Krieg in Comic, Graphic Novel und Literatur [1 ed.] 9783737009508, 9783847109501, 9783847009504

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Krieg in Comic, Graphic Novel und Literatur [1 ed.]
 9783737009508, 9783847109501, 9783847009504

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Veröffentlichung des Universitätsverlages Osnabrück bei V&R unipress Krieg und Literatur / War and Literature Vol. XXIV (2018)

Herausgegeben von Claudia Junk und Thomas F. Schneider Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv / Forschungsstelle Krieg und Literatur

Claudia Junk / Thomas F. Schneider (Hg.)

Krieg in Comic, Graphic Novel und Literatur

Herausgeber / Editor Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv/Arbeitsstelle Krieg und Literatur Universität Osnabrück, Markt 6, D-49074 Osnabrück Herausgebergremium / Editorial Board Claudia Junk, Thomas F. Schneider Redaktion / Editing Claudia Junk, Rosa Rosina Blißenbach, Johannes Eickhorst, Fabian Goldlücke, Olivia Pfeiffer, Stephan Pohlmann, Maximilian Pommer, Torben Tschiedel Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Committee Prof. Dr. Alan Bance, University of Southampton, Great Britain Dr. Fabian Brändle, Zürich, Schweiz Dr. Jens Ebert, Historiker und Publizist, Berlin, BR Deutschland Prof. Dr. Frederick J. Harris, Fordham University, New York, USA Prof. Dr. Christa Ehrmann-Hämmerle, Universität Wien, Österreich Prof. Dr. em. Ursula Heukenkamp, Humboldt-Universität zu Berlin, BR Deutschland Prof. Dr. Walter Hölbling, Karl-Franzens-Universität Graz, Österreich Prof. Dr. em. Bernd Hüppauf, New York University, New York, USA Prof. Dr. em. Holger M. Klein, Universität Salzburg, Österreich Prof. Dr. em. Manfred Messerschmidt, Freiburg/Br., BR Deutschland Dr. Holger Nehring, University of Stirling, Great Britain Prof. Dr. em. Hubert Orłowski, Uniwersytet Poznan, Polska PD Dr. Matthias Schöning, Universität Konstanz, BR Deutschland Prof. Dr. Roger Woods, University of Nottingham, Great Britain Prof. Dr. Benjamin Ziemann, University of Sheffield, Great Britain Gestaltung / Layout Claudia Junk, Thomas F. Schneider Titelbildnachweis Deckblatt einer Ausgabe des Comics Star Spangled War Stories. No. 168, März 1973. KRIEG UND LITERATUR/WAR AND LITERATURE erscheint einmal jährlich. Preis pro Heft EUR 45,00 / Abonnement: EUR 40,00 p.a (+ Porto). © 2018, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Birkstraße 10, D-25917 Leck / Printed in the EU. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-8471-0950-1 | ISBN 978-3-8470-0950-4 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0950-8 (V&R eLibrary) | ISSN 0935-9060

Inhalt



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Vivien Borcherding, Caroline Mertins, Alexander Riemer Abweichung von der Norm Harvey Kurtzmans Frontline Combat (1951–1954)

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Katja Bocklage, Nina Otto »Fusillés pour l’exemple« Zur Darstellung des Ersten Weltkriegs im Werk von Jacques Tardi

45 Swetlana Krieger, Julia Machnik, Wiebke Schmitz Tagebuch 14/18 – Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich Ein Beitrag zur transnationalen Erinnerungskultur im Kontext des 100. Jahrestags des Ersten Weltkriegs 61 Karina Bedenbecker, Pia Dittmann, Lena Kölker, Stephanie Schnepel, Louisa Wehling Comic-Journalismus. Zu Joe Saccos Bosnien 77 Viktoria Borchling, Lena Dust, Christina Geers Kriegszeiten Eine grafische Reportage über Soldaten, Politiker und Opfer in Afghanistan

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Inhalt

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Marc Hieger »Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret!« Gewalt, Terror und Widerstand in Hermann Löns’ Roman Der Wehrwolf (1910)

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Katrein Brandes Hans Werner Richter und Wolfgang Borchert Zwei Schriftsteller im Zweiten Weltkrieg

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Sam-Huan Ahn Stigmata des Krieges in der Literatur des geteilten Korea

145 Rezensionen/Reviews 145 Torsten Diedrich, Jens Ebert (eds.). Nach Stalingrad. Walther von Seydlitz’ Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpost 1939–1955. (Clemens ­Schwender) 148 Jens Ebert (ed.). Junge deutsche Soldaten und sowjetische Soldaten in Stalingrad. Briefe, Dokumente und Darstellungen. (Clemens Schwender) 151 Sabine Giesbrecht. Wege zur Emanzipation: Frauendarstellungen auf Bildpostkarten des Deutschen Kaiserreiches unter Wilhelm II. (Jens Ebert) 154 Bernd Neumann, Gernot Wimmer (eds.). Der Erste Weltkrieg auf dem deutsch-europäischen Literaturfeld. (Milan Horňáček) 159 Lars Nowak (ed.). Medien – Krieg – Raum. (Andrea Schweizer) 161 Karl Arnold Reinartz, Karsten Rudolph (eds.). Das Kriegstagebuch des Albert Quinkert (1914–1918). (Jens Ebert)

165 Eingegangene Bücher/Books Received 203 Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe/ Contributors to this edition

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Abweichung von der Norm Harvey Kurtzmans Frontline Combat (1951–1954)

Der Verlag Educational Comics wurde im Jahr 1945 von Maxwell Charles Gaines gegründet und später in Entertaining Comics (E.C.) umbenannt. Nach Gaines Tod ging der Verlag an seinen Sohn William Maxwell, genannt Bill, über.1 Bill Gaines führte eine Reihe von Horror-, Krimi-, Science-Fiction-, Fantasy- und Kriegstiteln in das Repertoire des Verlags ein. Neben dem US-amerikanischen Zeichner und Kunstmaler Al Feldstein war auch der Redakteur Harvey Kurtzman für E.C. tätig. Seine bekanntesten Publikationen gehörten bis zu diesem Zeitpunkt der Hey Look!2 Serie an, die in anderen Comics als Füllseiten verwendet wurden.3 Kurtzman entwickelte den Comic Two-Fisted Tales.4 Aufgrund der Beliebtheit von Two-Fisted Tales kam es zur Publikation einer zweiten Kriegsserie mit dem Namen Frontline Combat.5 Kurtzman verbrachte Wochen damit, sich ausführlich mit den historischen Hintergründen der Comichandlungen zu befassen, um diese realistisch darzustellen. Dafür entwickelte er Skripts, Seitenlayouts und Panel-Kompositionen, nach denen sich die Zeichner bei E.C. richteten. Hauptthemen der E.C.-Kriegscomics waren militärische Siege, Feinde, das Töten und der Tod im Krieg sowie vom Krieg betroffene ausländische Zivilisten.6 Laut Baur haben Comics »für die Verbreitung gängiger Rechtferti-

1 Gerard Jones. Men of tomorrow: geeks, gangsters and the birth of the comic book. New York: Basic Books, 2004, 253f. 2 Harvey Kurtzman. »Hey Look!«. Timely Comics. New York, 1946–1949. 3 Robert C. Harvey. The Art of the Comic Book: An Aesthetic History. Jackson, MS: The University of Mississippi Press, 1996, 127. 4 Harvey Kurtzman. Two Fisted Tales. New York: EC Comics, 1950–1955. 5 Harvey Kurtzman. Frontline Combat. New York: EC Comics, 1951–1954. 6 Harvey, The Art of the Comic Book, 129.

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gungslehren des Status quo zu sorgen und als zusätzliche Stabilisatoren falschen Bewußtseins zu fungieren«.7 In jedem Comic findet sich eine ideologische Färbung, die die Gedankenwelt des Autors widerspiegelt. Gewalt kann sowohl als Instrument der Herrschenden als auch als Mittel gegen die Herrschenden genutzt werden.8 In amerikanischen Comics steht ein charismatischer Held im Vordergrund, der individuelle realitätsferne Probleme lösen muss.9 Die realitätsfernen Probleme zeigen sich in Frontline Combat durch die eigentliche thematische Handlung, die hauptsächlich durch verschiedene Kriegshandlungen geprägt ist. Von Juli/August 1951 bis Januar 1954 erschien alle zwei Monate eine Ausgabe von Frontline Combat. In den Comics werden verschiedene Kriege realistisch und detailliert dargestellt und die von Kurtzman definierte Wahrheit über den Krieg verdeutlicht. Zu den regelmäßig mitwirkenden Künstlern zählen beispielsweise John Severin, Wallace Wood, Jack Davis, George Evans sowie Bill und Will Elder. Andere Künstler, die nicht regelmäßig mitwirkten, waren unter anderem Ric Estrada, Alex Toth, Joe Kubert und Russ Heath. Die Layouts für jede Geschichte entwickelte Kurtzman selbst und erwartete, dass seine Künstler diesen Anweisungen genau folgten. Jerry DeFuccio trug einseitige Textgeschichten und gelegentlich regelmäßige Geschichten bei. Insgesamt wurden 15 Ausgaben veröffentlicht.10 In der Comicreihe überwiegen die Themen Koreakrieg und Zweiter Weltkrieg. Kurtzman selbst sagt: »whoever started that war [Koreakrieg], it was his fault that we did the war books«.11 Aber auch weitaus ältere historische Ereignisse, wie z. B. der Sezessionskrieg, der Erste Weltkrieg, die Indianerkriege, der Krimkrieg, Kriege im Römischen Reich, der Zweite Napoleonische Krieg, der Spanisch-Amerikanische Krieg, der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, die Kriege der Drei Königreiche und der Britisch-Amerikanische Krieg werden thematisiert. Kriegscomics entwickelten sich zu einem eigenen Genre, das sich hauptsächlich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzte.12 Ebenso wurde aber auch der Koreakrieg in vielen Comics thematisiert. Dieser militärische Konflikt begann im Juni 1950 zwischen Nord- und Südkorea. Die USA unterstützten die südkoreani-

7 Elisabeth Katrin Baur. Der Comic – Strukturen – Vermarktung – Unterricht. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1977, 61. 8 Wolfgang J. Fuchs/Reinhold Reitberger. Comics-Handbuch. Reinbek: Rowolt, 1978, 109f. 9 Baur, 62. 10 Bart Beaty. »EC Comic and the Aesthetics of the Comic Book Masterpiece«. Comics Versus Art. University of Toronto Press, 2013, 108f. 11 David Hajdu. The Ten-Cent Plague: The great comic-book scare and how it change in America. New York: Picador Reading Group, 2008, 195. 12 Fuchs, 28.

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schen Truppen, und China stellte sich später auf die Seite von Nordkorea.13 Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde die Vielzahl an verschiedenen Comics in Amerika toleriert. Erst später kam es zu den ersten Gegenbewegungen und Eindämmungsversuchen der sogenannten Horror-Comics. Diese Comics enthielten Darstellungen von Sex, Gewalt und Straftaten.14 Erste Ansätze für den sogenannten Comic-Code wurden schon in den Jahren 1947–1949 durch lokale Gesetze für den Comicverkauf geschaffen. Am 26. Oktober 1954 folgte dann ein Selbstregulierungsprogramm der größten Comic-Verlage (Comic-Code), um einer entsprechenden Gesetzgebung zuvorzukommen. Demnach musste jedes Heft vor der Veröffentlichung industrieintern zensiert werden. Es durften somit keine Sympathie für Verbrecher, Drogenkonsum, Nacktheit und Ähnliches mehr gezeigt werden.15 Vor der Veröffentlichung eines Comics prüfte die CMAA (Comics Magazine Association of America), ob die vorgeschriebenen Vorgaben eingehalten wurden, und erteilte erst anschließend ein Prüfsiegel. Ohne dieses Siegel konnte kein Comic auf den Markt gebracht werden.16 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hauptsächlich amerikanische Comics nach Deutschland importiert.17 In Deutschland gab es ab dem Jahr 1974 Indizierungsanträge, die dafür sorgten, dass Comics, die nicht den Vorschriften entsprachen, vom Markt genommen und in die Liste für jugendgefährdende Schriften aufgenommen wurden. Diese Anträge konnten aber erst gestellt werden, wenn der Comic bereits auf dem Markt war und nicht wie in Amerika bereits vor der Veröffentlichung.18 In Frankreich sorgte bereits im Jahr 1949 ein Gesetz dafür, dass Publikationen, die für Kinder und Jugendliche gedacht sind, vom Markt gedrängt werden, wenn sie nicht dem Jugendschutzgesetz entsprechen. Diese Gesetzgebung bezog sich vor allem auf ausländische (hauptsächlich amerikanische) Comics. Ausländische Comics müssen demnach vor der Veröffentlichung vom Informationsministerium genehmigt werden. In England folgte im Jahr 1954 ein ähnliches Jugendschutzgesetz, das den Import von amerikanischen Horror-Comics eindämmen sollte.19 Die koloniale Geschichte der Indianerkriege erklärt die Symbolsysteme der amerikanischen Kultur. Durch sie lässt sich die nationale Identität der USA begreifen.

13 Rolf Steininger. Der vergessene Krieg: Korea 1950–1953. München: Olzog, 2006, 7ff. 14 Fuchs, 141. 15 Ebd. 16 Stephen Krensky. Comic Book Century: The history of American Comic Books. Minneapolis: TwentyFirst Century Books, 2008, 51. 17 Fuchs, 34. 18 Ebd., 152f. 19 Ebd., 157.

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Dadurch, dass sich Amerika schon früh als die »neue Welt« sah, entwickelte sich eine Art moralisches Überlegenheitsgefühl der Bürger.20 Schon der puritanische Prediger Jonathan Edwards sprach von der Errichtung eines neuen Zions und John Winthrop sprach von einer city upon a hill, die als moralisches Vorbild gelten sollte.21

Der Puritanismus ist nach Haller »als die englische Ausformung der calvinistischen Reformation« zu betrachten.22 Kriegerische Auseinandersetzungen sind somit als eine Art Verteidigung der amerikanischen Ideale anzusehen.23 Dieser nationale Puritanismus spiegelt sich auch im Kalten Krieg und in der Herrschaft des Senators McCarthy wider. Die McCarthy Ära (1950–1954) war insbesondere durch eine antikommunistische Haltung und unbegründete Anschuldigungen gegenüber Personen geprägt.24 Die daraus resultierende Angst der Bevölkerung vor dem Kommunismus gab der Comic-Industrie die Möglichkeit, die Ängste der Leser in die Comics mit aufzunehmen und ihr eigenes patriotisches Image zu fördern.25 David Hajdu bewertet das Ende der politischen Herrschaft von McCarthy als das Ende vieler Karrieren von Comic-Machern.26 Eine ausführliche Analyse und Beschreibung eines Comics bildet das Fundament, um zu erkennen, was einen bestimmten Comic auszeichnet und welche Effekte er mit sich zieht.27 Frontline Combat erscheint als Comic-Heft in realistischer Darstellung. Die jeweiligen Comic-Formate sind mit bestimmten Konventionen verknüpft, sodass auch die Comic-Hefte hinsichtlich ihres Seitenumfangs festgelegt sind und meist über einen spezifischen Seitenaufbau verfügen.28 In Frontline Combat erscheinen meist sieben Panels pro Seite, die schwarz eingerahmt sind, wobei die Größe der jeweiligen Grids sich von groß zu klein abwechselt. Diese haben einen geringen Abstraktionsgrad, da der Comic einer 20 Astrid M. Fellner. »Terror und die Sprache der Folter: Krieg und Frieden in der amerikanischen Literatur«. Manfred Leber, Sikander Singh (Hgg.). Erkundungen zwischen Krieg und Frieden. Universitätsverlag des Saarlandes, 2007, 245. 21 Ebd. 22 Immo Meenken. Reformation und Demokratie: zum politischen Gehalt protestantischer Theologie in England 1570–1660. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1996, 24f. 23 Fellner, 245. 24 Steininger, 236. 25 Bradford W. Wright. Comic Book Nation: The Transformation of Youth Culture in America. Baltimore: The Johns Hopkins UP, 1968, 110. 26 Hajdu, 274. 27 Julia Abel, Christian Klein (Hgg.). Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 75. 28 Ebd., 79.

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realistischen Zeichenweise unterliegt. Demnach ist die Linienführung ebenso realistisch. Die Verwendung der Farbe als Ausdrucksmittel erfolgt zwar comic­ typisch, ist dem Realismus jedoch oft entgegengesetzt und hat eine stark expressive Funktion. Durch sie werden bestimmte Atmosphären sowie Dynamik erzeugt. Das Farbspektrum reicht von Signalfarben wie zum Beispiel Rot und Gelb zu dezenteren Farben wie Hellblau. Dabei haben die Signalfarben stets eine starke Intensität. Der Aspekt der Bewegung wird bei Frontline Combat zwar primär durch wechselnde Farben erzeugt, allerdings treten auch Gestaltungsmittel wie Speed Lines auf, die eine Bewegung eines Gegenstandes oder einer Figur nachzeichnen. Insgesamt erscheint Frontline Combat durch den ständigen Farbwechsel als besonders dynamisch. Speed Lines unterstützen die Bewegung nur sekundär. Bei Panels handelt es sich um statische Bilder, jedoch kann in ihnen, wie beispielsweise durch Geräusche, Zeit vergehen.29 Ansonsten vergeht Zeit über die Sequenz. Der Raum besitzt eine ganz grundsätzliche Relevanz als konstitutives Element für den Comic als Bildmedium, zumal die Panels räumlich angeordnet sind und einer bestimmten Seitenarchitektur folgen.30

Zur Verdeutlichung wird im Folgenden auf die Story Enemy Assault!31 aus Frontline Combat #1 eingegangen. In diesem Comic begegnen sich im Zuge des KoreaKrieges zwei Soldaten, ein Amerikaner und ein kommunistischer Chinese, in einem Graben. Beide sind bewaffnet und richten ihre Schusswaffen aufeinander. Jedoch betätigt keiner von beiden den Abzug, da sie sich dafür entscheiden, auf die jeweilige Verstärkung ihrer Kameraden zu warten, um ihren Gegenüber als Kriegsgefangenen in Gewahrsam zu nehmen. Die beiden kommen ins Gespräch und stellen viele Gemeinsamkeiten fest. Die angespannte Lage scheint sich immer weiter zu beruhigen, denn beide Soldaten richten ihre Waffen nicht mehr auf­ einander und zeigen sich Fotos ihrer Kinder. Dem gegnerischen Soldaten werden dabei sämtliche Panels mit Nahaufnahmen und Close-Ups gewidmet, die dem Leser direkt gegenüberstehen. Insgesamt erscheint die Linienführung eher fein, was für eine realistische, detailreiche Darstellung sorgt. Die Sequenz des Aufeinandertreffens zwischen dem US-Soldaten und dem chinesischen Kommunisten wird mit dem letzten Panel auf Seite drei der Story eingeleitet. Der Amerikaner ist nur in Rückansicht zu sehen, 29 Abel/Klein, 94. 30 Ebd., 95. 31 Harvey Kurtzman, Jack Davis. »Enemy Assault!«. Frontline Combat EC Annual Volume 1 [Issues #1–#5]. 1951. West Plains, MO: Gemstone Publishing, 1996.

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was dazu führt, dass man die Situation aus seiner Perspektive wahrnimmt. Allein durch die Körperhaltung wirkt er dem chinesischen Soldaten überlegen, denn er ist stehend und den Arm an den Graben lehnend abgebildet. Die Körperhaltung kann trotz des statischen Bildes durchaus Bewegung assoziieren.32 Durch das Stehen wirkt der Amerikaner ebenfalls vitaler. Die Kommunikation erfolgt hier allein durch eine einzelne Sprechblase des Amerikaners in der er sagt: »ALL DEAD HERE, TOO.. WHU..?«. Der Text erscheint in Großbuchstaben. Das »WHU..?« unterstützt allein durch den Fettdruck den Moment der Überraschung. Ferner wirkt das Gesprochene dadurch auch lauter. Die Sequenz läuft auf der nächsten Seite fort (Abb. 1). Das erste Panel ist in der Kamera­einstellung etwas näher als das zuvor beschriebene, aber immer noch halbtotal. Allerdings gibt es keine direkte Kommunikation. Es folgt ein innerer Monolog, der nicht mit einer typischen Gedankenblase abgebildet wird, sondern als ein Kommentar auftritt. Die Anspannung des Chinesen ist in seiner Mimik weiterhin deutlich zu erkennen. Das folgende Panel wechselt die Perspektive. Nun wird die Situation aus der Sicht des Chinesen gezeigt, und der Leser sieht den Amerikaner erstmals als Ganzes aus der Frontalansicht. Die Mimik ist dennoch nicht genau zu erkennen. Passend zur wechselnden Perspektive führt auch der chinesische Soldat einen inneren Monolog, der als Kommentar visualisiert ist. Noch erscheint der Hintergrund in naturalistischer Farbgebung, jedoch ist er dunkler geworden und das Braun sticht ins Rötliche. Furchterregende oder gefährliche Zustände werden bei Comics vorwiegend mit Braun, Rot oder Schwarz signalisiert.33 Der Himmel ist schwarz, und der Graben hat sich deutlich verdunkelt. Eine gefährliche Zuspitzung der Situation ist durch die Gestaltung deutlich wahrnehmbar. In den mittleren Panels der Seite symbolisiert der Fettdruck der Schrift eine höhere Lautstärke. Die Kommunikation erfolgt durch Sprechblasen. »Die Hintergrundfarben sind oft vom Handlungsablauf nicht motiviert, sondern bilden in ihrem Wechsel lediglich Reizauslöser«.34 Ein grüner, eher ruhiger Farbton im ersten der mittleren Panel ist an dieser Stelle nicht motiviert. Der Hintergrund wechselt hier erstmals vom Naturalistischen zum Expressiven. Das mittlere Panel ist die genaue Gegenüberstellung zum Vorherigen: Der Leser sieht an dieser Stelle erstmals die Perspektive des Chinesen. Die Hintergrundfarbe hier ist ein Pinkton. Der direkte Farbkontrast unterstützt die hier abgebildete Situation, in der sich zwei Parteien im Konflikt gegenüberstehen. Solch ein rapider Farbwechsel erzeugt Unruhe und wirkt disharmonisch. Das rechte Panel stellt den amerikanischen Soldaten frontal dar. Seine Mimik ist äußerst wütend und 32 Jakob F. Dittmar. Comic-Analyse. Konstanz: UVK, 2008, 86. 33 Ebd., 163. 34 Berthold Gaupp. Phänomen Comics transparent gemacht: Programme, Anleitungen und Vorschläge für die erzieherische Praxis in Hort, Heim, Freizeiten und Seminaren. Fellbach: Bonz, 1978, 45.

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sein Gewehr ist in Schussposition. Es zeigt auf den Leser, was die Situation noch furchterregender erscheinen lässt. Die Hintergrundfarbe ist hier dunkler und lila. Das Lila symbolisiert direkte Gefahr.35 Die Hintergrundfarbe unterstützt die zugespitzte Situation gestalterisch. Durch die Perspektivwechsel wirken die mittleren Panels sehr dynamisch. Die letzten beiden, unteren Panels der Seite weisen eine Halbtotale auf. Auch hier soll die ständige Änderung der Perspektiven für optischen Anreiz sorgen, für Unruhe und Bewegung.36

Im linken Panel erscheint der Graben erneut in einem natürlichen Braun. Das rechte Panel zeigt die Situation von etwas näherer Perspektive. Der Graben ist erneut dunkler und lilastichiger. Der Himmel ist in beiden Panels schwarz: Die Situation ist stets angespannt, und ihr Ausgang ist unklar. Die Seitenarchitektur der fünften Seite (Abb. 2) zeigt alle Panels in gleicher Größe. Das erste Panel der ersten Reihe ist aus der Perspektive des Amerikaners gestaltet. Der Blick des Lesers richtet sich somit frontal auf den sitzenden Chinesen. Erstmals taucht eine doppelte Sprechblase auf, welche anstatt der üblichen zwei Aussagen der Dialogpartner nun drei ermöglicht. Die Hintergrundfarbe ist in einem kräftigen Rot gehalten und somit die intensivste Farbe innerhalb der gesamten Sequenz. Mit der Farbe Rot ist Gefahr konnotiert.37 Dieses Panel stellt den Höhepunkt der gesamten Sequenz dar, denn Schüsse sollen eingeleitet werden. Das mittlere Panel zeigt den Chinesen in Medium Close Up Ansicht. Diese Entfernung ist in Gesprächen vorherrschend und findet daher vor allem in Dialogen oder Konfrontationen wie in diesem Beispiel Verwendung.38 Der Leser ist so nah am Chinesen, dass er dessen Mimik direkt erkennen kann. Der Hintergrund hat sich von Rot zu einem weniger intensiven Orange abgeschwächt. Die Gefahrensituation und die Anspannung fallen langsam herab, denn auch die Kommunikation hat keine kriegerische Handlung mehr involviert. Im letzten Panel der oberen Reihe geht die Hintergrundfarbe ins Gelbe über, was in diesem Fall Aufmerksamkeit symbolisiert.39 Das erste Panel der mittleren Reihe ist in Gelb fortgesetzt. Die mittleren Panels weisen erneut jeweils zwei Sprechblasen auf. Es gibt demnach einen direkten Dialog. Gelb symbolisiert auch Wärme.40 In diesen Panels erkennt man diesen Aspekt daran, dass der Krieg immer weiter in 35 Ebd. 36 Gaupp, 45. 37 Dittmar, 163. 38 Ebd., 83. 39 Dittmar, 163. 40 Ebd., 163.

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den Hintergrund gerät. Die Mimik des Chinesen erscheint erstmals entspannt. Im mittleren Panel wechselt der Hintergrund zu einem Blau-Grün-Ton. Die Farbe ist wie die gesamte Situation ruhiger. Das rechte Panel führt die Kommunikation fort. Der Hintergrund geht nun ins Bläuliche über. Die letzte Reihe löst die Situation nun gänzlich aus seinem kriegerischen Kontext. Der Hintergrund ist weiterhin blau. Im mittleren Panel ist die Hintergrundfarbe in einem etwas dunkleren Blau gewählt. Die vorerst gute Stimmung ist nun in eine traurige übergegangen, was durch die Farbwahl unterstützt wird. Das letzte Panel weist einen offenen Ausgang auf. Der Leser erfährt nicht, wie das Gespräch der zuvor noch feindlichen Soldaten ausgeht. Seite 5 fällt insbesondere aufgrund der Farbwahl auf, da innerhalb der Hintergrundfarben mehrfach Kontraste auftreten. Diese lassen sich in drei Gruppen einteilen. Polare Kontraste zwischen den Primärfarben Rot, Blau und Gelb.41 Zudem gibt es weiche Kontraste zwischen einer Primärfarbe und der im Farbkreis gegenüberstehenden Sekundärfarbe Rot-Grün, Blau-Orange und Gelb-Violett.42 Das immense Farbspektrum ist nicht nur ein Reizauslöser, sondern auch ein expressives Mittel, um die Stimmung sowie Situation zu lenken. Farbe ist […] ein Nachrichtenmedium, das spezifische Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten bietet.43

Die Sequenz verläuft von moment-to-moment in einer sehr kleinschrittigen Darstellung. »Das jeweils aktuell gelesene Panel markiert die Gegenwart, das Panel links davon die Vergangenheit, das Panel rechts vom aktuellen die Zukunft.«44 Schallübertragung benötigt einen spezifischen Zeitraum, daher vergeht am deutlichsten Zeit, wenn Panels Sprache oder Geräusche beinhalten.45 Allein durch den fortlaufenden Dialog zwischen dem US-Soldaten und dem Chinesen erhält die Sequenz eine gewisse Zeitspanne. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Frontline Combat und vielen anderen amerikanischen Comics mit kriegerischem Szenario oder Kriegsfilmen liegt in der Einstellung zum militärischen Sieg der USA hinsichtlich des jeweiligen historischen Ereignisses. Populäre Publikationen zur patriotischen Ikone Captain America46 oder das heroisierende Kriegsdrama Du warst unser Kamerad (engl. Orig.: 41 Ebd., 161. 42 Ebd. 43 Ebd., 160. 44 Abel/Klein, 94. 45 Ebd., 95. 46 Jack Kirby, Joe Simon. Captain America Comics #1. New York: Timely Comics, 1941.

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Sands of Iwo Jima)47 unterstreichen den Jingoismus innerhalb der amerikanischen Unterhaltungsmedienlandschaft, insbesondere zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit. Ein typisches Beispiel hierfür ist die überwiegend amerikanisch-patriotische Darstellung der Schlacht um Iwo Jima, die zwischen japanischen und US-Streitkräften im Jahre 1945 ausgetragen wurde und vielen Soldaten beider Parteien das Leben gekostet hat. In Du warst unser Kamerad z.B. beginnt die Thematik des Pazifikkrieges mit einer Widmung an die Marines, die bei den Dreharbeiten des Films mitgewirkt haben. Eine actionreiche Handlung, die mit dem siegreichen Aufziehen der USFlagge auf dem Berg Surabachi endet und dabei von der bekannten Marines’ Hymn48 begleitet wird, runden die Kriegseuphorie im Film ab. Ein solches jingoistisches Kriegsbild von der Schlacht im japanischen Raum lehnt Kurtzman in seiner Comicreihe vehement ab, was insbesondere in Frontline Combat #7 deutlich zum Ausdruck kommt. Diese Ausgabe enthält vier zusammenhängende und grob chronologische Episoden zum Kampf um Iwo Jima. Die erste Geschichte Iwo Jima!49 beginnt mit einem Einleitungstext und der darin enthaltenen Aussage, dass es sich bei der Schlacht um »the roughest marine action in 168 years of marine history« handeln würde. Nicht ohne Grund, denn die Kämpfe um Iwo Jima gelten als die blutigsten des Pazifikkrieges, und gemessen an den eingesetzten Truppen, gehört der Kampf um Iwo Jima zu den verlustreichsten Schlachten in der Geschichte der Vereinigten Staaten.50 In der zweiten Geschichte The Landing!51 liegt der Fokus auf der Eroberung der Insel durch Bodentruppen der US-Army. Das berühmte Aufziehen der amerikanischen Flagge nimmt dabei in dem Kapitel des Comics ein lächerliches Ausmaß an. Während einer kurzen Feuerpause ruft einer der Soldaten zu seinem Sergeant, dass die amerikanische Flagge gehisst wird. Dabei ist in einem Panel das sonst so glorreiche Aufziehen der US-Flagge im eroberten Gebiet, was stets die typisch amerikanische bzw. militärische Entschlossenheit repräsentieren soll, auf einen winzigen Punkt begrenzt.

47 Allan Dwan. Todeskommando (Du warst unser Kamerad). DVD, Paris: Studiocanal, 2007 [1949]. 48 U.S. Marine Band. TheMarines’ Hymn. Komponiert von Jacques Offenbach, 1867. Audio. Erneuert von der United States Marine Band, 1998. www.loc.gov/item/ihas.100010501/, Abruf am 15.02.2018. 49 Harvey Kurtzman, Wallace Wood. »Iwo Jima!«. Frontline Combat EC Annual Volume 2 [Issues #6–#10]. 1952. West Plains, MO: Gemstone Publishing, 1997. 50 Horst H. Grimm. »Die blutigste Schlacht des Pazifikkrieges«. Der Stern, 19.02.2005, www.stern. de/politik/geschichte/iwo-jima-die-blutigste-schlacht-des-pazifikkrieges-3546436.html, Abruf am 15.02.2018. 51 Harvey Kurtzman, John Severin, Bill Elder. »The Landing!«. Frontline Combat EC Annual Volume 2 [Issues #6–#10]. 1952. West Plains, MO: Gemstone Publishing, 1997.

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Im dritten Kapitel The Caves!52 wird der Kontrast in der Darstellung des Kriegsbildes zwischen Frontline Combat und vielen anderen Publikationen besonders deutlich. Dies spiegelt sich insbesondere in der Darstellung des Feindes wider. Im Gegensatz zu den Filmen der Zeit, die den Feind unkenntlich machen, ihn entmenschlicht darstellen oder ihm erst gar keine physische Präsenz gewähren, gehen viele Kriegsgeschichten in Frontline Combat große Anstrengungen ein, um den Leser dazu zu bringen, den Feind in vielen Situationen zu verstehen und sich in ihn einzufühlen. So wird der Leser in The Caves! aus der Perspektive japanischer Soldaten durch die höhlenartigen Labyrinthe auf der Insel geführt, die dem amerikanischen Feind während der Schlacht um Iwo Jima Zuflucht gewährten. Dabei nimmt die Geschichte bereits zu Beginn eine radikale Position ein. In dieser Geschichte sind die Amerikaner die »unsichtbare« Bedrohung, deren physische Präsenz in den Panels lediglich auf die letzte Seite beschränkt wird. Die Japaner hingegen verkörpern aufgrund ihrer äußerst misslichen Lage und dem Einblick in ihre Gedankenwelt die Identifikationsfiguren der Geschichte. Im weiteren Verlauf der Handlung werden dem Leser die Ängste eines japanischen Soldaten offenbart, der lieber überleben möchte, anstatt sich einem riskanten Angriff zu stellen. Nachdem er und seine Kameraden in ein Kreuzfeuer der Amerikaner gelangen und sich die Truppe erneut in die Höhle zurückziehen muss, beschließen die Japaner, einen kollektiven Selbstmord per Handgranaten zu begehen, da ihnen dieser Tod weitaus angenehmer erscheint als das langsame Zugrundegehen durch das Verdursten oder Ersticken auf engem Raum. Da der Leser Einblick in den japanischen Soldaten gewonnen hat und ihm nahegelegt wird, dass seine Selbstmordentscheidung auf mehrere Komplikationen zurückzuführen ist, identifiziert und sympathisiert der Leser in dieser Geschichte weitaus mehr mit den Japanern. Des Weiteren erscheinen abschließende Beleidigungen der Amerikaner gegenüber den Japanern, wie z.B. »crazy Japs« im vorletzten Panel der Geschichte, als besonders provokant und abwertend. Damit wurde die Ideologie der Paranoia und die Auffassung einer »Andersartigkeit« des Feindes, die die amerikanische Popkultur der 1950er Jahre offensichtlich beherrschten, von Kurtzman pervertiert bzw. untergraben. In der Geschichte Enemy Assault!53 aus Frontline Combat #1 erreicht Kurtzman durch die detaillierte Darstellung des Chinesen ebenfalls eine Vermenschlichung des Feindes, was in den meisten zeitgenössischen Kriegsfilmen und anderen Publikationen gänzlich fehlt, da das Gesicht des Feindes dort selten oder nur

52 Harvey Kurtzman, John Severin. »The Caves!«. Frontline Combat EC Annual Volume 2 [Issues #6–#10]. 1952. West Plains, MO: Gemstone Publishing, 1997. 53 Kurtzman/Davis, Enemy Assault.

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entmenschlicht gezeigt wird. Die Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht prägend für das Kriegsbild in Frontline Combat, nicht zuletzt durch Darstellung eines Kampfes, der die grafische Sprache der Comics voll ausnutzt, um alle Vortäuschungen von Ruhm und Kriegseuphorie durch das Töten zu beseitigen. Kurtzman macht deutlich, dass Comics am besten durch eine geschickte Kombination von Wörtern und Bildern kommunizieren, denn ihre Synthese führt dazu, dass der Feind vermenschlicht dargestellt werden kann und eine Technik entfaltet wird, die den Mord viel schockierender macht. Mitleid mit dem Feind, einem Kommunisten, wäre in vielen anderen amerikanischen Comics oder Filmen der 1950er Jahren undenkbar. Eine andere Dimension der grafischen Sprache der Frontline Combat-Comics ist das Pacing, ein Verfahren, dass Kurtzman auf eine geschickte Weise bedient, um ein schauriges Kriegsbild in den Comics zu erzeugen und um eine grausame Serie von Bildern liefern zu können. In First Shot!54 aus Frontline Combat #9, beispielsweise, wird der Beginn des Sezessionskrieges aus dem Jahre 1861 thematisch aufgegriffen, wonach der Angriff auf Fort Sumter eine entscheidende Rolle einnimmt. Die letzten Panels in First Shot! zeigen einen sterbenden Soldaten, der kurz nach dem Angriff auf Fort Sumter ums Leben kommt. Vier aufeinanderfolgende Panels illustrieren seine Blutlache, die innerhalb kürzester Zeit an beträchtlicher Größe zunimmt und im Abschlusstext der Geschichte als ein furchtbares Omen gedeutet wird. Durch diese Panels dehnt Kurtzman das Töten zu einem unbequemen Grad aus, denn es handelt sich um keinen schnellen Tod außerhalb des Bildschirms; vielmehr muss der Leser die Todesqualen hautnah miterleben. Die Übergänge zwischen den Panels werden als »moment-to-moment«55 bezeichnet, d.h. die aufeinanderfolgenden Momente der illustrierten Sequenz umfassen eine sehr kurze Zeitspanne. Solche Übergänge haben den Effekt, dass sie einen dargestellten Vorfall für dramatische Zwecke ausdehnen. Während amerikanische Kriegsfilme der Nachkriegszeit, wie z.B. Kesselschlacht (engl. Orig.: Battleground),56 das Publikum vor dem Töten schützen, fokussiert sich Kurtzman in vielen Szenen auf diesen Aspekt, um anscheinend hervorzuheben, dass oftmals sehr leichtfertig mit dem Töten eines Menschen umgegangen wird oder dass Rache häufig als ein gerechtfertigtes Motiv zum Töten repräsentiert wird, das den Leser oder Zuschauer wiederum abstumpfen oder entmenschlichen könnte. Viele amerikanische Publikationen stellen zudem eine siegreiche Schlacht als heroisch, inspirierend und hoffnungsvoll dar, Kurtzman dagegen verzeichnet ein durchweg düsteres Kriegsbild in Frontline Combat, verzichtet auf jegliche Art von 54 Harvey Kurtzman, John Severin, Bill Elder. »First Shot!«. Frontline Combat EC Annual Volume 2 [Issues #6–#10]. 1952. West Plains, MO: Gemstone Publishing, 1997. 55 Scott McCloud. Understanding Comics. New York: Harpercolling, 1994, 70. 56 William A. Wellman. Battleground. DVD. Burbank: Warner Bros., 2004 [1949].

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Romantisierung des Todes und weist regelmäßig auf die Sinnlosigkeit des Krieges hin. Er zeigt auf diese Weise auf, dass Comics das Potential haben, eine antikriegerische Einstellung beim Leser zu evozieren, was bei den meisten zeitgenössischen Filmen und Comics oftmals nicht der Fall ist. In den ersten Jahren, in denen die E.C. Comics produzierte, stellte sich kein großer Erfolg ein. Das könnte damit zusammenhängen, dass der Verlag hauptsächlich Comics mit Standardthemen publizierte. Eine gewisse Versteifung auf einen Stil machte die Comics somit weniger attraktiv für die Leserschaft. Ein neuer Trend entwickelte sich unter anderem mit dem Kriegscomic Two-Fisted Tales (1950) und kurz darauf mit Frontline Combat (1951). Diese Comics zeichneten sich durch einzigartige Grafiken, ihre einfallsreichen Handlungen und literarische Skripts aus und sicherten E.C. einen hohen Stellenwert in der Geschichte der Comics. Der neue Comic-Trend evozierte, mehr als je ein Comic zuvor, intensive Reaktionen bei der Leserschaft. Die Comics wurden sowohl geliebt, als auch gehasst, jedoch wurden sie nicht ignoriert.57 Der Erfolg eines Comics hängt vom Können der Autoren und Zeichner ab. Ebenso sind die Leser der Comics ein wichtiger Faktor, denn sie entscheiden darüber, wie erfolgreich ein Comic wird.58 Die Comics von E.C. überzeugten ihre Leserschaft nicht nur mit grauenhaften Kriegsszenen, sondern zeigten in den Handlungen der Comics ein für diese Zeit ungewöhnliches moralisches Anliegen.59 Frontline Combat stellt eine Abweichung von der Norm der Comics dar. Normalerweise werden Helden physisch ansprechend und die Gegner abstoßend dargestellt.60 Kurtzman hingegen evoziert eine Vermenschlichung des Feindes und erzeugt durch die Gestaltung der Figuren bei den Lesern eine Art Sympathie gegenüber den Feinden. Es drängt sich der Eindruck auf, als käme die offizielle Rhetorik der USA ohne Feindbild nicht aus.61 Kurtzman regt durch seine andersartige Darstellung der Feinde die Menschen zum Nachdenken über den Krieg an. Er selbst äußert sich dazu folgendermaßen: »In my war comics, I avoided the usual stuff of the big good-looking GI62 beating up

57 Les Daniels. »Chapter Four: The E.C. Revolution«. Comix: A History of Comic Books in America. New York: Bonanza Books, 1971, 62. 58 Fuchs, 207. 59 Ebd., 38. 60 Roman Gubern, Claude Moliterni. Comics – Kunst und Konsum der Bildergeschichten. Reinbek: Rowolt, 1978, 55. 61 Walter Hölbling. »Vorstellungen von Krieg und Frieden in der US-amerikanischen Romanliteratur. 2014«. LiTheS: Zeitschrift für Literatur und Theatersoziologie 10, 80–99, http://unipub.uni-graz.at/ lithes/periodical/pageview/783921, Abruf am 08.03.2018, 83. 62 GI ist eine Bezeichnung für einen einfachen Soldaten der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika.

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the ugly little yellow man«.63 Er begründet seine Entscheidung damit, dass es ihm missfallen hat, dass andere Comic-Verlage den Krieg sehr glanzvoll darstellten und die Leser die Wahrheit über den Krieg erfahren sollten. E.C. förderte selbst das Entstehen einer eigenen Fangemeinde, indem Leser ab 1953 für 25 Cent eine Mitgliedschaftsausrüstung und das Fan-Addict Bulletin erhielten. Mehr als 23.500 Fans traten dem Fanclub bei. Im Fan-Addict Bulletin konnten die Fans beispielsweise von neuen E.C.-Publikationen erfahren und Neuigkeiten über das persönliche Leben der Zeichner nachlesen. Auch das Netzwerk zwischen den E.C.-Fans wurde durch diese Zeitschriften gefördert, indem diese Anzeigen für zu verkaufende Exemplare älterer E.C.-Comics aufgeben konnten.64 Im Veröffentlichungszeitraum der Frontline Combat-Comics lebten allerdings auch die moralischen Feldzüge gegen die Comics wieder auf. Sie fanden ein günstiges Klima im »nationalen Puritanismus«, der für die Zeit des »Kalten Krieges« und für die politische Vorherrschaft des Senators McCarthy charakteristisch war.65

Im Jahr 1954 erschien das Buch The Seduction of the Innocent66 von Frederic Wertham, das die pädagogische Kritik an den Horror-Comics stark beeinflusste.67 Wertham war davon überzeugt, dass Gewaltdarstellungen in Comics dazu führen, dass Jugendliche selbst gewalttätig werden.68 Die sogenannten Horror-Comics von E.C. sorgten nach und nach für mehr Unmut, wodurch die Comic-Verlage schließlich zu Selbstzensurmaßnahmen griffen. Bevor es zu diesen Selbstzensurmaßnahmen kam, versuchte Bill Gaines noch einen möglichen Zerfall seiner Comicserie zu verhindern. Dazu verfasste er einen Appell an die Fans der E.C.Comics, der in verschiedenen Ausgaben von Comics und im Fan-Addict Bulletin abgedruckt wurde. Darin forderte er die Fans dazu auf, ihre Meinung zu der negativen Einstellung gegenüber den Comics kundzutun. Dem gegenüber stellte sich Robert C. Hendrickson, der ebenfalls ein Bulletin herausbrachte und die Gegner der Comics öffentlich dazu aufforderte, sich zu der Debatte zu äußern. Aufgrund der Resonanz wurden mehrere Produktionen verschiedener Comics eingestellt.69 Bürgerinitiativen ergriffen weitere Maßnahmen gegen kontroverse Comic-Bücher und appellierten für eine neue Gesetzgebung.70 Pädagogen, Eltern 63 Hajdu, 196. 64 Beaty, 110. 65 Gubern/Moliterni, 95. 66 Frederic Wertham. Seduction of the Innocent. New York: Rinehart & Company, 1954. 67 Gubern/Moliterni, 95. 68 Krensky, 48. 69 Hajdu, 277ff. 70 Ebd., 281.

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und Bürger fürchteten das Verlorengehen der Kulturtechnik durch Comics. Des Weiteren wurden Comics beschuldigt, zur geistigen Trägheit von Jugendlichen und der Jugendkriminalität beizutragen.71 Selbst die Armee erklärte, dass sie die Veröffentlichungen der E.C. als subversiv ansehe, weil die Darstellung der Soldaten dazu führe, dass die Armee diskreditiert werde. Das FBI öffnete eine eigene Akte über Gaines und seine Firma.72 Gaines beschreibt die Atmosphäre der Unzufriedenheit gegenüber HorrorComics als wirtschaftlich, intellektuell und emotional hinderlich und merkt an, dass Großhändler und Comicverkäufer durch die öffentlichen Diskussionen mit dem Zorn öffentlicher Gruppen konfrontiert werden. Lyle Stuart, ebenfalls ein Autor von umstrittenen Büchern, ermutigte Gaines dazu, andere Comic-Verleger zu einem Treffen einzuladen. Bei einem der daraufhin stattfindenden Treffen beschlossen die Mitglieder der Versammlung, sich den Namen Comics Magazine Association of America (CMAA) zu geben und einen eigenen Comic-Code zu entwickeln, der für einen Standard von Comicbuchinhalten sorgen sollte. Da der Comic-Code nicht dem entsprach, was Gaines sich vorgestellt hatte, trat er mit seinem Verlag der CMAA nicht bei.73 Gaines hielt am 14. September 1954 eine eigene Pressekonferenz ab. Dort verkündet er: »I have decided now to discontinue all horror and crime comics. This decision will be put into immediate effect«.74 Er begründet seine Entscheidung damit, dass er den amerikanischen Eltern das geben will, was sie wollen, nämlich Comics ohne Horrorszenen. Darüber hinaus möchte er erreichen, dass andere Comic-Verlage es E.C. nachtun werden und somit die öffentliche Diskriminierung der Comics ein Ende finden wird. Feldstein merkt an, dass diese Selbstzensurmaßnahme durch Gaines die einzige Möglichkeit war, einer staatlichen Zensur zu entgehen, durch die E.C. höchstwahrscheinlich bankrottgegangen wäre.75 Der Inhalt der Geschichten eines Comics sollte keine Abweichungen zu den bestehenden Schemata enthalten, um ihn weiterhin gut verkaufen zu können. Die Leser erwarten also von einem Comic eine gewisse Einheitlichkeit in Handlung und Gestaltung.76 Durch den Comic-Code oder eine dementsprechende gesetzliche Regelung hätten die behandelten Kriegsthemen nicht mehr so realistisch und grausam dargestellt werden können, wie es zu Beginn noch der Fall war. Dies lässt darauf schließen, dass durch eine erzwungene Umgestaltung der Comics das ökonomische Interesse der Leser an den E.C.-Comics zurückgegangen wäre. 71 Baur, 64. 72 Jones, 257. 73 Hajdu, 284 ff. 74 Hajdu, 287. 75 Ebd., 288f. 76 Baur, 61.

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Nachdem der Comic-Code im Jahr 1954 dafür sorgte, dass E.C.-Comics zu diesen Selbstzensurmaßnahmen greifen musste, entwickelte sich bei den Fans der Comicserie ein tiefer Hass gegen diesen Code, der darin mündete, dass 15 Jahre später in den Underground Comix alles negativ beurteilt wurde, was diesen Code repräsentierte.77 Die Underground Comix entstanden in den späten 1960er Jahren. Comix imitierte die E.C.-Comics durch eine ähnliche äußere Form und Aufmachung. Auch vollständige Comics der E.C. wurden als Underground Comix nachgedruckt. Harvey Kurtzman war derjenige, der durch sein Satiremagazin Help!78 (1960–1965) den Weg für die Underground Comix ebnete. Er arbeitete auch zeitweise mit den Underground-Zeichnern zusammen.79 Der Unmut gegenüber den Horror-Comics in der Bevölkerung beendete das Dasein der Antikriegs-Kriegscomics. Es war vor allem die detaillierte und grausame Darstellung der Kriegshandlungen in den Comics, die die Leser beeindruckte, aber auch abschreckte. E.C. nutzte die Horror-Comics, um ihre Moral und ihre Vorstellungen über das Kriegsgeschehen deutlich zu machen. Gaines blieb keine andere Möglichkeit, als die Produktion der Kriegscomics zu beenden, da eine Gesetzgebung gegen seine Comics dazu geführt hätte, dass die Handlung und Gestaltung der E.C.-Comics modifiziert werden müsste. Auch durch einen Beitritt in den Comic-Code hätte er die meisten der E.C.-Comics nicht weiterhin in der Art und Weise veröffentlichen können, in der sie vorher verkauft wurden. »Financially, EC had no choice but to capitulate«.80 Auf gestalterischer Ebene erscheint Frontline Combat als ein realistischer Comic, der sich am allgemeinen Zeichenrepertoire von Comics gänzlich bedient. Eine Besonderheit ist jedoch das vielseitige Spielen mit Farbe: Farbe wird realistisch, aber auch expressiv gebraucht, um die Wirkung der abgebildeten Situation implizit zu interpretieren. Die Farbe dient als Reizauslöser, der auch Dynamik und Unruhe indiziert. Kurtzman schafft es mit Frontline Combat, jeglichen propagandistischen Klischees vieler zeitgenössischer Publikationen zu trotzen. Die Kriegsserie verzichtet auf eine jingoistisch-kriegseuphorische Darstellungsweise in ihren Illustrationen, was insbesondere in der Nachkriegszeit der amerikanischen Unterhaltungsindustrie breit vertreten war. Frontline Combat erscheint mit einer größeren politischen Reife, nicht zuletzt durch die stetige Perspektiveneinnahme der Gegenpartei und der Vermenschlichung des Feindes. Das durchweg düstere Kriegsbild unterstreicht die offensichtliche Botschaft Kurtzmans, dass alle beteiligten Menschen innerhalb 77 Fuchs, 39. 78 Harvey Kurtzman. Help!. Philadelphia/New York: Warren Publishing, 1960–1965. 79 Fuchs, 40. 80 Wright, 177.

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der Kriegsgebiete Opfer der Kriegsmaschinerie sind und sich der modernen Kriegsführung unterordnen müssen. Demnach äußerte sich Kurtzman in einem Interview zum Entstehungsprozess der Serie und seiner Einstellung zum Krieg: I did then feel very strongly about not wanting to say anything g­ lamorous about war, and the only stuff that had been done was glamorous war comics.81

81 Daniels, 67.

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»Fusillés pour lʼexemple« Zur Darstellung des Ersten Weltkriegs im Werk von Jacques Tardi

Jacques Tardi, 1946 geboren, gehört zu den einflussreichsten Comicautoren mindestens Frankreichs. Sein Werk wurde nicht nur wegen seiner künstlerischen Qualität mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, sondern übte auch eine starke Wirkung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen in Frankreich aus. In seinem umfangreichen Œuvre nimmt der Erste Weltkrieg eine bevorzugte Stellung ein; immer wieder kehrt er zu diesem Thema zurück. Im Folgenden soll anhand dreier ausgewählter Comics, und zwar C’était la guerre des tranchées (1993)1, Varlot soldat (1999)2 und Le dernier assaut (2016)3 versucht werden, einen Einblick in seine Behandlung des Themas zu geben und auch aufzuzeigen, auf welchen Gebieten sich Tardis Einfluss zeigt. Es soll dabei nachvollziehbar gemacht werden, warum es sich lohnt, sich mit mehreren von Tardis Erster-Weltkrieg-Comics auseinanderzusetzen, obwohl sie doch immer wieder um dasselbe Thema, den Grabenkrieg an der Westfront, kreisen. Denn genau darin, dass es ihm gelingt, immer wieder neue Ausdrucksmöglichkeiten für ein und dasselbe Thema zu finden, zeigt sich zumindest ein Teil seiner Kunst. Nach Tardis eigener Aussage, die auch in jedem Artikel über ihn und jeder Rezension seiner Werke wiederholt wird, bildeten die Erlebnisse seines Großvaters den Ausgangspunkt für seine obsessive Beschäftigung mit dem Grabenkrieg. Wie insgesamt der Erste Weltkrieg in Frankreich gegenwärtig noch sehr viel präsenter ist als in Deutschland, so ist auch die Anbindung an die eigene Familiengeschich-

1 Jacques Tardi. C’était la guerre des tranchées. Tournai: Casterman, 1993. 2 Didier Daeninckx, Jacques Tardi. Varlot soldat. Paris: l’Association, 1999. 3 Jacques Tardi, Dominique Grange. Le dernier assaut. Tournai: Casterman, 2016.

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te keine Seltenheit.4 Gerade der erste der hier besprochenen Comics, C’était la guerre des tranchées, greift Erlebnisse auf, die Tardis Großvater selbst erlebt habe. Der Leser erkennt das in der Vorrede5 berichtete Erlebnis, wie Tardis Großvater gestürzt und mit den Händen in das Darmgewirr, das aus dem Bauch eines Gefallenen quoll, geraten sei und anschließend in der Furcht vor Wundbrand gelebt habe, leicht auf den Panels S. 87f. wieder. Aber dies ist nur einer der insgesamt elf Strips, aus denen der 126 Seiten starke Comic besteht. Der erste Strip nimmt eine Sonderstellung ein, weil er unter dem Titel Le trou d’obus 19846 erstmalig separat veröffentlicht wurde, und dann mit dem zweiten Teil 1993, in abgewandelter Form, unter dem Gesamttitel C’était la guerre des tranchées erneut. Im Jahre 2002 erschien das ganze Werk mit anderem Coverbild als Grabenkrieg auf Deutsch. Eine zweite deutsche Auflage wurde 2013 veröffentlicht. Der erste, bereits 1984 einzeln publizierte Teil, Le trou d’obus, weist eine Reihe von Besonderheiten gegenüber dem Rest von C’était la guerre des tranchées auf, die Tardi in den späteren hier besprochenen Comics zumindest teilweise wieder aufgreift. Dazu gehört die aufwendige Panelgestaltung. In Le trou d’obus sind die Panels durchweg sehr kunstvoll und variierend, meistens streng achsensymmetrisch angelegt, teilweise erinnern sie mit ihren Rundungen und Bögen geradezu an Kirchenfenster. Diese Art der Gestaltung gibt Tardi zugunsten von streng dreigeteilten (im Rest von C’était la guerre des tranchées) bzw. zweigeteilten (in Varlot soldat) Seiten auf, kehrt allerdings in Le dernier assaut wieder zu einer sehr abwechslungsreichen, teilweise achsensymmetrischen Panelgestaltung zurück, die allerdings fast ausschließlich mit rechtwinklig ausgeführten Panels arbeitet. Anders als C’était la guerre des tranchées und Varlot soldat setzt Tardi in Le dernier assaut Farbe ein und schließt daran an die Erstausgabe von Le trou d’obus an, die ebenfalls farbig war; beim Wiederabdruck in C’était la guerre des tranchées wurde die Farbgebung den Grauschattierungen des restlichen Comics angeglichen. Eine aussagekräftige Kolorierung, das sei hier nur anbei bemerkt, zeigt sich auch

4 Nur einige Beispiele für Werke, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen, in denen explizit erwähnt wird, dass Familienangehörige beteiligt waren: Denéchère und Révillon widmen ihr Buch ihren Großvätern, vgl. Bruno Denéchère, Luc Révillon. 14–18 dans la bande dessinée: images de la Grande guerre de Forton à Tardi. Le Coudray-Macouard: Cheminements, 2008. Auch Dominique Grange, die an der CD, die Le dernier assaut beiliegt, mitgewirkt hat, schreibt im Begleittext, ihre (sowie Tardis) Großväter hätten im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft, vgl. S. 94 (nicht paginiert); auch Daeninckx’ Großvater war Soldat, desertierte 1917, vgl. Didier Daeninckx, Jacques Tardi. Le Der des ders. Paris: Casterman, 1997, 5. 5 Tardi, C’était la guerre des tranchées, 29f. (nicht paginiert). 6 Jacques Tardi. Le trou d’obus. Epinal: Imagerie Pellerin, 1984.

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Panelgestaltung bei Varlot Soldat.

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in Elender Krieg7: Im ersten Kriegsjahr dominieren mit den Uniformen der einrückenden Franzosen kräftiges Blau und Rot und das leuchtende Grün von Wäldern und Wiesen; die Farben verlieren sich im Fortgang und entfärben sich immer mehr zu Graustufen; der Änderung bewusst wird sich der Leser in aller Deutlichkeit jedoch erst auf S. 86, in Form einer Rückblende ins erste Kriegsjahr. – Gegenüber C’était la guerre des tranchées und Le dernier assaut wirken die Zeichnungen von Varlot soldat deutlich gröber und sind wie in Le Der des ders nur in Schwarz-Weiß gehalten, enthalten also keine Graustufen wie in C’était la guerre des tranchées und Le dernier assaut. Außerdem enthält Le trou d’obus die comictypische Lautmalerei (»TAC TAC TAC« eines MG 08/15, »PAN«), was ihn deutlich vom Rest von C’était la guerre des tranchées absetzt, in dem das in auffallender Weise nicht der Fall ist. In Varlot soldat werden dann wieder einige, obschon insgesamt wenige Onomatopoetika verwendet, in Le dernier assaut ebenfalls.8 C’était la guerre des tranchées besteht aus mehreren, in sich abgeschlossenen, unzusammenhängenden Strips. Die meisten von ihnen sind datiert, aber nicht chronologisch sortiert. Nur die letzten beiden Strips passen auch chronologisch: Der letzte lässt sich vom letzten Panel her auf den Tag des Waffenstillstandes datieren. Ortsangaben finden sich nicht. Der Seitenumfang liegt zwischen 2 und 17 Seiten. Von diesen Strips soll hier nur ein Auszug aus dem ersten – der als Le trou d’obus schon einmal separat veröffentlicht wurde – betrachtet werden: Auf drei Panels wird die Aburteilung und anschließende Erschießung des Soldaten Luciani gezeigt. Das erste Panel zeigt Luciani mit dem Rücken zum Leser, gerahmt von zwei Soldaten, vor dem erhöht sitzenden Kriegsgericht, das aus fünf Militärs besteht. Das Gericht nutzt ein Gebäude, das in Friedenszeiten eine Schule war. Im Rücken der Richter, also Luciani und dem Leser gegenüber, befindet sich die Karte Frankreichs. Der Erzähler kommentiert, dass es »de drôles de Maîtres« in diesen Schulen gegeben habe, welche die Geschichte Frankreichs nicht unterrichtet, sondern sie vielmehr gemacht hätten. Auf dem nächsten Panel sehen wir Luciani frontal, im Blocktext wird sein Vergehen erläutert, dass darin bestanden habe, einen Befehl bei einem Angriff nicht ausgeführt zu haben, weil er ihn nicht verstanden habe: »Luciani, il était corse, il ne parlait pas français. Il n’avait pas compris l’ordre qu’on lui avait donné durant une offensive. Il ne l’avait pas exécuté. Il avait ›désobéi‹.«9 Die Urteilsbegründung, die auf dem dritten Panel genannt wird, lautet »abandon du poste devant l’ennemi«. Das dritte Panel nimmt den Bildaufbau des ersten wieder auf, dreht ihn aber um: Das Hinrichtungspeloton, von dem fünf Männer sichtbar sind, setzt zum Schuss auf Luciani an, der dem Leser zugewandt 7 Jacques Tardi, Jean-Pierre Verney. Elender Krieg. 1914–1919. Brüssel: Casterman, 2013. Dieser Comic stand uns leider nur in der Übersetzung zur Verfügung. 8 Vgl. Tardi, Le dernier assaut, 6: »Ffff... glo glo glo glo... Boum!« und 7: »Tac... Tac... Tac...«. 9 Tardi, C’était la guerre des tranchées, 20.

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am Erschießungspfahl steht. Als historische Vorlage für Luciani hat man auf den Fall des Korsen Gabrielli verwiesen. Die Gemeinsamkeiten erweisen sich jedoch bei näherem Hinsehen als nicht schlagend, vielmehr sind einzelne Aspekte der Fälle miteinander unvereinbar.10 Man darf vermuten, dass Tardi sich von diesem Fall inspirieren ließ, aber nicht darauf aus war, ihn historisch möglichst genau wiederzugeben. Eine weitere Erschießung behandelt der Strip, in dem von der 3e Compagnie berichtet wird,11 die sich nach dem dritten erfolglosen Angriff in den eigenen Graben zurückzieht. Daraufhin wird der Graben von der eigenen Artillerie unter Feuer genommen, um die Soldaten zu einem erneuten Angriff herauszusprengen. Als die Soldaten dennoch den Graben nicht verlassen, entscheidet General Bérthier, alles, was von der Compagnie übrig geblieben ist, füsilieren zu lassen. Auf Bitten eines Obersts hin gibt er sich mit drei willkürlich ausgesuchten Männern zufrieden, die erschossen werden, nachdem ein Kriegsgericht sie abgeurteilt hat. Die Auswahl und Erschießung wird wie auch im eben besprochenen Luciani-Strip auf drei Bildern gezeigt. Auf dem ersten Panel sieht man nur die drei willkürlich zur Erschießung ausgewählten Soldaten. Sie stehen leicht versetzt hintereinander gestaffelt, dem Leser zugewandt. Jean Desbois, der dem Leser schon namentlich bekannt ist, blickt ihn an. Der ihm zunächst stehende Soldat hält den Blick gesenkt, der letzte Mann steht im Profil, sein Kopf ist gesenkt und er bedeckt sich mit der Hand die Augen. Vermutlich haben die drei gerade erfahren, was mit ihnen geschehen soll. Oder handelt es sich bei den drei Männern auf dem Panel immer um demselben Mann, der verschiedenen Emotionen durchläuft, Erstaunen, stumme Resignation, stille Verzweiflung? Denn die drei Männer sehen sich sehr ähnlich. Oder sind sie sich so zum Verwechseln ähnlich, weil sie willkürlich aus der Menge der Soldaten ausgewählt wurden, nun stellvertretend für sie alle stehen, sodass ihre Individualität überhaupt keine Rolle mehr spielt? Auf der nächsten Seite sieht man das Hinrichtungskommando, die Waffen zum Schuss erhoben. Durch die Rücken der Schützen hindurch sind die zum Tode Verurteilten zu erkennen, die mit verbundenen Augen vor einer Mauer knien. Das Bild gleicht stark dem Panel aus Strip 1, auf dem Lucianis Hinrichtung gezeigt wurde. Abgesehen von der Haltung der Delinquenten, deren Augen verbunden 10 Offenstadt sieht eine Übereinstimmung, vgl. Nicolas Offenstadt. Les fusillés de la Grande Guerre et la mémoire collective 1914–2009. Paris: O. Jacob, 2009, 137. Ebenso Gilles Guerrini. »›U ritrattu nant’ à muraglia‹. La mémoire de 14–18 dans la Corse d’aujourd’hui«. Charlie Galibert. Les Corses et la Grande Guerre. Corte: Musée de la Corse, 2014, 231. Gemeinsamkeiten wären etwa die korsische Herkunft und die mangelhaften Französischkenntnisse. Allerdings sind die Umstände, die zu Gabriellis Verhaftung geführt haben, doch ganz andere, als Tardi es für Luciani schildert. So wurde Gabrielli versteckt in einem Keller aufgegriffen. Das passt nicht zu dem missverstandenen Befehl, von dem bei Tardi als Anklageursache gesprochen wird. 11 Tardi, C’était la guerre des tranchées, 41–52.

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sind und die nicht am Pfahl angebunden stehen, sondern knien, unterscheiden sich die beiden Bilder hauptsächlich durch die Gestaltung des Hintergrundes. Hier wie dort befindet sich hinter den Delinquenten als Kugelfang eine Mauer, die bei Luciani allerdings deutlich als teilweise geputzte Mauer gestaltet ist und hinter der sich noch der Blick in das zerschossene Dorf öffnet. Die Mauer, vor der Desbois und seine Kameraden knien, ist demgegenüber unregelmäßig flächig ausgemalt. Sie bietet keinerlei Abwechslung und nimmt dem Blick jede Fluchtmöglichkeit. Auf dem dritten Panel sieht man die zum Tode Verurteilten wie im ersten Panel gestaffelt und schräg versetzt, das verbundene Gesicht dem Leser zugewandt. Während der erste Soldat bereits am Boden liegt, sinkt der zweite vornüber. Der dritte kniet noch, den Kopf im Nacken. Anders als die beiden anderen sieht man ihn im Profil. Wie bei Luciani greift auch hier das dritte Panel mit der Anordnung der Personen und der Frontal- bzw. Profilansicht das erste Panel der Szene wieder auf. Für diesen Strip lässt sich mit mehr Recht auf eine historische Vorlage verweisen, namentlich den Fall der vier Caporaux de Souain,12 der ebenfalls die historische Vorlage für Stanley Kubricks Paths of Glory aus dem Jahr 1957 bildet. Die Anlehnung Tardis an den erfolgreichen Antikriegsfilm, der auf dem gleichnamigen Roman von Humphrey Cobb beruht, ist angesichts der szenischen Ähnlichkeiten sehr wahrscheinlich. Varlot soldat stellt eine Gemeinschaftsarbeit dar; Tardi verfasste den Comic zusammen mit dem Schriftsteller Didier Daeninckx, mit dem er schon für Le Der de Ders (1997 veröffentlicht), in dem Varlot im Paris der 20er Jahre als Detektiv tätig ist, zusammengearbeitet hatte. Varlot soldat (1999 in Frankreich erschienen) stellt also das Prequel zu Le Der de Ders dar. Die deutsche Übersetzung wurde 2002 unter dem Titel Soldat Varlot veröffentlicht, der die bewusste Anlehnung des französischen Titels an Charlie Chaplins Film Shoulder Arms (deutsch: Gewehr über) von 1918, der im Französischen den Titel Charlot soldat trägt, leider nicht mehr erkennen lässt. Anders als in C’était la guerre des tranchées besteht Varlot soldat nicht aus mehreren einzelnen Strips, sondern erzählt auf 35 (nicht paginierten) Seiten fortlaufend einen einzigen Tag, den 27.04.1917, aus der Sicht des Soldaten Varlot. Die Geschichte spielt also zur Zeit der Schlacht an der Aisne (Nivelle-Offensive). Dieser eine Tag, so heißt es im ersten Blocktext, sei ihm – Varlot, der hier als Ich-Erzähler auftritt – nicht nur deshalb besonders im Gedächtnis geblieben, weil er an diesem Tag zwanzig Jahre alt geworden sei. Der Leser kann sich bereits mit den ersten beiden Panels, die die erste Seite füllen, einen Eindruck davon verschaffen, warum

12 Jean-Yves Le Naour. Fusillés. Enquête sur les crimes de la justice militaire. Paris: Larousse, 2010, 156–164; der Fall hat Berühmtheit erlangt durch die Ehefrau eines der Füsilierten, Blanche Maupas, die sich hartnäckig für die Rehabilitierung ihres Mannes einsetzte.

