KRAFTWERK. Die Mensch-Maschine: Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition 3967077179, 9783967077179

"Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Kraftwerk gar nicht wussten, wie wichtig sie für die schwarzen Massen 

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KRAFTWERK. Die Mensch-Maschine: Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition
 3967077179, 9783967077179

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Aufgabenstellung
1.2 Quellensituation
1.3 Zur Problematik der musikalischen Analyse in der Popularmusik
1.4 Terminologische Unschärfe innerhalb der Popularmusik
2 Voraussetzungen
2.1 Krautrock – zur Situation der Rockmusik Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland
2.2 Exkurs: Der Einfluss der Studiotechnik auf den Wandel des Stellenwerts des Parameters Sound
2.2.1 Die Entwicklung der Studiotechnik
2.2.2 Der spannungsgesteuerte Synthesizer und Switched-On Bach
2.3 Die Pioniere des Krautrocks
2.3.1 Amon Düül
2.3.2 Die Kosmische Musik und das Ohr-Label von Rolf-Ulrich Kaiser
2.3.2.1 Popol Vuh
2.3.2.2 Tangerine Dream
2.4 Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation
2.4.1 Can – Krautrock Stockhausen’scher Prägung?
2.4.2 Organisation – die musikalische Findungsphase von Ralf Hütter und Florian Schneider
2.4.3 Tone Float – Entstehung, Textur und Positionierung innerhalb der Musikgeschichte
2.4.4 Tone Float – musikalische Analyse
3 Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian
3.1 Vorbemerkung
3.2 Voraussetzungen: Studiotechnik – Produzent
3.2.1 Studiotechnik als Klangfetisch – die Wertigkeit des Produzenten
3.2.2 Phil Spector – Erfinder des Wall of Sound
3.2.3 George Martin – Musiker und Produzent
3.2.4 Brian Wilson – Prototyp einer neuen Generation von Musikschaffenden
3.2.5 Joe Meek – Pionier des Homerecordings
3.2.6 Die deutsche Studiolandschaft in den 1960er Jahren – ein Kampf der Kulturen
3.2.7 Dieter Dierks – klangliches Aushängeschild deutscher Rockmusik
3.2.8 Conny Plank – Produzent und Mentor
3.3 Kraftwerk
3.3.1 Entstehungsprozess und musikalische Analyse
3.3.2 Blaupause des Industrials? – Einordnung im Kontext des Krautrocks und Vergleich mit Throbbing Gristle, Faust und Kluster
3.4 Personelle Umbesetzung – Kraftwerk und Neu!
3.5 Kraftwerk 2
3.5.1 Musikalische Analyse
3.5.2 Bedeutung und Wirkung
3.6 Exkurs: Stagnation und Bombast – der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik
3.6.1 Stilistische Entwicklungen in der Rock- und Popmusik in der ersten Hälfte der 1970er Jahre
3.6.2 Der Synthesizer im popmusikalischen Mainstream – Nischendasein als klangliches Additiv
3.6.2.1 Paul Beaver und Bernhard Krause – die Studioszene ab Ende der 1960er Jahre an der Westküste der USA
3.6.2.2 Keith Emerson – Instrumentalist und Klanggestalter in Personalunion
3.6.3 Der Synthesizer in der experimentellen Popularmusik – musikalisches Diktat durch neue Technologien?
3.6.3.1 White Noise – Vorgriff auf Sampling
3.6.3.2 Tangerine Dream und Mother Mallard – Sequencing als kompositionsstiftendes Element
3.6.4 »Popcorn« – der Synthesizer erobert die Charts
3.7 Ralf und Florian
3.7.1 Übergang zu Synthesizer-Musik und Maschinengesang
3.7.2 Musikalische Analyse – neues Instrumentarium, neue Klänge
4 Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café
4.1 Autobahn
4.1.1 Einleitung
4.1.2 Text und Gesang
4.1.3 Musikalische Analyse – Produktion und Sound
4.1.4 Exkurs: Isao Tomita – Überfigur der subtraktiven Synthese
4.2 Radio-Aktivität
4.2.1 Einleitung und konzeptioneller Überbau
4.2.2 Musikalische Analyse – Komposition, Sound und synthetische Sprache
4.3 Trans Europa Express
4.3.1 Einleitung und konzeptioneller Überbau
4.3.2 Musikalische Analyse – der Sequenzer als Steuerungs- und Kompositionswerkzeug
4.4 Exkurs: Der Sequenzer erobert die Tanzfläche – Giorgio Moroder und der Disco-Sound
4.5 Die Mensch-Maschine
4.5.1 Konzept, produktionstechnische Voraussetzungen und neue Klänge
4.5.2 Musikalische Analyse im Vergleich: Moroder und Kraftwerk – Technik als kompositorischer Nukleus?
4.6 Exkurs: Punk, New Wave und Synth-Pop – die Metamorphose des Sounds in der Popularmusik gegen Ende der 1970er Jahre
4.7 Computerwelt
4.7.1 Umbau des Kling Klang Studios – klangliche Evolution
4.7.2 Musikalische Analyse
4.7.3 Computerwelt-Tour
4.7.4 Computerwelt als Blaupause des Electros
4.7.5 Kraftwerk – Urväter des Technos?
4.8 »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café – der Übergang zur Digitalisierung der Studiotechnik
4.8.1 Exkurs: Sampling und FM-Synthese – die digitale Revolution der 1980er Jahre
4.8.2 Erste Demo-Versionen und die Single »Tour de France«
4.8.3 Exkurs: Der Popsound in der ersten Hälfte der 1980er Jahre
4.8.4 Techno Pop / Electric Café – weiterer Produktionsprozess und musikalische Analyse
5 Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug
5.1 Exkurs: House und Techno – elektronischer Underground wird zum Massenphänomen
5.2 The Mix
5.2.1 Einleitung und konzeptioneller Überbau
5.2.2 Musikalische Analyse
5.3 Die Zeit nach The Mix – Rückzug aus der Öffentlichkeit
5.4 Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren
5.5 »Expo 2000«
6 Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk
6.1 Tour de France Soundtracks
6.1.1 Konzept
6.1.2 Musikalische Analyse
6.2 Minimum Maximum und Florian Schneiders Ausstieg
6.3 Die Kanonisierung des Œuvres: Der Katalog
6.4 3-D Der Katalog und Remixes
7 Ausblick
Anhang
1 Bibliografie
2 Internetquellen
3 Diskografie
Danksagung

Citation preview

Carsten Brocker

KRAFTWERK Die Mensch-Maschine

Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition

neue musik wissenschaft Schriften der Hochschule für Musik Dresden Herausgegeben von Michael Heinemann und Jörn Peter Hiekel

Carsten Brocker studierte Jazz/Rock/Pop im Hauptfach Klavier sowie Musik­ pädagogik an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden und ist neben seiner Arbeit als Musical Director der Gruppe Alphaville freischaffend als Keyboarder, Komponist und Sounddesigner (u. a. Zusammenarbeit mit Sven Helbig, Ulrich Rasche, Robot Koch) tätig. Neben seiner Dozentur an der Hochschule Macromedia, University of Applied Sciences setzt er sich mit musik­ wissenschaftlichen Themen auf dem Feld der populären elektronischen Musik auseinander (Dissertation zum musikalischen Schaffen von KRAFTWERK).

Carsten Brocker

KRAFTWERK – Die Mensch-Maschine Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Print-ISBN 978-3-96707-717-9

E-ISBN 978-3-96707-718-6

Umschlagentwurf: Johannes Ayen Umschlagabbildung: KRAFTWERK: »Prologue«, Spektrogramm Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ©  edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2023 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de E-Book-Umsetzung: Claudia Wild, Konstanz Satz und Bildbearbeitung: Claudia Wild, Konstanz Druck und Buchbinder: Esser printSolutions GmbH, Westliche Gewerbestraße 6, 75015 Bretten

Inhalt 1 Einleitung 

9

1.1 Aufgabenstellung  9 1.2 Quellensituation  12 1.3 Zur Problematik der musikalischen Analyse in der Popularmusik  14 1.4 Terminologische Unschärfe innerhalb der Popularmusik  18 2 Voraussetzungen  23

2.1  Krautrock – zur Situation der Rockmusik Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland  23 2.2 Exkurs: Der Einfluss der Studiotechnik auf den Wandel des Stellenwerts des Parameters Sound  27 2.2.1 Die Entwicklung der Studiotechnik  28 2.2.2 Der spannungsgesteuerte Synthesizer und Switched-On Bach  31 2.3 Die Pioniere des Krautrocks  35 2.3.1  A mon Düül  36 2.3.2 Die Kosmische Musik und das Ohr-Label von Rolf-Ulrich Kaiser  40 2.3.2.1  Popol Vuh  41 2.3.2.2  Tangerine Dream  45 2.4 Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation  54 2.4.1  Can – Krautrock Stockhausen’scher Prägung?  54 2.4.2  Organisation – die musikalische Findungsphase von Ralf Hütter und Florian Schneider  63 2.4.3  Tone Float – Entstehung, Textur und Positionierung ­innerhalb der Musikgeschichte  70 2.4.4 Tone Float – musikalische Analyse  75 3 Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian  79

3.1 Vorbemerkung  79 3.2 Voraussetzungen: Studiotechnik – Produzent  80

5

Inhalt

3.2.1 Studiotechnik als Klangfetisch – die Wertigkeit des Produzenten  80 3.2.2 Phil Spector – Erfinder des Wall of Sound  82 3.2.3 George Martin – Musiker und Produzent  83 3.2.4 Brian Wilson – Prototyp einer neuen Generation von Musikschaffenden  85 3.2.5 Joe Meek – Pionier des Homerecordings  86 3.2.6 Die deutsche Studiolandschaft in den 1960er Jahren – ein Kampf der Kulturen  88 3.2.7 Dieter Dierks – klangliches Aushängeschild deutscher Rockmusik  89 3.2.8 Conny Plank – Produzent und Mentor  90 3.3  Kraftwerk 93 3.3.1 Entstehungsprozess und musikalische Analyse  93 3.3.2 Blaupause des Industrials? – Einordnung im Kontext des Krautrocks und Vergleich mit Throbbing Gristle, Faust und Kluster  101 3.4 Personelle Umbesetzung – Kraftwerk und Neu!  109 3.5  Kraftwerk 2  112 3.5.1 Musikalische Analyse  112 3.5.2 Bedeutung und Wirkung  116 3.6 Exkurs: Stagnation und Bombast – der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik  118 3.6.1 Stilistische Entwicklungen in der Rock- und Popmusik in der ersten Hälfte der 1970er Jahre  118 3.6.2 Der Synthesizer im popmusikalischen Mainstream – ­Nischendasein als klangliches Additiv  122 3.6.2.1 Paul Beaver und Bernhard Krause – die Studioszene ab Ende der 1960er Jahre an der Westküste der USA  122 3.6.2.2 Keith Emerson – Instrumentalist und Klanggestalter in Personalunion  126 3.6.3 Der Synthesizer in der experimentellen Popularmusik – musikalisches Diktat durch neue Technologien?  128 3.6.3.1  White Noise – Vorgriff auf Sampling  128 3.6.3.2  Tangerine Dream und Mother Mallard – Sequencing als kompositionsstiftendes Element  132 3.6.4 »Popcorn« – der Synthesizer erobert die Charts  139

6

Inhalt

3.7  R alf und Florian  141 3.7.1 Übergang zu Synthesizer-Musik und Maschinengesang  141 3.7.2 Musikalische Analyse – neues Instrumentarium, neue Klänge  143 4 Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café  153

4.1  Autobahn 153 4.1.1 Einleitung  153 4.1.2 Text und Gesang  154 4.1.3 Musikalische Analyse – Produktion und Sound  158 4.1.4 Exkurs: Isao Tomita – Überfigur der subtraktiven Synthese  166 4.2 R adio-Aktivität 169 4.2.1 Einleitung und konzeptioneller Überbau  169 4.2.2 Musikalische Analyse – Komposition, Sound und synthetische Sprache  173 4.3  Trans Europa Express  185 4.3.1 Einleitung und konzeptioneller Überbau  185 4.3.2 Musikalische Analyse – der Sequenzer als Steuerungsund Kompositionswerkzeug  191 4.4 Exkurs: Der Sequenzer erobert die Tanzfläche – Giorgio Moroder und der Disco-Sound  200 4.5  Die Mensch-Maschine  211 4.5.1 Konzept, produktionstechnische Voraussetzungen und neue Klänge  211 4.5.2 Musikalische Analyse im Vergleich: Moroder und Kraftwerk – Technik als kompositorischer Nukleus?  215 4.6 Exkurs: Punk, New Wave und Synth-Pop – die Metamorphose des Sounds in der Popularmusik gegen Ende der 1970er Jahre  229 4.7  Computerwelt 241 4.7.1 Umbau des Kling Klang Studios – klangliche Evolution  241 4.7.2 Musikalische Analyse  247 4.7.3 Computerwelt-Tour  257 4.7.4  Computerwelt als Blaupause des Electros  262 4.7.5  K raftwerk – Urväter des Technos?  271 4.8 »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café – der Übergang  zur Digitalisierung der Studiotechnik  282

7

Inhalt

4.8.1 Exkurs: Sampling und FM-Synthese – die digitale Revolution der 1980er Jahre  283 4.8.2 Erste Demo-Versionen und die Single »Tour de France«  290 4.8.3 Exkurs: Der Popsound in der ersten Hälfte der 1980er Jahre  303 4.8.4  Techno Pop / Electric Café – weiterer Produktionsprozess und musikalische Analyse  312 5 Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug  327

5.1  Exkurs: House und Techno – elektronischer Underground wird zum Massenphänomen  327 5.2  The Mix  340 5.2.1 Einleitung und konzeptioneller Überbau  340 5.2.2 Musikalische Analyse  347 5.3 Die Zeit nach The Mix – Rückzug aus der Öffentlichkeit  351 5.4 Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren  354 5.5 »Expo 2000«  370 6 Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk  377

6.1  Tour de France Soundtracks  379 6.1.1 Konzept  379 6.1.2 Musikalische Analyse  381 6.2  Minimum Maximum und Florian Schneiders Ausstieg  390 6.3 Die Kanonisierung des Œuvres: Der Katalog  394 6.4  3-D Der Katalog und Remixes 398 7 Ausblick 

405

Anhang  407

1 Bibliografie  407 2 Internetquellen  3 Diskografie  Danksagung  448

8

432

416

1 Einleitung 1.1 Aufgabenstellung

»Meine Damen und Herren. Ladies and Gentlemen. Heute Abend aus Deutschland: Die Mensch-Maschine  – Kraftwerk«. Was seit über 45 Jahren1 als programmatischer Überbau der deutschen Elektronikband Kraftwerk fungiert, hat in klanglicher Form die Entwicklung der populären Musik entschieden beeinflusst, wenn nicht sogar nachhaltig verändert: Als eine der wenigen Popgruppen aus Deutschland2 haben sich Kraftwerk über Jahre hinweg nicht nur immer wieder in den angloamerikanischen Charts platzieren können, sondern auch durch ihren auf elektronischem Instrumentarium fußenden musikästhetischen Ansatz einen neuen Sound in der populären Musik implementiert und damit den Nährboden für eine elektronische populäre Musik bereitet, der bis heute verschiedene Gattungen evoziert hat. Von Rap und Hiphop über Synth-Pop bis hin zu Popgrößen wie Pharrell Williams3 oder Chris Martin4 – wohl kaum ein in der populären Musik tätiger Künstler wird die Bedeutung von Kraftwerk ernsthaft infrage stellen. Was das Besondere der Musik der Gruppe in kompositorischer und / oder klangästhetischer Hinsicht ausmacht, soll Gegenstand des hier vorliegenden Buches sein. Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit populärer Musik begegnet man immer dem Umstand, dass es sich bei selbiger um ein interdisziplinäres Konglomerat handelt, welches nicht voneinander trennbare, in ihrer Gewichtung fluktuierende Aspekte in sich vereint, deren Analyse nicht nur in medienwissenschaftlichen Disziplinen wie der Literatur-, Theater-, Kunst-, Film- und Musikwissenschaft, sondern auch in der Soziologie, der Politologie und der Ökonomie ein Betätigungsfeld findet, wobei die Wertigkeit und Relevanz der einzelnen Sektionen vom zu untersuchenden Objekt dar-

1

Seit Mitte der 1970er Jahre wird jedes Konzert mit diesem von einem Votrax Sprachsynthesizer generierten, bis auf temporäre Abweichungen (wie etwa dem Wegfall des Textteils »aus Deutschland«) bis heute gleich gebliebenen Text eingeleitet. 2 Neben Kraftwerk haben sich im englischsprachigen Ausland über längere Zeit nur die Bands Scorpions, Scooter und Rammstein etablieren können. 3 Bild.tv: »Ich würde gern mit Kraftwerk arbeiten«, 2013, https://www.bild.de/video/clip/zu-gast-beibild/pharrell-williams-bei-bild-31109866.bild.html (abgerufen am: 22.01.2021). 4 Wolf, Bernd: Kraftwerk gegen Moses Pelham  – eine unendliche Prozessgeschichte, in: Südwestrundfunk, 2020, https://www.swr.de/swr1/rrr-moses-pelham-vs-kraftwerk-100.pdf (abgerufen am: 20.01.2021).

