein Glied verloren hatten, versuchte ich, mir die Zeit dafür zu nehmen, auch wenn ich gerade ganz woanders war. Wenn ich sie nicht besuchen konnte, schrieb ich ihnen. Ich

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Mills 1996: 267. Balmer 2006: 142. Buggenhagen 1996: 72. Balmer 2006: 106.

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hatte meinen Krankenhausaufenthalt nicht vergessen und wußte noch, wie sehr ich die Ermutigungen von anderen Leuten gebraucht hatte.176 Die Erfahrung des körperlichen Umbruchs hilft dem Subjekt, sich in die einzufühlen, die ihn neu erleben, ihrem Selbst dadurch entfremdet sind und in ihrer Identität noch keine Passung zum umbrochenen Körper gefunden haben. Es kommt vor, daß einer in solcher Lage sagt »Ich mag nicht mehr«, aber ich habe noch niemanden betrauern müssen, der in diesen Situationen seinem Leben ein Ende machte. […] Oft denke ich daran, daß auch Jörg und ich solche depressiven Momente hatten. Das muß man akzeptieren, weil es einfach dazugehört. Wichtig ist es in diesen Momenten, dem anderen zu zeigen, daß man »versteht« und daß dennoch mit einem wie auch immer gearteten »Ende« mehr verloren als gewonnen wird.177 Um der Alterität Empathie zu bezeigen, muss das Subjekt über Flexibilität verfügen, damit vorübergehend sowohl die Grenzen nach außen als auch die nach innen durchlässig werden. Erst dann kommt das Subjekt in die Lage, mit den Affekten der Alterität mitzuschwingen und sie aus seinen Erfahrungen heraus zu verstehen. Es findet in der Alterität Gemeinsamkeiten zu seinem Erleben. Ein Auslöser [für den Schmerz; B.R.] ist meine Wahrnehmung, wie Menschen, die mich lieben, versuchen, mit mir zu kommunizieren. Sie müssen sich wieder an mich gewöhnen, an mich, wie ich jetzt bin. […] Ich sehnte mich danach, die mir lieben Menschen unmittelbarer wiedererkennen zu können und nicht langsam und Tag für Tag Eindrücke, Geschichten und Stimmen ineinander verweben zu müssen, wie es das Blindsein offenbar erzwingt.178 Weiterhin verlangt Empathie sowohl die Fähigkeit, die im Wesen der Anderen angelegten zukünftigen Möglichkeiten und die dabei zu Grunde liegenden Vorerfahrungen und Prägungen wahrzunehmen, als auch offen zu sein für die Struktur und den Prozess der eigenen Identität sowie für die eigenen Vorannahmen, die in die Deutung der Alterität einfließen. Dann spürt das Subjekt die Not der Anderen. Wenn es zugleich seinen körperlichen Umbruch in ihnen erkennt, will es sie nicht bloßstellen. Er leidet unter Atemnot wie ich, und ich gebe mir Mühe, um die Lächerlichkeit der Situation zu vermeiden, diskret zu atmen, die Bronchien still zu halten. Er ist immerhin dreißig Jahre jünger als ich.179 Mit seiner Empathie versetzt sich das Subjekt in die Alterität hinein. Es versteht sie sogar in ihrer Abwehr.

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Mills 1996: 258. Buggenhagen 1996: 97. Hull 1992: 134, 135. Härtling 2007: 84.