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Varlot sich an diesen Tag erinnern wird: Die Panels zeigen, wie Menschen durch den Einschlag eines Geschosses zerfetzt werden; niemals, so äußert sich Varlot später, habe er so viele Kameraden verloren. In der Folge wird Varlot Zeuge, wie sein Kamerad Griffon mit der Waffe Selbstmord begeht. Er nimmt den Brief an sich, den Griffon kurz zuvor verfasst hat und schlägt ihm danach mit dem Gewehrkolben das Gesicht ein – wie sich später herausstellen wird, um die Todesart zu vertuschen, damit den Angehörigen die Schande erspart wird und sie Anspruch auf Hinterbliebenenzahlungen haben. Dieses Motiv erhält die Tat allerdings erst in Varlot soldat; in Le Der des ders, wo Varlot wiederholt ihretwegen Albträume hat,13 erklärt Varlot selbst als Ich-Erzähler, er habe die Nerven verloren und habe aus Wut gegen diejenigen, die ihn in den Krieg geschickt hätten, stellvertretend Griffon, auf den er wegen seiner Tat ebenfalls zornig gewesen sei, den Schädel eingeschlagen.14 – Nach einem Einschlag findet sich Varlot in einem Krankenhaus hinter der Front wieder und beschließt zu desertieren. Er entgeht, erneut durch einen Einschlag, der Erschießung als Fahnenflüchtiger und irrt durch das Niemandsland, nun auf der Flucht vor den Deutschen und den Franzosen gleichermaßen. Zufällig findet er sich in der Nähe von Mons wieder, dem Ort, in dem Griffons Witwe, Mélanie, wohnt. (Anlässlich des »Quatrième Festival du Roman et du Film Policiers« in Mons wurde der Comic herausgegeben.) Er beschließt, ihr den Abschiedsbrief ihres Mannes zu bringen. Er landet in einem Bordell und wird von einer dort arbeitenden Prostituierten – Griffons Frau Mélanie, wie sich für den Leser später herausstellt – aus Schutz vor den deutschen Gästen, kurz bevor er in Ohnmacht fällt, in ein Zimmer gezogen. Sie findet den Abschiedsbrief ihres Mannes, der ihr die Schuld an seinem Selbstmord aufbürdet: Er habe den Krieg für die Hölle gehalten, die wahre Hölle habe er aber erst erfahren, als man ihm eröffnet habe, welchem Metier seine Frau nun nachgehe. Auch das Motiv für Griffons Selbstmord ist damit ein anderes, als das es sich in Le Der des ders präsentiert, allerdings folgerichtig, weil Varlot, der Ich-Erzähler, den Brief ja nicht liest, und deshalb nicht wissen kann, warum sich Griffon erschießt. Dort denkt er, Griffon habe dem Druck nicht mehr standgehalten.15 – Als Varlot wieder aufwacht, gibt Mélanie vor, Griffons Frau zu kennen und ihr den Brief zu überreichen. Varlot verlässt das Bordell durch eine Hintertür, irrt weiter und lässt sich schließlich in einen Schützengraben fallen, wo er in einen ohnmachstähnlichen Schlaf fällt. Soldaten, die den Graben inzwischen wieder eingenommen haben, wecken ihn 13 24, 29, 39, 52. 14 Vgl. Daeninckx/Tardi, Le Der des ders, 24: »A moi aussi, la peur m’avait fait perdre les pédales... et puis j’en voulais à Griffon d’avoir fait ça!... J’en voulais aux salopards qui nous avaient foutus dans cette merde!... et c’est en pensant à eux que je lui avais défoncé le crâne.« 15 Vgl. ebd.: »On était coincé entre les lignes, morts de trouille, à bout des nerfs... mais c’est Griffon qui a craqué le premier.«

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und fordern ihn zum erneuten Ausrücken auf. Der Comic schließt mit demselben Bild von zerfetzten Körpern, mit dem er begonnen hat. Für Varlot nimmt der Krieg kein Ende. Das eint Varlot soldat auch mit Le Der des ders, in dem Varlot mit denselben Gedanken aus dem Albtraum, wie er Griffons Schädel einschlägt, erwacht, die dessen Selbstmord vorbereitet hatten: »On était coincés entre les lignes«.16 Mit dem Motiv des Traumes knüpfen Daeninckx und Tardi in Le Der des ders zweifelsohne an Shoulder Arms an – allerdings träumt Varlot nicht wie Charlie Chaplin vor dem Krieg sehr angenehm von zukünftigen Großtaten als Kriegsheld, sondern wird von Albträumen über eine selbst verübte Gräueltat Nacht für Nacht heimgesucht. Dass Varlot aus dem Krieg nicht »rauskommt«, wird in Varlot soldat unterstrichen durch das identische Rahmenpanel und die Handlung, die den Comic eröffnet und beschließt: Soldaten müssen zum Gefecht ausrücken. Jeder »Fluchtversuch« Varlots misslingt: Die Fahnenflucht schlägt fehl, denn er wird gemeldet und soll erschossen werden. Aber auch die Verletzung und anschließende Ohnmacht nach dem Einschlag, die dafür sorgen, dass er in ein Feldspital gebracht wird, erlauben es ihm nicht, sich dauerhaft dem Kriegsgeschehen zu entziehen. Dasselbe gilt auch für den Erschöpfungsschlaf, in den er im letzten Teil des Comics fällt, nur um von den Kameraden wieder zu einem neuen Kampfeinsatz aufgeweckt zu werden, so dass er sich am Ende des Comics in derselben Lage wiederfindet wie zu Beginn. Varlot tritt zwar während des gesamten Comics als Ich-Erzähler auf, die Darstellungsform des Comics erlaubt es Tardi allerdings, noch eine Art Metaerzählebene einzuziehen: Dass die Prostituierte selbst Griffons Witwe ist, erfährt Varlot nicht, nur der Leser. Ebenso kennt nur der Leser (und natürlich Mélanie und Griffon selbst) den Inhalt des Briefes, Varlot hingegen nicht. Varlot hat es gut gemeint, aber für Mélanie wäre es zweifelsohne besser gewesen, sie hätte den Brief nie erhalten. Hier zeigt sich durch die Präsentation der Informationen am Ich-Erzähler Varlot vorbei, dass Tardi eine Vorliebe für Protagonisten hat, »qui perdent très vite la contrôle de la situation«17: Varlot richtet nicht nur trotz aller Gutwilligkeit Unheil an, sondern er versteht auch ganz entscheidende Teile des Geschehens, in das er verwickelt ist, einfach nicht, was umso auffälliger ist, wenn man Varlot schon als Detektiv in Le Der des ders kennt, wo er ebenfalls nicht souverän agiert, sondern mehrfach von den Ereignissen überrollt wird.

16 Ebd., 24, 29, 39, 52. Vgl. dazu auch Tardi, C’était la guerre des tranchées, 30 (nicht paginiert), wo Tardi sich zu seinem Werk folgendermaßen äußert: »On me dit: ›Encore dans tes trucs de poilus? Quand vas-tu sortir de ta tranchée?‹ Avec allusions aux anciens combattants, charentaises, bérets, décorations, drapeaux à l’Arc de Trimophe, le 11 novembre... J’ai bien peur qu’on y soit toujours, dans nos tranchées... Est, Ouest... plus exactement dans le no man’s land, sur la terrain... entre les lignes... là où a lieu l’affrontement!« 17 Daeninckx/Tardi, Le Der des ders, 89.

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Varlots Erlebnisse werden – anders als die Anordnung der Strips in C’était la guerre des tranchées – chronologisch erzählt, wobei sich dem Leser die Hintergründe bedeutender Handlungsmomente erst nachträglich erschließen; darin erinnert Varlot soldat an die Ermittlungsarbeiten, denen Varlot in Les Der des ders nachgeht. So wird dem Leser erst, als Mélanie den Abschiedsbrief ihres Mannes liest, klar, warum sich Griffon das Leben genommen hat. Ebenso erfährt er erst nach dem Besuch in Mons von Varlot selbst, welche Absicht er verfolgte, als er Griffons Schädel mit dem Gewehrkolben einschlug. Wie bereits ausgeführt, ist das hier nachgelieferte Motiv ein anderes als noch in Le Der des ders – ist das Inkonsistenz des Autors? Oder hatte Varlot mehrere Motive bzw. Triebfedern für sein Handeln, deren Relevanz er mehrere Jahre später anders einschätzt als unmittelbar nach der Tat? Wie auch in C’était la guerre des tranchées fehlen auch in Varlot soldat die surrealen Elemente nicht, ganz deutlich wird dies, wenn der Leser Varlot im Niemandsland von einem Nebel aus lauter Schädeln umgeben sieht, den Varlot selbst als eine »armée des ombres«18 beschreibt. Dazu kommt ein fantastisch-allmächtiger Zufall, der ebenfalls ein Gegengewicht zu dem sonst vorherrschenden krassen Realismus der Darstellung bildet: Varlot, das Ich der Erzählung, scheint inmitten der um ihn herum alles ergreifenden Zerstörung unsterblich, mitten im Gefecht bleibt er allein am Leben; als er wegen Fahnenflucht erschossen werden soll, rettet ihm ein Einschlag, der alles in Verwirrung stürzt, sogar das Leben. Er irrt zufällig nach Mons, dem Ort, von dem er Griffon hat reden hören, tritt dort zufällig in das Bordell ein, in dem Mélanie arbeitet und wird auch zufällig genau von dieser Prostituierten in ein Zimmer gezogen. Was so formuliert in seiner durchsichtigen Konstruiertheit flach und einfallslos klingt, wirkt bei der Lektüre durchaus nicht so, sondern erweckt vielmehr den Eindruck der Folgerichtigkeit, sei es auch die des Traumes, in dem das eine unwirklich scheinende Geschehen in seiner logischen Verknüpftheit zwar fragwürdig scheint, aber doch notwendig auf das nächste folgt. Le dernier assaut berichtet auf 87 Seiten (reiner Comicteil) über den Sanitäter Augustin. Im Anschluss ist der Text der Lieder, die auf der beigelegten CD enthalten sind, abgedruckt, die Tardis Lebensgefährtin, Dominique Grange, vorträgt. Zwischen der Musik und dem Comic gibt es inhaltliche Überschneidungen. Zum Teil sind es überarbeitete Soldatenlieder, teils eigene Kreationen, die im Comic erwähnt werden. Zudem ist Tardi auch selbst auf der CD zu hören, er trägt Passagen aus dem Comic vor. Die Handlung spielt zur selben Zeit wie Varlot soldat, also im April 2017, was der Leser allerdings erst im weiteren Verlauf und beiläufig erfährt,19 und handelt 18 Tardi, Varlot soldat, 32. 19 Tardi, Le dernier assaut, 46.

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von einem französischen Soldaten, der wie Varlot vom Krieg traumatisiert ist, allerdings vor allem durch das, was er getan hat. Augustin ist mit seinem Kollegen Sauvageon mit der Bahre auf dem Schlachtfeld unterwegs, um Verletzte zu bergen. Sauvageon stirbt im Schrapnellregen; Augustin vermutet, dass ein Angriff der Deutschen unmittelbar bevorstehe, und befürchtet, dass die Schreie des Verletzten auf der Bahre, Grumeaus, die Aufmerksamkeit der Deutschen auf die beiden lenken würden. Der Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen, endet damit, dass Augustin den Verletzten erstickt. Beobachtet wird die Tat vom schwer verwundeten Capitaine der Kolonialarmee, der Augustin dann droht. Erst viel später erfährt der Leser, dass der Capitaine seiner Verletzung erliegt, während Augustin sich eine Zigarette dreht. In der Folge zieht Augustin durch die Gräben, bis er schließlich verwundet und in ein Lazarett eingeliefert wird, wo ihm gewaltige Mengen an Schmerzmitteln verabreicht werden, die zu Halluzinationen führen. An der Stelle, an der der Leser erwartet, nun den Inhalt der Halluzinationen zu erfahren, werden ihm furchtbare Dinge mitgeteilt, die aber zum überwiegenden Teil nicht Fieberträumen entspringen, sondern wahr sind. Zuerst wird von Augustins gravierenden Verletzungen berichtet, die dazu führen, dass er sich vermutlich nie wieder selbst wird bewegen können. Auf der nächsten Seite ist von Ärzten die Rede, die auf der Suche nach Patienten sind, die sich ihre Wunden selbst zugefügt haben, um nicht mehr an der Front kämpfen zu müssen. Die Absicht ist, sie ans Kriegsgericht zu überstellen, auf dass sie pour l’exemple erschossen werden. Außerdem werden Soldaten gezeigt, die an einem Kriegstrauma leiden, und Augustin wird ein Orden verliehen. Auch wie Augustin Grumeau erwürgt hat, ist Gegenstand seiner Fantasien. Schließlich sieht man einen entstellten Mann an Augustins Bett sitzen, von dem es heißt, es handle sich um Grumeau, der sich seit zwei Jahren jede Nacht an Augustins Bett gesetzt und dort immer wieder zugehört habe, wie Augustin im Schlaf von seinem Mord an Grumeau berichtet habe, bis er Augustin zuletzt erwürgt. Der Comic endet mit dem Satz, der Erste Weltkrieg sei irgendwann vorbei gewesen, aber ihm sei die Spanische Grippe gefolgt, die noch mehr Opfer gefordert habe. Wie auch der Lazarettaufenthalt dazu Anlass gibt, einen weiteren Ausblick auf den Ersten Weltkrieg zu eröffnen, die Selbstverstümmelung und den Granatschock, die als eine Art von morphiuminduziertem Albtraum eingeführt werden, so nutzt Tardi auch Augustins Herumirren an der Front, um allgemeinere Informationen über den Krieg und vor allen Dingen über weniger bekannte Truppen einzubinden. Wer genau die Eindrücke mitteilt, ist merkwürdig unklar, denn die Blasen, in denen die Informationen präsentiert werden, haben nicht die typisch eckige Form der Blocktexte, die dem Erzähler vorbehalten sind, sondern erinnern in ihrer wolkigen Form eher an Sprech- oder Gedankenblasen, die allerdings bis auf wenige

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Ausnahme Augustin nicht zugeordnet werden20 und manchmal auch das, was er tut, aus der Er-Perspektive schildern,21 zudem Wissen über die Zukunft enthalten. Teilweise tritt Augustin auch als eine Art Dialogpartner für denjenigen, der sich in den wolkigen Blocktexten zu Wort meldet, auf, so etwa, nachdem geschildert worden ist, wie die Portugiesen sich ihre Kriegserklärung durch Deutschland zugezogen haben und Augustin kommentiert: Voilà comment se fout dans la merde jusqu’au cou! Il ne faut pas coloniser les gens, voler les richesses de leur territoire et les réduire en esclavage ... ce que a fait la France, bien sûr!

Der Erzähler, der in den Wolkenblocktexten zu Wort kommt, rechnet sich den französischen Soldaten zu, denn er spricht wiederholt in der 1. Person Plural,22 so dass der Leser den Eindruck gewinnt, er spräche aus der Erinnerung. Zu den Informationen, die dem Leser vermittelt werden, gehört z.B. das Schicksal der ›Force Noire‹, der Kolonialtruppen aus Schwarz- und Nordafrika, die an der Seite Frankreichs kämpften. Es fehlt dabei nicht an bitterbösen, sarkastischen Bemerkungen über das Verhalten sowohl der Franzosen als auch der Deutschen gegenüber den Afrikanern. Teils wird dies den Akteuren in den Mund gelegt, so etwa dem sterbenden Capitaine, der sagt, dass das Vergießen des schwarzen Blutes das weiße schonen solle,23 teils vom Erzähler beigesteuert, der auch den Ausblick auf den Zweiten Weltkrieg eröffnet, in dem die Afrikaner erneut, weil Frankreich so viel für sie getan habe,24 an vorderster Front kämpfen und Frankreich ihr Leben schenken würden, Frankreich, das so gerne schwarzes Blut trinke.25 Frankreich habe dies vergolten, indem es die Forderungen von Schützen aus dem Senegal nach Entschädigungen als Meuterei gewertet und das Feuer auf die Aufständischen eröffnet habe. Auch die »Schwarze Schande« wird erwähnt, die deutsche Kampagne gegen die bei der Besetzung der rheinischen Gebiete eingesetzten Kolonialtruppen aus dem Maghreb, Madagaskar und dem Senegal, dazu bildet Tardi die berüchtigte Gedenkmünze von Karl Götz aus dem Jahre 1920 ab, die auf der einen Seite die Karikatur eines Schwarzafrikaners mit Helm, auf der anderen eine nackte, an einen behelmten Ithyphallus gefesselte Frau zeigt. Einen weiteren Einblick in einen ebenfalls weniger bekannten Aspekt des Krieges gewährt auch Augustins Begegnung mit einem Mann der Bantam Divisions, 20 Ausnahme: ebd., 48, 67. 21 Z.B. ebd., 46: »Puis il pénétra dans les ruines de ce qui avait une église.« 22 Ebd., 82. 23 Ebd., 16. 24 Ebd. 25 Ebd.

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den er aufgrund seiner Größe zunächst für ein Kind hält. Die Truppen verdanken, so wird erklärt, ihren Namen einem kleinen Kampfhahn, den man Bantam nennt. Dies ist eine der Stellen, an denen Augustin als Dialogpartner des Erzählers fungiert, indem er die Frage stellt: »Un Bantam?... c’est quoi, ça?« Darauf der wolkige Blocktext: »Un petit coq de combat! Un combattant poids coq de 1m50. Petit, mais robuste!« Augustin erwidert voller Galgenhumor: »En somme, une sorte de dindon de farce, comme nous tous.« Die rekrutierten Soldaten erreichten, erfährt der Leser, sämtlich nicht die vorgeschriebene Mindestgröße von 1,68 m. Gelockt wurden die Kleinwüchsigen mit der Parole »Votre Roi et votre Pays ont besoin de vous! Appel aux armes!«,26 was tatsächlich einen »magnifique élan patriotique«27 ausgelöst habe, dessen wahrscheinliche Gründe im nächsten Panel »[l]a faim, la misère, le chômage...« genannt werden. An der Front seien die ›Bantam Divisions‹ aufgrund ihrer Körpergröße in jeder Hinsicht im Nachteil gewesen. Selbst die Gräben hätten umgebaut werden müssen, indem man die Bankette erhöhte. Weil ihnen der Erfolg im Kampf oft genug versagt geblieben sei, seien die Männer der ›Bantam Divisions‹ als Angsthasen und körperlich sowie geistig behindert28 beschimpft worden, kurzum als »une honte pour l’Empire britannique«,29 wie es in Anführungszeichen, also offenkundig zitiert, heißt. Das Versagen dieser Soldaten sei teilweise mit Zwangsarbeit, jahrelangen Gefängnisstrafen oder dem Tode bestraft worden. Insgesamt habe das Interesse Großbritanniens der Aufrechterhaltung der eigenen Herrschaft über weite Teile der Welt, seines Wohlstandes und des diesen begründenden Handels gegolten. Zu diesem Zwecke sei jeder Mann eingezogen worden, der auch nur in der Lage gewesen sei, ein Gewehr zu halten. Auch Portugiesen, die er aufgrund ihres ähnlichen Helmes zunächst mit Engländern verwechselt, begegnen Augustin, und es wird erklärt, wie sie, um ihre Kolonien zu sichern, der Entente beigetreten sind. Ebenso wird das Schicksal von Kanadiern und meuternden Russen geschildert. Dazwischen immer wieder Kriegstableaus: Aufsteigende Leuchtraketen, feuernde Geschütze, Explosionen vor blassgelbem Hintergrund, ein zerstörter Wald, ein Soldatenfriedhof, ein toter Soldat, hängend im Drahtverhau. Auf seiner Wanderung schließt sich Augustin ein Hund an. Die Sichtung eines deutschen Flugzeuges gibt den Anstoß für einen Perspektivwechsel auf die andere Seite, in einen deutschen Schützengraben, dorthin, wo Augustin dem Erzähler nicht mehr folgen kann. Der deutsche Soldat, der uns dort vorgestellt wird, heißt Ernst. Er ist ein ganz anderer Typ Mensch als der deutsche Soldat Ernst Wohlgemut, der in C’était la guerre des tranchées nachts im 26 Ebd., 31. 27 Ebd. 28 Vgl. ebd., 34. »Alors, on les a vite accusés d’être des trouillards congénitaux, des dégénerés physiques et mentaux, des soldats inutilisables et lamentables, ›une honte pour l’Empire britannique‹.« 29 Ebd.

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Graben Wache halten muss und mit schreckgeweiteten Augen darüber berichtet, dass er gerade einen französischen Soldaten erschossen hat, weil der geradewegs auf seinen Graben zugekrochen kam. Der Ernst, von dem in Le dernier assaut die Rede ist, ist stolz auf seinen vorbildlich organisierten und effizient strukturierten Schützengraben – hier wird ein Motiv aufgegriffen, dass auch in C’était la guerre des tranchées bereits anklingt, nämlich der ordentliche Zustand der deutschen Schützengräben im Vergleich zu den französischen. Während sich die Gegenüberstellung eines chaotischen französischen mit einem noch so aufgeräumten deutschen Graben dort allerdings eher etwas klischeehaft ausnimmt, bereitet Tardi hier mit der Wendung »bien organisé« etwas anderes vor, so wie auch später noch mehrfach darauf hingewiesen wird, dass die Deutschen sich im Zweiten Weltkrieg der schon im Ersten Weltkrieg erprobten Techniken erinnern werden, z.B. der Deportation30 und des Gaseinsatzes31. »[B]ien organisé« ist kein Lob im Zusammenhang mit Deutschen, sondern verweist auf die Schrecken des Dritten Reiches, die gut organisierte Vernichtungsarbeit. Ernst wertet seinen sauberen Schützengraben denn auch als Zeichen der Überlegenheit seines Volkes über die Franzosen, von anderen Völkern ganz zu schweigen. Er ist überzeugt davon, einer Herrenrasse anzugehören, deren Sendung es ist, sich andere Völker zu unterwerfen. Bei einem Ausfall in einen vermeintlich verlassenen schottischen Schützengraben wird er von einem Soldaten aus dem Senegal erschossen. Der Erzähler beginnt zu sinnieren, was wohl geschehen wäre, wenn Ernst nicht im Ersten Weltkrieg den Tod gefunden hätte – dann hätte er sich wahrscheinlich den Nationalsozialisten angeschlossen. Da sei es schon besser, dass er im Schlamm eines stinkenden französischen Grabens verreckt sei. Der Gedanke, dass es manchmal vielleicht auch ganz gut war bzw. gewesen wäre, dass ein Soldat den Ersten Weltkrieg nicht überlebt, wird gleich darauf ein zweites Mal durchgespielt, als der durch seine Erlebnisse völlig verstörte Augustin in einen verlassenen Graben steigt und mit dem dort vorgefundenen Gewehr auf einen deutschen Soldaten anlegt, der ihm den Rücken zukehrt und friedlich uriniert.32 Aber er ist unfähig, den zu erschießen, der doch nur »un pauvre con, comme moi, comme nous tous« sei. Der Erzähler belehrt schließlich darüber, dass es sich bei der armen Sau um Adolf Hitler gehandelt habe, was Augustin mit den Worten »Merde! Merde! Merde! Merde! Merde!« kommentiert. – Hier verfügt nicht nur der Erzähler über mehr Wissen, sondern auch Augustin kennt die Zukunft. 30 Ebd., 42, im Zusammenhang mit dem Rückzug hinter die Siegfriedslinie: »Ils (die Deutschen) laissaient derrière eux les vieillards, les enfants et les malades, perfectionnant une méthode de déportation qu’ils pousseraient à son paroxysme, 20 ans plus tard.« 31 Ebd., 71: »Certains gaz ayant donné des résultats très satisfaisants en milieu clos, on s’en souviendra pour la guerre suivante.« 32 Hitler diente als Österreicher in der Bayerischen Armee.

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Schließlich findet Augustin in den eigenen Graben zurück, wo sich gerade alles für den bevorstehenden Angriff bereit macht – den jeder für seinen letzten halte, daher der Name des Comics. Nach dem Gefecht geht Augustin, wie gehabt, als Bahrenträger über das Schlachtfeld und wird auch mit denselben Worten eingeführt wie zu Beginn des Comics. Zum Vergleich: Am Anfang heißt es: Le barbu s’appelle Augustin, l’autre c’est Sauvageon. Ils sont tous les deux brancos au 98e R.I. Le type qu’ils trimballent sur le brancard, c’est Grumeau.33

Am Ende: Le barbu s’appelle Augustin, l’autre c’est Moulinot. Ils sont tous les deux brancos au 98e R.I. Le type, qu’ils trimballent sur le brancard ne reverra jamais sa femme et ses mioches.34

Der Name des zweiten Bahrenträgers hat sich geändert, weil Sauvageon tot ist, und der Verletzte auf der Bahre erhält nicht einmal mehr einen Namen, der auch für die weitere Handlung gar nicht mehr von Belang sein wird. Noch einer, der den Löffel abgegeben hat. »Encore un qui vient rendre ses clefs!«35 So kommentiert Augustin am Anfang einen Gefallenen. Noch einer, der eine Witwe und Waisen hinterlässt. Als der Beschuss von neuem beginnt, wird Augustin verwundet, er rettet sich in einen Granattrichter, in dem er einen Sanitätshund über sich hinwegspringen sieht. Er fragt den Bahrenträger Broutille, der ihm nachgerutscht ist, ob es sich dabei um den Hund handele, der ihm gefolgt sei, woraufhin Broutille erwidert, der Hund sei in dem Dorf gestorben, in dem man das deutsche Flugzeug beobachtet habe, das eine Bombe abgeworfen habe, ob Augustin sich nicht erinnere? Wir merken erst an dieser Stelle, dass der Sprung des Berichts vom Anblick des deutschen Bombers in den deutschen Schützengraben zum Herrenmenschen Ernst nicht nur dem Fokusschwenk des allmächtigen Erzählers folgt, sondern gleichzeitig auch den Bruch in Augustins Bewusstsein nachbildet. Der Leser erfährt, genau wie Augustin, erst an dieser Stelle, was aus dem Hund geworden ist, von dem er bisher nur wusste, dass er »irgendwie« verloren gegangen sein muss – sofern ihm denn überhaupt aufgefallen ist, dass der Hund nicht mehr da ist. Broutille selbst quillt, wie der Leser jetzt erst bemerkt, da er ihm auf dem nächsten Panel erstmalig von hinten gezeigt wird, das Hirn aus dem Helm; er stirbt unmittelbar

33 Tardi, Le dernier assaut, 10. 34 Ebd., 83. 35 Ebd., 9.

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darauf. Auf dem nächsten Panel sieht man einen Sanitätshund, der von einem Geschoss getroffen wird. Nicht nur Sanitätshunde, so heißt es, wurden trotz ihrer Neutralitätsbinde zum Ziel. Le dernier assaut trägt die Widmung: »Aux animaux morts pour la France.« Im Ersten Weltkrieg wurden in einem beträchtlichen Umfang Tiere eingesetzt, Pferde, Esel, Maultiere, Tauben und eben auch Hunde. Obwohl vor allem die Pferde in den zeitgenössischen Berichten über den Ersten Weltkrieg durchaus auftauchen, teilweise auch in überaus eindringlicher Art wie in Im Westen nichts Neues, wo verletzte Pferde in fast unerträglicher Weise das ganze Grauen des Krieges zum Ausdruck bringen, wird ihrer Rolle im Krieg doch erst seit etwa zehn Jahren wieder größere Aufmerksamkeit geschenkt.36 Tardis Widmung ist vielschichtig. Zum einen ist sie sicherlich als eine Anerkennung der Leistung der Tiere, also von Kriegsteilnehmern gedacht, die ansonsten – wenn auch wohl weniger im Ersten Weltkrieg selbst, in dem Tiere bisweilen Orden erhielten – eher vergessen wird, obschon es bereits in Canberra, London, Ottawa und seit 2017 in Pozières (Somme) Denkmäler gibt, die der im Kriege gefallenen Tiere gedenken. Mit dem Vergessen drängt sich aber andererseits auch eine Parallele zu den Kolonialtruppen der Franzosen, auf, über die Tardi, während Augustin über das Schlachtfeld und in den Gräben herumirrt, immer wieder Informationen einflicht. Mit den »animaux« sind in dieser Hinsicht wohl nicht nur Tiere im Wortsinne gemeint, sondern im metaphorischen Sinne alle Soldaten, die für Frankreich gestorben sind. (Ähnlich doppeldeutig auch die Inschrift am Tierdenkmal in London: »They had no choice.«) Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden als Metapher der ins Gefecht ziehenden Soldaten – dieses Bild führt Tardi in Anlehnung an Chaplins Film Modern Times in Le Der des ders in zwei aufeinanderfolgenden Panels aus.37 Alle, die für Frankreich gefallen sind, »morts pour la France«, das führt uns zu einem Themenkomplex, der Tardi sehr wichtig ist, seine Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg geradezu leitmotivisch durchzieht und eine gewaltige Wirkung in vielen gesellschaftlichen Bereichen, in Wissenschaft, Kultur und Politik, ent-

36 Jilly Cooper. Animals in War. London: Heinemann, 1983. Evelyn LeChene. Silent heroes. The Bravery and Devotion of Animals in War. London: Souvenir Press, 1994. Ausstellung des Historial de la Grande Guerre in Peronne La guerre et les animaux, 1914–1918 im Jahre 2007 mit dem Ausstellungskatalog La guerre des animaux; Peter Hawthorne. The Animal Victoria Cross. The Dicken Medal. Barnsley: Pen & Sword Military, 2012. Rainer Pöppinghege. Tiere im Ersten Weltkrieg. Berlin: Rotbuch Verlag, 2014; Jean-Michel Derex. Héros oubliés. Les animaux dans la Grande Guerre. Paris: de Taillac, 2014; Societé d’ethnozootechnie (Hg.). Les animaux dans la Grande Guerre. Paris 2015; Peter Street. Animals in the First World War. Andover: Pitkin, 2016. Lucinda Moore. Animals in the Great War, Rare Photographs from Wartime Archives. Barnsley: Pen & Sword Military, 2017. Die Liste ließe sich noch erheblich verlängern, vor allem in England wird viel, auch an einen breiteren Leserkreis Adressiertes, dazu veröffentlicht. 37 Tardi/Daeninckx, Le Der des ders, 10; ein ähnlicher Gedanke auch in Verney/Tardi, Elender Krieg, 8.

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faltet hat: zu den fusillés pour l’exemple. Denn diese Anerkennung, »morts pour la France«, wurde denjenigen verweigert, die standrechtlich erschossen wurden, weil sie sich der Fahnenflucht vom Posten vor dem Feinde (darunter fällt auch die Selbstverstümmelung), Befehlsverweigerung und ähnlicher Vergehen schuldig gemacht hatten oder doch zumindest deswegen abgeurteilt worden waren.38 Alle drei der hier besprochenen Comics sind von diesem Thema durchzogen, am deutlichsten C’était la guerre des tranchées und Varlot soldat, in denen Erschießungen explizit dargestellt werden. Aber auch darüber hinaus klingt das Thema sehr häufig an, so z.B. in Le dernier assaut, als Augustin, als er bemerkt, dass sein Mord an Grumeau beobachtet wurde, denkt: »chuis bon pour le peloton.«39 Als er nach seinem Herumirren in den eigenen Schützengraben zurückkehrt, bemerkt der Erzähler: Augustin n’en menait pas large, mais on ne lui avait pas demandé où il était passé, d’où il venait […]. Encore une chance qu’on ne l’ait pas collé au poteau pour désertion!40

Im ersten Begleittext zu C’était la guerre des tranchées schreibt Tardi, er habe sich oft die Frage gestellt, wie man unter dem Feuer habe ausharren können: Comment pouvait-on dormir? Comment se réveillait-on? Où fallait-il puiser un peu d’espoir pour avoir quelque énergie? La pluie, la bou, le cafard, le froid, les obus […] je comprends les mutilations volontaires, les mutineries, la désertion […].41

Nun war der Anteil derjenigen, die im Ersten Weltkrieg auf französischer Seite pour l’exemple füsiliert wurden, mit 0,05% im Verhältnis zu der Zahl der französischen Gefallenen insgesamt verschwindend gering.42 Sie sind bei Tardi, inbesondere, wenn man die zahlreichen Anspielungen auf dieses Thema berücksichtigt, die C’était la guerre des tranchées abgesehen von den dargestellten Erschießungen noch enthält, demnach deutlich überrepräsentiert. Dem ist so, weil sich in ihnen konzentriert darstellen lässt, was den Gefühlszustand des Soldaten nach Tardis Deutung allgemein kennzeichnet. Jeder Soldat ist ein zum Tode Verurteilter, über den andere ein Schicksal verhängt haben, das er selbst sich nicht erklären, das er nur über sich ergehen lassen kann, ohnmächtig und voller Angst. Sehr deutlich 38 Vgl. Offenstadt, Les fusillés, 18. 39 Tardi, Le dernier assaut, 14. 40 Ebd., 74. 41 Tardi, C’était la guerre des tranchées, 7 (nicht paginiert). 42 Der Prozentsatz bezieht sich auf 650:1.300.000, die Zahl enstammt André Bach. Fusillés pour l’exemple. 1914–1915. Paris: Tallandier, 2003, 9 (nicht paginiert). Es finden sich auch andere Zahlen.

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wird das auf dem Mittelfeld des Triptychons, das Tardi anlässlich des 90. Jahrestages der Schlacht am Chemin des Dames, also 2007, der Mairie de Craonne überreichte. Dort sehen wir zentral einen Soldaten in langem Mantel, gefesselt an einen Hinrichtungspfahl, der den Betrachter mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund anblickt. Der Soldat erwartet seine Erschießung. Seine Miene verrät Entsetzen, mehr noch aber Erstaunen oder vielleicht Empörung. Obwohl die Leinwand von mehreren Kugeleinschlägen durchbohrt ist, ist der Soldat körperlich noch unversehrt. Es handelt sich bei dem Dargestellten um jemanden, der pour l’exemple erschossen werden soll. Das Schicksal der Soldaten im Ersten Weltkrieg gerinnt für Tardi in den Fusillés pour l’exemple zu einem Bild. Sie sind zum Tode Verurteilte, die nach einer langen Nacht des sinnlosen Leidens im Morgengrauen ihr Leben verlieren, »comme il se doit«43, wie es in C’était la guerre des tranchées heißt. Schutzlos und ohnmächtig erwarten sie das ihnen vorbehaltene Schicksal. Das Bild, zu dem sich für Tardi diese Vorstellung verdichtet, erinnert an eine Passage aus In Stahlgewittern, in der Ernst Jünger zu beschreiben versucht, wie es sich anfühlt, wenn man weiß, dass man jeden Augenblick getroffen werden kann: Man stelle sich vor, ganz fest an einen Pfahl gebunden und dabei von einem Kerl, der einen schweren Hammer schwingt, ständig bedroht zu sein. Bald ist der Hammer zum Schwung zurückgezogen, bald saust er vor, daß er fast den Schädel berührt, dann wieder trifft er den Pfahl, daß die Splitter fliegen – genau dieser Lage entspricht das, was man deckungslos inmitten einer schweren Beschießung erlebt.44

Bei Tardi treten an die Stelle des Hammers die Schüsse des Hinrichtungskommandos. So gewinnt er den Fusillé pour l’exemple als Stellvertreter eines jeden Soldaten. Nun haben die Fusillés pour l’exemple in den letzten 20 Jahren die französische Öffentlichkeit stark beschäftigt. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:

43 Vgl. Tardi, C’était la guerre des tranchées, 32: »Dufour est mort à l’aube, comme il se doit…[…] Le lever du jour, c’est souvent le moment où s’éteignent ceux qui sont condamnés, après avoir souffert inutilement toute une nuit.« 44 Ernst Jünger. In Stahlgewittern. Stuttgart: Klett-Cotta, 472010, 91f. Es braucht kaum darauf hingewiesen zu werden, dass, bei aller Ähnlichkeit des Bildes, Jüngers Sicht auf den Krieg eine völlig andere ist als diejenige Tardis. Dafür ist bezeichnend, dass Jünger nach der oben wiedergegebenen Beschreibung mit den Worten fortfährt: »Zum Glück hatte ich immer noch ein kleines Untergefühl der Zuversicht, jenes ›Die Sache wird schon gut gehen‹, das man auch beim Spiel empfindet und das, wenn es auch keine Berechtigung hat, doch beruhigend wirkt. So nahm auch diese Beschießung ihr Ende, und ich konnte meinen Weg, nun mit größter Beschleunigung, fortsetzen.«

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– 1991 erscheint der Roman Un long dimanche de fiançailles von Sébastien Japrisot. Er schildert die Suche Mathildes nach ihrem im Krieg verschollenen Verlobten. Es stellt sich heraus, dass er mit fünf Kameraden der Selbstverstümmelung bezichtigt und anschließend ins Niemandsland geschickt wurde, um dort den Tod zu finden. – 1997 produzierte France 2 den Spielfilm Le pantalon von Yves Boisset, der den historischen Fall des füsilierten Poilu Lucien Bersot schildert. – Am 05.11.1998 hält Premierminister Lionel Jospin in Craonne eine Rede, in der er sich für die Rehabilitierung der Fusillés ausspricht. Die Rede löst heftige politische Reaktionen aus.45 – 2003 wird im französischen Fernsehen Patrick Cabouats Dokumentarfilm Fusillés pour l’exemple ausgestrahlt. – 2004 kommt die Verfilmung von Japrisots Buch Un long dimanche des fiançailles in die Kinos. – 2009 strahlt France 2 den Spielfilm Blanche Maupas von Patrick Jamain aus, der den Kampf der Titelheldin für die Rehabilitierung ihres füsilierten Mannes schildert. – 2010 veröffentlicht Jean-Yves Le Naour das Buch: Fusillés. Enquête sur les crimes de la justice militaire. – 2011 wird der Dokumentarfilm Fucilati in prima ligna von Jackie Poggioli im französischen Fernsehen gezeigt, der sich insbesondere der standrechtlich erschossenen Korsen annimmt.46 – 2013 publiziert André Bach die Monographie Fusillés pour l’exemple. 1914–1915. – Anfang 2014 zeigt das Hotel de Ville in Paris die Ausstellung Fusillés pour l’exemple, 1914-2014. Les fantômes de la République.47 – Ebenfalls 2014 zeigt das französische Fernsehen Philippe Triboits Spielfilm Les fusillés.

45 Einen Überblick über die Debatte bietet fr.wikipedia.org/wiki/Soldat_fusill%C3%A9_ pour_l%27exemple in den Abschnitten »Interventions au niveau local« und »Interventions au niveau national« (abgerufen am 26.03.18). 46 Zu sehen auf youtube: www.youtube.com/watch?v=9ayA05dE8uU (abgerufen am 26.03.18). 47 Vgl. www.lemonde.fr/centenaire-14-18/article/2014/02/07/l-hotel-de-ville-de-paris-consacre-uneexposition-aux-fusilles_4362649_3448834.html (abgerufen am 26.03.18).

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Charlie Hebdo, 10.11.1998.

Es lässt sich nicht mit letzter Gewissheit entscheiden, ob Tardi von der Welle der Beschäftigung mit den Fusillés getragen wird oder ob er selbst den Motor oder zumindest einen der Motoren dieser Bewegung darstellt, vermutlich beides. Le trou d’obus und C’était la guerre des tranchées gehen der öffentlichen Debatte voraus, kurbeln sie an, die anderen Werke stehen zeitlich mitten darin. In jedem

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Fall liefert er ihr Bilder: Die 334. Ausgabe des Satiremagazins Charlie Hebdo vom 10.11.1998 (Abb. oben) zeigt auf dem Titelbild eine Zeichnung aus Tardis Feder, die stark an ein Panel aus Varlot soldat erinnert.48 Der Titel des Magazins Fusillés en 1917 par la droite, refusillés en 1998 par la droite weist auf den Hintergrund der Zeichnung hin: die Todesurteile als Konsequenz der Aufstände im Kontext der Kämpfe um den Chemin des Dames im Frühjahr 1917 sowie die Eröffnung des Denkmals 1998. – Der 2003 ausgestrahlte Dokumentarfilm Fusillés pour l’exemple von Patrick Cabouat nutzt mehrfach über mehrere Minuten durch Granatenexplosionen »animierte« und tiefengestaffelte Szenen, die von Tardi stammen.49 Das Titelbild auf André Bachs Buch Fusillés pour l’exemple (1914–1915), einer historischen Abhandlung, ist ebenfalls einem von Tardis Comics entnommen.50 Tardi ist präsent, und zwar sowohl in einer Fernsehdokumentation, die sich an eine größere Zuschauergruppe wendet, einem Satiremagazin, als auch in einer historischen Monographie. Und so widmet denn auch Nicholas Offenstadt ein Kapitel seines Buches Les fusillés de la Grande Guerre et la Mémoire Collective Tardis Tätigkeit als Comiczeichner. Der Titel lautet: »Tardi, dessinateur ›officiel‹ des fusillés?« Man wird das Fragezeichen getrost entfernen dürfen. Tardi beeinflusst durch seine Kunst die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges. Seine Kriegsdeutung hat Eingang in das kollektive Gedächtnis gefunden.

48 Daeninckx/Tardi, Varlot soldat, 15 (nicht paginiert). 49 Der Film steht bei youtube zur Verfügung, leider ohne Ton: www.youtube.com/watch?v =A8nw9aKCo2k (abgerufen am 26.03.18). 50 Und zwar C’était la guerre des tranchées, 52 oben.

Swetlana Krieger, Julia Machnik, Wiebke Schmitz

Tagebuch 14/18 – Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich Ein Beitrag zur transnationalen Erinnerungskultur im Kontext des 100. Jahrestags des Ersten Weltkriegs

Der Comic Tagebuch 14/18 – Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich ist das Ergebnis eines deutsch-französischen Gemeinschaftsprojekts, welches im Kontext des 100-jährigen Jahrestags des Ersten Weltkriegs im Jahr 2014 initiiert wurde. Aufgrund der unterschiedlichen Rezeptionsgeschichte dieses historischen Ereignisses in Frankreich und Deutschland entschied sich die französische Politologin Julie Cazier, einen Comic zu entwickeln, der einen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis beider Länder leisten soll.1 Während in Frankreich dem Ereignis ein hoher Stellenwert beigemessen wird, existiert in Deutschland kein aktives Gedenken an diese historische Begebenheit.2 Aus diesem Grund verfolgt der Comic die pädagogische Intention, Kindern und Jugendlichen einen Zugang zum Kriegsgeschehen des Ersten Weltkriegs zu ermöglichen, um nicht nur »den Krieg zu verstehen, sondern auch die Nachkriegszeit und darüber hinaus auch unsere Gegenwart.«3 Bei der Umsetzung ihres Projekts wurde Cazier von dem deutschen Historiker Alexander Hogh und dem französischen Illustrator Jörg Mailliet unterstützt. Während des Arbeitsprozesses stellte Hogh dem Illustrator historische Materialien wie militärisches und historisches Bildmaterial oder Zeitzeugenberichte zur Verfügung,

1 www.youtube.com/watch?v=dL1JRD8CqrA, ab 01:01. 2 Monika Fenn, Christiane Kuller. Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014. Schwalbach/Ts: Wochenschau, 2016, 22. 3 Alexander Hogh, Jörg Mailliet. Tagebuch 14/18 – Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich. Köln: Tintentrinker, 2014, 7. Nachweise auf diese Ausgabe im Text in Klammern.

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anhand derer er sich innerhalb des Projektes orientierte.4 Mailliet war es wichtig, trotz der interpretatorischen graphischen Darstellung den Kriegsalltag möglichst realitätsnah darzustellen.5 Neben diesen exemplarischen Aufführungen bildeten vor allem die Tagebücher und Memoiren zweier Deutscher und zweier Franzosen die Grundlage für den Comic, um das Geschehen anhand differenter Erfahrungen aus verschiedenen Standpunkten möglichst authentisch darzustellen. Aufgrund dieser Basis propagiert der Comic eine vermeintlich authentische Berichterstattung über den Ersten Weltkrieg, welche eine realitätsgetreue Perspektive generieren soll (7). Die historische Authentizität des Comics wurde zudem durch die Mitarbeit des deutschen Historikers Prof. Dr. Gerd Krumeich und des französischen Historikers Dr. Nicolas Beaupré konsolidiert (8). Die Realisierung des Projekts wurde sowohl von deutscher als auch französischer Seite unterstützt sowie finanziert und im Zuge dessen in der jeweiligen Landessprache zeitgleich im Jahr 2014 publiziert. Die Beteiligten beschreiben ihr Werk als einen Beitrag zur transnationalen Erinnerungskultur, welches sich gewinnbringend in die vielfältige Gedenkbewegung zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs einordnet. Speziell die Originalität des Comics wird aufgrund des binationalen Charakters von den Mitwirkenden hervorgehoben und wie folgt beschrieben (3ff.): Dieser Comic unterscheidet sich von diesem üblichen Herangehen jedoch durch seine Autoren, die Auswahl seiner Protagonisten und die gleichzeitige Veröffentlichung in beiden Sprachen. So bietet er uns eine wechselseitige Perspektive auf den Ersten Weltkrieg. Das Projekt vereint pädagogische Intention, historische Forschung und künstlerische Gestaltung miteinander.6

Die Handlung des Comics orientiert sich an den Tagebucheinträgen und Memoiren zweier Deutscher und zweier Franzosen, welche die erlebte Zeit des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive von Zivilisten und Soldaten darstellen (6f.). Die Story beginnt mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo, woraufhin eine vermeintlich chronologische, episodenhafte Erzählung aus Sicht der vier Einzelschicksale geschildert wird (13). Auf deutscher Seite tritt Walter Bärthel aus Eisenberg, Thüringen, auf. Angetrieben von der deutschen Erfolgsgeschichte der letzten Kriege meldet er sich mit 17 Jahren freiwillig zum Kriegsdienst und wird trotz seiner Sehschwäche akquiriert (16f.). Nach einiger Zeit entwickelt sich in Walter ein Friedenswunsch, bewirkt

4 www1.wdr.de/comic130.html, 20.07.2018. 5 www.youtube.com/watch?v=dL1JRD8CqrA, 20.7.2018, ab 03:15. 6 Hogh/Mailliet, 7.

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durch den Misserfolg an der belgischen Front und die negativen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen, denen er während seines Heimaturlaubs ausgesetzt war (17,46). An der belgischen Front wird er schließlich so stark verwundet, dass er dem Kriegsdienst entsagen und den Rest der Zeit an der Heimatfront verbringen muss. Die deutsche Niederlage weckt in Walter das Gefühl von Sinnlosigkeit des Kriegs aufgrund der zahlreichen Opfer, die der Krieg gefordert hat. Nichtsdestotrotz bleibt das Vertrauen auf eine bessere Zukunft (91ff, 98). Der 22-jährige Lucien Laby repräsentiert die Erfahrungen eines französischen Soldaten, der als Hilfsarzt für den militärischen Dienst rekrutiert wird. Seine Motivation an der aktiven Kriegsteilnahme gründet in dem französischen Re­vanchegedanken, welcher darauf abzielt, einen »Boche«, einen Deutschen, zu töten und somit seiner Vaterlandspflicht gerecht zu werden (32ff.). Anders als bei Walter ist bei Lucien kein direkter Friedenswunsch zu beobachten. Der Revanchegedanke treibt ihn so stark an, dass er jeden verurteilt, der sich negativ zum Krieg äußert. Außerdem bezeichnet er höhere Diensthabende als »Drückeberger«, da diese nicht aktiv am Kriegsgeschehen beteiligt sind (86f.). Lucien strebt die Verleihung des Kriegsordens an, da er diese als höchste Anerkennung für die Erfüllung seiner Vaterlandspflicht empfindet. Das Kriegsende erfüllt ihn mit Genugtuung, da er sowohl einen Boche töten konnte als auch den Kriegsorden empfangen hat (38, 88). Die Heimatfront wird auf der deutschen Seite von Agnes »Nessi« Zenker vertreten, welche den Großteil der Kriegszeit auf dem elterlichen Hof im Erzgebirge verbringt. Sie ist die 13-jährige Tochter eines Forstmeisters, welche geprägt ist von patriotischen Gedanken, die in allen Lebenslagen deutlich werden (26): Sowohl Kirche als auch Schule haben einen aktiven patriotischen Einfluss auf Nessi (30f.). Andererseits äußert sich bei ihr eine ambivalente Einstellung gegenüber dem Krieg, bewirkt durch den Hunger und die familiären Verluste, denen sie ausgesetzt ist (60f). Dadurch ist der Wunsch nach Frieden ein sie ständig begleitender Faktor, der durch kontroverse Erfahrungen wie deutsche Siege oder den konkreten Kontakt mit einem bedrohlich wirkenden Kriegspanzer unterschiedlich beeinflusst wird (79). Das Kriegsende und der damit einhergehende reelle Friede lösen bei Nessi jedoch Unsicherheit und Zukunftsängste aus (83). An der französischen Heimatfront ist der 6-jährige René Lucot in ständigem Kontakt mit französischen Soldaten, welche nahe seines Heimatortes stationiert waren (18). Diese regelmäßige Begegnung bewirkt, dass Waffen und Gewalt zu seinem Alltag gehören und ihn nicht abschrecken. Aus diesem Grund betrachtet er die Soldaten als Vorbilder und versucht, ihnen spielerisch nachzueifern (48ff). Er versteht den Krieg solange als Spiel, bis er aufgrund nahender Gefahr kurzzeitig aus seinem Heimatort fliehen muss sowie mit Krankheiten und dem daraus resultierenden Tod seiner Mutter und dadurch mit realen Konsequenzen des

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Kriegs konfrontiert wird (24f, 51). Im späteren Verlauf verändert sich auch seine Sicht auf die stationierten Soldaten, welche nicht mehr ruhmreich wirken, sondern heruntergekommen und abgestumpft erscheinen (55, 75). Renés persönliche negative Erfahrungen prägen seine Sicht auf den Krieg; in Zeiten, in denen er ein unbeschwertes Leben führt, erscheint ihm der Krieg nicht als bedrohlich. Dies äußert sich auch in seiner Wahrnehmung des Kriegsendes, da er dieses bereits ein halbes Jahr vor offiziellem Kriegsende für sich erlebt und verortet, da er sich in Sicherheit fühlt (76). Die unterschiedlichen Kriegserfahrungen der Protagonisten zeigen die diversen Lebensumstände und -situationen auf Seiten der Front sowie der Zivilisten auf. Thematische Aspekte wie Schule, Kirche und Familie werden gezielt aufgegriffen, um Kindern und Jugendlichen eine Identitätsmöglichkeit zu bieten. Die unterschiedlichen Lebensbedingungen sollen ein ambivalentes Bild vom Krieg aufzeigen, welches stets von einem Wunsch nach Frieden begleitet wird. Diese Erkenntnisse werden im weiteren Verlauf näher ausgeführt. Der angestrebte Authentizitätsanspruch muss kritisch betrachtet werden, da dieser von den Herausgebern und Autoren nicht ausreichend erfüllt wird. Die historischen Materialien, die der Illustrator als Vorlage für die Gestaltung des Comics gebraucht, dienen zwar einer vermeintlich realitätsgetreuen Darstellung der lebensweltlichen Umstände der Protagonisten und somit der scheinbar realen Begebenheiten und Geschehnisse des Ersten Weltkriegs, jedoch werden diese lediglich als Referenzen und Verweise auf bestimmte Situationen interpretatorisch genutzt und modifiziert.7 Dadurch wird der pädagogische Mehrwert verfolgt, Interesse zur weiteren Auseinandersetzung mit den historischen Geschehnissen beim Rezipienten zu wecken. Zur Veranschaulichung der konzeptuellen Umsetzung lassen sich die verschiedenen Referenzen unterschiedlichen Kategorien zuordnen. Ein Überblick über die verschiedenen Kategorien wird auf den vier Doppelseiten des Fotoalbums im Anhang des Comics dargestellt. Dabei handelt es sich um Originalfotografien der Protagonisten sowie architektonischer Wahrzeichen und ihre Adaptionen, zeitgenössische Alltagsgegenstände, originale Textauszüge aus den Tagebüchern, Modifizierungen von adaptierten Originalfotografien, historisch relevante Persönlichkeiten, Propagandaelemente sowie historische Ereignisse (100ff.). Daraus lässt sich die Erkenntnis ziehen, dass sich diese auch innerhalb des Comics zu einem großen Teil wiederfinden lassen, wodurch eine gewisse Historizität suggeriert wird, welche Kinder und Jugendliche zu eigener Recherche und Interesse an dem Thema anregen soll. Folglich lässt sich schließen, dass der Comic offenkundige Referenzen nutzt, um die Gewichtung der historischen Authentizität hervorzuheben. 7 www1.wdr.de/comic130.html, 24.07.2018.

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Abb. 1: Walter Bärthel. Gegenüberstellung von Originalfotografie und Comicdarstellung. [Quelle: Hogh/Mailliet. Tagebuch 14/18, 100; 10]

Auf der künstlerischen Gestaltungsebene lässt sich erkennen, dass der Illustrator großen Wert auf eine authentische Darstellungsweise gelegt hat. Dies zeigt sich exemplarisch an der Verwendung der Originalfotografien der vier Protagonisten, welche für eine realitätsgetreue Darstellung genutzt werden (100ff.). Wie eingangs bereits dargelegt, wird der Comic inhaltlich durch die jeweilige Geschichte der vier Protagonisten bestimmt. Diese parallel verlaufenden Handlungsströme gliedern den Comic und prägen den Aufbau und die Gestaltung des Comics stark. Dies zeigt sich deutlich in den vier Splash Panels, welche als Opening Splash umgesetzt wurden und sowohl zur Eröffnung des Comics als auch zur Einführung eines jeden Protagonisten und seiner Geschichte dienen. Sie stellen jeweils den einzelnen Protagonisten isoliert von seiner Umgebung vor weißem Hintergrund dar und führen sowohl seinen vollständigen Namen als auch prägnante biographische Details des Lebens der spezifischen Person auf, um den Rezipienten in den jeweiligen Handlungsstrang einzuführen (10, 18, 26, 32). Die graphische Darstellung der Personen im Comic basiert dabei auf originalen Fotografien der Protagonisten. Wie in Abb. 1 zu erkennen ist, beruht die Figur des Walters auf einer spezifischen Fotografie, von der nicht nur die Art und die Details seiner Kleidung, sondern auch seine kennzeichnende Körperhaltung über-

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Abb. 2: Dresdener Frauenkirche. Gegenüberstellung von Originalfotografie und Comicdarstellung. [Quelle: www.frauenkirche-dresden.de/fileadmin/media/Fotos/Presse-Bilder/Allgemeines/Frauenkirche_Dresden_Aussenansicht_Fotograf_Joerg_Schoener.jpg, 10.08.2018; Hogh/Mailliet. Tagebuch 14/18, 77]

nommen wurden. Die exakte Adaption der fotographischen Vorlagen ist auch bei der Darstellung der anderen Figuren zu erkennen und zeigt deutlich die Relevanz der historisch authentischen Darstellung durch die Herausgeber. Auch in anderen Kontexten werden solche Originalfotografien als Vorlage genutzt, um den Comic historisch so authentisch wie möglich zu verbildlichen, beispielsweise anhand der Darstellung von architektonischen Wahrzeichen. Diese werden auf vielfältige Weise von den Autoren gebraucht, um Szenerien konkret geographisch zu verorten und die Handlung in einen historisch reellen Rahmen zu setzen (65, 77). Dem Rezipienten wird dadurch suggeriert, dass sich die Story in dem ausgewählten Ort faktisch zugetragen hat. Um eine einfache Rezeption und somit eine kindgerechte Darstellung zu ermöglichen, wurden lediglich ausgewählte spezifische Merkmale graphisch ausgearbeitet. Dies lässt sich beispielsweise an der Abbildung der Dresdener Frauenkirche im Comic erkennen (Abb. 2). Für die Darstellung hat der Illustrator mit einer detaillierten Fotografie gearbeitet und die architektonischen Charakteristika verstärkt herausgearbeitet. Auffällig ist, dass neben den wesentlichen charakteristischen architektonischen Elementen auch die Perspektive der Fotografie in der Darstellung übernommen wurde. Auch diese Abbildung wird durch eine realitätsgetreue Farbgebung bestimmt.

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Abb. 3: Reichsfleischkarten. Gegenüberstellung von Originalfotografie und Comicdarstellung. [Quelle: www.google.de/se- arch?biw=1280&bih=579&tbm=isch&sa=1&ei=-smFWpnxOIy0gW8iLdQ&q=reichsfleisch- karte&oq=reichsfle&gs_l=psy- ab.3.0.0i24k1.186458.189131.0. 190855.26.15.0.0.0.0.210.1851.2j8j3.14.0....0...1c.1.64.psy- ab..16.9.1447.0..0j0i67k1.98.oFZ7 93FMkao#imgrc=GpEHvvMVtspZ8M: 10.08.2018; Hogh/Mailliet. Tagebuch 14/18, 58]

Als weitere Referenzkategorie zur Verdeutlichung der historischen Authentizität lassen sich zeitgenössische Alltagsgegenstände wie beispielsweise die Briefe der Mobilmachung oder Reichsfleischkarten fassen (28, 58). Diese werden in den Panels bewusst vordergründig dargestellt, um auf deren Existenz und zeitgenössische Relevanz hinzudeuten. Die Darstellung der Reichsfleischkarten (siehe Abb. 3) stimmt in Form und Farbe mit der Vorlage überein, allerdings lässt sich hier erkennen, dass lediglich die Bezeichnung »Fleischkarte« für den Rezipienten in der Abbildung deutlich zu erkennen ist und ansonsten nur eine stark vereinfachte Darstellung gewählt wurde. Auf diese Weise verfolgen die Herausgeber die Intention, weiteres Interesse an Bedeutung und Hintergründen bei der Leserschaft zu generieren. Ein Glossar im Anhang des Comics bietet Erläuterungen zu Begriffen und Aspekten, die dem Rezipienten nicht bekannt sein könnten. Auch die Fleischkarten, in diesem Fall als Essensmarken bezeichnet, werden dort in Bezug auf ihre historische Bedeutung aufgegriffen (108ff.). Dennoch handelt es sich auch bei dieser Erläuterung lediglich darum, Interesse bei den Lesern zu wecken, da nicht darauf eingegangen wird, aus welchen Gründen es zu einer starken Hungerperiode in Deutschland kam.

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Das Generieren von Interesse durch die graphische Gestaltung wird speziell bei einer spezifischen Form von Panels deutlich, welche in Gestalt von Schriftrollen angelegt sind (68). Diese geben laut Herausgeber originale Textauszüge aus den Tagebucheinträgen der Protagonisten wieder, welche als Grundlagen der Handlung gewählt wurden (9). Die Authentizität suggerierenden Tagebucheinträge dürfen nicht unreflektiert angenommen werden, da diese keinen eindeutigen Verweis auf historische Ereignisse bieten können. Diese Zitate werden als einzelne Ausschnitte kontextlos für den Sinnzusammenhang des Comics gebraucht, ohne dass der Leser sich über dessen Gehalt rückversichern kann. Eine weiterführende Recherche in Bezug auf die Tagebücher ist lediglich bedingt möglich, da ausschließlich zwei von vier Quellen, die französischsprachigen Grundlagen, veröffentlicht wurden und somit nur ein begrenzter Zugang für den Rezipienten möglich ist (3). Für die deutsche Leserschaft kann sich dies als problematisch erweisen, da vor allem die Zielgruppe des Comics vermutlich nicht ausreichende Französischkenntnisse aufweisen kann. Diese spezifischen Panels brechen durch ihre spielerisch anmutende Schriftrollenform (Abb. 4) die überwiegend lineare Stilistik des Comics auf. Durch ihre geschwungenen Formen sowie den optischen Eindruck von Dreidimensionalität stechen sie stark hervor. Dies wird durch den beige kolorierten Hintergrund sowie

Abb. 4: Schriftrollenförmige Panelgestaltung. [Quelle: Hogh/Mailliet. Tagebuch 14/18, 19]

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Abb. 5: Walter als Kriegsfreiwilliger. Fotographische Vorlage und Adaption. [Quellen: www. akg- images.de/CS.aspx?VP3=SearchResult&ALID=2UMDHUWHNVCJZ&VBID=2U- MES6CEQ5D 12&POPUPPN=8&POPUPIID=2UMDHU6BASRP, 10.02.2018; Hogh/Mailliet. Tagebuch 14/18, 17]

mittig angelegte skizzenhafte Zeichnungen unterstützt. Besonders auffällig sind die angegebenen Zitate der Originaltagebücher und -memoiren, welche durch Zeitangaben in das Geschehen des Ersten Weltkriegs eingeordnet und vermeintlich in der Chronologie verordnet werden. Dabei muss jedoch angemerkt werden, dass sich diese in Teilen lediglich auf einzelne Monate oder ganze Jahreszeiten beziehen und sich folglich keinen konkreten zeitlichen Verortungen zusprechen lassen (72ff.). Auch weitere graphische Elemente des Comics, die reale historische Ereignisse darstellen sollen, müssen kritisch hinterfragt werden. Hierfür lässt sich beispielsweise die Verortung Walters in ein historisches Ereignis anführen (17). Eine fotographische Vorlage von Kriegsfreiwilligen in Berlin wird als Kontext für die Darstellung Walters gewählt für den Zeitpunkt, als er sich selbst als Kriegsfreiwilliger meldet (101) (Abb. 5). Im direkten Vergleich fällt auf, dass die fotografische Vorlage für die graphische Darstellung im Comic detailgetreu übernommen wurde, jedoch zweckmäßig für den Kontext Walters modifiziert wurde. Er wurde nachträglich als Teilnehmender eines Umzugs eingefügt, dem er in der Realität nicht beigewohnt haben kann, da sich dieser in Berlin im Jahr 1914 abgespielt hat.8 Dieser Aspekt wird allerdings nicht explizit von den Herausgebern aufgegriffen und die Fotografie lediglich als »Kriegsfreiwillige« im Fotoalbum tituliert, ohne einen konkreten Ort des Geschehens zu benennen (101). Die gleiche Vorgehensweise lässt sich auch bei zeitgenössischen Persönlichkeiten beobachten, die innerhalb der 8 www.akg-images.de/CS.aspx?VP3=SearchResult&ALID=2UMDHUWHNVCJZ&VBID=2U-MES 6CEQ5D12&POPUPPN=8&POPUPIID=2UMDHU6BASRP, 26.07.2018.

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Abb. 6: Otto von Emmich. Gegenüberstellung von Originalfotografie und Comicdarstellung [Quelle: oldthing.de/Generaele-General-von-Emmich- 0023021666, 10.02.2018; Hogh/Mailliet. Tagebuch 14/18, 31]

Story bewusst kontextualisiert werden. Als Beispiel kann der preußische General Otto von Emmich aufgeführt werden, der im Comic als Portrait im Haushalt der Familie Zenker vorkommt (31). Er wird im Kontext des Siegs der deutschen Armee über Lüttich genannt, da er der heeresführende General war.9 Wie bei den bereits beschriebenen Figurendarstellungen zeigt der direkte Vergleich von fotografischer Vorlage und graphischer Darstellung (Abb. 6) eine dem Zeichenstil entsprechende detailgetreue Übernahme der Kleidung sowie der phänotypischen Merkmale des Generals. Aufgrund der realitätsgetreuen Darstellung neigt der Rezipient dazu, die Darstellung des Generals im Hause Zenker

9 www.wlb-stuttgart.de/sammlungen/bibliothek-fuer-zeitgeschichte/themenportal-erster-weltkrieg/ tagebuecher/tagebuch-von-otto-von-emmich/einleitung-zum-tagebuch-von-otto-von-emmich, 26.07.2018.

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Abb. 7: Le Petit Journal. Gegenüberstellung von Originalfotografie und Comicdarstellung. [Quelle: http://cent.ans.free.fr/pj1915/pj129624101915.jpg, 07.09.2018; Alexander Hogh, Jörg Mailliet. Tagebuch 14/18 – Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich. Köln: Tintentrinker, 2014, 50]

nicht weitergehend in seiner Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Eine weiterführende Recherche zeigt allerdings auf, dass die Popularität des Generals erst nach dem Sieg einsetzte, so dass es zur Betrachtzeit als unüblich angesehen werden kann, ein Portrait von Emmichs in einem Privathaushalt aufzufinden.10 Aus diesem Grund kann die Vermutung nahe gelegt werden, dass dieses Portrait gezielt in diesem Zusammenhang eingebaut wurde. Zum einen dient es der Verdeutlichung des Kriegsgeschehens und von Emmichs Relevanz in diesem Kontext, zum anderen generiert es Neugier, um weitere Recherchen anzuregen. Eine weitere Kategorie, welche in Bezug auf ihre Rezeption hinterfragt werden muss, ist der Bereich der Propagandaelemente wie Plakate oder Zeitungen (22, 78). Diese werden dem Kontext des Comics entsprechend zeitlich flexibel eingesetzt. Somit wird eine Umdatierung der eigentlichen Veröffentlichung einer Zeitung bewusst als Stilmittel gebraucht (50). 10 www.wlb-stuttgart.de/sammlungen/bibliothek-fuer-zeitgeschichte/themenportal-erster-weltkrieg/ tagebuecher/tagebuch-von-otto-von-emmich/einleitung-zum-tagebuch-von-otto-von-emmich, 26.07.2018.