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1 Einleitung

gestellt werden. Dieses Theorem leitet sich aus der Praxis ab: Der Erfolg oder Misserfolg eines Künstlers oder einer Gruppe hängt nicht nur von der Musik allein, sondern auch vom Zusammenspiel vieler, nicht primär musik-immanenter Faktoren ab, sei es nun hinsichtlich des Images, der optischen Präsenz oder der strategischen Positionierung und Bewerbung innerhalb des Musikmarktes. Die klangliche Seite stellt also nur einen Teilaspekt eines größeren Ganzen dar. Auch im Falle Kraftwerks hat über die Musik hinaus die Interaktion zwischen einem aus Artwork, Live-Präsentation beziehungsweise aus der Kombination von Musik und Video bestehenden multimedialen Gesamtkonzept und der geschickten Außendarstellung der Gruppe einen maßgeblichen Anteil an deren herausragenden Stellung innerhalb der Musiklandschaft. Dieser Intermedialität Rechnung zu tragen, würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Es soll daher nicht der Versuch unternommen werden, das Phänomen Kraftwerk in seiner Gänze zu erklären – ein Ansatz der darüber hinaus hinlänglich von der Seite der Kulturwissenschaften unternommen wurde  –, sondern durch die Fokussierung auf die musikalische Analyse des Œuvres nur die klangliche Seite der Gruppe zu beleuchten. Man muss dabei berücksichtigen, dass aufgrund der Tatsache, dass keine popmusikalische Stilrichtung in ihrer Textur so eminent von der Verwendung des ihr zugrunde liegenden Instrumentariums abhängig ist wie die elektronische Popularmusik, Komposition und Technologie einem permanenten Wechselverhältnis unterliegen. Dies drückt sich bei Kraftwerk in besonderer Weise aus, als dass die Gruppe nicht zuletzt häufig als Auftraggeber von instrumentalen Spezialanfertigungen in Erscheinung trat oder, wenn auch nur in geringem Maße, ihr Instrumentarium selbst herstellte. Dadurch wurde die in der Popularmusik gängige Trennung zwischen dem sich eine auf dem Musikalienmarkt verfügbare Technologie zunutze machenden Komponisten beziehungsweise Musiker und den teils nachfrageorientiert, teils innovativ jenen Markt bedienenden Technologieentwicklern wenn nicht ganz aufgehoben, so zumindest doch verwässert. Ziel dieser Studie soll daher vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Schaffensperioden Kraftwerks sein, in chronologischer Reihenfolge zu untersuchen, inwiefern sich technische Entwicklungen im Instrumentenbau auf die Kompositionsweise Kraftwerks ausgewirkt haben. Hierbei soll theoretisch reflektiert werden, inwieweit sich die Wechselwirkungen zwischen Kompositionsprinzipien und instrumentalen Möglichkeiten von der experimentellen, weitgehend auf herkömmlichem rockmusikalischen Instrumentarium basierenden Frühphase Kraftwerks bis zum Jahre 1973 infolge einer produktionstechnischen Autarkisierung durch den Ausbau ihres eigenen »Kling Klang Studio« genannten Tonstu-

10

1.1 Aufgabenstellung

dios5 und des Einsatzes von Sequencing ab dem Jahre 1976 verschoben haben, beziehungsweise wie stark sich die Emanzipation von kompositionstheoretischen und spieltechnischen Anforderungen aufgrund des ästhetisierenden Einsatzes maschineller Steuerung und damit verbundener Präzision auf das musikalische Endprodukt ausgewirkt hat. Es hat sich dabei als sinnvoll erwiesen, die einzelnen dieser Untersuchung zugrunde liegenden Teilaspekte nicht in gleichbleibender Gewichtung übergreifend für jedes von Kraftwerk veröffentlichte Album zu diskutieren, sondern immer nur dann hervorzuheben, wenn ihre jeweilige Wertigkeit dies erfordert. Als weiterer Gesichtspunkt fungiert im Hinblick auf die genuine Intention Kraftwerks, eine elektronisch erzeugte Volksmusik aus der Rhein-Ruhr-Region zu kreieren,6 die detaillierte Darlegung der Kompositionsmethoden Kraftwerks, welche mit der Textur der in Westdeutschland vorherrschenden angloamerikanischen Popularmusik verglichen werden sollen. Dies erfordert zum einen eine Darstellung und Diskussion der Lebensumstände respektive der durch angloamerikanische Einflüsse geprägten soziokulturellen Situation in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik Deutschland, die das rahmengebende Fundament der Textur und Motivation der Musik in den Anfängen der Gruppe bildete. Zum anderen muss die Rezeption der Musik Kraftwerks durch angloamerikanische Musiker gegen Ende der 1970er Jahre näher betrachtet werden; besonderes Augenmerk sei hier auf das im Jahre 1981 erschienene Album Computerwelt gelegt, das durch seinen patternartigen Aufbau, die Art der zum Einsatz kommenden Klangfarben und der rhythmischen Strukturen Anfang der 1980er Jahre in den USA die Stilrichtung Electro evozierte, deren zentrale kompositorische und soundspezifische Parameter sich direkt an der Musik Kraftwerks anlehnten. Aufgrund dieser Tatsache ist es gleichfalls nötig zu untersuchen, inwiefern diese zunächst nur plagiativ stereotypische Gattung im Laufe der Zeit eigene 5

6

Die Kreditierungen der einzelnen Alben enthalten verschiedene Schreibweisen: So ist das Studio auf dem im Jahre 1975 veröffentlichten Album Radio-Aktivität in Groß- und Kleinschreibung als »Klingklang Studio« aufgeführt. Auf folgenden Alben erfolgte die Kreditierung bis heute ausschließlich in Großschreibung, wobei das Wort »Klingklang« in nicht erkennbarer Reihenfolge ab und zu getrennt und dann wieder zusammengeschrieben wurde. Ab der Single »Expo 2000« aus dem Jahre 1999 wird das Studio bis heute durchweg als »Kling Klang Studio« aufgeführt. Auch Karl Bartos und Wolfgang Flür verwenden in ihren Autobiografien die Schreibweise »Kling Klang Studio«, die daher im Folgenden in dieser Arbeit übernommen wird. Aus Gründen der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit die für den Begriff »Tonstudio« übliche Kurzform »Studio« verwendet. Vgl. Ralf Hütter im Interview in: Knofel, Gerhard und Hofer, Walter: Kraftwerk – Die Menschmaschine (TV-Special 1981), 1981, https://www.youtube.com/watch?v=kxYF3kNx8q0 (abgerufen am: 02.02.2021). »Unsere Musik ist elektronisch, aber wir sehen sie gerne als ethnische Musik aus den deutschen Industriegebieten – industrielle Volksmusik.« Zit. n. Ralf Hütter in: Buckley 2013, S. 41.

11

1 Einleitung

musikalische Blüten trieb, welche wiederum Auswirkungen auf das kompositorische Schaffen Kraftwerks hatten, beziehungsweise inwieweit sich Kraftwerk mit weiteren in dieser Zeit neu entstandenen und unter dem inhaltlich weit gefassten Begriff der Electronic Dance Music subsumierten Gattungen auseinandersetzten, welche sich zunächst in Teilen an der Musik Kraftwerks orientierten, diese aber aufgrund permanenter Reflexion und Interaktion autarkisierten, was sich bis heute in der populären elektronischen Musik in einer Fülle von neuen Genres und Subgenres widerspiegelt. Obwohl Kraftwerk im Vergleich zu Klangpionieren der populären elektronischen Musik wie Mother Mallard, Tangerine Dream oder Popol Vuh erst verhältnismäßig spät Synthesizer einsetzten, waren sie doch die ersten, die ab Mitte der 1970er Jahre damit begannen, populäre Musik ausschließlich mit elektronischem Instrumentarium zu realisieren. Während bei den meisten Rock- oder Popbands Elektronik weitestgehend als »akzidentiell wirkender oder bereichernder Faktor«7 fungierte und damit als klangliche Ergänzung zum herkömmlichen In­­ strumentarium8 diente, kommt bei Kraftwerk diesbezüglich besonders der Analyse der Realisation respektive Steuerung von Drum- und Bass-Sounds eine besondere Bedeutung zu. Speziell sei hier auf die selbst gebauten Drumpads sowie auf den von der deutschen Firma Matten und Wiechers konstruierten Sequenzer »Synthanorma« hingewiesen. An dieser Stelle ist es gleichfalls unabdingbar, Kraftwerks bereits angesprochene Position als Auftraggeber und Entwickler neuer Technologien zu beleuchten. Abschließend soll der Einzug der Digitaltechnik in das Kling Klang Studio ab den 1980er Jahren unter der Berücksichtigung einer neuen Klangästhetik theoretisch reflektiert werden, die ihren Gipfel in der Computerisierung und Virtualisierung des Studios Anfang der 2000er Jahre erreichte.

1.2 Quellensituation

Unbedingt muss die äußerst kritische Quellensituation diskutiert werden. Gerade in Bezug auf die Hardware hat etwa der bei den frühen Kraftwerk-Aufnahmen oft aus dem Kraftwerk-Umfeld medial kolportierte Einsatz vermeintlich selbst entwickelten Instrumentariums nicht zuletzt durch schlecht recherchierenden und sich selbst kopierenden Musikjournalismus für eine Fülle von Mythen 7 8

12

Enders 1983, S. 273 f. Dies bezieht sich auf die aus dem Rock ’n’ Roll stammende, aus Schlagzeug, Gitarre und Bass bestehende Rhythmusgruppe. Teilweise werden diese Instrumente elektrisch verstärkt.

1.2 Quellensituation

gesorgt, die sich im Laufe der Jahre durch das Internet noch einmal multipliziert haben. Die Informationen, die heute als gesichert gelten können, basieren lediglich auf Tonträgern, Konzertfotos, Videomitschnitten und den Angaben zum Equipment auf den jeweiligen Plattencovern. Sehr schwierig gestaltet sich die Problematik der Paratexte. Die dürftige Öffentlichkeitsarbeit seitens der Kraftwerk-Initiatoren Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben,9 welche mit der gezielten Darstellung eines intellektuell und innovativ gefärbten Erscheinungsbildes einhergeht,10 macht eine Recherche sehr schwierig. Zieht man nun Interviews mit Personen aus dem Kraftwerk-Umfeld zurate, ergeben sich hin und wieder ebenfalls starke Diskrepanzen bezüglich einer faktischen Veritabilität. Repräsentativ scheint hier die Autobiografie von Kraftwerk-Schlagzeuger Wolfgang Flür, in der die Funktionsweise des für die Musik Kraftwerks maßgebenden Sequenzer-Systems »Synthanorma« der Firma Matten und Wiechers nur sehr fehlerhaft dargestellt ist.11 Lediglich die eher sachlich gehaltene Autobiografie des an zahlreichen Kompositionen beteiligten Kraftwerk-Mitgliedes Karl Bartos stellt hinsichtlich ihres Informationsgehalts eine erfreuliche und sehr hilfreiche Ausnahme dar, welche im Hinblick auf die Entstehung der einzelnen Kraftwerk-Alben – zumindest im Zeitraum seiner Mitgliedschaft in den Jahren 1975–90  – daher in dieser Arbeit auch häufig bemüht wird. Alles in allem ist es angesichts dieser zahlreichen Variablen recht schwer, im Hinblick auf die technologische Komponente ein genaues Bild zu zeichnen, vor allem da schon durch die simple Addition von Effekten die ursprüngliche Klangquelle oftmals nur noch schwer zu erahnen ist. Einiges in dieser Arbeit kann daher nur auf Basis eines auralen Erfahrungshorizonts des Autors bezüglich der Pro-

 9 10

11

Florian Schneider-Esleben verzichtete ab dem Album Ralf und Florian im Jahre 1973 auf den Namenszusatz »Esleben«. In dieser Arbeit wird er fortan nur noch unter dem Namen »Florian Schneider« geführt. Als ein Beispiel dafür sei folgender Auszug eines Interviews von Ralf Hütter mit dem Synapse Magazine im September 1976 aufgeführt: »Synapse: When you were at the academy, were you studying music and composition? Ralf Hütter: Yes.«, Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Synapse Magazine, 1976, http://kraftwerk.technopop.com.br/interview_106.php (abgerufen am: 15.03.2009). Sowohl der langjährige Kraftwerk-Schlagzeuger, Wolfgang Flür, als auch der Kraftwerk-Bassist, Eberhard Kranemann, sagten allerdings aus, dass Hütter Architektur studiert habe. Flür 1999, S. 63, http://www.e-kranemann.de/kraftw1/start.htm (abgerufen am: 10.04.2009). Auf dieser Fehlinformation dürfte auch die medial oft wiedergegebene Behauptung aus Pascal Bussys Kraftwerk-Biografie basieren, Hütter hätte am Düsseldorfer Konservatorium elektronische Orgel studiert. Ralf Hütter selbst korrigierte dies in einem Interview im Jahre 1991. Vgl. Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Olaf Zimmermann Radio für DT 64, 1991, https://www.youtube.com/ watch?v=Qs2l2LMGXms (abgerufen am: 10.01.2021). Vgl. Flür 1999, S. 152 f.

13

1 Einleitung

duktionsmittel eruiert werden und fungiert deshalb mehr als Annäherungswert denn als Tatsache. Zusätzlich finden viele Online-Informationen Verwendung, was sich allerdings insofern als problematisch erweist, als dass einige der hier aufgeführten verlinkten Quellen durch die hohe Fluktuation des Internets mittlerweile nicht mehr verfügbar sind. Ein bedauerliches Beispiel ist die offline gegangene KraftwerkFanpage http://kraftwerk.technopo.com.br, welche Bildmaterial und gescannte Interviews beinhaltete. Alle Internetquellen sind aber nach besten Wissen und Gewissen auf ihre Veritabilität hin geprüft worden. Einige der verwendeten Links haben allerdings manchmal nur kryptische oder im Falle von gescannten Fotos gar keine Titel. In diesem Falle wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit ein Verweis hinzugefügt, der als Maßgabe für die alphabetische Sortierung im Quellenverzeichnis dient. An dieser Stelle muss auch auf die Verwendung der OnlineEnzyklopädie Wikipedia hingewiesen werden, welche angesichts der häufig anonymen Autoren und des Fehlens von Quellenangaben in wissenschaftlichen Publikationen problematisch ist. In dieser Arbeit wird Wikipedia ausschließlich als Referenz für mit Quellenangaben versehene Chart-Positionen benutzt, da selbige sich durch den stichprobenartigen Abgleich mit entsprechenden Publikationen wie Hit Bilanz12 oder The Official Albums Charts13 als korrekt und zuverlässig erwiesen haben.

1.3 Zur Problematik der musikalischen Analyse in der Popularmusik

Erst gegen Ende der 1960er Jahre wurde populäre Musik zum Gegenstand musikwissenschaftlicher Analysen.14 Schnell offenbarte sich allerdings das Problem, dass die in der historischen Musikwissenschaft entwickelten Analysemodelle nur bedingt auf populäre Musik übertragbar waren. Basierend auf form- und strukturanalytischen Methoden,15 mit denen man anhand eines Notentextes die Parameter Melodik, Harmonik, Rhythmik, Dynamik und mithilfe der Instrumentierung die Klangfarbe eines Stückes zu analysieren versuchte, trat vor allem die Erkenntnis zutage, dass, an der Musik gemessen, für die diese Untersuchungs-

12 13 14 15

14

Vgl. Ehnert 1980. Vgl. Betts 2019. Wicke 2002, S. 91. Gruber 1994, S. 578.

1.3  Zur Problematik der musikalischen Analyse in der Popularmusik

methoden entwickelt wurden, die Ausarbeitung eben jener Parameter im Bereich der Popularmusik sehr simpel ausfielen.16 Dass dies keinesfalls eine repräsentative Aussage über die musikalische Qualität der populären Musik der damaligen Zeit ist, sondern eher jenes systemimmanente Problem darstellt, dass sich die Wertigkeit und der Charakter von populärer Musik anhand der musikalischen Analyse einer Transkription nur bedingt taxieren lässt, zeigt ein Blick auf die neuere Zeit: Unterzieht man beispielsweise die im Oktober des Jahres 2020 auf dem 1. Platz der Billboard Hot 100 befindliche, aus der Zusammenarbeit der Produzenten Jawsh 685 ( Joshua Christian Nanai) und des Sängers Jason Derulo entstandene Komposition »Savage Love« einer harmonischen Analyse, findet sich im Refrain die sich wiederholende Harmoniefolge Tp, S, T, D, welche bereits unter anderem auch der Band Toto in ihrem Song »Africa« im Jahre 1983 zum 1. Platz in den US-amerikanischen Billboard-Charts verholfen hat. Ähnlich geartete, immer wiederkehrende Fragmente lassen sich bei den genannten Kompositionen auch in anderen Parametern nachweisen: Während die Melodik weitgehend auf kurzen, sich im heptatonischen Raum befindlichen diatonisch verlaufenden Phrasen basiert, dominieren auf dem Feld der rhythmischen Begleitung ein- bis zweitaktige repetitive Pattern, die auf dem 4/4-Takt aufbauen. Vergliche man die Transkription dieser Stücke untereinander, ergäbe sich in Relation zu Vergleichen von Notentexten der sogenannten ernsten Musik bei beiden ein repetitives Notenbild, welches sich formal, melodisch und harmonisch stark ähnelt, in einigen Passagen sogar gleicht; es ließe sich aus der Analyse beider Notentexte zumindest eine große musikalische Kongruenz herauslesen. Ein auraler Vergleich der Stücke hinterlässt allerdings einen völlig divergierenden klanglichen Eindruck. Warum werden zwei Popstücke trotz dieser objektiv belegbaren Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen völlig unterschiedlich wahrgenommen? In einer der ersten musikwissenschaftlichen Arbeiten, die sich in Deutschland mit Popularmusik auseinandersetzen, stellte Dörte Hartwich-Wiechell die Hypothese auf, dass die notentextlich evidente Einfachheit der populären Musik hinsichtlich der von ihr als Primärfaktoren kategorisierten Parameter Melodik und Harmonik vom häufig ungeschulten Gehör des Rezipienten nicht wahrgenommen wird. Selbiger lege sein Augenmerk in erster Linie auf Sekundär-, Tertiär- und Quartärfaktoren, womit die zeitliche respektive die rhythmische Komponente, die klangliche Ebene sowie ökonomische Kriterien wie die Bewerbung und Positionierung eines Musikers oder einer Gruppe auf dem Musikmarkt gemeint sind.

16

Helms 2002, S. 107 ff.

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1 Einleitung

Diese Ebenen seien dementsprechend in der Popularmusik wesentlich raffinierter ausgearbeitet.17 Hartwich-Wiechell bezieht sich damit auf ein gegen Ende der 1960er Jahre von Hermann Rauhe entwickeltes Analysemodell, das die damals bereits offenkundigen Schwierigkeiten bezüglich der Übertragbarkeit gängiger Analysemethoden auf die populäre Musik berücksichtigen sollte und deshalb neben Melodik, Harmonik und Rhythmik auch klangliche, interpretatorische und marktrelevante Kriterien einschloss.18 Dieses System war hierarchisch gegliedert, wobei die Wertigkeit der einzelnen Ebenen von ihrer notentextlichen Fixierbarkeit abhing. Allerdings erweist sich diese Taxonomie als problematisch, da die Trennung zwischen Melodik, Harmonik und Rhythmik einerseits sowie interpretatorisch variabler Komponenten andererseits – die streng genommen rhythmische Faktoren einschließen – bezüglich eines unterschiedlich ausdifferenzierbaren Genauigkeitsgrades hinsichtlich der Notation nicht zwingend ist. Es bleibt dabei unberücksichtigt, dass letztere Parameter anhand von Transkriptionen von Tonträgern ebenfalls grafisch fixiert werden können, da im Bereich der Popularmusik sich das musikalische Endprodukt aus der untrennbaren Kombination aus Komponist und – häufig auch in Personalunion – Interpret sowie studiotechnischer Produktion zusammensetzt, der fertige Tonträger also nichts weiter darstellt als die in allen Schattierungen absolute, physisch-akustisch gewordene Komposition. Generell ist der Begriff Rhythmus differenzierter zu betrachten, da er ein nicht ausschließlich auf der zeitlichen Ebene verankerter Parameter ist, sondern bezogen auf ebenfalls zur Rhythmik gehörende Faktoren wie die Artikulation oder das ›Feeling‹ eines Musikers bereits zum Bereich des Sounds19 und damit zu einem mehrere musikalische Segmente vereinenden Komplex gehört, dessen Subgruppen wie Klangästhetik oder der Parameter Klangfarbe die tertiäre Ebene von Rauhes Modell umfassen. Die hierarchische Gewichtung innerhalb dieses Analysesystems ist ebenfalls fraglich, da gerade durch die bis heute permanent voranschreitende Evolution der Studiotechnik der Sound als einzige musikalische Stellgröße in der Popularmusik eine nennenswerte Entwicklung vollzogen hat; dergestalt, dass er mitunter als sinnstiftendes, kompositionsbestimmendes Element eines Stückes fungiert, seine Relevanz folglich mindestens auf der Höhe der bei Rauhe angeführten Primärfaktoren anzusiedeln ist. Insbesondere auf dem Feld der elektronischen Popularmusik begegnet man Kompositionen, die häufig 17 18 19

16

Hartwich-Wiechell 1974, S. 13 f. Rauhe 1974, S. 17 ff. Hartwich-Wiechell weicht dabei insofern von Rauhes Modell ab, als dass bei ihr die klangliche und die zeitlich variable Ebene, die darüber hinaus den Parameter Rhythmik mit einschließt, in ihrer Wertigkeit vertauscht sind. Hartwich-Wiechell 1974, S. 13. Zur Erläuterung des Begriffs »Sounds« vgl. Kap. 2.2.