5. Eigenschaften von Authentizität im umbrochenen Körper

Das Institut begrüße mein Hilfsangebot begeistert, schien aber skeptisch meinen Plänen gegenüber zu sein. Ich hatte das Gefühl, daß sie schon zu oft enttäuscht worden waren, um sich noch freuen zu können.180 Weil die empathische Beziehung zu seiner Alterität es dem Subjekt erlaubt, bei den Anderen und gleichzeitig bei sich zu sein, bleibt sowohl die Verbindung zur eigenen Identität gewahrt als auch die zu den Anderen. Durch das Erkennen, was seine und was ihre Identität ausmacht, entsteht eine Gemeinsamkeit, die zugleich Getrenntheit zulässt und überwindet. Das Subjekt muss dabei die Spannung aushalten, dass es gleichzeitig wie die Alterität empfindet, aber doch verschieden ist. Es wird von den Anderen gerade deshalb geschätzt, weil es zwar außerhalb ihres Selbst steht, also von ihnen getrennt ist, es sie aber doch erreichen kann. Die Empathie vermag also Einsamkeit aufzuheben, indem sie zugleich eine Beziehung zur Alterität und zum eigenen Selbst schafft. Auch wenn die sozialen Rollen, in denen die Interaktion stattfindet, sich unterscheiden, kommt es durch die Empathie zu einer Begegnung auf gleicher Ebene. Das Subjekt fühlt sich von den Anderen als gleichwertig anerkannt. Klar ist, daß ich für die Patienten so eine Art erster Ratgeber in allen Lebenslagen bin. Gerade, weil ich wie sie nicht forsch im weißen Kittel durch die Zimmer laufe, sondern mich rollend fortbewege. Ich bin eine von ihnen.181 Durch seine Empathie setzt das Subjekt sich aber nicht nur an die Stelle der Anderen, sondern gewinnt durch sie auch einen Abstand zu sich. Dadurch erkennt es sich selbst besser in seiner Identität. Aus Sicht der Alterität beginnt das Subjekt seine Haltung zu hinterfragen und eine überzogene Selbstgewissheit zu verlieren. Daß ich so zu einer Belastung und zum Sorgenkind von Ärzten und Schwestern der Station wurde, ist mir klar geworden, als ich einmal fast auf eine zierliche Schwester gefallen wäre. Sie konnte mich langen Lulatsch nicht auffangen, als ich wieder einmal allein aus dem Bett aufgestanden war und versuchte, zur Toilette zu gelangen.182 Wie die Einfühlung in die Alterität die Voraussetzung ist, dass sich das Subjekt von gleich zu gleich mit den Anderen verbindet und eine Gemeinschaft entsteht, in der die Mitglieder eines sozialen Systems einander sich erkennend begegnen, lässt sich die Empathie aber auch missbrauchen, um die Anderen durch die besondere Einfühlung in die Bedingungen ihres Seins erst recht zu vernichten. Doch wenn den Anderen Empathie entzogen wird, tötet es nicht nur die Alterität, sondern auch das eigene Selbst (vgl. Agosta 2010: 12–88). Einzig indem das Subjekt seine Alterität als Mitmenschen anerkennt, bestätigt es die eigene Identität. Dabei können die Bedingungen, unter denen Empathie verlangt ist, das Subjekt an seine Grenzen bringen. Die Siegespalme für extravagante Nachbarschaft kommt jedoch einer Kranken zu, deren Sinne durch das Koma ganz durcheinandergeraten waren. Sie biß die Krankenschwester, packte die Pfleger beim männlichen Teil ihrer Anatomie und konnte kein 180 Mills 1996: 262. 181 Buggenhagen 1996: 90. 182 Peinert 2002: 30.

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Glas Wasser verlangen, ohne wie am Spieß zu schreien. […] Diese Einlagen gaben der neurologischen Station einen recht aufregenden Anstrich von »Kuckucksnest«, und als man unsere Freundin verlegte, um sie anderswo ihr »Hilfe, ich werde ermordet!« brüllen zu lassen, hat es mir irgendwie leid getan.183

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Bauby 1997: 96.

Zusammenfassung und Schluss

Die von mir erzählte Geschichte des körperlichen Umbruchs beruht auf der Inhaltsanalyse von zwölf Erfahrungsberichten über chronische Krankheit und spät erworbene Behinderung. Der erste Teil behandelt das körperliche Geschehen und seine unmittelbaren Folgen. Durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung wird dem Subjekt seine üblicherweise nicht bewusst wahrgenommene Körperlichkeit gegenwärtig. Die mit Schmerz, Angst und Scham einhergehenden körperlichen Veränderungen machen es rat- und hilflos und lassen es einen Arzt oder andere Spezialisten des Gesundheitswesens aufsuchen. Sie ergreifen erste Maßnahmen, um das Widerfahrnis zu beherrschen. Dem Subjekt selbst ist das körperliche Geschehen unverständlich, nicht handhabbar und sinnlos. Die körperliche Kohäsion ist vermindert: Das neuropsychologische Körperschema passt nicht mehr zum veränderten Körper, im Körperselbst kommt es zu Spaltungen, und die Körperidentität ist beeinträchtigt. Infolge der körperlichen Veränderungen wird nicht nur die Zeit an sich anders empfunden, sondern ist die Kontinuität des Erlebens unumkehrbar aufgehoben. Weil ein Körperteil abgetrennt oder etwas von außen an den Körper angefügt wurde und weil der Austausch mit der Umwelt über die Grenzen hinweg anders als bisher verläuft, ist zudem die Flexibilität der Körpergrenzen gestört. Durch den Eintritt in die Institution Gesundheitswesen erhalten Ärzte für das Subjekt eine besondere Bedeutung. Sie belegen seine körperlichen Veränderungen mit einer Diagnose und behandeln sie entsprechend ihrem Fachwissen, verfügen aber auch über seine Zeit und bestimmen seinen Aufenthaltsort. Das Subjekt wird zum Patienten und begegnet im Krankenhaus den Mitpatienten, deren Körperlichkeit auf vergleichbare Weise geschädigt ist. Dazu treten die vertrauten Anderen, seine Angehörigen oder seine Kollegen, ihm anders gegenüber, sodass seine bisherige von der Alterität vermittelte Selbstbezogenheit auch dadurch verloren geht. Infolge des körperlichen Umbruchs wird die gewohnte Narration bis zur Sprachlosigkeit aufgehoben; zugleich wird in den Beziehungen zu den Spezialisten des Gesundheitswesens dem Subjekt ein Sprechen über den Körper nahegebracht, das ihm bis dahin fremd gewesen ist, und in der Interaktion eingeübt. Um die Krise der Identität, die sich in Verzweiflung, psychiatrischen Auffälligkeiten oder narzisstischen Störungen äußert, zu überwinden, erhält das Subjekt gesellschaftlich ein Moratorium zugebilligt. Wenn