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Beispielhaft kann hier eine Situation von René im Sommer 1915 angeführt werden, welche ihn mit einer Ausgabe des Le Petit Journal zeigt (Abb. 7). Die Datierung der Originalausgabe fällt allerdings auf den Oktober des gleichen Jahres. Das Titelblatt der Zeitung zeigt einen Kriegsverletzten, der von den Außenstehenden als Held behandelt wird. Die Vordatierung der Zeitung in den Sommer 1915 unterstreicht einerseits Renés Faszination gegenüber den Soldaten und soll andererseits den Widerspruch zwischen Realität und Propaganda darstellen, da die verletzten Soldaten statt Ruhm Krankheiten mit sich bringen (50). Eine weitere Maßnahme zur Gewährleistung der Intention der historischen Authentizität ist der implizite Verweis auf historisch relevante Ereignisse des Ersten Weltkriegs in Bezug auf die binational wechselseitige Perspektive des Comics. Die Geschehnisse sind im Gegensatz zu Schulbüchern nicht tabellarisch aufgeführt, sondern in den Handlungsstrang der Protagonisten integriert. Hierbei muss beachtet werden, dass es sich lediglich um eine Rekonstruktion der Ereignisse aus der heutigen Sicht der Herausgeber handelt, welche aufgrund des binationalen Charakters des Comics nur ausgewählte historische Ereignisse aufführen. In diesem Kontext können die Schlachten in Belgien und Verdun genannt werden, an denen Walter und Lucien jeweils beteiligt waren. Diese zwei Kriegsereignisse werden innerhalb der Handlung als einzige Schlachten weiterführend thematisiert und stehen exemplarisch für die deutsch-französischen Auseinandersetzungen (41ff., 65). Auch die Rezeption dieser Referenzkategorie verlangt eine weiterführende Beschäftigung mit den Geschehnissen des Ersten Weltkriegs, da der Fokus der Herausgeber und somit des Comics ausschließlich auf den deutsch-französischen Charakter fällt. Die verkürzten Ausführungen und die fehlenden Erläuterungen zu den Hintergründen der thematisierten Inhalte geben einen Impuls, um sich verstärkt mit der Thematik und den damit einhergehenden Beweggründen der Zeitgenossen auseinander zu setzen. Im Rahmen des 100. Jahrestags des Ersten Weltkriegs soll der Comic Tagebuch 14/18 – Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich einen Beitrag zur transnationalen Erinnerungskultur und somit zur Europäisierung leisten, denn Denkfiguren transnationaler Erinnerungskultur[en] öffnen die Erinnerungsforschung stärker für Prozesse, die gegenwärtig in Zeiten der Auflösung von nationalstaatlichen Rahmungen, Europäisierung und Globalisierung eine Rolle spielen.11

Zu diesem Zweck vermittelt der Comic ein pazifistisches Kriegsbild, welches die Staaten Deutschland und Frankreich nicht als verfeindete Nationen aufgrund ihrer 11 Fenn/Kuller, 16.

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kriegerischen Vergangenheit darstellen will, sondern als Nachbarn im europäischen Bund. Hierfür muss betrachtet werden, in welcher Form dieses Kriegsbild über die Darstellung der Protagonisten generiert wird. Wie bereits bei Nessi und René festgestellt werden konnte, haben Institutionen wie Schule, Kirche sowie Propaganda durch Zeitungen einen großen Einfluss auf die Protagonisten, ihre Positionierung und ihre Sicht auf die herrschenden Verhältnisse. Dies zeigt sich in der stark patriotisch geprägten Einstellung, welche sich in einer positiven Erwartungshaltung bezüglich des Kriegsgeschehens niederschlägt (30f., 49f.). Diese positiven Erwartungshaltungen entwickeln sich im Kriegsverlauf jedoch und werden zunehmend negativ beeinflusst. Die Kehrseite des Kriegs wird in Form von Hunger, Tod, Krankheiten sowie persönlichen Verlusten abgebildet (50f., 58ff., 61). Die Darstellung des Kriegs folgt der Intention, dem Rezipienten zu suggerieren, dass dieser sowohl auf Seiten der Verlierer als auch auf Seiten der Gewinner negative Folgen mit sich bringt. Eine Voraussetzung für das Erschließen der Geschichte in Hinblick auf die Zielgruppe ist die »Identifikation mit den Protagonisten«.12 Dies wird durch die Methode der Empathie bezweckt, welche durch diverse Mittel wie das Alter der Protagonisten sowie die Integration der Institutionen Schule, Kirche sowie Medien generiert wird. Mithilfe dieser Identifikationselemente soll der Leser gezielt zur Reflexion und zum kritischen Denken angeregt werden, um folglich Krieg eine negative Konnotation beizumessen und somit das intendierte pazifistische Kriegsbild darzulegen. Die wechselseitige Darstellung der binationalen Geschehnisse innerhalb des Comics verfolgt die Intention, ein repräsentatives sowie einheitliches Bild vom heutigen Europa zu vermitteln, in welchem Deutschland und Frankreich als positiver Maßstab für den Frieden angesehen werden sollen. Im Folgenden wird abschließend kritisch dargelegt, inwiefern die Autoren ihrer eingangs formulierten Intention, ein historisch-authentisches Werk für Kinder und Jugendliche zu verfassen, gerecht werden. Zum einen kann festgehalten werden, dass der Gebrauch der Zitate als fragwürdig aufzufassen ist. Dies ist auf eine ungenügende Datierung der Ereignisse innerhalb des Comics sowie ihre nicht ausreichende Kontextualisierung zurückzuführen. Des Weiteren gelten Tagebücher und Memoiren als Selbstzeugnisse und haben in der Geschichtswissenschaft den Status von Konstruktionen, da sie »im Nachhinein [entstehen] […] [und] teils auf eigener Erinnerung, teils auf Aufzeichnungen basieren.«13 Somit finden solche 12 Barbara Schubert-Felmy. »Ziele des Umgangs mit literarischen Texten und der Entwicklungsstand der Lernenden«. Deutsch-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen Verlag, 2014, 120. 13 Waldemar Grosch. »Schriftliche Quellen«. Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch. Berlin: Cornelsen Scriptor, 2014, 80f.

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Abb. 8: Nessi Zenkers Wunsch nach einer aktiven Teilnahme an der Front. [Quelle: Hogh/Mailliet. Tagebuch 14/18, 81]

historischen Erinnerungen in einem Erzählmodus statt, der als »sinnvolle narrative Fiktion«14 verstanden wird. Die bedingte Erwerbs- und -Verständnismöglichkeit der Tagebücher und Memoiren, der ausschnitthafte Gebrauch der Zitate sowie der stark subjektive Aspekt von Selbstzeugnissen ergeben den fiktiven Charakter des Comics. Die Konstruktion und Modifikation der erarbeiteten Referenzen zur interpretatorischen Absicht der Herausgeber verdeutlichen den Aspekt des fiktiven Charakters, wodurch allerdings historische Chronologie und Wahrheitsgehalt vernachlässigt werden. Da es sich bei der dargestellten Handlung (Abb. 8) um eine Rekonstruktion aus Sicht der heutigen Zeit handelt, müssen gewisse abgebildete Inhalte, die in die Zeit des Ersten Weltkriegs fallen, bezüglich ihres Wahrheitsgehalts hinterfragt werden. Dieser Aspekt kann anhand des folgenden Beispiels, Nessis Wunsch, als Soldatin am Kriegsgeschehen teilzunehmen, näher erläutert werden. 14 Ebd., 27: zit. n. Michele Baricelli. »Narrativität«. Michele Baricelli, Martin Lücke (eds.). Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 2. Schwalbach/Ts: Wochenschau-Verlag, 2017, 255–280.

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Die isolierte Betrachtung des Zitats bietet keinerlei Rückschlüsse darauf, dass Agnes Zenker diesen Wunsch tatsächlich geäußert haben könnte, oder ob es auf den Einfluss der heutigen Denkweise der Herausgeber zurückzuführen ist, der retrospektiv auf Nessi übertragen wird. Folglich lässt sich lediglich spekulieren, ob Agnes Zenker bereits damals feministisches Gedankengut vertrat oder ob der Figur Nessi lediglich eine Vorbildfunktion für die Rezipienten des Comics zugeschrieben wird. Die Intention, einen ganzheitlichen Überblick über den Ersten Weltkrieg sowie das Verständnis über dessen Nachkriegszeit und die Auswirkungen auf die heutige Zeit zu schaffen, werden durch die alleinige Lektüre des Comics nicht ausreichend erfüllt. Wichtige transeuropäische Hintergründe wie beispielsweise die Entstehung der Hungersnot in Deutschland werden nicht näher erläutert. Auch weitere relevante politische Hintergründe werden nur oberflächlich angedeutet. Dadurch wird die pädagogische Intention, sich darüber hinaus eigenständig mit der Thematik des Ersten Weltkriegs zu beschäftigen, erfüllt. Die offensichtlich eingebauten Referenzen animieren Kinder und Jugendliche zu einer weiterführenden Recherche. Die innovative Gestaltung und Vermittlung der Thematik in Form eines Comics wurde in Deutschland durch mehrere Nominierungen gewürdigt; anders als in Frankreich, wo Comics als Medium zur Vermittlung historischer Inhalte bereits eine gängige Rezeptionsform sind.15 Nichtsdestotrotz kann die Position der Herausgeber, es handle sich um ein historisch authentisches Werk, welches dem Leser dabei unterstützt, ein Verständnis für die Geschehnisse und Konsequenzen des Ersten Weltkriegs zu entwickeln, aufgrund der dargelegten Schwierigkeiten nicht geteilt werden.

15 www.youtube.com/watch?v=dL1JRD8CqrA, 04.08.2018, ab 4:40.

Karina Bedenbecker, Pia Dittmann, Lena Kölker, Stephanie Schnepel, Louisa Wehling

Comic-Journalismus Zu Joe Saccos Bosnien

Ich will, dass die Leser diese Menschen nicht nur als Opfer kennen lernen, sondern als Individuen.

Der Comic Bosnien von Joe Sacco wird in deutscher Sprache zuerst 2010 von Christoph Schuler übersetzt und im Verlag bbb Edition Moderne AG in Zürich publiziert. Das amerikanische Original mit dem Titel Safe Area Goražde. The War in Eastern Bosnia 1992–95 ist bereits im Jahr 2000 als Erstausgabe erschienen. Grundlage der folgenden Analyse ist die deutsche Ausgabe aus dem Jahr 2016. Wenn heute Graphic Novels zu zeitgeschichtlich brisanten Themen boomen und niemand mehr dem Comic die Fähigkeit abspricht, auch komplexe zeitgeschichtliche Themen adäquat zu verarbeiten, liegt das nicht zuletzt auch an Joe Sacco.1

Mit der Intention, die vorherrschenden Kriegsgeschehnisse authentisch anhand eigener Erlebnisse und Erfahrungsberichte Betroffener darzustellen, begründet der Autor und Journalist Joe Sacco das Genre der politischen Comics. Der allgemeine Journalismus erhebt den Anspruch auf Ernsthaftigkeit, Non-Fiktionalität und Verarbeitung aktueller Ereignisse. Der Comic-Journalismus schließt sich dem an, zeichnet sich allerdings außerdem durch eine reflektierte und zeitlich distanzierte Darstellung aus. Durch die zeichnerische Realisierung verlängert sich die Spanne zwischen Ereignis und Publikation zwangsläufig. Der individuelle Stil eines 1 Christian Gasser. »Ich glaube nicht an die Objektivität«. Neue Zürcher Zeitung, 30.12.2011, www. editionmoderne.ch/de/68/autoren/49/joe-sacco.html (Zugriff am 26.03.2018).

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Künstlers hat eine Subjektivität in der Auseinandersetzung mit dem Thema zur Folge, dem auch Joe Sacco nachkommt. Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, entschließt er sich, unter anderem in das bosnische Kriegsgebiet zu reisen und vor Ort einen authentischen Einblick in das Geschehen zu erhalten. In seinem daraus entstandenen dokumentarischen Werk Bosnien thematisiert er die Art und Weise des Aufkommens von Nationalismus und Rassismus während des Bosnienkrieges am Beispiel der bosnisch-muslimischen Enklave Goražde.

Mikrokosmos Goražde: Der historisch-politische Kontext Präsident Josip Broz, eher bekannt als Tito, betreibt nach dem Zweiten Weltkrieg eine Politik der »Brüderlichkeit und Einheit«2 in Jugoslawien. In dieser ethnisch vielfältigsten Republik leben Kroaten, Serben und Muslime, die sich durch unterschiedliche Geschichten, Kulturen und Religionen voneinander unterscheiden, alle aber dieselbe Sprache, serbo-kroatisch, sprechen. Dabei wird das offensichtliche Aufzeigen von ethnischem Nationalismus unter den verschiedenen Völkern unterdrückt.3 Entstehende ethnische Konflikte werden aber nicht entschärft, ein Problem, welches nach Titos Tod 1980 von einigen Politikern genutzt wird, um ihre Macht ausbauen zu können.4 Den serbischen Nationalismus sowie die von den Serben subjektiv empfundene Opferrolle macht sich Slobodan Milošević, als Nachfolger Titos, zu Eigen, um seine Macht in Serbien zu stärken und den Einfluss auf Serben in anderen Ländern auszuweiten. Bei einer Volksabstimmung im März 1992, die von bosnischen Serben boykottiert wird, stimmen 99,4 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit Bosniens von Jugoslawien.5 Am 6. April 1992 wird Bosnien von der EU als souveräner Staat anerkannt.6 Kurz darauf bricht im Nordosten Bosniens der Krieg aus. Wie bereits in Kroatien beginnen paramilitärische Gruppen aus Serbien zusammen mit der JNA unter Milošević und lokalen serbischen Nationalisten alle nicht-serbischen Bürger zu vertreiben.7 Die Vereinten Nationen entsenden daraufhin Militärbeobachter der UN-Schutztruppen UNPROFOR nach Bosnien-Herzegowina. Die Stadt Goražde steht 1993 als belagerte und beschossene UN-Schutzzone weltweit 2 »Titos Saat«. www.zeit.de, 22.04.1999, www.zeit.de/1999/17/199917.tito_.xml (Letzter Zugriff: 22.03.2018). 3 Joe Sacco. Bosnien. Zürich: bbb Edition Moderne, 2016, 19. 4 Ebd., 20. 5 »Bosnienkrieg (1992–1995): Chronik einer europäischen Katastrophe«. www.focus.de, 27.03.2017, www.focus.de/politik/ausland/bosnienkrieg-1992-1995-chronik-einer-europaeischen-katastrophe_ id_6837924.html (Letzter Zugriff: 07.01.2017). 6 Sacco, 39. 7 Ebd., 41.

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im Fokus der Öffentlichkeit.8 Sie liegt im Tal der Drina im südöstlichen Bosnien und wird vor allem von Serben und Muslimen bewohnt.9 Als einzige nicht von den Serben eroberte Stadt im Tal der Drina ist Goražde ein leichtes Ziel für die Serben und eine schwer zu erreichende Zone für die UN-Truppen, die mit ihren Hilfskonvois nicht immer durchkommen.10 Im Februar 1994 kommt es zum ersten Kampfeinsatz in der NATO-Geschichte, in dem vier bosnisch-serbische Flugzeuge abgeschossen werden. Um die UN-Soldaten zu schützen, werden im April erstmals auch Bodenziele angegriffen.11 Die 94er-Offensive verpflichtet alle Arbeiter wieder zurück an die Front. Sowohl einzelne Bosnier als auch die NATO und UN haben wenige Chancen gegen die Kampfmacht der Serben, was zu einzelnen Rückzügen der UN-Beobachter und später der britischen Truppen führt. Am 21. November 1995 vereinbaren die Kriegsparteien einen Friedensplan, der am 14. Dezember in Paris unterzeichnet wird. Beschlossen wird dabei die Bildung eines multiethnischen Staates Bosnien-Herzegowina aus zwei Teilstaaten, der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republik Srpska, mit anerkannten Grenzen und einer demokratischen Regierung.12

»Dieses Buch ist der Stadt Goražde gewidmet« Joe Saccos Beitrag zum Bosnienkrieg [O]ne day I just woke up and said, »I should try to go and see for myself.« […] It’s just something that gnawed at me, and I knew I had to go.13

Joe Sacco entwickelt ein zunehmendes Interesse an den Ereignissen im Balkankriegsgebiet, über das er zu diesem Zeitpunkt jedoch wenig Hintergrundwissen besitzt.14 Trotz der vorherrschenden Kriegszustände wird Sacco »mit Respekt und Freundlichkeit«15 von einer muslimischen Familie aufgenommen. Ohne die Mithilfe Edins und seiner Familie, die ihm besondere Einblicke in ihr Leben während des Krieges gewähren, »würde es dieses Buch nicht geben«.16 Sacco bleibt 8 Marko Plesnik. Bosnien und Herzegowina. Unterwegs zwischen Save und Adria. Berlin: Trescher Verlag, 2010, 289. 9 Sacco, 19. 10 Ebd., 148. 11 Vgl. »Bosnienkrieg (1992–1995)«. 12 Vgl. »Bosnienkrieg (1992–1995)«. 13 »Presentation from the 2002 UF Comimcs Conference«. www.english.ufl.edu/imagetext/archives/ v1_1/sacco/index.shtml (letzter Zugriff am: 26.03.2018). 14 Monica Marshall. Joe Sacco. New York: Rosen Publishing, 2005, 72. 15 Sacco, Danksagung. 16 Ebd.

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insgesamt einen Monat in der bosnisch-muslimischen Enklave und erlebt dort das Ende des Krieges durch die Unterzeichnung des Daytoner Friedensabkommens. Obwohl die Realität in Goražde zu der Zeit von Krieg und Zerstörung geprägt ist, bleibt sein Aufenthalt in positiver Erinnerung. So zieht er in seiner amerikanischen Erstausgabe folgendes Fazit: »Dieses Buch ist der Stadt Goražde gewidmet, wo ich einige der schönsten Momente meines Lebens verbrachte.«17 Mit einem Prolog beginnt der Comic von Joe Sacco. Es ist 1995, und die Verkündigung des Kriegsendes steht kurz bevor. Noch ist der Ort umgeben von serbischen Truppen und als UN-Schutzzone deklariert. Zum Zeitpunkt der Dokumentation sind andere Schutzzonen Bosniens schon aufgegeben und teils von den Serben eingenommen, Friedensverhandlungen finden jedoch gerade statt. Es kursiert das Gerücht, Goražde gegen ein Gebiet nahe Sarajevos einzutauschen. Joe Sacco beginnt seine Dokumentation also kurz vor Ende des Krieges und wird im folgenden Verlauf des Comics die Geschehnisse aufarbeiten, Interviews führen und ausführlich von der gegenwärtigen sowie vergangenen Lage berichten. Der Hauptteil, bestehend aus Rückblenden rund um Saccos Aufenthalt und um Erinnerungen von Kriegsveteranen, beginnt in chronologischer Reihenfolge mit der Ankunft am Zielort. Durch Gespräche mit Einheimischen lernt der Journalist neben weiteren Bezugspersonen besonders Edin kennen, welcher ihn durch den gesamten Bericht im Laufe des Comics begleiten wird. Durch Edin stößt Sacco nach und nach auf Einheimische, die dem Journalisten weitere Details und Informationen über den Kriegshergang schildern können. Außerdem zeigt der bosnische Mathelehrer ihm die serbisch-bosnische Grenze, an der deutlich wird, dass die Situation auch noch jetzt, wo der Krieg sich dem Ende zuneigt, angespannt ist. In mehreren Interviewphasen mit unterschiedlichen Partnern werden unter anderem die Säuberung der Gegend, die Spaltung Jugoslawiens nach Titos Tod und unter neuem Präsidenten Milošević und damit das Ende der früher angestrebten Brüderlichkeit und Einheit thematisiert. Grund dafür ist das aufgekommene Nationalgefühl auf beiden Seiten. Als schockierend wird die Tatsache aufgegriffen, dass sich unter serbischen Angreifern auch ehemalige Freunde und Bekannte der Opfer befinden. Im Zuge seiner Dokumentation zeigt Sacco immer wieder Einzelschicksale, die von Erfahrungen und Ereignissen aus der Kriegszeit zeugen. Während seines Aufenthalts erfährt der Journalist neben dem eigentlichen Kriegsgeschehen ebenso die Folgeerscheinungen. So berichtet Edin von der den Krieg andauernden (Bildungs-)Armut in Goražde. Höhe- und Wendepunkt sowohl des Bosnienkrieges als auch der Comichandlung stellt die 94er-Offensive dar, damit eingeschlossen sind Berichte über geringe Chancen gegen die Kampfmacht der Serben und über das Gefühl der Bevölkerung Goraždes, allein gelassen zu werden. Beschrieben 17 Ebd.

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wird der letzte große Feldzug der Serben als größtes Massaker in Europa seit 50 Jahren. Neben solchen Schilderungen der Zustände zwischen zwei Völkergruppen weist Sacco außerdem darauf hin, dass nicht jedem bewusst zu sein scheint, dass es zwar radikale aber ebenso auch aufgeschlossene Serben gibt. Die Auffassung, alle Serben seien Mörder, ist umstritten. Die Phase des neuen Friedens schildert Joe Sacco in den letzten Kapiteln. Die erste Freude über das Kriegsende und die Demobilisierung ist zwar groß, teilweise besteht aber auch Ratlosigkeit im Umgang mit der neuen Situation. Viele teilen ihre Freude und erwarten gespannt die Zukunft, so auch Joe Sacco und Edin. Andere Stimmen hingegen sind eher skeptisch und haben die fortwährenden Spannungen durch die immer noch bestehende bosnische Teilrepublik des Dayton-Vertrags im Blick. Viele der Bewohner Goraždes haben in Sarajevo ein neues zu Hause gefunden, was von der elitären städtischen Bevölkerung teilweise eher wenig toleriert wird. Der Comic schließt mit einer geteilten, noch unsicheren, aber zukunftsweisenden Atmosphäre ab.

Dokumentationsstrategie und Darstellungsweise in Bosnien In Joe Saccos Comic wechseln sich Kapitel vor schwarzem und weißen Hintergrund ab. Bei den weiß unterlegten Kapiteln handelt es sich um seine Erlebnisse vor Ort, während die schwarz unterlegten Kapitel über individuell erlebte Kriegserlebnisse berichten. Beide Modi wechseln sich in unregelmäßigen Abständen ab, entwickeln sich aber in Länge und Verhältnis kongruent zum Inhalt und damit zum Fortschreiten der politischen Lage, sodass die Dokumentationsbeiträge an Länge gewinnen und die Erzählung in den Hintergrund tritt. Bei seinen Ausführungen ist Sacco stets um Authentizität bemüht, die er beispielsweise durch Namensnennungen von Plätzen und durch die direkte Wiedergabe von Aussagen zu erreichen sucht. Äußerungen aus Reden von Tito und Bill Clinton finden sich in Zitaten wieder.18 Zusammen mit historischen Erläuterungen zur derzeitigen Kriegssituation tragen sie zur Glaubwürdigkeit der geschilderten Ereignisse bei und versorgen den Rezipienten mit Hintergrundinformationen, die für das Verständnis von unmittelbarer Bedeutung sind. Neben derartigen Auswirkungen des Krieges finden sich oft in unmittelbarer Nähe Beschreibungen fröhlicher Alltagssituationen. So bietet beispielsweise »die Anwesenheit fremder […] Anlass für eine ausgelassene Party«,19 bei der »die neuen Freunde […] wie Auferstandene«20

18 Sacco, 167. 19 Ebd., 8. 20 Ebd., 9.

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feiern. Gleichzeitig wird in dieser geschilderten Situation die Kriegsarmut deutlich, da die Protagonisten die erste Pizza nach dem dreieinhalbjährigen Lebensmittel­ embargo essen und selbst gebrannten Schnaps trinken. Hierbei gelingt es Sacco, die ausgelassene Stimmung unter anderem durch das Trikolon »Saufen! Tanzen! Singen!«21 zu verdeutlichen und der Situation trotz der Kürze seiner sprachlichen Darstellung eine gewisse Dynamik zu verleihen. Dazu unterstützt die Anordnung der Panels die Stimmung der Situation. So erzeugt Sacco beispielsweise durch gekippte Panels eine Unordnung, die sich mit der fröhlichen und ausgelassenen Atmosphäre der Party deckt22 – ein Darstellungsmittel, mit welchem er häufiger im Comic arbeitet. Neben der Lebensmittelknappheit sind in diesem Kapitel auch die gesundheitlichen Auswirkungen des Krieges auf die Menschen zu erkennen. Unmittelbar neben Schilderungen der fröhlichen Stimmung treten Informationen über die Kriegsverletzungen des zwölfjährigen Melas auf: Ein Serbe hatte ihm ins Bein geschossen. Sie hatte ihn täglich ins Krankenhaus… tragen müssen. Kein Platz, zu viele Notfälle. Ein andermal explodierte eine Granate neben ihm. Er hatte noch immer Splitter im Auge.23

Solche Informationen wirken losgelöst von der eigentlichen Situation und erinnern den Leser stetig an das Kriegsgeschehen. So kommt es zu Erzählungen, in denen der Kontrast zwischen Freude und Leid von Panel zu Panel gegeben ist. Joe Sacco versucht eben diesen Kontrast in einem Panel, der sich über zwei Seiten erstreckt und eine Art Wimmelbild-Charakter aufweist, darzustellen. Das Bild suggeriert eine dörfliche Idylle, die jedoch bei genauerer Betrachtung immer wieder unterbrochen wird. Von den spielenden Kindern abgelenkt, entdeckt man erst danach die Einschusslöcher der Häuser im Hintergrund.24 Neben der Zerstörung und dem Leid, welches der Krieg hinterlässt, spielt sich gleichzeitig das Alltagsleben der Menschen ab, die versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen. In ihren Gesichtern spiegelt Sacco das Erlebte in all seiner Grausamkeit wider, sodass der Fokus stets auf der Darstellung von Mimik, Gestik und Emotionen liegt. Die Kriegsschauplätze werden dabei häufig im Hintergrund abgebildet. Zu Beginn jeder Reportage schafft er damit einen Moment des NichtWeg-Sehens. Dieser wird durch das Erzählen persönlicher Passagen der Figuren und durch einen Einblick in deren Gefühlswelt unterstützt. Sacco selbst tritt in seinen Ausführungen in den Hintergrund und dient als beobachtende Instanz, indem er Eindrücke, Stimmungen und Informationen der geschilderten Situation 21 Ebd., 11. 22 Vgl. ebd., 11. 23 Ebd., 11. 24 Ebd., 14f.

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visualisiert, sodass der Eindruck erweckt wird, als würden die Figuren sich direkt an den Rezipienten wenden.25 Der Schwerpunkt auf den Einzelschicksalen der beteiligten Personen wird vor allem auch auf den Dokumentationsseiten deutlich. So beginnt beinahe jede Dokumentation gleichbleibend mit der namentlichen Vorstellung des Interview­ partners in einer Großeinstellung vor einem neutralen Hintergrund. Sacco berichtet beispielsweise über Rasim, der miterleben muss, wie die Serben am 18. Mai 1992 »begannen Dörfer niederzubrennen, Leute rund um Visegrad zu töten und die Stadt zu belagern«.26 Als Beispiel für die Text-Bild-Kohärenz und den analytischen Seitenaufbau kann Seite 110 (Abb. 1) herangezogen werden: Die sieben Panels unterstützen Rasims Aussage zu dem brutalen Vorgehen der Serben gegen die Muslime. So sind im ersten Panel die nackten Füße der Nachbarn Rasims dargestellt, neben denen die schwarzen Stiefel der Soldaten hervorstechen. Symbolisch wird auf die Hilflosigkeit der Menschen aufmerksam gemacht, die gegen die Obermacht der bewaffneten Soldaten nichts entgegenzusetzen haben. Nacheinander werden sie am Rand einer Brücke aufgestellt, durch einen Schnitt in die Kehle ermordet und in die Drina geworfen. In weiteren Panels ist aus der Vogelperspektive der Tathergang mitzuverfolgen. Über den blutverAbb. 1: Joe Sacco. Bosnien, 110. schmierten Rand der Brücke sieht man Leichen im Fluss schwimmen. Im letzten Panel der Seite wird wieder der Bezug zum Interviewten hergestellt. Rasim ist mit traurigem Gesichtsausdruck frontal in einer Nahaufnahme zu sehen, dazu über ihm in einer Sprechblase die Aussage: »Ich war Zeuge«.27 Anhand einer solchen Form der Interviewführung ist es Sacco möglich, den Bericht mit zahlreichen Details sowie persönlichen Nuancen und auch

25 Vgl. ebd., 29. 26 Ebd., 109. 27 Ebd., 110.

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Abb. 2: Joe Sacco. Bosnien, 11.

einer (wertenden) Perspektive zu versehen. Die Wiedergabe von Meinungen und Einstellungen der Figuren verleiht den Dokumentationen nicht nur eine authentische Komponente, sondern trägt auch zur Identifikation mit der vorherrschenden Situation bei. Neben den Reportagen schafft es Sacco, mit Hilfe von Alltagsberichten über seinen Aufenthalt in Goražde Authentizität herzustellen. Immer wieder rückt er die Gastfreundschaft und Offenheit der Einwohner in den Fokus: Eine muslimische Familie nimmt den Journalisten auf und gewährt ihm somit besondere Einblicke in ihr Leben während des Krieges. Die außergewöhnliche Gastfreundschaft wird bereits zu Beginn des Comics deutlich, wenn trotz aller Sorgen eine Feier anlässlich Saccos Besuchs veranstaltet wird. Die Unvorstellbarkeit einer solchen Situation wird noch gesteigert, als der zwölfjährige Melas Geschenke an die Besucher verteilt, auch wenn das derzeitige Leben der Familie aufgrund des Kriegszustandes von Armut geprägt ist. Der breit lachende Junge (Abb. 2) wird in der Seitenansicht durch einen weißen Schein um sein Gesicht hervorgehoben. Dieser steht im starken Kontrast zum sonst tiefschwarzen Hintergrund des Panels. Die in diesem Fall positive Emotion des Jungen wird so im Bild und auch auf der Seite fokussiert und verstärkt. Sacco benutzt dieses Mittel im Verlauf des Comics häufiger, um meist Emotionen, aber auch Situationen hervorzuheben.

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Edin, ebenfalls Teil der Familie, nimmt unter den Figuren eine besondere Rolle ein. Er fungiert als Schlüsselfigur, indem er Sacco als Vermittler und Bezugsperson dient: »Manchmal zeigte er mir die sichtbaren Teile … und manchmal die unsichtbaren.«28 Der Mathelehrer pflegt Kontakte zu vielen Personen, sodass es Sacco mit Edins Hilfe ermöglicht wird, individuelle Schicksale unterschiedlicher Individuen kennenzulernen. Die Wichtigkeit seiner Person wird darüber hinaus dadurch betont, dass er und nicht eine Totale der Stadt Goražde im Schlussbild des gesamten Comics gezeigt wird, was die Intention Saccos, individuelle Schicksale abzubilden, hervorhebt. Diese Gestaltungsweise wird besonders auf der Doppelseite mit der Überschrift »Könntet ihr wieder mit den Serben leben?«29 betont. Sie bildet einen repräsentativen Zusammenschnitt unterschiedlicher Meinungen zu der übergeordneten Frage ab. Die Ansammlung unterschiedlichster Antworten auf den Seiten wird durch die Darstellung der Panels unterstützt. Mit und ohne Rahmen und in unterschiedlichen Größen untermalen sie in ihrer Vielfalt auch die Vielfalt an Meinungen zu den Serben. Ebenso sind auch die Personen durch verschiedene Schraffierungen des Hintergrundes sowie einer unterschiedlichen Inszenierung des Lichteinfalls jeweils anders dargestellt. Alle zwölf abgebildeten Einwohner Goraždes zeigen mürrische oder skeptische Blicke, und vier Personen sind mit einer glühenden Zigarette der Marke »Drina« abgebildet. So spiegelt diese Doppelseite neben den unterschiedlichen Meinungen der Individuen über die Serben, auch die kriegsmüde und angespannte Gesellschaft in Goražde wider, in der das Rauchen sowohl kleinen Luxus bietet als auch eine Flucht aus der Realität ermöglicht. Sacco ist es kein Anliegen, die Auflösung Jugoslawiens und den Bosnienkrieg umfassend darzustellen, sondern vielmehr die Geschichte Goraždes in ihrem Kontext zu zeigen. Folgende Äußerung fasst die Meinungsspanne der befragten Personen und das eigentliche Kernproblem zusammen: Ich glaube an ein multiethnisches Bosnien, nicht alle Serben sind Kriegsverbrecher. Nur ein paar Prozent aller serbischen Soldaten haben gemordet und Granaten auf zivile Gebiete abgefeuert. Ihr Problem ist, dass sie immer über ihre Geschichte sprechen, sie schauen immer nur zurück, nie nach vorn.30

Wie in diesen Meinungen bereits deutlich wird, bemüht sich Sacco in seinem gesamten Comic darum, zwischen der ethnischen Gruppe der Serben und den Tschetniks, den serbischen Anhängern eines militärischen Freiwilligenverbandes,31 28 Ebd., 16. 29 Ebd., 160f. 30 Ebd., 161. 31 Vgl. »Freikorps«. www.wissen.de/lexikon/freikorps-militaer. (Letzter Zugriff: 20.03.2018).

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zu unterscheiden. Als Folge einer solchen Unterscheidung, werden keine Aussagen gegen die Serben getroffen, sondern vielmehr die Entscheidungen der Tschetniks kritisch betrachtet. Informationen und Aussagen wie diese werden mit Hilfe von Sprechblasen beziehungsweise viereckigen Kästchen vermittelt. Erstere dienen der direkten Figurenrede und beinhalten häufig kurze Redeanteile innerhalb von Gesprächen, die sich durch alltagssprachliche und ellipsenförmige Aussagen kennzeichnen. Zudem wird durch die Verwendung von Auslassungspunkten ein Nachdenken seitens der Figur oder ein Fortführen eines Gedankens suggeriert, wodurch der Eindruck einer realen Erzählung verstärkt wird.32 Letztere spiegeln entweder Saccos Gedanken wider, geben Informationen zur geschilderten Situation oder in den Dokumentationen ebenfalls Aussagen der Figuren in Anführungszeichen sowie Zitate wörtlich wieder. So lässt sich festhalten, dass Sacco auf den schwarz unterlegten Seiten die Figuren erzählen lässt, sich damit also selbst zurücknimmt, während er auf den weiß unterlegten Seiten selbst der Erzähler ist. In den Alltagsschilderungen finden sich häufig humorvolle Passagen, die die Situation unterhaltsamer gestalten. Deutlich wird dies beispielsweise im Erzählstrang »Dummerchen« nicht nur durch die Überschrift, sondern auch durch die Thematik um echte Markenjeans und Beziehungsprobleme der Mädchen: Zumindest Kimeta war gut gelaunt. Sie hatte uns gerade von ihrem tollen Neuen erzählt, einem Flüchtling aus Rogatica, der auch viel greifbarer war als Mister Evakuiert, der sie in Dublin betrog.33

Im Gegensatz zu der humorvollen Nuance einiger Alltagsschilderungen bemüht sich Sacco bei der Beschreibung der Auswirkungen vom Krieg auf die Bewohner Goraždes um eine wahrheitsgetreue Wiedergabe. Dieser Eindruck wird beispielsweise bei den Darlegungen über die Gründe des Rückgangs der serbischen Bevölkerung in Bosnien mit Hilfe detaillierter Informationen und indirekter Redewiedergabe erzeugt. Indem er seine Beschreibungen mit Jahreszahlen und Ortsangaben versieht, steigt seine Authentizität.34 Die Verwendung dreier Leitmotive zieht sich wie ein roter Faden durch den Comic. Zu ihnen zählen die Drina, die Blaue Straße sowie diverse Luxusgüter (Abb. 3). Ihnen allen ist eine positive Konnotation gemein. Zusätzlich besitzt der Fluss Drina eine polyvalente Bedeutung: Er versinnbildlicht zum einen den Tod als Folge des Kriegsgeschehens und fungiert zum anderen als Lebensader für die Einwohner Goraždes. Es werden sowohl Dutzende Tote im Fluss entsorgt als

32 Vgl. Sacco, 11f. 33 Ebd., 193. 34 Ebd., 155.

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Abb. 3: Joe Sacco. Bosnien, 48, 108.

auch durch die Minizentralen Strom daraus bezogen. Somit gewährt der Fluss den Einwohnern trotz vorherrschender Kriegsarmut gewisse Vorzüge. Bei dem ersten Angriff retten sich die Einwohner in die Drina, wodurch ihre Funktion als Lebensader erneut verdeutlicht wird. Diese unmittelbar lebensrettende Komponente kontrastiert stark mit Panels, in denen die Drina voller Leichen dargestellt ist und somit die grausamen Folgen des Krieges abgebildet werden.35 Zu ihrer konträren Konnotation tritt die Polysemie des Wortes auf, denn neben dem Fluss trägt ebenso eine Zigarettenmarke den Namen Drina. Als Deonym für eine Zigarette ruft das Rauchen der Drina einen Moment des Glückes auf Seiten der Figuren 35 Ebd., 108.

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hervor und bietet im Sinne eines Sucht- und Entspannungsmittels einen Moment der Flucht vor der Realität.36 Eine provokante Text- und Bildführung unterstützt die zwiegespaltene Wahrnehmung der Drina. Die Blaue Straße, benannt nach den blauen Helmen der UN-Soldaten, ist als weiteres Leitmotiv des Comics zu betrachten, da sie wie der Fluss als Lebensader und als einziger Versorgungsweg für die Einwohner Goraždes dient.37 Dabei ist sie sowohl Symbol für die Hilflosigkeit als auch Handlungsunfähigkeit der Bewohner. Sacco im Gegenzug ist es jederzeit möglich, die Stadt über die Blaue Straße zu verlassen und somit möglichen Gefahren zu entgehen, wenngleich der Autor diesen Ausweg zunächst eher weniger in Betracht zieht: »Wenn die Schlinge zu eng würde, könnte ich meinen UN-Ausweis zücken und nach Sarajevo verduften… zurück zu Muttern, falls das Undenkbare einträfe.«38 Wenn es um das Bestreben geht, sich vom Kriegsgeschehen abzulenken, geraten insbesondere Luxusgüter und die Lebenswelten der Figur Riki und mehrerer Mädchen, deren Geschichte unter dem Titel »Dummerchen« berichtet wird, in den Fokus. Riki sticht durch das Singen der US-Rockhymnen Born in the USA, Hotel California und The Boxer hervor, wobei er kurze Textstücke in veränderter Weise darbietet. Änderungen sind darauf zurückzuführen, dass er die Lieder von Soldaten aufgeschnappt hat und nun so wiedergibt, wie er sie in Erinnerung behalten hat. Andere Luxusgüter sind hingegen materieller Natur, wie beispielsweise der Wunsch, eine neue Jeans der Marke Levi’s zu besitzen. Solche Leitmotive schaffen authentische Gefühlswelten der Figuren, sodass die Schicksale der Individuen die Kriegsdarstellung unterstützen und greifbar machen. Ich will, dass die Leser diese Menschen nicht nur als Opfer kennen lernen, sondern als Individuen.39

Da die Bilder im Comic dem Leser die Möglichkeit bieten, Literatur zu veranschaulichen, muss der Rezipient seinen »Beitrag zur Rezeption leisten […] – durch das Sich-vorstellen der Situation und das Sich-hinein-denken und -fühlen.«40 Während und nach dem Lesen des Comics soll und muss der Leser die Geschichte um die Einwohner Goraždes verstehen, mitfühlen und verinnerlichen.

36 Ebd., 54, 131. 37 Ebd., 57. 38 Ebd., 7. 39 André Martens. »Militär- und Kriegskritik: Neue grafische Literatur aus Deutschland, Frankreich und den USA«. Ders. Krieg im Comic? Grafisches Erzählen zu Militarismus und Gewalt. Norderstedt: Books on Demand, 2017, 20. 40 Sacco, 17.

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Abb. 4: Joe Sacco. Bosnien, Deckblatt.

Darüber hinaus fließt auch die Selbstdarstellung Joe Saccos in sein Werk ein (Abb. 4). Mit den sehr runden Gesichtszügen, den dicken, fast wulstigen Lippen und der großen Nase wirkt der kleine und schmächtige Mann stärker abstrahiert als die anderen Figuren in seinem Comic. Vor allem seine Brille wird zum Markenzeichen, die den Abstraktionsgrad noch erhöht und ihn stereotypisiert. Die Augen der Comicfigur sind nie zu erkennen. Die undurchsichtige Brille des Charakters scheint damit mehr zu sein als eine bloße Darstellungsart, da bei anderen Brillenträgern im Comic die Augen stets zu erkennen sind.41 Generell stellt die Augenpartie ein zentrales Mittel dar, um Emotionen auf einem Gesicht wiederzugeben. Bei der häufigen und klaren Darstellung der Gefühle in dem Gesichtsausdruck seiner gezeichneten Figuren bleibt also lediglich der Charakter, der ihn selbst darstellen soll, die Ausnahme. So scheint der Autor sich in Bezug auf seine eigene Gefühlswelt eine gewisse Anonymität zu gewähren, die ihm die Brille mit ihren weißen Gläsern verschafft. Joe Sacco ist zwar immer präsent, drängt aber nie in den Vordergrund. Vielmehr scheint Sacco die 41 Ebd., 159.

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Brille als spiegelhafte Reflexion der Gefühle und Erlebnisse der Figuren zu nutzen und diese bildlich und textuell für den Leser transparent zu gestalten. Goražde! …, das soeben den Medienliebling Sarajevo abgelöst hatte. Goražde! … überrannt von CNN, NPR, BBC! Die sprichwörtlichen 15 Minuten tickten schnell vorbei. Bald würde Goražde vergessen sein! Gorawo? Hm? Wir mussten uns beeilen!42

Während er sich mittels seiner Aussage selbst durch die Verwendung des Plurals »Wir« mit einbezieht, grenzt er sich im weiteren Verlauf des Comics von der Vorgehensweise anderer Reporter ab. Er spielt auf die ikonenhafte Fotografie zur Zeit des Bosnienkrieges in den Medien ab und verdeutlicht den Kontrast zum eigenem Vorgehen. Er rezitiert in seinem Comic eben nicht die skandalösen Fotografien und positioniert sich auf die andere, nüchterne, sachliche und individuelle Seite. Schon der Titel, nüchtern formuliert, verrät den individuellen, detailverliebten Charakter des Werkes. Joe Sacco berichtet nicht, wie unzählige Journalisten vor und nach ihm, von den absurden Schrecken, den gegenüberliegenden Positionen der Kriegsbefürworter und der Opfer und auch nicht von den wirtschaftlichen Folgen des Bosnienkrieges. Joe Sacco berichtet nicht von großen Kriegsschauplätzen, sondern von den Menschen die mehr oder weniger freiwillig daran teilnehmen müssen. Dass der Titel Safe Area Goražde zwar eine reglementierte Bezeichnung der UN, aber auf der anderen Seite hochgradig ironisch zu betrachten ist, fällt erst beim Lesen auf. Durch die vorrauszusetzende kognitive Verknüpfung von Bild und Text und das dadurch konzentrierte Lesen des Comics lässt diese Ausführung keine Distanz mehr zu.43 Das Genre Comic Journalismus hegt die Prämisse, den Leser durch »Sequenzen grafischer Abbildungen, die in irgendeiner Weise untereinander in Verbindung stehen«,44 über Sachverhalte oder Geschehnisse zu informieren. Nyberg versucht dem Comic Journalismus drei zentrale Kennzeichen zuzuschreiben: Ernsthaftigkeit, Non-Fiktionalität und die Verarbeitung aktueller Ereignisse. Dabei scheint für den Leser besonders der Begriff Ernsthaftigkeit häufig nicht im Zusammenhang mit dem Comic zu stehen. Hier greift der Comic Journalismus ein und grenzt sich von der vorrangigen Unterhaltungskultur des Comicwesens ab. Über die Verarbeitung aktueller Ereignisse muss gesagt werden, dass »besser von Relevanz als von Aktualität zu sprechen« sei.45 Denn die Zeichnung von Comics 42 Ebd., 6. 43 Vgl. Martin Bolz. Philosophieren in schwieriger Zeit. Münster: LIT , 2003, 226. 44 Deutscher Fachjournalisten-Verband. Journalistische Genre. Köln: Herbert von Halem Verlag, 2017, 274. 45 Ebd., 275.

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und die Recherche der Sachverhalte beanspruchen ein hohes zeitliches Pensum, das die Aktualität der beschriebenen Ereignisse nur bedingt gewährleisten kann. Sacco bedient sich des Comic Journalismus insoweit, als dass er besonders durch die erschreckend realitätsnahe Darstellung des Bosnienkrieges und deren Akteure die Geschehnisse wiedergibt. Dadurch entfernt er sich von etwaigen Berichterstattungen der Medien, die nicht die Schicksale des Einzelnen ins Auge fassen. Besonders für die Darstellung des Bosnienkrieges ist eine wertfreie und wirkliche Darbietung wichtig, um die schwierige Stellung einiger Städte, und im besonderen von Goražde, darzulegen und von unscharfen medialen Produkten Abstand zu nehmen, im Versuch diese weitergehend zu relativieren und aufzuklären.

Zusammenfassung Joe Sacco recherchiert einen Monat in Goražde, ist insgesamt fünf Monate in Bosnien und arbeitet dreieinhalb Jahre an der amerikanischen Erstausgabe, die 2010 unter dem deutschsprachigen Titel Bosnien erschienen ist. Er entwickelt aus der Nachricht vom Krieg einen 227-seitigen Bericht über das Leben der Menschen in der bosnischmuslimischen Enklave. Durch seine gewählte Perspektive gibt Sacco einen Einblick in die Situationen, die die herkömmlichen Medien nicht erbringen können: Anstatt große und teilweise inszenierte Kriegsplätze zu zeigen, deckt er gerade den Mikrokosmos Goražde mit all seinen Individuen und deren Einzelschicksalen auf, was neu und anders ist als die bisherige Kriegsliteratur und -dokumentation. Joe Sacco ist es ein Anliegen, nicht einen Gesamteindruck über die politische Lage und die Kriegsverluste sowie deren -folgen zu schildern, für ihn sind die Einzeldokumentationen viel gehaltvoller. Der Journalist fokussiert Emotionen, stellt die Menschen mit ihrer Mimik und Gestik in den Vordergrund. Die Interviewpartner sprechen in seinen Dokumentationen den Leser ohne Zwischeninstanz an. Wo er die Menschen Goraždes detailliert zeichnet und in Nahaufnahmen darstellt, bleibt seine Figur im Hintergrund, ist nur dabei, niemals Handlungsträger, und wirkt immer ein wenig liebloser gestaltet. Er schreibt und gestaltet differenziert und kritisch, unterscheidet zwischen persönlichen Erlebnissen und den Berichten der Einwohner Goraždes und bleibt stets realistisch, aufklärerisch und neutral. Sacco verharmlost nicht und schildert keine überspitzten Storys, von einer Positionierung oder gar Parteiergreifung sieht er vollkommen ab, äußert aber immer wieder sachlich seine Meinung, lässt sie beiläufig mit einfließen in die Gespräche mit den Bosniern. Insgesamt entsteht durch die gewählte Erzählhaltung eine Subjektivität, die weder Authentizität noch Sachlichkeit auszuschließen versucht. Sacco skizziert eine Vielfalt an Facetten in Form von individuellen Erfahrungsberichten – von der Bildungsarmut über Mordszenarien auf den Brücken über die Drina, den Minizentralen, Verluste von nahen

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Angehörigen und den Zuständen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen bis hin zu tagtäglichen Vergewaltigungen an wehrlosen Frauen sowie den langen und tödlichen Märschen nach Grebak, um der Lebensmittelknappheit und dem Hungertod zu entkommen. Nur sie zeigen realistisch, wie sich der Krieg anfühlt. Saccos direkte Sprache beschönigt kein Ereignis, ist der Situation angemessen und kann zwischen ernstem Ton, umgangssprachlichem Ausdruck und humorvollem Witz wechseln. Direkte Reden und Zitate aus öffentlichen Diskussionen und politischen Verhandlungen steigern die Authentizität weiterhin. Dass an keiner Stelle ein Serbe angeklagt wird, bloß aufgrund seiner Herkunft, zeigt Saccos differenzierte Haltung. Er vermeidet es, alle Serben und alle Bosnier über einen Kamm zu scheren, distanziert sich also klar von jeglicher Art der Propaganda oder Meinungsmanipulation. Ebenso grenzt er sich bewusst von den üblichen Medienberichten ab und möchte eben keine vorgeformten Bilder konstruieren, die von den Medien so erwartet werden. Er berichtet über den Alltag der Beteiligten des Konflikts. Die Wirkung des Werkes Bosnien in englisch- und deutschsprachigen Onlineund Printmedien46 zeigt, dass sich vorwiegend durchweg positive Rezensionen finden. In den Artikeln werden vor allem die realistische Darstellung der Auswirkungen auf die Einwohner Goraždes, die größtenteils eher parteilose Schilderung der Ereignisse und die passend gewählte eigene untergeordnete Rolle Saccos im Comic selbst hervorgehoben. Ebenso werden der reflektierte Umgang mit den Berichterstattungen anderer Journalisten und die klare Distanzierung Saccos bezüglich einer solchen Realitätsverzerrung deutlich. Die meisten Verfasser der Artikel kommen zu dem Urteil, dass es sich um eine äußerst gelungene, sachliche, aber dennoch unterhaltsame und nicht-idealisierte Darstellung des Bosnienkrieges mit seiner ganzen Fülle an Individualität der Menschen handelt. Aufgrund seiner Werke über einige der zentralen militärischen Konflikte der letzten zwanzig Jahre gilt er wohl als bedeutendster Comiczeichner der heutigen Zeit47, was sicherlich auch mit Saccos Blickwinkel auf die Geschehnisse und mit der Fokussierung auf die Individuen hinter dem Krieg zusammenhängt. 46 Folgende Artikel wurden berücksichtig: Marco Behringer. »Comic-Report zum Bosnien-Konflikt«. www.textem.de, 2010, www.textem.de/index.php?id=2139 (letzter Zugriff am 30.11.2017); Michael Brake. »Diese Leute, dieser Scheißkrieg«. Die Zeit, 23.09.2010, www.zeit.de/kultur/ literatur/2010-09/joe-sacco-bosnien (letzter Zugriff am 28.11.2017); Sven Jachmann. »Gegen die Ordnung des Erzählens«. www.taz.de, 22.03.2011, www.taz.de/!5124305/ (letzter Zugriff am 30.11.2017); Joe Sacco: Bosnien«. Highlightzone, 16.12.2016, comic.highlightzone.de/joe-saccobosnien/ (letzter Zugriff am 29.11.2017); Brigitte Preissler. »Das rauschende Fest am Rand des Todes«. Die Welt, 21.09.2010, www.welt.de/welt_print/kultur/article9770754/Das-rauschende-Festam-Rand-des-Todes.html (letzter Zugriff am 28.11.2017); David Rieff. »Bosnia beyond Words«. The New York Times, 24.12.2000, www.nytimes.com/2000/12/24/books/bosnia-beyond-words.html (letzter Zugriff am 28.11.2017). 47 Vgl. Daniel Worden. The comics of Joe Sacco. Journalism in a Visual World. Mississippi: University Press, 2015.

Viktoria Borchling, Lena Dust, Christina Geers

Kriegszeiten Eine grafische Reportage über Soldaten, Politiker und Opfer in Afghanistan

Dieses Comic soll dabei helfen, die Wahrheit zu sehen.1 Die Graphic Novel Kriegszeiten wurde von David Schraven geschrieben, der als Journalist für die taz, die Süddeutsche und die Neue Zürcher Zeitung arbeitete. Außerdem initiierte er die Gründung des Nachrichtenbüros Zentralasien/Kirgisien.2 Bei der grafischen Reportage handelt es sich um eine chronologische Abfolge der Kriegsgeschehnisse in Afghanistan. Die Graphic Novel ist in verschiedenen Ich-Perspektiven verfasst. Die Hauptperspektive stellt die Sicht des Autors David Schraven dar, mit der begonnen wird. Gleichzeitig treten mehrere Augenzeugen auf, die ihre Sicht auf die Geschehnisse schildern. Diese Berichte sind ebenfalls in einer Ich-Perspektive geschrieben. Im gesamten Comic werden ausschließlich Camouflagefarben verwendet, die an die militärische Tarnkleidung der Bundeswehr erinnern. Dadurch wird die Sichtweise des Militärs auf den Krieg unterstützt und dem Rezipienten bereits optisch die militärische Thematik suggeriert. Die gedeckten Farben zeigen die Ernsthaftigkeit der Situation. Die Graphic Novel stellt einen Versuch dar, den Soldaten eine unverfälschte Stimme zu geben und grenzt sich somit von der klassischen Berichterstattung ab.

1 David Schraven. Kriegszeiten – Eine grafische Reportage über Soldaten, Politiker und Opfer in Afghanistan. Hamburg: Carlsen, 2012, Teil 3, 42. 2 Vgl. www.zeit.de/kultur/literatur/2013-01/david-schraven-kriegszeiten, Stand: 14.03.2018.

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Cover Das Cover von Kriegszeiten – Eine grafische Reportage über Soldaten, Politiker und Opfer in Afghanistan zeigt die beiden Türme des World Trade Centers in New York City, kurz bevor ein sich näherndes Flugzeug diese zerstört. Durch den Anschlag wird in die Thematik des Afghanistankrieges eingeführt, denn er ist Auslöser für diesen Krieg.3 Die Rückseite des Covers und der Klappentext weisen darauf hin, dass die Geschehnisse aus Sicht der deutschen Politik und Bundeswehr geschildert werden. Durch vier Zitate auf den ersten Seiten wird die Authentizität des Buches gestützt. Hier finden sich Aussagen von wichtigen deutschen Politikern. Die ersten beiden Zitate sind Stellungnahmen, die kurz nach dem Anschlag vom 11. September geäußert wurden. Hierbei wird deutlich, dass Deutschland den Amerikanern uneingeschränkte Unterstützung zusagt. Des Weiteren ist das Ziel eine erneute Sicherstellung von Frieden und Ordnung. Die beiden anderen Beiträge von Guido Westerwelle und Dirk Niebel wurden zehn Jahre nach Kriegsbeginn getroffen. Sie beschreiben den Krieg als gewinnbringenden und erfolgreichen Einsatz im Kampf gegen radikale Gruppierungen. Auf der nächsten Seite wird ein anderer Blickwinkel auf den Afghanistankrieg geäußert. Margot Käßmann als Vertreterin der evangelischen Kirche äußert sich an Heiligabend 2009 kritisch: »Nichts ist gut in Afghanistan.« Diese Stellungnahmen zeigen eine ambivalente Sichtweise auf den Krieg und verdeutlichen, dass der Krieg nicht nur die Politik, sondern jeden Menschen betrifft. Die daran anschließende Doppelseite zeigt eine grafisch dargestellte Kriegssituation. Drei Soldaten befinden sich in einem Schützengraben vor einer Bergkette. Durch diese kann die Situation erneut in Afghanistan verortet werden. Die kämpfenden Soldaten sind bewaffnet und tragen Uniform. Am Ende der Reportage folgt ein abschließendes Zitat vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau vom 14. September 2001 in Berlin: »Hass darf nicht zum Hass verführen. Hass blendet.« Diese Aussage kritisiert die Reaktion auf den Anschlag durch das Militär. Wenn Hass mit Hass bekämpft wird, beginnt eine Gewaltspirale, die nicht gewonnen werden kann.

Teil 1 – Aufmarsch Der erste Teil der grafischen Reportage trägt den Titel »Aufmarsch« und beschäftigt sich mit den Jahren 2001 und 2002. Begleitet wird dieser durch ein Zitat von Peter Struck, dem damaligen Verteidigungsminister und SPD-Politiker: »Unsere 3 Vgl. www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/235010/2001-afghanistan-krieg, Stand: 27.03.2018.

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Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt.« Diese Äußerung aus einer Bundestagssitzung verdeutlicht die Notwendigkeit und die Rechtfertigung eines deutschen Bundeswehreinsatzes in Afghanistan.4 Der Einstieg in das Kapitel wird durch die Wiederholung des Titelbildes vorgenommen. Bereits durch das erste Textfeld zum Splashpanel wird die IchPerspektive des Autors eingeführt. Dass es sich bei der Ich-Perspektive um die Sicht des Autors handelt, wird auf den nachfolgenden Bildern deutlich, auf denen David Schraven selbst abgebildet ist. Die Szene wird als Augenzeugenbericht verfasst, wodurch der Leser direkt am Geschehen beteiligt ist und eine sowohl subjektive als auch emotionale Haltung eingenommen werden kann. Einige Panels kommen ganz ohne Text aus, da ihre Aussagekraft für sich spricht. Die Darstellung stellt, wie durch den Untertitel »Reportage« bereits vermutet werden kann, die ungeschönte Realität des Anschlags vom 11. September 2001 dar. Durch das Erwähnen unterschiedlicher Nationen (4) wird verdeutlicht, dass der Terror und daraus entstehende Kriege die gesamte Welt und ihre Bevölkerung betrifft. Gestützt wird diese Annahme durch eine metaphorische Deutung des Staubes der Türme, der alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft bedeckt (5). Aufgrund der Multikulturalität in New York fühlen sich viele verschiedene Nationen emotional betroffen, wodurch eine weltweite Anteilnahme entsteht. Vorher wichtige Aspekte wie Macht, Aktien und Geld erscheinen plötzlich wertlos und die Welt verfällt in eine ›Schockstarre‹ (6). Eine anfängliche Ratlosigkeit weicht dem Bewusstsein, einer Gegenreaktion Amerikas, die drastisch ist (7: »In den nächsten Wochen werden wir ein ganzes Land auslöschen«). Unterstützt wird diese Aussage durch ein Heranzoomen an die nüchternen Gesichter zweier Gesprächspartner. Ein Fremder tätigt die Aussage gegenüber dem Autor, der die Rolle des Zuhörers einnimmt und den Leser in der Situation spiegelt. Die Vorausdeutung des Krieges wird auf den nächsten Seiten bestätigt (8f.). Der Krieg beginnt euphorisch, einige melden sich freiwillig, dennoch bleiben im Hinterkopf der Menschen einige ungeklärte Fragen: »Wer wird sterben?«, »Was macht der Feind?«, »Wie sieht der Sieg aus?« (10). Für den Autor mit deutscher Herkunft stellt sich die Frage, welche Folgen dies für Deutschlands mit sich bringt. Nach der Einführung in die Thematik und die Ursache des Krieges folgt ein Zeitsprung, der die Frage des Autors direkt beantwortet: »Heute führt die NATO seit über zehn Jahren Krieg in Afghanistan.« (12) Dieser Zeitpunkt ist das Veröffentlichungsdatum des Comics im Jahr 2012. Die Aussagen der Politiker leiten die Entscheidung der Beteiligung Deutschland am Einsatz in Afghanistan ein. Hier werden originale Äußerungen von Gerhard 4 Vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/bundeswehr-die-groesste-friedensbewegung-deutschlands-1146197.html Stand 19.3.2018.

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Schröder und Peter Struck gewählt, um den Eindruck einer realistischen Berichterstattung zu stärken. Durch diese Aussagen wird der Anfang des Einsatzes wieder aufgegriffen und die chronologische Reihenfolge des Krieges fortgesetzt (12). In den folgenden Panels werden Auszüge aus dem Geschehen in Afghanistan gezeigt. Die Berichterstattung in den Medien ist marginal und wird von anderen banalen Themen überschattet. Dementsprechend ist das Leid der Soldaten vielen Menschen nicht präsent, obwohl bereits zu dem Zeitpunkt über 50 Soldaten gefallen sind (14–16). Aus diesem Informationsdefizit ergibt sich für den Autor die Notwendigkeit, selbst zu recherchieren. Dafür wird zunächst ein Interview mit dem Hauptfeldwebel Gerd Thomas angeführt, der seine Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Autor teilt. Durch diese Schilderung erhält der Rezipient einen direkten Einblick in die Situation der Betroffenen, wodurch sie eine Identität erhalten und aus der medialen Anonymität heraustreten. Die nachfolgenden Seiten vermitteln durch die Verwendung von Zitaten in den Textfeldern den Eindruck eines ungeschönten und ungefilterten Tatsachenberichtes, den man durch die Vermittlung der Medien nicht erhält (18–26). Er berichtet vom Camp Warehouse,5 einer Militärbasis in Kabul, die von der Bundeswehr als Stützpunkt benutzt wird. Generell wird eine friedliche und ruhige Situation geschildert (18–25). Gerd Thomas berichtet von geheimen Geldübergaben und über eine ungerechte Verteilung des Geldes (26). Diesem Korruptionsvorwurf geht der Autor nach und recherchiert die Zusammenhänge und Machenschaften der Länder, die sich für Geld mieten lassen (27). Um zu verdeutlichen, dass diese Bestechungen geheim ablaufen, werden lediglich Schemen von Menschen dargestellt (27f.). Der Begriff des Mietens impliziert, dass die Länder für Geld alles tun und Zugehörigkeit und Unterstützung auf Zeit gekauft werden können. Zuletzt folgt die rhetorische Frage, wen die Deutschen mieten, die durch die symbolische Darstellung einer Deutschlandfahne im Geldregen unterstützt wird. Die Zahlungen Deutschlands sollen der Unterstützung und der Sicherheit dienen. Allerdings werden die Zahlungen an Regierungen, an Warlords und möglicherweise korrupte Firmen getätigt, wodurch es zu hinterfragen gilt, ob die Zahlungen ihren Zweck erfüllen. Ein weiteres Interview führt Schraven mit dem Feldjäger Klaus Degenhardt. Er schildert seine Aufgaben, die aus der Sicherung der Lager, der Verhinderung von Diebstählen und der Tatortuntersuchung bestehen. Diese Aufgabe der Diebstahlvermeidung wird bildlich parodiert, indem gezeigt wird, dass ein Diebstahl eines Snickers durch Waffengewalt verhindert wird (30). Dadurch entsteht der Eindruck, dass schwer zwischen schützenswerten und marginalen Dingen unterschieden werden kann. Verpackt als Entwicklungshilfe, laufen die Bemühungen der Bundeswehr ins Leere, wie durch das darauf folgende Interview mit dem Infanterist Dirk Koszinski 5 Vgl. www.welt.de/print-welt/article312986/Camp-Warehouse.html, Stand: 27.03.2018.

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deutlich wird. Kritisiert wird der Einsatz von zahlreichen deutschen Soldaten, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um Arbeiten zu erledigen, die sofort wieder von der Taliban zerstört werden. Die Taliban kennt die Aufenthaltsorte der Bundeswehr, weshalb diese sich schwer schützen kann (34–37). Das letzte Interview des ersten Teils führt Schraven mit dem Hauptmann Reiner Siegmann. Dieser berichtet davon, dass das Ziel des Einsatzes der Bau von Schulen und der Aufbau einer inneren Staatssicherheit sind. Kritische Aspekte und Fehlschläge dringen trotz informierter Bundeswehrführung nicht bis ins Parlament vor (38f.). Der Hauptmann hinterfragt den Erfolg des Einsatzes. Augenscheinlich scheinen die Hilfen für das Land positiv, aber bewirken im Großen und Ganzen keine neue Strukturierung des Landes. Es wird über die Rechte der Menschen hinweggegangen und wahllos Personen Macht zugesprochen, ohne deren Absichten zu kennen (41f.). Als ein weiterer Krieg im Irak in den Fokus rückt, wird es in Afghanistan augenscheinlich ruhiger. Hinweis, um welchen Krieg es sich handelt, gibt das Panel eines Monuments, welches in Bagdad 1989 errichtet wurde und als Schwerter von Kadesia bekannt ist (43).6 Obwohl es oberflächlich betrachtet ruhiger wird, verschlechtert sich die Lage weiter. Diese Beschreibung erfolgt im zweiten Teil.

Teil 2 – Festgefahren Der zweite Teil der grafischen Reportage trägt den Titel »Festgefahren« und wird durch ein Zitat von Angela Merkel eingeleitet: Der Kampfeinsatz der Bundeswehr zusammen mit unseren Partnern im Nordatlantischen Bündnis in Afghanistan ist notwendig. Er trägt dazu bei, die internationale Sicherheit, den weltweiten Frieden und Leib und Leben der Menschen hier in Deutschland vor dem Übel des internationalen Terrorismus zu schützen.

Diese Aussage stammt vom 8. September 2009, als sie sich in ihrer Regierungserklärung zu den Ereignissen in Afghanistan geäußert hat.7 Dem Inhalt des Zitates wird im folgenden Teil durch Tatsachenberichte widersprochen. Das Kapitel beginnt mit den Ereignissen vom 7. Juni 2003: Ein Selbstmordattentäter sprengt einen ungeschützten Bus, wobei vier Menschen sterben. Dass

6 Vgl. www.heise.de/tp/features/Der-Daumen-der-Macht-3405341.html, Stand: 27.03.2018. 7 Vgl. www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Regierungserklaerung/2009/2009-09-08-regerkl-­ merkel-afghanistan.html, Stand: 15.11.2017.