1.3  Zur Problematik der musikalischen Analyse in der Popularmusik

vor allem aus Klangdesign bestehen, welches sich in seiner klangspektralen Komplexität mittels gängiger Transkriptionsmodelle nicht mehr fixieren lässt. Wie lässt sich das Problem, das sich aus der hierarchischen Aufwertung der klanglichen Ebene und der gleichzeitigen Unmöglichkeit, diese mittels konventioneller musikalischer Analysemethoden zu untersuchen, ergibt, im Hinblick auf diese Arbeit lösen? Erschwerend gesellt sich noch hinzu, dass bei Rock- und Popgruppen, die weitgehend mit konventionellem Instrumentarium arbeiten, bezüglich der Vermittlung klanglicher Ereignisse in der Regel auf ein musikinstrumentales Grundwissen und aurales Vorstellungsvermögen seitens des Rezipienten zurückgegriffen werden kann, während bei Kraftwerk mit der Klangsynthese eine Form der Klanggenerierung im Fokus steht, die in keiner Tradition verankert ist. Man hat es folglich mit einem auditiven Abstraktum zu tun, für das es weder eine aus der Musikwissenschaft bekannte Terminologie noch ein aus der Instrumentenkunde ableitbares aurales Assoziationsmuster gibt; eine Problematik, der man sich schon in der Neuen Musik, exemplarisch in der Elektroakustischen Musik ausgesetzt sah, in der gleichfalls mit der additiven Synthese eine nicht tradierte Klangquelle zum Zentrum des musikalischen Geschehens wurde. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, besteht zum einen die Möglichkeit, Klänge durch spektrale Analysen zu beleuchten. Hierbei wird die Verteilung der spektralen Energie des zu untersuchenden Schallereignisses in zwei- oder dreidimensionalen Diagrammen visualisiert. Der Vorteil dieser Analysemethode liegt darin, dass sie ein objektives Messverfahren eines Klanges oder Klangverlaufs liefert, das die oft zur Beschreibung dieser herangezogenen assoziativen Empfindungen wie beispielsweise »nasal«, »spitz« oder »breit« durch die grafische Darstellung von Schall untermauern kann. Dieses Verfahren eignet sich allerdings primär für singuläre Klangphänomene und wäre, auf das Gesamtwerk Kraftwerks angewendet, allein schon durch seine schiere Datenmasse für diese Arbeit ungeeignet. Da in der Analyse eher eine gesamtkompositorische Klangästhetik vermittelt werden soll, erscheint die spektrale Analyse einzelner Klänge allenfalls nur dann notwendig, wenn sie elementare Bestandteile der Komposition sind oder zur Verifizierung der in dieser Arbeit aufgestellten Thesen dienen. Für die Beschreibung von Klang bedarf es vor allem eines bestimmten Vokabulars, das zwar die durch die Modularität des Studioinstrumentariums respektive dessen unbegrenzten Additionsmöglichkeiten bedingten Probleme einer genauen Ausdifferenzierung nie ganz wird lösen können, zumindest aber dem in diesem Bereich firmen Leser eine einigermaßen deutliche Beschreibung zur Imagination von Klangfarben geben kann. Man kommt dabei nicht umhin, sich die technische Terminologie der einzelnen Klangparameter des Instrumentariums zunutze zu

17

1 Einleitung

machen, weshalb zum Verständnis dieser Arbeit eine gewisse Vorbildung im Bereich der Studiotechnik erforderlich ist.20

1.4 Terminologische Unschärfe innerhalb der Popularmusik

Definitionsschwierigkeiten begegnet man aber nicht nur in der musikalischen Analyse, sondern auch in den Klassifizierungen der einzelnen Gattungen, beginnend mit der Frage, was populäre Musik eigentlich inhaltlich ausmacht. Ein wesentlicher Punkt für die terminologische Unschärfe in diesem Bereich ist darin zu finden, dass das Feld der Popularmusik im musikwissenschaftlichen Diskurs über lange Zeit nur ein Randdasein geführt hat und Abhandlungen in Wort und Schrift darüber größtenteils Musikjournalisten überlassen waren, die zum einen in reißerischer Art inflationär neue Begrifflichkeiten auf den Markt geworfen haben, zum anderen durch Unwissenheit und mangelnde Recherche für eine Fülle an Vertauschungen, Überschneidungen und daher schlicht für inhaltliche Fehler gesorgt haben. Problematisch ist dies vor allem deshalb, weil die Musikwissenschaft in Ermangelung eines eigenen Vokabulars nun auf eben jene etablierte, musikjournalistische Terminologie zurückgreifen muss. Kurzum sieht man sich also auf dem Feld der Popularmusik einer amorphen und diffusen Nomenklatur gegenüber, die zu entwirren sich diese Arbeit zwar nicht zur Aufgabe gemacht hat – allerdings wird sie inhaltlich natürlich von den systemimmanenten Schwierigkeiten dieses terminologischen Dickichts tangiert, so dass sie sich zwangsweise damit auseinandersetzen muss. Um dieser Komplexität zu begegnen, ist es sinnvoll, inhaltlich Begriffe wie »populäre Musik« oder – synonym dazu – »Popularmusik« an die Bedeutung des amerikanischen Terminus »Popular Music« anzulehnen, den der Musikwissenschaftler Peter Wicke als Sammelbegriff für ein breites Feld verschiedener Genres und Gattungen der Musik ansieht, »denen gemeinsam ist, dass sie massenhaft produziert, verbreitet und angeeignet werden [können]«,21 ohne dass sie sich »auf einen Katalog von Merkmalskomplexen festlegen [lassen]«.22 Gleiches gilt für die Verwendung des ebenfalls an den amerikanischen Terminus »Pop Music« respektive seiner Kurzform »Pop« angelehnten Begriff »Popmusik«, unter dem Wicke

20 Hierfür hilfreich ist: Enders, Bernd: Lexikon Musikelektronik, Mainz 1997. 21 Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 544. 22 Ebd.

18

1.4  Terminologische Unschärfe innerhalb der Popularmusik

»Musikformen [zusammenfasst], die die Stilistik und klanglichen Möglichkeiten des Rock mit der universellen Verkäuflichkeit des Schlagers kombinieren«.23 In welches Genre der Popularmusik lässt sich Kraftwerk nun einordnen? Hier bieten sich allein schon durch die über 40-jährige Geschichte und die in dieser Zeit fortwährende musikalische Metamorphose der Gruppe diverse Optionen: Peter Wicke etwa bezieht sich dabei auf die Anfangsphase Kraftwerks und verortet die Band deswegen – als Bestandteil jener Musikgruppen, die zu Beginn der 1970er Jahre mit dem damals neuen Synthesizer arbeiteten – im erstmals in den 1970er Jahren im Musikjournalismus verwendeten Begriff »Electronic Rock«.24 Da dieser Begriff sich nur auf den Synthesizer-Einsatz als kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert, umfasst er ein stilistisch breites Spektrum von Ambient über Popmusik bis zum Progressive Rock. Allein das Vorhandensein des Wortes »Rock«25 verleiht dieser Genre-Bezeichnung eine Konnotation, die vielen darunter subsumierten Bands instrumental und klanglich kaum gerecht wird. Gleiches gilt dementsprechend auch für den in der heutigen musikjournalistischen Landschaft sich großer Beliebtheit erfreuenden Terminus »Krautrock«, der ein von britischen Journalisten aufoktroyierter Überbegriff für alle Westdeutschen Rockgruppen ab dem Ende der 1960er Jahre gewesen ist. Neben Jazzrockund Politrockgruppen wurden unter diesem Begriff – wie schon beim Electronic Rock  – ebenfalls Formationen wie Tangerine Dream oder der Musiker Klaus Schulze zusammengefasst, deren sphärische, fast ausschließlich auf Synthesizern basierende Musik mit den Charakteristika von Rockmusik nicht in Einklang zu bringen war. Die Musiker selbst haben sich von diesen Begriffen folgerichtig distanziert. Während Tangerine Dream zur Beschreibung ihres Werks den Begriff der »Kosmischen Musik« ins Spiel brachten, hat Klaus Schulze seine Kompositio-

23 24 25

Ebd., S. 553. Ebd., S. 221 ff. Eine genaue Definition dieses Begriffs findet sich in: Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 607 ff. Grob vereinfacht handelt es sich bei der Rockmusik um eine Form von Popularmusik, die durch den Einsatz von verstärkten (und meistens auch verzerrten) Gitarren eine härtere Klangcharakteristik hat, bei der aber auch die Authentizität des Musikers sowie seines musikalischen Produkts im Vordergrund steht. Ralf-Artur Fritsche sieht die Herkunft des Begriffs »Rock« – abgeleitet von »Rock ’n’ Roll« – v. a. als geografisch motiviert, dergestalt, als dass er als amerikanisches Gegenstück zum in den 1960er Jahren die Popularmusik dominierenden englischen Beat fungierte. Den zeitlichen Ursprung sieht man dabei gemeinhin im Jahre 1965, als Bob Dylan als Ikone der amerikanischen Folk-Music erstmals auf dem Newport-Festival mit einer elektrisch verstärkten Gitarre auftrat. Aus vermarktungstechnischer Hinsicht schien der Begriff sehr gut gewählt, da kurz da­­ rauf alle Beat-Gruppen, deren zentrales Instrument ja ebenfalls die elektrisch verstärkte Gitarre war, ebenfalls unter dem Label des »Rock« oder der »Rock-Music« firmierten. Fritsche 1984, S. 68 f.

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1 Einleitung

nen immer als »Elektronische Musik« bezeichnet, was vom Musikjournalismus bereitwillig übernommen wurde.26 Im weiteren Verlauf der Geschichte Kraftwerks, die sich ab dem Jahre 1974 zu einer reinen Synthesizerband wandelten, tauchte schließlich im Rahmen der Computerwelt-Tour im Jahre 1981 in Japan als stilistische Beschreibung der abermals von Journalisten geprägte Begriff »Techno-Pop«27 auf. Etwa parallel dazu entstand im Zuge des Erfolgs des Synthesizers in der Popmusik Anfang der 1980er Jahre schließlich die Gattung des »Synth-Pop« oder »Synthi-Pop«. Auch wenn Kraftwerk nicht im strengen Sinne zum Synth-Pop gezählt werden kann, da es sich hier zunächst um ein britisches Phänomen handelte, dessen Charakteristika zur Hochphase in der ersten Hälfte der 1980er Jahre mit der damaligen Musik Kraftwerks nur bedingt viel gemein hatte, finden sich in diesem Genre doch einige Parallelen zum bereits im Jahre 1978 veröffentlichten Album Die MenschMaschine – exemplarisch hierfür steht das Stück »Das Modell«, welches im Jahre 1981 den 1. Platz der UK-Charts erreichte.28 Aufgrund dieser musikalischen Ähnlichkeiten wurden Kraftwerk immer wieder vom Musikjournalismus als Apologeten dieser Musikrichtung tituliert. Die in den 1980er Jahren voranschreitende Digitalisierung des Instrumentariums in der Popmusik rückte dann den Synthesizer aus dem musikalischen Fokus, weshalb der Terminus »Synth-Pop« bald durch »Electro-Pop«29 abgelöst wurde. Dass der Spiritus Rector Kraftwerks, Ralf Hütter, selbst immer wieder zur Beschreibung der eigenen Musik den Begriff der »elektronischen Volksmusik«30 bemüht, woran dessen medienwirksame, ambivalente Interpretationsmöglichkeiten einen nicht zu vernachlässigenden Anteil haben dürften, scheint die terminologische Verwirrung zu komplettieren. Es lässt sich folglich konstatieren, dass eine genaue Subsumption Kraftwerks unter eine musikalische Gattung offensichtlich nicht möglich ist.

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27 28 29 30

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Dass darüber hinaus der für diese Art von Musik ab Mitte der 1990er Jahre genutzte Terminus der Elektronischen Musik (als Abgrenzung zum neu aufgekommenen Techno) gleichfalls recht diffus als Überbegriff von jeglicher Art populärer elektronischer Musik herhalten musste (vgl. Kap. 5.1) – wobei in deutschen Musikjournalen die Adjektive »klassisch« oder »traditionell« hinzugefügt wurden –, führt bis heute zu Irritationen, da sie oftmals infolge der terminologischen Überschneidung mit der Elektronischen Musik beziehungsweise der Elektroakustischen Musik, die als Gattung der Neuen Musik ab den 1950er Jahren in Köln entstand, in Verbindung gebracht wurde, inhaltlich aber nichts mit ihr gemein hatte. Vgl. Kap. 4.7.5. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Model (abgerufen am: 12.01.2020). Dieser Begriff ist wiederum bereits durch den Musikjournalisten Rolf-Ulrich Kaiser im Jahre 1969 postuliert worden. Kaiser 1969, S. 148. Hütter, Ralf: Elektronischer Lebensstil – Ralf Hütter im Interview mit Dankmar Isleib, Musikexpress, 1981, https://www.thing.de/delektro/www-eng/kw5-81.html (abgerufen am: 03.01.2021).

1.4  Terminologische Unschärfe innerhalb der Popularmusik

Um dieser Unschärfe dennoch begegnen zu können, seien an dieser Stelle und auch im Fortlaufenden dieser Arbeit die Begriffe der »elektronischen Popularmusik« respektive »populäre elektronische Musik« ins Feld geführt, denen – angelehnt an den Terminus der Popularmusik und Genre-Bezeichnungen bewusst außen vorlassend – als kleinstes gemeinsames Vielfaches die strukturelle Konnotation innewohnt, dass es sich hierbei um populäre Musik handelt, die nahezu ausschließlich mit elektronischem Instrumentarium hergestellt worden ist oder der zumindest ein artifizieller elektronischer Sound zugrunde liegt. Da sich Kraftwerk mit »Autobahn« popmusikalischer kompositorischer Kriterien zuwandten – sei es nun in Form von repetierenden Hooklines, des Einsatzes von Sprache oder bedingt durch strukturelle Attribute wie die formale Unterteilung in Strophe und Refrain31 –, empfiehlt sich ferner zumindest für den Zeitraum ab Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre die Verwendung des Begriffs der »elektronischen Popmusik«. Angesichts des sich zeitlich danach abzeichnenden Siegeszuges der Musikelektronik im Bereich des Pop zulasten des bis dato in der Popmusik üblichen Instrumentariums von Gitarre, Bass und Schlagzeug kann aus heutiger Sicht aufgrund der mittlerweile omnipräsenten Komponente elektronischer Klanggenerierung, -bearbeitung und -memorierung im Pop eine terminologische Trennung zwischen Popmusik und elektronischer Popmusik allerdings kaum noch aufrechterhalten werden. Abschließend ist noch zu sagen, dass aus Gründen der Lesbarkeit in dieser Arbeit sämtliche Fachbegriffe, seien es beispielsweise Genres, Instrumentenfirmen oder -namen oder auch fachtechnische, zum Teil englische oder aus dem englischen eingedeutschte Termini ohne spezielle Kennzeichnung, in den Fließtext eingefügt werden – hierfür gibt es im popmusikwissenschaftlichen Diskurs auch keine einheitliche Regelung, die als Vorbild gelten könnte. Anführungszeichen werden in dieser Hinsicht nur verwendet, wenn es zum besseren Verständnis von terminologischen Definitionen dient, wenn Begriffe besonders hervorgehoben werden sollen oder wenn es dazu beiträgt, Missverständnisse im Fließtext zu vermeiden. Die einzigen typografischen Ausnahmen bilden Musikgruppen, die in Kapitälchen stehen, Albennamen, die kursiv geschrieben sind, und Musikstücke oder andere Titel, die in Anführungszeichen gesetzt sind. Ebenfalls zur besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit das generische Maskulin verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei

31

Diese Kriterien müssen nicht vollständig vorhanden sein. So gibt es beispielsweise immer wieder kommerziell erfolgreiche Kompositionen, die völlig auf Gesang verzichten oder formal auch keine Trennung zwischen Refrain und Strophe beinhalten. Gershon Kingsleys im Jahre 1969 erstmals veröffentlichtes Stück »Popcorn« ist hier sicherlich das beste Beispiel. Vgl. Kap. 3.6.4.

21

1 Einleitung

ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist. Dies soll jedoch keinesfalls eine Geschlechterdiskriminierung oder eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zum Ausdruck bringen. Außerdem wurden gelegentliche Tippfehler in den Originalzitaten zu Erhaltung des Leseflusses stillschweigend korrigiert.

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2 Voraussetzungen 2.1 Krautrock – zur Situation der Rockmusik Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland

Um die Entstehung Kraftwerks genauer verstehen zu können, ist es notwendig, sich zunächst einen Überblick über die soziokulturellen Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren zu verschaffen: Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die deutsche Kulturlandschaft brach. Während sich die Unsicherheit der Kriegsgeneration aufgrund ihrer verlorenen deutschen Identität in kultureller Hinsicht in den Banalitäten der Schlagermusik widerspiegelte, sozialisierte sich die Jugend primär durch die Rezeption der Musik der angloamerikanischen Besatzungstruppen, welche durch den US-amerikanischen Soldatensender American Forces Network (AFN) und den britischen Soldatensender British Forces Network (BFN) in die deutschen Haushalte transportiert wurde. So orientierten sich etwa die Jugendlichen in Norddeutschland respektive in der britischen Besatzungszone eher an der Beatmusik, im Süden beziehungsweise in der amerikanischen Besatzungszone hörten sie vor allem Rhythm & Blues und Jazz.32 Infolge des kulturellen Vakuums, das nicht zuletzt durch die unkritische Anlehnung der Bundesregierung an die Westmächte und einer nicht konsequenten Entnazifizierung unterfüttert wurde, entwickelte sich in den 1960er Jahren eine jugendliche Gegenkultur zur Vätergeneration, die, sich als Antipode zu eben jener und deren als spießig empfundenen Schlagermusik verstehend, die angloamerikanische Musik zunächst imitierte. Den Politikwissenschaftlern Kurt Sontheimer und Wilhelm Bleek zufolge entsprang diese Gegenkultur einer Generation, die, in den 1960er Jahren in das staatsbürgerliche Mündigkeitsalter eintretend, unbescholten vom Dritten Reich und dem nachfolgenden Wiederaufbau die »Selbstverständlichkeiten« der Gründergeneration der Bundesrepublik erstmals kritisch infrage stellte.33 Im Kern reihte sich dieser Konflikt in eine in den 1960er Jahren in San Francisco und New York entstandene und über London nach ganz Westeuropa transportierte Jugendprotestbewegung ein, der der ungezügelte Konsum der selbstzufriedenen und träge gewordenen Nachkriegsgeneration als Lebensziel nicht mehr ausreichte. Herauszuheben ist dabei, dass dieser von zunehmendem Unbehagen gegenüber der gesellschaftlichen und kulturellen Stagnation getriebenen und federführend aus Schülern höherer Schulen und Studenten bestehen32 33

Dedekind 2008, S. 27 f. Sontheimer / Bleek 2002, S. 54.