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das Subjekt dabei eine Einstellung zu seinem Verlust findet, vermag es seinen Alltag wieder aufzunehmen. Im zweiten Teil geht es um die Identitätsarbeit nach dem körperlichen Umbruch, also um die Anpassung des bewussten, psychisch repräsentierten Selbst an die veränderte Körperlichkeit. Aus der bestehenden Struktur der Identität lassen sich mehrere Bedingungen ableiten, die Aufschluss darüber geben, wie das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erlebt und wie im Weiteren der körperliche Umbruch verlaufen wird; wesentlich ist dabei auch die bisherige Körperidentität. Indem das ungewohnte körperliche Geschehen eine Bedeutung erhält und unter lebensweltlicher, zeitlicher und inhaltlicher Perspektive mit Vorerfahrungen verknüpft wird, ergibt sich der körperliche Umbruch, auf ihn kann das Subjekt antworten. Die Identitätsarbeit erfolgt als ein reflexiver Prozess, bei dem das Subjekt gleichermaßen zurück und nach vorne blickt. Im Unterschied zur Krankheitsbewältigung werden unter Wahrung übergeordneter Identitätsziele Identitätsentwürfe zu -projekten verdichtet, welche die veränderte Körperlichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen einbeziehen, und in die Tat umgesetzt. Dabei ist das Subjekt darauf angewiesen, dass es sich aus den sozialen Systemen, denen es angehört, ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen erschließt und in sein Selbst transformiert. Indem sich das Subjekt an sie bindet und sie als Selbstobjekte nutzt, entsteht in einem langwierigen, oft mühevollen Prozess ein allgemeines Identitätsempfinden, das der veränderten Körperlichkeit angepasst ist. Die verschiedenen Teilidentitäten einschließlich der Körperidentität stehen schließlich in einem spannungsarmen, aber nicht spannungsfreien Verhältnis; auch die Vergangenheit ist so umgedeutet, dass sie zum veränderten Körper passt, und dem Subjekt ist bewusst, wie seine Identitätsarbeit an den Vorgaben der Alterität ausgerichtet ist. Es ist fähig, den Anderen von seinem umbrochenen Körper zu erzählen und mit ihm in den sozialen Systemen zu handeln. Es stößt dabei auch an deren Grenzen. Falls es sich dazu entschließt, seine besondere Körperlichkeit in einem Coming-out offen zu machen, findet es eine Lösung, wie es mit diesen Grenzen umgehen kann, ohne sich aufzugeben. Der dritte Teil wendet sich dem umbrochenen Körper im sozialen System zu. Genauso wie durch das angestrebte Ideal der Körper- und Affektkontrolle die kollektive Identität den Verlust der gewohnten Körperlichkeit zu einem Widerfahrnis macht, welches das Selbst, aber auch das soziale System erschüttert, trägt sie dazu bei, die pathische Erfahrung des körperlichen Umbruchs zu überwinden. Diese Wandlung vom absolut Fremden zum relativ Anderen vollzieht sich überwiegend in den Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens, aber auch in der Kunst, etwa durch die Darstellungen von chronischer Krankheit oder Behinderung in der Literatur. Mit seinem umbrochenen Körper entdeckt das Subjekt die sozialen Systeme, denen es angehört. Es erkundet die Alterität, der es begegnet, legt mit seiner Körperlichkeit die Konstrukte von chronischer Krankheit und Behinderung aus und macht seine besondere Lebens- und Welterfahrung öffentlich. Ungeachtet des Widerspruchs zwischen der rechtlich zugesicherten Inklusion chronisch kranker und behinderter Menschen und den ausgrenzenden Barrieren im Alltag kann das Subjekt im sozialen Makro-, Meso- und Mikrosystem für die von ihm geleistete Identitätsarbeit anerkannt werden. Wenn es verinnerlicht, was es an kognitiver Achtung, sozialer Wertschätzung und affektiver Zuwendung erfährt, wächst sein Selbstwert. Das Subjekt gewinnt dadurch ein Kohärenzempfinden, in