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der Anschlag tatsächlich stattgefunden hat, wird durch einen Bericht des Spiegels bestätigt.8 Die Bedeutung dieses Ereignisses spiegelt sich darin wider, dass der Anschlag als Splashpanel abgebildet wird. Auf der fünften Seite des Kapitels wird deutlich, dass es sich bei den Ausführungen zum Anschlag um einen Augenzeugenbericht von Hauptfeldwebel Gerd Thomas handelt. Dieser berichtet bereits im ersten Kapitel von seinen Erlebnissen in Afghanistan. Gerd Thomas erinnert sich an einen nicht offiziell bestätigten Vorfall mit einem angsterfüllten Stabsarzt, der zum Einsatz gezwungen wurde. Darin wird die Überraschung der Soldaten über den Anschlag offenbar. Nach diesem ändert sich die Situation, die sich in eine explosive Stimmung zwischen Deutschen und Afghanen verwandelt. Auswirkungen hatte dieses Ereignis auch auf den Freigang der deutschen Soldaten, der nach dem Anschlag eingeschränkt wurde (6). Die Panels, die sich mit dem Anschlag befassen, sind mit einem braun-roten Himmel versehen. Dieses ist eine Anspielung auf die Redensart »Der Himmel verfärbte sich rot«, durch die gefallene Soldaten symbolisiert werden. Auf Seite 7 springt die Handlung in die »Gegenwart« an den Schreibtisch des Journalisten David Schraven. Die folgenden Panels zeigen eine Metaperspektive auf die Ergebnisse der Recherchen Schravens zum Afghanistankrieg. Sie bezeugen einen Stillstand der Lage in Afghanistan: andauernde Korruption, Drogengeschäfte der Regierung und gefälschte Wahlen. Diese Missstände sollen unter dem Deckmantel des Westens stehen. Symbolisch dafür ist eine deutsche ISAF-Uniform abgebildet. Die ISAF ist eine internationale Schutztruppe (International Security Assistance Force), an der auch die Deutschen beteiligt sind. Ihre Aufgaben bestehen aus der Sicherung und Unterstützung des Landes, um einen funktionierenden Staat aufzubauen.9 Die Missstände, wie beispielsweise die Korruption der Regierung in Afghanistan werden in Sekundärquellen bestätigt.10 Im deutlichen Kontrast zu den Missständen und zu den mit ernster Miene dargestellten Soldaten wird auf Seite acht die lächelnde und applaudierende deutsche Führung abgebildet: Angela Merkel und Verteidigungsminister Jung. Sie sind auf der zweiten Seite der Doppelseite abgebildet und schauen plakativ nach rechts, weg von der linken Seite der Doppelseite, wo die von Schraven aufgedeckten Missstände angeführt sind. So wird das absichtliche »Wegschauen« und Decken der Zustände

8 Vgl. www.spiegel.de/politik/ausland/afghanistan-vier-bundeswehr-soldaten-getoetet-a-252046. html, Stand: 13.03.2018. 9 Vgl. www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/197874/das-ende-der-isaf-mission-in-afghanistan-16-12-2014, Stand: 13.03.2018. 10 Vgl. Markus Gauster. »Zehn Jahre Krisenmanagement in Afghanistan – eine Bilanz«. Walter Feichtinger et al. (eds.). Wege und Irrwege des Krisenmanagements. Von Afghanistan bis Südsudan. Wien: böhlau, 2014, 93.

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dargestellt. Im unteren Bereich der Seite ist ein deutscher Schützengraben vor einer Bergkulisse in Afghanistan zu sehen. Die Blickrichtung der deutschen Regierung richtet sich auch in diesem Fall nicht auf die Soldaten und die gegenwärtige Lage in Afghanistan, sondern würdigt die Soldaten keines Blickes und lässt sie im Stich. Geschlossen werden die Blicke in die andere Richtung gelenkt und der schöne Schein von Entwicklungshilfe aufrecht erhalten. Besonders Seite 9 kritisiert den Umgang der Regierung mit dem Afghanistankrieg. Hier wird der Krieg vor dem Hintergrund der deutschen Innenpolitik betrachtet. Dabei werden der Krieg und damit auch die toten deutschen Soldaten gleichgesetzt mit innenpolitischen Angelegenheiten wie der Schließung von Zechen. Das Panel stellt den Tod im Kontrast zu den dagegen marginal erscheinenden innenpolitischen Entscheidungen dar. Die grafische Darstellung des Krieges und der toten Soldaten geht über den Panelrand hinaus. Dieses symbolisiert die über Deutschland hinausgehende Bedeutung des Krieges. Die Vorstellung der Rechercheergebnisse des Journalisten geht auf Seite 10 über in seine eigenen Erfahrungen, die er bei einem Aufenthalt im Afghanistankrieg sammeln konnte. Dadurch gewinnen Schravens Ausführungen an Authentizität, denn er verlässt sich nicht nur auf Augenzeugenberichte, sondern macht sich selbst ein Bild von der Lage. Er besucht die Stadt Masar-e-Sharif im Norden Afghanistans. Das Stadtleben wird als ruhig und friedlich dargestellt. Im Kontrast dazu steht der Panzer auf den Straßen der Stadt, der die Kriegssituation präsent hält (11). Der im ersten Teil auf Seite 29 geäußerte Korruptionsverdacht wird nun erneut aufgegriffen und durch die Person Muhammed Atta personalisiert. Muhammed Atta ist zu der Zeit Gouverneur11 von Masar-e-Sharif und dominiert Polizei, Militär, Justiz und Wirtschaft. Durch die Landkarte im Hintergrund wird sein großer Einflussbereich visualisiert. Er hat Einfluss über Leben und Tod von Usbeken, Tadschiken und Paschtunen, was ihm viele Feinde einbringt. Die Aussagen des Textes werden grafisch durch die übergroße Darstellung Attas gegenüber anderen Volksvertretern unterstützt (12). Die bereits erwähnte innere Staatssicherheit wird auf Seite 13 erneut aufgegriffen. Die Afghanen werden zu Polizisten ausgebildet. Symbolisch dafür steht ein Playmobil-Männchen in Polizeiuniform. Das Männchen verdeutlicht einen Kritikpunkt an der Situation. Die Afghanen sollen handeln, wie die Deutschen es wünschen und ihnen beibringen. Sie funktionieren wie Figuren, die nicht selbst nachdenken und reflektieren. Durch unterschiedliche Bilder wird deutlich gemacht, dass äußerliche Veränderungen und durchgeführte Maßnahmen keinen Nährwert mit sich bringen

11 Vgl. www.fr.de/politik/afghanistan-gouverneur-fordert-kabul-heraus-a-1411479, Stand: 13.03.2018.

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und Probleme im Kern nicht behoben werden. Dafür steht beispielsweise das alte »Scheisshaus« im ansonsten sanierten Polizeirevier (14). Im Feldlager Camp Marmal12 haben die Soldaten eine Rückzugsmöglichkeit. Schraven bedient sich landestypischer Stereotypen: die Deutschen trinken Bier, die Amerikaner Cola und die Kroaten Schnaps. Eine ironische Darstellung ist der Einkauf von Souvenirs in einem Supermarkt, wodurch der Eindruck erweckt wird, die Soldaten seien im Urlaub (16). Die nächste Doppelseite zeigt, dass die Bedrohung allgegenwärtig ist, jedoch durch die schöne Natur und dem eingefahrenen Alltag leicht vergessen werden kann. Trotz fehlender Auseinandersetzungen ist der Frieden noch fern (19: »Aber keine Schießereien im Moment machen noch keinen Frieden…«). Obwohl der Krieg eine Bedrohung darstellt, ist er auf der anderen Seite ein lukratives Geschäft für die Menschen in Masar-e-Sharif, da so Entwicklungshilfe und Geld ins Land gebracht wird. Diese lukrative Sichtweise kann durch Sekundärliteratur gestützt werden, die von einer solchen gewinnbringenden Situation berichtet.13 Hauptmann Paul Gronzky erklärt die Professionalisierung der Taliban. Er berichtet von Hinterhalten und verbesserter Ausrüstung. Zur Untermalung wird der Hintergrund erneut rot-braun gefärbt. Gronzky offenbart außerdem strategische Probleme: Schlechte Straßen, sodass die Verstärkung zu lange braucht, um den Soldaten, die in einen Hinterhalt geraten sind, zu helfen, sodass auf Hilfe aus der Luft gewartet werden muss (20f.). Der Krieg muss zugunsten innenpolitischer Interessen zurückstecken. Verteidigungsminister Jung (von 2005 bis 2009)14 fordert keine Aufsehen erregenden Vorkommnisse, wodurch die Situation festgefahren ist. Dadurch, dass die Soldaten nur noch in Panzern oder gar nicht mehr die Lager verlassen dürfen, herrscht Langeweile. Diese wird durch die gleichmäßige Anordnung der Panels und die gelangweilten Gesichter auf Seite 22 untermauert. Das letzte Panel der Seite stellt dieses Vorgehen infrage: »Macht das Sinn?«. Damit kann außerdem das einführende Zitat von Angela Merkel in Frage gestellt werden: Wie sollen die Soldaten aus dieser Ausgangslage heraus für Sicherheit und Frieden sorgen? Die nachfolgende Doppelseite beschreibt den Bombenangriff auf die von den Taliban entführten Tanklaster im Kunduzriver vom 4. September 200915 und seine innenpolitischen Folgen. Die Langeweile mündete in einer Entscheidung, bei der

12 Vgl. www.bundeswehr-journal.de/tag/camp-marmal/, Stand: 27.03.2018. 13 Vgl. www.fr.de/politik/afghanistan-gouverneur-fordert-kabul-heraus-a-1411479, Stand: 13.03.2018. 14 Vgl. www.franz-josef-jung.de/biographie, Stand: 13.03.2018. 15 Vgl. www.bild.de/politik/2010/bild-serie-teil-eins-die-bittere-liste-der-material-maengel-13021992. bild.html, Stand 19.03.2018.

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fast 100 Menschen, darunter auch Zivilbevölkerung,16 starben. Es wird deutlich, dass diese Kampfhandlung die erste Offensivaktion Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg ist. Der Text der Panels ruft dazu auf, das Geschehen vor dem Hintergrund der Ausgangssperre der Soldaten, der ihnen innewohnenden Angst und der extremen Sicherheitsvorkehrungen zu betrachten. Weiter zeigt der Text der Panels einerseits Verständnis für die Entscheidung des Bombardierens, was an der Aufzählung abzulesen ist, welche Einflüsse auf die Entscheidung gewirkt haben. Diese Einflüsse gingen nicht allein von den Entscheidungen der Soldaten aus, sondern auch von der deutschen Politik, die von den Soldaten einen risikofreien Einsatz erwartete. Andererseits wird die Bombardierung eindeutig als Fehler charakterisiert. Dies zeigt sich anhand der hohen Opferzahl, worunter viele Zivilisten fallen, und an der vorhandenen Infragestellung des Angriffs seitens der Amerikaner. Die nächste Seite der Doppelseite beginnt mit einem Zeit- und einem Ortswechsel. Das Panel zeigt die Reaktion des deutschen Bundestages auf den Anschlag: den Rücktritt von Minister Jung. Der Rücktritt ist auf den 27. November 2009 zu datieren.17 Passend zum Inhalt des Textfeldes wird ein Bild des Untersuchungsausschusses dargestellt. Dieser beginnt am 21. Januar 2010 mit seiner Arbeit.18 Außerdem wird die Frage aufgeworfen, wieso noch Krieg herrsche, obwohl die deutschen Soldaten schon seit so langer Zeit im Einsatz seien. Dann wird der deutschen Regierung vorgeworfen, dass sie den Vorfall im Einzelnen untersuche, aber nicht den Krieg an sich. Hier wird erneut ersichtlich, dass die deutsche Regierung nicht den Blick auf das Ganze wirft und eine umfassende Strategie in diesem Krieg fehlt. Die letzte Seite des Kapitels wirft einen neuen Blick auf die Talibankämpfer und bringt ihnen ein gewisses Maß an Verständnis entgegen. Viele Paschtunen schließen sich der Taliban an aus dem Grund, dass ihre Dörfer mit Todesschwadronen terrorisiert werden. Diese, so sagen sie, seien vom Gouverneur Muhammed Atta, der vom Westen unterstützt wird und ein Tadschike, ein Feind der Paschtunen, ist, geschickt worden. Dieser sei für die vom Westen unterstützen Todeslisten verantwortlich. Diese Machtlosigkeit drängt vermeintlich Unbeteiligte zu den Taliban, ohne, dass sie sich aktiv dafür entscheiden. Die Schuld dafür wird der Regierung und Muhammed Atta gegeben. Diese Schlussszene des zweiten Teils wirft die Frage auf, wie der Westen ein solches Todesregime unterstützen kann (25).

16 Vgl. www.daserste.de/unterhaltung/film/eine-moerderische-entscheidung/chronologie/index.html, Stand: 17.03.2018. 17 Vgl. www.daserste.de/unterhaltung/film/eine-moerderische-entscheidung/chronologie/index.html, Stand: 17.03.2018. 18 Vgl. ebd., Stand: 17.03.2018.

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Teil 3 – Krise Der dritte Teil, der die Überschrift »Krise« trägt, steigt mit einem Zitat von Angela Merkel ein, welches sie im Rahmen einer Pressekonferenz am 26. November 2009 geäußert hat: »Die Mission ist zu Ende, wenn die Afghanen in der Lage sind, ihre eigene Sicherheitslage zu kontrollieren und ihr Land zu regieren.«19 Die Bundeskanzlerin spricht in ihrer Stellungnahme nicht von Krieg, sondern von einer Mission. Dies vermittelt den Eindruck, dass die deutschen Soldaten für Schutz und Aufbaumaßnahmen nach Afghanistan geschickt werden und nicht für kriegerische Auseinandersetzungen. Sie verharmlost und beschönigt die Situation und stellt das Negative nicht explizit heraus. Schraven thematisiert die Londoner Konferenz von 2009, bei der die festgefahrene Situation in Afghanistan angesprochen wird. Es wird nach einer Strategie gesucht, das Gesicht zu wahren und sich eine Niederlage nicht einzugestehen.20 Aus den Textfeldern kann entnommen werden, dass der Autor der Zielsetzung der Konferenz negativ gegenübersteht. Beispielsweise spricht er von einer Strategie in Anführungszeichen und der negativ konnotierten Wendung »aus dem Staub machen« (1). Das Bild der Konferenz ist ein Splashpanel, während einzelne kleinere Panels darauf positioniert sind. In diesen Panels befinden sich Politiker, die sich vor dem Hintergrund der Tagung äußern und ihre Ergebnisse präsentieren (1). Die bisherigen Bemühungen sollen weiter fortgeführt werden: Beschulung, Ausbau der Infrastruktur, Polizeiausbildung. In diesem Zusammenhang wird von »zählbaren Erfolgen« (2) gesprochen, was darauf hindeutet, dass die Länder Erfolge erzielen wollen, die handfest sind und ihnen positive Presse verschaffen. Auch hier wird wieder deutlich, dass nicht das große Ganze, sondern kleinere positive Resultate im Vordergrund stehen (2). Das afghanische Militär soll weiterhin von der ISAF gestärkt und ausgebildet werden, damit es seine eigenen Kämpfe führen kann. Die Politiker wollen sich mit diesen Erfolgen profilieren, indem sie die Verantwortung den neu aufgebauten Streitkräften übertragen. Das Panel auf der unteren Hälfte der Seite wird durch einen Fernseher gerahmt, wodurch die Profilierung der Politiker mit dem Afghanistankrieg dargestellt werden soll. Problemlösungen stehen nicht im Vordergrund, sondern die Inszenierung vor der Presse und der deutschen Bevölkerung. Damit werden die Beschlüsse der Londoner Konferenz umgesetzt (3). Außerdem wird Kritik gegenüber innenpolitische Entscheidungen geäußert, die eine Diskrepanz

19 Vgl. www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Mitschrift/Pressekonferenzen/2009/ 11/2009-11-26-pressestatement-merkel-rasmussen.html Stand: 14.03.2018. 20 Vgl. Klaus Brummer, Stefan Fröhlich. Zehn Jahre Deutschland in Afghanistan. Zeitschrift für Außenund Sicherheitspolitik – Sonderhefte. Wiesbaden: VS Verlag, 2013, 17.

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zum tatsächlichen Bedarf in Afghanistan darstellen. Belegt wird dies mit offiziellen Dokumenten, wodurch die Aussagen authentisch erscheinen sollen (4). Ende Oktober 2010 soll die Friedensmission durch die Operation Halmazag umgesetzt werden. Diese von den Deutschen geplante und durchgeführte Offensive ist die erste nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie löst seitens der Afghanen den Vorwurf aus, Kriegsverbrechen begangen und vertuscht zu haben.21 Während der Operation werden Aufständische zunächst mit schweren Geschützen vertrieben, und die Deutschen greifen somit zum ersten Mal aktiv ins Geschehen ein. Dies wird auf den Seiten fünf bis dreizehn bildlich veranschaulicht. An dieser Stelle der Graphic Novel wird besonders deutlich, wie langwierig ein Einsatz sein kann. Es scheint, als wären die letzten neun Jahre ungenutzt geblieben. Der Rezipient bekommt im Folgenden einen Einblick in die Verhandlungen zwischen der afghanischen Zivilbevölkerung und deutschen sowie afghanischen Offizieren. Diese werden unmoralisch und erschreckend dargestellt. Die Bevölkerung hat die Wahl zwischen Strom und Infrastruktur oder einer Herrschaft der Taliban. Die Regierung macht sich die Verhandlung einfach und versucht mit einfachen, aber erfolgsversprechenden Mitteln wie beispielsweise Fernsehanschlüssen ans Ziel zu kommen. Sie nutzen die Luxusbedürfnisse der Menschen aus und halten sie somit fern von der Taliban (14). Die Seite 17 zeigt detailliert eine Kampfszene. Die Relevanz wird anhand des Splashpanels deutlich. Die Textfelder betonen die Präsenz des Feindes und die aktive Kampfhandlung der Soldaten. Der Himmel erscheint blutrot, was ein Zeichen für viele Opfer darstellt. Außerdem ist ein Soldat in Nahaufnahme zu sehen, der mit einer Waffe schießt. Anhand der Flagge auf seiner Uniform kann man den Soldaten als Deutschen identifizieren. Die nachfolgenden Panels thematisieren den weiteren Verlauf des Kampfes. Dass es sich um dieselbe Situation handelt, kann aufgrund der identischen Farbverwendung geschlossen werden. Diese Szene wird von einem Hauptgefreiten als Augenzeugen berichtet. Durch seine Schilderungen kann der Rezipient emotional an der Kampfhandlung teilhaben (18–23). Im Kontrast dazu steht die Aussage im Textfeld auf Seite 24, in der gesagt wird, dass die Öffentlichkeit den Einsatz kaum wahrnimmt. Dadurch wird dem Leser bewusst, was der deutschen Bevölkerung an Informationen vorenthalten wird. Der Leser erfährt, dass er in seiner Meinungsbildung eingeschränkt wird, wodurch eine emotionale Betroffenheit ausgelöst wird. Die oben bereits erwähnte Vertuschung über die Geschehnisse während der Halmazag-Mission klingt auch auf Seite 28 an. Hier wird beschrieben, dass die 21 Vgl. www.deutschlandfunk.de/operation-halmazag-krieg-made-in-germany.1247.de.html?dram: article_id=370394, Stand: 14.03.2018.

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Bundeswehr über die genauen Zahlen der Opfer nicht Bescheid weiß. Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Vertuschung wirkt diese Aussage fragwürdig. Es entsteht der Verdacht, dass die Bundeswehr absichtlich über die Opferzahlen schweigt und Unwissenheit vortäuscht. Ein weiterer Querverweis kann zum Fernsehpanel auf Seite 3 des dritten Teils gezogen werden. Die letzten Schritte der Mission, wie die Gefangennahme der Aufständischen, werden den Afghanen übertragen, sodass sich die Bundeswehr aus der Verantwortung zieht. Auf Seite 29f. taucht Karl-Theodor zu Guttenberg auf, der den Posten des Verteidigungsministers von Franz-Josef Jung 2009 übernimmt. Dieser betreibt Öffentlichkeitsarbeit für den Einsatz in Afghanistan, was anhand der Darstellung von Kameras und Mikrophonen veranschaulicht wird. Durch das Vorhandensein dieser Attribute wird deutlich, dass es sich um eine für die Öffentlichkeit inszenierte Szene handelt. Die Beteiligten vermitteln ein positives Bild und verkaufen den Erfolg der Mission. Dieser Erfolg wird ebenfalls durch den senfgelben Hintergrund gestützt, der vom Illustrator benutzt wird, wenn keine Kampfhandlung gezeigt wird. Gleichzeitig wird eingestanden, dass die Mission kriegsähnliche Zustände angenommen hat. Von einem Krieg wird dennoch nicht gesprochen (29f.). Trotz der Bemühungen resümiert der Autor, dass bis dahin keine Operation dauerhaft zum Ziel geführt und generell eine Strategie zum Frieden gefehlt hat. Die Verbündeten der Bundeswehr sind Warlords und Verbrecher, die sich nicht als friedliche Machthaber eignen. Aus diesen Gründen kann geschlossen werden, dass der Krieg verloren ist (34). Die letzte Doppelseite stellt den Epilog dar, auf dem eine Bergkette zu sehen ist, über der Hubschrauber fliegen. Aufgrund des Logos kann die Zugehörigkeit zur Deutschen Bundeswehr ermittelt werden. Der Himmel ist dunkelrot. Die Farbe passt zur Aussage, dass die Kampfhandlungen weitergehen werden und Afghanistan nur der Auftakt war. Das Panel ist eine Wiederholung des Buchrückens, wobei die Farbgebung eine andere ist. Diese Veränderung lässt sich auf die einheitliche Gestaltung des Covers zurückführen. Über die Doppelseite erstrecken sich mehrere Textfelder, die von oben links nach unten rechts abfallend angeordnet sind. Dies symbolisiert das Scheitern des Einsatzes der Deutschen in Afghanistan. Zudem wird deutliche Kritik am Verlauf des Einsatzes und die unzureichende Berichterstattung geäußert. Die Politik verliert sich in Nebensächlichkeiten wie der gefälschten Doktorarbeit von Karl-Theodor zu Guttenberg, der in den Ausführungen des Autors spöttisch dargestellt wird. Außerdem wird verdeutlicht, dass die Bundeswehr den Befehlen des Parlaments Folge zu leisten hat, die zugunsten anderweitiger Interessen wie beispielsweise anstehender Wahlen und innenpolitischer Entscheidungen ausfallen (35f.). Das hier dargestellte Scheitern des Krieges steht im Kontrast zu den Zitaten

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von Westerwelle und Niebel, die am Anfang der Reportage genannt werden und von einem Erfolg in Afghanistan sprechen. Das letzte Textfeld besagt, dass Afghanistan der Anfang zu neuen Kriegszeiten ist. In diesem Satz wird der Titel des Werkes aufgegriffen. Damit grenzt er den Afghanistankrieg von historischen Kriegen und ihrer Durchführung ab. Krieg impliziert im historischen Sinn einen klaren Anfang und ein klares Ende. Mit dem Begriff Kriegszeiten wird jedoch ein Kriegsprozess beschrieben, der zeitlich nicht klar eingegrenzt werden kann. Es bleibt eine Aktualität des Krieges vorhanden.

Rezeption Das Werk Kriegszeiten von David Schraven und Vincent Burmeister ist 2013 für den Preis der Jugendjury nominiert worden. Es wird herausgestellt, dass das Werk den Afghanistaneinsatz der deutschen Bundeswehr von einer neuen Perspektive beleuchtet. Hierbei liegt der Anspruch des Autors auf der Vermittlung der Wahrheit und nicht auf der Ästhetik. Dabei wählte der Journalist die Form der Graphic Novel, um seine Recherchearbeiten anschaulicher darzulegen.22 Dies wird von Schraven in einem Interview mit Sonja Striegl am 17. Oktober 2012 bestätigt: Und ich halte das für außerordentlich gut geeignet, weil man Bilder zeigen kann, die es nicht geben kann. Das sind Situationen, von denen es keine reellen Bilder gibt, keine Filmaufnahmen, keine Fotoaufnahmen. Und man zeigt mit den Bildern nicht nur eine Wirklichkeit oder eine Wahrhaftigkeit, sondern kann auch das Gefühl, die Emotion damit transportieren. Und das ist eine Sache, die haben wenige Medien. Ich glaube, dass die Zeichnungen da sehr stark sind.23

Bilder gibt es in Deutschland nur von ungefährlichen Situationen, wodurch der Autor sich Bildmaterial aus anderen inoffiziellen Quellen beschaffen muss.24 Durch die Illustration und die Schilderung Schravens wird deutlich, wie wenig die deutsche Bevölkerung durch die Medien erfährt. Kriegszeiten weckt auf und stimmt nachdenklich. »Nach dem Lesen bleibt das Gefühl zurück, von Politik und Medien für dumm verkauft worden zu sein«.25 22 Vgl. ebd., Stand: 14.03.2018. 23 www.swr.de/swr2/kultur-info/unser-bild-vom-afghanistan-einsatz/-/id=9597116/did=10460478/ nid=9597116/1lfsjzv/index.html, Stand: 14.03.2018. 24 Vgl. www.n-tv.de/leute/buecher/Soldaten-machen-Krieg-article9624146.html, Stand: 14.03.2018. 25 www.jugendliteratur.org/www_global/downloads/praxiskonzepte/DJLP%202013_Download_Praxiskonzept_Bilderbuch_bearbeitet.pdf, Stand: 14.03.2018.

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Der Tagesspiegel kritisiert, dass der Autor sich die Rolle des Wahrheitsfinders zuschreibt. Er sehe sein Werk als Kontrast zur mangelhaften Berichterstattung in den Medien. Dadurch wird dem Leser das Gefühl vermittelt, dass er prätentiös ist.26 Eine weitere kritische Stimme zum Werk wird von Michael Brake in der Zeit geäußert. Er benennt Schraven zwar als kritischen Journalisten, der mahnt und Sachverhalte aufklärt, dennoch seien manche Anklagen eher »effektvoll als zielführend«.27 Allerdings muss beachtet werden, dass der Umfang der Graphic Novel begrenzt ist und damit nicht jedem Detail des Afghanistankrieges Rechnung getragen werden kann.28

Kritische Auseinandersetzung Die thematische Verarbeitung als Comic stellt eine ansprechende Möglichkeit dar, sich mit dem Afghanistankrieg auseinanderzusetzen. Durch die bildlichen Darstellungen entsteht eine Plastizität, die dem Rezipienten einen leichten Zugang verschafft. Darüber hinaus ermöglicht diese Aufbereitung und Bündelung der zahlreichen Informationen eine Beschäftigung mit der komplexen Thematik des zehnjährigen Krieges. Dadurch eignet sich das Werk als Informationsquelle für einen Überblick für den Krieg in Afghanistan. Unter zahlreichen unbekannten Menschen lassen sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wiederfinden. Dadurch vermittelt das Werk eine Authentizität, die durch Zitate, offizielle Briefe und Berichte und Interviews mit Augenzeugen weiter gestützt wird. David Schraven recherchiert sogar vor Ort, um selbst einen Eindruck von der Situation zu erhalten. Seine Graphic Novel führt durch seine umfassende Recherche zu einer neuen Sichtweise auf den Krieg, die von den Medienberichten abweicht. Der Informationsfluss wird von den Politikern gelenkt, und die Presse vermittelt daher nur Aspekte, die für die Politik und deren Zielsetzungen vorteilhaft sind. Dadurch bekommt der Leser den Eindruck, dass er von Politik und Presse hintergangen wird. Kriegszeiten teilt den Verlauf des Krieges in drei Abschnitte: Aufmarsch, Festgefahren und Krise. Der Autor nimmt dadurch eine Einteilung vor, die hilft, die Geschehnisse einzuordnen und Zeitsprünge erlaubt. Gleichzeitig wird dadurch das Scheitern des Einsatzes nachgezeichnet und eine wertende Haltung vermittelt. Der Leser hat die Möglichkeit diese Wertung zu übernehmen, um die bisherige Darstellung des Krieges zu hinterfragen. 26 Vgl. www.tagesspiegel.de/kultur/comics/politik-im-comic-zeigen-wie-es-wirklich-ist/7372332.html, Stand: 14.03.2018. 27 www.zeit.de/kultur/literatur/2013-01/david-schraven-kriegszeiten, Stand: 14.03.2018. 28 Vgl. ebd., Stand: 14.03.2018.

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Insgesamt lässt sich erkennen, dass sich der Autor eindeutig zum Vorgehen Deutschlands im Krieg positioniert. Er grenzt sich dabei nicht von den Soldaten ab, sondern vermittelt deren Ohnmacht und Abhängigkeit gegenüber den politischen Entscheidungen. Diese Entscheidungen werden von innenpolitischen Zielen gelenkt, die nicht allein das Interesse der Soldaten beinhalten. Schraven kritisiert die Politik und die Presse stark und prangert die mangelhafte Informationskultur an. Dabei beschönigt er die Situation nicht und formuliert die Missstände explizit. Die Veröffentlichung fällt mit der Schließung des zweitgrößten AfghanistanStützpunktes Kunduz zusammen.29 Somit hat Schraven die Möglichkeit, die Geschehnisse eines Jahrzehntes zu reflektieren und für die Allgemeinheit ein umfassendes Gesamtbild zu vermitteln. Am Ende gibt der Autor einen Ausblick darauf, dass solche Einsätze trotz eines vermeintlichen Endes des Afghanistankrieges auch in Zukunft getätigt werden müssen. Diese Haltung findet sich im Titel Kriegszeiten wieder. Dennoch sollten auch Schravens Ausführungen nicht unhinterfragt bleiben. Die geäußerte Kritik über die Innenpolitik kann nachvollzogen werden, dennoch haben diese innenpolitischen Entscheidungen eine berechtigte Grundlage. Es darf nicht vergessen werden, dass die Politiker begrenzte Mittel und Handlungsspielräume haben und auch sie ihre Entscheidungen nicht leichtfertig treffen. Das Comic regt den Leser dazu an, sich mit dem Inhalt kritisch auseinanderzusetzen. Metaphern und unterschiedliche Bilder bieten eine Diskussionsgrundlage. Die Frage bleibt unbeantwortet, ob die Kritik, dass Politik und Presse eine umfassende Berichterstattung aktiv vermeiden wollten, gerechtfertigt ist. Die klar definierten Fronten müssen von beiden Seiten hinterfragt werden. Es bleibt ein Gefühl der Ernüchterung gegenüber der deutschen Politik und Berichterstattung zurück. Nach einem anfänglichen Unbehagen folgt das Verlangen, sich seine eigene Meinung mithilfe von Sekundärquellen zu bilden. Somit eignet sich das Werk, wie von Schraven beabsichtigt, dazu, sich mit der Wahrheit über den Krieg auseinanderzusetzen.

29 Vgl. www.spiegel.de/politik/deutschland/afghanistan-einsatz-bundeswehr-schliesst-standort-kunduz-a-870310.html, Stand 19.03.2018.

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»Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret!«1 Gewalt, Terror und Widerstand in Hermann Lönsʼ Roman Der Wehrwolf (1910)

In diesem Jahr jährte sich einer der großen Konflikte der deutschen Geschichte zum 400. Mal. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) ist durch zahlreiche Feierlichkeiten und Veranstaltungen wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt worden. Dieser Krieg, vielmehr diese Verkettung mehrerer Konflikte, »war das große Trauma der Deutschen, bis [es] durch die kollektive Erinnerung an die Gewalt und Zerstörung abgelöst wurde, die mit den beiden Weltkriegen einhergingen«.2 Das Erinnerungsjahr zum Ausbruch dieses Konfliktes wartete zum einen mit zahlreichen historischen Publikationen wie der zuvor zitierten auf. Aber auch literarisch wandte man sich erneut dem Thema zu. Bestsellerautor Daniel Kehlmann lässt in seinem Roman Tyll den Charakter Till Eulenspiegels auferstehen und ihn wie die großen Pikarofiguren Simplicius Simplicissimus Grimmelshausens oder Brechts Mutter Courage durch die verwüsteten und von Blut getränkten deutschen Lande streifen. Der Dreißigjährige Krieg und seine fatalen Folgen brannten sich in das Gedächtnis der Menschen ein, die ihm direkt ausgesetzt und ausgeliefert waren. Andreas Gryphius prangert in seinem Gedicht Thränen des Vaterlandes3 von 1636 vor allem die Leiden der Zivilbevölkerung an. In der zweiten und dritten Strophe heißt es: 1 Andreas Gryphius. »Thränen des Vaterlandes«. Ders. Sonette. Das Erste Buch. Kap. 25, vgl.: http:// gutenberg.spiegel.de/buch/sonette-das-erste-buch-9099/25 (Stand: 23.07.2018). 2 Herfried Münkler. Der Dreissigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648. Berlin 2017, 13. 3 Gryphius, (Stand: 23.07.2018).

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Die Türme stehn in Glutt, die Kirch ist umgekehret. Das Rathauß ligt im Grauß, die Starcken sind zerhaun, Die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun Ist Feuer, Pest und Tod, der Hertz und Geist durchfähret. Hir durch die Schantz und Stadt, rinnt allzeit frisches Blutt. Dreymal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flutt, Von Leichen fast verstopfft, sich langsam fort gedrungen.

Dörfer und Städte wurden regelmäßig geplündert und gingen in Flammen auf, was zur damaligen Kriegsführung gehörte, denn die angeworbenen Söldnerheere versorgten sich zum großen Teil auch auf Kosten der Zivilbevölkerung. Nur auf diese Weise unterhielt Schweden ein Heer von 150.000 Soldaten auf feindlichem Territorium.4 Albrecht von Wallenstein, nicht nur der größte Kriegsunternehmer seiner Zeit, sondern der Geschichte, verfügte 1630 über ein Heer von 150.900 Söldnern, quasi »eine wandernde Großstadt«.5 Neben den Kontributionen, mit denen die Armeen legal ihre Vorratslager auffüllen sollten und welchen die feindliche oder auch die eigene Bevölkerung (hier häufig genug ohne Bezahlung, obwohl diese offiziell vorgesehen war) unterworfen wurde, waren Plünderungen vielerorts an der Tagesordnung.6 Der Diebstahl von Vieh und Lebensmitteln bedeutete für viele Bauernfamilien das existentielle Ende. Besonders in der Schlussphase des Krieges war es der Mehrzahl nicht mehr möglich, ihr Land zu bewirtschaften.7 Dies alles führte zu schwerwiegenden Hungersnöten, und schließlich brach die Pest aus.8 Geld wurde häufig durch das sogenannte »Brandschatzen« erzwungen: Siedlungen und größere Städte mussten bezahlen, damit sie nicht von feindlichen Truppen angezündet wurden.9 Durch Raub und Erpressung wurde den Menschen

4 Günter Vogler. Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1650. Stuttgart 2003 (Handbuch der Geschichte Europas; 5), 66. 5 Christian Pantle. Der Dreißigjährige Krieg. Als Deutschland in Flammen stand. Berlin 2017, 36. 6 Ebd. 37, vgl. auch Axel Gotthard. Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien 2016, 182. Hier spielen vor allem verschiedene Formen der Kontribution eine Rolle, auch was den Zerstörungsgrad von Siedlungen und die Behandlung der Bevölkerung angeht. Es lassen sich vier Versorgungstypen unterscheiden: »Einquartierung«, d.h. das Mehrprodukt des Landes wird abgeschöpft; »Marschversorgung«, Truppen in Bewegung versorgen sich relativ wahl- und rücksichtslos, es kommt zu Übergriffen und Plünderungen; »Einsatzversorgung«, betrifft an einzelne Einsätze gebundene Söldnerverbände, die ständig den Auftraggeber wechseln, wahllos Kontributionen eintreiben und anschließend alles verwüsten; »Marodeurshaufen«, keine regulären Truppenverbände, sondern marodierende Räuberbanden, die plündern und morden, vgl. Münkler, 32–35 und ders. 280–289. 7 Volker Meid. Grimmelshausen: Epoche-Werk-Wirkung. München 1984, 26f. 8 Georg Schmidt. Der Dreißigjährige Krieg. München 1998 (C.H. Beck Wissen, Beck’sche Reihe 2005), 87. 9 Gotthard, 183.

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die Lebensgrundlage genommen, aber damit nicht genug: Eine apokalyptische, in dieser Form unbekannte Form der Gewalt erstreckte sich über die Kriegsgebiete. Besonders im letzten Drittel des Krieges wurde nichts und niemand verschont. Es gab einiges zu rauben und zu brandschatzen, denn »Deutschland galt um das Jahr 1618 für ein reiches Land, [in dem] selbst der Bauer […] in dem langen Frieden einige Wohlhäbigkeit erlangt [hatte]«, wie Gustav Freytag schreibt.10 Dessen kulturgeschichtliches Hauptwerk Bilder aus der deutschen Vergangenheit (1873) kannte Hermann Löns und nutzte es für die Arbeiten an seinem Wehrwolf-Roman. Auch andere historische Quellen wurden einbezogen.11 Nicht nur die in Gryphius’ Gedicht erwähnten »Starken« wurden gefoltert und bestialisch umgebracht, »zerhaun«, wie der Autor es drastisch beschreibt, sondern auch Kinder, (Jung-)Frauen und alte Menschen. Im Gedicht ist auch von der Pest die Rede. Sie grassierte in den entvölkerten Gebieten und machte häufig den letzten Überlebenden den Garaus, wenn sie nicht bereits aufgrund der Hungersnöte gestorben waren.12 Die von Gryphius beschriebenen Ströme von Blut und die Leichenberge, die sich in den Straßen türmen, sind durchaus nicht nur metaphorische Bilder. Er vermittelt in seinem Gedicht ein treffendes Gesamtbild dieser Konflikte und Kriege, die blutig geführt wurden und in einem bis dahin noch nicht dagewesenen grausamen Maße zu Lasten der Zivilbevölkerung gingen. Ein Drittel der deutschen Bevölkerung, zumeist die auf dem Land lebenden und arbeitenden Bauern, wurde niedergemetzelt.13 Es ist also zutreffend, den Dreißigjährigen Krieg nicht »als ein[en] Krieg zu charakterisieren, der nur auf Schlachtfeldern ausgetragen wurde«, sondern der an »zahlreichen anderen Gewaltorten« stattfand, und unter »diesen bildeten die Häuser [und Liegenschaften, Anm. d. Verf.] der Zivilbevölkerung auf dem Land und in den Städten einen besonderen ›Brennpunkt‹«.14 Man kann unterschiedliche Eskalationsstufen in diesen Konflikten beobachten, insbesondere weil die Versorgungslage für die Truppen immer schlechter wurde. Funktionierte 10 Gustav Freytag. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Vollständige Ausgabe. Dritter Band: Der Dreißigjährige Krieg. Leipzig 1927, 239. 11 Zur Plünderung und Zerstörung von Dörfern und Not der bäuerlichen Bevölkerung vgl. Freytag, 238ff. 12 Gotthard, 201. 13 Meid, 26. Meid übernimmt die Ergebnisse von Günther Franz, der die Verluste der deutschen Landbevölkerung in den drei Jahrzehnten Krieg auf etwa 40% beziffert, vgl. Günther Franz. Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte. Stuttgart, New York 1979. Schmidt geht von Schätzungen aus, dass um 1600 circa 15–17 Mill. Menschen in Deutschland lebten. Um 1650 waren es noch 10–13 Mill., die das Ende der militärischen Auseinandersetzungen überlebt hatten, vgl.: ders., 86. 14 Hans Medick. »Der Krieg im Haus? Militärische Einquartierungen und Täter-Opfer-Beziehungen in Selbstzeugnissen des Dreißigjährigen Krieges«. Philipp Batelka, Michael Weise, Stephanie Zehnle (Hgg.). Zwischen Tätern und Opfern. Gewaltbeziehungen und Gewaltgemeinschaften. Göttingen 2017, 289–305, hier 297.

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das System der Kontribution nach Maßgabe der »Einquartierung«, da genügend Nahrungsmittel, andere Versorgungsgüter und Sold vorhanden waren, sorgten auch die Heerführer für Disziplin, und Plünderungen blieben aus.15 Im Zuge des Krieges nahm diese jedoch mehr und mehr ab. Folglich raubten die Soldaten beider Seiten, was ihnen in die Hände fiel. Das sogenannte »Magdeburgisieren«, die vollständige Eroberung, Plünderung und anschließende Zerstörung und Entvölkerung ganzer Städte, zeigte den Gipfel exzessiver Gewalt.16 Die Erstürmung und Vernichtung Magdeburgs 1631 durch die Truppen von Johann T’Serclaes von Tilly »rückte […] die Furchtbarkeit […] [der] Kriegsführung in eine eigene Dimension und machte sie zum Inbegriff der Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs.«17 Peter Hagendorf, der als Söldner auf katholischer Seite kämpft und bei der Belagerung Magdeburgs schwer verletzt wird, schildert aus erster Hand, wie das Militär mit wehrhaften Bauern umgeht: Den 4. Juli sind wir an die französische Grenze gekommen und an einem Schloß vorüber gezogen. Darin sind 7 Bauern gewesen, die haben sich gegen die ganze Armee gewehrt. Also haben wir das Schloß angezündet und samt den Bauern verbrannt. Hier sind 1000 Mann zu Fuß und 1500 zu Pferd vor ein Dorf kommandiert worden. Ich bin auch mit dabei gewesen. Da haben sie sich in dem Kirchhof so mächtig gewehrt, daß wir ohne Kanonen nichts haben ausrichten können. Da sind wir wieder zurück, denn es sind 1000 Bauern darin gewesen. So haben wir das Dorf angezündet und lassen brennen.18

Der Dreißigjährige Krieg eignet sich deshalb als tragischer Stoff, der zur literarischen Darstellung und Verarbeitung geradezu prädestiniert erscheint. Im Prolog zu Friedrich Schillers Drama Wallenstein (1799) will des »Dichters Phantasie / Die düstere Zeit [am Publikum, Anm. d. Verf.] vorbeiführen«, damit man froher in die Gegenwart und »der Zukunft hoffnungsreiche Ferne«, die eine des Friedens sein soll, schauen kann. Der Dichter stellt den Zuschauer »in jenes Krieges Mitte« und

15 Markus Meumann. »›Bloßes Schlagen war akzeptiert‹. Markus Meumann widerspricht dem verbreiteten Bild einer grenzenlosen Gewalt im Dreißigjährigen Krieg«. (Interview mit Christian Pantle) G/Geschichte (2017), 11, 23. 16 Gotthard, 184f. 17 Marcus Junkelmann. »Tilly. Eine Karriere im Zeitalter der Religionskriege und der ›Militärischen Revolution‹«. Peter C. Hartmann, Florian Schuller (Hgg.). Der Dreißigjährige Krieg. Facetten einer folgenreichen Epoche. Regensburg 2010, 59–79, hier 75. 18 Jan Peters (Hg.). Peter Hagendorf – Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg. Göttingen 2012 (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit; 14), 114f.

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konfrontiert ihn mit »Jahre[n] [der] Verwüstung,/ Des Raubs, des Elends«19, der Zerstörung der zivilen Ordnung: Verödet sind die Städte, Magdeburg Ist Schutt, Gewerb und Kunstfleiß liegen nieder, Der Bürger gilt nichts mehr, der Krieger alles, Straflose Freiheit spricht den Sitten Hohn, Und rohe Horden lagern sich, verwildert Im langen Krieg, auf verheerten Boden.20

Schillers Tragödie wie auch Alfred Döblins gleichnamiger Roman (1920)21 zeigen aber in erster Linie den Aufstieg und Fall des großen Heerführers Albrecht von Wallenstein und anderer hoher Persönlichkeiten dieser Zeit. Dieses Motiv eignet sich bei Schiller für die Gestaltung eines klassisch-dramatischen Stoffes, denn so weisen die Hauptfiguren die notwendige Fallhöhe auf. Das Schicksal der malträtierten Landbevölkerung wird lediglich am Rande erwähnt. Es ist Teil einer wüsten und höllenartigen Szenerie, die dem Drama mehr als Kulisse und nicht als darstellungswürdige Realität dieses Krieges dient. Wenn auch die Gewalttätigkeit der wütenden Soldateska expositorisch geschildert wird, bleibt es bei Andeutungen der Gewalt, die die Bauern tagtäglich trifft. Der Historiker und nicht der Poet Friedrich Schiller kommt auf die Gewalt und ausufernde Brutalität, die die Bevölkerung traf, zu sprechen.22 Freytag schildert die gesellschaftliche Situation vor Ausbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen: Das war die politische Lage Deutschlands vor dem Dreißigjährigen Kriege: eine trostlose Lage. Das Mißbehagen war allgemein, ein Zug von Trauer, die Neigung, Übles zu prophezeien, sind bedeutsame Zeichen dieser Zeit.23

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens24 Roman Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1668/69) zeigt in dieser Zeit dagegen eindrücklich und 19 Friedrich Schiller. Wallenstein: Ein dramatisches Gedicht. I: Wallensteins Lager, Die Piccolomini. Stuttgart 1993, 5, Zeile 75–81. 20 Schiller, 5, Zeile 85–90. 21 Alfred Döblin. Wallenstein. Olten, Freiburg im Breisgau 1980. 22 Friedrich Schiller. Geschichte des dreißigjährigen Kriegs. II. Buch, Kap. 6 (http://gutenberg.spiegel. de/buch/geschichte-des-dreissigjahrigen-kriegs-3348/6, Stand: 23.07.2018. 23 Freytag, 180. 24 Grimmelshausen wurde als Kind selbst von kroatischen Soldaten Anfang 1635 entführt, dann gelangte er nach militärischen Auseinandersetzungen in die Hände hessischer Truppen, die auf schwedischer Seite kämpften, vgl. Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz. Grimmelshausen. Leben und Schreiben. Vom Musketier zum Weltautor. Frankfurt/Main 2011, 199f. In dieser Publikation wer-

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authentisch auf, was den ansässigen Bauern durch Marodeure blüht. Besonders bedrückend sind die Szenen von Gewalt, die sich in der Kindheit des Protagonisten ereignen und denen auch seine Familie zum Opfer fällt: Unser Magd ward im Stall dermaßen traktiert, daß sie nicht mehr daraus gehen konnte, welches zwar eine Schand ist zu melden! Den Knecht legten sie gebunden auf die Erd, stecketen ihm ein Speerholz ins Maul, und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstig Mistlachenwasser in Leib, das nenneten sie ein Schwedischen Trunk […]. […] Da fing man erst an, die Stein von den Pistolen, und hingegen an deren Statt der Bauren Daumen aufzuschrauben, und die armen Schelmen so zu foltern, als wenn man hätt Hexen brennen wollen, maßen sie einen von den gefangenen Bauren bereits in den Backofen steckten, und mit Feuer hinter ihm her waren, ohnangesehen er noch nichts bekannt hatte […].25

Eine vom Autor überlieferte, in seiner Zeit offenbar geläufige Redensart lautete, dass der Soldat drei Bauern brauche: einen, der ihn ernähre, einen der ihm seine Frau gebe, einen dritten, der für ihn zur Hölle fahre.26 Bauer und Soldat als unversöhnliche Feinde zu betrachten, ist deshalb nur folgerichtig, und der Dreißigjährige Krieg war somit »nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Dynastien, Staaten und Fürstenallianzen, sondern auch ein langandauernder, weit zerstreuter Krieg zwischen Bauer und Soldat«.27 Dementsprechend fiel die Rache der Landbevölkerung aus, wenn sie auf umherstreifende oder versprengte Söldner traf. Der Widerstand der malträtierten Menschen ist historisch belegt. So wehrten sich insbesondere »Bauern und Bürger kleiner Städte […] gegen die Belastungen und Bedrückungen mittels eines Kleinkriegs gegen raubende und plündernde Söldner«. Im Jahre 1626 kam es in Oberösterreich zu einem Bauernaufstand, der von kaiserlichen und bayrischen Truppen niedergeschlagen wurde.28 Um einer plündernden Soldateska nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert den die Biografie des Autors Grimmelshausen und die Abenteuer des Simplicius Simplicissimus, der Hauptfigur des gleichnamigen Romans, abgeglichen. Grimmelshausens Beschreibungen sind vielfach autobiografisch und damit historisch belegbar. Schließlich stand Grimmelshausen in kaiserlichen Diensten, zunächst als Tross- und Pferdejunge, später als Soldat, vgl. auch: Volker Meid. Grimmelshausen. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2011, 10. 25 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. München 1997, 17. 26 Gotthard, 186. 27 Herbert Langer. Hortus bellicus. Der Dreißigjährige Krieg. Eine Kulturgeschichte. Berlin (Ost) 1985, 106. Langer beschreibt einige historische Beispiele, die belegen, wie sich Bauern in militärischen Zusammenschlüssen gegen Marodeure wehrten, so z. B. die Bauern Böhmens und der Oberpfalz, die gegen 400 Söldner des Ernst von Mansfeld siegten, vgl. ders. , 106–111. 28 Vogler, 64.

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zu sein, griffen die Bauern vielerorts zu Formen der Verteidigung, die dann häufig im Nachhinein von der Obrigkeit legalisiert wurden, da diese nicht zum Schutz der Bevölkerung beitragen wollte oder konnte. Es wurden Hinterhalte angelegt. Frauen, Kinder und Nutztiere brachten sich in »sorgsam eingerichteten Höhlen-, Moor- und Waldschlupfwinkel[n]« in Sicherheit. Meist waren sie mit Werkzeugen wie Schmiedehämmern, Äxten, Heugabeln, aber teils auch mit kleineren Musketen, Pistolen, mancherorts auch mit Geschützen bewaffnet.29 Fürsten rüsteten ihre Bauern aus, wenn sie diese gegen feindliche Truppen, also z.B. im Rahmen einer Landesverteidigung, einsetzten.30 Auch Hagendorf berichtet von einer Konfrontation mit bewaffneten Bauern. Für den Leser ist der ironische Unterton seiner Darstellung überraschend, da ihn diese Begegnung fast das Leben gekostet hätte. Dadurch stellt der Autor aber vor allem die Absurdität der eigenen Kriegsexistenz heraus: Es sind 3 Bauern in der Hecke gesteckt, auf mich wacker zugeschlagen, meinen Mantel, Ranzen, alles genommen. Durch Gottes Schickung sind sie auf einmal von mir gesprungen, als wenn man sie gejagt hätte, obwohl kein Mensch mehr da hinten ist gewesen. So bin ich also zerschlagen, ohne Mantel, ohne Ranzen, zum Regiment gekommen, haben mich nur ausgelacht.31

Peters spricht von der »wohl bedachten Rache« des Landmanns; die »gequälte[n] Bauern […] unterschieden sich dann in ihren begangenen Gewalttaten wenig von marodierenden Söldnern, wenn sie […] ihre Lebensgrundlage mutwillig zerstört sahen«.32 Vor diesem historischen Hintergrund entfaltet Hermann Löns die Leidens- und »Helden«-Geschichte um die Hauptfigur Harm Wulf, der infolge von Gewalt, Ungerechtigkeit und nackter Existenzangst den Kampf gegen marodierende und versprengte Söldner aufnimmt, um sich und andere Heidebauern in der norddeutschen Region zu schützen. Löns’ Roman Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik. (1910)33 verspricht bereits im Titel berichten und Historisches abbilden zu wollen. Eine Chronik hat alles aufzuzeichnen, was sich zuträgt: natürliche Unglücke, Katastrophen oder auch von Menschen verursachtes Leid. Sie möchte dem Leser einen geordneten Überblick über einen bestimmten Zeitabschnitt verschaffen. Von einer festgefügten Romanstruktur kann man nicht sprechen. Die dreizehn »Bilder« sind 29 Langer, 122. 30 Ebd., 112, 121. 31 Peters (Hg.), 127. 32 Ebd. 205. 33 Diesem Aufsatz liegt folgende Ausgabe des Romans zugrunde: Hermann Löns. Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik. Jena 1923.

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eher locker, »holzschnittartig aneinander gefügt, nur Umrisse werden deutlich«.34 Es liegt also keine zusammenhängende Handlung vor und es wird geradlinigchronologisch erzählt. Den Roman bestimmt die »Entwicklung« des Protagonisten, wie er sich von einem friedlichen und Gewalt verabscheuenden Menschen zum Anführer der »Wehrwölfe« wandelt. Im Mittelpunkt steht das siebte Kapitel, das mit »Die Wehrwölfe« betitelt ist. In diesem wird das Selbstverständnis der Bauern angesichts ihrer Erfahrungen mit Krieg und Zerstörung zum Ausdruck gebracht. Sie wollen nicht wie die Wölfe leben, sondern im Bruch ihr altes Leben wieder aufnehmen, gottgefällig und friedlich leben, indem sie »ein regelrechtes Haus bauen, und […] auch Land unter den Pflug nehmen«.35 Die Kapitel 1–6 zeigen ihren Weg zur Gewalt, der ihnen aufgezwungen worden ist. Die Ödringer Bauern müssen zu Wölfen werden, um ihr nacktes Leben zu verteidigen; sie sind von Natur aus keine Mörder oder Sadisten. Trotzdem wird dem Roman die Verherrlichung von Gewalt und Brutalität per se vorgehalten. Es sei seine Hauptintention, und der Leser solle sich an einer Gewaltorgie ergötzen. Dennoch kann man die Frage stellen, ob der Autor »sich in seinen Schilderungen mit der Rolle des distanzierten Chronisten begnügt oder ob er sich – verherrlichend – vom Strudel der Gewalt mitreißen lässt«.36 Bis heute wird Hermann Löns’ Wehrwolf auch als ein Roman betrachtet, der das national-wilhelminische Gedankengut glorifiziert und damals staatstragend war. Er schildere Brutalität und Gewalt »durchweg mit besonderem Genuss und besonderer Lust«.37 Dieser Roman, nach wie vor als »blutiges Epos«38 betitelt, ist Hermann Löns’ meistverkauftes Werk und nicht eine seiner ästhetischen Tier- oder Naturdarstellungen, die ihn als »Heidedichter« berühmt gemacht haben. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges druckten die Nationalsozialisten das Buch im Rahmen ihrer Durchhaltepropaganda 1944 millionenfach nach und verhalfen ihm so zu seiner großen Populariät.39

34 Martin Anger. Hermann Löns. Schicksal und Werk aus heutiger Sicht. Braunschweig 1986, 153. 35 Löns, 87. 36 Wolfgang Brandes. »Zur Lektüre von Hermann Löns’ ›Der Wehrwolf‹«. Hermann-Löns-Blätter 46 (2007), 1, 4. 37 Erhard Schütz, Jochen Vogt. Einführung in die Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 1: Kaiserreich. Opladen 1977 (Grundkurs Literaturgeschichte), 65. 38 »Hermann Löns: Ein Zerrissener zwischen Mief und Moderne«. Süddeutsche Zeitung, 28.08.2016, siehe www.sueddeutsche.de/news/kultur/literatur-hermann-loens-ein-zerrissener-zwischen-miefund-moderne-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160828-99-245717, Stand: 23.07.2018. 39 Vgl. dazu: Petr Blahuš. »›Werwölfe‹ 1945«. Zukunft braucht Erinnerung (12.01.2012), online unter: http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/werwoelfe-1945/ (Stand: 23.07.2018) und Volker Koop. Himmlers letztes Aufgebot. Die NS-Organisation »Werwolf«. Köln, Weimar, Wien 2008.

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Genaue zeitliche Angaben gibt es im Text fast gar nicht, sie müssen erschlossen werden. Im ersten Kapitel wird das Jahr 1623 genannt, und zwei Jahre später entfacht der dänische König Christian IV. in Norddeutschland weitere Konflikte. Er sieht sich den Ligagenerälen Wallenstein und Tilly gegenüber: Tilly und die Dänen zogen sich um die festen Plätze wie die Hunde um die Knochen, und wo man hinhörte, gab es Not und Menschenschinderei. Wo die Kriegsvölker geerntet hatten, da zogen die Marodebrüder mit der Hungerharke hinterher und man vernahm alle Tage gräßliche Geschichten von totgequälten und hingemetzelten Frauen, denn was den Unmenschen in die Hände fiel, ob ein siecher Greis oder ein Brustkind, es mußte des Todes sein.40

Von der Zerstörung Magdeburgs 1631 erfahren die Ödringer, als ein Bauer »ein fliegendes Blatt mitbrachte, auf dem gedruckt stand, was der Tilly und der Pappenheim mit Magdeburg angestellt hatten«.41 Im elften Kapitel werden vor allem die brutalen Auseinandersetzungen des deutschen Kaisers mit den Schweden ab 1631/32 geschildert. Im zwölften Kapitel deutet der Autor süffisant die 1648 beginnenden Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsparteien an: »Als Oxenstierna in Celle Aufenthalt nahm und von da nach Osnabrück reiste, wo die anderen waren, die das Fell des Reiches versoffen«.42 Im letzten Kapitel sind schließlich 25 Jahre vergangen und der Westfälische Frieden ist geschlossen worden. Das Roman­ende mündet in der Gegenwart des Deutschen Kaiserreichs, und die Tradition der Wehrhaftigkeit der Heidebauern wird von deren Nachkommen hochgehalten. Damit wird von Löns ein Mythos geschaffen. Die Verteidigungsgemeinschaft der Ödringer Bauern und ihr Kampf lassen sich bis zur Gründung des deutschen Nationalstaates 1871, die ebenfalls durch einen Krieg realisiert wird, verfolgen und begründen.43 Die Bruchbauern werden von ihrem Abgeordneten nun im Reichstag vertreten, der die Interessen ihrer Gemeinschaft wahrt, aber nun auf parlamentarischen, friedlichen Wegen (Kap. 13). Der »Wehrwolf« ist ein Produkt der Heimatkunstbewegung, die sich in den 1890er Jahren herausbildete und auf die noch weiter eingegangen werden soll.44 Ende der 1920er Jahre wird behauptet, dass das Werk »ein Stück Geschichte des deutschen Bauerntums« abbilde. Es führe im »Rahmen des Schicksals dieser Hei-

40 Löns, 124. 41 Ebd., 172. 42 Ebd. 217. 43 Vgl. Thomas Dupke. Mythos Löns. Heimat, Volk und Natur im Werk von Hermann Löns. Wiesbaden 1993, 154ff. 44 Vgl. dazu: Dupke, 132ff.

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debauern das gewaltige Geschehen des Dreißigjährigen Krieges«45 dem Leser vor Augen, dass seine Handlung demnach authentisch und historisch sei. Dies äußert der Maler und Freund von Hermann Löns, Hermann Knottnerus-Meyer. Löns gehe es nicht darum, eine mit Lokalkolorit gespickte Geschichte zu erzählen, in der die Heidelandschaft und ihre Bevölkerung mit volkstümlichen Einzel- und Eigenheiten vorgestellt werden. Der Roman habe die Intention, das »allgemeine Geschehen des fürchterlichen Allgemeinschicksals«46 der betroffenen Menschen, die dem großen Gemetzel ausgesetzt waren, darzustellen. Somit hat Löns den Anspruch, Historisches beschreiben zu wollen. Der Autor verschweigt nicht, dass es einen derartigen Zusammenschluss von Bauern zu einer Organisation der Selbstverteidigung in der Heide niemals gab, anders als beispielsweise im »Braunschweigischen und dem Thüringischen«: Seine Figuren und Ereignisse seien alle fiktional.47 Löns nutzte neben Charles de Costers Tyll Ulenspiegel und Lamm Goedzak (1868) den bereits erwähnten Simplicissimus von Grimmelshausen sowie die zitierten Bilder aus der deutschen Vergangenheit von Gustav Freytag als Quellen.48 In De Costers Roman fängt die Hauptfigur Tyll einen Werwolf, der zuvor dessen Heimatstadt heimgesucht, Menschen ausgeraubt und ermordet hat. Es stellt sich aber heraus, dass es sich eben nicht um ein mythisches Wesen, sondern um einen in ein Wolfsfell gehüllten Mann handelt, der die Mordtaten aus Geldgier begangen hat.49 Ursprünglich brachten slawische und germanische Völker den Werwolfstoff auf ihren Wanderungen nach Westen mit. Etymologisch lässt sich der Begriff »Werwolf« folgendermaßen erklären: Er entstammt dem Althochdeutschen »wer« (= Mann, Mensch), daher ein Mann- oder Menschenwolf. Dies ist ein »Mensch, der sich von Zeit zu Zeit in einen Wolf verwandelt.«50 Es ist ein Zauber, der Männer bei Vollmond in Wölfe verwandelt, die dann Menschen und Tiere überfallen. Einmal in einen Werwolf verwandelt, muss der betroffene Mensch unter Zwang blutrünstig handeln, also andere Menschen und Kreaturen verfolgen und töten: »Der Sage nach geschah die Verwandlung mit Hilfe eines Wolfshemdes (bzw. -gürtels) oder auch durch einen Zauberring.«51 Im Althochdeutschen ist das Wort noch als 45 Hermann Knottnerus-Meyer. Der unbekannte Löns. Gespräche und Erinnerungen. Jena 1928, 14. 46 Ebd., 15. 47 Ebd. 48 Anger, 153. 49 Dupke, 165. 50 Günther Drosdowski (Hg.). Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden. Bd. 8: Uri-Zz. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1995, 3903f. Vgl. auch: Karl J. Trauner, Christoph Fackelmann. Vergessene Dichter – verschwundenes Wort. Porträts und Skizzen zur deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wien 2011, 39. 51 Jakob Grimm, Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch. 14. Bd., I. Abt., Teil 2: Wenig-Wiking. Leipzig 1960, 503.

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Eigenname gebräuchlich (»Weriuuolf«).52 In Francks’ Erzählung Der Werwolfgürtel (1922),53 verwandelt sich die unscheinbare Hauptfigur, der Knecht Jörg, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges mit Hilfe eines Zaubergürtels in einen Werwolf. Er jagt Tiere und Menschen gleichermaßen und bringt diese bestialisch um. In Löns’ Roman taucht jedoch kein Werwolf, daher kein Mensch-Tier-Mischwesen auf. Das aus »wehren« und »wolf« bestehende Portmanteau-Wort verweist bereits im Titel auf die Romanhandlung: Die Figuren wehren sich in einer zusammengeschlossenen Gruppe, die in ihrem Vorgehen an ein Wolfsrudel erinnert, mit allen Mitteln gegen versprengte und marodierende Soldaten. Sie kreisen sie ein, greifen aus dem Hinterhalt an und lassen ihren Gegnern keine Möglichkeit zur Gegenwehr. Die Hauptfigur trägt den Nachnamen »Wulf«, was auf »Wolf« und somit auch auf den Romantitel verweist. Löns selbst reagierte ungehalten auf die zeitgenössischen Rezensionen seines Romans. Hermann Knottnerus-Meyer zitiert ihn: Dann schreibt sich einer Schwielen in seine Kritikerseele, um rauszukriegen, was der Name Wehrwolf bedeutet. Daß das weiter nichts bedeutet, als daß Harm Wulf sich wehrt; da kommt kein Mensch drauf. Faseln sie da alles Mögliche zusammen.54

Im Roman geht es nicht um die Werwolfsfigur, wie sie in Mythen, Sagen oder heute in der modernen fantastischen Literatur55 im Mittelpunkt steht. Es geht um die metaphorische Verwendung der Werwolf-Thematik: Der friedliche Mensch, der zum Tier wird und um sein Überleben kämpft. Der Menschwolf muss zubeißen, um nicht selbst gebissen und getötet zu werden.56 Der Werwolf ist in diesem Kontext »eine Erwähnung[,] oft nur eine Repräsentation – ein Platzhalter für das Schreckliche«.57 Der Wolf, der bereits ab dem Mittelalter, im Volksglauben als blutrünstiges, hinterlistiges Tier, in Mitteleuropa ausgerottet wurde, wird bei Löns »zur Identifikationsfigur, deren Eigenschaften als vorbildlich für den Menschen hingestellt werden«.58 Das Archaische und Animalische wird im Roman wie in

52 Ebd. 53 Hans Franck. Der Werwolfgürtel und andere Geschichten. Hamburg 1922. 54 Knottnerus-Meyer, 118. 55 Vgl. dazu u.a. Jan Niklas Meier. Verwandlungen. Der Werwolf in der neueren deutschen Phantastik. Essen 2015. 56 Löns, 153. 57 Christian Stiegler. Vergessene Bestie. Der Werwolf in der deutschen Literatur. Wien 2007 (Wiener Arbeiten zur Literatur; 21), 45. 58 Dupke, 166.

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seinen Tier- und Jagderzählungen hochstilisiert und gefeiert.59 Auf den Punkt bringt es somit der folgende Gedanke: Der Werwolf ist [bei Hermann Löns deshalb] […] nicht mehr nur eine bloße negativ belastete Metapher, er ist ein zentrales und wichtiges Kernstück für die Verdeutlichung einer politischen bzw. historischen Situation.60

Auch in der Sprache spiegeln sich diese volkstümlich-archaischen Gedanken des Autors wider. Seine Figuren sprechen fehlerhaft und vielfach benutzen sie sowohl umgangssprachliche als auch niederdeutsche Wendungen.61 Hier suggeriert Löns dem Leser sprachliche Authentizität, denn es sind seine subjektiven Vorstellungen und Ideen, wie die Landbevölkerung in der Region der Lüneburger Heide im 17. Jh. gesprochen haben mag. Diese »Authentizität« hat deshalb wenig mit dem intendierten chronikalischen Gehalt des Textes zu tun. Harm Wulf, einem freien Heidebauern, wird unrechtmäßig sein Pferd von Mansfelder Söldnern weggenommen (2. Kap.). Sie schikanieren ihn, würdigen ihn herab, so wie sie es bereits mit den Anwesenden, vor allem mit den Frauen, getan haben: Die Kerle hatten alle rote Köpfe von Bier und Schnaps und nun schrien sie und bölkten und friejöhlten und machten sich mit den verlaufenen Frauensleuten, die sie bei sich hatten, allerlei Kurzweil, daß es eine Schande war, das anzusehen. Die Töchter des Wirts und die Mägde waren übel dran; sogar die Wirtsfrau, die doch gewiß kein Ansehen mehr hatte, konnte sich vor den Lümmeln nicht bergen.62

In der ersten Phase des Dreißigjährigen Krieges galten Ernst von Mansfelds Söldner als besonders brutal und gefährlich. Sie hinterließen auf ihren Wegen regelmäßig Tod und Zerstörung, da sie ständig neuen Auftraggebern dienten und keinen Unterschied mehr zwischen Freundes- und Feindesland machten.63 Der Diebstahl eines Pferdes, der zu brutaler, aber in dieser kriegszerrütteten und rechtlosen Umgebung alternativloser Selbstverteidigung führt, erinnert an Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhass (1810). Hier werden dem gleichnamigen Pferdehändler wertvolle Reitpferde gestohlen, was ihn zum Faustrecht greifen lässt, um sein Recht durchzusetzen und um »sich Genugtuung für die erlittene Krän59 Ebd., 166. 60 Stiegler, 58. 61 Zur Verwendung von Bibelsprache im Roman vgl. Dupke, 152. 62 Löns, 12f. 63 Münkler, 34.