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2 Voraussetzungen

den Bewegung im Gegensatz zu den in der Öffentlichkeit auch als »Halbstarke« bezeichneten Jugendgruppierungen des vorhergehenden Jahrzehnts, wie den Rockern oder den Mods, eine neue, politische Qualität innewohnte. Zeichnete sich die Jugendrebellion der 1950er Jahre mehr durch eine adoleszente Auseinandersetzung mit der Vätergeneration als durch die Motivation zur gesellschaftlichen Veränderung der bestehenden kapitalistisch geprägten, westlichen Demokratiemodelle aus, verstand sich die Jugendbewegung der 1960er Jahre gerade in der diametralen Abkehr eben jener und öffnete sich dabei, nach »Unabhängigkeit vom konformistischen Druck der Gesellschaft«34 suchend, politisch wie kulturell östlich geprägten Alternativen. Musikalischen Ausdruck dieser politisch links verorteten Protestbewegung verliehen ab dem Jahr 1966 unter dem Begriff des Psychedelic Rock zunächst an­­ gloamerikanische Gruppen wie beispielsweise The Doors, The Grateful Dead, Pink Floyd oder der Gitarrist Jimi Hendrix. Auf dem Fundament der Rock- und Popmusik stehend, zeichnete sich dieses Genre durch eine Fokussierung auf den Parameter Klangfarbe aus, sei es durch das Experimentieren mit der Mehrspurtechnik, die elektronische Nachbearbeitung der Instrumente und des Gesangs durch künstliche Hallräume und Klangeffekte wie Echo, Phaser oder Flanger oder durch die Erweiterung des Klangspektrums durch Instrumente aus dem asiatischen und afrikanischen Raum. Darüber hinaus kam zum ersten Mal innerhalb der Rock- und Popmusik der Synthesizer zum Einsatz. Als Triebfeder fungierte damals der weitverbreitete und offen propagierte Konsum vorgeblich bewusstseinserweiternder Drogen wie LSD oder Cannabis: Zum einen war jener bewusstseinserweiternde Zustand häufig das Leitmotiv, welchem in textlicher und musikalischer Form Ausdruck verliehen werden sollte, zum anderen entstanden aber auch viele Kompositionen bereits unter Drogeneinfluss.35 Dies hatte beispielsweise zur Folge, dass auch die damals gängigen formalen Strukturen36 der Popmusik insbesondere bei Live-Auftritten durch lange (Kollektiv-)Improvisationspassagen aufgebrochen wurden. Obgleich  – wie so oft in der Geschichte der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren bis heute, in der angloamerikanische Trends und Entwicklungen angesichts der deutschen Identitätsproblematik aufgesogen und adaptiert wurden37  – auch

34 35 36 37

24

Mitscherlich 1966, S. 290. Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 564. In der Regel gestaltete sich der formale Aufbau der Rock- und Popsongs wie folgt: 1. Strophe, Refrain, 2. Strophe, Refrain, Mittelteil, verdoppelter Refrain. Dies bezieht sich besonders auf die deutschen Derivate des Liverpooler Merseybeats (später nur noch Beat genannt), mit denen Bands wie The Lords oder The Rattles Mitte der 1960er Jahre mehrfach die vorderen Plätze der deutschen Charts erobern konnten.

2.1  Krautrock – Rockmusik Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik

jene Transformation in der populären Musik zunächst nicht ohne Wirkung auf das deutsche Pendant blieb, vollzog sich in Westdeutschland gegen Ende der 1960er Jahre sowohl gesellschaftlich als auch kulturell eine individuelle, aus den Eigenheiten des Landes resultierende Entwicklung, die in ihrer Ambivalenz die ganze Hin- und Hergerissenheit der damaligen Generation zum Ausdruck brachte: Solidarisierte man sich einerseits mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung – letztendlich fühlte man sich ja auch als Teil der Jugendprotestbewegung –, führte andererseits der Vietnamkrieg dazu, dass die Vereinigten Staaten wesentlich kritischer bis hin zu offener Ablehnung betrachtet wurden und damit der USamerikanisch geprägte gesellschaftliche, politische und kulturelle westdeutsche Trabantenstatus ebenfalls auf den Prüfstand kam. Zur kritischen Reflexion kam außerdem, dass angesichts der geostrategischen Lage der Bundesrepublik als Frontstaat des Kalten Krieges die atomare Bedrohung wohl nirgendwo auf der Welt so unmittelbar zu spüren war wie in Deutschland – ein Faktor, der das Leben, wenn auch auf höchst unangenehme Art und Weise, zu einer seinesgleichen suchenden Erfahrung machte. In der Summe waren dies die Faktoren, die dazu führten, dass sich sukzessiv ein Bewusstsein einer eigenen, nicht nationalistischen, bundesrepublikanischen Identität herauskristallisierte, die sich kulturell an die Goldenen 1920er Jahre anknüpfen sah.38 So etwa beschreibt der Organist Hans Joachim Irmler der im Jahre 1970 gegründeten Band Faust die damalige Situation wie folgt: »Wir fanden es aber wichtig, dass es überhaupt wieder etwas Deutsches gibt  – ohne nationalistisch zu sein. Das hat damals alles einen gewissen Beigeschmack gehabt. Trotzdem haben wir durchaus auch die Tradition gesucht. Wir hielten das für einen wichtigen Aspekt unserer Kultur.«39 Für den Sektor der Unterhaltungsmusik hatte dies gegen Ende der 1960er Jahre zur Folge, dass sich zum Schlager, der trotz eines massiven Aderlasses zugunsten angloamerikanischen Rock- und Beat-Importen40 nach wie vor in den deutschen Haushalten zu vernehmen war, beispielsweise mit dem Free Jazz, vertreten durch Gunter Hampel oder Peter Brötzmann, oder dem durch Gruppen wie Floh de Cologne und Ton Steine Scherben hervorgebrachten Politrock neue Spielarten der Musik hinzugesellten, die über das hinaus gingen, was man bis dato aus England und Übersee adaptiert hatte.41 38 39 40 41

Vgl. Hütter, Ralf: AM DISKÖ MIT KRAFTWERK (Melody Maker), 1978, https://endlesskraft werk.tumblr.com/post/42928034993/am-diskö-mit-kraftwerk-melody-maker-november (abgerufen am: 08.02.2021). Zit. n. Hans Joachim Irmler in: Dedekind 2008, S. 70. An dieser Stelle sei auf einen näheren Blick auf die Hitlisten der damaligen Zeit verwiesen. Natürlich lässt sich der Ursprung des Free Jazz wie bei nahezu allen Genres des Jazz in den USA finden. Allerdings setzte durch ihn in den 1960er Jahren die Emanzipation des europäischen Jazz vom US-amerikanischen Pendant ein, welche in eigenständigen, den jeweiligen »nationalen

25

2 Voraussetzungen

Von besonderer Relevanz für diese Arbeit ist aber die Hervorhebung jener neuen Art von Rockmusik, die bald in England leicht verächtlich als Krautrock42 abgetan wurde, firmierten doch Kraftwerk in der musikjournalistischen Betrachtung ebenfalls unter diesem Überbegriff, obwohl sie sich wie viele andere in dieser Zeit aktiven deutschen Musiker durch diese taxonomische (Ab-)Qualifizierung diskreditiert fühlten.43 Trotz der Tatsache, dass unter diesem Terminus nachträglich in der medialen Reflexion fast jegliche Art der von zwischen Ende der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik entstandenen Rockmusik zusammengefasst wurde,44 was eine stilistische Differenzierung recht schwierig erscheinen lässt, hat sich dieser Begriff in der Musikwelt trotz aller Unzulänglichkeiten dennoch etablieren können – er hat in der heutigen Betrachtung im Zuge eines Mitte der 2000er Jahre einsetzenden Krautrock-Hypes allerdings eine terminologische Eingrenzung erfahren und steht nur noch für ein spezielles Segment deutscher Rockgruppen, das neben Kraftwerk Gegenstand dieser Untersuchung sein soll. Es hat sich dabei herausgestellt, dass die unter dieser Gewichtung zusammengefassten Bands in ihrer Anfangszeit deutliche Verbindungen zum bereits angesprochenen Psychedelic Rock aufweisen. Dabei muss dem Umstand, dass in diesem Genre der Parameter Klangfarbe oder der Sound im Allgemeinen eine exponierte Stellung innehat, zum Verständnis dieser Arbeit unbedingt Rechnung getragen werden – nicht nur, weil der Sound in den 1960er Jahren eine neue Wertigkeit erfahren hatte, sondern weil er auch im Hinblick auf seine terminologische Bedeutung einer Transformation dahingehend unterzogen wurde, dass er in der heutigen Zeit in seinen ganzen Diversifikationen durch die nahezu unendlichen Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung und -manipulation in der populären (elektronischen) Musik  – deren geschichtliche Entwicklung durch Kraftwerk maßgeblich geprägt worden ist – vielleicht die herausragendste Bedeutung aller musikalischen Parameter hat.

und regionalen Eigenheiten« geschuldeten Stilen ihren musikalischen Ausdruck fand. Berendt 2007, S. 36 ff. 42 Die Herkunft dieses Begriffs ist nicht restlos geklärt. Zum einen vereinnahmt die zu den ersten Protagonisten dieser Stilrichtung gehörende Münchner Formation Amon Düül die Vorlage dafür für sich, da sie eines ihrer Stücke mit »Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf« betitelte. Zum anderen verortet man die Urheberschaft bei dem britischen Radio-DJ John Peel, der dies von der Bezeichnung der deutschen Soldaten durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg als Krauts ableitete. Dedekind 2008, S. 15 ff. 43 Ebd. 44 Vgl. Klatte 2006. Hier werden weit über 2000 Krautrock-Bands verzeichnet.

26

2.2  Exkurs: Studiotechnik und der Parameter Sound

2.2 Exkurs: Der Einfluss der Studiotechnik auf den Wandel des Stellenwerts des Parameters Sound

Was bedeutet der Begriff »Sound«? Der deutschen Übersetzung nach bieten sich mehrere Möglichkeiten: Im physikalischen Sinne bedeutet der Begriff Schall, im musikalischen Sinne Geräusch, Ton oder auch Klang. Darüber hinaus wird »Sound« in vielen Publikationen auch als Synonym für den Parameter Klangfarbe verwendet; es handelt sich hierbei offenbar um einen mehrfach konnotierten und daher auch unscharfen Begriff. Den Versuch hinsichtlich einer Zusammenfassung der zahlreichen Facetten des Begriffs liefern Peter Wicke, Wieland und Kai-Erik Ziegenrücker, indem sie diesen Terminus in der Rock- und Popmusik auch als »zentrales strukturelles und ästhetisches Kriterium«45 des Musizierens definieren. Ihrer Ansicht nach beinhaltet Sound über die ursprüngliche Bedeutung hinausgehend die Gesamtheit aller die sinnliche Qualität von Musik bestimmenden Faktoren, die sowohl die technische Seite als auch die Spieltechnik, die Phrasierung und die Spielweise, das Arrangement oder strukturelle kompositorische Elemente umfassen: »Die damit verbundene Umwertung der musikalischen Parameter auf ihre klangsinnliche Qualität hin hat ausgehend von der Rockmusik mehr oder weniger auch andere Formen der zeitgenössischen populären Musik erfaßt, so dass dann häufig nicht mehr von Stil, sondern stattdessen von Sound gesprochen wird.«46

Im Hinblick auf diese Untersuchung erfordern die Gedanken Wickes und Ziegenrückers eine nähere Betrachtung: Da es sich bei Kraftwerk um eine elektronisch generierte Musik handelt, ist vor allem der technische Aspekt des Begriffs von Interesse. Dabei ist es notwendig, die Entwicklung der Studiotechnik näher zu beleuchten, da durch sie erst der artifiziell technisierte Sound Kraftwerks realisierbar wurde beziehungsweise die Klangwelt Kraftwerks analog zur zunehmenden Raffinesse der elektronischen Klangerzeugung und -bearbeitung im Kontext des Tonstudios immer als ein Abbild des technischen Status quo geriet – nicht nur in Bezug auf die Klangfarbe, sondern auch auf das Arrangement und die Komposition. Dies betrifft gleichfalls die von Wicke und Ziegenrücker ins Feld geführte Bedeutung des Sounds hinsichtlich der Spielweise und der Phrasierung, da im Vergleich zur herkömmlichen Rock- und Popmusik in den 1970er Jahren, bei denen diese Faktoren weitgehend von den motorischen Fähigkeiten der Musiker abhingen, Kraftwerk im Laufe dieser Dekade bereits sukzessiv 45 Wicke / Ziegenrücker 2001, S. 502. 46 Ebd.

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2 Voraussetzungen

maschinelle Steuerung einsetzte und dadurch eine neue, entmenschlichte Präzisionsästhetik ins Leben rief. 2.2.1 Die Entwicklung der Studiotechnik Die Historie dieser Technik lässt sich – beginnend mit der ersten Schallaufzeichnung durch den von Thomas Edison erfundenen Phonographen im Jahre 1877 – im 20. Jahrhundert grob in zwei zeitgleiche Abschnitte aufteilen: Der Erste etwa bis zum Jahre 1950 währende zeichnete sich durch die sukzessive Raffinesse der Tonaufzeichnungsmöglichkeiten aus. So entwickelte Emile Berliner aus Edisons Phonographen, bei dem die Schallwellen noch in Stanniolwalzen hinein geschnitten wurden, im Jahre 1887 das Grammophon, welches nach Hartgummi schließlich im Jahre 1898 Schellack als Tonträger verwendete – ein Material, das bis zur Einführung des Vinyls im Jahre 1948 als Industriestandard der mechanischen Schallaufzeichnung galt. Die Möglichkeit der Konservierung von Klang beziehungsweise die Ausstrahlung dessen durch den Äther hatte zur Folge, dass zum einen Musik nun unabhängig von zeitlicher Determinierung abrufbar war. Zum anderen generierte die sich ereignende Verschiebung der Musikrezeption von der konzertanten Aufführung zum Rundfunk oder wie auch immer gearteten Tonträger hin gleichwohl ein neues Publikum, das am Konzert- und Bühnenbetrieb bis dato nicht partizipierte – ein neuer Markt entstand, der mit den entsprechenden Kompositionen bedient werden wollte.47 Die neuen technischen Möglichkeiten hatten aber nicht nur eine neue Musik zur Folge, sondern auch neue Klänge: So konnten etwa klangliche Manipulationsmöglichkeiten innerhalb dieses Memorierungsprozesses – wenn auch nur geringfügig – in Form von unterschiedlichen Mikrofonierungsvarianten, der Filterung einzelner Frequenzbereiche oder durch die Einbindung von Hall vorgenommen werden, was ein neues artifizielles Klangbild zur Folge hatte, das sich von der bloßen Schallaufzeichung löste. Das Wechselverhältnis zwischen Klang und Klangerzeugung war nun nicht mehr an die akustischen Gegebenheiten des Aufführungsortes gebunden, sondern programmatischen Zwecken wie den Aufnahmemöglichkeiten des Tonstudios unterworfen.48 Entscheidend in dieser Hinsicht war die elektromagnetische Tonbandaufzeichnung, die in Gestalt des 1898 von Valdemar Poulsen erfundenen Telegraphons über die Entwicklung des Magnetophons im Jahre 1935 durch die Firma AEG in Gestalt des von der Firma Ampex 1948 entwickelten Modell 200 schließlich Ein47 48

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Jungk 1971, S. 11 f. Wicke 2001, S. 27.

2.2  Exkurs: Studiotechnik und der Parameter Sound

zug in die Tonstudios hielt. Der Vorteil gegenüber der Schallplatte lag infolge einer weitgehend verzerrungsfreien Wiedergabe in einer wesentlich besseren Klangqualität. Analog zur tontechnischen Optimierung änderte sich aber auch der Anspruch der Rezipienten, die »Nebengeräusche, geringe Ungenauigkeiten im Spiel, Unebenheiten im Klang«49 nun nicht mehr akzeptierten, was ebenfalls zur Professionalisierung und Perfektionierung der Aufnahmequalität beitrug. Ferner bot dieses Verfahren im Unterschied zur mechanischen Aufzeichnung den Vorteil, dass im Falle des Misslingens einer Aufnahme das Tonband entweder gleich gelöscht oder – um lediglich einen Teil der Aufnahme zu korrigieren – zu einer bestimmten Stelle zurückgespult, dann geschnitten und schließlich mit einem neuen Tonband verklebt werden konnte, was den Aufnahmeprozess sowohl vereinfachte als auch verbilligte, da der Rohlingausschuss nahezu entfiel. Vor allem aber ermöglichte die im Jahre 1955 erfolgte Weiterentwicklung in Form des Mehrspuraufnahmeverfahrens, erstmals massiv in die Klangformung einzugreifen und die bis dato gängige Aufnahme in Echtzeit auszuhebeln. Zwar experimentierte bereits der amerikanische Gitarrist Les Paul50 im Jahre 1948 mit dem sogenannten Sound-on-Sound-Verfahren, in dem er zunächst eine Schallplatte bespielte und diese dann zusammen mit einer weiteren Einspielung auf eine neue Schallplatte aufzeichnete,51 die Möglichkeiten der Mehrspuraufzeichnung jedoch gingen weit darüber hinaus: Galten Aufnahmen von Kompositionen, die den Hörern bereits aus der Konzertdarbietung bekannt waren, eher als Dokumentation oder Konservierung derselben, ermöglichte das Mehrkanalverfahren, im Studio ein musikalisches Produkt zu schaffen, das auf der Bühne nicht mehr zu reproduzieren war. Das Konglomerat aus Entdeterminierung der zeitlichen Ebene sowie weitgehend verlustfreier Aufnahme und Wiedergabe eröffnete den Musikschaffenden die Möglichkeit artifizielle Klangtexturen zu kreieren, die mit dem ursprünglichen, aus dem Aufführungskontext entsprungenen musikalischen Vorbild nur noch wenig gemeinsam hatten. War in der Rock- und Popmusik das musikalisch Erfahrbare ehedem immer die zeitlich unmittelbar erfolgende Synthese aus dem Zusammenspiel aller Musizierenden, offenbarte sich jetzt die Möglichkeit, Instrumente sukzessiv aufzuzeichnen respektive in Overdubbing-Verfahren einzelne Spuren zu revidieren. Aufnahmeprozesse konnten so quasi unbegrenzt wiederholt werden, bis das gewünschte klangliche Ergebnis erreicht war. Ferner konnten, da die Mehrspurtechnik sich beispielsweise in den 1960er

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Jungk 1971, S. 72. Bürgerlich Lester William Polfus. Wicke 2011, S. 67.