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das auch der umbrochene Körper einbezogen ist. Die durch den Verlust der gewohnten Körperlichkeit hervorgerufene Inkohärenz des Erlebens und Verhaltens ist überwunden und die Kohäsion des Selbst, die Kontinuität des Erlebens und die Flexibilität der inneren und äußeren Grenzen wieder hergestellt. Obwohl es die gesellschaftlichen Bedingungen dem chronisch kranken oder behinderten Subjekt erschweren, authentisch zu leben, lassen sich mit dem umbrochenen Körper auch Vitalität, Tiefe und Reife – neben der Kohärenz die weiteren Eigenschaften von Authentizität – umsetzen. Mit der Authentizität erfüllt das Subjekt nach einer in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende weit verbreiteten Auffassung eine wesentliche Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Das Subjekt, das nach dem körperlichen Umbruch über eine authentische Identität verfügt, bereichert zudem die sozialen Systeme, denen es angehört. Die Geschichte des körperlichen Umbruchs beinhaltet die drei Dimensionen, in denen sich Körperlichkeit beschreiben lässt. Zur somatischen Dimension gehören die allmählich oder plötzlich einsetzenden körperlichen Veränderungen, die ärztliche Untersuchung des veränderten Körpers und dessen medizinische Behandlung sowie im Falle einer Defektheilung die Festlegung eines Schädigungsgrads. Der somatische Körper gilt als geschädigt, wenn er nur noch bedingt seiner eigentlichen Aufgabe nachkommen kann, nämlich es dem Selbst zu ermöglichen, ganz aus sich heraus zu treten, sich der äußeren Welt zuzuwenden, sie in sich aufzunehmen und auf sie einzuwirken. Der Körper lässt sich willentlich nicht mehr so steuern wie zuvor und verlangt eine andere Bewusstheit. Die im Verlauf des Lebens erworben Passung mit der Umwelt ist zumindest teilweise verloren, und Raum und Zeit werden als begrenzt erfahren. Zwar werden dieselben Affekte erlebt wie vor dem Umbruch, doch sind es nun andere Inhalte, die sie auslösen. Dennoch ist es dem Subjekt durch seine Identitätsarbeit möglich, auch den geschädigten somatischen Körper in dem inneren Gleichgewicht zu halten, das als Gesundheit bezeichnet wird. Indem das Subjekt nach und nach seinen Umgang mit dem umbrochenen Körper findet und dessen Besonderheiten immer besser kennenlernt, ist es ihm wieder möglich, selbstvergessen mit seinem Körper eins zu sein. Letztlich kommt das Subjekt sogar dazu, seine veränderte Körperlichkeit zu bejahen, und ist mit seiner Wirklichkeit versöhnt. Der sozialen Dimension des körperlichen Umbruchs ist die Begegnung des Subjekts mit den Spezialisten des Gesundheitswesens und den Mitpatienten zuzurechnen, die Veränderung der vertrauten Beziehungen zu Angehörigen, Freunden und Bekannten sowie die Zuweisung von Kranken-, Patienten- oder Behindertenrolle. Der Körper wird als behindert betrachtet, wenn er in seinen Funktionen mehr als sechs Monate lang geschädigt und das Subjekt dadurch beeinträchtigt ist, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Der behinderte Körper wird sozial geringgeschätzt, denn er vermag die Körper- und Affektkontrolle nicht dem gesellschaftlichen Ideal entsprechend auszuüben. So stößt das Subjekt, das wegen seines sozialen Körpers als behindert gilt, vielfach auf Barrieren, die es aus dem sozialen System ausgrenzen, und findet sich in besonderen Sub- und Exosystemen wieder, wo es auf seinesgleichen trifft. Der behinderte Körper wird zur Projektionsfläche, mit dem alle Schwierigkeiten des Lebens erklärt werden, und zum Objekt der Kränkung, der Abscheu, der Bewunderung oder der heimlichen Lust, sodass eine Begegnung auf gleicher Ebene unmöglich wird. Die besondere Lebens- und Welterfahrung, die sich aus dem behinderten Körper ergibt, ist