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kung und Sicherheit für zukünftige seinen Mitbürgern zu verschaffen«.64 Harm Wulf führt wie Kohlhass Entrechtete an, die ebenfalls von der Obrigkeit verraten und im Stich gelassen worden sind. Stellt sich in Kleists Novelle unzweifelhaft die kritische Frage nach der Legitimation von Gewalt und Selbstjustiz des Einzelnen, so ist dies in Löns’ Roman nicht der Fall. In Anbetracht von Rechtlosigkeit und Gewalt ist der Einzelne aufgefordert, sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu wehren, auch jenseits moralischer und religiöser Grundsätze. Wenn dabei Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden, gilt dies als unvermeidbar. Das Maß an Mitleid- und Skrupellosigkeit der Bauern wird immer mit ihrer auswegund alternativlosen Lage gerechtfertigt. Harm Wulf reist auf Vorschlag seines Schwiegervaters gemeinsam mit ihm nach Celle, um dort vor Herzog Christian seine Rechte einzufordern (Kap. 3). Sie beklagen sich über die »Völker[, die] jetzt im Lande herumstromen«, dass die Obrigkeit untätig bleibe und sie »Gaudiebe und Vagabunden« als neue Herren akzeptiere. Dies sei eine Schande.65 In Celle erfahren sie durch andere Bauern von neuen Gräueltaten. Einem beraubten Bauern, der seine Töchter vor Vergewaltigungen hatte schützen wollen, wurde der Schädel mit dem Säbel eingeschlagen, »dass der Brägen herauskam«.66 Nicht nur steigende Naturalienabgaben, sondern auch zunehmend hohe Steuern, welche neue Soldaten im Land finanzieren sollen, werden vor allem der Landbevölkerung aufgebürdet. Wulfs Schwiegervater kehrt unterdessen zurück, ohne eine Entschädigung für das gestohlene Pferd erhalten zu haben.67 Angesichts der durch den Krieg überlasteten und damit unfähigen Obrigkeit kommen erste Gedanken auf, dass »der einzelne Mann […] sich selber wahren [muss]«.68 Die sprichwörtliche, bibelhafte Wendung »Helf dir selber, dann helft dir auch unser Herregott« wird mehrfach im Roman genannt, so zu Anfang, in der Mitte und, quasi als abschließendes Motto, ganz am Ende.69 Andere, wie die Engenser Bauern, haben bereits Selbstjustiz geübt und Pferdediebe kurzerhand gehängt. Umherziehende »Tatern«70 werden ebenfalls als Feinde angesehen und verfolgt. Das missfällt Harm Wulf zunächst, der auf sie nicht »wie auf ein wildes Tier« losschlagen will, aber in den »Tatern« ebenfalls nur »halbe Menschen und [keine] Christen sieht«.71 Hier zeigen sich die rassistischen Töne des Romans: Die »Tatern« werden im weiteren Verlauf stereotyp als zwielichtige, niederträchtige 64 Heinrich Von Kleist. Michael Kohlhass. Aus einer alten Chronik. Ders. Sämtliche Werke. Gütersloh (1970), 651. 65 Löns, 21. 66 Ebd., 22. 67 Ebd., 23. 68 Ebd., 24. 69 Ebd., 24, 88 und 240. 70 Gemeint sind hier Sinti und Roma. 71 Löns, 29.

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Menschen dargestellt, die mit den marodierenden Söldnern gemeinsame Sache machen und hiesige Bauernhöfe vor den Überfällen ausspionieren. Harm Wulf vollzieht einen vollständigen Sinneswandel bei seiner Rückkehr, was Selbstjustiz und Gewaltanwendung angehen. Er wird beides zukünftig als legitim ansehen. Während seiner Abwesenheit ist sein Hof überfallen und seiner schwangeren Frau mit einem Gewehr so in den Bauch geschlagen worden, dass sie ihr Kind verloren hat. Er kommt zu dem Schluss: » Jeder ist sich selber der Nächste. Besser fremdes Blut am Messer, als ein fremdes Messer im eigenen Blut!«72 Sein Denken und seine Gefühle sind von Rache bestimmt. Er stellt aber fest, dass es unsinnig sei, den Marodeuren zu folgen und »den Menschen [der seiner Frau Gewalt angetan hat, Anm. d. Verf.] so lange zu würgen und zu schlagen, bis kein Leben mehr in ihm […] [wäre]«.73 Gewaltanwendung soll nun auch dem Leser als legitim erscheinen. Obwohl Löns mit Wulf dem Leser eine Figur vorstellt, deren gewalttätige Handlungen durch die Kriegssituation als gerechtfertigt erscheinen, verabscheut sie eigentlich Gewalt. Dennoch wirkt diese charakterliche Ambivalenz nur ansatzweise glaubwürdig, denn Harm Wulf bringt bis zum lang ersehnten Frieden viele Menschen kaltblütig um. Im Verlauf des Romans werden die Gewalttaten der Bauern im Umfang und auch in ihrer Grausamkeit zunehmen. Dies geschieht proportional zur eskalierenden Gewalt und zum weiter ansteigenden Elend in ihrer Umgebung: [Viekenludolf:] Und wie sieht es im Lande aus! Hunger und Pest und Pest und Hunger, wohin man auch sehen tut. Wer nicht umgebracht wird, der hängt sich auf oder springt in das Wasser.74

Unterschiedliche und zum Teil sehr detaillierte Gewaltdarstellungen nehmen einen beträchtlichen Raum im Roman ein. Die Hauptfigur reflektiert ihre Handlungen nicht kritisch. Das Gegenteil ist der Fall, denn sie schöpft eine Befriedigung ihrer Rachsucht aus ihnen. Der Autor »vermischt Gewalt mit den Bereichen der Rührseligkeit, der Arbeit und der Lust«75 und offenbart damit seine Einstellung zu ihr. Wenn Wulf Menschen mit seinem Bleiknüppel erschlägt, wird dies wie eine Alltagshandlung geschildert. Im letzten Kapitel hängt die Waffe als wertvolles Familiensouvenir an der Wand.76 Hermann Löns wird ein tiefer Zynismus attestiert, der im Roman anhand menschenverachtender Ausdrucksweisen festgemacht wird.77 72 Ebd., 32f. 73 Ebd., 34. 74 Ebd., 153. 75 Dupke, 144. 76 Löns, 239. 77 Dupke, 145.

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Man kann darin aber auch die konsequente Verrohung des Menschen im Krieg sehen, der eigentlich friedlich und im Einklang mit seiner Umgebung leben will. Bauern haben immer aus triftigen Gründen zu den Waffen gegriffen, meist aus nackter Existenzangst, wie es die Geschichte der Bauernkriege im mittelalterlichen Deutschland bereits zeigt. Im Dreißigjährigen Krieg verhielt es sich ebenso. Die Bedrohung von Leib und Leben ist hier in noch größerem Maße und weitreichender gegeben. Ob Löns absichtlich eine »Symbiose der unterschiedlichen Sphären [d.h. des Tötens und bäuerlichen Fleißes schafft, Anm. d. Verf.], die untrennbar zur bäuerlichen, naturhaften Welt gehören«, kann hinterfragt werden. Demnach »schildert [er] nicht die [bäuerliche] Idylle, um zu zeigen, wie groß die Bedrohung durch den Krieg ist und dass deswegen die Heidebauern zur Gewalt greifen müssen; die Idylle wie die Gewalt seien demnach Möglichkeiten, Lust auszuleben und Arbeit zu verrichten«.78 Löns’ Roman entspricht den Kriterien des Heimatkunstromans, indem die Handlung an einem ländlichen, eingegrenzten Ort entfaltet wird. Das fiktive Heidedorf Ödringen und seine Bewohner, die ihre friedliche und geschlossene Welt gegen eindringende Feinde verteidigen, stehen symbolisch gegen Krieg, Chaos und Zerstörung. Die einfachen Bauern werden, der Not gehorchend, zu »Helden«. Sie stehen beispielhaft, prototypisch für den widerständigen Landmenschen, der sich, entgegen der historischen Realität, nicht hinschlachten lässt; »das Modell des Dorfes erhält geradezu den Charakter einer Festung«:79 Da das Auspressen und Plündern und das Quälen und Martern kein Ende nahm, hatten die Bauern rund um das Bruch miteinander abgemacht, sich gegenseitig Bescheid zu geben, damit das Vieh und die Frauensleute geborgen werden konnten. Alle paar Wochen musste einer der Knechte losjagen, wenn von irgendwo schlimme Post kam, oder die Ödringer trieben Hals über Kopf ihr Vieh in den Burgwall mitten im Bruche und ließen ihre Frauen und Mägde so lange in den Plaggenhütten, bis die Luft wieder sauber war.80

Im Bruch errichten die Ödringer eine Wallburg, die ihnen Schutz vor marodierenden Truppen bietet und als sicherer Rückzugsort dienen wird. Diese wird zunehmend ausgebaut und später werden Häuser, sogar eine Kirche mit einem angrenzenden Friedhof errichtet. Es entsteht die neue Siedlung und Gemeinde Peerhobstel.

78 Dupke, 146. 79 Ebd., 137. 80 Löns, 37f.

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Nach einem erneuten Pferdediebstahl und der Misshandlung durch den Obersten der Weimarer Söldner lauert Harm Wulf ihnen in einem Hinterhalt auf und tötet die Diebe (4. Kap.). Anschließend betreibt er Leichenfledderei. Wulf ist nach seiner Heimkehr »hungrig wie ein Wolf« und scheint in einen Rausch geraten zu sein. Er wirkt »aufgekratzt und hatte so blanke Augen, daß seine Frau sich über ihn wundern musste«.81 Die sich anbahnende Verwandlung eines friedlichen Bauern in ein unbarmherziges »Raubtier« wird hier mit diesen tierischen Anleihen bereits angedeutet. Anschließend feiert er auf seinem Hof seinen gelungenen Hinterhalt. Er verweigert sich allerdings einem Rachezug gegen die Weimarer, den sein Nachbar Drewes anführen will, denn »sie hatten ihm ja nichts getan!« […] Er möchte nicht »aus dem Hinterhalte Leute über den Haufen schießen, mit denen er nichts vorgehabt hatte, das war ihm nicht nach der Mütze«.82 Das ist für den Leser befremdlich, zumal der Protagonist dies einige Stunden zuvor ganz anders gesehen hat. Löns will damit die letzten Reste menschlicher Skrupel und Moral der Figur andeuten, den Schwächeren bzw. Wehrlosen nicht anzugreifen. Harm Wulf ist noch nicht vollständig zu einem Teil des »Wolfsrudels« geworden, das sich »zum fröhlichen Jagen«83 aufmacht. In einer Ansprache rechtfertigt Drewes mit der Bibel die an Söldnern begangenen Morde: »Unser Herrgott wird mir das vergeben. Auge um Auge, Zahn um Zahn, so lehrt uns die Schrift. Wir sind hier keine Räuber und Mörder, aber wenn der Wolf uns über das Weidevieh kommt […], dann besinnen wir uns nicht lange.«84 (5. Kap.) Neben dieser alttestamentlichen Legitimation erhalten die Bruchbauern durch die Obrigkeit auch eine weltliche. Der Landesherzog hat verfügt, dass sie sich so »gut wehren […], wie […] [sie] irgend können, und alle Hundsfötter, die hier nicht hergehören, totschießen [sollen] wie tolle Hunde«.85 Als Harm Wulf später persönlich auf Herzog Christian trifft, wird das Faustrecht der Bauern nicht nur weiterhin toleriert, es wird ausdrücklich gelobt und zukünftig legitimiert. Dies bedeutet die Kapitulation jeglicher Rechtsvorstellung und -ordnung. Aber im Roman wird daraus etwas Vorbildhaftes, denn die Bruchbauern sind die einzigen, die nicht auf Hilfe hoffen, sondern sich selbst helfen. Der Herzog bezahlt sogar die Steuerschuld der Bauern: »›Immer vorsichtig sein, sich nicht auf mich berufen, wenn es sich nicht um augenscheinliche Räuber und Mörder handelt? Verstanden?‹«86 (9. Kap.) Später wird er den Bauern jegliche Steuerzahlungen erlassen, solange der Krieg andauert. Damit untergräbt der Fürst seine eigene Autorität, und die »Wehrwölfe« werden 81 Ebd., 45f. 82 Ebd., 48. 83 Ebd., 48. 84 Ebd., 55. 85 Ebd., 55. 86 Ebd., 142.

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zum Vorbild stilisiert und zur »Ersatzexekutive«. Der Herzog hat lediglich Sorge, dass er später für die Folgen ihrer Taten aufkommen soll. Rechtspflege und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sehen anders aus. Herzog Christian ist ein schwacher, unentschiedener Herrscher, deshalb ist er für die Gesetzlosigkeit im Lande im hohen Maße mitverantwortlich: »Herzog Christian, der nicht wußte, auf welche Seite er sich schlagen sollte, mußte es mit ansehen, wie das Land verwüstet und die Leute ausgeraubt wurden […].«87 Seine eigenen Söldner können straflos plündern und die Bevölkerung misshandeln (3. Kap.). Der Erzähler beurteilt dies aber nicht so, es fehlt jegliche Kritik am Versagen der Obrigkeit. Im Gegenteil, dem Herzog wird als »allergnädigste[m] Herr[n]« stets gehuldigt.88 Auch dadurch soll das Vorgehen der Bruchbauern in den Augen des Lesers als unumgänglich, als absolut notwendig erscheinen. Schließlich wird auch Harm Wulfs Hof zum wiederholten Mal von einer mordenden Soldateska heimgesucht und seine erneut schwangere Frau sowie seine Kinder umgebracht (5. Kap.). Das Dorf Ödringen ist vollständig zerstört und viele andere Einwohner sind ebenfalls brutal getötet worden. Die später folgende »Gerichtsverhandlung«, während der die Mörder von Wulfs Familie nach ihrer Gefangennahme verurteilt werden, hat den Charakter eines Scheinprozesses. Man kann die Männer nicht schnell genug hängen und ihre Untaten kundtun: »Dis sind 2 Hunde und 2 Schweine. Die sind ganz obereine.« (8. Kap.)89 Gehängte Verbrecher, ob Mörder oder Diebe, werden meistens noch im Tode gebrandmarkt. Zur Romanmitte hin erfolgt der vollständige Umschwung in Harm Wulfs Denken und in seinem Lebensverständnis: »Bauer will ich jetzt nicht mehr spielen, wo der Teufel geerntet hat, habe ich keine Lusten mehr, zu pflügen und zu säen.«90 Die bäuerliche Hauptarbeit wird hier euphemistisch als »Spiel« charakterisiert und das Kriegshandwerk damit positiv konnotiert und zum einzigen Lebensinhalt des Hauptcharakters. Ein Feind, der sich beim Morden besonders hervorgetan hat und betrunken zurückgelassen worden ist, bekommt Harms Verzweiflung und Wut zu spüren: Er [d.h. Harm Wulf, Anm. d. Verf.] war der einzige Mensch im ganzen Dorfe, der es nicht mit ansehen konnte, wenn ein Schwein geschlachtet wurde, und dabei hatte er den Mordbrenner geschunden, wie der Henkersknecht einen armen Sünder.91

87 Ebd., 140. 88 Ebd., 56. 89 Ebd., 134. 90 Ebd., 64. 91 Ebd., 66.

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Mitleid und Erbarmen sind von nun an in der Figur ausgemerzt, weil sie ihren Lebenssinn und Willen verloren hat. Einzig der Rachegedanke erfüllt Harm Wulf: »Große Lusten zum Leben habe ich nicht mehr. […] Vielleicht, wenn ich sie wiederkriege, wenn ich mit den beiden Hauptmordbrennern abgerechnet habe.«92 Auch andere ehemalige Bewohner sehen ihren Lebenssinn nur noch in der Rache. Es scheint, als rechtfertigen die Unbarmherzigkeit und die Gewalttaten, die die Bewohner getroffen haben, einen ganz und gar zynischen, fast voyeuristischen Blick auf die nun von ihrer Seite folgenden Brutalitäten (6. Kap.): Wir sind in der Nacht gleich losgeritten und haben von überall Hilfe geholt; wir waren unser achtzig und nüchtern, und die Bluthunde knapp dreißig und besoffen. Es ist keiner von ihnen am Leben geblieben. So Stücker zwanzig schossen und schlugen wir gleich tot, als sie über die Magethaide kamen und in das Düsterbrok wollten, und die anderen, es waren zehn oder elf, die fingen wir lebendig und nahmen sie in das Bruch mit. […] Alle haben geschrien wie die Wilden, und gebetet und gebettelt haben sie, als es ihnen an den Schluck ging, bis auf das Taternfrauenzimmer, […] denn das war ein Beist und schimpfte bloß, als wir sie aufhingen […].93

Die Gehängten werden als »Galgenvögel« bezeichnet und mit auf- oder abgehängtem Fleisch verglichen. Außerdem seien die Gefangenen ein guter »Fang« gewesen, denn »über zweihundert Dukaten hatten die Völker bei sich«.94 Die ehemaligen Bauern scheinen sich von nun an nicht mehr von ihren vormaligen Schindern und Feinden zu unterscheiden. Sie plündern die Toten aus, nehmen Geld, Waffen und Kleidung mit. Dass es im Roman zentral um den Menschen, der sein Land und alles Lebendige darin schützt, und eben nicht um die Verherrlichung von Krieg und Gewalt gehe,95 ist somit eine unhaltbare These. Im Roman rechtfertigen sich die Gewalt und das unrechtmäßige Verhalten der Bauern zwar immer als Gegengewalt bzw. Verteidigung der nackten Existenz. Aber der Erzähler eröffnet dem Leser keinen kritischen Blick auf die Gewaltszenarien, da nur die begangenen Untaten der Soldaten verurteilt werden, die der Bauern hingegen nicht. Gewalt und Mord sind zum integralen und akzeptierten Bestandteil der bäuerlichen Existenz geworden. Der Leser soll dies ebenfalls so sehen, was durch die Beschreibung weiterer Verbrechen und inhumaner Zustände erreicht werden soll. Harm Wulf erhält später Nachricht von Kannibalismus und unvorstellbaren Gräueltaten im Land: »So schrecklich wurde es, daß man Pestleichen fraß und 92 Ebd., 69. 93 Ebd., 74. 94 Ebd., 75. 95 Anger, 153.

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daß Eltern ihre Kinder tot machten, weil sie ihnen keinen Bissen Brot mehr geben konnten.«96 Er steigt nun zum Anführer der Bauern auf, die »nicht mehr wie rechtliche Bauern anzusehen [waren], sondern wie Kriegsknechte und Wegelagerer«.97 Wulf organisiert einen Hinterhalt und überfällt eine Versorgungskolonne, um die hungernden und verelendeten Bewohner des Bruchs zu versorgen. Die Gegenwehr, der Widerstand der Bauern, ist nun durch große Skrupel- und Mitleidslosigkeit gekennzeichnet, und die Eindringlinge in ihre Welt werden ohne Unterschied getötet. Sie zögern später auch nicht, Leidensgenossen umzubringen, die in ihr Territorium drängen: »Wenn ganze Haufen von fremden, halbverhungerten Bauern angezogen kamen, […] machten [sie] schnell die Finger krumm«.98 Raub, Gewalt und Mord sollen dem Leser als unumgänglich erscheinen, wenn es um die ureigenste Existenz geht. Der zynische Ton, mit dem die verübte Gewalt der Bauern beschrieben wird, nimmt im Verlauf des Romans weiter zu: [Harm Wulf]: »[…] Man darf morgen hier nicht sehen, was sich begeben hat. Die Wagen müssen in den Busch, und was sonst daliegt [d.h. die Ermordeten, Anm. d. Verf.], muß unter die Erde. Auf Schweineschlachten kommt Reinemachen!« Wieder lachte alles und ging fröhlich an das Werk. Eine Stunde später, als der Mond herauskam, sah der Knüppeldamm so blank aus, wie am Morgen.99

Die We(h)rwölfe haben bei Vollmond die Reste ihres blutigen Werks beseitigt und die Leichen verscharrt. Löns stellt hier aber auch typische Gewaltformen und ihre Folgen dar. Die Erosion menschlicher Moral und die Zerstörung ziviler Strukturen im Dreißigjährigen Krieg werden im Roman vermittelt, aber der verherrlichende Blick auf die Gewalt wirkt auf den Leser verstörend. Die Zeichnung der feindlichen Soldaten ist konturlos und stereotyp, egal welcher Kriegspartei sie angehören. Wenn erneut eine Gruppe in die Fänge der Bauern gerät und sie von ihnen umgebracht wird, verschwindet sie nach einigen Absätzen aus dem Lesergedächtnis. Diese Typisierungen lassen die Gegner zur entmenschlichten, grauen Masse, zu Wolfsrudeln werden, die man »erlegen« muss. Sie werden zur notwendigen Staffage im Text, der die tapferen Bauern gegenüberstehen. Demgegenüber sind Bauernschicksale im Roman individuell und tragisch gestaltet. Einzelne Charaktere, wie zum Beispiel der Anführer Harm Wulf oder sein Knecht Thedel

96 Löns, 197. 97 Ebd., 78. 98 Ebd., 178. 99 Ebd., 84.

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sind Figuren und keine Typen. Ihnen widerfahren schwere Schicksalsschläge, mit denen sich der Leser identifizieren soll. Dennoch gilt für den gesamten Roman: Wenn man die vorgestellten Figuren betrachtet, treten »die Einzelschicksale hinter […] [das] Kollektivschicksal zurück«, und »[auch] die Werwölfe haben nur Umrisskonturen, um so plastischer tritt das Gesamtschicksal hervor«.100 Hierin ist sowohl eine fundamentale Schwäche als auch eine Stärke des Textes zu sehen. Das zentrale Motiv ist die Gewalt und ihre Folgen. Die Menschen vegetieren in einer durch Krieg zerrütteten Lebensumgebung mehr dahin, als dass sie in ihr leben. Es gibt keine Regeln, Sicherheiten und Garantien mehr. Ist die historische Szenerie also eher eine Kulisse, in welcher die Hauptfigur zwar »inmitten der Grausamkeit eine gewisse Anständigkeit bewahrt«, aber wo sich die »Gewalt mit den Bereichen der Rührseligkeit, der Arbeit und der Lust«101 vermischt? Das Töten wird im Roman durchgehend als alltägliche und unumgängliche Tatsache gezeigt. Marodeure töten die Menschen in jedem Fall, wenn sie sich nicht wehren. Gleichzeitig ist die damit einhergehende Verrohung der Figuren nachvollziehbar und sie soll als gerechtfertigt erscheinen. Man kann darin auch eine gefährliche Aufgabe und nicht eine lustvolle Arbeit sehen, die erledigt werden muss, da die Banden sonst jeden massakrieren würden. An einigen Stellen des Romans wird ansatzweise deutlich gemacht, dass diese Art zu leben die Menschen moralisch verwahrlosen lässt. Der junge Kaplan Puttfarken, der später bei den Bauern bleiben und sich um ihr Seelenheil kümmern wird, äußert vor der Begegnung mit dem Protagonisten: »Ich habe eine Probe davon erlebt, welcher Art er [d.h. Harm Wulf, Anmerk. d. Verf.] zu sein scheint; die drei Tatern, die mich auf der Straße hinwarfen, um mich auszurauben, hängen an drei Birkenbäumen. Hätten die Toren gewußt, daß ich nur das mein eigen nenne, was ich auf dem Leib trage, […] sie lebten vielleicht noch.«102

Ende des neunten Kapitels rechtfertigt er allerdings die von den Ödringern begangenen Morde in einer großen Predigt. Gott sei auf der Seite derjenigen, die sich verteidigen, zu welchen Mitteln sie auch immer greifen mögen. Harm Wulf tötet in einer Gastwirtschaft ohne zu zögern Soldaten, mitleidlos und automatisch, so wie man Ungeziefer beseitigt:

100 Anger, 153. 101 Dupke, 144. 102 Löns, 168.

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[Harm Wulf:] »Na, das geht hier ja mächtig lustig zu!«, rief der Ödringer laut; »’n Abend zusammen!« Und indem schlug er dem Kerl, der vor dem Feuer saß, mit dem kurzen Bleiknüppel, den er aus dem linken Ärmel holte, über den Kopf, daß der Mensch tot auf die Brandruten fiel, und kaum, daß er dalag, klappte der um, der die Magd im Arme hielt, denn Warnekenswibert hatte ihn gut bedient. Die beiden anderen Reiter machten dumme Gesichter; aber ehe sie recht begriffen hatten, was los war, lagen sie über Kreuz da, denn Wulf hatte den einen besorgt und Hilmersheine den anderen. »So, nun sind wir unter uns, jetzt gebe ich einen aus,« lachte der Wulfsbauer […].103

Das Töten geht den Bauern leicht von der Hand, und hier, wie an vielen anderen Stellen des Romans, stoßen die exzessiven Gewaltdarstellungen dem Leser immer wieder auf. In der zynischen Rede- und Handlungsweise der Figuren kann man zum einen den Grad ihrer Verrohung ablesen und zum anderen ist sie auch eine Form der Verarbeitung der brutalen Zustände und des Umgangs mit ihnen. Die zeitweise auftretenden resignativen Gedanken, sich doch lieber nicht zu wehren und besser unter der Erde zu liegen, um sich nicht mehr sorgen zu müssen,104 weichen aber immer der Entschlossenheit zur Gewalttat und der Gewissheit, das Notwendige und einzig Richtige zu tun. In der Häufung von Szenen dieser Art kann man dem Autor die bereits erwähnte Lust an voyeuristischer Gewalt unterstellen. Man kann die Darstellung des historischen Kontextes also auch als historische Kulisse deuten, vor der sich der bäuerliche Abwehrkampf abspielen kann, den der Autor als einen »Zusammenstoß von Schollengebundenheit und von außen hereinbrechenden Kräften«105 zeigen wolle. Löns entwirft demnach die Idylle bäuerlicher Lebenswelten, um besonders deutlich zu machen, »wie groß die Bedrohung [dieser] durch den Krieg ist und daß deswegen die Heidbauern zur Gewalt greifen müssen«.106 Demnach erschafft er in seinem Roman »den Prototyp einer harmonischen Volksgemeinschaft, die sich über ihre Bindung an die Scholle, an die Heimat, über ihre Arbeit […] definiert. […].« Die Lönsschen Bauern erscheinen deshalb »auch ohne den Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges […] als mit archaischen Zügen versehene Gestalten aus der germanischen Sagenwelt.«107 Wenn man die politische Einstellung des Autors und die Zeitumstände betrachtet, während der der Roman verfasst wurde, kann man diesen Gedanken folgen. Sein Werk ist in der Gegenwart des Kaiserreichs auch 103 Ebd., 110. 104 Ebd., 209. 105 Dupke, 143. 106 Ebd., 146. 107 Ebd., 154f.

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als politisches Buch zu lesen, das die Programmatik und das Selbstverständnis des jungen Nationalstaates verkündet.108 Ob es der »Platz an der Sonne« war oder es um andere politische und wirtschaftliche Interessen Deutschlands in Europa ging, man fühlte sich von benachbarten und feindlichen Nationen eingekreist. Deutschland rüstete auf, und kriegerische Auseinandersetzungen wurden von der Politik zunehmend als beste Option zur Lösung dieser Bedrohung angesehen. Vier Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschien der Roman und »spiegelt[e] ein kollektives Bewusstsein wider«.109 Er war damit »Teil einer großangelegten Mythenbildung […] des Deutschen Reiches«.110 Ihn jedoch als ein Produkt der allgemeinen Kriegseuphorie im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zu werten, ihn gar als »militaristische Tendenzdichtung«111 einzuschätzen, ist jedoch kritisch zu sehen. Hermann Löns hatte keine weiteren kriegsverherrlichenden Texte geschrieben und veröffentlicht,112 die diese Einschätzung rechtfertigen könnten. Sein Kriegstagebuch, das er während seines Einsatzes an der Front bei Reims schrieb, bewertet die eigenen Kriegerlebnisse sehr kritisch. Die sich nach 1890 zunehmend konservativ ausprägende Heimatkunstbewegung verfolgte die Absicht, »die gesamte [›deutsche‹] Kultur auf eine landschaftsbedingte und stammesorientierte Grundlage zu stellen«.113 Sie strebte »eine Erneuerung des Menschen durch Volkstum, Natur und organisches Landleben« an und nahm »eine bewusste Oppositionshaltung gegenüber Naturalismus, Technik, Industrialisierung, Internationalismus und Intellektualismus ein«.114 Löns’ Glorifizierung und Idealisierung des Bauerntums entspringt seiner Idee, dass die Menschen des Landes, obwohl an ihre Scholle gebunden, doch frei und hinsichtlich des menschlichen Lebens klar und weitsichtig dächten, da »sie, wenn auch im kleinen, so doch in einem geschlossenen Kreis, das ganze Leben erleben und übersehen können«.115 Da »die Produktion der menschlichen Nahrung« immer »das Grundproblem alles Lebens«116 sei, ist der unabhängige Bauer mit Scholle und Hof für Löns das herausragende Beispiel menschlicher Existenz. Und weiter: Dass er deshalb auch ein Krieger sein müsse, verstehe sich von selbst und sei der einzig anständige Beruf für einen Mann.117 Löns spricht hier einem Berufsstand, 108 Ebd., 158. 109 Ebd., 158. 110 Ebd., 156. 111 Anger, 153. 112 Ebd., 153. 113 Karlheinz Rossbacher. Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart 1975 (Literaturwissenschaft-Gesellschaftswissenschaft; 13), 13. 114 Dupke, 136. 115 Knottnerus-Meyer, 98. 116 Ebd., 146. 117 Ebd., 100.

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in dem er mehr ein moralisch-tugendhaftes und nicht ein sozial-gesellschaftliches Leitbild sieht, Militanz und Gewalttätigkeit zu. Beides findet im Wehrwolf-Roman seinen Ausdruck. Im Gegensatz zu der wehrlosen Bauernschaft, die vielerorts im Dreißigjährigen Krieg Ziel und Opfer brachialer Gewalt wurde, sind die Bauernfiguren bei Löns ebenfalls brutal, skrupellos und vor allem wehrhaft. Sie sind keine Opfer, sondern sie werden zu Tätern, indem sie präventiv versprengte und raubende Söldner umbringen, damit sie und ihre Familien unbehelligt bleiben. Damit wird die angewandte Gewalt stets gerechtfertigt, aber »die Notwehr der Wehrwölfe [geht] in einem Szenarium von Mord und sadistischer Grausamkeit [unter]«.118 Als Löns’ Roman 1910 erschien, stand die Heimatkunst nicht mehr im Zentrum kunsttheoretischer bzw. literarischer Diskussionen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg trat sie wieder hervor und setzte politisch äußerst konservative bis rechtsradikale Akzente. Der idealisierte, im Einklang mit der Natur lebende, glückliche Außenseiter stand nun nicht mehr im Vordergrund, sondern der im Wehrwolf heroisierte Bauer. Die Heimatliteratur war, da sie sich »fugenlos in den wilhelminischen Nationalismus und Imperialismus« einfügte, eine Basis für die spätere Blut-und-Boden-Literatur des NS-Regimes.119 Ausgesuchte Werke der Heimatkunstbewegung wurden »in den Rang von Staatskunst gehoben«.120 Bereits vor der Jahrhundertwende veröffentlichte Adolf Barthels seinen Roman Dithmarscher. Hier wird, wie bei Löns, chronikgemäß ein Abwehrkampf der Landbevölkerung geschildert und zwar den der Dithmarscher Bauern gegen die Dänen um 1500. Hier wird ebenfalls gezeigt, »wie man den Heimatboden gegen Überfremdung zu verteidigen habe«.121 Löns’ Roman wurde eine »ideologisierende Treibkraft […] für das Gedankengut des Nationalsozialismus bzw. in später Folge, 1944, […] der Werwolf-Propaganda eines Joseph Goebbels« unterstellt.122 Der Aufstand der sich zusammenschließenden Bauern in der Lüneburger Heide gegen marodierende Truppen war nicht nur durch die Nazi-Propaganda (einschließlich der geplanten nationalsozialistischen Guerilla-Bewegung »Werwolf«), sondern bereits Anfang der 1920er Jahre durch die in der Weimarer Republik entstehenden Freikorps vereinnahmt worden.123 Die Nazis instrumentalisierten und stilisierten das Hauptmotiv des Wehrwolf-Romans,

118 Dupke, 164. 119 Rossbacher, 14. 120 Schütz/Vogt, 56. 121 Jens Malte Fischer. »Deutsche Literatur zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg«. Hans Hinterhäuser (Hg.). Jahrhundertende – Jahrhundertwende (2. Teil). Wiesbaden 1976 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, 19), 242. 122 Stiegler, 1. 123 Vgl. Koop, 12–16.

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die Verteidigung von Heim und Heimat, zu einem deutschen Freiheits- und Antibesatzungskampf am Ende des Zweiten Weltkriegs. Und insofern ist die Vermutung begründet, dass [die] Nationalsozialisten den Widerstand der Bauern im Dreißigjährigen Krieg einem Untergrundkampf deutscher »Freiheitskämpfer« gegen die alliierten Besatzungstruppen gleichsetzten und ihm den Namen Werwolf gaben, wenngleich es hierfür keinen unumstößlichen Beleg gibt.124

Der »Löns-Mythos [ließ sich] ohne große Schwierigkeiten in die Ideenwelt der Nationalsozialisten [einpassen].«125 Hermann Löns vertrat politisch eine nationalistisch-völkische Einstellung. Seine chauvinistischen und rassistischen Äußerungen, wie sie im Wehrwolf-Roman zum Tragen kommen, erschweren es, den authentisch-historischen Gehalt seines Werkes zu würdigen. Auch das Motiv der legitimen Verteidigung von Leben und Besitz in einer rechtlosen Epoche gerät in seinem Roman zum halbstarken Selbsthelfertum, das in vielen Passagen groteske und absurde Züge annimmt. Löns’ Absicht, die historische Realität des Dreißigjährigen Krieges, die Not und Drangsal der Landbevölkerung darstellen zu wollen, wird dadurch konterkariert. Der historische Hintergrund dient ihm mehr als Rechtfertigung für ein mit Gewalt aufgeladenes Tableau, das dem Leser gereicht wird. Er hat seinem Roman den Untertitel Eine Bauernchronik beigegeben. Die Textgattung »Roman« stellt hingegen Fiktionales dar. Hier ergibt sich ein Widerspruch, denn eine Chronik berichtet sachlich-objektiv nacheinander von historischen Gegebenheiten, sie hat also einen Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch. Ein Roman hingegen will erzählen und nicht berichten. Der Untertitel spielt auf den authentischen Gehalt des Textes, seinen Anspruch der historischen Darstellung an. Auch wenn der Autor das bäuerliche Leben der Ödringer und ihren Rückzugsort im Bruch als »sentimentale Idylle[n]«126 entwirft, so gelingt es ihm in einigen Passagen doch, dem Leser die Schrecken und Drangsal der ländlichen Bevölkerung – und dies historisch belegbar – zu vermitteln: Die Menschen werden aus blanker Not zu Totschlägern und Mördern. Ihre Lust am Töten ist ein Auswuchs ihrer Verrohung oder auch ihrer Verzweiflung. Die Bauern sind genau wie die entwurzelten und umherstreunenden Soldaten entmenschlicht und zu keinem Mitgefühl mehr fähig. Leider lässt Löns dieses stimmige Grundmotiv in Gewaltglorifizierungen und dumpfen

124 Koop, 13. 125 Dupke, 316. 126 Ebd., 146.

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Chauvinismus abgleiten. Und, wie bereits erwähnt, werden die Gewalttaten und Brutalitäten der Bauern nicht eindeutig verurteilt. Dies hat, wie oben ausgeführt, mit Löns’ politischer Sicht und seiner Schreibintention zu tun. Friedrich Schiller hat in seiner Tragödie Wallenstein das Spannungsverhältnis zwischen (historischer) Wahrheit und Kunst aufzeigt: Der Wahrheit in das heitre Reich der Kunst Hinüberspielt, die Täuschung, die sie schafft, Aufrichtig selbst zerstört und ihren Schein Der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt; Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.127

Die künstlerische Gestaltung liegt frei in den Händen des Autors, und die Unterhaltung des Publikums hat ihren Stellenwert. Dennoch obliegt dem Künstler eine Verantwortung gegenüber der wahrheitsgetreuen Darstellung von historischen Gegebenheiten. Leider wird Hermann Löns der Absicht, Historisches authentisch darstellen zu wollen, nur zum Teil gerecht. Er war wie viele seiner Zeitgenossen in rassistischen Ressentiments und überzogenen nationalistischen bzw. sozialdarwinistischen Ideen gefangen. Deshalb liegt der Schwerpunkt seines WehrwolfRomans auch nicht in der wahrheitsgemäßen Darstellung historischer Ereignisse. Der Autor will sehr deutlich machen, dass das friedliche Zusammenleben äußerst fragil ist und man mit der menschlichen Zivilisation, mit ihren Sicherheiten und Garantien nicht rechnen kann. Löns offeriert dem Leser die Pseudoevidenz, dass der Mensch nicht auf Gewalt verzichten kann, wenn er (über-)leben und das bewahren will, was er sich geschaffen hat. Ende Juli 2017 gab es Pressemeldungen, dass seit hundert Jahren das erste Mal wieder Wolfswelpen in der Lüneburger Heide gesichtet wurden. In Niedersachsen wurden seit 2006 einzelne Wölfe in der Lüneburger Heide, im Wendland und an der Grenze zu Hessen beobachtet.128 Der »Heidedichter« Hermann Löns hätte sich sicherlich über diese Entwicklung gefreut, weil er sich der Natur und ihrem Schutz verpflichtet fühlte. Der viel Kritisierte war Schriftsteller, Journalist und Jäger, Naturschützer, Gesellschaftskritiker, aber eben auch Alkoholiker und Frauenheld. Die »viele[n] Facetten seines Charakters machen ihn [vielleicht heute noch, Anm. d. Verf.] zu einer faszinierenden Persönlichkeit«.129 Vielmehr zeigen 127 Schiller (1993) 6, Zeile 134–138. 128 »Nachwuchs in der Lüneburger Heide. Wolfswelpen tappen in Fotofalle«. Frankfurter Rundschau, 27.07.2012, online unter: www.fr.de/wissen/wissenschaft/natur/nachwuchs-in-der-lueneburgerheide-wolfswelpen-tappen-in-fotofalle-a-829538, Stand: 23.07.2018. 129 »Hermann Löns: Ein Zerrissener zwischen Mief und Moderne«. Süddeutsche Zeitung, 28.08.2016, online unter: www.sueddeutsche.de/news/kultur/literatur-hermann-loensein-zerrissener-zwi-

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sie aber einen zwiespältigen Künstler, der mit seinen chauvinistischen und rassistischen Einstellungen ein Kind seiner Zeit war und in seinem Schaffen durch diese begrenzt wurde.

schen-mief-und-moderne-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160828-99-245717, Stand: 23.07.2018. Zu Löns᾽ Leben und Persönlichkeit vgl. die Doppelbiografie von Heinrich Thies. Mein Herz gib wieder her: Lisa und Hermann Löns. Romanbiografie. Springe 2016.

Katrein Brandes

Hans Werner Richter und Wolfgang Borchert Zwei Schriftsteller im Zweiten Weltkrieg

Unter den Nachkriegsschriftstellern sind zwei Autoren besonders bekannt geworden: Hans Werner Richter als Leiter der Gruppe 47 und der früh verstorbene Wolfgang Borchert durch seine Kurzgeschichten und das Drama Draußen vor der Tür. Während Ersterer seine Intention auf die Zukunft richtete, in der die junge G enerat ion 1 nach den Erniedrigungen des Dritten Reiches eine demokratisch sozialistische Gesellschaft in Gang setzen sollte, blieb der Jüngere seinem Kriegstrauma verhaftet, aus dem indes allmählich die Einsicht möglicher Schuld in der Vergangenheit erwuchs. Hans Werner Richter schrieb einen einzigen Roman, in dem er seine Militärerfahrungen thematisierte: Die Geschlagenen von 1948. Wolfgang Borchert gilt vor allem durch sein Drama sowie zahlreiche Kurzgeschichten aus der Nachkriegszeit als Repräsentant der Trümmerliteratur; die Kurzprosa, welche auf seinem Einsatz auf den Schlachtfeldern in der Sowjetunion sowie auf langer Haftisolierung beruht, ist von der Öffentlichkeit weit weniger wahrgenommen worden. Obwohl beide Schriftsteller nur kurze Zeit in das direkte Kriegsgeschehen eingebunden waren, jeweils ca. vier Monate, waren sie doch an äußerst gefahrvollen Schauplätzen eingesetzt. Hans Werner Richter hatte als Angehöriger der 29. PGD (mot) von Juli bis November 1943 im Mittelabschnitt Italiens südlich der Abruzzen im Range eines Obergefreiten mit seiner Kompanie die Alliierten abzuwehren, die von Süden her die 10. Armee bedrängten. Die Aufgabe seiner Abteilung bestand darin, einen Sperrriegel zu errichten, die Reinhard/Bernhard-Linie, die quer

1 S. z.B. »Die Wandlungen des Sozialismus – und die junge Generation«. Der Ruf – Unabhängige Blätter für die junge Generation. Auswahl von Hans A. Neunzig. München: Nymphenburger, 1976, 134ff.

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durch Italien verlaufen sollte, jedoch nie über ein Provisorium hinausgelangte. Sein Regiment lag ca. 25 km südlich der kleinen Stadt Cassino, wo der Zugang zur Nationalstraße 6 nach Rom aufs Heftigste umkämpft wurde, so dass die brennende Schneise die Bezeichnung Tal des Todes erhielt. Täglich waren die deutschen Soldaten der Materialüberlegenheit der Artillerieangriffe der US Armee und der Bombardements der RAF Groß Britanniens ausgesetzt, denen Hans Werner Richter mit seiner Gefangennahme am 12. November 1943 entging. Zweieinhalb Jahre hatte er danach in Kriegsgefangenenlagern in den USA zuzubringen. Als er dort im April 1946 entlassen wurde, kehrte er nach Deutschland zurück. Wolfgang Borchert wurde nach seiner Ausbildung als Funker in Weißrussland in der Heeresgruppe Mitte 1941 als Panzergrenadier beim Vormarsch auf Moskau eingesetzt. Auf Grund eines Durchschusses seines linken Mittelfingers kam er im Februar 1942 nach knapp drei Monaten Wehrdienst ins Lazarett, anschließend, unter der Anklage, sich wehruntüchtig gemacht zu haben, mit der Todesstrafe bedroht, ins Militärgefängnis in Nürnberg, wurde freigesprochen, jedoch auf Grund angeblich subversiver Briefe verurteilt. Im November 1942 wurde er nochmals zur Frontbewährung als zeitweilig waffenloser Melder herangezogen, vermutlich in den im Nordosten noch gehaltenen Kessel von Rshew nordwestlich Moskaus. Mit erfrorenen Füßen brachte man ihn vier Wochen später in ein Lazarett in Smolensk. Dieser Aufenthalt hat sich ebenso wie die eisige Atmosphäre der Wintermonate an der Ostfront in mehreren Kurzgeschichten niedergeschlagen (An diesem Dienstag, Die Kegelbahn, Der viele viele Schnee, Mein bleicher Bruder, Vier Soldaten, Die Nachtigall singt). Seine literarische Darstellung fand »das große Erlebnis der Front«, eine Wendung, die Hans Werner Richter für seinen Militäreinsatz in Italien seiner Frau gegenüber2 einführte und die er wie eine key-note mehrfach hervorhob, im 1. Teil der Geschlagenen. Er war 1940, bereits 31 Jahre alt, zum Zollgrenzschutz an der Südgrenze des Generalgouvernements Polen eingezogen worden. In Krakau heiratete er 1942 Antonie Lesemann, die dort als Lehrerin für deutsche Schüler tätig war. Der Umgang der Vertreter der deutschen Besatzungsmacht mit der polnischen, vielfach jüdischen Bevölkerung war ihm vermutlich bekannt, worauf Passagen in seinem Roman von 1955 Du sollst nicht töten schließen lassen. Ende 1942 wurde er in gleicher Position an die Pyrenäengrenze zum wie das Deutsche Reich faschistischen Spanien versetzt. Beide Stationierungen verliefen durchaus ruhig und ohne riskante Momente; in Frankreich wurde ihm die Einrichtung der Kompaniebibliothek übertragen. Mitte 1943, als die Alliierten von Süden her auf das italienische Festland übergriffen, waren Truppen zum Küstenschutz Westitaliens 2 Brief an Toni Richter Anfang 1944 aus Camp Ellis (wie sämtliche privaten Briefe an Toni Richter als Typoskript in der adk Berlin o. Sign.).

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notwendig geworden, so dass auch Hans Werner Richter dorthin abtransportiert wurde und bis November in die Kämpfe hineingeriet. Der 2. Teil des Romans enthält die fiktiv ausgeführten Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft des Autors im Camp Ellis Ill. und im Fort Kearny RI, in dem die demütigende Behandlung der antifaschistischen POWs (Prisoner of War), zu denen er sich zählte, im Zentrum steht und die wahrscheinlich zum nie nachlassenden Ressentiment Hans Werner Richters gegenüber den offiziellen Vertretern der USA beitrug. Der Autor berichtete darüber hinaus davon, dass ihm Bibliotheksbetreuung, Literaturunterricht und Mitarbeit an der Lagerzeitung und an Der Ruf – Blätter für deutsche Kriegsgefangene anvertraut wurden. Die Kriegshandlungen selbst, d as g roße Erlebnis der Front, betreffen folglich nur einen geringen Teil seiner Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges. Nach seiner Heimkehr konzipierte er mit Alfred Andersch sogleich Der Ruf – Zeitschrift der jungen Generation, bis die Herausgabe wenig später nach Auseinandersetzungen mit der US-Militärbehörde scheiterte. Ein paar Monate danach wurde er vom Kurt-Desch-Verlag dazu angeregt, seine Kriegserfahrungen in einem Roman niederzulegen, dem Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues (erschienen 1929) als Vorbild dienen sollte. Hans Werner Richter brauchte Geld, wie er sagte, fühlte sich wohl auch geschmeichelt und beendete den Text nach acht Monaten im August 1948. Wie Erich Maria Remarque schilderte Hans Werner Richter in realistischer Diktion die Brutalität des Krieges und die Ohnmacht der Soldaten. Er legte seinen Roman wie der frühere Autor es vor seinem Werkstext betont hatte, offenbar nicht auf eine politische Aussage hin an. Überlegungen über die Hintergründe des militärischen Status als Opfer oder Täter zugleich kommen bei den Romanfiguren nicht auf. »Das ist ja der Wahnsinn« ist einer ihrer typischen unreflektierten Kommentare. Es fehlt zudem der Aspekt der Kameradschaft, der bei Remarque hervorsticht. Denn in einer verzweifelten Situation ist der Kampfgefährte in Die Geschlagenen nicht Mitleidender, die Männer verharren nebeneinander. Die Haltung des Erzählers seinen literarischen Personen gegenüber ist gleichbleibend distanziert, so dass keine unmittelbar persönliche Gefühlsregung spürbar wird. Das Narrativ ist eine genaue Vorgangsbeschreibung, eine Reportage, von der Aufarbeitung einer bestimmten historischen Epoche weit entfernt. Weil Wolfgang Borchert bereits Dramen und umfangreiche Lyrik produziert hatte, bedurfte es für ihn eines äußeren Anstoßes nicht. Im Militärgefängnis in Berlin-Moabit, in dem er ein Dreivierteljahr einsitzen musste, habe er schon »ganz unglaublich viel geschrieben – alles was sich noch so aufgestaut + angesammelt

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hatte, kam in dieser Ruhe an die Oberfläche«3 und »einmal aber werden diese Quellen in [ihm] alle aufbrechen«,4 werde er sich von »Schlacken« und »Eierschalen« befreien, was er in seiner Korrespondenz mehrmals aufgriff. Nach einem Hospitalaufenthalt Anfang 1946, während dessen ihm wahrscheinlich bewusst wurde, dass ihm nur noch eine kurze Zeit bleiben werde, »lebte er wie hinter einer imaginären Wand und schrieb«, wie sich seine Mutter erinnerte.5 Zunächst vollendete er Tui Hoo,6 eine Hamburg-Geschichte, und Die Hundeblume,7 eine Erzählung aus der Haftanstalt, in für ihn ungewohnter Prosa. Den ersten seiner Kurzgeschichten, die ihn berühmt machten, lag also keineswegs das Kriegstrauma zugrunde, sondern sie basierten auf der quälend andauernden Zeit im Gefängnis sowie persönlicher Todesahnung. Obwohl er die elterliche Wohnung schließlich nicht mehr verlassen konnte, hielt er darüber hinaus das Leid der Menschen nach der Zerstörung seiner Heimatstadt Hamburg fest, das seine Nachkriegskurzgeschichten widerspiegeln. Wolfgang Borcherts Texten mangelt es zwar gleichfalls an profunder gedanklicher Betrachtung, doch unterscheiden sie sich deutlich von der realistischen, reservierten Darstellungsweise Hans Werner Richters. Persönliches Erleben, Angst, Todesgegenwärtigkeit sind ständig erkennbar, Konditionierungen, die auf faktischen Vorfällen beruhen. Die aussichtslose Situation der Heeresgruppe Mitte bereits Ende 1941 nach der verlustreichen Schlacht vor Moskau, in die er hineingeworfen worden war, macht es wahrscheinlich, dass er sich ihr durch Selbstverstümmelung entziehen wollte: Winter, schneidende Kälte, unübersehbare Weite, gänzlich unzureichende Ausrüstung, Stellungskrieg. Doch nach über fünfmonatigem Einschluss in der Strafvollzugsanstalt rückte er abermals zur Feindbewährung aus, die abzuleisten ihm in der eigenen Kompanie gewährt wurde. Wiederum im Vorfeld Moskaus wurde er als Melder ohne Waffe in Dienst gestellt. Der Monat im Kessel bei Rshew, »im Raum Toropez«, von Mitte November bis Mitte Dezember 1943 prägte seine Kriegserfahrung zutiefst. In Briefen an unterschiedliche Empfänger betonte er: »Furchtbar waren die Tage bei Toropez, wo ich als Melder nachts durch die grauenhaften Wälder laufen mußte«.8 Seine Eltern konnten im Brief vom 22.01.19439 aus Smolensk lesen:

3 Brief an Aline Bußmann, 15.09.1944: in Gordon A. Burgess, Michael Töteberg. Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte, Dokumente. Reinbek: Rowohlt (rororo), 2003, 136. 4 Brief an die Eltern am 22.01.1943; Töteberg, 95. 5 Herta Borchert. Vergangenes Leben. WBA (Wolfgang Borchert Archiv in der Universität Hamburg) o.Sign., 169. 6 P. Rühmkorf (Hg.). Die traurigen Geranien. Reinbek: Rowohlt (rororo), 1967, 48. 7 Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt (rororo), 1959 (im Folgenden GW), 25. 8 Brief an Hugo Sieker (Feuilletonchef der Hamburger Freien Presse) am 20.02.1943; Töteberg, 99. 9 Töteberg, 95.

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Diese kurze Zeit – Dezember war für mich fast zu schlimm – könnt Ihr Euch das vorstellen, ohne Waffe in den Wäldern und zwischen den Russen herumzulaufen.

Furcht vor Auflösung aller Humanität, wie er sie während der Kämpfe durchlebt hatte, schlug sich im Schreiben vom 29.03.1943 an seinen Freund Claus Dammann nieder: Dieses Rußland […] hat […] den wahren Menschen freigelegt […] – nur noch ein Wesen, das sich in den Schnee gekrallt hat aus tierischer Angst um sein bißchen Leben. Daß man sich vor Mens ch lichem so demütigen mußte, war das grauenhafte.10

Und er fragte schlussfolgernd: […] weil alles fehlt, was uns Hoffnung geben könnte – denn werden wir diese Vision des Grauens je wieder loswerden […]? Ist dieser Krieg nicht zu entmenscht […]?11

Demzufolge bilden nicht nur Schnee, Stille, Einsamkeit konstitutive Elemente der Kriegskurzgeschichten Wolfgang Borcherts, sondern sind Verlust des MenschSeins, Tote und Tod allgegenwärtig, er wird ausgeteilt, erwartet, erlitten.12 Leben und Verwesung sind nicht mehr zu trennen. Die Ich-Erzählung Radi generiert sanft, leise, angsterfüllt die Phantasmagorie des eigenen Todes. Eine derartige Betroffenheit bis an die psychische Grenze findet sich bei Hans Werner Richter nicht. Zwei Textstellen aus seiner und Wolfgang Borcherts Prosa mögen über ihre mentale Verschiedenheit Auskunft geben: Hans Werner Richter. Die Geschlagenen Es geht los, sagte Grundmann. Sie nahmen ihre Stahlhelme und setzten sie auf. Die Abschüsse folgten jetzt dicht aufeinander. Die Einschläge lagen alle auf ihrem Berg. […] Die Balken über ihnen begannen zu zittern.

10 Töteberg, 105. 11 Brief an Aline Bußmann am 17.12.1944; Töteberg, 148. 12 S. Motto Die Kegelbahn. GW, 169.

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Beijerkes Gesicht war plötzlich weiß und kalkig. Die Einschläge kamen immer dichter heran. Steinsplitter spritzten ins Loch. Der Sand rieselte durch die Bohlen. […] Gühler schwieg. Er sah die Blässe in Beijerkes Gesicht und dachte: Er hat Angst. […] Wieder hörten sie die Abschüsse. Sie folgten hintereinander wie ein ununterbrochener Trommelwirbel. […] Ununterbrochen wirbelten die Einschläge über den Berg. Tausende von Granaten gurgelten über ihren Bunker hinweg und explodierten in dem Tal hinter ihnen. Sie folgten aufeinander wie die Salven aus einem Maschinengewehr. Ein ununterbrochenes Rauschen erfüllte die Luft. Die Einschläge um ihr Loch vermehrten sich von Stunde zu Stunde. (151–153)

Wolfgang Borchert. Vier Soldaten Vier Soldaten. Und die waren aus Holz und Hunger und Erde gemacht. Aus Schneesturm und Heimweh und Barthaar. Vier Soldaten. Und über ihnen brüllten Granaten und bissen schwarzgiftig kläffend in den Schnee. Das Holz ihrer vier verlorenen Gesichter stand starrkantig im Geschwanke des Öllichts. Nur wenn das Eisen oben schrie und furchtbar bellend zerbarst, dann lachte einer der hölzernen Köpfe. Und die andern grinsten grau hinterher. Und das Öllicht bog sich verzagt. […] Vier Soldaten. Aber einer, der sagte nichts. Der glitt mit dem Daumen am Gewehr auf und ab. Auf und ab. Auf und ab. Und er drückte sich an sein Gewehr. Aber er haßte nichts so, wie dieses Gewehr. Nur wenn es über ihnen brüllte, dann hielt er sich daran fest. […] Da sagte der Zigarettendreher: Du, gib mal die Ölfunzel her. Natürlich, sagt der Kleine, und nahm das Gewehr zwischen die Knie. […] Aber da fiel ihm das Licht aus der Hand. Und erlosch. Und erlosch. […] Junge, hab ich einen Tatterich! […] Und der in der Ecke dachte: Keiner ist unter uns, keiner, der nicht zittert. […] Da brüllte das Eisen über ihnen und zerfetzte die Nacht und den Schnee. (GW 171–172)

Die beiden Textbeispiele zeigen die unterschiedliche Herangehensweise, Erlebtes wiederzugeben, zu gestalten sehr deutlich. Hans Werner Richter berichtete sachlich von dem, was sich im Handlungsverlauf ereignet, indem er die Dramatik der zunehmenden Gefahr in etlichen äußerlichen Bedrohungskomponenten entwickel-

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te. Einige Wörter wurden mehrmals wiederholt, um die dadurch ausgelöste Angst, zumal des scheinbar furchtlosen Beijerke, deutlich zu machen. Diese Verfassung der Männer wird ohne Gefühlsanteil konstatiert. Durch die karge Anordnung förderte Hans Werner Richter das Empfinden von Authentizität, die im Roman dadurch verstärkt wurde, dass es dem Autor gelang, durch häufige Verwendung des Landserjargons das fiktive Geschehen nahe an eine faktisch erlebte Vergangenheit heranzurücken, so dass bei ehemaligen Soldaten der deutschen Wehrmacht zweifellos Erinnerungen an ähnliche nahezu aussichtslose Situationen wach geworden sind. Hans Werner Richter beließ es in seinem Roman trotz der geschilderten bedrohlichen militärischen Gesamtlage bei einem einzigen Toten aus der Gruppe um den Protagonisten Gühler. »Unten ist der Krieg« wiederholt dieser und fühlt sich von den Schreien Verwundeter belästigt. Die gleiche Feststellung fügte Hans Werner Richter in den Brief vom 03.11.1943 ein und teilte seiner Frau mit, dass er »froh [sei], in der Hohen Tatra (Südgrenze Polens) ein wenig das Klettern erlernt« zu haben, so dass er sich vor Cassino den Gefechten gelegentlich entziehen konnte. Sein Ziel, sogar seine Gewissheit waren es, sich für die Zeit nach dem Kriege aufzusparen, um literarisch tätig zu sein. Der Tod wurde abgewehrt. In seiner Kurzgeschichte Vier Soldaten bediente sich auch Wolfgang Borchert einer einfachen Sprache, wiederholte Wörter und Wendungen, meistenteils um einen Vorgang in seiner besonderen Bedeutung kenntlich zu machen. Doch durch Anthropomorphismus evozierte der Dichter eine geradezu irreale, geisterhafte Eigenwelt, welcher die vier Soldaten ausgeliefert sind. Der Zugriff nicht zu bezwingender Mächte scheint unmittelbar zu sein; Gewehr und Ölfunzel beherrschen die Kurzgeschichte kraft zeichenhafter Bedeutung. In dieser Szene wurde das Faktische verfremdet, wie oftmals in Wolfgang Borcherts Kurzgeschichten bis zur Groteske getrieben. Der Mensch ist nicht mehr Herr seiner selbst, er ist durch den Krieg »entmenscht«.13 Die vier namenlosen Männer stehen für die Tausenden von Infanteristen des deutschen Heeres, Wolfgang Borchert eingeschlossen, in denen unkontrollierbare Angst aufsteigt, die den Leser selbst unterschwellig ergreift. So intensiv und einprägsam sich sowohl Hans Werner Richter wie Wolfgang Borchert das Leiden der deutschen Soldaten angelegen sein ließen, so wenig wendeten sie sich der Schonungslosigkeit der Wehrmachtsangehörigen den Zivilisten im besetzten Land gegenüber zu. Hans Werner Richter erlebte den Umschlag des Verhältnisses des Deutschen Reiches zum Königreich Italien aus erster Hand mit. Der Roman Die Geschlagenen beginnt damit, dass sich die italienischen Verbündeten plötzlich als Gegner gerieren. Den heimlichen Waffenstillstand am 03.09.1943 zwischen dem italienischen Ministerpräsidenten und den angelsächsischen Alliierten bezeichnete die deutsche Regierung als »Verrat« und erließ unmittelbar 13 S. Brief an Aline Bußmann vom 17.12.1944.

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ein Besatzungsstatut, das unerbittlich auszuführen war. Zwar unterstützten die Alliierten militärisch mit ihrer Landung in Salerno südlich Neapels die italienische Seite; deren Zivilbevölkerung, nach Mussolinis Sturz froh, vom Faschismus befreit zu sein, hatte jetzt dennoch Vertreibung, Exekutionen, Zwangsarbeit von der deutschen Besatzung zu erdulden. Vieles davon scheint Hans Werner Richter beobachtet zu haben, ließ es andeutungsweise in seine Reportage einfließen, enthielt sich indes bis auf Szenen hungriger Frauen jeglicher persönlichen Bezugnahme. In Wolfgang Borcherts literarischen Aufzeichnungen sind noch weniger Details über den Umgang der deutschen Wehrmacht mit den Einheimischen eroberter Gebiete nachzulesen, obschon er in Witebsk (Weißrussland) und Smolensk die Verheerungen durch die NS-Armee wahrgenommen haben muss. Er ließ es bei Gedichten auf die goldenen Kuppeln der Kathedrale dieser Stadt,14 bei Flirts mit einem jungen Mädchen und Schilderungen von Begebenheiten im von Deutschen belegten Seuchenlazarett bewenden. In Briefen und Gedichten indes äußerte er sich bisweilen erstaunlich abfällig über die russische Bevölkerung: aber letztenendes ist mir alles russische Milieu nicht recht sympathisch. […] Das Rußland, das wir kennengelernt haben, kann man nur als bedrückend empfinden – als trübe, faule, schmutzige, graue Masse; […].15 Lumpen, Läuse, Leiber in Lappen […].16

In ihren Texten die Wehrmachtssoldaten ausschließlich als Opfer zu positionieren, bildete in der deutschen Nachkriegsliteratur ein allgemeines Phänomen, das bei Hans Werner Richter und Wolfgang Borchert gleichfalls zu beobachten ist. Von der Gruppe um Gühler geht kein einziger Schuss aus, nur in Wolfgang Borcherts Die Kegelbahn wird zumindest zum Ausdruck gebracht, dass die Soldaten selbst geschossen haben und dass sie es abermals tun werden. Zwischen der eigentlichen Wehrmachtszeit und seiner Entlassung in den zivilen Lebensbereich lagen für Hans Werner Richter 2½ Jahre Kriegsgefangenschaft, während deren er in Zeitungsaufsätzen das damalige Gegenwartsgeschehen, soweit es von ihm wahrgenommen werden konnte, zu schildern und eine Wandlung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu entwerfen trachtete. Von seiner langen, weitgehend gefahrlosen Kriegszeit sah er in späteren Darstellungen ab, setzte einen Null-Punkt, verdrängte sie vermutlich. Als einer der Geschlagenen rückte er jetzt die junge Generation der Literaten (Gruppe 47) ins Blickfeld, als 14 Die Kathedrale von Smolensk I und II; Töteberg, 254–255. 15 Brief an Werner Lüning (Freund und Lektor im Rowohlt Verlag) am 17.12.1945; Töteberg, 159. 16 Russisches Gedicht, Gedichtanfang, dem Brief vom 29.10.1944 an A. Bußmann handschriftlich, WAB BOR:Ba4:113–116, beigelegt.

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deren Leiter er sein persönliches Renommee wieder herstellen konnte. Sein Antikriegsroman, wie Die Geschlagenen nach Ende des Zweiten Weltkrieges häufig bezeichnet und als solcher gelobt wurde, blieb in seinem Schaffen Episode. Für Wolfgang Borchert begann mit der Rückkehr im Mai 1945 eine völlig neue Periode literarischer Arbeit. Er müsse sich »erst an Prosa gewöhnen« heißt es im Brief vom März 1946 an Aline Bußmann,17 und er setzte am 01.05.1946 hinzu: wenn ich nicht ins Gefängnis gekommen wär, hätte ich keine ›Hundeblume‹ geschrieben – wenn ich nicht krank geworden wäre, hätte ich überhaupt kein Wort geschrieben.18

Er führte zahlreiche Gründe an, die ihn zum Schreiben bewogen hätten, seine andauernde Bettlägerigkeit ließ am Ende keine andere Berufsausübung mehr zu. Mit der Veröffentlichung seiner Hamburg-Gedichte, der Kriegs- und Nachkriegskurzgeschichten und im Februar 1947 mit der Sendung des Hörspiels Draußen vor der Tür sah er sich einem »Borchert-Rummel«19 ausgesetzt. Seine späten Texte (Das ist unser Manifest, Lesebuchgeschichten, Dann gibt es nur eins), so pathetisch sie bisweilen angelegt sein mögen, lassen erkennen, dass ihr Verfasser allmählich ein Gespür dafür entwickelte, als Bürger nicht vollkommen unschuldig am Ursprung des Verhängnisses gewesen, nicht nur Opfer zu sein, sondern zu den Tätern zu gehören. Nachdem er Generälen, Studienräten, Vätern Verantwortungslosigkeit vorgeworfen hatte, weil sie die jungen Männer in die »Hölle« des Krieges geschickt hätten, erweiterte er den Kreis der Schuldigen um den »Fabrikbesitzer«, den »Mann mit dem weißen Kittel«,20 den »Grünpulvermann«, der »mit einem Löffelchen voll 100 Millionen Menschen totmachen« kann,21 welche Krieg und Vernichtung vorbereiten halfen. Vollends offensichtlich wird diese einsichtig mahnende Stimme Wolfgang Borcherts, sich bereits in Friedenszeiten jeglicher Inanspruchnahme für den Krieg zu widersetzen, in seinem Appell Dann gibt es nur eins – sag nein!, den er als Hörspieleinleitung zur Londoner Konferenz der Siegermächte im November 1947 einrichtete, die aber nicht ausgestrahlt wurde. Hans Werner Richter gelangte zu einer solcherart dokumentierten Erkenntnis nicht. Er wie Wolfgang Borchert waren weit davon entfernt, das Heraufkommen und das Um-sich-Greifen des Nationalsozialismus zu analysieren. Mit ihrer Prosa beschworen sie zwar das Leiden der deutschen Wehrmachtsangehörigen, nicht das der fremden Zivilisten und Kriegsgefangenen. Als Schriftsteller erschufen sie ihre 17 Töteberg, 169. 18 Töteberg, 174. 19 Brief an Hugo Sieker am 08.04.1947; Töteberg, 210. 20 Lesebuchgeschichten. GW, 315. 21 Die lange lange Straße lang. GW, 262.