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2 Voraussetzungen

Jahren größtenteils auf vier Spuren beschränkte,52 einzelne Spuren auf eine einzige zusammengefasst werden, womit der Übereinanderschichtung von Klängen lediglich durch die in der Analogtechnik noch vorhandene, zwangsweise gleichzeitig erfolgende Addition von Rauschen in klangqualitativer Hinsicht Grenzen gesetzt wurde. Als Resultat der Etablierung einer Konzertkultur in den 1960er Jahren gab es außerdem eine steigende Nachfrage an externen, live einsetzbaren Klangbearbeitungsmöglichkeiten, so dass eine Fülle von (Klein-)Unternehmen entstanden, die diesen neuen, prosperierenden Markt mit zahlreichen Entwicklungen bedienten. Während man sich gegen Anfang der Dekade weitgehend durch die zeitliche Verzögerung des Eingangssignals auf die Erzeugung von künstlichen Echo- und Hallräumen beschränkte, erschienen ab Mitte der 1960er Jahre auf dem Markt sukzessiv elektronische Effektgeräte, die den Klang massiv aus dem Kontext des Abbildens natürlicher Akustik heraushoben. Eine Vorreiterrolle spielte dabei der omnipräsente Einsatz der E-Gitarre, welche durch die elektrische Verstärkung bereits in den 1950er Jahren für neue Klänge sorgte und innerhalb des Instrumentariums der Rock- und Popmusik zunächst den größten Anwendungsbereich hinsichtlich der Klangmanipulation bot. Neben der Verzerrung des Signals und der Filterung des Frequenzspektrums wie beispielsweise durch das WahWah kamen auch spektralmodulierende Prozessoren wie Flanger oder Phaser zum Einsatz. Die Verwendung dieser Geräte wurde schließlich gegen Ende der 1960er Jahre auch auf andere Instrumente wie dem Schlagzeug oder dem Gesang bis hin zur Spektralmodulation der Gesamtsumme ausgedehnt – gerade letztere stellt dabei ein Klangstereotyp der damaligen Zeit dar. Durch den Einsatz von Kompressoren beziehungsweise der Manipulation der Dynamik erhielten die Produktionen außerdem ein präsenteres und druckvolleres Klangbild. Infolge dieser immer raffinierteren studiotechnischen Manipulationsmöglichkeiten und Aufnahme- sowie Produktionsverfahren geriet das Studio zunehmend in den Vordergrund, so dass es mit Beginn der 1970er Jahre die Funktion des zentralen, klanggenerierenden (Über-)Instruments übernahm. Zwei hieraus resultierende Aspekte sind dabei besonders hervorzuheben, die in dieser Arbeit noch mehrfach zu diskutieren sein werden: Zum einen kristallisierte sich die Wertigkeit der Pro52

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Das von der Gruppe The Beatles im Jahre 1967 veröffentlichte Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band wurde mit einer 4-Spur-Bandmaschine aufgenommen. Im Folgenden wird in dieser Arbeit aus Gründen der Lesbarkeit für »The Beatles« die im allgemeinen Sprachgebrauch gängige Abkürzung »Beatles« verwendet. Martin / Hornby 1979, S. 150. Allerdings existierten seit dem Jahre 1957 in den USA bereits 8-SpurBandmaschinen der Firma Ampex. Im Jahre 1967 stellte Ampex mit der AG-1000 bereits eine 16-Spur-Bandmaschine vor. History of Recording: Ampex Ag-1000, https://www.historyofrecor ding.com/ampexag1000.html (abgerufen am: 06.02.2021).

2.2  Exkurs: Studiotechnik und der Parameter Sound

duzenten und Tontechniker für das musikalische Endprodukt als das zunehmend maßgebende Element heraus, zum anderen verschoben sich die Anforderungen an die Musiker von der Beherrschung des jeweiligen Instruments in Richtung der Handhabung der Studiotechnik, wodurch gegen Ende der 1960er Jahre ein neuer Musikertypus entstand, der die Grenzen zwischen Produzent und Musiker verwischen, wenn nicht  – gerade im Hinblick auf die populäre elektronische Musik – auflösen sollte. 2.2.2 Der spannungsgesteuerte Synthesizer und Switched-On Bach Die Historie der Studiotechnik wäre allerdings nur unzureichend beschrieben, würde man das Kapitel des Instrumentenbaus ausklammern, vor allem, was die Generierung von Klängen mittels Elektrizität betrifft: Zwar versuchte man im Zuge der Etablierung der Elektrizitätslehre als Teilwissenschaft bereits vor mehr als 250 Jahren elektrische Krafteinwirkungen musikalisch zu nutzen, die verschiedenen Konzepte führten jedoch aufgrund ihrer technischen Unzulänglichkeiten und der daraus resultierenden Nichtbeachtung durch die damaligen Komponisten lediglich ein Randdasein als Kuriosa und spielen daher in der musikhistorischen Betrachtung eine eher untergeordnete Rolle.53 Auch die ernsthafteren Versuche im 20. Jahrhundert wie das Dynamophon von Thaddeus Cahill im Jahre 1906, das Theremin von Lev Termen im Jahre 1920 sowie das Trautonium von Friedrich Trautwein im Jahre 1930 respektive dessen Weiterentwicklung zum Mixturtrautonium54 durch Oskar Sala 1953 konnten sich in der Musikhistorie nur bedingt behaupten, obgleich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter vielen zeitgenössischen Komponisten eine hinsichtlich der technischen Entwicklung durchaus affirmative Anfangseuphorie vorherrschte. Ausgehend von Ferruccio Busonis Buch Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst im Jahre 1907, das sich auf die neuen Klangmöglichkeiten von Cahills Dynamophone stützte,55 war es vor allem Edgar Varèse, der ab 1927 zunächst mit René Betrand und später ab 1934 mit Lev Termen an der Entwicklung eines neuen, elektroakustischen Instruments arbeitete, ohne diese allerdings zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen.56 Trotz allem findet sich aber die Verwendung der Ondes Martenot, eines Tasteninstruments, welches hinsichtlich der Tonerzeugung dem Theremin ähnelte, in 53 54 55 56

Ruschkowski 1998, S. 15 ff. Diese Auflistung ließe sich noch um einige andere Instrumente erweitern. Näher Interessierten sei diesbezüglich folgende Publikation empfohlen: Ruschkowski, André: Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen, Stuttgart 1998. Frisius 2002, S. 209. Nanz 1994, S. 1329 f.

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2 Voraussetzungen

einigen seiner Werke wieder. Neben Varèse nutzten unter anderem auch Arthur Honegger und Olivier Messiaen die Ondes Martenot.57 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerieten diese Instrumente allerdings ins Hintertreffen und wurden spätestens durch die von Karlheinz Stockhausen initiierte ideologische Beschränkung des Materials auf Sinustöne ab 195358 von vielen zeitgenössischen Komponisten verächtlich als elektronische Spielinstrumente diskreditiert und nahezu völlig ignoriert.59 Als nachhaltigste Neuerung indes sollte sich das Prinzip der Spannungssteuerung zur Erzeugung von elektronischen Klängen erweisen, welches bereits ab Mitte der 1950er Jahre durch den Kanadier Hugh Le Caine aufgegriffen wurde. Da dieser seine Instrumente in erster Linie für sich selbst konstruierte und sich der Realisation einer Serienfertigung durch größere Musikfirmen immer verweigerte,60 blieb der durchschlagende Erfolg jedoch den US-Amerikanern Donald Buchla und vor allem Robert Moog vorbehalten, die als erste Mitte der 1960er Jahre spannungsgesteuerte Synthesizer in Serie anfertigten: Bei beiden Herstellern handelte es sich dabei um ein modular aufgebautes, subtraktives SynthesizerSystem, welches aus spannungsgesteuerten Oszillatoren, Hoch-, Tief- und Bandpassfiltern sowie Verstärkern bestand, die durch diverse Spannungsprozessoren wie etwa Hüllkurvengeneratoren moduliert werden konnten. Dass Robert Moog heutzutage als Erfinder des Synthesizers gilt,61 obwohl Donald Buchla einige essenzielle Komponenten seines Synthesizer-Systems wie den Sequenzer oder den spannungsgesteuerten Filter ein bis zwei Jahre vor Moog entwickelte,62 lag neben einer cleveren Marketingstrategie vor allem daran, dass mit Walter Carlos einer seiner ersten Klienten ein Album mithilfe des Moog-Modular-Synthesizers veröffentlichte, das die Geschichte der Popularmusik revolutionieren sollte. Carlos beriet Robert Moog seit seiner Arbeit als Toningenieur im Gotham Recording Studio in New York im Jahre 1964. Die aus dieser Kooperation entstandene Idee einer Festfilterbank sollte die Grundlage für die Imitation von Orchesterinstrumenten durch elektronische Klänge darstellen und die Realisation einer von Walter Carlos, Rachel Elkind und Benjamin Folkman geplanten Adaption von Kompositionen Johann Sebastian Bachs durch das Modularsystem von Moog ermöglichen. Warum gerade barocke Kompositionen zur Demonstration der

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Ruschkowski 1998, S. 53. Morawska-Büngeler 1988, S. 33. Ungeheuer 1996, S. 4 f. Becker 1990, S. 15. Moog verwendete den Begriff Synthesizer in Anlehnung an den RCA-Synthesizer das erste Mal im Jahre 1966. Pinch / Trocco 2002, S. 67. Ruschkowski 1998, S. 122 f.

2.2  Exkurs: Studiotechnik und der Parameter Sound

Klangfülle des Moog-Systems dienen sollten, beschreibt Folkman wie folgt: »On the face of it, electronic music has such a great deal to offer to Bach: Many baroque characteristics, such as crisp, bright sonorities, terraced dynamics, and the high relief of voices, are among the most idiomatic features of electronic music.«63 Die mit Switched-On Bach betitelte Einspielung wurde zwischen den Jahren 1966 und 1968 in Carlos’ Heimstudio in New York realisiert: Hierzu wurden die einzelnen Stimmen von Bachs Inventionen, Präludien und Fugen mit einer separaten Klangfarbenschaltung versehen, über eine spannungsgesteuerte Tastatur eingespielt und währenddessen in einigen Klangparametern permanent leicht variiert, um den Eindruck des bis dato immer noch meist als statisch empfundenen Klangcharakters elektronisch generierter Musik zu vermeiden.64 In Ermangelung polyphoner Klangerzeugung wurden alle Stimmen nacheinander eingespielt und durch eine 8-Spur-Bandmaschine zusammengefügt. Je nach spieltechnischer Komplexität erfolgte die Einspielung mancher Stimmen mit halber Geschwindigkeit, um maximale Präzision zu erhalten; spezielle Klangeffekte wurden sogar Ton für Ton zusammengeschnitten. Als das Ergebnis dieser Arbeit 1968 auf CBS veröffentlicht wurde, löste es einen Synthesizer-Boom aus. Dass man aus heutiger Sicht den Klangcharakter der Produktion eher als Synthesizer-Klischee aburteilen würde, das häufig an die Hintergrundmusik von Computerspielen der 1970er und 1980er Jahre erinnert, ist nicht unbedingt den einzelnen, bei näherer Betrachtung durchaus interessanten Klangfarben anzulasten, sondern vielmehr der Tatsache, dass bei der Abmischung mit der weitgehenden Absenz künstlicher Räume auch auf ein artifizielles Klangideal verzichtet wurde, das heute Produktionsstandard ist und den Rezipienten damit als normal erscheint. Trotz allem stellte diese neue Art von Sound im Vergleich zu den bis dato angefertigten elektronisch generierten Kompositionen eine Revolution dar und führte dazu, dass Switched-On Bach mit über einer Million Einheiten lange Zeit die meistverkaufte Klassik-LP aller Zeiten war.65 Infolge des großen kommerziellen Erfolgs von Switched-On Bach kam es zu einer Fülle von elektronischen Adaptionen klassischer Musik; neben Carlos sei hier auch der Japaner Isao Tomita mit seiner Moog-Realisierung von einigen Kompositionen Debussys sowie von Mussorgskys Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung genannt. Gleichfalls begann sich auch die Popmusikindustrie für den Moog-Synthesizer zu interessieren, so dass neben Firmen wie CBS, Electra oder NBC auch bald Rockstars wie George Harrison, Mick Jagger oder Keith Emerson Modularsysteme bei 63 64 65

Folkman, Benjamin: Bach a la Moog, im Booklet zur CD Switched-On Bach, New York 1968, S. 3. Becker 1990, S. 8. Ruschkowski 1998, S. 113.

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2 Voraussetzungen

Moog in Auftrag gaben.66 Der Erfolg des Synthesizers Ende der 1960er Jahre muss aber auch im Kontext des damaligen technikfokussierten Zeitgeistes der Nachkriegsjahre gesehen werden, was zum einen aus der immer schneller voranschreitenden technischen Entwicklung resultierte – an dieser Stelle sei vor allem an die bahnbrechende Erfindung des Transistors erinnert  –, die für eine zunehmende Durchsetzung des Alltagslebens in Form von technischen Geräten und Hilfsmitteln sorgte. Zum anderen führte auch der Rüstungswettkampf der Vereinigten Staaten von Amerika mit der Sowjetunion, in dessen Zuge vonseiten der Regierungen große Gelder in die Entwicklung militärischer Technologien – sei es im Bereich der vor allem propagandistisch wichtigen zivilen Raumfahrt67 oder auf dem Feld der Waffentechnologie – investiert wurden, in seiner imageträchtigen medialen Ausschlachtung für einen affirmativen Fortschrittsglauben in der Gesellschaft.68 In der Folge dieser Technikbegeisterung ist es nicht weiter verwunderlich, dass jeder, der nicht als musikalisch rückständig gelten wollte, sich seinen finanziellen Mittel entsprechend ein solches Instrument anschaffen musste.69 Der Synthesizer war jedoch auch nicht unumstritten. Im Zuge der Umweltbewegung zu Beginn der 1970er Jahre gab es gleichfalls kritische Positionen in Bezug auf die Implementierung von Studioelektronik, primär seitens des politisch links stehenden Spektrums. Gerade innerhalb der deutschen Rockmusikszene, die im Vergleich zu anderen Ländern besonders stark politisch aufgeladen war, sahen viele im Synthesizer ein Symbol für die Entmenschlichung von Musik.70 Dass viele Musiker nicht nur in Deutschland, sondern weltweit den Synthesizer lediglich additiv zum gängigen Instrumentarium einsetzen, ist daher neben den Hürden eines vorauszusetzenden Technikverständnisses zur Bedienung des Gerätes auch eine Folge der mangelnden Akzeptanz reiner SynthesizerMusik zu Anfang der 1970er Jahre. Diese Vorbehalte konnten den Erfolg des In­­ struments allerdings nicht lange aufhalten, was weitreichende Folgen für die

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Becker 1990, S. 9. Maegraith 1969, S. 6. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass angesichts der Einsatzmöglichkeiten der Radiotechnologie sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich es diesbezüglich immer wieder Überschneidungen und Spin-Off-Effekte gegeben hat (an dieser Stelle sei die Erfindung des Voders respektive des Vocoders durch Homer Dudley im Jahre 1939 genannt, deren ursprüngliche Funktion aus der durch Bandpassfilterung erzeugten Kodierung und Dekodierung von Sprache zwecks verschlüsselter Nachrichtenübertragung bestand, sie später aber im musikalischen Kontext zur Verfremdung von Sprache eingesetzt wurden) und die an den betreffenden Entwicklungen beteiligten Ingenieure oft auf beiden Feldern gearbeitet haben; Buchla etwa arbeitete für die NASA, Lev Termens im Jahre 1926 konstruiertes Fernseh-Übertragungssystem wurde vom sowjetischen Militär eingesetzt. Ruschkowski 1998, S. 28. Ebd., S. 136. Wagner 2013, S. 92 f.

2.3  Die Pioniere des Krautrocks

gerade in der Entstehungsphase befindliche, von US-amerikanischen Firmen dominierte Synthesizer-Industrie hatte: Waren die großen Modularsysteme durch ihren hohen Preis nur für Studios, Plattenfirmen oder vermögende Musiker finanzierbar, begannen vor allem ab Mitte der 1970er Jahre japanische Firmen wie Yamaha, Korg oder Roland mit der Entwicklung von in ihren Funktionen restringierten, aber verhältnismäßig preiswerten, live auf der Bühne einsetzbaren Kompakt-Synthesizern und erschlossen sich damit die finanziell minder bemittelte, aber quantitativ große Gruppe der Amateurmusiker – ein weiteres Faktum, das zur Etablierung des Synthesizers auf dem Musikmarkt führte.

2.3 Die Pioniere des Krautrocks

Wie klingt Krautrock? Angesichts der mannigfaltigen Stilrichtungen, die diesem Begriff zugeordnet sind, kann diese Arbeit eine detaillierte Auflistung aller Vertreter und die Analyse ihrer Musik nicht leisten. Daher sollen im Folgenden nur die Gruppierungen beziehungsweise Strömungen diskutiert werden, die als erste das Fundament des Krautrocks legten und / oder aufgrund ihrer musikalischen Verwandtschaft einen Vergleich zu Kraftwerk nahelegen. Übergreifend lässt sich allerdings sagen, dass der diesen Kriterien entsprechenden Musik eine im angloamerikanischen Psychedelic Rock verhaftete, kollektive Improvisation zugrunde liegt, die als klangästhetisierende Basis jeglicher Art von Komposition diente. Die Komposition war somit unmittelbar an die musikinstrumentale Sozialisation gebunden: So wie Mitte der 1950er Jahre durch den Skiffle eine unter den Jugendlichen in England ausgelöste Begeisterung für das Musizieren einen Lernprozess zu immer ausgefeilterer Beherrschung des Instrumentariums in Gang setzte,71 führte zwangsweise auch das Nachspielen von angloamerikanischer Musik in der Bundesrepublik Deutschland zu einer ähnlich gearteten Entwicklung. Daraus resultierte, dass ein Großteil der Bands seinen Vorbildern dadurch hinterherhinkte und ihren musikalischen Erzeugnissen zuweilen eine gewisse Art von Anachronismus innewohnte, welche in der retrospektiven Betrachtung diese Musik aber auch besonders erscheinen lässt.72 Hinzu kam, dass viele Musiker unabhängig von instrumentalen Vorkenntnissen zum Teil einfach drauf los spielten, ohne eben durch die infolge dieser instrumentalen Vorbildung stattfindenden Assimilierung angloamerikanischer Musik beeinflusst zu sein, so dass man mit dem daraus folgenden Endprodukt vereinzelt musikalisches Neuland betrat. Von atona71 72

Bamberg 1989, S. 90 ff. Vgl. Cope 1996, S. 15 ff.

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2 Voraussetzungen

lem Lärm über »konventionelle« Rockmusik bis hin zum Free Jazz war je nach musikalischem Vermögen alles möglich. In der Summe ist aber zu konstatieren, dass es sich beim Großteil der dem Krautrock zugeordneten Produktionen eindeutig um Epigonen des Psychedelic Rock handelt. Die Popularität, die der Krautrock zu Anfang der 2000er Jahre erfahren hat, basiert daher nur bedingt auf der verspäteten Wertschätzung eines eigenständigen westdeutschen Erzeugnisses der Popularmusik: Im Fahrwasser der Wiederentdeckung des Krautrocks durch einige Musiker aus der zu diesem Zeitpunkt in England populären Indie­ rockszene73 entwickelte sich vielmehr ein opportuner, medial propagierter Hype, bei dem die eigentliche Musik nur als Staffage diente. Der Bassist der Gruppe Kraan, Hellmut Hattler äußerte sich dazu folgendermaßen: »Es ist in Mode gekommen, sich darauf zu berufen, und das wird sich auch wieder ändern. Diese Zeit wird heute ein Stück weit verklärt.«74 Als Ausgangspunkt der Betrachtung des Krautrocks soll zunächst die aus der Kollektivimprovisation entstandene Musik weitgehend ohne instrumentale Vorbildung dienen, ist sie doch die musikideologische Basis der Münchener Band Amon Düül respektive deren Aufspaltprodukt Amon Düül II, die sich als erste Vertreter des Krautrocks in der popmusikalischen Landschaft der Bundesrepublik behaupten konnten und daher auch als erste die Möglichkeit erhielten, ihre Musik auf Vinyl zu bannen. 2.3.1  Amon Düül Die Band Amon Düül wurde als lose Formation 1967 in Herrsching bei München von einer Künstlerkommune gegründet. Ihre Musik begriffen die Mitglieder als kollektive Erfahrung, bei der sich jeder Musiker ohne Gewichtung von musikalischen Fähigkeiten gleichberechtigt einbringen konnte.75 Aufgrund der aus diesem Konzept resultierenden musikalischen Limitierung und der ob dieses Zustandes zunehmenden Unzufriedenheit einiger Bandmitglieder spaltete sich die Band nach einigen Konzerten im Jahre 1968 in die Gruppen Amon Düül und Amon Düül II auf, die fortan unabhängig voneinander auftraten. Ein Jahr darauf veröffentlichten die an der Kollektivimprovisation festhaltenden Amon Düül das Album Psychedelic Underground. Die einzelnen, sich über einen Zeitraum von knapp drei bis über 17 Minuten erstreckenden Stücke bestehen konzeptbedingt primär aus auf einem ostinaten Grundton basierenden Improvisationen, die von 73 74 75

36

Dedekind 2008, S. 11 ff. Ebd., S. 13. Schober 1979, S. 28.