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im öffentlichen Diskurs kaum vertreten. Der soziale Körper muss jedoch nicht behindert bleiben. In den sozialen Systemen finden sich Ressourcen, die das Subjekt für seine Entwicklung nutzen kann. Nach seinem Coming-out ist es frei, der Alterität von seinem umbrochenen Körper zu erzählen und mit ihm in den sozialen Systemen zu handeln, und wird infolge der von ihm geleisteten Identitätsarbeit von den Anderen geachtet, wertgeschätzt und geliebt. Mit seinen körperlichen Erfahrungen gewinnt das Subjekt zudem Erkenntnisse über die Alterität und überwindet, indem es sich empathisch in sie einfühlt, seine Einsamkeit, die zu Beginn seiner Lebensreise mit dem umbrochenen Körper vorherrschte. Die psychische Dimension des körperlichen Umbruchs umfasst die bewusste Erfahrung des veränderten Körpers, die Aufhebung der gewohnten Narration und die Krise der Identität. Nach dem Verlust der gewohnten Körperlichkeit wirkt der psychische Körper pathisch: Das körperliche Erleben besetzt das Selbst, sodass das Subjekt nicht mehr über seinen Körper verfügt, sondern ganz Körper ist. Das chronisch kranke oder behinderte Subjekt leidet darunter, dass es dem gesellschaftlichen Ideal, makellos und fit zu sein, nicht genügt. Es beherrscht seinen Körper nicht mehr, sondern wird von ihm beherrscht. Weder kann es selbstvergessen körperlich sein noch mit seinem umbrochenen Körper selbstbestimmt handeln; vielmehr ist es von seiner Alterität abhängig. Sein Körper zeigt ihm die Begrenztheit des Lebens auf und damit seine eigene Nähe zum Tod. Von der Vorstellung beherrscht, dass ihm mit der gewohnten Körperlichkeit die Freiheit zur Selbstinszenierung abhanden gekommen ist, fürchtet das Subjekt, auch noch die verbliebene Alterität zu verlieren, wenn es mit seinem umbrochenen Körper sichtbar werden sollte. Die pathische Erfahrung lässt nach, wenn das Subjekt den körperlichen Umbruch mit seinen Vorerfahrungen verknüpft und in der Identitätsarbeit sein allgemeines Identitätsempfindens der veränderten Körperlichkeit anpasst. Zur psychischen Dimension des körperlichen Umbruchs ist des Weiteren zu zählen, dass das Subjekt auf Grund seiner Erfahrungen die Konstrukte von chronischer Krankheit oder Behinderung auslegt und seine Lebensansichten nach außen vertritt, dass es über ein Kohärenzempfinden verfügt, das den umbrochenen Körper einbezieht und dass es sich eine authentische Identität mit Vitalität, Tiefe und Reife erwirbt. Aber der Eindruck täuscht, dass in den drei körperlichen Dimensionen über die Zeit immer eine Besserung eintritt. Er beruht darauf, dass ich die Geschichte des körperlichen Umbruchs anhand von Erfahrungsberichten über chronische Krankheit und Behinderung erzähle. Denn sie schildern in der Regel eine Wiederherstellung oder zumindest eine Suche und, wenn sie Depressionen, Alkoholismus, Suizidalität oder anderweitiges inneres Chaos infolge der körperlichen Veränderungen erwähnen, sind sie erfolgreich überwunden. Denjenigen, deren Körper dauerhaft schmerzt, ängstigt oder beschämt, die infolge der körperlichen Veränderung einsam sind und ihrem Selbst entfremdet bleiben, fehlen die Worte; und falls sie doch von sich erzählen, wird ihnen nicht zugehört, sind ihre Ausführungen doch schier unerträglich. Die Auswertung der Erfahrungsberichte zeigt auch, wie unterschiedlich der Verlust der gewohnten Körperlichkeit von den Betroffenen und von der Alterität, auf die sie bezogen sind, erlebt wird. Aus der Sicht des Subjekts beginnt der körperliche Umbruch mit der Überwältigung des Selbst durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung sowie der unmittelbar sich anschließenden Behandlung durch die Ärzte

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und weiteren Spezialisten des Gesundheitswesens. Zusammen mit der unterbrochenen Kohärenz, der veränderten Alterität und der aufgehobenen Narration ergibt sich ein pathisches Geschehen, das zur Entfremdung des Selbst führt. Das Subjekt gerät in eine Krise, in der es auf eine Rettung von außen hofft, um sein gewohntes Leben doch noch fortführen zu können, aus der es aber nur herausfindet, wenn es bereit ist, sich zu ändern; jedoch ist es auch dafür auf äußere Kräfte angewiesen. Für manche bleibt der Verlust der gewohnten Körperlichkeit traumatisch, andere wollen ihm keine Bedeutung geben und verharren in der Abwehr; aber diejenigen, die ihn als Herausforderung annehmen und ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen zu nutzen verstehen, gehen gestärkt aus der Krise hervor. Doch auch die Anwendung von Ressourcen oder die Entäußerung der angepassten Identität kann für das Subjekt pathisch sein und erneut das Selbst erschüttern. Dazu kommt es beispielsweise, wenn die Medizin die in sie gesetzten Erwartungen enttäuscht und im Gesundheitswesen die Haltung der Spezialisten verstört. Auch vermag die Annahme der Behindertenrolle das Selbstwertempfinden zu kränken und die Entfremdung zu vertiefen. Die Narrative über Krankheit und Behinderung geben außerdem nicht die erhoffte Antwort, wenn sie nicht kritisch reflektieren, was in der Gesellschaft geschieht, sondern es nur ästhetisch reproduzieren. Die Alterität schließlich nimmt das Erzählen und Handeln des umbrochenen Körpers nicht an, sondern wertet es ab oder übersieht es ganz. Zum Erleben des körperlichen Umbruchs gehört für das Subjekt deshalb auch die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Grenzen. Es kann darüber weiter reifen und die Selbsterkenntnis und die Erkenntnis der Anderen vertiefen. Gelangt es zur Authentizität, ist ihm ein zufriedenstellendes Leben möglich, wird es von sozialer Anerkennung unabhängig und freut sich doch an der Achtung, Wertschätzung und Zuwendung, die es von der Alterität erhält. Nach dem körperlichen Umbruch findet das Subjekt seine Identität im Spiegel der Alterität. Von besonderer Bedeutung für die Erfahrung von Selbst und Körperselbst sind dabei die Ärzte und die weiteren Spezialisten des Gesundheitswesens. Während für das Subjekt die gewohnte Körperlichkeit durch einen Unfall, eine Verletzung oder eine Erkrankung verloren geht, erfahren sie dreifach ihre Macht, nämlich Experten-, Definitions- und Handlungsmacht. Mit Wissen und Erfahrung fügen sie das körperliche Geschehen in eine Ordnung ein, benennen es als Krankheit und machen den veränderten Körper zum Objekt der Behandlung. Auch geben sie dem Körper des Subjekts eine neue Geschichte, indem sie die Anamnese erheben, eine Diagnose stellen und sich zur Prognose äußern. Mit der Art, wie sie über den veränderten Körper sprechen und wie sie an ihm handeln, werden sie für das Subjekt zum Vorbild, da es selbst noch keine Sprache für das körperliche Geschehen hat und mit ihm nicht umzugehen weiß. Es zeigt den Spezialisten des Gesundheitswesens dafür seine Dankbarkeit, dass sie ihm in seiner Not geholfen haben, bisweilen aber auch seine Enttäuschung. Als Kranker begegnet das Subjekt auch den Mitpatienten; mit ihnen teilt es den Wunsch, möglichst schnell wieder in die Normalität zurückzukehren. Vor ihnen schreckt es zurück, wenn sie vom Leid gezeichnet sind, weil es ihnen in seine Zukunft erblickt, doch sieht das Subjekt auch ihnen ihr Entsetzen an, wenn sie seinen umbrochenen Körper wahrnehmen. Doch verfügen gerade die erfahreneren Mitpatienten über ein Wissen im Umgang mit der Krankheit, das sie dem Subjekt weitergeben können; das geschieht informell im zufälligen Gespräch oder institutionell in der