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jeweilige literarische Welt, die sowohl eigener Disposition entsprach, wie sie vom Klima der Nachkriegsgegenwart beeinflusst war. Obwohl die Romanhandlung der Geschlagenen weitgehend einer Autobiographie entspricht, da die Route der Romanfiguren sowie die militärischen Aktionen mit dem tatsächlichen Verlauf des Einsatzes Hans Werner Richters in Italien augenfällig zu identifizieren sind, entwarf der Autor in der Hauptperson Gühler einen moralisch unanfechtbaren, intellektuell überlegenen, auch Zivilisten gegenüber hilfsbereiten Charakter, ein idealisiertes Bild seiner selbst. Damit konnte er den Lesern post factum das Beispiel eines tadellosen Soldaten suggerieren. Bei ihrer Entlassung aus Wehrdienst oder Kriegsgefangenschaft begegneten die Heimkehrer Ruinen, die sie bedenkenlos, so auch Hans Werner Richter und Wolfgang Borchert, anderen, dem Feind zuschrieben, ohne auf die Ursachen zurückzugreifen. Daher lag vorerst kein Grund für Mitleid außer mit ihren Landsleuten vor. In dieser aktuellen Atmosphäre unternahmen sie es, ihre Vorstellungen von den Brennpunkten der Zeitgeschichte, d.h. Kriegsschauplätzen, in künstlerischer Freiheit zu gestalten, die sie wie Hans Werner Richter im Roman, in Aufsätzen und literarischem Engagement oder wie Wolfgang Borchert in Geschichten erlebter menschlicher Grenzerfahrung und in Appellen nutzten. Der zeitgenössische Referenzrahmen verbürgt wie sprachliche, kompositorische Komponenten nur bis zu einem gewissen Grade die Authentizität des Faktischen. Der Nachhall des Entsetzens über tödliche, feindliche Bedrohung, die Erleichterung, sie lebend überstanden zu haben, möglicherweise Scham über Versagen und Normverletzungen, nicht Aufklärung, zumal nach jahrelanger Propaganda, standen für die Kriegsveteranen im Vordergrund. Mit ihrem Beharren auf dem Opferstatus der deutschen Soldaten sowie Hans Werner Richters Insistieren auf »Hitlers Krieg«22 exkulpierten sie die deutschen Nachkriegsleser von jeglicher Mitverantwortung. Unter diesen gesamtgesellschaftlichen Konditionen der Nachkriegszeit konnten noch so rudimentäre Empathien für Menschen außerhalb des nationalen Gesichtsfeldes nicht aufkommen. In Interviews mit ehemaligen Wehrmachtsoldaten, deren Aussagen Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen zu Hunderten ausgewertet haben, spielt der Aspekt des Verhaltens des einzelnen Soldaten zu den einheimischen Bewohnern jenseits der deutschen Grenze augenfällig keine Rolle,23 und in Forschungsvorhaben selbst ist diesem Problem bisher kaum nachgegangen worden. Dieses wird jedoch in der Gegenwart unter der proklamierten Zielsetzung Responsibility to Protect weltweit akut. Seit die Neuen Kriege nicht mehr wie die früheren auf Schlachtfeldern zwischen erklärten militärischen Gegnern ausgefoch22 Die Geschlagenen. München o.J. (Erstausgabe), 221. 23 In intimen Aufzeichnungen, wie Tagebüchern, wird dieses Verhältnis von Gewalt und Ohnmacht ebenfalls nicht erwähnt; die veröffentlichten betreffen zumeist nicht den Bereich des militärischen Einbruchs in fremdländische Kulturen während des Zweiten Weltkriegs.

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ten werden (s. Irak, Afghanistan, Syrien), ist eine unwägbare Gemengelage von Front und zivilem Hinterland, militärischer Agitation und Schutzbemühungen entstanden, in die die Bundeswehr gebietsweise eingefügt ist. Zivilisten werden im Militärischen als Kollateralschäden registriert. Die Mehrzahl der Rezipienten der Kriegsberichte ist auf die Vermittlung durch die Medien angewiesen, braucht die Zerstörungen und Gewalttaten physisch und psychisch nicht mitzuerleben. Zeitgenossen, welchen die Schrecken des Zweiten Weltkrieges in Erinnerung sind, sterben aus. Entsetzen, Abscheu, Mitleid ergreifen bei Aufnahme der mediatisierten Kriegsgräuel auch die nachfolgenden Generationen, wecken Hilfsbereitschaft als Folge gesellschaftlichen, religiös-kulturellen Habitus’, nicht aber aus eigener konkreter Betroffenheit als ferner Betrachter heraus. Prosa über den Krieg konnte nach der emotional aufgeladenen Niederlage 1945 als Reminiszenz an persönlich erlebte Ereignisse aufgenommen werden, diente in ihrer Anlage zumeist der Entlastung, wandelte sich zur Antikriegsliteratur, verblasst im erneut bellizistischen 21. Jahrhundert. Die vorgestellten Erzählungen beider Nachkriegsdichter sind offensichtlich uninteressant geworden. Romane, welche die »Neuen Kriege«, eine veränderte, nicht länger kriegsabständige Bewusstseinslage in den Fokus stellen, erscheinen in der Öffentlichkeit und werden wissenschaftlich analysiert. Sie bleiben ein individuelles schriftstellerisches Zusammenspiel von Fakten und Fiktion. Krieg ist zu ungeheuerlich, als dass er durch Kunst, durch Prosa festzuhalten wäre.

Sam-Huan Ahn

Stigmata des Krieges in der Literatur des geteilten Korea*

Das Land Korea wurde, nachdem es 1945 vom japanischen Joch befreit worden war, mit dem Beginn des Kalten Kriegs von den beiden Großmächten USA und UdSSR in zwei Teile, in Nord- und Südkorea, geteilt. Diese Teilung wurde weder nach irgendwelchen ethnischen Logiken geschweige denn nach dem Willen der Bevölkerung des Nordens und des Südens vollzogen. Vor der Teilung hatte es nicht einmal differenzierte geographische oder ethnologische Unterschiede zwischen Nord- und Südkorea gegeben. Die koreanische Halbinsel wurde einfach willkürlich und brutal am 38. Breitengrad in zwei Hälften geteilt, als ob die kleine Halbinsel, auf der seit der alten Zeit ein Frieden liebendes Kulturvolk lebte, ein Stück Kriegsbeute wäre. Wir wissen, die Geschichte kennt eher selten die Kategorie Gerechtigkeit. Denn es wurde ja nicht etwa die japanische Insel Hokkaido geteilt, sondern die koreanische Halbinsel, als ob die Koreaner irgendeine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg gehabt hätten. Wie paradox dies aus historischer Perspektiv ist, kann man sich lebhaft durch das Gedankenspiel vor Augen führen, dass die vier Siegermächte nicht etwa das besiegte Deutschland geteilt hätten, sondern etwa das schuldlose Polen. Diese Betrachtungen über die Willkürlichkeit der Geschichte schicke ich voran, weil ich unterstreichen möchte, dass die Koreaner nicht etwa ihrem Naturell nach »feindliche Brüder« sind, sondern erst infolge der Kontingenzen des Zweiten Weltkrieges und des »Kalten Kriegs« so zu »feindlichen Brüdern« wurden. Die zwei erzfeindlichen Fronten auf der koreanischen Halbinsel sind nicht nur das Produkt der Politik von Rhee Syngman und Kim Il-Sung, sondern auch ein Ergebnis des

* Dieser Beitrag ist schon publiziert in: Zeitschrift für Deutschsprachige Kultur und Literatur (Seoul National Univ.), 23 (2014), 385–405. Der Verfasser stellt ihn dem deutschen größeren Publikum mit geringfügigen Veränderungen gerne zur Verfügung.

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weltweiten Kalten Krieges. Der Korea-Krieg der Jahre 1950–1953 war in gewissem Sinne ein Stellvertreterkrieg der beiden Großmächte des Kalten Krieges, dessen Folgen das koreanische Volk zu erleiden hatte.

Krieg als Wunde des Menschen überall und immer wieder Der Korea-Krieg ist in der modernen südkoreanischen Literatur sehr präsent.1 Das erste bedeutendste literarische Werk über die Teilung Koreas ist wohl der Roman von Choe In-Hun (geb. 1936), Der Platz (1960). Yi Myeong-Jun, ein Akademiker, der an einer Elite-Universität in Seoul Philosophie studiert hat, wird eines Tages ganz überraschend zur Polizei vorgeladen und zur Rede und Antwort gestellt, ob er noch in Kontakt wäre mit seinem Vater, der nach der Teilung Koreas nach Nordkorea gegangen war und dort gewisse führende Positionen innehatte. Trotz seiner Verneinung musste er Gewalt des Polizisten erleiden. Die Polizisten, die unter der japanischen Herrschaft die patriotischen Bürger und Intelligenten von damals schikanierten und folterten, sind auch in der neuen Republik Korea dieselben geblieben. Aber auch im Norden Koreas, wohin er nach der tiefen Frustration im Süden durch eine illegale Schifffahrt geflüchtet war, musste er enttäuscht werden. Denn in der Demokratischen Volksrepublik Korea musste er »die stolze Leidenschaft im Herzen«2 des Menschen vermissen. Nach seiner Meinung gebe es im Norden nur noch den angeblich gemeinsamen »Platz« ohne den menschlichen »Privatraum«, während es im Süden nur den individuellen »Privatraum« ohne irgendeinen sinnvollen gesellschaftlichen »Platz« gibt. Schließlich muss er sich als Kriegsgefangener vom südkoreanischen Gefangenenlager weder Nordkorea noch Südkorea, sondern ein Drittes Land wählen, um inmitten der Schifffahrt nach Indien verschollen zu gehen. Für den Leser dieses Romans bleibt schließlich keine Hoffnung mehr, dass diese tragische Figur Yi noch auf dieser Welt lebt. Aber auch in harmlosen gegenwärtigen Erzählungen Südkoreas kann eine Kriegssituation überraschend wie ein Gespenst auftauchen, oder sie wird wie eine Wunde der literarischen Figuren nur beiläufig erwähnt. Hiervon gibt es beliebig viele Beispiele. Um hier nur ein Beispiel zu geben, sei eine Stelle aus der Novelle des Schriftstellers Hyeon Gil-Eon (geb. 1940), Auf dem Weg nach der Insel (2014), zitiert, in der ein Bruchstück des Krieges anscheinend ohne notwendigen Grund so kurz erwähnt wird wie folgt:

1 Hier rede ich leider nur von Südkorea, da man über Nordkorea und die nordkoreanische Literatur überhaupt wenig weiß. 2 In-Hun Choe. Der Platz, 133. In-Hun Choe. Sämtliche Werke. Seoul: Munhakgwajiseongsa, 2010, Bd. 1, 23–209.

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Die Dämmerung nach dem Sonnenuntergang ist schön, aber da diese Dämmerung die Dunkelheit nach sich herbeiführt, ist sie auch zu fürchten. Noch erinnere ich mich an das Schicksal meiner Mutter, die leben musste, indem sie auf diese Dunkelheit wartete. Denn mein Vater, der als Partisan in die Berge gegangen war, kam erst in der stockdunklen Nacht der letzten Tage des Monats nach dem Mondkalendar ins Dorf geschlichen, um an das Fenster des Hinterzimmers, wo seine Braut wohnte, leise zu klopfen. Noch im dritten Monat seit der Heirat war der Bräutigam in die Berge geflüchtet, um nicht von der Polizei verhaftet zu werden, und so wurde er Partisan. Seine Eltern wussten zwar genau, was da im Zimmer ihrer Schwiegertochter passierte, aber sie stellten sich, als ob sie nichts davon wüssten. Meine Mutter hätte kaum schlafen können, wenn sie in der tief dunklen Nacht draußen irgendwo im näheren Dorf etwa einen Hund heulen hörte. Erst als ich im Begriff war, meine Heimat zu verlassen, bekam ich von diesen Stunden in der Dunkelheit zu hören, in denen die Braut, meine Mutter, auf ihren Bräutigam wartete. Damals konnte ich mich noch nicht voll in die Lage meiner Mutter einfühlen, in deren Herz sich die Verzweiflung, das Warten und die Vorfreude auf das gefährliche Treffen in der stockdunklen Nacht ohne den Mond am Himmel gekreuzt haben dürften.3

Hier handelt es sich eigentlich nicht um den Korea-Krieg selbst, sondern um den 4.3-Aufstand, der sich als eine Vorform des Korea-Kriegs zwischen den südkoreanischen Soldaten und Polizisten unter der amerikanisch-militärischen Regierung und den südkoreanischen Kommunisten am 3. April 1948 in der Insel Jeju ereignet hat. Inmitten dieses Konflikts wurde viel schuldlose Zivilbevölkerung von der Jeju-Insel als Kommunisten oder deren Mitläufer verfolgt bzw. ermordet. Jedenfalls kann man hier wohl nicht festlegen, dass diese Erinnerung und Erwähnung des Ich-Erzählers »ohne notwendigen Grund« wäre. Sicher hätte auch diese Stelle ein Recht, sich erzähltechnisch genau dort zu behaupten. Aber was ich hier zeigen möchte, ist die Tatsache, dass der Kampf zwischen den Rechten und den Linken wie ein dunkler Schatten und wie ein Gespenst jederzeit und überall in der gegenwärtigen koreanischen Literatur erwähnt zu werden pflegt. Denn es ist eben diejenige Wunde der Koreaner, die der Konflikt zwischen den Rechten und den Linken seit dem Jahr 1945 hinterlassen hat und die noch lange nicht ganz geheilt worden ist. Aus der obigen kurzen Erwähnung des Schicksals seiner Mutter kann man schon herleiten bzw. vermuten, was für ein saures Leben auch dieser IchErzähler inzwischen hinter sich zu bringen hatte. Denn die Lebensbedingungen 3 Gil-Eon Hyeon. Auf dem Weg nach der Insel, 159. Kann nicht ein jeder zu der Insel gehen? Erzählungen. Seoul: Mulle, 2014, 111–205.

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der Eltern können ja, wie diejenigen des Vaters von YI Myeong-Jun, auch und besonders im geteilten Korea den Lebenslauf des Sohns stark beeinflussen.

Massaker und Ermordung als literarischer Alltag Selbstverständlich erscheint der Krieg in der koreanischen Literatur nicht immer so harmlos wie in unserem obigen Beispiel, in dem seine Schrecken nur nebenbei erwähnt werden. Wie in der Literatur anderer Völker, die den Krieg erlitten haben, wird auch der Korea-Krieg vor allem als inhumanes und brutales Massaker an der unschuldigen Zivilbevölkerung dargestellt. In der modernen südkoreanischen Literatur seit den 1950er Jahren erscheint der Bericht über den Massenmord ebenso häufig wie normal. Noch im Roman von Gim Won-Il (geb. 1942), Der Vater des Sohns (2013), wird folgendes berichtet: Etwa 10 Tage nach dem Ausbruch des Korea-Krieges am 25. Juni 1950, also vom 4. Juli 1950 an, begannen die Sondertruppe des koreanischen Heers (CIC, Counter Intelligence Corps) und die Militärpolizei die Häftlinge und die Inhaftierten im Daejeon-Gefängnis einschließlich vieler Zivilbevölkerung, die früher gegen die amerikanische Militärregierung oder gegen die Syngman-Rhee-Regierung gewesen waren, kollektiv hinzurichten. Der Justizbeamte der amerikanischen Armee, Oberstleutnant Edward, der am Ort des Massakers anwesend gewesen war und die Hinrichtungsszenen als Photos hinterließ, zeichnete auf: »Es brauchte drei Tage, bis man 1.800 politische Verbrecher hinrichtete. Es geschah in der ersten Woche des Julis 1950.« Anschließend massakrierten die Sondertruppe und andere militärisch-polizeiliche Truppen mehr als 7.000 linke Inhaftierte einschließlich der Teilnehmer am Bund der Demokratisch-Bekehrten in mehreren Tagen massenweise. Man hatte die Inhaftierten aus dem Gefängnis getrieben und die Lastwagen mit ihnen voll beladen, um sie dann auf den Hinterberg des Mangwol-Dorfes, Sannae-myeon, Daedeok-gun [in der Nähe der Stadt Daejeon, Anm. d. Verf.] zu bringen. Dann befahl man ihnen, sich vor den schon vorher gegrabenen Gruben auf den Bauch zu legen, so dass man sie von hinten in den Rücken schoss. Jeden Tag brachte man von fünf bis fünfzehn Lastwagen voll Menschen dorthin, und sie alle richtete man in mehreren Tagen hin. Diese Opfer bestanden größten Teils aus ehemaligen Mitgliedern der Südkoreanischen Arbeiterpartei, aus den Partisanen, die inhaftiert worden waren oder sich selbst schon vor dem Krieg der Polizei ausgeliefert hatten, oder den Teilnehmern am Bund der Demokratisch-

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Bekehrten. Im Großen und Ganzen waren sie Bauern, und unter denen gab es auch viele Studenten.«4

Der Erzähler dieses Romans von Gim Won-Il berichtet weiter, dass in der Zeit des weiteren Rückzugsgefechts auch in Gyeongsan viele politisch links stehende Inhaftierte des Daegu-Gefängnisses und dieser Region massakriert wurden; in Masan wurde 1.681 Menschen einschließlich der politischen Häftlinge des MasanGefängnisses hingerichtet, während 750 Menschen in Gimhae und Euichang, 870 in Ulsan, 712 in Yangsan und 150 in Changnyeong ermordet wurden. Dieses Massaker beging die südkoreanische Regierung, da sie fürchtete, dass sich diese linken Häftlinge und auch die vorher schon zur Demokratie Bekehrten eventuell der siegreich südwärts vordringenden Volksarmee anschließen würden. Brutal ermordet werden die unschuldigen Menschen auch im Roman von Hwang Sok-yong (geb. 1943), Der Gast (2007). Der Pfarrer Ryu Yoseop sagt es so in seinem Gebet anlässlich eines Hausgottesdienstes bei seinem älteren Bruder Yohan in einer Weißensiedlung von New Jersey, USA: Vor vierzig Jahren sind wir aus unserer Heimat fortgegangen. […] Unser Land befand sich im Krieg. Viele unschuldige Menschen kamen ums Leben. Man brachte sich gegenseitig um, nur um zu überleben. […] Wir müssen zuerst Buße tun.5

Erst als sein Bruder Yoseop weg war, fielen dem allein gebliebenen Yohan auf einmal die toten Menschen aus seinem Heimatdorf Chansaemgol in Nordkorea ein. Es waren all die Geister derer, die er in seiner von der kommunistischen Herrschaft wieder befreiten Heimat ohne Mitleid und Nachsicht ermordet hatte. Die Gestalt des Il-Lang, des ehemaligen Bauernknechts seines Hauses, sah er auch vor sich. Il-Lang hatte damals unter der kommunistischen Herrschaft als Vorsitzender des Dorfkomitees seiner Familie das Land weggenommen, und ihn ermordete Yohan kurz vor dem Einmarschieren der amerikanisch-südkoreanischen Truppen dann brutal. Unter den Gestalten befanden sich auch Chungsons Frau, die Volksschullehrerin und die sechs kleinen Schwestern von Myeong-Seon – also auch Frauen, die er damals brutal ermordet hatte. Besonders rücksichtlos und erbarmungslos hatte er die zwei Mädchen mit den Musikinstrumenten und dem kurzen Pagenschnitt ermordet, nur weil sie in der Uniform der Volksarmee gewesen waren. Offenbar gehörten sie zu einer Gruppe, die die Soldaten der Volksarmee mit ihren 4 Won-Il Gim. Der Vater des Sohnes. Die Zeit des Vaters und die Kindheit des Sohns. Seoul: Munhakgwasasangsa, 2013, 305f. 5 Sok-yong Hwang. Der Gast. Roman. Aus dem Koreanischen von Young Lie, Katrin Mensing und Matthias Augustin. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007, 17.

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Konzerten aufmuntern sollte. Der kleine Yoseop hatte ihnen in ihrem Versteck Reis und andere Speisen gebracht. Als Yohan diese »Kommunistinnen« entdeckte, ermordete er sie brutal, was damals die zarte Neigung des kleinen Knabens in der Pubertät, also seines kleinen Bruders Yoseop, erschüttert haben musste. Durch den Durst wieder aufgeweckt, sah Yohan in seinem Wohnzimmer, dass jemand auf dem Sofa saß. Wer ist da? Das schwarze Ding antwortete mit heiserer, tiefer Stimme. Ich bin’s. Erkennst Du mich nicht? Wer du bist, hab’ ich gefragt! Das Ding sagte mit einer Stimme wie voller Kohlenstaub: Der Maulwurf aus dem Bergwerk von Eunyul. Sunnam? Du? In dem Moment vergaß ich [Yohan, Anm. d. Verf.] alles und schaltete freudig das Wohnzimmerlicht an. Nur die Möbel und der Fernseher standen, wo sie immer standen […], und mit einem Mal wich alle Kraft aus meinen Beinen. Sunnam war ungefähr zehn Jahre älter als ich, also damals schon um die Fünfunddreißig. […] Ich erledigte ihn im Winter jenes Jahres. Am Strommast, der an der Stelle stand, wo die neue Straße von Chansaemgol zur Kreisstadt und der Feldweg sich trafen, knüpfte ich Sunnam mit einer Drahtschlinge auf.6

Es ist hier bezeichnend, dass Yohan aktuell alles, was früher passierte, vergisst und vor Freude am Wiedersehen mit Sunnam das Wohnzimmerlicht anschaltet. Dieser alte Geisterseher schrie aber noch am nächsten Tag zu seinem Bruder Yoseop, der ihm telephonisch vorschlägt, zu Gott um Vergebung zu beten, damit auch die Toten in Frieden ihre Augen schließen: Warum soll ich um Vergebung betteln? Die Roten sind Söhne des Teufels! Satansbande! Ich stehe auf der Seite von Erzengel Michael, und die, das sind die Bestien aus der Apokalypse! Wenn unser Gott es mir befiehlt, würde ich auch heute noch gegen diese Teufel kämpfen!7

Gleich am selben Abend starb Yohan. Sein Bruder Yoseop, der damals im nordkoreanischen Heimatdorf Chansaemgol altersgemäß an den vielen Mordtaten seines älteren Bruders wenig mitschuldig war, flog nach Yohans Bestattung als einer der 6 Hwang, Der Gast, 22f. 7 Ebd., 25.

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amerikanisch-nordkoreanischen Heimatbesucher mit einem Stück Knochen von der Asche seines Bruders nach Pyeongyang, um es dann in seinem Heimatdorf begraben zu können. Wie hieraus zu ersehen ist, entstand der Konflikt im Norden Koreas meist zwischen Protestanten und Kommunisten, während es sich im Süden eher um das Massaker der Zivilbevölkerung durch das Militär oder die Polizei handelte. Aber im Grunde wurde diese Tragödie sowohl im Norden als auch im Süden nach der Meinung des Schriftstellers Hwang verursacht – von der Krankheit aus dem Westen, wie die Pocken, die früher einmal »im Volksmund Gast genannt wurden .... Bei mir [S. Y. Hwang] steht die Bezeichnung Gast allerdings auch für zwei andere Dings: das Christentum und den Marxismus.«8 Ob Krieg zwischen Christentum und Marxismus oder Demokratie und Kommunismus – die Koreaner kämpften wegen dieser beiden westlichen Gäste auf Leben und Tod, und viele unschuldige Menschen kamen dabei ums Leben.

Die Selbstzensur und die unsichtbare Bedrohung der Feindbegünstigung Da es keinen Sinn mehr macht, weitere Beispiele von Massakern und Morden der »feindlichen Brüder« bloß aneinander zu reihen, möchte ich hier lieber auf andere Stigmata des Kriegs in der Literatur des geteilten Landes Korea hinweisen. Zunächst erlaube ich mir hier aber, eine Stelle aus der DDR-Literatur zu zitieren: Er [Eumelos] zog die Schrauben an. Er warf sein Sicherheitsnetz, das bisher die Mitglieder des Königshauses und die Beamtenschaft gedrosselt hatte, über ganz Troia, es betraf nun jedermann. Die Zitadelle nach Einbruch der Dunkelheit gesperrt. Strenge Kontrollen alles dessen, was einer bei sich führte, wann immer Eumelos dies für geboten hielt. Sonderbefugnisse für die Kontrollorgane.9

Ich glaube, dem deutschen Publikum käme dieses Zitat bekannt und vertraut vor. Es ist eine Stelle aus Christa Wolfs Erzählung Kassandra, die den antiken Mythos von dem Kriegszustand zwischen den Trojanern und den Griechen auf die Zeit der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts zwischen den beiden Blöcken des Kalten Krieges zu übertragen versucht. Davon lesen wir ein bisschen weiter:

8 Ebd., 296 (Nachwort des Schriftstellers Hwang Sok-yong). 9 Christa Wolf. Kassandra. Erzählung. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1983, 116.

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Was kommen mußte, kannte ich schon, den festen Achselgriff, die Männerhände, die mich packten, das Klirren von Metall auf Metall, der Geruch von Schweiß und Leder. […] Ich erfuhr, wie eine Gefangene die Zitadelle von Troia sieht, befahl mir, es nicht zu vergessen. Vergaß es nicht, doch hab ich an den Weg unendlich lange nicht mehr gedacht. Warum. Mag sein, der halbbewußten Schläue wegen, deren ich mich schämte. Denn warum schrie ich, wenn ich schrie: Wir sind verloren, warum nicht: Troer, es gibt keine Helena! Ich weiß es, wußte es auch damals schon: Der Eumelos in mir verbot es mir.10

Diese Lage von Kassandra kennen auch die koreanischen Dichter. Sie kennen auch bei sich die »halbbewußte Schläue«, mit der sie beim Schreiben eine Art »Selbstzensur« vornehmen müssen. »Der Eumelos in mir« – es ist dies, was nicht nur bei Kassandra, sondern auch bei manchem koreanischen Dichter während der Diktatur (z. T. auch noch in der Gegenwart) Koreas zu finden ist. Da sprach der Vater, der bis jetzt geschwiegen hatte: Schweig, Kassandra. – Zornig, böse. – Ich sagte: Vater – Komm mir nicht mehr mit »Vater«. […] Ja kennst du unsere Lage überhaupt? Und wenn du diesem unsern Plan, Achill, den schlimmsten Feind zu töten, jetzt nicht zustimmst – weißt du, wie ich das nenne? Feindbegünstigung.11

Wieso ist dieses jedem schreibenden Südkoreaner (dem Nordkoreaner wohl noch mehr?) zum Schrecken bekannte Wort, »Feindbegünstigung«, hier auch im Werk von Christa Wolf zu lesen? Ist es nicht frappierend, dass das Wort »Feindbegünstigung«, diese unsichtbare Kette für jeden koreanischen Schriftsteller, auch in der Literatur der DDR vorkommt? Diese Frage ist insofern leicht beantwortet, als auch Christa Wolf feindliche Fronten darstellt, nämlich die Trojaner und die Griechen. Auch Christa Wolf spricht so im übertragenen Sinn von den feindlichen Fronten des Kalten Krieges, sie erzählt ja von der Konfrontation von Ost und West. Der Vergleich mit Christa Wolf hat es plausibel scheinen lassen, dass auch die koreanische Literatur das Phänomen Selbstzensur und die Angst vor »Feindbegünstigung« thematisiert. Angesichts der Konfrontation mit dem Norden bekamen viele koreanische Dichter ab den 1950er Jahren sogar bis zum gewissen Zeitpunkt der Jahrhundertwende Angst vor diffamierenden Beschuldigungen, und sie erlegten sich, bewusst 10 Wolf. Kassandra, 79. 11 Ebd., 143.

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oder nicht, eine Art Selbstzensur auf. Angesichts der Konfrontation an der DMZ, der Demilitarisierten Zone, könnte selbst konstruktive Kritik an der Regierung wenn nicht als Verschwörung, so doch als Angriff gegen den Staat, als ein Akt der »Feindbegünstigung« eben, diffamiert werden. Um diese Aspekte der koreanischen Literatur zu veranschaulichen, sei hier eine Stelle der Erzählung Die Mauer der Gerüchte (1971) von Yi Cheong-Jun (1939–2008) herangezogen: Nach dem Ausbruch des Korea-Kriegs am 25. Juni 1950 pflegten in unserem Heimatdorf nachts die Polizisten und die Partisanen wechselweise zu besuchen. Eines Nachts drangen schon wieder Leute ins Dorf ein, die nicht leicht zu identifizieren waren, ob sie Polizisten oder Partisanen waren. Und einer von denen kam auch zu unserem Haus, und plötzlich raffte er die Tür unseres Zimmers auseinander, wo Mutter und ich schliefen. Unter dem blendenden Licht einer Taschenlampe dicht am Gesicht meiner Mutter fragte er sie, auf welcher Seite sie stand. Aber meine Mutter konnte in dem Augenblick diese Frage nicht sogleich beantworten. Denn sie konnte ja nicht gleich unterscheiden, wer hinter dem grellen Licht der Taschenlampe war, ob er ein Polizist oder ein Partisan war. Es war ja klar, es würde sich rächen, wenn sie falsch antworten würde. Dennoch war meine Mutter gezwungen, da doch zu antworten, ohne dass sie wusste, wer ihr Gegenüber war. Ihre Lage war verzweifelt. Heute noch erinnere ich mich genau und lebendig, wie es mir in jenem verzweifelten Augenblick zumute war und wie furchtbar es uns war – vor dem grellen Licht vor uns.12

Dies ist die Schilderung einer typischen Szene, die während des Korea-Kriegs in entlegenen Dörfern fast alltäglich war. Yi hat aus diesem Trauma seiner Kindheit allerdings ein psychotherapeutisches Symptom seiner Figur, eines problematischen Schriftstellers im Südkorea der 1970er Jahre gestaltet, jener Zeit also, in der die Militärdiktatur die Freiheit der Schriftsteller unter dem Vorwand der Erhaltung des demokratischen Systems der Republik Korea einzuschränken begann. Diese Schriftsteller-Figur in der Erzählung, Bak Jun, schrieb selber mehrere Novellen, genauer gesagt: Novellen in der Rahmenerzählung von Yi. In einer dieser Texte wird der Schriftsteller G., also die Schriftsteller-Figur von Bak Jun, von der Phantasie verfolgt, dass er, ähnlich wie Josef K. in Franz Kafkas Roman Der Prozess, verhaftet und von einem Prüfer zum Verhör geladen wird:

12 Cheong-Jun Yi. Sämtliche Werke, Bd. 4: Die Mauer der Gerüchte. Seoul: Unhakgwajiseongsa, 2011, 219.

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Aber G. musste zögern. Er konnte nicht wissen, wer der Prüfer sei. Dieser hatte eine Uniform an, die G. niemals gesehen hatte. […] Dass man einem Gegenüber, dessen Identität einem nicht bekannt ist, das Wahrste über sich selbst auszusagen hat, macht einen schon unruhig.13

Schließlich sagt ihm der Prüfer, Ihre Furcht vor dem Licht der Taschenlampe und vor mir, das ist schon das Leiden Ihrer Strafe, das Sie sich selbst gewählt haben. Und es ist sicher, dass Sie mit diesem Leiden schon psychisch halb krank sind oder bald krank werden. Vor unserem Urteil büßen Sie schon von sich aus Ihre Strafe.14

Erst hier wird uns klar, warum sich der Schriftsteller Bak Jun selbst als einen Wahnsinnigen ins psychiatrische Krankenhaus eingeliefert hat. Er leidet nämlich als gewissenhafter Schriftsteller seiner Zeit unter der Zensur und Selbstzensur: Bak Juns und G.s Angst vor dem grellen Licht der Taschenlampe ist nichts anderes als die Angst vor einem Unbekannten ohne Identität, nämlich vor der »Mauer der Gerüchte«. Bak selbst spricht ja in der Erzählung davon, »dass sein Gegenüber in der Bekleidung eines Gerüchtes erscheint, um seine Identität nicht zu enthüllen.«15 Yis Erzählung, Die Mauer der Gerüchte, handelt also nicht vom Korea-Krieg selbst, sondern von einer der vielen Folgeerscheinungen dieses Bruder-Krieges, nämlich vom unsichtbaren System der Zensur und Selbstzensur und der Einschränkung der Freiheit des Schriftstellers. Indem Yi in diesem Werk mehrere Dimensionen und Ebenen vielschichtig darstellt, gelingt es ihm, den Krieg und dessen langwierige negative Nachwirkungen für die koreanische Gesellschaft zur Gestaltung zu bringen. Gim Won-Ils Roman Blaue Seelen (2005) besteht eigentlich aus sechs seriellen Erzählungen. Er behandelt das Leben und den Tod von acht Menschen, jenen acht Opfern des 9. Aprils 1975, der als »Tag der Schande der Justiz« von der Internationalen Juristenkommission in Genf bezeichnet wurde: Er handelt von den acht Häftlingen, Seo Do-Won, Do Ye-Jong, Song Sang-Jin, Uh Hong-Seon, Ha Jae-Wan, Yi Su-Byeong, Gim Yong-Won und Yeo Jeong-Nam, die als angebliche »Untergrundaktivisten der Volksrevolutionspartei« wegen angeblicher »Verschwörung gegen die Republik Korea« von der südkoreanischen Justiz zum Tode verurteilt wurden.

13 Yi, Die Mauer der Gerüchte, 226f. 14 Ebd., 238. 15 Ebd., 250.

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»Wieviel Uhr ist es? In dieser Nachtsstunde? Was ist los?« fragte Do [ YeJong], indem er heftig hustete. »Vier Uhr fünfundzwanzig.« Sobald der Beamte vor ihm so antwortete, fesselten ihn andere zwei Beamte neben ihm mit doppelten Strängen und spannten es ihm noch fester an. […] »Warum so abrupt? Darf ich den Grund wissen?« […] »Lassen wir uns doch ausgehen! Bitte kein großes Aufsehen, und seien Sie doch ruhig! Es kann vielleicht eine gute Nachricht an diesem frühen Morgen geben!«16

So holte man einen nach dem anderen der acht unschuldig Verurteilten in der Morgenfrühe des 9. April 1975 aus ihrer Zelle. Es gab aber keine »gute Nachricht«, etwa dass man den Häftlingen ein Gespräch mit ihren Angehörigen erlaubt hätte, sondern man richtete sie binnen 18 Stunden nach ihrer Verurteilung hin. »Amnesty International«, »Die Vollversammlung der Koreanischen Staatsbürger für die Wiederherstellung der Demokratie« und »Die Vereinigung der Katholischen Pfarrer für die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Koreanischen Gesellschaft« protestierten am 10. April 1975 gegen die irrationalistische Barbarei des diktatorischen Regimes. Erst 30 Jahre nach dem Jutizmord, also 2005, konnte Gim Won-Il das Leben und den Tod der Opfer als literarisches Werk unter dem Titel Blaue Seelen publizieren. Und erst nach 32 Jahren, im Januar 2007, wurden die Opfer von der koreanischen Justiz als unschuldig erklärt und rehabilitiert. Wie erwartet hatte es sich als falsch erwiesen, dass es eine »Volksrevolutionspartei« überhaupt gegeben hatte. Dieses Werk von Gim Won-Il ist nicht nur als »verspätete« Auseinandersetzung mit der Landesteilung nach dem Korea-Krieg beachtenswert, sondern es veranschaulicht auch auf bemerkenswerte Weise den Entstehungsprozess der »Gerüchte« im Sinne der zuvor dargestellten Erzählung Die Mauer der Gerüchte (1971) von Yi Cheong-Jun. Durch den Vergleich wird auch nochmals deutlicher, was Yi Cheong-Jun mit der Mauer der Gerüchte gestalten wollte und worauf er überhaupt anspielte. Denn tatsächlich fälschte die Diktatur auch vier Jahre nach dem Erscheinen von der Mauer der Gerüchte noch die Fakten in der Affäre um die fiktive »Volksrevolutionspartei« und die angebliche »Verschwörung gegen die Republik Korea«. Das Ziel davon war es, die Intellektuellen in Korea einzuschüchtern und von eventuellen Widerständen gegen das Regime abzuschrecken.

16 Won-Il Gim. Blaue Seelen. Ein Roman aus sechs Serien-Erzählungen. Seoul: Irum, 2005, 303f.

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Das Schreiben in Korea Bisher habe ich über die versteckte, doch überall und jederzeit latent vorhandene Gefahr des Missbrauchs angeblicher »Feindbegünstigung« sowie über die unsichtbare, aber gleichfalls allgegenwärtige Wirkung der »Zensur« bzw. »Selbstzensur« in der modernen koreanischen Literatur gesprochen. Allerdings hat die koreanische Literatur aber auch einen mutigen, niemals konformbereiten Dichter wie Gim Nam-Ju (1946–1994) hervorgebracht. Ein kleines Stück Stein Zwischen Himmel und Erde Wehte es kaum ein Zug Wind – bedrückend und beklommen! An dem Tag, wo es mich beinahe erstickte und mein Herz vor Trauer zerbarst, Gingen mein Freund und ich auf dem Damm spazieren, Und wir wollten ein kleines Stück Stein sein, Der aufs Wasser des Flusses Eine kleine Welle zeichnet Und bald versinken wird. So ein kleines Stück Stein. Der Tag war vorbei und es wurde tiefschwarze Nacht! Mein Freund und ich gingen den nächtlichen Weg, Und wir wollten ein Zündfunke sein, Der etwa wie ein Glühwurm auf dem Grasfeld schimmert Und bald verschwinden wird, wenn der neue Tag kommt. So ein Zündfunke. Damals habe ich meinen Freund nicht gefragt, Wie schwer das kleine Stück Stein für die Geschichte wäre. Damals habe ich meinen Freund nicht gefragt, Wie weit der Zündfunke den Raum der Dunkelheit vertreibt. Nur war ich so stolz darauf, einen Freund neben mir zu haben, Der bereit war, mit mir gemeinsam zu sterben.17

Dieses Gedicht von Gim Nam-Ju zeugt nicht nur von großem Mut, sondern auch von literarischem Niveau. Es kennt etwa auch die Wirkung des Symbols: 17 Nam-Ju Gim. Behausungsort des Gedankens. Gedichte. Seoul: Changjakgwabipyeongsa, 1991, 26f.

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Das Licht bei ihm ist die helle Welt, die neue Welt, wo alle ohne Unterdrückung leben können, während die Dunkelheit die finstere Welt, die zu erneuernde Welt ist, wo man das Volk unterdrückt und es dann nicht mehr im Stande ist, menschlich zu leben.18

Das lyrische lch und sein Freund wollten »ein Zündfunke« sein, »der etwa wie ein Glühwurm auf dem Grasfeld schimmert / Und bald verschwinden wird, wenn der neue Tag kommt.« Hier fungieren »Zündfunke« und »Glühwurm« als eine Metapher für die neue Welt, während die »Dunkelheit« eine Metapher für die politisch unterdrückte Gesellschaft ist. So ist der Dichter Gim Nam-Ju fast ein einmaliges Phänomen in der modernen koreanischen Literatur: Er fürchtete kaum die Zensur, es schien, als ob er keine Selbstzensur gekannt hätte. Im Umfeld der »Demokratischen Bewegung in Gwangju« (1980) schrieb er ebenso mutige wie anspruchsvolle Gedichte. Unter dem Verdacht der »Feindbegünstigung« musste er elf Jahre lang (1973 und dann von 1979 bis 1988) im Gefängnis einsitzen. Nach der Freilassung lebte er nur noch sechs Jahre. Es scheint, als ob er eines natürlichen Todes gestorben wäre, aber heutzutage stirbt ein normaler Koreaner selten mit achtundvierzig Jahren. Jedenfalls ist sein Schicksal ein tragischer Nachhall der »Irrungen und Wirrungen« der feindlichen Brüder Korea im 20. Jahrhundert. Im Februar 2014 fand anlässlich seines 20. Todestages das Jubiläumssymposium Wir denken an Gim Nam-Ju in Seoul statt. Ja, man müsste wohl wieder intensiver an Gim Nam-Ju erinnern, da »in der koreanischen gegenwärtigen Realität die demokratischen Werte, welche die Koreaner in den letzten Jahrzehnten mühselig errungen haben, total herausgefordert werden«,19 wie es Lim Hong-Bae, ein zeitgenössischer Literaturkritiker und Germanistik-Professor, treffend formuliert. Nicht alle Dichter in Korea schreiben heute wie Gim Nam-Ju. Nicht alle können und sollten schreiben wie er, denn diese Forderung wäre schon wieder ein Diktat, das sich mit der Freiheit des Dichters nicht verträgt. Angesichts von Diktaturen im geteilten Land feindlicher Brüder fordert die Geschichte den koreanischen Dichter aber dazu auf, sich schreibend zu ihr zu verhalten. Gegen drohende Geschichtsvergessenheiten der Gegenwart fordert sie ihn dazu auf, seine eigene Position im Spektrum zwischen harmlosem Dichter, der von der schönen Natur oder von der leidenschaftlichen Liebe schreibt, und einem todernsten Dichter wie Gim Nam-Ju bewusst einzunehmen.

18 Sungja Han. »Metapher und Symbol in den Gedichten von Gim Nam-Ju«. Yom Mu-Ung, Lim Hong-Bae (Hgg.). Die Welt der Literatur von Kim Nam-Ju. Seoul: Changbi, 2014, 243. 19 Hong-Bae Lim. »Gedichte der Tat und Gewissen des Gedichts«. Ebd., 213.

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Torsten Diedrich, Jens Ebert (eds.). Nach Stalingrad. Walther von Seydlitz’ Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpost 1939–1955. Göttingen: Wallstein, 2018, 428 pp., Ill., 24,90 € [978-3-8353-3190-7]. Der Titel Nach Stalingrad ist so mehrschichtig wie die Geschichte, die dahintersteht. Nach Stalingrad führt der Weg, wo Walther von Seydlitz die Stadt als kommandierender General des 51. Armeekorps mit erobern sollte. Doch auch er wurde zusammen mit 250.000 Soldaten von der Roten Armee eingeschlossen und kam schließlich mit 100.000 Mann in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Dort wurde er zum Mitbegründer des Bundes Deutscher Offiziere. Deren Aufgabe war es, Propaganda gegen die Wehrmacht und die militärisch-politische Führung des Dritten Reiches zu betreiben. Die Publikation ist außergewöhnlich. Die Verfasser von Feldpostbriefen, deren Korrespondenz erhalten und zugänglich ist, gehören meist den unteren Dienstgraden an. Ihre Korrespondenz überdauerte durch Zufall die Wirren des Zweiten Weltkrieges. Erst durch die Publikation der Briefe bekommen die Personen Identität. Die Leserinnen und Leser lernen sie kennen durch ihre Beschreibungen, ihre Gedanken und Empfindungen, die sie zu Papier brachten. Hier ist es anders. General Seydlitz kennt man aus den Geschichtsbüchern. Seine Biografie ist bekannt und für den Verlauf des Krieges relevant. Durch seine private Korrespondenz lernen wir den Menschen hinter dem offiziellen Bild nun kennen. Nach Stalingrad hat drei große Kapitel. Im Zentrum steht die Auswahl von 195 Briefen, die sich drei zeitlichen Abschnitten zuordnen lassen: Vor, während und nach Stalingrad. Eingeleitet sind sie durch eine Einführung in Feldpost und deren Interpretation durch Jens Ebert. Als Historiker und Literaturwissenschaftler verfügt er über zwei Kompetenzen, die für diese Arbeit wichtig sind. Er hat sich historisch mit der Schlacht um Stalingrad aus vielen Blickwinkeln befasst und er

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kennt sich aus mit den schriftlichen Zeugnissen. Stalingrad in der Literatur und im Spiegel der Feldpost gehört zu den Themen, mit denen er sich schon lange befasst. Zahlreiche Publikationen, Radio-Features und als Berater von Ausstellungen in Museen belegen dies eindrücklich. Ebert gibt in seinem Beitrag Hinweise, wie man Kriegsbriefe lesen kann. Denn auch hier ist Wirklichkeit nicht die Voraussetzung für Kommunikation, sondern dessen Ergebnis. Das Wissen über Zensur etwa bestimmt mit, was man ungefährdet schreiben konnte. Selbst General von Seydlitz stand unter Beobachtung durch die Feldpostkontrolle, die vor hohen Rängen nicht halt machte. Im Gegenteil. Da Hitler seinen Generälen misstraute, war er an deren Haltung sehr interessiert. Die Zensur findet so einen Niederschlag in Seydlitz’ Briefen. Er nutzt Codierungen, kaum verständliche Abkürzungen und schreibt, dass er Manches erst später mündlich berichten kann. Kritik an der Führung kommt so nur vorsichtig vor, wenn er etwa die Berater um Hitler für das Desaster verantwortlich macht. Die Briefe nach Stalingrad aus der sowjetischen Gefangenschaft zeigen die Privilegien als General. Er darf häufiger schreiben als die einfachen Soldaten. In diesen Briefen, die ebenfalls zensiert wurden, geht es in erster Linie um Lebenszeichen an die weit verzweigte Familie. Briefe und Karten zu schreiben und zu erhalten gehörte mit zur Überlebensstrategie. In seiner Einleitung gibt Ebert ein Instrumentarium an die Hand, die Briefe mit mehr Kompetenz zu verstehen. Dennoch wird dieser Schritt den Leserinnen und Lesern überlassen. Sie dürfen und sollen sich selbst ein Bild machen und die Aussagen des Generals kritisch betrachten. Es ist interessant, nicht nur zu wissen, was Seydlitz schreibt, sondern auch worüber er schweigt. Dies können Felspostbriefe nur eingeschränkt belegen. Eine umfassende Biografie trägt der Militärhistoriker Torsten Diedrich bei. Er hat sich im dritten großen Kapitel des Bandes mit der Person befasst und Dokumente und Zeitzeugen zusammengetragen, die ein umfassenderes Bild ergeben. Vor allem die Wandlungsprozesse an den historischen Schnittpunkten sind wichtig. Was ist schon in seiner Persönlichkeit angelegt, die die Veränderungen seiner Haltung glaubwürdig macht? Er ist kein Opportunist, der sein Fähnchen in den Wind hängt, woher dieser auch gerade weht. Er opponiert aber auch nicht offen gegen die militärische Führung des Dritten Reiches. Immerhin wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt und seine Familie mit den Angehörigen der Attentäter vom 20. Juli 1944 zusammen interniert. Die historischen und analytischen Beiträge rahmen den Monolog eines Generals. Seine Briefe »lassen viel von seiner soldatischen Mentalität, seinen Ehrbegriffen und seinen Handlungsmotiven erkennen,« heißt es dazu im Vorwort von Jörg Hillemann, dem Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, das die Herausgabe des Buches unterstützt hat.

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Es richtet sich damit an eine junge Generation von Soldatinnen und Soldaten, die auch heute Rechenschaft ablegen müssen über ihr eigenes Handeln und Denken. Darüber hinaus richtet es sich an eine Leserschaft, die mehr wissen möchte über die Dilemmata eines Menschen, der in Verantwortung für Untergebene, Familie und sich selbst Entscheidungen mit großer Tragweite treffen muss. Clemens Schwender, Berlin

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Jens Ebert (ed.). Junge Deutsche und sowjetische Soldaten in Stalingrad. Briefe, Dokumente und Darstellungen. Göttingen: Wallstein, 2018, 340 pp., Ill., 24,90 € [978-3-8353-3191-4]. Die Schlacht um Stalingrad 1942/43 war der markante Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Von da an musste der politischen und militärischen Führung des Dritten Reiches klar sein, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. Dabei wurde die Eroberung Stalingrads zuvor durch die Propaganda zum Schicksals­ ereignis erklärt. Die Schlacht war Menetekel mit symbolischer Kraft, die bis heute nachwirkt. Mehr als 250.000 Soldaten der Wehrmacht und ihrer Verbündeter wurden eingekesselt, über 100.000 kamen in sowjetische Gefangenschaft und von denen kamen etwa 6.000 zum Teil erst nach einem Jahrzehnt wieder zurück in ihre Heimatländer. Die Opferzahlen auf Seiten der Sowjetunion waren noch größer. Man geht von 1 Million Soldaten aus und einer unbekannten Zahl an Zivilisten, die in der Stadt zu Tode kamen. Die Dimensionen der Schlacht und die Zahlen sind so imponierend, dass man die Individuen dahinter nicht wahrnimmt. Junge Soldaten standen sich im Kampf gegenüber. Jens Ebert zeichnet den Weg nach Stalingrad nach und nimmt dabei die jungen Soldaten in den Fokus. Er begann schon bei der nationalsozialistischen Propaganda und den Idealen der faschistischen Erziehung. So forderte Hitler in einer Rede zum Reichsparteitag 1935 bereits die soldatischen Tugenden von Stärke gegenüber anderen und Härte gegen sich selbst. Man könnte einwenden, dass die Erzieherinnen und Erzieher diese Rede gehört haben mussten, damit sie eine Wirkung entfalten konnte. Doch sie steht exemplarisch für das gesamte System der Propaganda, das umfassend alle Publikationen kontrollierte und die Richtung vorgab. Beginnend mit dem Jungvolk griff der Staat in die ideologische Bildung der Kinder ein. Diese Rede und andere Dokumente im Wortlaut finden sich unter der Überschrift »Von der Schulbank nach Stalingrad«. Dies ist eine Anspielung auf die Indoktrination wie auf das Alter der Jungen, die keine 10 Jahre später in Stalingrad eingesetzt werden konnten. Die folgenden Kapitel stellen die Briefe dieser jungen Soldaten vor. Sie sind jeweils ohne Kürzungen und Änderungen abgedruckt. Vorangestellt sind Überlegungen zu den Inhalten und Hinweise zu deren Interpretation, die den Leserinnen und Lesern überlassen bleibt. Nach der chronologischen Sammlung wird Helmut Gründlich exemplarisch herausgegriffen und dessen Biografie so detailliert und authentisch wie möglich rekonstruiert. Dazu gehören auch die 45 erhaltenen Briefe, die vor allem an die Mutter gerichtet sind. Man kann sich beim Lesen fragen, warum so wenig über die Gefahren des Krieges berichtet wird. Jens Ebert erkennt dies als Muster, das sich auch bei anderen Schreibern wiederholt. Offenbar ist das Festhalten am sozialen Kontext wichtiger als über die Gründe nachzudenken,

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warum er in den Weiten Russlands gegen Soldaten kämpft, die genauso alt sind wie er. Unter Ausblendung der realen Gefahren betont man die Kontakte zur Heimat, und die Briefe bilden eine Art Gegenwelt. Nicht die Schrecken des Krieges sind in den Briefen zu finden, sondern das Festhalten an den Kontakten in die Heimat, was auch der Stabilisierung der Persönlichkeit im Ausnahmezustand dient. Mentalitätsgeschichtlich ist dies eine der Funktionen des Schreibens. Man erfährt als Leserin oder Leser wenig über den Krieg, aber sehr viel darüber, was die Betroffenen über das denken, was sie erleben. Im anschließenden Kapitel geht es auf »die andere Seite der Front«. Nun kommen junge sowjetische Soldaten zu Wort. Auch hier findet sich wieder eine Einleitung in die sozialen und historischen Hintergründe der Sowjetunion seit 1900, die die Wahrnehmungen und das Erleben der Jugend prägten. Statt eines Einzelschicksals finden sich im Anschluss Briefe von und an exilierte Deutsche, die in der Roten Armee gedient haben. Beeindruckend ist, dass hier Texte gesammelt sind von Freund und Feind. Denkbar ist, dass die Schreiber nur wenige Meter voneinander entfernt lagen oder standen, unter derselben Kälte litten und ebenso den Läusen ausgesetzt waren. Unter anderen Umständen hätten sie vielleicht miteinander getrunken und gefeiert und sie hätten sich viel zu erzählen von ihrem Leben und ihren Erfahrungen. Doch der Blick auf den anderen über Kimme und Korn verhinderte all dies. Es folgt ein Kapitel mit publizierten Aufarbeitungen der Schlacht besonderer Art. Sowohl in der Bundesrepublik und der DDR als auch in der Sowjetunion berichteten zahlreiche Bücher über persönliche Erinnerungen an die Schlacht. Allein in der UdSSR lassen sich über 5.000 Veröffentlichungen zählen. Darüber hinaus gab es Romane, die das Ereignis literarisch aufarbeiteten. Auch diese gehen häufig auf eigenes Erleben zurück. Das zeigt, dass die Schlacht um Stalingrad zu den zentralen Ereignissen gehört, die für das Selbstverständnis der Nationen prägend waren und bis heute sind. Junge deutsche und sowjetische Soldaten in Stalingrad legt Befunde aus Sicht eines Historikers vor, analysiert und vergleicht. Dabei erkennt man gleichzeitig eine literarische Dimension, die Einblicke in Erleben und Empfinden von Individuen bietet. Die Textsammlung stellt nicht zufällig Kriegsbriefe, historische Dokumente, Berichte und literarische Erinnerungen zusammen. Man kann sie lesen als Betrachtungen desselben Gegenstandes aus unterschiedlichen Perspektiven. Geschichts- und Tagebuch liegen aufgeschlagen nebeneinander. Man lernt die jungen Briefschreiber nicht nur kennen, man kann auch miterleben, wie sie geworden sind. Das Buch von Jens Ebert ist wichtig, da es die individuellen Erfahrungen der Betroffenen deutlich macht. Die jungen deutschen und sowjetischen Soldaten kommen selbst unverfälscht zu Wort. Das reichhaltige Material, das zur Inter-

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pretation der Briefe und zum Verständnis der Zeit gesammelt ist, gibt geradezu intime Einblicke in das Seelenleben der Soldaten auf beiden Seiten. Wer sich mit der Schlacht um Stalingrad befasst, erhält Einblicke in eine bislang kaum zugängliche Dimension der Berichte, die weit über die Fakten hinausgehen, da die zu Wort kommen, die ihr Leben verloren haben oder an Leib und Seele beschädigt überlebten in einem der folgenreichsten und schrecklichsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Clemens Schwender, Berlin

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Sabine Giesbrecht. Wege zur Emanzipation: Frauendarstellungen auf Bildpostkarten des Deutschen Kaiserreiches unter Wilhelm II. Osnabrück: epOS, 2017 (Beiträge zur Medienästhetik der Musik; 16), 270 pp., Ill., Print: 34,90 € [9783-940255-72-3] / CD-Rom: 19,90 € [978-3-940255-73-0]. Für ihre neueste Publikation hat Sabine Giesbrecht aus dem von ihr gegründeten Osnabrücker Bildpostkarten-Archiv 135 Karten ausgewählt, die sich mit dem Leben und der gesellschaftlichen Rolle von Frauen im Wilhelminischen Kaiserreich befassen. Diese stehen stellvertretend für die durchaus vielschichtigen Facetten des Lebens von Frauen. Weit mehr aber sind die Karten Ausdruck des männlichen Blicks auf dieses Leben, männlicher Interpretationen und männlichen Wunschdenkens. Es waren in jener Zeit natürlich fast ausschließlich Männer, die diese Karten entwarfen, produzierten und verbreiteten. In Anlehnung an Karl Marx sei bemerkt, dass nicht nur die herrschenden Gedanken die Gedanken der Herrschenden sind, sondern auch deren Bilder. Es sind Bilder, die bis heute den Betrachter – und die Betrachterin – jenseits der Ideologie durch ihren Motivreichtum, die künstlerische Gestaltung und den prägnanten Ausdruck durchaus auch zu faszinieren vermögen. Ein bevorzugtes Sujet, das Giesbrecht an den Anfang ihrer Analysen und Bewertungen stellt, ist selbstverständlich einem traditionellen Rollenverständnis folgend die Mode. Gleichzeitig aber signalisiert dieses Sujet die Veränderungen, die ab 1900 die deutsche Gesellschaft erfassten auf gesellschaftlich akzeptierte Weise. Auf dem Sektor weiblicher Mode sind offenbar am ehesten neue und aufregende Erfahrungen möglich, ohne dass ein fiktives gesellschaftliches Über-Ich auf den Bildpostkarten nennenswerte Einsprüche erhebt. (11)

Die mondäne Dame mit Hut und in engem Mieder zog die Blicke gleichermaßen an, wie die ersten Frauen, die sich in lange Hosen kleideten. Allerdings war »Bewegungsfreiheit […] um 1900 keine Kategorie aus dem Arsenal der Frauenbefreiung«. (25) Die Mode wurde jedoch bequemer. »Bewegung ist ein entscheidender Schritt zur Selbständigkeit, die Frauen in vollem Umfang erst für sich entdecken müssen.« (26) Dies erfolgte mit Unterstützung auch von unerwarteter Seite: Die Fahrradund später die Autoindustrie, wichtige Teile der prosperierenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung jener Zeit, waren auf der Suche nach neuen Zielgruppen und Märkten. »Die Frau im bürgerlichen Haus«, besser großbürgerlichem Haus, war allzu oft zur Dekoration reduziert. Zusammen mit »Ziertischchen, Kommoden mit Nippesfiguren und anderem Zierat« trug sie zu einem schönen Bild bei – oder zum schönen Schein. Im Salon war ihr Aufenthalt mit der damals populären Hausmusik verbunden. Doch alles hat in der bürgerlichen Gesellschaft auch eine

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praktische Funktion: »Der Musikraum als Kontaktbörse.« (45) Allgemein spielte Musik in der Selbstdarstellung der bürgerlichen Gesellschaft eine große Rolle, was die Musikwissenschaftlerin Giesbrecht ebenso überzeugend wie differenziert zu vermitteln weiß. Daneben werden weitere zentrale gesellschaftliche Themen anhand der Bildpostkarten in gesonderten Kapiteln aufgemacht, analysiert und interpretiert: »Anstand und Moral«, »Bildung« oder »Über die Ehe«. Alles in allem zeugen die Bildpostkarten von einer scheinbar intakten harmonischen Gesellschaft. Bildpostkarten der Vorkriegszeit bedienen romantische Vorstellungen vom ehelichen Glück und zeigen strahlende Menschen, bei denen die Erfahrung der Liebe die Erfüllung aller Träume zu sein scheint. (93)

Als Idealbild erscheint die bürgerliche Familie, die sich im gastlichen Salon mit Hausmusik zu präsentieren und festliche Bälle, Opern- oder Konzertbesuche zu schätzen weiß. Doch da ist noch die Realität, die oftmals ganz anders ist als das Wunschbild und nicht gänzlich ausgeblendet werden kann. Alles, was auch nur im Entferntesten etwas mit Frauenemanzipation oder womöglich mit Klassenkampf zu tun haben könnte, ist den Kartenherstellern definitiv ein Graus. (137)

Und so werden diese Themenbereiche – wenn überhaupt – in der Form der Karikatur vermittelt. Frauen, die nicht dem (männlichen) Schönheitsideal, dem normativen Rollenverständnis oder dem konservativen politischen Mainstream entsprechen, werden auf den Karten patriarchalisch verlacht. Die Karten zeigen keinen Querschnitt der weiblichen Bevölkerung, sondern stellen die Frauen der bürgerlichen Klasse dar. Adlige Frauen waren in der feudal strukturierten Wilhelminischen Gesellschaft solcher Darstellung entrückt, tabu für profane Medien wie die Bildpostkarte. Frauen der arbeitenden Klassen fanden ebenso zunächst kaum Interesse im gesellschaftlichen Diskurs. Doch dies sollte sich schon wenige Jahrzehnte nach Gründung des Kaiserreiches ändern. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist das »lange 19. Jahrhundert« vorbei. Werden zunächst noch die Frauen als Freundinnen, Ehefrauen und Mütter, als duldende und hoffende, aber inaktive und einflusslose Personen dargestellt, ändern sich die Bilder mit den sich verändernden gesellschaftlichen Realitäten. »Man braucht couragierte Frauen, die den Alltag mit seinen Belastungen erträglich gestalten.« (154) Der Erste Weltkrieg verändert das weibliche Erscheinungsbild grundlegend. Er hat die zur »Heimatfront« verpflichteten deutschen Frauen zwar

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von manchen traditionellen Fesseln befreit, ihnen jedoch neue, kriegsbedingte und weitaus härtere Zwänge auferlegt, die ihre früheren Bemühungen um Emanzipation anfänglich überlagern und erdrücken. Zögerlich sind die Bemühungen der Frauen, folgt man dem Bilder-Mainstream, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und sich von beengenden Normen und Verhaltensregeln zu lösen. Das Ende der Monarchie bringt schließlich das lange erkämpfte Frauenwahlrecht in Deutschland, gefeiert in Bildpostkarten aus dem sozialdemokratischen Milieu. Erst in den Jahren danach setzt sich mehr und mehr ein neues Frauenbild durch. Sabine Giesbrechts lesens- und ansehenswerter Band zeigt eindrucksvoll und überzeugend, wie stark und subtil das Kaiserreich von Bildern geprägt, strukturiert und geordnet wurde. Die Bildpostkarten sind als Medium verschwunden, nicht aber die ihnen zugrunde liegenden Mechanismen der Propagierung bürgerlicher Ordnung. Jens Ebert, Berlin

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Bernd Neumann, Gernot Wimmer (eds.). Der Erste Weltkrieg auf dem deutscheuropäischen Literaturfeld. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2017 (Schriften der Group2012; 2), 276 pp., Ill., 48,00 € [978-3-205-20256-1]. Das hundertjährige ›Jubiläum‹ des Ersten Weltkriegs bzw. der zentralen Ereignisse der Jahre 1914–1918 brachte eine kaum überschaubare Flut an Monographien, Zeitschriftenartikeln und Sammelbänden zur (Vor)Geschichte und den Folgen des ›Großen Krieges‹ sowie zu seiner medialen Repräsentation. Da in der Kriegsund Zwischenkriegszeit diese Repräsentation entschieden von Publizistik und Literatur dominiert wurde, lässt sich in den letzten drei bzw. vier Jahren auch eine regelrechte Konjunktur von Publikationen zum Ersten Weltkrieg auf dem ›Literaturfeld‹ verfolgen, auf welches sich auch der Titel des 2017 im Böhlau Verlag erschienen Sammelbandes Der Erste Weltkrieg auf dem deutsch-europäischen Literaturfeld bezieht, der von Bernd Neumann und Gernot Wimmer als 2. Band der Reihe »Schriften der Group2012« herausgegeben wurde und neben einer kurzen Einleitung insgesamt elf Beiträge beinhaltet. Es wäre sicher vermessen, von jedem Sammelband zur literarischen Repräsentation des Ersten Weltkriegs völlig neue Einblicke und/oder eine radikal neue Perspektive zu erwarten. Was man jedoch ohne Weiteres erwarten darf, ist eine klare thematische Ausrichtung der Beiträge, die sich dem Titel des Bandes entnehmen lässt. In diesem Punkt bleibt der hier diskutierte Band einiges schuldig: Das »deutsch-europäischen Literaturfeld« ist freilich ein extrem breites, sodass sich unter dem gewählten Titel diverse Beiträge unterbringen lassen. Es ist jedoch nicht ganz klar – und die Einleitung leistet leider keine Abhilfe –, worauf sich das Adjektiv »europäisch« im Titel des Bandes bezieht, denn außer der in der Einleitung diskutierten Korrespondenz zwischen Stefan Zweig und Romain Rolland und dem Beitrag von Gábor Kerekes zum »Erste[n] Weltkrieg in der ungarischen Literatur zwischen 1914 und 1918« thematisieren alle anderen Texte die deutschsprachige Literatur. Gleichzeitig werden Bezüge der diskutierten Werke zu anderen europäischen Literaturen in den meisten Beiträgen gar nicht oder nur am Rande diskutiert, sodass sich der durch den Titel aufgerufene Bezug auf das »europäische Literaturfeld« auch in dieser Hinsicht kaum rechtfertigen lässt. Die elf Beiträge des Bandes wurden von den Herausgebern in drei Abschnitte gegliedert: »1. Angst – Krisenempfinden und Kriegspessimismus«, »2. Begeisterung – Nationalismus und Kriegspropaganda«, »3. Orientierungslosigkeit – Indifferenz und Divergenz«. Diese Gliederung spiegelt die Breite bzw., kritisch formuliert, Heterogenität der im Band versammelten Beiträge wider, denn unter die drei erwähnten Überschriften lassen sich so gut wie alle Texte der Literatur zum ›Großen Krieg‹ unterbringen, wobei einige davon – wie bei jeder Kategorisierung – die Grenzen transzendieren.