2.3  Die Pioniere des Krautrocks

vereinzelt auftretenden, mantraartigen Gesängen kontrastiert werden. Allerdings resultiert aus der gleichberechtigten Partizipation aller Bandmitglieder am Schaffensprozess auch ein systemimmanentes Problem: So stellt sich neben der vordergründig aus rhythmischen Ungenauigkeiten bestehenden musikalischen Limitierung der Musiker dem Hörer in Ermangelung einer wahrnehmbaren musikalischen Struktur, einer wiederkehrenden Melodik und dem weitgehenden Verzicht auf Harmonik vor allem eine Eintönigkeit dar, die infolge kaum vorhandener Spannungsbögen durch immer wiederkehrende, im 4/4-Takt stehende Percussionpattern dominiert wird. Ebenfalls kann die Klangqualität mit angloamerikanischen Produktionen nicht mithalten, was fehlenden finanziellen Mitteln respektive der damit verbundenen begrenzten Studiozeit geschuldet ist. Unzweifelhaft ist dieses Album primär als musikalisches Symbol des gesellschaftlichen Umbruchs in der Bundesrepublik gegen Ende der 1960er Jahre zu sehen, welches eher das damalige drogenbeeinflusste76 und kommunengeprägte Lebensgefühl repräsentiert, als dass es sich durch herausragende musikalische Innovationen einen Platz in der Musikgeschichte erobern konnte. Amon Düül lösten sich kurz nach Veröffentlichung des Albums auf. Das ebenfalls 1969 veröffentlichte und durch die Musik der kalifornischen Band The Grateful Dead77 inspirierte Album Phallus Dei der Gruppe Amon Düül II gestaltete sich hingegen wesentlich ambitionierter. Auch wenn die musikalische Textur ebenfalls durch lange Improvisationsketten bestimmt wird, entstehen sowohl durch Mediantensprünge harmonische als auch durch perkussive Verdichtung und Ausdünnung bis hin zur Auflösung des Metrums durch die beiden zeitgleich spielenden Schlagzeuger rhythmische Spannungsbögen, die den Stücken eine Vitalität verleihen, welche Psychedelic Underground im Vergleich weitgehend vermissen lässt. Trotz aller experimentellen Freiheit lassen sich sogar vereinzelt popmusikalische Segmente in Form von Strophen und Refrains erkennen. Ein deutlicher Variantenreichtum ist gleichfalls hinsichtlich der Klangfarben zu vernehmen, der sich zum einen durch die Verwendung von Sprechstimme sowie Falsettgesang in vokaler Hinsicht als auch durch den Einsatz von Effektgeräten wie Echo oder Phaser in instrumentaler Hinsicht manifestiert, die im internationalen Vergleich zum damaligen Zeitpunkt allerdings schon längst Produktionsstandard waren. Betrachtet man die Gitarrensoli, fällt ebenfalls auf, dass sich der Tonvorrat aus der damals in der Rockmusik üblichen Pentatonik sowie der mit ihr verwandten Bluestonleiter zusammensetzt. Ein ähnliches Bild bietet sich hinsichtlich der synkopierten Schlagzeug-Pattern, die 76 77

Dedekind 2008, S. 133 ff. Schober 1979, S. 51.

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2 Voraussetzungen

stark an das Spiel des bei dem US-amerikanischen Gitarristen Jimi Hendrix mitwirkenden Schlagzeugers Mitch Mitchell erinnern. Allerdings kann die instrumentale Qualität der Musiker mit ihren angloamerikanischen Vorbildern genauso wenig mithalten wie die Klangqualität – letzteres Manko ist wie schon bei Psychedelic Underground den geringen finanziellen Möglichkeiten der Band respektive der Plattenfirma geschuldet, die für die Aufnahme des gesamten Albums lediglich eine Studiozeit von zwei Tagen zuließen. Diese Unzulänglichkeiten gelten aber als exemplarisch für nahezu alle deutschen Psychedelic-Rock-Produktionen um das Jahr 1970 herum und bieten einen möglichen Erklärungsansatz, warum der Krautrock aus heutiger Sicht so anders als die gängigen internationalen Produktionen klingt. Das Besondere in der Musik lässt sich allerdings nicht allein darauf reduzieren: Bei der Betrachtung des Krautrock muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass gerade die Unbedarftheit der westdeutschen Musiker zu einer wesentlich experimentelleren musikalischen Textur geführt hat, die im Vergleich zu der englischen Band Pink Floyd beziehungsweise deren in den Jahren 1968 und 1969 veröffentlichten Alben A Saucerful of Secrets und Ummagumma wesentlich ungeschliffener und abstrakter wirkt und über viele musikalische Konventionen der damaligen Zeit hinausgeht. Gerade den Klangmalereien von Pink Floyd oder beispielsweise den Improvisationsteilen der USamerikanischen Band The Doors schwingt immer ein gewisser Grad an strukturierender Musikalität mit, welche in einigen Krautrock-Produktionen manchmal einfach negiert wird. Man muss dabei aber berücksichtigen, dass der Psychedelic Rock gegen Ende der 1960er Jahre seinen Zenit schon dahingehend überschritten hatte, da zum einen der ihm ursprünglich immanente Underground-Habitus infolge der Vereinnahmung vieler seiner Elemente durch den musikalischen Massengeschmack verwässert wurde, zum anderen einige popmusikalische Fragmente adaptiert wurden. Diese Entwicklung lässt sich zeitversetzt dann auch im Krautrock verzeichnen. Während die ersten Veröffentlichungen gegen Ende des Jahres 1969 ein Ausdruck der musikalischen Emanzipation waren, setzte in der nachfolgenden Zeit eine auf jeglicher Ebene der Musik stattfindende Professionalisierung ein, sei es nun instrumentaler, kompositorischer oder marketingtechnischer Art, die den noch auf vielen Debütalben vorhandenen experimentellen Charakter nicht mehr zuließ. Davon zeugen die beiden von Amon Düül II in den Jahren 1970 und 1971 veröffentlichten Alben Yeti und Tanz der Lemminge. Ersteres klingt im Vergleich zu Phallus Dei instrumental bereits wesentlich versierter und aufgeräumter. Mag die rhythmische Präzision vielleicht noch auf die Reduktion auf nur einen Schlagzeuger zurückzuführen sein, lässt das Timing aller Musiker generell auf die Verbesserung ihrer instrumentalen Fähigkeiten schließen. Kompositorisch macht sich ebenfalls eine gewisse Reife bemerkbar:

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2.3  Die Pioniere des Krautrocks

Obgleich es immer noch vereinzelt ausschweifende Improvisationsstrecken gibt, sind die einzelnen Stücke nun formal wesentlich strukturierter. Auch aus dem produktionstechnischen Blickwinkel lässt sich eine Qualitätsverbesserung ausmachen: Das Album wirkt wesentlich homogener abgemischt und vermittelt dem Zuhörer durch die Verwendung diverser Hallräume ein artifizielles, räumlich größer erscheinendes Klangbild, als es noch bei Phallus Dei der Fall gewesen ist. Obwohl der englische Gesang ob seiner teutonischen Einfärbung keinerlei Zweifel an der deutschen Herkunft der Musiker zulässt, wodurch das musikalische Endprodukt trotz aller musikalischen Raffinesse zwar unfreiwillig aus dem angloamerikanischen Psychedelic-Kosmos heraussticht, nimmt die ausgereiftere Klangästhetik dem Album allerdings den Charme der früheren chaotischen Spontaneität und damit ein essenzielles Alleinstellungsmerkmal. Die Musikjournalistin Ingeborg Schober äußerte sich dazu wie folgt: »Kein Wunder, dass die Musik an Lebendigkeit verlor. Hatte man vor 1–2 Jahren noch über Energie und Textzitate gesprochen, so wurde nun stundenlang über diesen oder jenen Gitarrenlauf debattiert. Die Perfektion in der Musik kam dem deutschen Gemüt sehr entgegen, die VW-Nation machte sich daran, den artifiziellsten Sound der Welt auf die Bühne zu stellen.«78

Die Hinwendung zum Progressive Rock79 ist nicht zu überhören, mehrmals fühlt man sich an das im Jahre 1969 veröffentlichte Album In The Court of the Crimson King der englischen Band King Crimson erinnert. Eine Nähe, die den Vorwurf von Epigonalität nicht zurückweisen kann. Auf Tanz der Lemminge verschärfen sich die Tendenzen zum Progressive Rock, die sich durch eine Vielzahl an verschiedenen kleinteiligen, aneinandergereihten Mikrokompositionen innerhalb eines Stückes verdeutlichen lassen. Angereichert wird dies durch Mellotronähnliche Klänge sowie orientalische Einflüsse, die sich durch die Implementierung von Sitar und die Verwendung von osteuropäisch klingenden, aus kleinen und übermäßigen Sekunden bestehenden Skalen manifestieren. Obwohl Amon Düül II durch diese Alben erstmals internationale Reputation erfuhren und diese zum damaligen Zeitpunkt auch als erste deutsche Band für sich reklamieren konnten,80 muss man retrospektiv dennoch konstatieren, dass die wirklich eigenständigen, als genuin für den Krautrock geltenden Klangexperimente der Frühphase von Amon Düül II zugunsten einer Annäherung an den damals gängigen 78 79 80

Schober 1979, S. 151 ff. Zur Begriffsklärung siehe Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 560 f. Laut ihrer Plattenfirma urteilte der englische Melody Maker: »Die AMON DÜÜL II ist die erste deutsche Gruppe, die als eigenständiger Beitrag zur internationalen Popkultur angesehen werden kann.« Zit. n. Schober 1979, S. 105.

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2 Voraussetzungen

internationalen respektive angloamerikanischen Sound auf der Strecke geblieben sind. Nimmt man die Verkaufszahlen und Chart-Platzierungen von Kraftwerk und Tangerine Dream als Maßstab, blieb der internationale Durchbruch der Band versagt, ab Mitte der 1970er Jahre spielte sie auch im deutschen Musikgeschehen keine bedeutende Rolle mehr. 2.3.2 Die Kosmische Musik und das Ohr-Label von Rolf-Ulrich Kaiser Die beginnende Akzeptanz deutscher Rockgruppen wie Amon Düül II und ihre Behauptung auf dem nach wie vor von angloamerikanischen Importen dominierten Musikmarkt der Bundesrepublik ist auch eine Folge des Umstands, dass sich parallel dazu eine Industrie zu entwickeln begann, die mit Blick auf das vermeintlich kommerzielle Potenzial den deutschen Musikern einen infrastrukturellen Rahmen verschaffte, der es ihnen durch Konzerte, durch Präsenz in Funk und Fernsehen und natürlich durch Tonträger ermöglichte, sich auf dem im Umbruch befindlichen deutschen Musikmarkt zu etablieren. Als das für diese Entwicklung maßgebende Ereignis gelten die Internationalen Essener Song Tage, die im September des Jahres 1968 stattfanden.81 Das Konzept dieses Festivals war, durch die Einbindung international bekannter Acts wie Frank Zappa and the Mothers of Invention, Jimi Hendrix oder Pink Floyd möglichst viele Besucher anzuziehen, um so den im Rahmenprogramm gleichberechtigt eingebetteten neuen deutschen Bands wie beispielsweise Amon Düül oder Tangerine Dream ein großes Publikum bieten zu können.82 Mitinitiator und künstlerischer Leiter des Festivals war der Kölner Musikjournalist Rolf-Ulrich Kaiser, ein Verfechter der neuen deutschen Popmusikkultur, deren links geprägter ideologischer Überbau durch Kaisers Publikationen geliefert wurde. Auch wenn Kaiser durch seine Nähe zum LSD-Propagandisten Timothy Leary Anfang der 1970er Jahre zu einer kontrovers diskutierten Person wurde, sind seine Verdienste um die neue deutsche Popularmusik unbestritten, da er im Jahre 1969 den damaligen Direktor des Hansa Musikverlags, Peter Meisel, dafür begeistern konnte, mit ihm zusammen ein Plattenlabel zu gründen, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eben jene neuen Rockbands wie Tangerine Dream oder Floh de Cologne unter Vertrag zu nehmen, ohne dabei kommerzielle Interessen in den Vordergrund zu stellen. Dieses mit dem Namen »Ohr« betitelte Label gerierte sich dann auch schnell als Sammelbecken 81 82

40

Dieses Festival wird in der historischen Betrachtung oft als Geburtsstunde der deutschen Rockmusik angesehen. Dedekind 2008, S. 59 f.

2.3  Die Pioniere des Krautrocks

jeglicher Art von populärer Musik, so sie denn nicht dem von Kaiser verhassten deutschen Schlager oder der sich seiner Meinung nach bereits im Ausverkauf befindlichen Beatmusik entsprang.83 In einem Pressetraktat führt Kaiser selbst als einziges Kriterium an, dass »die Musik […] eine aktuelle Musik der neuen Generation [ist], die die ›involved‹ Generation genannt wird: neu, komplex und nicht mehr durch das Wort erlebend, politisch und sozial bewusst, weitgehend auf Veränderung unserer Gesellschaft drängend.«84 Das, was man bei aller, für die 68erGeneration typischen agitatorischen Rhetorik heutzutage jedoch vornehmlich mit dem Ohr-Label verbindet, ist die sogenannte »Kosmische Musik«, ein Begriff, der – von Kaiser geschickt in den Medien platziert – zum Synonym einer neuen Form von elektronischer Musik deutscher Prägung wurde, die aufgrund der manchmal eine ganze Plattenseite füllenden epischen Kompositionen und ihren weichen, meditativen Klangverläufen sowie dem weitgehenden Verzicht von Schlagzeug und Gesang als Vorläufer der Ambient Music85 gilt. Unter den da­­ runter zusammengefassten Bands verdienen im Hinblick auf den Vergleich mit Kraftwerk vor allem die Formationen Popol Vuh und Tangerine Dream eine nähere Betrachtung, da sie die ersten deutschen Musikgruppen waren, die Synthesizer einsetzten und sie aufgrund dessen den Nimbus haben, als Pioniere der elektronischen (Pop-)Musik zu gelten. 2.3.2.1 Popol Vuh Initiator und musikalischer Spiritus Rector von Popol Vuh war der studierte klassische Pianist Florian Fricke, der die Gruppe im Jahre 1970 in München gründete. Als essenziell für die anfängliche Musik der Band sollte sich der Kontakt Frickes mit dem Komponisten Eberhard Schoener erweisen, durch den Fricke das erste Mal in Berührung mit dem Moog-Modular-Synthesizer86 kam und der sich daraufhin unter dem Eindruck der Klangmöglichkeiten dieses Geräts selbst ein solches Instrument kaufte,87 welches die erste, noch im Gründungsjahr der Gruppe auf dem Label Liberty Records veröffentlichte Einspielung Affenstunde maßgebend beeinflusste. In Anbetracht der Tatsache, dass der Moog-Synthesizer 83 84 85 86 87

Kaiser 1969, S. 9 ff und 70 f. Zit. n. Rolf-Ulrich Kaiser in: Schwinn 1986, S. 15. Zur Begriffsklärung siehe Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 34. Schoener besuchte im Jahre 1969 Robert Moog in Trumansburg und kaufte einen Moog IIIp, den John Lennon kurz vorher zurückgegeben hatte. Schoener, Eberhard, http://www.eberhardschoener.com/Begeg/index.htm (abgerufen am: 23.07.2014). Zit.  n. Florian Fricke in einem Interview mit Rainer Blome, in: Blome, Rainer: Vom Moog zu Mozart: Florian Fricke, in: Keyboards 2/93, Augsburg, S. 18. Christoph Wagner schreibt dazu, dass Frickes vermögende Ehefrau die zur Anschaffung der Gerätes notwendigen DM 60.000 »spendiert« habe. Wagner 2013, S. 91.