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Selbsthilfegruppe. Ebenso steht das Subjekt anderen bei, die ein ihm vergleichbares Schicksal erlitten haben, und fühlt sich dadurch selbst bestärkt. Menschen, die als behindert gelten, verbindet die gemeinsame Erfahrung; sie teilen ein System von Bedeutungen, sodass ihre Verständigung oft nicht an Worte gebunden ist. Die Angehörigen betrifft der körperliche Umbruch oft mehr als angenommen wird. Vielfach sind es, die in der akuten Situation für das verunfallte, verletzte oder erkrankte Subjekt handeln und es der ärztlichen Behandlung zuführen müssen. Wenn es im weiteren Verlauf des körperlichen Umbruchs zu einer chronischen Krankheit oder Behinderung gekommen ist, müssen sie gewohnte Rollen aufgeben. Sie suchen Trost beim Subjekt, das sie infolge seiner körperlichen Veränderungen zugleich als vertraute Person verloren haben, oder sprechen gar nicht über ihr Erleben, da sie meinen, stark sein zu müssen. Auch entferntere Bekannte oder Kollegen tun sich oft schwer, einen Umgang mit der veränderten Körperlichkeit zu finden. Sie verwehren eine Begegnung von gleich zu gleich und grenzen das Subjekt durch ihre Haltung aus oder unterdrücken es. Auch sehen sie es vielfach als Aufgabe des chronisch kranken oder behinderten Subjekts an, aufkommende Spannungen in der Beziehung zu lösen oder erst gar nicht aufkommen zu lassen, selbst wenn sie sich fehl verhalten. Doch erhält das Subjekt, das mit einem umbrochenen Körper lebt, in der Gesellschaft auch zusätzliche Rechte, mit denen sichergestellt werden soll, dass es gleich den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems seine Interessen verfolgen und sich selbst verwirklichen kann. In Gemeinschaften erfährt es außerdem Solidarität für seine Anliegen und genießt es soziales Ansehen. In persönlichen Beziehungen wird es geliebt und kann es sich im Gespräch, im Spiel oder in der Sexualität entgrenzen und Glück über die tiefe Verbundenheit mit den Anderen empfinden. Dadurch, dass die Alterität deren Körperlichkeit der Norm entspricht, das chronisch kranke oder behinderte Subjekt nicht mehr als bedauernswertes Opfer oder übermenschlichen Helden betrachtet, sondern in seinem Wesen wahrnimmt, ändert sich ihre Selbstbezogenheit. Damit nimmt die nichtbehinderte Alterität Abstand von der Vorstellung ihrer Grandiosität und beendet ihre Bemühungen, den Körper so zu perfektionieren, wie es die in Pop und Sport verherrlichten Idole vormachen. Das unterschiedliche Erleben der körperlichen Veränderungen durch das betroffene Subjekt und die Alterität, die nichts Vergleichbares erfuhr, spaltet das soziale System in behinderte und nichtbehinderte Mitglieder. Dabei gerät aus dem Blick, dass die einen wie die anderen derselben kollektiven Identität folgen und demselben kulturellen Ideal der Körper- und Affektkontrolle unterworfen sind. In meiner Geschichte des körperlichen Umbruchs verlasse ich die reine Inhaltsanalyse der Erfahrungsberichte, wenn ich den gesellschaftlichen Hintergrund herausarbeite, vor dem der Verlust der gewohnten Körperlichkeit zu einer pathischen Erfahrung wird. Schon dass die körperlichen Veränderungen infolge eines Unfall, einer Verletzung oder einer Erkrankung mit eigenen Begriffen wie denen der Krankheit oder Behinderung belegt werden, lässt vermuten, dass sie etwas bezeichnen, was in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende aus dem Zusammenhang des Lebens als besonders herausfällt. Dass der körperliche Umbruch nicht unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen ist, wird sichtbar, wenn das Subjekt, das einen Unfall, eine Verletzung oder eine