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Der erste Abschnitt zu »Angst – Krisenempfinden und Kriegspessimismus« ist gleichzeitig der umfangreichste – er nimmt fast die Hälfte des 276 Seiten umfassenden Sammelbandes ein. Er setzt sich v.a. mit Autoren und Werken der (post) kakanischen Literatur auseinander und wird durch Bernd Neumanns Beitrag »Über die Angst des Vorkriegs« eingeleitet. Da der Verfasser bereits im Untertitel seines Beitrags auf dessen essayistischen Charakter hinweist (»Ein Essay zur Einführung«), wird dem Leser deutlich signalisiert, dass er einem primär persönlichen und engagierten Umgang mit der diskutierten Problematik begegnen wird. Der zentralen These des Textes, dass »[d]iese Zeit von der Angst bestimmt [war], ihr eigener Untergang stünde kurz bevor, und sich gleichzeitig von der Überzeugung erfüllt [zeigte], die präzedenzlose Fortschrittlichkeit würde diesen zu verhindern wissen« (19), ist sicher zuzustimmen und ihre Exemplifizierung u.a. am Beispiel der Eugenik, der Neurasthenie, aber auch der neuen Verkehrsmittel und Medien ist zwar in einigen Fällen etwas überpointiert, aber im Hinblick auf das gewählte Genre nicht unangebracht. Da im »Essay« nicht auf Verweise auf die Forschungsliteratur verzichtet wurde, fällt negativ die Tatsache auf, dass sich der Verfasser bei der Erörterung der geschichtlichen Zusammenhänge fast ausschließlich auf einen einzigen Titel beruft, nämlich Philip Bloms populärwissenschaftlichen Beststeller Der taumelnde Kontinent: Europa 1900–1914. Gernot Wimmers Auseinandersetzung mit den »Österreichische[n] Wahr­ sager[n] des Expressionismus« geht auf Endzeitstimmung und Untergangsszenarien in Franz Kafkas Prosawerken, Georg Trakls (Kriegs)Lyrik und Karl Kraus’ monumentalem Drama Die letzten Tage der Menschheit ein, wobei neben der religiösen Thematik und ihrer spezifischen Ausprägung beim jeweiligen Autor auch der Kontext der Habsburger Monarchie thematisiert wird. Die im Hinblick auf die ›apokalyptische‹ Dimension der Texte durchgeführten Interpretationen sind überzeugend, im Falle von Trakls Lyrik jedoch so detailliert, dass der Leser leicht den Überblick verliert. Eine spezifische Stelle nimmt im Rahmen des Bandes die Studie des Berliner Theologen Kurt Anglet ein, der sich im Kontext des Ersten Weltkriegs mit Karl Kraus’ Sprachkritik bzw. seiner Kritik der Moderne als solcher befasst. Die heilsgeschichtliche Perspektive, von der die Analyse bestimmt wird, erlaubt zweifelsohne einen interessanten Einblick in Kraus’ Œuvre. Die Studie stellt gleichzeitig eine Polemik mit der Daseinsphilosophie Martin Heideggers dar, die als negative Kontrastfolie zu Kraus’ Denken herangezogen wird, wobei diese Polemik an mehreren Stellen zu einer einseitigen, verdammenden Verurteilung gerät. In Bernd Neumanns zweitem Beitrag wird der Einfluss des Ersten Weltkriegs auf Franz Kafkas Schreiben analysiert – eine von der Forschung lange ignorierte Problematik, der Neumann bereits eine Monographie (Franz Kafka und der Große Krieg: eine kulturhistorische Chronik seines Schreibens, 2015) gewidmet hat. Leider

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vermag die Neuinterpretation zahlreicher Texte Kafkas (u.a. Der Verschollene, Der Proceß, In der Strafkolonie) im Hinblick auf die langen und kurzen Wege in den Ersten Weltkriegs sowie seine ersten Monate aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen: Die mehrmals angesprochenen »sozialen Energien«, deren Einfluss auf Kafkas Schreiben untersucht werden soll, bleiben im Text ähnlich vage wie der von der älteren Forschung oft beschworene Zeitgeist. Noch problematischer wirken Hinweise auf zahlreiche zeitgenössische Ereignisse, durch die Kafka »beeinflusst werden musste« (90), und Texte, die ihm »wohl bekannt gewesen sein [mussten]« (111) (so u.a. der Bericht von Alfred Dreyfuß über seine Zeit der Verbannung). Nicht nur dass in vielen Fällen Kafkas Interesse für die entsprechenden Ereignisse und seine Kenntnisse der jeweiligen Texte gar nicht belegt werden, sondern von diesen ohne Weiteres angenommenen Kenntnissen werden auch weitreichende Thesen im Hinblick auf die Interpretation seines Werks abgeleitet. Ähnlich problematisch ist m.E. auch die Vernachlässigung des Prager Kontextes von Kafkas Texten: So wird beispielsweise sehr viel Raum der Dreyfus-Affäre und ihrem Einfluss auf Kafkas Sozialisation gewidmet, der in Böhmen weit verbreitete Antisemitismus jedoch gar nicht angesprochen. Und die Bezeichnung der Mitglieder der tschechischen Sokol-Bewegung als »Nationalsozialisten« (108) impliziert entweder völlige Unkenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge oder eine Auffassung des Nationalsozialismus, die so breit ist, dass sie jegliche Aussagekraft verliert. Der bereits oben erwähnte Beitrag von Gábor Kerekes zum »Erste[n] Weltkrieg in der ungarischen Literatur zwischen 1914 und 1918« bietet genau das, was der Titel verspricht, nämlich einen Überblick über die wichtigsten Autoren und Werke der ungarischen Literatur zum ›Großen Krieg‹, wobei auch auf die Problematik der Kriegsgefangenschaft und das Leben im Hinterland während des Kriegs eingegangen wird. Die besprochenen Texte werden präzise im Rahmen der ungarischen Geschichte verortet, sodass man an ihrem Beispiel sehr gut den Kampf um die ›Deutungshoheit‹ über die Ereignisse der Jahre 1914–1918 im Kontext der dominierenden Ideologien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgen kann. Der Zweite mit »Begeisterung – Nationalismus und Kriegspropaganda« betitelte Abschnitt des Bandes beinhaltet Peter Beickens Interpretation der Schilderung der »Großen Schlacht« (der »Operation Michael« im Frühjahr 1918) in Ernst Jüngers Stahlgewittern, Thorben Päthes Analyse der durch den Weltkrieg (mit) geprägten »Deutsch-österreichischen Europavisionen bei Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt« sowie Wolfgang Wangerins Ausführungen zu Kriegsbilderbüchern für Kinder und Jugendliche im Umfeld des Ersten Weltkriegs. Alle drei Beiträge gehören zweifelsohne zu den besten des ganzen Bandes. Angesichts der diskutierten Themen, zu denen jeweils eine umfangreiche Forschungsliteratur vorliegt, kann man von den Beiträgen freilich kaum radikal neue Einblicke in die jeweilige Problematik erwarten. Sie vermitteln jedoch einen

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sehr guten Überblick über die entsprechenden Themen und reflektieren genau den Stand der Forschung zu diesen, wodurch sie sich positiv von den im dritten Abschnitt des Bandes zur »Orientierungslosigkeit – Indifferenz und Divergenz« versammelten Aufsätzen abheben. Was diesen Abschnitt betrifft, besteht er ebenfalls aus drei Beiträgen, wobei der letzte Beitrag von Stanley Corngold über den »Große[n] Krieg und das moderne deutsche Gedächtnis« explizit als »Essay« (244) präsentiert wird. Wenn man von der kurzen Einleitung absieht, wird der ganze Band also von zwei Essays umrahmt, Corngolds abschließendem und dem bereits oben thematisierten, eröffnenden Essay von Bernd Neumann »Über die Angst des Vorkrieges«. Dieser ›symmetrische‹ Aufbau des Bandes ist jedoch insofern problematisch, als der Beitrag von Stanley Corngold im Rahmen des Abschnitts zur »Orientierungslosigkeit« deplatziert wirkt, da es sich letztlich um eine überblicksartige Darstellung einiger der bekanntesten Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg in Literatur und Publizistik handelt, die in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit entstanden und von denen zwar einige durchaus der Kategorie »Orientierungslosigkeit« zuzuordnen sind, andere jedoch eindeutig in die Kategorien »Angst« oder »Begeisterung« fallen. (Auch der Titel des Beitrags scheint in diesem Zusammenhang unglücklich gewählt, denn das »moderne deutsche Gedächtnis« wird nur auf das Medium Literatur bzw. auf einige wenige literarische und publizistische Texte aus dem oben erwähnten Zeitraum reduziert.) Das Fehlen von Verweisen auf relevante Texte der Forschungsliteratur überrascht zwar, ist aber im Rahmen eines »Essays« legitim. Wesentlich schwerer fällt die fehlende Reflexion der Forschungsliteratur jedoch im Fall der zwei anderen Beiträge dieses Abschnitts ins Gewicht. Gernot Wimmers zweiter Beitrag im Rahmen des Bandes befasst sich mit Joseph Roths Romanen, wobei im Wesentlichen nur die Handlung der Romane nacherzählt und kurz der Einfluss des Weltkriegs auf die jeweilige Form der Geschlechterverhältnisse thematisiert wird. Die zentrale These, dass es im Hinblick auf die »Rollenbilder« bedeutende Unterschiede zwischen dem »vorexilischen« Werk, in dem der »Typus der lebenserfahrenen Frau bzw. des orientierungslosen Veteranen« dominiert, und den »Exil-Romanen«, die durch den »Typus der lebenslüsternen Verführerin« (227–288) geprägt werden, fällt dabei ein wenig trivial aus. Tomislav Zelić setzt sich schließlich mit der »ideologiekritische[n] Genealogie« (240) des Ersten Weltkriegs in »Hermann Brochs Schlafwandler-Romantrilogie und anderen Schriften« auseinander, wobei er sich in seiner Analyse v.a. auf den im letzten Teil der Trilogie beinhalteten Essay über den »Zerfall der Werte« konzentriert und diesen im Hinblick auf funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft im Sinne Luhmanns interpretiert. Die abschließende Diagnose, dass in Brochs Trilogie die Anlagen des Ersten Weltkriegs »genealogisch und ideologiekritisch gewendet, in der Gesellschafts- und Kultur-

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geschichte der Moderne begründet [liegen]« (241), trifft sicher zu. Sie dürfte den meisten Lesern jedoch vertraut sein. Die für die Rezension eines Sammelbandes typische Floskel, dass er sowohl ausgezeichnete als auch schwächere Beiträge enthält, trifft auch im Fall des Bandes Der Erste Weltkrieg auf dem deutsch-europäischen Literaturfeld zu. Besonders im Hinblick auf die zu große thematische Heterogenität der Beiträge, von denen einige den Stand der Forschung wenig oder sogar gar nicht reflektieren, vermag der Band insgesamt jedoch nicht zu überzeugen. Milan Horňáček, Olomouc

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Lars Nowak (ed.). Medien – Krieg – Raum. Paderborn: Wilhelm Fink, 2018, 494 pp., 59,00 € [ISBN 978-3-7705-5872-8]. Bei den Stichworten Medien und Krieg denkt man als Leserin oder Leser wohl schnell an Kriegspropaganda in den Medien zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte. Doch genau um diese inhaltszentrierte Perspektive soll es aber im hier zu besprechenden Sammelband, herausgegeben von Lars Nowak, nicht gehen. Dies stellt der Herausgeber in seiner Einführung relativ schnell klar. Stattdessen sollen die drei Beziehungen zwischen Krieg und Medien, Medien und Raum sowie Raum und Krieg zusammengeführt werden. Dabei sollen mit den Beiträgen des Sammelbandes die Rolle von Medien bei der Vorbereitung, Führung und Abwendung von Kriegen dargestellt werden, wobei in Abgrenzung von und Kritik an der medienwissenschaftlichen Diskussion der 1980er und 90er Jahre der spatial turn und somit die Berücksichtigung spatialer Aspekte des militärischen Mediengebrauchs miteinbezogen werden soll. Somit wird evident, dass Medientechnologien wie Waffen- und Transporttechnologien ihren Beitrag zur sozialen Konstruktion von militärischen Räumen beitragen. Die Einführung von Lars Nowak stellt keine typische Einleitung eines Sammelbandes dar, da kaum ein Überblick über die im Sammelband vorhandenen Beiträge gegeben wird. Dafür wird den Lesenden viel mehr gegeben: Eine gut strukturierte Einführung in das Thema, die sie auch zwingt, das eigene Verständnis von Medien, Krieg und Raum und deren Interdependenzen zu überdenken und zu hinterfragen. Zeitlich bewegen sich die versammelten Fallstudien von der Antike (Beitrag Frank Haase), über das Mittelalter (Beitrag Florian Sprenger), den deutsch-französischen Krieg (Beitrag Hannah Zindel), den Ersten Weltkrieg (Beiträge Stefan Kaufmann, Hannah Wiemer, Oliver Kann), den Zweiten Weltkrieg (Beiträge Wolfgang Hagen, Boris Michel) und den Kalten Krieg (Beiträge Lars Nowak, Nadine Taha, Sebastian Vehlken, Tobias Nanz, Stefan Höltgen) bis in die Gegenwart (Beiträge Christoph Ernst, Margarete Jahrmann). Dabei fällt auf, dass ab dem 19. Jahrhundert vor allem die großen bewaffneten Konflikte dazu führten, dass meistens militärische Einrichtungen in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen medientechnische Innovationen entwickelten, welche dann häufig auch zu einer neuen räumlichen Wahrnehmung des Schlachtfeldes führten. Diese an Kittler angelehnte These der militärischen Genealogie technischer Medien schränkt Lars Nowak in seiner Einführung jedoch ein. Die Tatsache, dass es nur je einen Beitrag aus der Antike und dem Mittelalter hat, lässt sich wohl damit erklären, dass die Quellenlage dazu eher spärlich ist und sich die technologischen Fortschritte nicht mit jenen Quantensprüngen des 20. Jahrhunderts vergleichen lassen.

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Der Sammelband dokumentiert die Tagung Medien – Krieg – Raum, welche im Rahmen des von Lars Nowak geleiteten Forschungsprojektes »Die Wissensräume der ballistischen Photo- und Kinematographie, 1860–1960« vom 11.–13. Juli 2014 am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg stattfand. Dem Forschungsprojekt entsprechend, im Rahmen dessen die Tagung stattfand, fällt auf, dass die Fotografie jenes Medium zu sein scheint, das sich wie ein roter Faden durch den Sammelband zieht. So spielt es in einigen Fallstudien, sei es in Bezug auf Kartenherstellung im Ersten Weltkrieg oder ballistischen Aufzeichnungen im Kalten Krieg, eine zentrale Rolle. Besonders fiel auf, dass der Einsatz von Fotografie in Kriegsräumen immer auch eng mit anderen medientechnologischen Innovationen zusammenspielte. Auch die von Nowak in der Einführung beschriebene zuerst durch antike Kriegsschiffe horizontale Ausdehnung und später auch vertikale Erweiterung des Kriegsraumes, die auch vor dem Weltraum nicht halt machte, ist eine Konstante in den Fallstudien dieses Sammelbandes. Zentral dabei ist, dass die in den Beiträgen beschriebenen Erweiterungen des Raumes meistens mit einer medientechnologischen Innovation zusammenhingen. Dies führte zum Paradox, dass durch technischen Fortschritt immer grössere Räume in das Kampfgeschehen eingebunden wurden – man denke hier zum Beispiel an die Interkontinentalraketen des Kalten Krieges – gleichzeitig der Raum durch seine so schnellere Durchquerbarkeit aber auch virtuell geschrumpft wurde. Die Leserin und der Leser dieses Sammelbandes können einen breiten historischen Überblick über das Verhältnis der Begriffstrias Medien – Krieg – Raum erwarten, welcher auch überraschende Fakten, wie den Rekrutierungsmechanismen der US-amerikanischen Armee in Kriegsspielen, bietet. Andrea Schweizer, Zürich (CH)

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Karl Arnold Reinartz, Karsten Rudolph (eds.). Das Kriegstagebuch des Albert Quinkert (1914–1919). Münster: Aschendorff, 2018, 720 pp., Ill., 29,90 € [9783-402-13308-8]. Es ist erstaunlich und nicht nur für die Forschung erfreulich, wie viele überaus interessante Ego-Dokumente zum Ersten Weltkrieg auch noch nach einhundert Jahren ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Eines davon haben die Historiker Karl Arnold Reinartz und Karsten Rudolph nach akribischer Bearbeitung nun publiziert. Der Text ist Teil eines größeren Konvoluts, das bis in die Jahre des Zweiten Weltkrieges reicht und auch eine »Sammlung von Inschriften aus Stellungen, Gedichten und Liedern« enthält. (7) Der Umfang des Kriegstagebuches, das von Albert Quinkert, einem Handwerkersohn des Jahrganges 1896 aus einem sauerländischen Dorf, verfasst wurde, ist beeindruckend. Es umfasst in der vorliegenden Druckversion fast 700 Seiten. Dass man auch heute noch den Text mit Gewinn und Genuss lesen kann, ist dem Bildungshunger des ausgebildeten Buchdruckers geschuldet. Charlottenburg, damals noch kein Teil von Berlin, sondern die reichste Stadt Preußens, in das man ihn zur Kriegsausbildung einzog, wurde zu seinem ersten großen Erlebnis nach Verlassen der Heimat. Dort besuchte er Museen, Bildergalerien und Theater. Bildungsbeflissen und vielseitig interessant nahm er die Feldausgabe von Schillers Werken mit in den Einsatz. (9)

Nach einer kurzen Einleitung zu »Kriegsursachen und Mobilmachung« und die »Garnisonszeit in Charlottenburg« strukturiert der Kriegsverlauf von Juni 1916 bis Januar 1919 das Tagebuch. Es ist nach der »Feuertaufe« Ende Juni 1916 ein Wechselspiel von Schlachten und Ruhezeiten. Überzeugend, anschaulich und prägnant beschrieben finden sich im Tagebuch alle Standardsituationen des Ersten Weltkrieges, wie sie auch aus anderen Veröffentlichungen aus den Zeiten der Weimarer Republik bekannt sind. Es ist die sehr persönliche, wenn auch mitunter etwas emotionslose Note, die das Buch lesenswert macht. Mit zunächst der Ost- und ab Ende 1916 der Westfront deckt Quinkert mit seinen Erfahrungen die beiden wohl bedeutsamsten Frontabschnitte des Ersten Weltkrieges ab. Bereits mit der »Feuertaufe« beschreibt der Autor prägnant und dicht die dramatischen Erlebnisse beim Kampfeinsatz: Die russische Stellung ist fast vierhundert Meter weit, durch wogende Kornfelder gehts, die uns den Russen noch verbergen. Doch nun kommen wir über eine blanke Wiese und drüben liegt der russische Graben, doch davor, oh

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Schreck, ein fast dreißig Meter breiter, fester Drahtverhau. »Marsch, Marsch« schreien die Offiziere, es blitzen die Bajonette, die Lunge gibt ihr Letztes her zu einem donnernden »Hurra« und fester umkrampft die Faust das Gewehr. Doch nun geht ein Höllenfeuer drüben los, aus tausenden von Gewehren flammt es auf, zischend umsausen uns die kleinen Spitzgeschosse, ihr Ziel in jungen blühenden Menschenleibern suchend. Der erste, der fällt, ist der Kompanieführer Leutnant M., der weit vor der Front ist, in seinen langen Mantel gehüllt und mit furchtbarem Gebrüll seinen Eichenknüppel schwingt, denn er ist total betrunken, wie noch viele andere auch. (56)

Solche Beschreibungen werden sich im Text wiederholen, ebenso wie die Ver- und Entlausungen, das sinnlose Exerzieren während der »Ruhezeiten«, das Erholen in der »gemütlichen« Etappe, die schlechter werdende Versorgung oder Erzählungen aus dem Lazarett. Wiederholungen bzw. das Variieren bestimmter Episoden durch das ewige Gleichmaß des Krieges findet sich aber auch bei prominenten Autoren wie Ludwig Renn oder Ernst Jünger, die auf ebenfalls viele Jahre Kriegserfahrung verweisen können. Bei Remarque hingegen findet sich zwar ebenfalls all das, was Quinkert mitteilt, jedoch verknappt, komponiert und geordneter. Quinkert ist weltanschaulich ein Suchender. Doch überzeugende Antworten und Positionen findet er für sich nicht. Er ist damit ein Repräsentant für die Masse der deutschen Grabensoldaten. Aus einem katholischen Milieu stammend, wird er vom Nationalismus des »Augusterlebnisses« nicht mitgerissen. Die Meldung erreicht ihn auf einem Schützenfest: »die fröhliche Stimmung war dahin«. Doch kurz darauf schon will er »den verhassten Franzosen ihre Revanchegefühle« austreiben. (18) Sein Verhältnis zum russischen Gegner ist ambivalent. Er hat Mitleid mit ihnen und findet sie doch heimtückisch und böse. Die Sibirier achtet er als tapfere Soldaten. Von der französischen und belgischen Architektur und Kultur ist er ehrlich beeindruckt. Sein katholischer Glauben mag aber dazu beigetragen haben, dass er weniger als andere abstumpft. Angesichts toter portugiesischer »Feinde« empfindet er: Mehrere Monate lang habe ich solche Bilder nicht mehr vor Augen gehabt, man glaubt sich fest und gefeit vor jeder Art Entsetzen, und doch, nun stehe ich hier unter den Toten und schüttele mich vor Grauen wie ein Fieberkranker. Es kriecht einem langsam den Rücken hinauf, es zuckt und reißt im Genick. (427)

Doch im Verlauf des Krieges berührt ihn die Religion immer weniger. Im Sommer 1918 bemerkt er: »Die religiöse Auffrischung der ersten Kriegsmonate ist auch

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restlos dahin bei der Armee.« (487) Den politischen Diskussionen seiner sozialdemokratischen und kaiserlichen Kameraden steht Quinkert unschlüssig gegenüber. Erstaunlich ist, dass Quinkert über seine Erlebnisse während des Urlaubs vergleichbar wenig seinem Tagebuch mitteilt. Ist der Urlaub eine so deutliche Gegenwelt, dass sie in seinem Kriegstagebuch keinen Platz findet? Auch die Feldpost findet wenig Erwähnung, obwohl sie doch eine der wichtigsten psychisch stabilisierenden Stützen der Frontsoldaten war und deren Alltag eine bedeutende Rolle spielte. Überraschend ist das erzählerische Talent Quinkerts, der doch nicht über eine höhere Bildung wie die o.g. Schriftsteller verfügt und trotzdem packend und anschaulich schreibt, auch wenn er manchmal an seine Grenzen stößt, wie er selbst feststellt: »So etwas kann man nicht in Worte fassen.« (194) Die Herausgeber konnten leider nicht mehr rekonstruieren, ob, und wenn ja, wie weitgehend und wann das ursprüngliche Kriegstagebuch vom Verfasser in der Nachkriegszeit quasi literarisiert wurde, als er die Reinschrift anlegte. Die gute Lesbarkeit des Bandes hat auch etwas damit zu tun, dass die Herausgeber den Text in Bezug auf Orthographie, Grammatik und Interpunktion »behutsam in die neuere deutsche Rechtschreibung übertragen« haben. (5) Jens Ebert, Berlin

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Werner Abel, Karla Popp, Hans-Jürgen Schwebke (eds.). »Pasaremos« – Organ der XI. Brigade. Reprint der Zeitschrift. Berlin: Karl Dietz, 2017, 430 pp., Ill., 39,90 € [978-3-320-02337-9]. This volume collects the complete papers of »PASAREMOS« (»We will get through«), the newspaper of the XI. International Brigade, the first reprint of a brigade-newspaper since the publication of the »Milicia popular« in Italy in 1973. Until this publication came out, there wasn’t a complete collection of the periodical available in any German library or archive. The newspaper covers the period from March 1937 to the departure of the International Brigades in October 1938, a total of 41 issues. »PASAREMOS« published descriptions of the training and battles of the XI. International Brigade as well as songs and photographs of the Spanish Civil War. The edition includes a preface in German, English, Spanish and French. Dieser Band sammelt die kompletten Ausgaben der PASAREMOS (»Wir werden durchkommen«), der Zeitung der XI. Internationalen Brigade und stellt somit den ersten Neudruck einer Brigade-Zeitschrift seit der Publikation der Milicia popular in Italien in 1973 dar. Bis zu dieser Publikation existierte in keiner deutschen Bibliothek und in keinem deutschen Archiv eine komplette Sammlung des Magazins. Die Zeitung umfasst die Periode von März 1937 bis zum Abzug der Internationalen Brigaden im Oktober 1938 und somit insgesamt 41 Ausgaben. PASAREMOS veröffentlichte Beschreibungen des Trainings und des Kampfeinsatzes der XI. Internationalen Brigade sowie Lieder und Photographien aus dem spanischen Bürgerkrieg. Die Edition beinhaltet ein Vorwort in deutscher, englischer, spanischer und französischer Sprache. Diane Ackerman. Die Frau des Zoodirektors. München: Wilhelm Heyne, 2016, 383 pp., 19,99 € [978-3-453-27082-4]. Warsaw 1939. German troops are marching through the streets, hunting for humans. In the city lies a zoo, a place once known for enjoyment and science that is now devastated by the bombings. The Germans confiscate the animals that survived, send them to Berlin and leave

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the ground with empty cages. The director Jan Zabinski and his wife Antonia, shocked by the madness of the German race doctrine, start to risk their lives and use the cages as hideouts for Jews. They saved over 300 lives. The novel from Diane Ackerman tells the story of the Polish couple Jan and Antonia Zabinski. Warschau 1939. Deutsche Truppen marschieren durch die Straßen, machen Jagd auf Menschen. In der Stadt liegt ein Zoo, ein Ort einst für Spaß und Wissenschaft bekannt, der jetzt durch die Bombardements verwüstet ist. Die Deutschen beschlagnahmen die überlebenden Tiere, senden sie nach Berlin und lassen das Gelände mit leeren Käfigen zurück. Der Direktor Jan Zabinski und seine Frau Antonia, schockiert vom Wahnsinn der deutschen Rassenlehre, beginnen, ihr Leben zu riskieren und die leeren Käfige als Versteck für Juden zu nutzen. Sie retteten über 300 Leben. Der Roman von Diane Ackerman erzählt diese Geschichte des polnischen Ehepaares Jan und Antonia Zabinski. Nicolas Beaupré (ed.). Écrivains en guerre 14–18. »Nous sommes des machines à oublier«. Péronne: Gallimard (Historical de la Guerre), 2016, 160 pp., Ill., 24,00 € [978-2-07017875-9]. The First World War affected every profession in society, not only farmers and labourers, but also poets and writers. This edition looks at some of the writers and poets who fought at the front. It is a companion volume to the exposition »Écrivains en guerre 14–18. ›Nous sommes des machines à oublier‹« in Péronne, held to commemorate the centennial of Battle of the Somme. The volume features 140 largely newly-published documents from famous writers of both sides of the war, including handwritten notes, drawings and photographs. Some of these authors include Pierre Mac Orlan, Fritz von Unruh, Ernst Jünger, Georges Duhamel, Ivor Gurney and J.R.R. Tolkien. A special focus is the portrayal of poems of six British war poets who fought at the Somme. Der Erste Weltkrieg betraf jeden gesellschaftlichen Beruf, nicht nur Bauern und Arbeiter, sondern auch Poeten und Schriftsteller. Dieser Sammelband betrachtet einige dieser Autoren und Dichter, die an der Front kämpften. Es ist ein Begleitwerk zur Ausstellung Écrivains en guerre 14–18. »Nous sommes des machines à oublier«, die zum Gedenken an den hundertsten Jahrestag der Schlacht an der Somme abgehalten wurde. Der Band enthält 140 Dokumente, unter anderem Notizen, Zeichnungen und Fotografien, von Schriftstellern beider Seiten. Die meisten Dokumente werden damit zum ersten Mal veröffentlicht. Unter den Autoren befinden sich zum Beispiel Pierre Mac Orlan, Fritz von Unruh, Ernst Jünger, Georges Duhamel, Ivor Gurney und J.R.R. Tolkien. Ein besonderer Fokus wird auf die Darstellung der Gedichte von sechs britischen Kriegsdichtern gelegt, die alle an der Somme kämpften. Irene Below, Hiltrud Häntzschel, Inge Hansen-Schaberg, Maria Kublitz-Kramer (eds.). Fluchtorte – Erinnerungsorte. Sanary-sur-Mer, Les Milles, Marseille. München: edition text + kritik (Frauen und Exil; 10), 2017, 260 pp., Ill., 32,00€ [978-3-86916-603-2]. In 2015, the working group »Frauen im Exil« (Women in Exile) visited Sanary-sur-Mer in order to conduct on-site-research on local exile history and to gain insight into the fates of

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expellees between 1933 and 1944, most of whom had been Jewish citizens of Germany and Austria. Artistic and biographic works, reflecting conditions of flight and persecution, were analysed from diverse perspectives represented within the committee. This anthology summarises the conference’s findings, providing an in-depth look at the biographies of several refugees and bringing to light both positive and negative aspects of life in exile. Die Arbeitsgemeinschaft »Frauen im Exil« reiste 2015 nach Sanary-sur-Mer, um vor Ort Exilforschung zu betreiben und sich mit den Schicksalen der im Zeitraum von 1933–1944, meist jüdischen Vertriebenen aus Deutschland und Österreich auseinanderzusetzen. Auch künstlerische und biographische Werke, welche die damaligen Verhältnisse von Flucht und Verfolgung widerspiegelten, sollten aus verschiedenen Perspektiven einer bunt gemischten Reisegruppe betrachtet werden. Dieser Band fasst die Ergebnisse der Konferenz zusammen und schafft einen weitreichenden Einblick in das Leben der Geflüchteten. Dabei werden sowohl positive als auch negative Aspekte des Lebens im Exil aufgegriffen. Dietrich Beyrau. Krieg und Revolution. Russische Erfahrungen. Paderborn: Schöningh, 2017, 311 pp., 56,00 € [978-3-506-78528-2]. By looking at war and social strife in the Russian Empire in the nineteenth and twentieth century the volume tries to answer the question how violence influenced Russian society and the character of the Russian state. The edition starts by giving a description of form of the Russian Empire and its army, analysing its suppression of the Polish Uprising of 1863/64. The focus then shifts to the portrayal of the experience of the Russian Soldiers in the First World War, later transformed into the violence of civil war. This violence in the Russian Civil War is represented through case studies of revolutionary proselytizing and the mythological representation of political commissars. Both the experience of war and civil war give answers to the book’s central question, outlining the influence of violence on state and society. The appendix includes a pronunciation guide for Cyrillic and Polish letters, an index of cited archives, maps and tables and persons mentioned. Durch Betrachtung von Krieg und sozialen Konflikten im Russischen Reich des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts versucht der Band die Frage zu beantworten, auf welche Weise die Anwendung von Gewalt die russische Gesellschaft und den Staatscharakter beeinflusst haben. Die Ausgabe beginnt mit einer Beschreibung der Form des Russischen Reiches und seiner Armee sowie seiner Niederschlagung des polnischen Aufstandes der Jahre 1863–1864. Der Fokus wechselt dann zu den Erfahrungen der russischen Soldaten während des Ersten Weltkrieges, die sich später selbst in die Gewalt eines Bürgerkrieges kanalisierte. Die Gewalt während des russischen Bürgerkrieges wird durch Fallstudien von revolutionärer Missionierung und der mythologisierten Repräsentation der politischen Kommissare analysiert. Sowohl die Erfahrung des Krieges als auch die Erfahrung des Bürgerkrieges geben Antworten auf die zentrale Frage des Einflusses der Gewalt auf Staat und Gesellschaft. Der Anhang beinhaltet eine Ausspracheanleitung für kyrillische und

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polnische Buchstaben, ein Verzeichnis der zitierten Archive, Karten und Tabellen sowie ein Namensregister. Charmian Brinson, William Kaczynski. Fleeing from the Führer. Exil und Internierung in Briefen. Darmstadt: Phillip von Zabern, 2017, 224 pp., Ill., 39,95 € [978-3-8053-5075-4]. Letters and postcards can help to reconstruct the personal history and experience of people. This volume presents more than 160 documents, many of them newly published, relating to migrants who tried to maintain communication with family members after fleeing National Socialist repression. Many of the people featured were also interned as enemy aliens for a short period in their recipient countries after the outbreak of the Second World War – while still communicating with their family. The letters and postcards are annotated to give the reader historical context. Descriptions of some of the authors of letters and organizations involved in the dissemination of the mail are appended. The appendix includes a bibliography, sources for the photographs and a register of persons mentioned. Briefe und Postkarten können zur Nachzeichnung der persönlichen Geschichte und Erfahrungen von Personen herangezogen werden. Diese Ausgabe präsentiert mehr als 160, zum Teil erstmals veröffentlichte Dokumente, die sich mit Migranten beschäftigen, die nach der Flucht vor nationalsozialistischer Unterdrückung weiterhin mit ihren Verwandten in Kontakt zu stehen versuchten. Viele dieser Personen wurden nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als enemy aliens zumindest kurzzeitig in ihren Aufnahmeländern interniert, konnten dort aber immer noch mit ihren Familien kommunizieren. Die Briefe und Postkarten sind mit Erklärungen versehen, um dem Leser einen historischen Kontext anzubieten. Beschreibungen von einigen Autoren und Organisation, die an der Verbreitung der Briefe mitgewirkt haben, sind beigefügt. Der Anhang enthält eine Bibliographie, Quellen für die Fotografien sowie ein Namensverzeichnis. Martin Butler, Paul Mecheril, Lea Brenningmeyer (eds.). Resistance. Subjects. Representations. Contexts. Bielefeld: transcript, 2017, 195 pp., 29,99 € [978-3-8376-3149-4]. Historical progression is oftentimes provoked through resistance, something which stills holds true today. To determine the concept of »resistance« and to answer the question of who engages in resistance, this volume looks at manifestations of resistance, both historical and contemporary, and at the persons involved. The Authors each analyse a historic or current form of resistance, from violent and non-violent resistance in the twentieth century to Occupy and resistance in modern popular culture. Other contributions deal with concepts of urban and migratory resistance or resistance based on the critical theory of Herbert Marcuse. The last contribution synthesizes all previous analyses of resistance into a modern manifesto. The volume itself is based on a conference held 2014 in Oldenburg to celebrate the fortieth anniversary of the founding of the Carl von Ossietzky University. Historischer Fortschritt ist oftmals durch Widerstand erzwungen worden, etwas, was auch heute seine Gültigkeit nicht verloren hat. Um das Konzept von Widerstand zu bestimmen

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und die Frage zu beantworten, wer sich im Widerstand engagiert, schaut sich dieser Sammelband sowohl historische als auch zeitgenössische Erscheinungen von »resistance« sowie involvierte Personen an. Die Autoren analysieren jeweils eine historische oder moderne Form von Widerstand, von gewalttätigen und nichtgewalttätigen Formen im zwanzigsten Jahrhundert zu »occupy« und »resistance« in moderner Populärkultur. Weite Beiträge behandeln Konzepte urbanen und migratorischen Widerstands sowie des Widerstands nach der Kritischen Theorie von Herbert Marcuse. Der letzte Beitrag synthetisiert die verschiedene Thematiken in einem modernen Manifest. Der Sammelband selbst basiert auf einer Tagung, die 2014 anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der Carl von OssietzkyUniversität abgehalten wurde. Sarah K. Danielsson, Frank Jacob (eds.). War and Geography. The Spatiality of Organized Mass Violence. Paderborn: Schöningh (War (Hi)Stories); 1), 2017, 294 pp., 69,00 € [9783-506-78377-6]. War has always had a spatial dimension, both when it is planned or fought and when it shapes a new spatial reality in its aftermath. The authors of this volume examine this interrelationship between war and geography. The volume’s aim is to contribute to interdisciplinary discussion on military history and the history of warware. Several case studies demonstrate, for example, the influence of geography on the Imjim War, on the First World War German school education, on the Second World War in the Pacific, on the Yugoslav and Greek resistance and on the Second Indochina War. Furthermore the authors analyse how geography influences the perception and the memory of war(s), before they show in which way and to what extent the triangle of war, strategy and geography is interdependent. In conclusion the authors provide a bibliography of their source material. Krieg hatte immer eine räumliche Dimension, wenn geplant oder gekämpft wird, und auch, wenn er neue räumliche Identitäten erschafft. Die Autoren dieser Ausgabe untersuchen diese gegenseitige Beziehung zwischen Krieg und Geographie. Das Ziel der Ausgabe ist es, einen Beitrag für die interdisziplinäre Diskussion über Militärgeschichte und die Geschichte des Krieges zu leisten. Mehrere Beiträge zeigen beispielsweise den Einfluss von Geographie auf den Imjimkrieg zwischen Korea un d Japan, auf den deutschen Schulunterricht im Ersten Weltkrieg, auf den Zweiten Weltkrieg im Pazifik, auf den jugoslawischen und griechischen Widerstand sowie auf den Vietnamkrieg. Weiterhin analysieren die Autoren, welche Auswirkungen Geographie auf die Wahrnehmung und die Erinnerungen an Kriege hat, bevor sie zeigen, in welcher Weise und in welchem Maße Krieg, Strategie und Geographie voneinander abhängig sind. Abschließend fügen die Autoren ein Literaturverzeichnis ihres Quellenmaterials an.

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Uwe Danker, Astrid Schwabe (eds.). Die NS-Volksgemeinschaft. Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen? Göttingen: V&R unipress (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; 13), 2017, 224 pp., Ill., 40,00 € [978-3-8471-0544-2]. The concept of the National Socialist community has become subject to a thoroughly productive discussion in historical science. This volume seeks to determine and evaluate the ways how the concept of »Volksgemeinschaft« could be historically explained inside and outside of modern German schools, including corrective suggestions so as to provide a historically sound, scientific assessment of the concept. To be able to do so, this volume looks at the theoretical substructure of the »Volksgemeinschaft» and its reflection in popular history, at the potentials and problems that can result from the didactic communication of the concept, and at specific examples of how the concept is taught at modern schools. A closing remark offers an additional, critical statement on the didactic challenges of memorial sites. Um den Begriff der NS-Volksgemeinschaft hat sich eine durchaus produktive Diskussion in der Geschichtswissenschaft entwickelt. Dieser Band versucht zu bestimmen und zu bewerten, auf welche Weise dieses Konzept sowohl inner- als auch außerschulisch gelehrt werden kann. Es werden Verbesserungsvorschläge diskutiert, um Schülern eine historisch akkurate, wissenschaftlich fundierte Bewertung des Begriffs zu ermöglichen. Um diesem Ziel näher zu kommen, untersucht der Band die theoretische Konzeption der Volksgemeinschaft und deren Reflexion in der Populärwissenschaft, die Potentiale und Probleme, die bei der didaktischen Vermittlung des Konzeptes entstehen sowie spezifische Beispiele, auf welche Weise das Konzept an modernen Schulen gelehrt wird. Ein abschließender Kommentar setzt sich kritisch mit den didaktischen Herausforderungen auseinander, mit der sich Erinnerungsstätten konfrontiert sehen. István Deák. Kollaboration, Widerstand und Vergeltung im Europa des Zweiten Weltkrieges. Wien: Böhlau, 2017, 367 pp., Ill., 34,99 € [978-3-205-20218-9]. During the Second World War most countries occupied by the National Socialist »Third Reich« had their own indigenous resistance and collaboration movements. By looking at the connected topics of »collaboration«, »accommodation«, »resistance«, and »retribution« this work seeks to answer the question how these movements expressed themselves in different occupied nations and to shed light on this often neglected aspect of the history of the Second World War. This is done by means of a chronological study, dividing the phases of resistance and collaboration in three periods: a first phase from 1938 until the German attack on the Soviet Union, the second phase until the capitulation of the sixth army in Stalingrad and the third phase up to the end of the war. While resistance and collaboration in Western Europe, as well as in Eastern and Southern Europe can be structured by these three periods, each occupied nation maintains its own peculiarities. The appendix includes overview maps, a bibliography and an index of persons.

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Während des Zweiten Weltkrieges besaßen viele Länder, die durch das nationalsozialistische »Dritte Reich« besetzt wurden, eigene Widerstands- und Kollaborationsbewegungen. Durch Darstellung der verbundenen Themen von »Kollaboration«, »Akkommodation«, »Widerstand« und »Vergeltung« versucht diese Monographie die Frage zu beantworten, wie diese Bewegungen sich in verschiedenen besetzten Ländern äußerten, und somit diesen oftmals übersehenen Aspekt des Zweiten Weltkrieges hervorzuheben. Dies geschieht durch eine chronologische Studie, in der die Phasen des Widerstandes und der Kollaboration in drei Zeitabschnitte eingeteilt werden: in eine erste Phase von 1938 bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion, eine zweite Phase bis zur Kapitulation der sechsten Armee in Stalingrad und eine dritte Phase bis zum Ende des Krieges. Widerstand und Kollaboration in West- sowie in Ost- und Südeuropa lassen sich durch diese drei Zeitabschnitte teilen, aber jedes besetzte Land hat seine eigenen Besonderheiten vorzuweisen. Der Anhang beinhaltet Überblickskarten, Bibliografie und Personenindex. Julius Deutsch. Kriegserlebnisse eines Friedliebenden. Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Michaela Maier, Georg Spitaler (eds.). Wien: new academic press, 2016, 192 pp., 29,90 € [978-3-700-319450]. Julius Deutsch was an Austrian social-democratic politician. He was called up for the First World War as an artillery officer and wrote about his experiences on the Eastern Front. This typescript of »Kriegserlebnisse eines Friedliebenden« was found recently and is now available with an introduction by the editors. Julius Deutsch war ein österreichischer, sozialdemokratischer Politiker. Er wurde im Ersten Weltkrieg als Artillerieoffizier eingezogen und schrieb über seine Erlebnisse an der Ostfront. Das Typoskript »Kriegserlebnisse eines Friedliebenden« wurde vor kurzem gefunden und ist nun mit einer Einführung der Herausgeber verfügbar. Georges Didi-Huberman. Aus dem Dunkel heraus. Brief an László Nemes. Wien: new academic press, 2017 (VWI Studienreihe: 2), 40 pp., 4,90 € [978-3-700-319894]. The movie »Son of Saul« by László Nemes divided critics, because it broke the taboo of cinematically portraying the Holocaust from an unprecedented closeness. The film follows a Jewish »Sonderkommando« in Auschwitz, forced to burn the corpses from the gas chambers. The French art historian and philosopher Georges Didi-Huberman wrote a letter to Nemes that is printed in German translation this book. He admires the film and writes Nemes his thoughts about the forbiddance, the weight, the impact or non-impact of pictures in terms of the Holocaust. Der Film Son of Saul von László Nemes spaltete die Kritiker, weil er das Tabu brach, den Holocaust cineastisch aus einer bisher unbekannten Nähe darzustellen. Der Film folgt einem jüdischen »Sonderkommando« in Auschwitz, das dazu gezwungen wurde, die Leichen aus den Gaskammern zu verbrennen. Der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman schrieb Nemes einen Brief, der in deutscher Übersetzung in diesem Buch

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abgedruckt wird. Er bewundert den Film und schreibt Nemes seine Gedanken über Verbot, Wichtigkeit, Einfluss und Nicht-Einfluss von Bildern zum Thema Holocaust. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Vereinigung Freiwilliger in der Spanischen Republik 1936–1939 und Freunde des demokratischen Spaniens (eds.). 80 Jahre Internationale Brigaden. Neue Forschungen über österreichische Freiwillige im Spanischen Bürgerkrieg. Wien: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 2016, 175 pp., Ill., 12,50 € [978-3-901142-67-3]. Like many other citizens of other nations, around 1,400 Austrian volunteers were active in the defense of the Spanish Republic. This edition collects diverse contributions, many of which describe the situation of the Austrian volunteers during the Spanish Civil War. For example one contribution reconstructs the history of the transport organization »Franz Storkan« and its members, responsible for organizing the travel of Austrians to Spain. Other articles describe the life of Anna Peczenik, nurse in the International Brigade and later anti-fascist resistance member, or the life of Austrian Students and Jews before during and after their activity as members of the International Brigade. Furthermore, the edition reprints archive material on the Spanish Civil War deposited in the Documentation Centre of Austrian Resistance. The annex includes the classification scheme of the Spanish Archive. Wie viele Bürger anderer Länder auch, waren ungefähr 1.400 österreichische Freiwillige aktiv an der Verteidigung der Spanischen Republik beteiligt. Dieser Band sammelt verschiedene Beiträge, die die Situation der österreichischen Freiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg beschreiben. So rekonstruiert ein Beitrag die Geschichte der Transportorganisation »Franz Storkan« und ihrer Mitglieder, die für Reisen von Österreichern nach Spanien verantwortlich war. Andere Artikel beschreiben das Leben der Anna Peczeniks, die als Krankenschwester in den Internationalen Brigaden und später als antifaschistisches Widerstandsmitglied aktiv war, sowie das Leben von österreichischen Studenten und Juden vor, während und nach ihrer Aktivität als Mitglieder der Internationalen Brigaden. Die Ausgabe enthält außerdem Archivmaterial des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zum Spanischen Bürgerkrieg ab. Der Anhang beinhaltet das Klassifizierungssystem des Spanienarchivs. Lisbeth Exner, Herbert Kapfer. Verborgene Chronik. 1914–1918. Berlin: Galiani, 2017, 814 pp., 38,00 € [978-3-86971-090-7]. This book contains a high number of original testimonia from the period of the First World War and for a closer look of the events of this time. It contains not only testimonia from the front itself, from soldiers, officers and the medical staff, but also from people of the home front, from relatives, prisoners of war and others. The appendix includes a list of authors, information on the testimonia themselves, an editorial note, a bibliography, a timetable, information on the »Deutsche Tagebucharchiv« and on the authors of this book, acknowledgements and a topographical index.

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Dieser Band beinhaltet eine große Anzahl von Originalzeugnissen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und ermöglicht damit eine unvergleichliche Nahaufnahme der damaligen Ereignisse. Es werden nicht nur Zeugnisse von der Front selbst, also von Soldaten, Offizieren und medizinischem Personal vorgestellt, sondern auch von Menschen von der Heimatfront, den Angehörigen, Kriegsgefangenen und anderen. Im Anhang befinden sich außerdem eine Liste der Autorinnen und Autoren der Tagebücher, Informationen über die Tagebücher selbst, Anmerkungen der Herausgaber, ein Textnachweis, eine Zeittafel, Informationen über das Deutsche Tagebucharchiv woie über die Autoren dieses Buches, eine Danksagung sowie ein Ortsregister. Jochen Flebbe, Görge K. Hasselhoff (eds.). Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Aspekte des Verhältnisses von Religion und Gewalt. Göttingen: V&R unipress (Kirche-Konfession-Religion; 68), 2017, 256 pp., 40,00 € [978-3-8471-0672-2]. The connection between religion and violence is an often disputed one. By looking at the religious scriptures of the three big Abrahamic religions and religious strife in history and present, the volume seeks to present a spectrum of different approaches to this difficult question. The religious scriptures are each analyzed with respect to their statements on violence and their respective intention. A second section includes elementary reflection about religion and violence, as descripted from philosophical and political points of views. The last section looks at the connection between religion and violence trough exemplary case studies of history and present. The cited historical examples are the Talmud-process of 1240 and the role of umpires in the German Peasants’ War of 1525. The modern perspective is represented trough current forms of violence in India and in the economic sphere. Über die Verbindung zwischen Religion und Gewalt wird oft debattiert. Dieser Band versucht, sich dieser schwierigen Frage durch verschiedene Ansätze anzunähern, indem die heiligen Texten der drei großen abrahamitischen Religionen und religiöser Konflikt in der Vergangenheit und Gegenwart betrachtet werden. Die heiligen Texte werden hinsichtlich ihrer Aussagen zu Gewalt und ihrer entsprechenden Intention analysiert. Ein zweiter Abschnitt beinhaltet eine grundlegende Reflexion über die Verbindung von Gewalt und Religion unter philosophischen und politischen Gesichtspunkten. Der letzte Abschnitt befasst sich mit Religion und Gewalt anhand von beispielhaften Fallstudien in der Geschichte und der Gegenwart. Der Talmud-Prozess von 1240 und die Rolle von Schiedsrichtern im Bauernkrieg von 1525 sowie moderne Gewalt in Indien und auf der wirtschaftlichen Ebene werden als Beispiele herangeführt. Walter Flex. The Wanderer between the Two Worlds. Alva: Rott Publishing, 2014, 89 pp. [9781520194653]. This is the first English translation of the novella »The Wanderer between the Two Worlds« from German poet Walter Flex. Flex was fighting in the First World War and published his text 1916, a year before he died on the Eastern front in 1917. The novella became an instant

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success and its popularity grew further in the post-war years, especially in the German student movement and in the Nazi party. Stylistically it changes between prose and poems, its main topics being romantic idealism and homoerotic friendship. It is translated by Brian Murdoch and contains his additional commentary on the text, as well as on his translation. Dies ist die erste verfügbare englische Übersetzung der Novelle Der Wanderer zwischen beiden Welten des deutschen Dichters Walter Flex. Flex kämpfte im Ersten Weltkrieg und veröffentlichte den Text erstmals 1916, bevor er 1917 an der Ostfront starb. Die Novelle wurde ein sofortiger Erfolg und ihre Popularität wuchs in den Jahren nach dem Krieg, besonders in den deutschen Studentenbewegungen und der NSDAP. Stilistisch wechselt sie zwischen Prosa und Gedichten mit romantischem Idealismus und homoerotischer Freundschaft im Krieg als Themen. Sie wurde von Brian Murdoch übersetzt und enthält dessen zusätzlichen Kommentar über den Text und über seine Übersetzung. Uwe Franzen, Wilfried Weinke. »Wo man Bücher verbrennt…« Verbrannte Bücher, verbannte und ermordete Autoren Hamburgs. Hamburg: Atelier hand-werk 2.0, 2017, 378 pp., Ill., 29,80 € [978-3-00-056388]. In 2013 and 2015, the exhibiton »Wo man Bücher verbrennt… Verbrannte Bücher, verbannte und ermordete Autoren Hamburgs« commemorated Hamburger authors, prosecuted by the National Socialists. This book serves as a companion piece, which includes, in addition to the historic depiction of the book burning in Hamburg, biographies of 21 affected persons. Among them are Walter A. Berendsohn, Kurt Enoch, Max Halberstadt, Carl von Ossietzky, and Magarete Susman. Each author is introduced by a tabular curriculum vitae and his personal documents and works. The appendix includes a press review, excerpts from the guestbook and a bibliography. In den Jahren 2013 und 2015 fand unter dem Titel Wo man Bücher verbrennt… Verbrannte Bücher, verbannte und ermordete Autoren Hamburgs eine Ausstellung über Hamburger Schriftsteller statt, die von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren. Als Begleitwerk dient dieses Buch, das neben einer historischen Darstellung der Bücherverbrennung in Hamburg 21 Biografien der betroffenen Personen enthält. Unter diesen finden sich unter anderem Walter A. Berendsohn, Kurt Enoch, Max Halberstadt, Carl von Ossietzky und Magarete Susman. Jeder Schriftsteller wird durch einen tabellarischen Lebenslauf vorgestellt, zusätzlich sind persönliche Dokumente und Werke abgedruckt. Der Anhang beinhaltet einen Pressespiegel, Auszüge aus dem Gästebuch und ein Literaturverzeichnis. Werner Frick, Günter Schnitzler (eds.). Der Erste Weltkrieg im Spiegel der Künste. Freiburg, Breisgau: Rombach, 2017, 352 pp., Ill., 54,00 € [978-3-7930-9829-4]. The First World War majorly influenced the cultural development of its time. This is seen in its representation in contemporary literature, music, film and art. This volume looks at the cultural portrayal of the war through an interdisciplinary approach, not only featuring historians but also academic cultural critics. Following introductory reflections on the prologue to the First

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World War the edition looks at diverse cultural disciplines and their respective development in and after the First World War, partially trough case studies, partially through a comparison of cultural works of both sides of the war. For example, literary reprocessing of the war draws on Ernst Jüngers Works as well as on various war and anti-war books written during the Weimar Republic. Other people featured include Karl Kraus, Klabund, Philip Gibson und Karl Klee. Several books, poems, films and songs from the period during and after the war are discussed. Der Erste Weltkrieg hat die kulturelle Entwicklung seiner Zeit stark beeinflusst. Dies spiegelt sich in seiner Darstellung in zeitgenössischer Literatur, Musik, Film und Kunst wider. Dieser Sammelband beschreibt die Darstellung des Krieges unter einem interdisziplinären Gesichtspunkt, der nicht nur Historiker, sondern auch Kulturwissenschaftler zu Wort kommen lässt. Nach einer Einleitung zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges werden verschiedene kulturelle Disziplinen in ihrer Entwicklung im und nach dem Ersten Weltkrieg beschrieben, teilweise exemplarisch an einem Fallbeispiel, teilweise komparativ mithilfe von künstlerischen Beiträgen. Für die literarische Verarbeitung des Krieges wird zum einem auf Ernst Jüngers Bücher, in einem anderen Beitrag auf verschiedene Kriegsund Antikriegsromane, die während Weimarer Republik verfasst wurden, zurückgegriffen. Weitere Personen, die in Beiträgen behandelt werden, sind Karl Kraus, Klabund, Philip Gibson und Karl Klee. Des Weiteren werden Romane, Gedichte, Filme und Lieder der Kriegs- und Nachkriegszeit besprochen. Regina Fritz, Éva Kovács, Béla Rásky (eds.). Als der Holocaust noch keinen Namen hatte Before the Holocaust Had Its Name. Wien: new academic press (Beiträge des VWI; 2), 2016, 460 pp., 32,00 € [978-3-700-319412]. Modern history long upheld the thesis that in the period short after the end of the Second World War, there was an unspoken pact in society to not broach the issue of the mass murder of the Jews. Today, this thesis is under question. Recently found material proves that there were efforts to initiate a social reprocessing of the topic until the early 1950ths. The articles in this volume evaluate the extent of these efforts. To do so, different topics are investigated, like the surveying of the concentration camp at Buchenwald, the alternating early portrayals in German, French, American, Soviet or Polish literature, history and journalistic writings, or early discussions on the question of guilt. The volume finishes with an index and short biographies of the authors. In der modernen Geschichtsschreibung ging man lange von der These aus, dass in der Zeit kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein unausgesprochener Pakt bestand, den Massenmord an den Juden nicht zu thematisieren. Diese These kann jetzt in Frage gestellt werden. Kürzlich gefundenes Material belegt, dass es schon in der Zeit bis in die frühen 1950er Jahre Bemühungen gab, dieses Thema gesellschaftlich aufzuarbeiten. Die Artikel in dieser Ausgabe fragen, inwieweit dies geschah. Dazu werden verschiedene Themen behandelt, wie die Vermessung des Konzentrationslagers Buchenwald, die sich unterscheidenden Darstellungen in deutschen, französischen, amerikanischen, sowjetischen oder polnischen literarischen, historischen oder journalistischen Schriften oder

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die frühen Diskussionen der Schuldfrage. Die Ausgabe schließt mit einem Verzeichnis und Kurzbiographien der Autoren. Mischa Gabowitsch, Cordula Gdaniec, Ekaterina Makhotina (eds.). Kriegsgedenken als Event. Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa. Paderborn: Schöningh, 2017, 345 pp., 39,90 € [978-3-506-78434-6]. This book deals with the post-socialist states’ approach to the 9th of May 1945, one of their most celebrated memorial days so far. It describes the remembrance of war on this day, his survival and transformation within the Soviet festival culture and the dispute about commemoration of the war in the Ukraine and in other post-socialist states. This book describes not only the commemoration of the end of the Second World War at the 9th May of 1945, but also includes the contemporary external policy of Eastern European states, including the Russian annexation of the Crimean. In the appendix are additionally a device of annotations, a register of illustrations and a list of the authors listed. Das Buch handelt von dem Umgang postsozialistischer Staaten mit einem ihrer am stärksten zelebrierten Gedenktage: dem 9. Mai 1945. Beschrieben werden das Kriegsgedenken an diesen Tag, sein Nachleben und seine Wandlungen in der sowjetischen Festkultur sowie die Auseinandersetzung um das Kriegsgedenken in der Ukraine und in anderen postsozialistischen Staaten. Dieses Buch behandelt jedoch nicht nur das Gedenken über das Ende des Zweiten Weltkrieges am 9. Mai 1945, sondern bezieht auch die heutige Außenpolitik osteuropäischer Staaten mit ein, bis hin zur russischen Annexion der Krim. Im Anhang sind außerdem noch ein Anmerkungsapparat, ein Abbildungsverzeichnis und eine Liste mit den Autoren und Autorinnen aufgeführt. Manfred Gailus. Friedrich Weißler. Ein Jurist und bekennender Christ im Widerstand gegen Hitler. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, 320 pp., 30,00 € [978-3-525-30109-8]. Friedrich Weißler was a Protestant jurist that died in the KZ Sachsenhausen in 1937. He was beaten to death by the SS, because he participated in a critical writing against Hitler. The author follows Friedrich Weißlers biography to tell about this resistance fighter against the National-Socialism. He starts with an introduction to the case, then he describes his early life before the turn of the century, his and his family’s role in the First World War, his career in the time before National Socialism and ultimately his resistance and death. The book finishes with a conclusion about the role of Protestantism in the resistance against Hitler. It features an attachment containing an index of documents, notes, acronyms, images, sources, literature and individuals. Friedrich Weißler war ein evangelischer Jurist, der 1937 im KZ Sachsenhausen starb. Er wurde von der SS zu Tode geprügelt, weil er sich an einer kritischen Schrift über Hitler beteiligt hatte. Der Autor folgt Friedrich Weißlers Biographie, um über diesen Widerstandkämpfer gegen den Nationalsozialismus zu erzählen. Er beginnt mit einer Einleitung über den Fall Friedrich Weißler, dann beschreibt er sein frühes Leben vor der Jahrhundertwende, seine

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Rolle und die seiner Familie im Ersten Weltkrieg, seine Karriere vor der Zeit des Nationalsozialismus und schließlich seinen Widerstand und Tod. Das Buch endet mit einem Resümee über die Rolle des Protestantismus im Widerstand gegen Hitler. Es beinhaltet einen Anhang mit ein Verzeichnis über die aufgeführten Dokumente, Anmerkungen, Abkürzungen, Bilder, Quellen, Personen und über die aufgeführte Literatur. Elisabeth Gallas. »Das Leichenhaus der Bücher«. Kulturrestriktion und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Schriften des Simon-DubnowInstituts; 19), 2016, 351 pp., 65,00 € [978-3-525-37050-6]. This volume deals with the JCR, the Jewish Cultural Reconstruction. The author explores its role in the recovery of stolen or lost Jewish cultural goods after the end of the Second World War. She starts with an introduction to the topic, before she examines the importance of the Offenbach Archival Depot for restoration, the importance of the JCR for rehabilitation of Jewish-European culture and the significance of these institutions for Jewish thinkers like Hannah Arendt or Lucy Davidowicz. The volume features an index of acronyms, sources, literature, images, names, places and subjects. Diese Ausgabe beschäftigt sich mit der JCR, der Jewish Cultural Reconstruction. Die Autorin erforscht die Rolle der JCR in der Wiederbeschaffung von gestohlenen oder verlorenen jüdischen Kulturgütern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie beginnt mit einer Einleitung in das Thema, bevor sie die Wichtigkeit des Offenbach Archival für die Rückerstattung, die Wichtigkeit der JCR für die Wiederherstellung jüdisch-europäischer Kultur und die Signifikanz dieser Institutionen für jüdische Denker wie Hannah Arendt oder Lucy Davidwicz erläutert. Die Ausgabe enthält ein Verzeichnis der Abkürzungen, Quellen, Literatur, Bilder, Namen, Orte und ein Sachregister. Peter Geiss, Peter Arnold Heuser (eds.). Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive. Göttingen: V&R unipress / Bonn University Press (Wissenschaft und Lehrerbildung; 2), 2017, 288 pp., 45,00 € [978-3-8471-0671-5]. The making of peace is and was always one of the most important challenges to society. This volume deals with the different ways of shaping peace between the 16th and the 20th century. The authors give examples for conflicts with highly contemporary topics, like the freedom of religions or the self-determination of peoples, and show how these conflicts were solved in the past: The Peace of Westphalia 1648, the early utopian ideas of a supranational instance for peace, the Congress of Vienna 1814/15, the peace orders of Paris 1919/20, the UNO, the NATO Double-Track Decision and the international order after the collapse of the Eastern Bloc. The volume also contains didactic writings on how these topics fit into school lessons and on the best methods for mediation. Das Schaffen von Frieden war immer einer der wichtigsten Herausforderungen der Gesellschaft. Diese Ausgabe behandelt verschiedene Wege der Herstellung von Frieden zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert. Die Autoren geben Beispiele für Konflikte mit hoch-

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aktuellen Themen, etwa der Religionsfreiheit oder der Selbstbestimmung der Völker, und zeigen, wie diese Konflikte in der Vergangenheit gelöst wurden. Der Westfälische Frieden 1648, frühe utopische Ideen von supranationalen Friedensinstanzen, der Wiener Kongress 1814/15, die Pariser Friedensordnungen von 1919/20, die UNO, der NATO Doppelbeschluss und die internationale Ordnung nach dem Zerfall des Ostblocks werden dargestellt. Die Ausgabe enthält auch didaktische Schriften darüber, wie diese Themen in den Schulunterricht passen, sowie geeignete Methoden der Vermittlung. Johanna Gehmacher, Klara Löffler. Storylines und Blackboxes. Autobiographie und Zeugenschaft in der Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Wien: new academic press (Beiträge des VWI zur Holocaustforschung; 4), 2017, 260 pp., 22,00 € [978-3-700319849]. A significant part of what is known about the Holocaust is based on reports from witnesses and autobiographies, both of which have a long cultural history themselves. This volume asks how these two specific ways of communicating information interact, mix and create interferences in context of the experience of violence in the time of National Socialism and the Second World War. Amongst others, the authors deal with the case of witnesses of the Shoah in Romania, the memories of forced workers from the Soviet Union, the narratives of autobiographies of Jewish fates, the memories of Slovenians under NS-prosecution or the editing of audio-visual life stories containing massive violent experience. The volume finishes with an index and short biographies of the authors. Ein signifikanter Teil dessen, was man heute über den Holocaust weiß, stammt aus Zeugenschaft und Autobiographien, die beide selber eine lange kulturelle Geschichte haben. In diesem Band wird untersucht, wie diese zwei besonderen Wege Informationen zu vermitteln miteinander interagieren, sich vermischen und Interferenzen erzeugen im Kontext der Verarbeitung von Gewalterfahrungen in den Zeiten des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Die Autoren behandeln verschiedene Themen, unter anderem: Die Zeugen der Shoah aus Rumänien, die Erinnerungen von Zwangsarbeitern aus der Sowjet­ union, die Narrative der Autobiographien von jüdischen Schicksalen, die Erinnerungen von Slowenen an die NS-Verfolgung oder die Bearbeitung audiovisueller Lebensgeschichten, die massive Gewalterfahrungen beinhalten. Die Ausgabe endet mit einem Verzeichnis und Kurzbiographien der Autoren. Christian Gerlach. Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen. München. C. H. Beck, 2017, 576 pp., 34,95 € [978-3-406-70710-0]. Christian Gerlach tries to give a widespread overview on the mass murder of the European Jews during the first half of the 20th century. After a detailed description of the German extermination of Jews between 1933 and 1945 Gerlach widens the analytical screen and starts to focus on ideological essentials and the methods of extermination. In his conclusion, the author switches from the German dimension to the European dimension, analysing the involvement

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of non-German governments and societies. The appendix of the book includes annotations, a bibliography and an index. Mit seinem Buch versucht Christian Gerlach, einen umfassenden Überblick über die Vernichtung der Europäischen Juden während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu geben. Nach einer detaillierten Beschreibung der Judenverfolgung durch Deutsche zwischen 1933 und 1945 weitet Gerlach das Analyseraster aus und beginnt, die ideologischen Grundlagen sowie die Methoden der geplanten Vernichtung der Juden zu fokussieren. Abschließend wechselt der Autor von der deutschen in die europäische Dimension und analysiert die Beteiligung nichtdeutscher Regierungen und Gesellschaften. Im Anhang des Buches befinden sich ein Anmerkungsapparat, ein Literaturverzeichnis und ein Index. Jeanne E. Glesener, Olivier Kohns (eds). Der Erste Weltkrieg in der Literatur und Kunst – Eine europäische Perspektive. Paderborn: Wilhelm Fink (Texte zur politischen Ästhetik; 4), 2017, 208 pp., 24,90 € [978-3-7705-6106-8]. This volume deals with processing and perception of the First World War in European literature. The authors’ aim is to provide a more continental perspective, instead of having a strong focus on the Great Power countries, like Germany or France. As a special approach they include studies about First World War literature and art from »Small Power« countries like Luxembourg, Poland or Estonia. These studies range from the literary representation of the Luxembourg Duchess Marie-Adélaïde and the portrayal of First World War soldiers’ love and eroticism in the Polish literature to the representation of war in the novels of the Turkish writer Yakup Kadri Karaosmanoğlus. Diese Ausgabe befasst sich mit Verarbeitung und Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs in der europäischen Literatur. Ziel der Autoren ist es, eine in höherem Maße kontinentale Perspektive einzunehmen, statt ihren Fokus nur auf Großmächte, wie Deutschland oder Frankreich, zu legen. Ein besonderer Ansatz ist dabei, Studien über Literatur und Kunst des Ersten Weltkriegs aus »Kleinmächten«, wie Luxemburg, Polen oder Estland mit einzuschließen. Diese Studien reichen von der literarischen Repräsentation der luxemburgischen Großherzogin Marie Adelheid über die Inszenierung der soldatischen Liebe und Erotik im Ersten Weltkrieg in der polnischen Literatur bis hin zur Darstellung von Krieg in den Romanen des türkischen Schriftstellers Yakup Kadri Karaosmanoğlu. Matthew Grant, Benjamin Ziemann (eds.). Understanding the imaginary war. Culture, thought and nuclear conflict, 1945–90. Manchester: Manchester University Press, 2016, 303 pp., 92,49 € [978-1-784-99440-2]. The anthology at hand is based on the idea that the threat of nuclear warfare which characterized the Cold War is a new form of warfare only existent in the realm of imagination. When nuclear bombs were used against Japan they were still part of »conventional« warfare insofar as they were deployed similar to conventional bombs – albeit being far more destructive. With the Cold War, nuclear warfare was no longer real warfare but much rather a fictional one,

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fought based on simulations and public imagination. Different aspects of this »imaginary war« are discussed in eleven essays. For example Claudia Kemper examines how physicians were able to define the nuclear arms race as a disease and proscribe treatments from a neutral scientific perspective in the 70s and 80s. Other papers deal with Soviet and US imaginations of nuclear conflict, with the social and civil rights consequences in the aftermath of nuclear detonations in Japan as well as the production of nuclear war imagery in media and science. The appendix features an index. Dem vorliegenden englischsprachigen Sammelband liegt die These zugrunde, dass der Kalte Krieg geprägt durch die Atombombe eine neue Form des Krieges war, die nur in dem Raum der Vorstellung stattfand. Dabei seien die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki noch konventionelle Waffeneinsätze, die wie andere Bombenarten benutzt wurden – allerdings mit einer weitaus höheren Zerstörungskraft. Mit dem Kalten Krieg wurde aus der realen Kriegsführung mehr und mehr ein Konflikt in den Köpfen, der auf Simulation und Vorstellung basierte. Verschiedene Aspekte dieses vorgestellten Krieges werden in elf Essays betrachtet. Unter anderem untersucht Claudia Kemper, wie Ärzte aus beiden Blöcken in den 70ern und 80ern die nukleare Aufrüstung als Krankheit beschrieben haben, um damit neue Lösungsoptionen aufzuzeigen. Weitere Arbeiten befassen sich mit Vorstellungen von nuklearen Konflikten sowohl in der Sowjetunion als auch in den USA, mit den sozialen und bürgerrechtlichen Konsequenzen aus den Atombombendetonationen in Japan sowie der Inszenierung von nuklearen Kriegen in Medien und Wissenschaft. Im Anhang befindet sich ein Index. Horst Gründer, Hermann Hiery (eds.). Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick. Berlin-Brandenburg: be.bra, 2017, 352 pp., Ill,. 24,00€ [978-3-89809-137-4]. The 30-year-long colonial history of Germany is made up of extensive trade and Christian proselytising, but also included acts of genocide. This book reports on everyday life, questions of race, and the role of women in German-governed colonies. Moreover, topics like the Brandenburgian-Prussian Trading Company, military, war, and violence are being considered. The book thus helps to throw light on Germany’s colonial past, which until recently only very few people had been aware of. Several photographies, maps, an index of persons and places, as well as a supplementary reference list are included. In der 30 Jahre langen Kolonialzeit der Deutschen wurde viel Handel betrieben und ganze Völker zum Christentum bekehrt. Doch auch Völkermorde gehörten zur Wahrheit dieser Epoche. In diesem Buch wird über den Alltag, die »Rassenfrage« und die Rolle der Frauen in den deutschen Kolonien berichtet. Außerdem werden Themen wie die brandenburgischpreußische Handelskompanie, Militär, Kriege und Gewalt bearbeitet. Das Buch dient zur Aufklärung und Erklärung, da noch vor wenigen Jahrzehnten nur einzelne Menschen über die Ereignisse der Kolonialzeit Bescheid wussten. In dem Buch sind zahlreiche Fotografien, einige Karten und ein Personen- und Ortsregister enthalten. Zudem ist eine Beilage mit einem Literaturverzeichnis vorhanden.