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2 Voraussetzungen

zum damaligen Zeitpunkt hinsichtlich seines Klanges völlig neuartig war, ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Album ganz anders klang als alle bis dato in Deutschland veröffentlichten Krautrock-Produktionen – schließlich war Fricke der erste, der dieses Instrument in Deutschland in einem rock- und popmusikalischen Kontext verwendete. Ähnlich wie bei der Veröffentlichung von SwitchedOn Bach auf dem Feld der klassischen Musik zwei Jahre zuvor war es auch im Bereich der Popularmusik möglich, dass man durch den Einsatz der SynthesizerTechnologie unmittelbar ein konkurrenzloses, neuartiges musikalisches Produkt kreieren konnte, dessen Besonderheit sich nicht zwangsweise im Vergleich zu anderen Produktionen der damaligen Zeit aus herausragenden Kompositionen im Sinne einer ausdifferenzierten Ausarbeitung der Parameter Melodik, Harmonik und Rhythmik zusammensetzen musste, sondern allein durch die Verwendung der Technologie gegeben war. Dass dem Album trotzdem kein großer kommerzieller Erfolg beschieden war, mag sicherlich an der atonalen Sperrigkeit der darauf enthaltenen Musik liegen, die selbst für das Gehör der gegenüber klanglichen Experimenten offen stehenden Krautrock-Konsumenten nur schwer in Einklang zu bringen war. Dennoch lohnt sich ein näherer Blick, da anhand der hier präsentierten Musik einige zentrale Dinge bezüglich des Umgangs mit dem Synthesizer gegen Anfang der 1970er Jahre dargelegt werden können. Aus Sound-spezifischer Warte fällt zunächst auf, dass die Klangfarben auf Affenstunde an dem gemessen, was beispielsweise der japanische Musiker Isao Tomita drei Jahre später auf dem Album Snowflakes Are Dancing aus dem MoogSynthesizer herauszuholen vermochte, nicht besonders eindrucksvoll waren. Man muss sich aber stets vor Augen halten, dass es sich beim Synthesizer im Jahre 1970 um ein nicht tradiertes Instrument handelte, es also im Gegensatz zu heute für den Hörer keinen die Klangmöglichkeiten imaginierbaren Erfahrungsschatz gab, der die Möglichkeit eines Vergleichs geboten hätte. Bereits rudimentäre Modulverschaltungen, in der Fachsprache auch Patches genannt, eröffneten in Gegenüberstellung zum damals in der Rock- und Popmusik gängigen Instrumentarium ein völlig neues Klangspektrum, das eindrucksvoll genug war, um es ohne raffinierte Postproduktion und / oder die Einbettung in ein differenziertes musikalisches Konzept hinsichtlich der Parameter Melodik, Harmonik oder Rhythmik direkt auf Vinyl zu pressen. Ferner verlangte der Umgang mit dem Synthesizer ob der Absenz von Lehrmaterial bezüglich der Bedienung des Gerätes einen Lernprozess auf einem für die meisten Musiker neuen Feld: Nicht ein musikalisches Erlernen hinsichtlich instrumentaler oder kompositorischer Fähigkeiten stand im Vordergrund; man war vielmehr gezwungen, sich mit elektrotechnischen und akustischen Prozessen auseinanderzusetzen, deren Zusammenhänge sich den Musikern in der Regel erst sukzessiv durch eine experimentelle

42

2.3  Die Pioniere des Krautrocks

und zeitintensive Herangehensweise erschlossen. Aufgrund der Neuartigkeit des Gerätes erschien bereits das Finden eines neuen Klanges so interessant, dass die musikalischen Primärfaktoren hinsichtlich ihrer Gewichtung völlig in den Hintergrund traten  – vieles der auf Affenstunde enthaltenen Musik lässt zumindest darauf schließen: Sowohl der weitgehende Verzicht auf Tonalität, Melodik oder Harmonik als auch die Art der Verwendung der Moog-Sequenzer unterstreichen, dass der spielerische Umgang mit dem Synthesizer und das daraus resultierende ständige Neuentdecken eine omnipräsente Auswirkung auf die eigentlichen Kompositionen haben respektive sie das unmittelbare Ergebnis aus dem interaktiven Zusammenwirken von Mensch und Maschine darstellen, bei dem letztere durch ihre Limitierung die Musik zu diktieren scheint. Den an sie gestellten Anforderungen hinsichtlich des notwendigen technischen Verständnisses und des gleichzeitigen Umgangs mit den technischen Unwägbarkeiten des Synthesizers begegneten die Musiker dabei durch Arbeitsteilung: Während Fricke auf der Tastatur spielte, erstellte der technisch versiertere Daniel Fiedler die Klangfarben.88 Da das Gerät instabil war und sich die Klänge nur schwer reproduzieren ließen, liefen während der Arbeit mit dem Moog permanent Tonbänder mit, die alles aufzeichneten.89 Dass das auf Vinyl Erfahrbare eher die Montage der während des Arbeitsprozesses klanglich am meisten geglückten Stellen war denn eine gezielte technische Realisation einer vorgefertigten Komposition, spiegelt sich unmittelbar in der musikalischen Textur wider. So finden sich etwa primär orgelpunktartige, ständig ineinander verlaufende Klangflächen, die durch die unharmonische Stimmung der einzelnen, übereinandergeschichteten Oszillatoren einen atonalen Charakter haben. Lediglich im Titelstück lässt sich eine Tonalität erkennen, wobei sich diese lediglich aus einer auf dem Grundton F basierenden, aus größtenteils mixolydischem Tonmaterial bestehenden Improvisation mittels der Tastatur des Synthesizers zusammensetzt. Die rhythmische Struktur der Stücke wird durch orientalisch klingende Perkussionspattern bestimmt, deren Vermischung mit dem Synthesizer allerdings zu einem unausgewogenen Klangbild führen. Dieser Eindruck wird durch das additive Abspielen schneller, 8-schrittiger Sequenzermelodien verstärkt, da sie in keinerlei rhythmischer Synchronizität zur akustischen Perkussion stehen. Diese Sequenzen werden ähnlich wie die oben beschriebenen Klangflächen ein- und ausgeblendet, mit einem Tiefpassfilter bearbeitet und in ihrer Tonhöhe durch die manuelle Verstimmung der zur Erzeugung der Sequenzen zum Einsatz kommenden Oszillatoren permanent leicht ver88 Wagner 2013, S. 91. 89 Ebd.

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2 Voraussetzungen

ändert – die eigentlichen Tonhöhen jedes einzelnen Schrittes der Sequenzen sind dadurch nur bedingt konkretisierbar und wirken willkürlich gewählt. Zweifellos wurde hier aus der Not eine Tugend gemacht, da die Oszillatoren des MoogModularsystems nicht besonders stimmstabil waren und sehr schnell auf Temperaturschwankungen reagierten, was den Umgang mit diesem Gerät hinsichtlich der Verwendung im tonalen Raum sehr schwierig machte – sicherlich ein wesentlicher Punkt für den atonalen Charakter des gesamten Albums. Auf dem nachfolgenden im Jahre 1971 – nun auf dem Ohr-Label – veröffentlichten Album In den Gärten Pharaos wird der Moog-Synthesizer nur noch auf der ersten Seite im gleichnamigen Titelstück eingesetzt. Vornehmlich werden mithilfe von Tiefpassfilterung der Oszillatoren und dem Einsatz der Festfilterbank menschliche Vokale emuliert, die dieses Mal eine größtenteils diatonisch in g-Moll verortete, getragene zweistimmige Melodie spielen, welche auf innerhalb einer Oktave befindlichen, zunächst nur diatonischen, im Verlauf dann auch chromatischen Intervallen basiert. Allerdings sind auch hier die Oszillatoren nicht hundertprozentig rein gestimmt, weswegen immer wieder mehr oder weniger starke Interferenzen auftauchen. Wie schon auf Affenstunde werden diese Klänge durch die Einstellung von größeren Attack- und Release-Werten der lautstärke- und filtermodulierenden Hüllkurven ein- und ausgeblendet, was der Musik einen meditativen, ruhigen Charakter verleiht. Dennoch verdeutlicht die klangliche Textur, dass die Musiker den Synthesizer im Vergleich zum Debütalbum differenzierter einsetzen: Die Klänge wirken wärmer, weicher und komplexer, da sie sich auditiv nicht sofort auf ihre Ursprungswellenformen zurückführen lassen. Die zweite Seite des Albums besteht aus einer Live-Aufnahme einer Improvisation Frickes auf der Kirchenorgel. Hier wird bereits die musikalische Transformation der Gruppe hin zur Verwendung von akustischen Instrumenten deutlich, weshalb Fricke, nachdem er die Möglichkeiten des Moog-Synthesizers für sich erschöpft sah, folgerichtig das Instrument schließlich nach In den Gärten Pharaos im Jahre 1973 an den bereits im Zusammenhang mit der Band Tangerine Dream in Erscheinung getretenen Musiker Klaus Schulze verkaufte.90 Die nachfolgenden Alben Popol Vuhs basieren dann auch vor allem auf Frickes Klavierspiel, welches durch außereuropäische Instrumente wie die Sitar angereichert wird. Musikalisch wendete die Gruppe sich einer spirituell angehauchten, meditativen und tonalen Musik zu, die durch ihren Klangcharakter, die zum Teil exotische Instrumentierung, die Implementierung von Naturgeräuschen wie beispielsweise von Wasser sowie ihren esoterisch gefärbten intellektuellen Überbau91 90 91

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Schwinn 1986, S. 96. Vgl. Blome 1993, S. 17.

2.3  Die Pioniere des Krautrocks

als Vorläufer der gegen Ende der 1970er Jahre in den USA entstandenen NewAge-Musik92 gelten kann. 2.3.2.2 Tangerine Dream Die Band Tangerine Dream wurde im Jahre 1967 von dem Gitarristen Edgar Froese in Westberlin gegründet. Die geografische Herkunft ist insofern wichtig, als dass sich Westberlin im Kalten Krieg aufgrund seiner Insellage inmitten der Deutschen Demokratischen Republik in vielen Lebensbereichen von der übrigen Bundesrepublik unterschied. Die territoriale Eingrenzung und die Schwierigkeiten hinsichtlich des Transitverkehrs durch die oft schikanösen Grenzkontrollen der DDR wirkte sich auch auf die kulturelle Entwicklung aus, dahingehend, dass sich eine eigenständige Musikszene entwickelte, die vom übrigen Westdeutschland weitgehend unbeeinflusst blieb. Daher begegneten sich die Musiker in Westberlin durch die Isolation und die überschaubare Clubszene zum einen häufig und befanden sich zum anderen eher lokal im Austausch, als dass es zu der damals üblichen Personalvermischung mit den Vertretern der Rockzentren im übrigen Westdeutschland gekommen wäre.93 Eine zentrale Rolle als Keimzelle der experimentellen Rockmusik Westberlins nimmt in diesem Kontext der im Jahre 1967 von Konrad »Conny« Schnitzler94 und Hans-Joachim Roedelius gegründete Club Zodiak Free Arts Lab ein, wo nicht nur Tangerine Dream ihre ersten Auftritte hatten, sondern auch viele andere bekannte Bands und Musiker ihren Ausgangspunkt nahmen, seien es nun Ash ra Tempel, Agitation Free oder Klaus Schulze.95 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Schnitzler und Roedelius auch selbst als Musiker in Erscheinung getreten sind und mit ihrer 1970 gegründeten Formation Kluster viele Merkmale des in gegen Ende der 1970er Jahre in Großbritannien entstandenen Genres des Industrials96 vorwegnahmen. Darüber hinaus war Schnitzler kurzzeitiges Mitglied von Tangerine Dream. Neben dem Zodiak Free Arts Lab ist als weiteres Fundament der Berliner Musikszene das vom Berliner Senat finanzierte New Beat Studio unter der Leitung des Schweizer Komponisten Thomas Kessler zu nennen, das gleichfalls von Edgar Froese frequentiert wurde. Zum einen gab es kostenfreie Proberäume, zum anderen erhielt man die Möglichkeit, Aufnahmen zu machen. Besondere Bedeutung kommt hier der Person Kesslers zu, da er den Bands das technische Know-

92 93 94 95 96

Zur Begriffsklärung siehe Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 496 f. Dedekind 2008, S. 80 f. Im weiteren Verlauf nur noch Conny Schnitzler genannt. Stump 1997, S. 33 f. Zur Begriffsklärung siehe Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 340.

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2 Voraussetzungen

how näherbrachte.97 Inspiriert durch die Uraufführung von Karlheinz Stockhausens »Sternklang« im Juni des Jahres 1971 in Berlin respektive durch die dortige Verwendung eines EMS Synthi A Synthesizers,98 kaufte sich Kessler unmittelbar danach ebenfalls ein solches Gerät,99 welches sich innerhalb der Klientel des New Beat Studios in kürzester Zeit großer Beliebtheit erfreute und bald darauf zum essenziellen Bestandteil des Instrumentariums einiger Berliner Gruppen und Musiker wurde.100 Ferner brachte Kessler den Musikern kompositorische Grundprinzipien näher:101 So etwa unterrichtete er Edgar Froese auf dessen Anfrage hin im Kontrapunkt.102 Dieses vermittelte Wissen spiegelte sich in der Musik von Tangerine Dream jedoch nicht wider: Betrachtet man sowohl einen Fernsehbeitrag über die Gruppe respektive die dort enthaltene filmische Dokumentation eines Auftritts im Zodiac Free Arts Lab gegen Ende der 1960er Jahre als auch die im Jahre 1970 erschienene Erstveröffentlichung Electronic Meditation,103 so ist zu konstatieren, dass es sich dabei  – ähnlich wie etwa bei den Anfängen von Amon Düül und Amon Düül II – musikalisch um frei improvisierte, dem damaligen Zeitgeist entsprechend psychedelisch gefärbte Musik handelt. Metrisch frei gehaltene, auf einem Orgelpunkt basierende, durch E-Gitarre und Orgel erzeugte, flächenartige, fast lyrische Klänge lassen eine deutliche Nähe zu dem im Jahre 1968 erschienenen Album A Saucerful of Secrets der Band Pink Floyd erkennen. Infolge der Kontrastierung durch ekstatische Schlagzeugpassagen und atonale, verzerrte Klangcollagen erhält das Album allerdings eine wesentlich rauere, industrielle Textur. Bedenkt man, dass bei der Einspielung auch primär konventionelles, aus der Rockmusik bekanntes Instrumentarium zum Einsatz kam – die Verwendung von Streichinstrumenten und dem Gadget »broken glass«104 ausgenommen – und auf Synthesizer noch nicht zurückgegriffen wurde, lässt sich das Album wie bei den Erstveröffentlichungen anderer Krautrock-Bands dann auch eher als musikalische Emanzipation von angloamerikanischen Vorbildern einordnen denn als Blaupause für die sphäri-

 97  98

 99 100 101 102 103 104

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Schwinn 1986, S. 45. Der EMS Synthi A wurde im Jahre 1969 in London entwickelt. Es handelte sich dabei um das portable Modell der EMS VCS 3. Optional konnte zu diesem Synthesizer eine »KS« genannte Folienklaviatur geordert werden, woraus sich die häufig in der Musikpresse vorkommende Bezeichnung EMS AKS erschließt. Vgl. Becker 1990, S. 16–18. Wagner 2013, S. 78. Ebd., S. 78 f. Schwinn 1986, S. 45. Wagner 2013, S. 73. Dieses Album wurde von Edgar Froese und den bereits erwähnten Klaus Schulze und Conny Schnitzler eingespielt. Vgl. Angaben zur Besetzung im Booklet zur CD: Tangerine Dream: Electronic Meditation, Ohr 1970.

2.3  Die Pioniere des Krautrocks

schen Synthesizer-Klanglandschaften, die Tangerine Dream vier Jahre später zum internationalen Durchbruch verhelfen sollten. Dies bekräftigend, stellte Klaus Schulze in diesem Kontext auch vielmehr den notwendigen Befreiungsversuch als das eigentliche klangliche Endergebnis in den Vordergrund und klassifizierte das Album musikalisch als Punk(-Musik).105 Auch Edgar Froese zeigte sich selbst wenig angetan von der Produktion: Es habe ihn überrascht, dass sich überhaupt eine Plattenfirma gefunden hätte, die diese Aufnahme veröffentlichte.106 Die nachfolgenden, zwischen 1971 bis 1973 eingespielten und veröffentlichten Alben Alpha Centauri, Zeit, Atem und Green Desert107 verfolgen eine im Vergleich zum gängigen Krautrock-Tenor andere Klangsprache, welche im Wesentlichen drei Faktoren geschuldet ist. Zum einen formierte sich die Band neu, so dass nach dem Austritt Schulzes und Schnitzlers – von einigen temporären Umbesetzungen abgesehen – vor allem mit Christopher Franke und Peter Baumann zwei Musiker in Erscheinung traten, die durch ihre instrumentale (Franke) und tontechnische (Baumann) Versiertheit die Musik auf eine klanglich ambitioniertere Ebene transferierten.108 Zum anderen war es dann auch Franke, der mit der Implementierung des Synthesizers die instrumentalen Weichen zur elektronischen Klangerzeugung stellte.109 Drittes Kriterium der musikalischen Metamorphose Tangerine ­Dreams war, dass die in Rede stehenden Produktionen im Studio von Dieter Dierks stattfanden – einem Produzenten, der neben Konrad »Conny« Plank110 maßgebenden Anteil an der tontechnischen Professionalisierung vieler Krautrock-Produktionen hatte und diesbezüglich viele klangliche Vorstellungen der mitunter technisch unbedarften Musiker kanalisieren und umsetzen konnte.111 Wie spiegeln sich diese Veränderungen in akustischer Form wider? Der Einsatz des Synthesizers beschränkt sich auf dem Album Alpha Centauri zunächst auf plakative Effekte wie beispielsweise Filterfrequenzmodulationen bei hohen Resonanzwerten durch einen langsam schwingenden Sägezahnoszillator – diese Art von Klängen findet sich oft in Science-Fiction-Filmen als Untermalung von Laserkanonen wieder. Dass das Potenzial des Synthesizers hier nur zu einem Bruchteil ausgeschöpft wurde, liegt daran, dass es sich bei dem zum Einsatz kommenden Gerät um den bereits angesprochenen VCS 3 Synthesizer der englischen 105 WDR: Kraut und Rüben, Folge 6, http://www.youtube.com/watch?v=zLe7kJyoSuw (abgerufen 106 107 108 109 110 111

am: 28.02.2013). Froese 2017, S. 26 f. Das Album Green Desert wurde im Jahre 1973 eingespielt, allerdings erst im Jahre 1986 veröffentlicht. Stump 1997, S. 35 ff. Ebd., S. 37 f. Im weiteren Verlauf nur noch Conny Plank genannt. Vgl. Kap. 3.2.7 und 3.2.8.

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2 Voraussetzungen

Firma EMS handelte  – ein Instrument, das zwar zum einen im Vergleich zum Moog-Modularsystem wesentlich preisgünstiger, aufgrund der Absenz einer Tastatur112 allerdings ohne größeren technischen Aufwand weder gut zur Realisierung von Melodien noch durch seine monophone Klangerzeugung zur Erzeugung von Harmonien einzusetzen war. So wurden auf den hier diskutierten Alben Akkordfolgen immer noch mit der E-Gitarre und der Orgel, später dann mit einem Stringensemble und dem Mellotron umgesetzt. Auch bei der Kollaboration mit dem Popol Vuh-Initiator Florian Fricke und seinem Moog-Synthesizer auf dem Album Zeit im Jahre 1972 gestalten sich die elektronischen Klänge wenig ausgefallen. Neben Phasing und der Verwendung von Echogeräten sind die Grundwellenformen der Oszillatoren – meist Rechteck- und Dreieckswellen – immer noch deutlich herauszuhören. Raffinierte Mischklänge, die das Potenzial des Synthesizers auszuloten versuchen, sucht man hier allerdings vergebens. Da der MoogSynthesizer auf diesem Album jedoch ausschließlich von Fricke gespielt worden ist und es sich dabei um eine Spontanimprovisation handelte, ist dies aber schwerlich den Musikern von Tangerine Dream anzulasten. Die Tatsache, dass polyphone Synthesizer erst ab Mitte der 1970er Jahre auf dem Musikmarkt verfügbar waren und die analoge Mehrspurtechnologie trotz allen Fortschritts im Vergleich zu den computergestützten Aufnahmegeräten gegen Ende der 1970er Jahre immer noch viele Unwägbarkeiten besonders hinsichtlich des zeitlichen Aufwands mit sich brachte, lässt sich anhand der Klangästhetik der meisten Popproduktionen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre nachvollziehen: Mehrklänge wurden in dieser Zeit fast ausschließlich mit der Gitarre oder den oben genannten Tasteninstrumenten erzeugt, so man denn aus finanziellen Gründen nicht auf ein Orchester zurückgreifen konnte  – das klangliche Endergebnis war den technischen Rahmenbedingungen unterworfen. Bei Tangerine Dream wurden schließlich ab dem 1973 veröffentlichten Album Atem erstmals auch Melodien mit dem Synthesizer realisiert – das Gerät fungierte also nicht mehr nur als Generator oberflächlicher Klangeffekte. Trotzdem findet sich als Überleitung zwischen den einzelnen Teilen innerhalb der bis zu 20-minütigen Kompositionen immer wieder mit Wind oder einer Meeresbrandung assoziierbares gefiltertes Rauschen – ein nicht besonders schwer herzustellender Klang,

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Auf der Innenseite des Booklets des im Jahre 1973 eingespielten Albums Green Desert findet sich ein Bild des damaligen Line-up (bestehend aus Froese, Franke und Baumann), auf dem zusätzlich noch zwei EMS Synthi A mit der Folientastatur KS zu sehen sind. Widersprüchlich ist hierbei, dass Baumann nicht an der Produktion von Green Desert beteiligt war, das Datum des Fotos also nicht genau festzustellen ist. Da auf den Folgealben nach Alpha Centauri allerdings bereits SynthesizerMelodien zu hören sind, besteht die Vermutung, dass dort auf eine Tastatur als Eingabemedium zurückgegriffen worden ist.