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Erkrankung mit einer Defektheilung überstanden hat, Ressourcen für seine Identitätsarbeit in Anspruch nimmt. Denn ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen liegen außerhalb des Selbst und, in welchem Maß und in welcher Form sie vorhanden sind, hängt vom sozialen System ab. Über die einzelnen Ressourcen hinaus lassen sich im sozialen Makrosystem verschiedene Möglichkeiten finden, um die pathische Erfahrung des körperlichen Umbruchs wieder in eine Ordnung einzufügen. Am weitesten verbreitet ist die Medizin; sie erklärt das Widrige der körperlichen Veränderungen zur Krankheit und gibt damit einen Weg vor, wie weiter damit umzugehen ist. Von großer Bedeutung ist auch die Behindertenrolle; sie beinhaltet eine Abwertung des umbrochenen Körpers, ordnet das Erleben und Verhalten des Subjekts aber gleichfalls auf eine sozial anerkannte Weise. Schließlich ist noch die Kunst zu nennen; beispielsweise können die literarischen Darstellungen von Krankheit und Behinderung die körperlichen Veränderungen in den größeren Zusammenhang menschlicher Existenz stellen. All diese Möglichkeiten des Umgangs mit einem versehrten Körper stehen in einer historischen Tradition, die sich bis in die europäische Aufklärung zurückverfolgen lässt. Was aber in einer Gesellschaft als außerhalb der Ordnung stehend gesehen und als un-heimlich betrachtet wird, sobald es in Erscheinung tritt, ergibt sich aus der kollektiven Identität. In den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende besteht ein Ideal der Körper- und Affektontrolle, bei dem der Körper als Objekt begriffen wird, der Selbstinszenierung dient und Zugehörigkeit im sozialen System gewährleistet. Er wird eingesetzt, um den Genuss zu steigern, und es gilt als Zeichen des freien Menschen, selbstbestimmt über den eigenen Körper zu verfügen. Seine Unzulänglichkeiten werden schnell als subjektives Versagen, Ausdruck von Unwissenheit oder Hinweis auf Armut gedeutet. Auch wird es als Schwäche betrachtet, im Schmerz, in der Krankheit oder im Alter dem körperlichen Sein ausgesetzt zu sein. Demnach verkörpert das chronisch kranke oder behinderte Subjekt das Scheitern am kulturellen Ideal. Wenn die gewohnte Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung verloren geht, stellt es aber auch für das soziale System eine pathische Erfahrung dar; denn es fühlt sich in seinem Selbstverständnis bedroht. Seit den 1970er Jahren werden diejenigen, deren Körper negativ von der Norm abweicht, als relativ Andere jenseits der Binnengrenzen des sozialen Systems verortet. In dieser Zeit, als sie um ihre Integration zu kämpfen begannen, kam auf, sie als Behinderte zu bezeichnen. In den Erfahrungsberichten über chronische Krankheit oder Behinderung wird festgestellt, dass behinderte Menschen in einer Welt leben, die nicht für ihre Bedürfnisse gemacht ist, und dass sie sich in einem Dasein einzurichten haben, das nach Ansicht der Alterität demjenigen unterlegen ist, das mit einem normalen Körper zu erreichen ist; die Behinderung erscheint als Defizit. Doch verweist das Subjekt auf Grund seiner Erfahrungen darauf, dass Behindertsein vor allem bedeutet, anders zu sein, und dass es auch mit einem umbrochenen Körper möglich ist, die kulturell anerkannten Lebensvorstellungen zu verwirklichen. Wenn das Subjekt in seiner Identitätsarbeit erkennt, dass die von ihm zu überwindende Entfremdung seines Selbst nicht nur somatisch, sondern auch sozial und kulturell bedingt ist, ändert sich sein Selbstverständnis: Es rechtfertigt sich nicht weiter, überhaupt noch zu leben, verliert die Scham über den umbrochenen Körper und gibt sich nicht mehr die Schuld, wenn es im sozialen System als relativ Anderer ausgegrenzt