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Adrian Hänni. Terrorismus als Konstrukt – Schwarze Propaganda, politische Bedrohungs­ ängste und der Krieg gegen den Terrorismus in Reagans Amerika. Essen: Klartext, 2018 (Frieden und Krieg – Beiträge zur historischen Friedens- und Konfliktforschung; 24), 390 pp., 29,95 € [978-3-8375-1719-4]. During the administration of Ronald Reagan, the United States saw the beginning of a worldwide struggle against terrorism, which allegedly had its roots in the events of the Cold War. In the 1980s, American society felt existentially threatened by Soviet conspiracies targeting Western values. »Terrorismus als Konstrukt« (»Terrorism as Construct«) reveals that the American people’s assumptions were predominantly based on rumours deliberately circulated by the CIA: this example of so-called black propaganda would ultimately lead to a militarisation of US-American anti-terror-policies. Building onto this extensive case study, author Adrian Hänni then provides a wider history and context of terrorism, pointing to its tendency and potential for stereotypisation. Unter der Regierung von Ronald Reagan sahen sich die USA im Kampf gegen einen weltweiten Terrorismus, welcher seinen Ursprung vorgeblich in den Konflikten des Kalten Krieges hatte. Man fühlte sich in den 1980er Jahren durch eine sowjetische Verschwörung, welche die westlichen Werte angriff, existenziell bedroht. Dieses Buch deckt auf, dass es sich dabei um bewusst gestreute Gerüchte, so genannte schwarze Propaganda, seitens der CIA handelte, welche zu einer Militarisierung der amerikanischen Anti-Terrorpolitik führte. Anhand dieses Beispiels analysiert Hänni die Geschichte des Terrorismusbegriffs und sein Potential zu Stereotypisierungen. Katja Happe. Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940–1945. Paderborn: Schöningh, 2017, 365 pp., 49,90 € [978-3-506-78424-7]. This book deals with the National Socialist persecution of Jews in the Netherlands between 1940 and 1945. The author investigates on efforts of foreign institutions to rescue Dutch Jews and opens up with the description of diverse reactions from the Dutch public on the persecutions. The appendix includes a list of information on the design of the text, acknowledgements, annotations, a list of abbreviations and archives, a bibliography, a biographical list and an index of persons listed. Das Buch handelt von der nationalsozialistischen Judenverfolgung in den Niederlanden zwischen 1940 und 1945. Die Autorin geht hierbei insbesondere auf ausländische Hilfsbemühungen zur Rettung der niederländischen Juden ein und auf die vielfältigen Reaktionen der niederländischen Öffentlichkeit auf die Verfolgungen. Im Anhang befinden sich außerdem eine Liste der Hinweise zur Textgestaltung, eine Danksagung, ein Anmerkungsapparat, eine Liste der verwendeten Abkürzungen und Archive, eine Bibliographie, eine Liste von Biographien und ein Personenregister.

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Haus der Geschichte Baden-Württemberg (ed.). Carl Laemmle presents – ein jüdischer Schwabe erfindet Hollywood. Stuttgart: Haus der Geschichte Baden-Württemberg, 2016, 192 pp., Ill., 19,00 € [978-3-933726-52-0]. Carl Laemmle was the man who invented what we call Hollywood today. He was born in Laupheim, a small village in Southern Germany, and he was Jewish. In 1884, when he was 17, he emigrated to the USA, where 26 years later he founded the Universal Studios, the blueprint for modern film industry. The »Haus der Geschichte museum« in Stuttgart shows a new exhibition on Carl Laemmle’s life. In addition to this, the museum publishes a catalogue of the exhibition as an illustrated paperback. It explores Carl Laemmle’s heritage, his early years in the USA, his first steps in the emerging movie industry – with his biggest success, the anti-war movie »All Quiet on the Western Front«. Furthermore, the catalogue provides a look on his status as a global player, on how he was a patriarch, and eventually became a savior in the time of the Holocaust. The editors present the reader with several photographs, telegrams as well as set pieces and screening advertisements. Carl Laemmle war der Mann, der das erfand, was wir heute Hollywood nennen. Er wurde in Laupheim, einem kleinen Dorf in Süddeutschland, geboren – und er war Jude. 1884 wanderte er mit 17 Jahren in die USA aus, wo er 26 Jahre später die Universal Studios gründete, die Blaupause für die moderne Filmindustrie. Das Haus der Geschichte in Stuttgart zeigt eine neue Ausstellung über Carl Laemmles Leben. Zusätzlich veröffentlicht das Museum einen Ausstellungskatalog als Bildband. Wie die Ausstellung folgt der Katalog Carl Laemmles Herkunft, seinen frühen Jahren in den USA und seinen Anfängen in der entstehenden Filmindustrie mit seinem größten Erfolg, dem Antikriegsfilm All Quiet on the Western Front. Weiterhin gibt es Einblicke in Laemmles Status als Global Player, als Patriarch und schließlich als Retter während des Holocaust. Dafür zeigen die Herausgeber dem Leser eine Fülle von Fotografien, Telegrammen sowie Requisiten und Werbeposter. Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother, Annika Schaefer (eds.). Weimarer Kino – neu gesehen. Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek, 252 pp., Ill., 29,00 € [978-3-86505-256-8]. The illustrated volume deals with cinematography of the Weimar Republic, little of which is widely known today, despite the Weimar movie era being famed in cinematic historiography. In thirteen essays the cinema of Weimar between 1918 and 1933, its movies and directors are investigated. For example, the enactment of childhood and youth in the cinema of Weimar, the depiction of workplaces, of orientalism and (post-)colonialism are approached. The appendix includes an index of persons, an index of films, and picture credits. Der illustrierte Band behandelt die filmischen Aspekte des Weimarer Kinos, über die heute nur wenig allgemein gewußt wird, obwohl die Weimarer Filmepoche innerhalb der allgemeinen Filmgeschichte als legendär bekannt ist. In dreizehn Essays wird das Weimarer Kino zwischen 1918 und 1933 und inklusive seine Filme und Filmemacher näher beleuchtet, wobei beispielsweise die Inszenierung von Kindheit und Jugend im Weimarer Kino, die

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Darstellung der Arbeitswelten und die Darstellung von Orientalismus und (Post-)Kolonialismus behandelt werden. Im Anhang finden sich darüber hinaus ein Personenregister, ein Filmregister sowie ein Bildnachweis. Christoph Hesse. Filmexil Sowjetunion. Deutsche Emigranten in der sowjetischen Filmproduktion der 1930er und 1940er Jahre. München: edition text + kritik, 2017, 670 pp., 49,00 € [978-3-86916-552-3]. The book deals with the contribution of German exiles to Soviet, antifascist movie production between the 1930s and the 1940s. Unlike emigrants in London, Paris, or Hollywood, Muscovite exiles were allowed and enabled to participate in the production of anti-fascist movies as early as 1933. »Filmexil Sowjetunion« describes not only the finished movies but also documented projects which remained incomplete. With this material at hand, Christoph Hesse illustrates a comprehensive history of movie-making. The appendix of this book contains a list of the repositories vistited, a list of movies and literature and an index. Das Buch handelt von dem Anteil deutscher Exilanten an der sowjetischen, antifaschistischen Filmproduktion zwischen den 1930er und 1940er Jahren, welche im Gegensatz zu London, Paris oder Hollywood im Moskauer Exil bereits ab 1933 antifaschistische Filme produzieren konnten und auch produzierten. Es werden dabei nicht nur die fertigen Filmproduktionen aufgegriffen, sondern auch dokumentierte Projekte, die nicht verwirklicht werden konnten. Anhand dieser Auswahl stellt Christoph Hesse eine umfassende Filmproduktionsgeschichte dar. Der Anhang des Buches beinhaltet außerdem eine Liste mit den besuchten Archiven, eine Film- und Literaturliste und ein Register. Wiebke Hiemesch. Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück. (Über-)Lebenserinnerungen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung; 50), 2017, 454 pp., 60,00 € [978-3-412-50900-2]. With this book, Wiebke Hiemesch tries to give all those victims of National Socialist persecution a voice, who were not allowed or unable to speak at the time: the children. Using an educational-methodical approach and analysing five memoirs of comtemporary victims, the author successfully adds a further group of victims’ perspective to National Socialist history. The appendix includes a list of references and a bibliography, a list with rules of transcription, a list of tables and a register of illustrations. Wiebke Hiemesch gelingt es mit ihrem Buch, auch denjenigen Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft eine Stimme zu geben, die ihr Leid damals nicht ausdrücken durften oder konnten: den Kindern. Indem sie sich mithilfe eines erziehungswissenschaftlichmethodischen Zugangs mit einer historischen Thematik befasst und hierbei die Lebenserinnerungen fünf zeitgenössischer Opfer verwendet, gelingt es der Autorin, die Untersuchung der nationalsozialistischen Verbrechen um eine weitere Perspektive zu ergänzen und der neuen Opfergruppe eine Stimme zu verleihen. Im Anhang sind ein Quellen- und

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ein Literaturverzeichnis, eine Liste mit Transkriptionsregeln, ein Tabellen- und ein Abbildungsverzeichnis aufgeführt. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (eds.). 1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution. Berlin: Christoph Links, 2018, 312 pp., Ill., 25,00 € [978-386153-990-2]. The book »1918« is about the eponymic year, in which not only the First World War ended, but also the German Empire crumbled. »1918« describes especially the contemporary perceptions of the political and social events, leading from the German defeat in the First World War to the Revolution of 1918. With the aid of diary entries, letters, pictures and other documents contemporary perceptions are illustrated, and an overview on the course and the consequences of 1918 is given. The appendix contains a list with the authors, a list of literature, a map, a picture credits, short biographical remarks on the editors and an index. Das Buch 1918 befasst sich mit den Ereignissen des titelgebenden Jahres, in dem nicht nur der Erste Weltkrieg endete, sondern auch das Deutsche Kaiserreich zugrunde ging. 1918 schildert insbesondere die zeitgenössischen Wahrnehmungen der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse und führt über die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg zur Revolution gegen Ende des Jahres. Mithilfe von Tagebucheinträgen, Briefen, Bildern und anderen Dokumenten sollen diese zeitgenössischen Wahrnehmungen veranschaulicht werden, überblicksartig werden zudem der Verlauf und die Konsequenzen von 1918 dargestellt. Im Anhang befinden sich eine Liste der Autorinnen und der Autoren der Quellentexte, eine Literaturliste, eine Karte, ein Bildnachweis, kurzbiographische Bemerkungen zu den Herausgebern und ein Register. Stefan Karner, Gerhard Botz, Helmut Konrad (eds). Epochenbrüche im 20. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar: Böhlau (Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft; 4), 2017, 280 pp., 35,00 € [978-3-8253-6527]. This volume contains articles by 17 authors on the three epochal transitions of the 20th century, 1918/19, 1945 and 1989–1991. Amongst other things, it discusses how the First World War as a media-historic disruption, examines the National Socialists’ plans for Post-War-Europe and investigates the collapse of the UdSSR. The volume provides an attachment with an index of acronyms, individuals, places and authors. Diese Ausgabe enthält Artikel von 17 Autoren über die Jahre der Epochenbrüche im 20. Jahrhundert, 1918/19, 1945 und 1989–91. Unter anderem wird diskutiert, ob und wie der Erste Weltkrieg als mediengeschichtliche Zäsur gesehen werden kann, was die Pläne der Nazis für ein Nachkriegseuropa waren, und es wird ein Überblick über den Zusammenbruch der UdSSR gegeben. Die Ausgabe enthält einen Anhang mit einem Verzeichnis der Abkürzungen, der Personen, der Orte und der Autoren.

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Gabriele Katz. Stuttgarts starke Frauen. Stuttgart: Konrad Theiss Verlag, 2015, 288 pp., Ill., 24,95 € [978-3-8062-3157-1]. »Stuttgarts starke Frauen« deals with the development of women from 19th century onwards. Its focus is placed on women who challenged ideologies and normative expectations of society, and who self-confidently set their own personal priorities. 22 collected biographies give insight into the life and times of energetic female pioneers, covering diverse areas and facets of contemporary Stuttgart: Examples include war photographer Gerda Taro, entrepreneur’s daughter Helga Breuninger, Queen Olga of Württemberg, poet Isolde Kurz, and resistance member Liselotte Hermann. Simultaneously, the book successfully manages to give a female perspective on municipal history. An index of persons and references to secondary literature are provided. Dieses Buch beschreibt die Entwicklung der Frau vom 19. Jahrhundert bis heute. Es handelt von Frauen, die nicht der Ideologie der Gesellschaft entsprechen und selbstbewusst ihren Interessen folgen. In 22 in diesem Buch zusammengefassten Biografien wird über Leben und Alltag solcher Frauen in Stuttgart berichtet. Sie kommen aus den verschiedensten Bereichen. So werden zum Beispiel die Kriegsfotografin Gerda Taro, Unternehmertochter Helga Breuninger, Königin Olga von Württemberg, die Dichterin Isolde Kurz und die Widerstandskämpferin Liselotte Hermann vorgestellt. Außerdem wird in dem Buch die Stadtgeschichte aus weiblicher Perspektive betrachtet und beschrieben. Ein Personenregister sowie Hinweise zur weiterführenden Sekundärliteratur ergänzen den Band. Fritz Keller. Die Küche im Krieg. Lebensmittelstandards 1933 bis 1945. Wien: new academic press, 2015, 135 pp. [978-3-7003-1924-5]. The author examines the impact of war on the food standards in Nazi Germany. Already 1933, shortly after the NSDAP took over Germany, Hitler made the claim that from that day Germany will be autarkic in terms of food production. This lead to a first decrease in food standards. The book follows chronologically how more and more false replacements were used in food production, as for example, horse blood in sausages or maize flour for grain flour. It then shows how later, in times of war, new artificial products were invented to replace products like butter, eggs or, as a special example, lemonade (its replacement product, Fanta, made from whey and orange waste, is world famous today). Furthermore it gives a look on how after 1940 Vaseline oil became a legal food ingredient and how the people after 1944 were encouraged to use lichen, chestnuts, oaks or clover in their meals to ensure the »Endsieg«. The book provides an index of the literature used, structured in books, journalistic articles and dissertations. Der Autor untersucht den Einfluss des Krieges auf Lebensmittelstandards in Nazideutschland. Bereits 1933, kurz nach der Machtergreifung der NSDAP, formulierte Hitler den Anspruch an Deutschland, von nun an nahrungsmitteltechnisch autark zu sein. Das führte zu einer ersten Verringerung der Lebensmittelstandards. Das Buch verfolgt chronologisch, wie immer mehr verfälschende Ersatzprodukte in der Lebensmittelproduktion benutzt wurden, etwa Pferdeblut in Würsten oder Maismehl für Getreidemehl. Es zeigt dann, wie

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später, nach dem Ausbruch des Krieges, neue, künstliche Produkte erfunden wurden, um Produkte wie Butter, Eier oder als besonderes Beispiel Limonade (Fanta, ihr Ersatzprodukt aus Molke und Orangenabfällen, ist heute weltbekannt) zu ersetzen. Weiter gibt es einen Überblick darüber, wie nach 1940 Vaselinöl eine legale Lebensmittelzutat wurde und wie dem Volk nach 1944 empfohlen wurde, Flechten, Kastanien, Eicheln oder Klee in ihren Mahlzeiten zu benutzen, um den »Endsieg« zu sichern. Das Buch liefert ein Verzeichnis der benutzten Literatur, geordnet in Bücher, Zeitungsartikel und Dissertationen. Claudia Kemper (ed.). Gespannte Verhältnisse. Frieden und Protest in Europa während der 1970er und 1980er Jahre. Essen: Klartext (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedens- und Konfliktforschung, Band 23), 2017, 258 pp., 29,95 € [978-3-8375-1696-8]. This anthology deals with peace- and protest-movements in Europe during the 1970s and the 1980s. The book seeks to clarify especially the differences in the objectives of peace- and protestmovements in the light of the Cold War. Furthermore it examines if there were cooperations and networking transgressing the national boundaries of Europe. The contributions thematize protest-movements for human rights and universal peace mainly for the East European countries, anti-armament protests and female-influenced peace-movements for Middle- and West Europe, and movements for pacifism and against any use of atomic power. The appendix includes short biographies of the authors, an index of abbreviations and a publication list of the Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. Der Sammelband handelt von Friedens- und Protestaktionen in Europa während der 1970er und 1980er Jahre. Verdeutlicht werden sollen in diesem Buch vor allem Unterschiede in den Zielen der Friedens- und Protestaktionen vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes. Des Weiteren soll untersucht werden, ob die nationalen Grenzen innerhalb Europas durch Kooperation und Vernetzung überwunden werden konnten. Die Beiträge thematisieren hierbei Protestbewegungen für Menschenrechte und allgemeinen Frieden vorwiegend in Bezug auf Osteuropa, Anti-Nachrüstungsproteste und weiblich geprägte Friedensbewegungen für Mittel- und Westeuropa und Bewegungen für Pazifismus und gegen jegliche Nutzung von Atomenergie, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Im Anhang sind Kurzbiographien der Beitragenden, ein Abkürzungsverzeichnis und eine Liste der Veröffentlichungen des Arbeitskreises Historische Friedens- und Konfliktforschung aufgeführt. Frank Krause. Geruchslandschaften mit Kriegsleichen. Deutsche, englische und französische Prosa zum Ersten Weltkrieg. Göttingen: V&R unipress, 2017, 164 pp., 30,00 € [978-3847-106128]. What do the writings about the war tells us about the time they were published and about their author? Frank Krause tries to answer this question by examining prose about the First World War, specifically investigating how it deals with the smell of corpses. He discusses if the smell is described at all, if it was deemphasised, pragmatically objectified or stylistically enhanced. To do so he uses different works from German, French and English authors like

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Walter Flex, Ernest Raymond, Berthold Brecht, René Benjamin, Jean Paulhan, Arnold Zweig, Arthur Donald Grisworld, Ernst Jünger or Roland Dorgelès. The book features an index of sources, literature and individuals. Was sagt Geschriebenes über den Krieg uns über die Zeit, in der es veröffentlicht wurde? Was sagt es über die Autoren aus? Frank Krause versucht diese Frage zu beantworten, indem er Prosa über den Ersten Weltkrieg dahingehend untersucht, wie in ihr Leichengeruch dargestellt wird. Er untersucht, ob der Geruch überhaupt thematisiert wird, ob er heruntergespielt, pragmatisch versachlicht oder stilistisch überhöht wird. Dazu benutzt er viele verschiede Werke deutscher, französischer und englischer Autoren, darunter Walter Flex, Ernest Raymond, Berthold Brecht, René Benjamin, Jean Paulhan, Arnold Zweig, Arthur Donald Grisworld, Ernst Jünger oder Ronald Dorgelès. Das Buch enthält Register der Quellen, Literatur und Personen. Dieter Krüger. Hans Speidel und Ernst Jünger. Freundschaft und Geschichtspolitik im Zeichen der Weltkriege. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016, 377 pp., 39,90 € [9783-506-78567-1]. The author examines the friendship between Ernst Jünger and the German general Hans Speidel, who both served in both World Wars and later influenced post-war German elites. The book follows their lives from the First World War through their careers in Nazi Germany, their roles in the resistance against the NSDAP, their ways of dealing with the past after the end of the war, and their rise in German establishment in the 1950s to their late works in the early 1980th. The book finishes with an index of acronyms, sources, literature and an index of individuals. Der Autor gibt einen Überblick über die Freundschaft zwischen Ernst Jünger und General Hans Speidel, welche beide in beiden Weltkriegen dienten und später die deutschen Eliten beeinflussten. Das Buch folgt ihren Leben vom Ersten Weltkrieg, über ihre Karrieren im nationalsozialistischen Deutschland, ihre Rolle im Widerstand gegen die NSDAP, ihren Umgang mit der Vergangenheit nach dem Ende des Krieges, ihr Aufstieg im deutschen Establishment der 1950er Jahre bis hin ihrem Alterswerk in den 1980er Jahren. Das Buch endet mit einem Verzeichnis der Abkürzungen, der Quellen, der Literatur und einem Personenregister. Dirk van Laak, Dirk Rose (eds). Schreibtischtäter. Begriff – Geschichte – Typologie. Göttingen: Wallstein, 2018, 315 pp., Ill., 24,90 € [978-3-8353-3213-3]. The term »Schreibtischtäter«, or desk culprit, is used to describe agents who commit or orchestrate criminal acts from within their own offices, figuratively pulling the levers behind the scenes. The label is specifically associated with the crimes of Adolf Eichmann, while the corresponding bureaucratic system of work division and delegation of responsibilities was characteristic especially for the Third Reich. In this anthology several authors make an attempt to analyse desk culprits as a phenomenon of Modernity. To begin with, several manifestations of

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desk culprits are identified, and connections between mechanisms of bureaucracy and respective criminal acts are pointed to. Towards the end, several examples of desk culprits are being investigated, before the anthology summarises the numerous and diverse contexts in which desk culprits operate. Der Begriff des »Schreibtischtäters« gewann besonders im Zusammenhang mit den Verbrechen Adolf Eichmanns an Popularität. Dabei handelt es sich um Personen, welche von ihrem Büro aus Straftaten anordnen und somit im Hintergrund agieren. Diese Form der Bürokratie, welche im Dritten Reich häufig angewendet wurde, ist gekennzeichnet durch Arbeitsteilung und Abgabe von Verantwortung. In diesem Sammelband analysieren die Autoren den Schreibtischtäter erstmals als ein Phänomen der Moderne. Zunächst werden verschiedene Erscheinungsformen des Schreibtischtäters dargestellt, um im Anschluss Zusammenhänge zwischen den Techniken der Bürokratie und den Schreibtischtaten erkennbar zu machen. Zum Schluss werden exemplarisch einige Schreibtischtäter identifiziert und ein Fazit formuliert, welches die verschiedenen Kontexte, in denen der Schreibtischtäter zu berücksichtigen ist, zusammenfasst. Stephan Lehnstaedt. Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt. München: C. H. Beck, 2017, 207 pp., 14,95 € [978-3-406-70702-5]. From March 15, 1942 to November 1943 about two about two million people were murdered in the Nazi death camps Bełżec, Sobibór and Treblinka, in an event called »Aktion Reinhardt«. This author first describes the Holocaust between 1939 and 1942 and then elaborates on the »Aktion Reinhardt«, including the dissolution of the Polish ghettos, the following deportation into death camps and the mass murder by gas. The last chapters deal with the expropriation and economic exploitation of the Jews murdered during »Aktion Reinhardt«, the damnation of perpetrators after the end of the Second World War, and the commemoration of victims. The appendix contains acknowledgements, a list of annotations, a bibliography, picture credits and an index of persons listed. Vom 15. März 1942 bis November 1943 wurden ca. zwei Millionen Menschen in einem als »Aktion Reinhardt« betitelten Ereignis in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern Belzec, Sobibór und Treblinka ermordet. Der Autor beschreibt zuerst die Judenvernichtung zwischen 1939 und 1942, um dann stärker die »Aktion Reinhardt« zu fokussieren, welche die Auflösung der polnischen Ghettos, die darauffolgenden Deportationen in Vernichtungslager und den Massenmord durch Gas beinhaltete. Die letzten inhaltlichen Abschnitte des Buches beschäftigen sich mit der Plünderung und der wirtschaftlichen Ausbeutung der während der »Aktion Reinhardt« ermordeten Juden, der Verurteilung der Täter nach Ende des Krieges und dem Gedenken an die Opfer. Der Anhang des Buches umfasst die Danksagung, einen Anmerkungsapparat, ein Literaturverzeichnis, einen Bildnachweis und ein Personenregister.

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Ruth Leiserowitz. Heldenhafte Zeiten. Die polnischen Erinnerungen an die Revolutionsund Napoleonischen Kriege. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2017, 237 pp., 39,90 € [978-3-506-78605-0]. The author of this book examines Polish narratives from the times of the Revolutionary- and the Napoleonic Wars in the 19th and 20th century in order to understand how specific aspects are remembered and to understand if and how these narratives still influence present Polish society. She gives a short introduction into the topic, before analysing different novels, poems and other narratives from that time, such as »Pan Tadeusz«, »Maria Walewska«, and »Tadeusz Kosciuszko in the Longue Dureé«. The appendix contains an index of images, novels, memories, notes, sources, literature and names. Die Autorin untersucht polnische Narrative aus den Zeiten der revolutions- und Napoleonischen Kriege, um zu verstehen, wie sich an bestimmte Dinge erinnert wird, und um nachzuzeichnen, ob und wie diese Narrative die polnische Gegenwartsgesellschaft beeinflussen. Sie gibt eine kurze Einführung in das Thema, bevor sie verschiedene Romane, Gedichte und Erzählungen aus der Zeit analysiert, darunter Pan Tadeusz, Maria Walewska und Tadeusz Kosciuszko in der Longue Dureé. Der Anhang beinhaltet ein Verzeichnis der Bilder, Romane, Erinnerungen, Anmerkungen, Quellen, Literatur und Namen. Orsolya Lénárt. Der Ungarische Kriegs-Roman. Medien, Wissen und Fremdwahrnehmung bei Eberhard Werner Happel. Wien: new academic press, 2016, 270 pp., 32,00 € [978-37003-1986-3]. The German writer Eberhard Werner Happel lived in Hamburg at the end of the 17th century. He wrote a 4.000-page book on the Hungarian Kingdom in times of the war against the Ottoman Empire. For his work he used journalistic articles and contemporary descriptions, so that from today’s point of view his book can be thought of as an inventory of nearly every image of Hungary back then. Orsolya Lénárt now reprocessed his works, investigating the image of Hungary in the early Modern Age. To do so, she starts first describes the historical context and then provides a look on Happel’s life; she goes on with the portrayal of Hungary in Happel’s works, before she finishes with a conclusion. In the end she provides an attachment with additional images and tables, as well as an index of literature and other source materials. Der deutsche Schriftsteller Eberhard Werner Happel lebte gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Hamburg. Er schrieb ein ca. 4.000-seitiges Buch über das Königreich Ungarn in Zeiten des Krieges gegen das Osmanische Reich. Für seine Arbeit nutzte er Zeitungsartikel und zeitgenössische Darstellungen, sodass sein Buch aus heutiger Perspektive als Inventar fast aller damaligen Darstellungen Ungarns gelten kann. Orsolya Lénárt arbeitete sein Werk auf, um damit das Ungarnbild der frühen Neuzeit einzufangen. Dazu beginnt sie mit einer Einführung in den historischen Rahmen und gibt einen Überblick über Happels Leben; danach befasst sie sich mit der Darstellung Ungarns in Happels Werk, bevor sie

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mit einer Schlussfolgerung endet. Abschließend stellt sie einen Anhang mit zusätzlichen Bilder und Tabellen, sowie ein Verzeichnis der Literatur und anderen Quellenmaterials zur Verfügung. Bernhard Lübbers, Isabella von Treskow (eds.). Theater und Musik im Kriegsgefangenenlager Regensburg. Die Affäre Rue de Lourcine von Eugène Labiche und ausgewählte Musikstücke. Regensburg: Staatliche Bibliothek Regensburg (Kleine Schriften der Staatlichen Bibliothek Regensburg; 6), 2016, 50 pp., Ill. During the period of the First World War the city of Regensburg was host to a small camp for prisoners of war. To fight the so called »Cafard«, a form of prisoner-melancholia, the mostly French-speaking prisoners organized concerts and stage plays of older productions of the Vaudeville genre. One of the plays featured in this edition is L’affaire de la rue de Lourcine by Eugène Labiche, performed in the camp in January 1916. The play let the French prisoners escape their physical confinement at least for a moment and remember their civic life. The concerts not only included French but also German compositions, for example Mozart’s »Jupiter«-Symphony. The appendix includes the program for a modern performance of these plays and songs and an index of further reading. Während des Ersten Weltkrieges beherbergte die Stadt Regensburg ein Kriegsgefangenenlager. Um den sogenannten »Cafard«, eine Form der Gefangenenmelancholie, zu bekämpfen, organisierten die zumeist französischsprechenden Gefangenen Konzerte und Theateraufführungen von zumeist älteren Stücken des Vaudeville Genres. Eines der Theaterstücke, die in diesem Werk vorgestellt werden, ist L’affaire de la rue de Lourcine von Eugène Labiche, das im Januar 1916 im Gefangenenlager aufgeführt wurde. Das Stück erlaubte es den französischen Gefangenen zumindest kurzzeitig, der physischen Einsperrung zu entkommen und sich an das bürgerliche Leben zu erinnern. Die Konzerte beinhalteten aber auch deutsche Kompositionen, wie zum Beispiel Mozarts »Jupiter«-Symphonie. Der Anhang beinhaltet das Programm einer modernen Aufführung der beschriebenen Theaterstücke und Lieder sowie einen Index weiterführender Literatur. Walter Lukan. Die Habsburgermonarchie und die Slowenen im Ersten Weltkrieg. Aus dem »schwarzgelben Völkerkäfig« in die »goldene Freiheit«? Wien: new academic press (Austriaca, Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), 2017, 260 pp., 29,90 € [978-3-7003-2052-4]. Walter Lukan’s book deals with the role of the Slovenes during the First World War. The author focalizes their role as a potentially independent nation within the Habsburg Monarchy. He discusses the crisis of the Habsburg Monarchy, the nature of Slovenian interests and their national challenges. In addition, the author then addresses the question if separatist ambitions within the Slovenian elite were in line with the interests of the Slovenian people, and he elaborates on how the crisis-torn Habsburg Monarchy reacted to these ambitions. The appendix contains

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a list of references and a list of literature, a register of illustrations, an index of abbreviations and an index of persons listed. Walter Lukans Buch handelt von der Rolle der Slowenen während des Ersten Weltkrieges. Der Autor richtet den Fokus hierbei vor allem auf die Rolle der Slowenen als potentiell eigenständige Nation in der Habsburgermonarchie und stellt dabei Fragen, die sich auf die Krise der Habsburgermonarchie, die Interessenausrichtung der Slowenen und deren nationale Problematik beziehen. Hierbei soll auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die Abwendungsbestrebungen der slowenischen Elite mit den Intentionen der einfachen Bevölkerungen deckten und wie die krisenerschütterte Habsburgermonarchie auf die Abwendungsbestrebungen reagierte. Im Anhang finden sich außerdem ein Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Abbildungsverzeichnis, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Personenregister. Hans Machemer, Christian Hardinghaus (eds.). Wofür es lohnte, das Leben zu wagen. Briefe, Fotos und Dokumente eines Truppenarztes von der Ostfront 1941/42. Berlin, München, Zürich, Wien: Europa, 2018, 461 pp., Ill., 29,90 € [978-3-95890-120-9]. This book deals with the memories of the German Wehrmachts-doctor Helmut Machemer, reflecting his experiences at the eastern front 1941/1942. Helmut Machemer was forced to volunteer for frontline duty in order to protect his family, which had been classified as »Mischlinge« (»mixed-bloods«) by the National Socialists. This book deals not only with military historical experiences at the eastern front in 1941/1942, but also with the perception of both German and Russian soldiers’ suffering. Through its documentation illustrated with the aid of letters, photos and footage, the editors underline the futility of war in general, and the sacrificial butchering orchestrated by a criminal regime during the Second World War in particular. The appendix offers an epilogue of Hans Machemer and an index. Das Buch handelt von den Erinnerungen des deutschen Wehrmachtsarztes Helmut Machemer an die Erlebnisse an der Ostfront 1941/1942. Helmut Machemer musste sich freiwillig zum Fronteinsatz melden, um seine als »Mischlinge« eingestufte Familie zu beschützen. Dieses Buch handelt nicht nur von den militärhistorischen Ereignissen an der Ostfront 1941/1942, sondern beschreibt auch die Wahrnehmung des Leidens sowohl deutscher als auch russischer Soldaten. Durch die Dokumentation dieses Leidens, welches durch Briefe, Fotos und Filmmaterial untermalt wird, gelingt es den Herausgebern, die Sinnlosigkeit eines jeden Krieges allgemein und die Opferung durch eine verbrecherische Führung im Zweiten Weltkrieg im Speziellen deutlich herauszusellen. Im Anhang des Buches sind des Weiteren ein Nachwort von Hans Machemer und ein Register enthalten. Helmut Mejcher. Der Nahe Osten im Zweiten Weltkrieg. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2017, 381 pp., 49,90 € [978-3-506-78645-6]. The time of war between 1939 and 1945 is still influencing the Middle East today. After closure the prohibition of merchant shipping in of the Mediterranean Sea, the whole region was iso-

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lated and could not participate in world trade. It was forced to become economically autarkic under direction of the Anglo-Americans who had a strong interest in the region because of its oil. The author recapitulates this time with the war in Northern Africa, the war economy in the western Orient, the growing American trade interests, the impact of war on the different countries in the region and eventually the founding of the Arab League. In the end the book features additional notes and an attachment with an index of tables, sources, documents, literature and acronyms, as well as an index of individual people. Die Zeit des Krieges zwischen 1939 und 1945 beeinflusst den Nahen Osten bis heute. Nach der Schließung des Mittelmeers für die zivile Schifffahrt war die gesamte Region eingeschlossen und konnte nicht mehr am Welthandel teilnehmen. Sie wurde unter angloamerikanischer Regie gezwungen, sich selbst zu versorgen. Diese hatte aufgrund des dort vorhandenen Öls ein starkes Interesse an der Region. Der Autor fasst diese Zeit mit dem Krieg in Nordafrika, der Kriegswirtschaft im vorderen Orient, den stärker werdenden Handelsinteressen Amerikas, der Wirkung des Krieges auf die verschiedenen Länder der Region und schließlich mit der Gründung der Arabischen Liga zusammen. Am Ende enthält das Buch zusätzliche Anmerkungen und einen Anhang mit einem Verzeichnis der Tabellen, Quellen, Dokumente, Literatur und Abkürzungen, sowie ein Personenregister. Kai Nowak. Projektionen der Moral. Filmskandale in der Weimarer Republik. Göttingen: Wallstein (Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert; 5), 2015, 528 pp., 44,00 € [978-3-8353-1703-1]. In its early days, the movie as a medium was scandalous itself. Later, only individual movies would obtain that status. The historian Kai Nowak examines in this volume how scandalous movies in the times of the Weimar Republic can be seen as moral projections. He analyzes different potentially scandalous topics like crime, violence and death, sexuality and gender, the First World War and politics. He provides insight into the perception of the early movies on these topics. Individual movies under investigation include »All Quiet on the Western Front« by Lewis Milestone, »Afrika speaks!« by Walter Fuller, or »Battleship Potemkin« by Sergei M. Eisenstein. The volume concludes with an index of the source material used. In seinen Anfängen war der Film selbst ein Skandal, später bekamen einzelne Filme diesen Status. Der Historiker Kai Nowak untersucht in dieser Ausgabe, wie diese Skandalfilme in der Zeit der Weimarer Republik als moralische Projektionen gesehen werden können. Dazu analysiert er verschiedene potentiell skandalöse Themen wie Verbrechen, Gewalt und Tod, Sexualität und Geschlechterordung, den Ersten Weltkrieg und Politik. Er gibt einen Überblick über die Wahrnehmung von Filmen über diese Themen und wie über sie diskutiert wurde. Filme, die behandelt werden, sind zum Beispiel: Im Westen nichts Neues von Lewis Milestone, Afrika spricht! von Walter Fuller oder Panzerkreuzer Potemkin von Sergei M. Eisenstein. Die Ausgabe endet mit einem Verzeichnis des benutzten Quellenmaterials.

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Oberbürgermeister der Stadt Osnabrück, Präsident der Universität Osnabrück (eds.). Krisen Europas – Ukraine, Naher Osten, Migration. Göttingen: V&R unipress (Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft; 23), 2016, 219 pp., 23,00 € [978-3-8471-0645-6]. The book is made up of three subject areas: Reports on the »Osnabrücker Friedensgespräche« 2015, an article on the »musica per pace« concert 2015 for the Osnabrück Peace Day, and articles on the cultural-historical discipline of peace studies. For the »Osnabrücker Friedensgespräche«, persons like Vitali Klitschko, Hans-Gert Pöttering and Reinhard Lauterbach discuss the precarious situation in the Ukraine, while Avi Primor, Abdallah Frangi and Muriel Asseburg talk about the hardened fronts between Israel and Palestine. Other topics include the relationship between Germany and Russia and the hardships refugees worldwide have to endure at the moment. The article on the concert deals with both Richard Strauss’ »Alpensinfonie« and Rudi Stephan’s »Musik für Orchester«, analysing their relation to the First World War. The articles on peace studies are about geo-politics, the difficult home-coming of Aramaic Christians in Turkey and the regulation of refugee-immigration. In the appendix a list authors and speakers and a register of images can be found. Das Buch beinhaltet drei Themenkomplexe: Berichte über die Osnabrücker Friedensgespräche 2015, einen Beitrag über das Konzert zum Osnabrücker Friedenstag »musica pro pace« 2015 sowie kulturhistorische Beiträge zur Friedensforschung. Bezüglich der Osnabrücker Friedensgespräche wird unter anderem mit Vitali Klitschko, Hans-Gert Pöttering und Reinhard Lauterbach über die brenzlige Situation in der Ukraine diskutiert. Außerdem geht es mit Avi Primor, Abdallah Frangi und Muriel Asseburg um die verhärteten Fronten zwischen Israel und Palästina. Auch das deutsch-russische Verhältnis und das weltweite Flüchtlingselend werden thematisiert. Im Bericht über das Konzert »musica pro pace« geht es um die Alpensinfonie von Richard Strauss und die Musik für Orchester von Rudi Stephan in ihren Bezügen zum Ersten Weltkrieg. Bei den Beiträgen zur Friedensforschung geht es um Geopolitik, die schwierige Heimkehr aramäischer Christen in der Türkei und die Steuerung der Flüchtlingseinwanderung. Im Anhang befindet sich eine Liste der Autoren und Referenten sowie ein Abbildungsnachweis. Oberbürgermeister der Stadt Osnabrück, Präsident der Universität Osnabrück (eds.). Westfälischer Friede. Modell für den mittleren Osten? Göttingen: V&R unipress (Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft; 24), 2017, 221 pp., 23,00 € [978-3-84710773-6]. The anthology/yearbook is structured in three parts. First the transcripts from all five »Osnabrücker Friedensgespräche« in 2016, with topics ranging from experience of war and conflict in the Middle East to Europe’s future place in the world. Among the guests were Güther Verheugen (former EU commissioner) and Frank-Walter Steinmeier (former Federal Foreign Minister and now President of the Federal Republic of Germany). The second part contains a musicological study, whilst the third one is made up of five cultural-historical essays from the academic field of peace studies. This edition’s main emphasis is put on a »Friedensgespräch«

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from July 2016 where Steinmeier suggested using the Westphalian Peace Congress as an inspiration for peace-making efforts in the Middle East especially, and in Syria. This was based on the observation that the conflict shows significant similarities to the religious, territorial and constitutional disputes characteristic for the Thirty Years War and which in part were solved by the Westphalian Peace Congress. The appendix features a list of all contributors and a short abstract on their academic career. Der vorliegende Sammelband enthält in drei Abschnitten zuerst die Protokolle der insgesamt fünf Osnabrücker Friedensgespräche aus dem Jahr 2016, die sich allgemein mit den Themenkomplexen Kriegserlebnisse, Konflikte im Mittleren Osten sowie Europa befassen. Unter anderem waren dazu Günther Verheugen (ehem. EU-Kommissar) und Frank-Walter Steinmeier (ehem. Bundesaußenminister, derzeit Deutscher Bundespräsident) zu Gast. Der kurze zweite Teil beinhaltet eine musikwissenschaftliche Arbeit, und im dritten Teil sind fünf wissenschaftliche Aufsätze zur Friedensforschung enthalten. Der Themenschwerpunkt des Bandes basiert auf einem Osnabrücker Friedensgespräch mit dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier aus dem Juli 2016. Dort schlug dieser vor, den Westfälischen Friedenskongress als Anregung für Friedensbemühungen im Mittleren Osten, besonders in Syrien, zu nutzen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass der komplexe und multidimensionale Konflikt in Syrien und im Mittleren Osten erhebliche Parallelen zu den religiösen, territorialen und verfassungspolitischen Konflikten des Dreißigjährigen Krieges aufweist, für die im Westfälischen Frieden in Teilen Lösungen gefunden werden könnten. Im Anhang befindet sich ein Überblick über alle Personen, die mit einem Vortrag oder einem Aufsatz vertreten sind. Jürgen Oellers (ed.). Friedrichshafener Jahrbuch für Geschichte und Kultur. Heidelberg: Aichhalden: Klaus Kramer Verlag (Friedrichshafener Jahrbuch für Geschichte und Kultur; 7), 2016, 274 pp., 24,90 € [978-3-8253-6527]. This volume is dedicated to the exhibition »Die Stille des Krieges«, an exhibition that deals with the epochal caesura that the First World War was to history. It contains illustrated material, writings and documents on amongst others: The Western Front at the Somme and in Elsass-Lothringen, the Austro-German fleet on the Bodensee, the impacts of the war on Friedrichshafen, the »­ Tiepval Wood« paintings and extensive additional information on the concept of the »region« in times of war. It features an index of individuals, places and image sources at the end. Diese Ausgabe ist der Ausstellung Die Stille des Krieges gewidmet, die sich mit dem Epochenbruch beschäftigt, der der Erste Weltkrieg für die Geschichte war. Sie beinhaltet Bildmaterial, Schriften und Dokumente über unter anderem: Die Westfront an der Somme und in ElsassLothringen, die deutsch-österreichische Flotte auf dem Bodensee, den Einfluss des Krieges auf Friedrichshafen, die »Tiepval Wood«-Gemälde und diverse zusätzliche Informationen über das Konzept von »Region« in Kriegszeiten. Am Ende beinhaltet sie ein Register der Personen, Orte und Bildquellen.

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Tanja Penter, Esther Meier (eds.). Sovietnam. Die UdSSR in Afghanistan 1979–1989. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2017, 371 pp., 59,00 € [978-3-506-77885-7]. The Soviet War in Afghanistan was to the UdSSR what the Vietnam War was to the USA. It lasted for ten years, it was a material intensive conflict that resulted in a massive number of civilian casualties, it demoralized soldiers as well as the population, it was lost by the Soviets and eventually played its part in the collapse of the UdSSR. The authors examine different aspects of the image of the war. Amongst other things they ask: How is the war remembered by veterans? How is it remembered by the present Russian population? What is the image of the war for the Putin government? Was the uprising of the Mudschahedin a counter-revolution or a people’s war? As a conclusion they summarize what lessons can be learned from the war. The book finishes with an index of literature used and an index of writers. Der Sowjetische Krieg in Afghanistan war für die UdSSR, was der Vietnamkrieg für die USA war. Er dauerte zehn Jahre, war ein materiell aufwendiger Konflikt, der zu hohen Zahlen ziviler Opfer führte, er demoralisierte sowohl die Bevölkerung, als auch Soldaten, er wurde von den Sowjets verloren und trug schließlich seinen Teil zum Zerfall der UdSSR bei. Die Autorinnen und Autoren untersuchen verschiedene Aspekte des Bilds des Krieges. Unter anderem fragen sie: Wie ist die Erinnerung des Krieges bei den Veteranen? Wie bei der russischen Bevölkerung der Gegenwart? Was ist die Darstellung des Krieges in der Putinregierung? War der Aufstand der Mudschahedin eine Konterrevolution oder ein Volkskrieg? Zusammenfassend geben sie Einsicht in Lehren, die aus dem Krieg gezogen werden können. Das Buch endet mit einem Verzeichnis der genutzten Literatur und einem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. Hermann Pölking. Wer war Hitler. Ansichten und Berichte von Zeitgenossen. Berlin: be.bra verlag, 2017, 783 pp., 36,00 € [978-3-89809-133-6]. Hermann Pölking’s book is not written as a biography, nor written by a single person, but instead provides a collage of the opinions of diverse contemporaries. It includes accounts by representatives of National Socialism, but also of enemies and victims. Regardless of their social, political and religious views, the contemporaries’ views and opinions are given, commenting on the life of a dictator who wrote the most disturbing chapter in German history. The book is divided up into chronological sections of Adolf Hitler’s life, while also reflecting one specific role or life stage in each chapter. For example, his participation in the First World War is entitled »Ein Gefreiter« (»The Private«). The appendix includes a list of annotations, a literature list, an index of persons and picture credits. Hermann Pölkings Wer war Hitler stellt keine gewöhnliche, von einer einzelnen Person geschriebene Biographie dar, sondern ein Konglomerat der Ansichten unterschiedlichster Zeitgenossen. Nicht nur die Vertreter des Nationalsozialismus, sondern auch die Gegner und Opfer kommen zu Wort. Unabhängig von sozialen, politischen und religiösen Ansichten äußern sich Zeitgenossen zum Leben des Diktators, welcher das wohl verstörendste Kapi-

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tel der deutschen Geschichte schrieb. Gegliedert ist diese Biographie nicht nur nach den zeitlichen Lebensabschnitten Adolf Hitlers, sondern vor allem nach den unterschiedlichen Rollen, welche dieser Mann im jeweiligen Abschnitt eingenommen hatte, sodass beispielsweise das Kapitel zu Hitlers Teilnahme am Ersten Weltkrieg mit »Ein Gefreiter« betitelt ist. Im Anhang des Buches sind ein Anmerkungsapparat, ein Literaturverzeichnis, ein Personenregister und ein Bildnachweis aufgeführt. Grzegorz Rossoliński-Liebe (ed.). Der polnisch-ukrainische Konflikt im Historikerdiskurs. Perspektiven, Interpretationen und Aufarbeitung. Wien: new academic press, 2017, 169 pp., 24,90 € [978-3-7003-1988-7]. The book at hand analyses the discourse between Polish and Ukrainian historians about ethnic conflicts between the two countries from 1943 to 1947, that resulted in atrocities on both sides. First the author explores the conflicts’ historical reprocessing in times of Soviet oppression which was heavily obstructed by Soviet propaganda. Due to state-censorship no scientific research independent historians was possible. After the old system fell in 1989/90, state-censorship was abandoned but historians maintained their previous Marxist axioms or turned towards a new nationalism which similarly prevented a nuanced analysis. Therefore, academic literature on the topic is today characterized by nationalist and revisionist resentments. In order to reexamine public discourse the author identifies different tendencies amongst Polish and Ukrainian scholars, pointing out their perspectives and motivations as well as the relationships between those groups. The author shows how historians construct history as a consequence of their own past and bias in order to portray actions by Ukrainian or Polish militias as evil or justified, heroic or hostile. The appendix features a detailed index and list of names. Die vorliegende Monographie analysiert den Diskurs polnischer und ukrainischer Historiker, die sich mit den ethnischen Konflikten und Säuberungen zwischen beiden Ländern von 1943 bis 1947 befassen. Zunächst thematisiert der Autor die historische Aufarbeitung des Konfliktes bis zum Ende der Sowjetunion, die durch öffentliche Propaganda erschwert wurde. Außerdem fand durch staatliche Zensur keine neutrale Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Nach dem Umbruch der Jahre 1989/90 konnten Historiker zwar frei von Zensur arbeiten, waren aber entweder weiter marxistisch-leninistisch beeinflusst oder wandten sich nationalistischen Tendenzen zu, sodass eine differenzierte Bearbeitung des Themas ausblieb. Stattdessen ist die Forschung weiterhin von nationalistischen und revisionistischen Ressentiments geprägt. Um den Diskurs aufzuarbeiten, ordnet der Autor die polnischen und ukrainischen Historiker in verschiedene Lager ein und untersucht deren Motive und Perspektiven sowie ihr Verhältnis zu- und untereinander. So liefert der Autor Erkenntnisse darüber, wie Geschichte von Historikern aufgrund ihrer eigenen Herkunft, Vergangenheit und Prägung interpretiert wird, um Schuld oder Unschuld, Heldentum oder Feindschaft von ukrainischen oder polnischen Kämpfern zu erzählen. Im Anhang befinden sich ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Namensregister.

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Rainer Rother, Vera Thomas (eds.). Linientreu und populär. Das UFA-Imperium 19331945. Berlin: Bertz + Fischer, 2017, 220 pp., Ill., 17,90 € [978-3-86505-255-1]. This book deals with the part of the UFA in National Socialism, for example regarding the city Babelsberg and forced workers at the UFA. The book provides not only a historical abstract on the development of the UFA, but the contributors also illustrate cultural- and movie-scientific aspects, for example the enactment of work in the National Socialist feature film, the relationship between the film company and the German movie going public during the Third Reich and how the UFA was realigned after the end of the Second World War. In the appendix picture credits and an index are provided. Das Buch beschäftigt sich mit der Rolle des Filmunternehmens UFA in der Zeit des Nationalsozialismus, beispielsweise hinsichtlich der Filmstadt Babelsberg und den in den Studios beschäftigten Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern. Mit diesem Buch wird nicht nur ein geschichtlicher Abriss über die Entwicklung der UFA gegeben, sondern die Beitragenden beleuchten auch kultur- und filmwissenschaftliche Aspekte, wie die Inszenierung von Arbeit im nationalsozialistischen Spielfilm, die Beziehung zwischen der Filmgesellschaft und dem deutschen Kinopublikum zur Zeit des Dritten Reiches und wie sich die UFA nach Ende des Zweiten Weltkrieges neu ausgerichtet hat. Im Anhang sind Bildnachweise und ein Index aufgeführt. Ingo Runde (ed.). Die Universität Heidelberg und ihre Professoren während des Ersten Weltkriegs. Beiträge zur Tagung im Universitätsarchiv Heidelberg am 6. und 7. November 2014. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2017, 380 pp., 29,00 € [978-3-8253-6695-7]. The book deals with University of Heidelberg and its professors during the First World War. However, it describes not only university and professors by themselves, but also the journalistic work of these professors at this time and their attitude towards the First World War. Several chapters approach the professors at that time and attempt to fathom their personal opinion on the First World War, the potential change of these attitudes and the relationships between the Heidelberger professors. The appendix includes biograms of the professors approached in the book and an index of the authors of this book listed. Das Buch handelt von der Universität Heidelberg und ihren Professoren zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Es beschreibt nicht nur die Universität und ihre Professoren an sich, sondern auch das publizistische Wirken dieser Professoren in dieser Zeit und ihre Haltung zum Ersten Weltkrieg. Hierbei gehen mehrere der Abhandlungen auf damalige Heidelberger Professoren ein und versuchen, deren persönliche Haltung zum Ersten Weltkrieg, wie sich diese Haltungen gewandelt haben könnten und die Beziehungen zu ihren Heidelberger Kollegen zu ergründen. Im Anhang sind außerdem Biogramme zu den im Buch behandelten Professoren und ein Verzeichnis der Beiträger aufgeführt.

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Kristine von Soden. »Und draußen weht ein fremder Wind…«. Über die Meere ins Exil. Berlin: AvivA, 2016, 239 pp., Ill., 19,90 € [978-3-932338-85-4]. The book deals with the persecution of Jewish emigrants by the National Socialists between 1933 and 1941. It describes not only the mindset of the exiles, illustrated with the aid of diary entries, letters and poems, but also the formal aspects of escape and expulsion, for example the acquisition of passports, travel documents and visas until 1941 – the year of the ban on leaving the country. The appendix of the book contains a list of literature, picture credits and textual evidence, an acknowledgement, a short remark about the author and an imprint. Das Buch handelt von der nationalsozialistischen Verfolgung jüdischer EmigrantInnen zwischen 1933 und 1941. Es beschreibt nicht nur die Wahrnehmung der Exilierten, welche mithilfe von Tagebucheinträgen, Briefen und Gedichten veranschaulicht werden soll, sondern auch die formalen Aspekte von Flucht und Vertreibung, wie beispielsweise die Beschaffung von Pässen, Reisepapieren und Visa bis 1941, dem Jahr, in dem die Ausreise verboten wurde. Der Anhang des Buches enthält ein Literaturverzeichnis, einen Bild- und Textnachweis, eine Danksagung, eine kurze Bemerkung zur Autorin und ein Impressum. Bernd Stöver. Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1999. München: C.H. Beck, 2017, 528 pp., Ill., 16,95 € [978-3-406-70611-0]. The Cold War lasted for half a century. Until today, its consequences can be witnessed throughout the globe, as the decade-long fear of nuclear strikes has left its mark on contemporary society and politics. Millions died in the wars outside of Western Europe, and conflict between West and East seemed unresolvable. Bernd Stöver provides an overview on different dimensions of the Cold War. First, the preceding historic framework and triggers of strife are commented on, before key developments and strategies are investigated. Stöver illustrates how the Cold War was not only a war of intelligence services, but spread into a lasting conflict of whole societies, simultaneously mirrored in numerous areas of culture. Eventually however, following the shock of the Cuba Crisis, a period marked by policies of détente followed, ultimately leading to de-escalation and minimisation of conflict potential. In a conclusion, Stöver investigates the topic of disarmament and identifies long-term consequences of the Cold War which can still be felt today. Der Kalte Krieg zog sich über ein halbes Jahrhundert, und mittlerweile ist sichtbar geworden, welche weltweiten Folgen er mit sich brachte. Jahrzehntelang verbreitete sich die Angst vor möglichen Atomangriffen in Politik und Gesellschaft. Viele Millionen Menschen kamen in den Kriegen außerhalb Westeuropas zu Tode, und der Konflikt zwischen Ost und West schien unüberwindbar. Bernd Stöver schafft in diesem Buch einen weiten Überblick, welcher die verschiedenen Dimensionen des Kalten Krieges erfasst. Zunächst geht er auf historische Rahmenbedingungen und die Auslöser des Konfliktes ein, bevor er die maßgeblichen Vorgänge und Strategien der Auseinandersetzung rekonstruiert. Es wird deutlich, dass der

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Kalte Krieg nicht nur ein Krieg der Geheimdienste war, sondern auch zu einem andauernden Konflikt zwischen Gesellschaften ausartete. Dies spiegelte sich in verschiedenen Bereichen der Kultur wider. Letztendlich folgten auf den Schock der Kuba-Krise jedoch Phasen der Entspannungspolitik, welche die Konflikte langsam aber sicher zurückgehen ließen. Abschließend geht Stöver auf die Abrüstung ein und benennt langfristige Folgen des Kalten Krieges, welche bis heute bemerkbar sind. Milan Tvrdík, Harald Haslmayr (eds.). Frieden und Krieg im mitteleuropäischen Raum. Historisches Gedächtnis und literarische Reflexion. Wien: new academic press (Transkulturelle Forschungen an den Österreich-Bibliotheken im Ausland, Sonderband), 2017, 442 pp., 55,00 € [978-3-7003-1950-4]. The special volume »Frieden und Krieg im mitteleuropäischen Raum« describes the historic occurences and the general consequences of the First World War as well as its literary processing with a special focus on Central Europe. Amongst others, it contains studies on contemporary perspectives and attitudes towards the war, on the war’s commemoration by younger authors, on the war’s reprocessing in Austrian and other national literature, and a description of the battle at the eastern front. The appendix includes a list of authors. Der Sonderband Frieden und Krieg im mitteleuropäischen Raum behandelt sowohl die historischen Ereignisse und allgemeinen Folgen des Ersten Weltkrieges als auch deren literarische Verarbeitung und legt den Fokus dabei vor allem auf den mitteleuropäischen Raum. Er beinhaltet außerdem Beiträge zum Verhältnis von Zeitgenossen zum Krieg, der Rückerinnerung jüngerer Autorengenerationen und spezifischer Vergleiche zwischen der österreichischen Literatur und weiterer national geprägter Literatur sowie eine Beschreibung der Frontkämpfe im Osten. Im Anhang des Buches befindet sich ein Verzeichnis mit den Autorinnen und Autoren des Buches. Ben Urwand. Der Pakt. Hollywoods Geschäfte mit Hitler. Darmstadt: wbg Theiss, 2017, 320 pp., Ill., 29,95 € [978-3-8062-3371-1]. Germany has traditionally been an important market for the American movie industry, and a significant factor in its balance sheets. Even during the 1930s and after Hitler’s rise to power, Hollywood would not shy away from doing business with the National Socialists. Compromise was made on a regular basis, reflecting the influence Berlin exerted on American film productions. Mechanisms of censorship attempted to prevent German propaganda from being challenged or scrutinised. »Cooperation« went as far as into the dismissal of Jewish employees, the cancellation of whole productions, or at least their prohibition in Germany. Notably, this was achieved in spite of many film producers being Jewish themselves. Only with Germany’s declaration of war against the United States in 1941 did collaboration end, and Hollywood began to cultivate a new, anti-fascist image. Ben Urwand unveils a dark chapter in the history of Hollywood consulting numerous, in parts previously unknown documents.

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Der deutsche Markt war schon immer sehr wichtig für die amerikanische Filmindustrie, um Profit zu generieren. Es verwundert daher nicht, dass Hollywood sich auch in den 1930er Jahren zur Zeit der Machtergreifung Hitlers nicht davor scheute, Geschäfte mit den Nationalsozialisten abzuschließen. Dabei wurden häufig Kompromisse eingegangen, welche zeigten, dass Berlin einen starken Einfluss auf die Filmproduzenten ausübte. Dabei handelte es sich beispielsweise um Zensurelemente, welche verhindern sollten, dass die deutsche Propaganda in Frage gestellt wird. Es kam zu Entlassungen von Juden, und die Zusammenarbeit ging sogar so weit, dass einzelne Filme gar nicht erst produziert oder in Deutschland gezeigt werden konnten. Dabei ist zu beachten, dass ein Großteil der amerikanischen Filmproduzenten Juden waren. Erst die Kriegserklärung Deutschlands an die USA im Jahr 1941 tat der Zusammenarbeit einen Abbruch, und das Image eines antifaschistischen Hollywoods war wieder perfekt. Ben Urwand deckt in diesem Buch die dunkle Vergangenheit Hollywoods anhand zahlreicher, teilweise bisher unbekannter Dokumente auf. German Werth. Wie war das mit Verdun? Teilnehmer der Schlacht erinnern sich. Berlin: Deutschlandradio/Ch. Links, 2016, Audio-CD 59:57 min., 13,00 € [978-3-86153-886-8]. The battle of Verdun was one of the most deadly in the First World War and shaped the image of a new kind of industrialized war. Circa 350,000 French and German soldiers died without achieving any significant change in front lines. In the 1970s German soldiers that survived the battle were interviewed by the historian German Werth. These interviews are now available as an audio-CD. The CD contains an additional overview a report on the battle itself and on the myth formation surrounding it, narrated by historian Gerd Krumeich. Die Schlacht von Verdun war eine der tödlichsten des Ersten Weltkriegs und schuf das Bild einer neuen Art von industrialisiertem Krieg. Circa 350.000 französische und deutsche Soldaten starben ohne eine signifikante Veränderung der Frontlinien. In den 1970er Jahren wurden deutsche Soldaten, die die Schlacht überlebten, vom Historiker German Werth interviewt. Diese Interviews sind jetzt als Audio-CD verfügbar. Die CD enthält eine zusätzliche Übersicht über die Schlacht sowie einen Beitrag des Historikers Gerd Krumeich zur Mythenbildung im Nachgang der Schlacht. Stephanie Willeke. Grenzfall Krieg. Zur Darstellung der neuen Kriege nach 9/11 in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: transcript, 2018, 452 pp., 44,99 € [9783-8376-4035-9 ]. The monography at hand examines – from the perspective of literary studies – how the phenomenon of the »new wars« and the category of »borders« are portrayed in contemporary German novels. In the beginning the author discusses relevant scientific literature and the theoretical concepts underlying those terms. This is followed by a definition of the term »border«. The study’s main part focusses on the novels’ portrayal of German soldiers, war-journalists and terrorists in order to critically reflect on how the authors construct these groups, critically examining deficits, biases or attempts to consciously mislead the reader. The final part con-

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cludes the studie’s results by comparing and relating the different ways the novels talk about ethical acceptability, guilt and innocence, right and wrong. This is done with reference to the fact that novels participate in public discourse and therefore become examples of ethical action. The appendix features a list of primary and secondary literature. Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um eine literaturwissenschaftliche Studie, in der die Darstellungen des Phänomens der »neuen Kriege« und der Kategorie »Grenze« in zeitgenössischen Romanen untersucht werden. Zu Beginn steht eine ausführlich Diskussion der relevanten wissenschaftlichen Literatur und der theoretischen Konzepte, die diesen Begriffen zugrunde liegen. Danach wird der Begriff der Grenze in Bezug auf die Untersuchung definiert und reflektiert. Im Hauptteil der Studie stehen verschiedene beteiligte Gruppen wie Bundeswehrsoldaten, Kriegsreporter und Terroristen, deren Darstellungsweise jeweils anhand verschiedener Romane untersucht wird. Dies wird mit dem Ziel getan, die Konstruktionen der ausgewählten Autoren kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls auf Defizite, Tendenzen oder bewusste Irreführungen des Lesers hinzuweisen. Im letzten Abschnitt werden die Analyseergebnisse zusammengefasst und in einen diskursiven Kontext eingeordnet, indem unter anderem die Fragen nach der ethischen Angemessenheit, nach Schuld und Unschuld, Richtig und Falsch von Krieg im Allgemeinen und den »neuen Kriegen« im Speziellen in den untersuchten Romanen herausgestellt, verglichen und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dies geschieht unter dem Gesichtspunkt, dass es sich bei den Romanen um eine Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs und damit um eine ethische Positionierung handelt. Im Anhang befindet sich ein Verzeichnis der Primär- und Sekundärliteratur. Regine Zeller. »Einer von Millionen Gleichen«. Masse und Individuum im Zeitroman der Weimarer Republik. Heidelberg: Universitätsverlag Winter (Probleme zur Dichtung; 45), 2011, 241 pp., 35,00 € [978-3-8253-5895-2]. The emerging thinking on how to control and characterize »the Mass« in the 19th and early 20th century lead to an abundance of psychological writings on this very topic. The authors’ thesis is that even literary works participated in this discourse. Therefore she analyses novels from the times of the Weimar Republik with respect to their description of the individual based on characteristics of the group it belongs to, and how the individual is assigned to a group in the first place. The author introduces the reader to theoretical reflections on mass and individual, before she examines the discourses on »mass« in the World War-novel as well as in the literature on revolutions, cities and the NSDAP. She concludes with thoughts about mass psychology and awareness for crises. The volume provides a bibliography of the literature used, structured in novels, psychological writings and additional literature. Das aufkommende Denken darüber, wie »die Masse« zu kontrollieren und zu charakterisieren ist, führte zu einer Fülle von psychologischen Schriften zu diesem Thema. Die These der Autorin ist, dass auch literarische Schriften an diesem Diskurs teilgenommen haben. Dafür analysiert sie Romane aus der Zeit der Weimarer Republik im Hinblick darauf, wie

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das Individuum durch die Eigenschaften der Masse beschrieben wird und wie es einer Masse zugeordnet wird. Die Autorin führt den Leser dazu in theoretische Grundlagen über Masse und Individuum ein, bevor sie die Massendiskurse im Weltkriegsroman sowie in der Literatur über Revolutionen, Großstädte und die NSDAP untersucht. Sie schließt mit Gedanken über Massenpsychologie und Krisenbewusstsein. Die Ausgabe stellt ein Verzeichnis der benutzten Literatur zur Verfügung, geordnet in Romane, psychologische Schriften und zusätzliche Literatur.

Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe Contributors to this Edition Dam-Huan Ahn, Prof. em. Dr., Seoul National University (Germanistik), Gwanakro 1, Gwanak-gu, Seoul 151-745 (Korea); [email protected]. Karina Bedenbecker, MA, Kolpingstraße 4, 49594 Alfhausen; karina.bedenbecke@ web.de. Katja Bocklage, BA, Paul-Oeser-Straße 1a, 49074 Osnabrück; [email protected]. Vivien Borcherding, BA, Möserstraße 54c, 49074 Osnabrück; vivien. [email protected]. Viktoria Borchling, BA, Meller Straße 6, 49074 Osnabrück; viktoriaborchling@ gmx.de. Katrein Brandes, Am Diggen 10, 21077 Hamburg; [email protected]. Pia Dittmann, BA, Spindelstraße 20, 49080 Osnabrück; [email protected]. Lena Dust, BA, Bohmter Straße 50e, 49074 Osnabrück; [email protected]. Jens Ebert, Dr., Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Heinrich-Grüber-Platz 1–3, 16515 Oranienburg; [email protected]. Christina Geers, BA, Am Brink 9, 49751 Werpeloh; christina.geers.werpeloh@ gmx.de. Marc Hieger, OStR, Condominio »Platinum«, Calle Dr. Jaime Ramón, Santa Cruz de la Sierra (Bolivien); [email protected]. Milan Horňáček, Filozofická fakulta UP, Katedra germanistiky, Křižkovského 10, CZ-77147 Olomouc, Tschechische Republik; [email protected]. Lena Kölker, BA, Mösterstraße 54C, 49074 Osnabrück; [email protected].

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Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Swetlana Krieger, MA, Lotter Straße 62, 49078 Osnabrück; [email protected]. Julia Machnik, MA, Kirchweg 15, 38104 Braunschweig; [email protected]. Caroline Mertins, Auf den Dornen 9, 31840 Hess. Oldendorf; carolinemertins@ gmail.com. Nina Otto, Dr., Schirl 37, 48346 Ostbevern; [email protected]. Alexander Riemer, BA, Obere Findelstätte 19, 49124 Georgsmarienhütte; [email protected]. Wiebke Schmitz, MA, Friederikenstraße 60, 26871 Papenburg; schulte.wiebke2@ gmail.com. Stephanie Schnepel, BA, Spindelstraße 20, 49080 Osnabrück; stephanieschnepel@ yahoo.de. Andrea Schweizer, M.A., Historisches Seminar, Universität Zürich, Karl SchmidStrasse 4, CH-8006 Zürich; [email protected]. Clemens Schwender, Prof. Dr., SHR Hochschule der populären Künste, Potsdamer Straße 188, 10783 Berlin; [email protected]. Louisa Wehling, BA, Eisenbahnstraße 14, 49074 Osnabrück; [email protected].