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wird. Im Wissen, dass es wie alle, deren Körper- und Affektkontrolle von der Norm abweicht, in seiner Körperlichkeit auffällt, wo immer es sich zeigt, stellt es sich darauf ein, dass es sich körperlich mit den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems oft nicht verbunden fühlt, sondern sich ihnen ausgesetzt erlebt. Auch verurteilt das Subjekt sich nicht mehr dafür, dem Ideal der Körper- und Affektkontrolle nicht zu entsprechen, und sieht sich nicht mehr veranlasst, den vermeintlichen Mangel seiner Körperlichkeit durch herausragende Leistungen in anderen Lebensbereichen vergessen machen. Sobald dem Subjekt bewusst geworden ist, dass es nur die Spaltung des sozialen Systems in sein Selbst übernimmt, wenn es sich der kollektiven Identität entsprechend vornehmlich als chronisch krank oder behindert versteht, kann es sich mit dem umbrochenen Körper versöhnen und seinen Erfahrungen einen Wert beimessen. In seiner Selbstbezogenheit hasst es sich nicht mehr dafür, anders zu sein, sondern schätzt, dass seine Andersheit es wahrnehmen lässt, was den übrigen Mitgliedern des sozialen Systems, die der Norm entsprechen, verborgen ist. Es macht sich unabhängig von ihrer Auffassung und fühlt sich frei, in Beziehung zu ihnen die Erkenntnisse, die es mit seinem umbrochenen Körper gewinnt, mitzuteilen. Mit seiner Vitalität, Tiefe und Reife vermag es die sozialen Systeme, denen es angehört, zu bereichern. Das Subjekt empfindet sich als selbstwirksam, und sein Leben erscheint ihm sinnhaft. Die Geschichte des körperlichen Umbruchs, die von mir anhand der Inhaltsanalyse von zwölf Erfahrungsberichten über chronische Krankheit oder Behinderung erzählt und durch theoretische Überlegungen ausgeweitet worden ist, führt zu Erkenntnissen, die in verschiedene Fachgebiete hineinwirken. Als Beitrag zu einer narrativen Medizin wird in vielen Einzelheiten vermittelt, wie Krankheit oder Behinderung von Patienten subjektiv erlebt werden und welche psychosoziale Anpassungen damit auch über längere Zeit verbunden sind. In Anlehnung an Reiseberichte werden zehn Gesichtspunkte vorgestellt, unter denen sich Erfahrungsberichte unabhängig von der möglichen Unterscheidung in Geschichten der Wiederherstellung, der Suche und des Chaos näher beschreiben lassen, und verschiedene hermeneutische Bewegungsfiguren gekennzeichnet, über die das Subjekt die Erkenntnisse gewinnt, die es in seinem Bericht darlegt. Für die Rehabilitationswissenschaften kann es aufschlussreich sein, die Verarbeitung von Krankheiten nicht nur mit Bewältigungsstrategien und Abwehrmechanismen zu beschreiben, sondern in Betracht zu ziehen, welche Bedeutung der Identität des Kranken zukommt. Dabei ist nicht nur von Belang, dass der Umgang mit den körperlichen Veränderungen daran ausgerichtet ist, wie sich übergeordnete Identitätsziele bewahren lassen. Sondern darüber hinaus finden sich in der Struktur der Identität mehrere Bedingungen, die eine Aussage darüber erlauben, wie das Subjekt den Verlust der gewohnten Körperlichkeit erlebt und wie der körperliche Umbruch verlaufen wird; nicht zuletzt ist dafür die bisherige Körperidentität wesentlich. Da in der Geschichte des körperlichen Umbruchs anhand von vielen Aussagen chronisch kranker oder behinderter Menschen ausgeführt ist, was es bedeutet, wenn die im Laufe des bisherigen Lebens erworbene Passung von Identität und Körper verloren geht und ungewohnte körperliche Erfahrungen in die Identität eingebaut werden müssen, fällt auf, dass die Identitätsforschung das Körperliche kaum berücksichtigt. Es scheint daher angebracht zu überlegen, ob das theoretische Konstrukt Identität nicht noch durch das Gegensatzpaar von Körpersein und Körperhaben ergänzt werden sollte.

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Bezogen auf die Disability Studies schließlich fügt die Geschichte des körperlichen Umbruchs mit ihrer Erzählung, wie in westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende aus einem nichtbehinderten Menschen ein behinderter wird, dem soziokulturellen Modell der Behinderung noch eine psychologische Seite an. Denn ausführlich wird beschrieben, dass der Verlust der gewohnten Körperlichkeit und die Ausgrenzung aus dem sozialen System mit einer pathischen Erfahrung einhergeht, die in das Selbstverständnis eingebaut werden muss, soll sie nicht traumatisch werden. Doch sind auch über einzelne Fachgebiete hinausgehende Aussagen möglich: Wenn der Verlust der gewohnten Körperlichkeit durch Unfall, Verletzung oder Erkrankung nur medizinisch erklärt wird und die sich daraus ergebenden, für längere Zeit bestehenden oder auf Dauer bleibenden körperlichen Veränderungen mit einer Behinderung gleichgesetzt werden, folgt diese Auffassung einer kollektiven Identität, die auf anhaltendes Wachstum ausgerichtet ist und nicht nur zum Nachteil von chronisch kranken oder behinderten Menschen die Begrenztheit des Lebens abwehrt. Wenn dieser Verlust jedoch als Geschichte eines körperlichen Umbruchs erzählt wird, tritt eine Wirklichkeit hervor, die mit einem unversehrtem Körper meist im Verborgenen bleibt. Dadurch erweitert sich das Verständnis eines Geschehens, das in den westlich aufgeklärten Gesellschaften der Jahrtausendwende knapp zehn Prozent der Bevölkerung im Verlauf ihres Lebens betrifft.

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