2.3  Die Pioniere des Krautrocks

der aber als klangästhetische Blaupause auf vielen späteren Alben meditativ geprägter elektronischer Musik, sei es nun bei Tangerine Dream selbst, bei Klaus Schulze, dem Franzosen Jean-Michel Jarre oder vielen anderen bis in die heutige Zeit hinein immer wieder verwendet wird. Generell tritt das Konzept einer komponierten Klanglandschaft, welche nur noch vage im Koordinatenkreuz der musikalischen Primärfaktoren  – Melodik, Harmonik und Rhythmik  – verankert ist, immer mehr in den Vordergrund. Auch wenn sich auf Alpha Centauri noch in Moll gehaltene, diatonische Akkordfolgen sowie typische, aus der Rockmusik stammende Schlagzeug-Patterns finden lassen, vermittelt das über 20-minütige Titelstück durch seine Clusterhaftigkeit eine große Nähe zur Musik György Ligetis, mit der Froese durch Franke in Berührung kam.113 Das Übereinanderschichten von Sekundintervallen enthält Reminiszenzen an Ligetis Komposition »Atmosphères«, außerdem erinnern die Vokalpassagen ab Mitte des Stücks an »Lux Aeterna«. Allerdings kann man davon ausgehen, dass es sich hierbei eher um eine auditive Adaption als um eine gezielte Auseinandersetzung mit den Kompositionsmodellen Ligetis handelte: Der Charakter von Alpha Centauri lässt vermuten, dass die einzelnen, ineinander übergehenden Stimmen nicht einer vorher angefertigten, genauen Notation folgend aufgenommen wurden, sondern es sich dabei um aufeinander bezogene, improvisierte Gesangspassagen handelt, die durch die Mehrspurtechnologie sukzessiv zusammengefügt worden sind. Ferner erfolgt die Erzeugung von Mikropolyphonie nicht durch das gleichzeitige Erklingen einzelner Orchesterstimmen, sondern durch das Cluster-Spielen auf der Orgel. Mittels starker Verhallung durch einen Spiralhall, der leichten Verstimmung der drei Oszillatoren des VCS 3 Synthesizers und deren hochfrequenten Tonhöhenmodulation sowie durch den Einsatz eines Tremolos beziehungsweise Vibratos der Orgel werden jene fluoreszierenden Klänge realisiert, die bei Ligeti wie etwa in der Komposition »Continuum« durch extrem hohe Spielgeschwindigkeiten und Überlagerungen einzelner Mikromelodiesequenzen entstehen. Die Imitation von Klangoberflächen der zeitgenössischen ernsten Musik durch Rockmusiker war zum damaligen Zeitpunkt keine Seltenheit. So implementierte etwa Frank Zappa zahlreiche Klangideen Edgar Varéses in seiner Musik. Ähnlich wie bei Tangerine Dream war für ihn dabei die »Legitimation eines Klangereignisses nicht mehr im harmonischen oder systematischen Bezug zu suchen […], sondern immer in der direkten, unmittelbaren Wirkung […]«.114 Diese Art der Adaption reflektiert dabei eine systemimmanente Schwierigkeit der Rezeption zeitgenössischer Musik in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts: Karlheinz 113 114

Stump 1997, S. 38. Schröder 2012, S. 84.

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2 Voraussetzungen

Stockhausen wies bereits im Jahre 1953 auf die Schwierigkeit der Hörbarkeit der damals vorherrschenden seriellen Kompositionskonzepte hin: Graduell abfallend von der Erfassung von Tonhöhen über Lautstärke- und Zeitproportionen ist nach Ansicht Stockhausens die bewusste Wahrnehmung von spektralen Proportionen im menschlichen Gehör am wenigsten ausgeprägt.115 Die der Determinierung aller musikalischen Parameter – insbesondere der Klangfarbe – zugrunde liegende Kompositionssystematik erschließt sich dem Rezipienten also nur noch bedingt durch das aurale Erleben. Zur Erfassung ihrer ganzen Komplexität ist vielmehr die musikalische Analyse des Notentextes notwendig. Trotzdem war die »Suggestivität der Klangflächen« gerade im Bereich der elektronischen Musik so groß, dass sie in den späten 1960er Jahren durch Rock- und Beatmusiker imitiert wurden.116 Wie bei Karlheinz Stockhausen, der in diesem Kontext als Inspiriationsquelle eine exponierte Position einnimmt,117 eignete sich vor allem die Musik von Ligeti als Adaptionsfundament, da dieser ähnlich wie Stockhausen in seiner Musik ungeachtet der zu dieser Zeit in der ernsten Musik vorherrschenden deterministischen Strenge kompositorischer Ordnungssysteme die Klangmaterie immer als zentrales sinnästhetisierendes Element betrachtete und als solche in den Vordergrund stellte. Gerade die Arbeit mit psychoakustischen Phänomenen wie den Verwischungseffekten hinsichtlich der diskreten Wahrnehmung einzelner Tonfolgen, welche durch extrem schnelle Tempi erzeugt wurden, erzielte im Vergleich zu vielen konsequent seriell angelegten Werken anderer Komponisten eine aurale Wirkung, die vom Verstehen des zugrunde liegenden Kompositionsprinzips entkoppelt werden konnte. Daher erschloss sich das Werk auch dem nicht musikalisch vorgebildeten Hörer. Dass Ligetis Musik darüber hinaus durch die Verwendung in Stanley Kubricks Film »2001: Odyssee im Weltraum« im Zuge des Science-Fiction-Höhepunktes gegen Ende der 1960er Jahre eine große Popularität erfuhr, dürfte gleichfalls ein Grund dafür sein, dass sich Tangerine Dream vor allem an Klangmalereien wie »Atmosphéres« orientierten. Die Verdichtung und Ausdünnung von Klang als kompositorisches Sujet wird auf den Nachfolgealben Zeit und Atem noch weiter getrieben und findet erst ab dem Album Phaedra sukzessiv zu Melodik und Harmonik zurück.118 Obgleich 115 116 117 118

50

Stockhausen 1963, S. 40. von Zahn 2006, S. 18. Vgl. Kap. 2.4.1. Das bereits mehrfach angesprochene Album Green Desert nimmt hier eine Ausnahmestellung ein: Neben Sequencing in Form eines modifizierten Rhythm Controller der Firma PRX und der Implementierung eines Minimoogs und eines Solina String Ensembles finden sich zwar klangtechnisch deutliche Bezüge zu den folgenden Alben; kompositorisch weist dieses Album im Hinblick auf Melodik und Harmonik in nahezu konservativer Weise popmusikalische Elemente auf, so dass es als vermeintliches Verbindungselement zwischen den eher experimentell gehaltenen

2.3  Die Pioniere des Krautrocks

sich ähnlich geartete Musik schon früher sowohl auf der im Jahre 1969 veröffentlichten Produktion An Electronic Storm des von David Vorhaus, Delia Derbyshire und Brian Hodgson initiierten Projekts White Noise als auch im Jahre 1970 auf dem Album In a Wild Sanctuary der amerikanischen Synthesizer-Spezialisten und Moog-Promotor Paul Beaver und Bernhard Krause finden lässt, erfüllt sie dort lediglich die Funktion der Ein- oder Überleitung von tonal gebundenen, melodisch und harmonisch ausgearbeiteten Kompositionen.119 Die musikalische Reduktion auf Klangverläufe aber zum zentralen kompositorischen Element zu erheben, ist in dieser Radikalität vornehmlich Tangerine Dream und Popol Vuh zuzuschreiben.120 Dass jedoch in erster Linie Tangerine Dream als Pioniere dieser Musik gelten, obwohl Popol Vuh bereits 1970 mit Affenstunde klanglich Ähnliches veröffentlichten, hat folgende Gründe: Zum einen haben sich Popol Vuh schon 1972 wieder vom Synthesizer abgewandt, bevor sich die Synthesizer-Musik auf dem Markt vollständig etablieren konnte. Zum anderen sind ihre Stücke sperriger und schwerer konsumierbar, besonders im Hinblick auf die eher divergent wirkende Kombination aus Synthesizer-Klängen und orientalischen Perkussionsin­ strumenten. Tangerine Dream haben es hingegen mit Ausnahme von Electronic Meditation immer wieder geschafft, trotz aller atonaler Klangexperimente für einen für den an popmusikalische Konventionen gewöhnten Rezipienten nötigen Ausgleich zwischen Konsonanz und Dissonanz zu sorgen. Ein zentraler Punkt ist aber auch, dass der zu der damaligen Zeit einflussreichste englische DJ John Peel das Album Zeit zur Platte des Jahres 1973 wählte.121 Dies hatte zur Folge, dass Tangerine Dream sich in Großbritannien nicht nur eines enorm gestiegenen Bekanntheitsgrades erfreuen durften, sondern auch einen Plattenvertrag mit dem neu gegründeten englischen Label Virgin Records erhielten, der ihnen neben einer im Vergleich zum Ohr-Label viel größeren Dimension an Promotion- und Marketingmöglichkeiten einen monetären Vorschuss einbrachte, mit dem sie sich ein Moog-Modularsystem kaufen konnten, das die Musik der Gruppe in den nächsten Jahren prägen sollte.122 Da Florian Fricke

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Alben Atem und Phaedra eigentlich aus der Reihe fällt. Da das Album erst im Jahre 1984 veröffentlicht wurde, ist es für die Rezeptionshistorie der Band hinsichtlich eines vermeintlichen Einflusses auf andere Formationen in den 1970er Jahren aber auch nicht weiter von Bedeutung. Vgl. Kap. 3.6.2.1 und 3.6.3.1. Ähnliches ist bei der ebenfalls bei Ohr unter Vertrag stehenden Berliner Formation Ash Ra Tempel auf ihrem gleichnamigen, im Jahre 1971 veröffentlichten Album zu finden, weshalb sich für diese Art von Musik neben dem Begriff der »Kosmische(n) Musik« v. a. die sogenannte »Berliner Schule« herauskristallisiert hat. Der kommerzielle Erfolg und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit blieb jedoch Tangerine Dream vorbehalten, weshalb sie in der musikgeschichtlichen Betrachtung als die Pioniere dieser Musik gelten. Stump 1997, S. 41. Ebd., S. 51.

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2 Voraussetzungen

bereits ab dem Jahre 1971 aufgehört hatte, mit dem Moog-Synthesizer zu arbeiten, das Gerät selbst aber erst Ende des Jahres 1975 an Klaus Schulze weiterverkaufte,123 erhielten Tangerine Dream dadurch innerhalb der Rockmusikszene in Deutschland ein klangtechnisches Alleinstellungsmerkmal, da aufgrund der hohen Anschaffungskosten niemand sonst ein solches Instrument besaß.124 Man begegnet hier einem Umstand, der für die ganze Geschichte der Rockund Popmusik bis in die 1990er Jahre hinein prägend war, da der Sound mit den Bedingungen der kostenintensiven Studiotechnik korrelierte: Die tontechnische Qualität der fertigen Schallplatte war folglich neben den instrumentalen Fähigkeiten immer an die Ausstattung des Studios und an den dem Musiker zur Verfügung stehenden Zeitraum gebunden. Die positive Beeinflussung dieser Faktoren war dabei von den pekuniären Mitteln der Musiker respektive der Plattenfirma abhängig. Im Umkehrschluss folgte vor dem Hintergrund des stetig wachsenden Stellenwertes des Parameters Sound, vor allem in den 1970er und 1980er Jahren, in der Geschichte der Rock- und Popmusik ein an finanzielle Rahmenbedingungen gekoppeltes Ausschlussverfahren hinsichtlich eines für den kommerziellen Erfolg notwendigen tontechnischen Qualitätsstandards, der mit Ausnahme des Punk, bei dem der klangliche Dilettantismus im Vordergrund stand, in allen Genres die breite Masse an Musikern und Bands außen vor ließ, die im Wettlauf um die neuesten audiotechnischen Entwicklungen mangels Geld in diesem Wettrüsten nicht mithalten konnten. Dieser Status quo änderte sich letztlich erst durch die computergestützte Virtualisierung der Studiotechnik gegen Mitte der 1990er Jahre, die vielen bis dato vom plattenindustriellen Kosmos ausgeschlossenen Musikern einen kostengünstigen Zugang zu Produktionsmitteln verschaffte. In den 1970er Jahren jedoch konnte man sich den »Vorsprung durch Technik« noch erkaufen, der bei Tangerine Dream – ähnlich wie bei Popol Vuh – nicht ohne Konsequenzen blieb: Betrachtet man etwa das erste, im Jahre 1974 unter Virgin Records veröffentlichte und mit dem Namen Phaedra betitelte Album von Tangerine Dream, wird sehr schnell deutlich, dass die exzessive Nutzung der Sequenzer des Moog-Modularsystems zwar in der Rock- und Popmusik neben völlig neuen Klängen eine ebenso neue maschinengesteuerte Musik hervorge-

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52

Müller, Klaus D.: Klaus Schulze – The Story – Part 1, http://www.klaus-schulze.com/bio/ksse1.htm (abgerufen am: 08.02.2021). Einer vom 10.01.1972 datierten Preisliste der Firma Moog lässt sich entnehmen, dass das von Tangerine Dream erworbene System III P $ 6.390 kostet. Für das Sequencer Complement B wurden $ 2.840 veranschlagt. Bei einem durchschnittlichen Dollarkurs von DM 3,19 im Jahre 1972 kostete das komplette System folglich ca. DM 29.500. Reisebuch: US Dollarkurs Entwicklung, http://reise buch.de/usa/info/praxis/historische_dollarkurse.html (abgerufen am: 08.02.2021). Moog Pricelist 1972, http://www.flickr.com/photos/23461646@N03/3931275147/ (abgerufen am: 20.06.2013).

2.3  Die Pioniere des Krautrocks

bracht hatte, die gleichzeitig der technischen Limitierung der Geräte125 unterworfen war. Daher stellte sie eher ein direktes akustisches Abbild von Technizität dar, als dass sie hinsichtlich der Ausarbeitung musikalischer Primärfaktoren126 im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Popproduktionen besonders herausstach. Das war aber offensichtlich nicht unbedingt notwendig, da allein die klangliche Neuartigkeit dieser Musik trotz oder im Hinblick auf den durch die Atonalität ihrer Musik evozierten überschaubaren Erfolg Popol Vuhs gerade wegen ihrer molllastigen, konventionellen, von Pink Floyd hinlänglich bekannten Rockharmonik127 schon auf fruchtbaren Boden stieß. Phaedra kletterte auf den 15. Platz der britischen Charts,128 was umso mehr Beachtung verdient, als dass viele formale Kriterien, die in der populären Musik bis dato immer als notwendig für den kommerziellen Erfolg galten,129 auf dieser Veröffentlichung nicht zu finden sind. In jedem Falle spiegelt es den Musikmarkt einer Zeit wider, in der es offensichtlich möglich war, allein durch Innovationen im Bereich der Klangfarbe eine große Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Tangerine Dream selbst ergingen sich  – durch den Erfolg nun auch finanziell begütert – in den folgenden Jahren in wahren Materialschlachten,130 die ihnen über lange Zeit bis in die 1980er Jahre hinein einen produktionstechnischen Vorsprung innerhalb der sich langsam zu etablieren beginnenden Synthesizer-lastigen Ambient Music gewährten. Ihre genuine musikalische Konzeption, auf der Basis von meist in harmonischem Moll gehaltenen Akkordfolgen synthetische Klangflächen mit ein- bis zweitaktigen, repetitiven Synthesizer-Sequenzen zu verbinden, entwickelte sich schnell zu einer Blaupause im Bereich dieses Genres, was in der Folge ein unüberschaubares Epigonentum nach sich zog.

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Der Sequenzer des Moog-Systems ist lediglich ein in seinen Möglichkeiten recht begrenztes Gerät zur zeitlichen Abfolge von bis zu 24 verschiedenen Spannungssteuerungen, welches über keinerlei eigene Klangerzeugung verfügt. Hartwich-Wiechell 1974, S. 15 ff. Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 308 f. https://en.wikipedia.org/wiki/Phaedra_(album) (abgerufen am: 14.03.2021). Hier seien v. a. die Absenz von Gesang, radiotauglichen Längen im Bereich von vier Minuten und das Nicht-Vorhandensein von Strophe und Refrain genannt. Neben der Anschaffung diverser kleinerer Synthesizer und eines weiteren Moog Modularsystems ließ man sich im Jahre 1976 für umgerechnet $ 120.000 exklusiv von der Berliner Firma Projekt Elektronik ein weiteres Modularsystem für Peter Baumann anfertigen. Froese 2017, S. 30.

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2 Voraussetzungen

2.4 Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

»Die musikalische Reife in den verschiedenen Stilen hatte den Haupteinfluss auf die Musik.«131 Dieser Satz des Keyboarders der Gruppe Can, Irmin Schmidt, bietet angesichts seiner Programmatik eine ideale Überleitung zu jenen zwei Gruppen – Can und Organisation –, deren Untersuchung den Krautrock-Exkurs abschließen soll, gründeten sich diese Bands doch zu weiten Teilen aus Musikern, die im Vergleich zu den Mitgliedern der bis dato diskutierten Formationen mit Ausnahme des Initiators von Popol Vuh, Florian Fricke, über eine tiefgehende, zum Teil akademisch fundierte Musikausbildung und hohe instrumentale Virtuosität verfügten, so dass sich diesem Faktum Ausdruck verleihend ihr musikalisches Endprodukt qualitativ deutlich von den Erzeugnissen der meisten autodidaktischen Krautrock-Weggefährten unterschied. Es ist diesbezüglich interessant zu betrachten, inwieweit sie sich in ihrer rockmusikalischen Darbietung mit ihrer in der zeitgenössischen Musik verhafteten Vorbildung auseinandersetzen. Die Betrachtung der Band Organisation schlägt dabei eine Brücke zum eigentlichen Thema dieser Arbeit, da sie der Vorläufer von Kraftwerk war. Rechnung getragen werden muss ferner der geografischen Nähe132 der hier in Rede stehenden Gruppen. Es stellt sich hierbei die Frage, ob sich analog zur Berliner Schule etwa eine musikalische Kongruenz ableiten lässt, schließlich kannten sich die Musiker untereinander und veranstalteten zusammen Jam-Sessions. Zwar verstand Irmin Schmidt beispielsweise die Musik Cans als Antipoden zu der Kraftwerks;133 wie die Untersuchung zeigen wird, finden sich aber immer wieder kompositorische, formale und klangspezifische Übereinstimmungen, die Schmidts Eindruck zumindest in Zweifel ziehen lassen. 2.4.1  C an – Krautrock Stockhausen’scher Prägung? Die Gruppe Can ist im Wesentlichen auf Irmin Schmidt und Holger Czukay zurückzuführen. Schmidt studierte zunächst ab Ende der 1950er Jahre an der Musikhochschule Dortmund Klavier und Flügelhorn, später in Essen Komposition und Dirigieren, in Salzburg ebenfalls Letzteres.134 Nach der Teilnahme an den von Karlheinz Stockhausen mitinitiierten »Kurse[n] für Neue Musik« sowie an den »Darmstädter Ferienkursen« in den Jahren 1962 und 1963, bei denen er neben

131 Zit. n. Irmin Schmidt in: Dedekind 2008, S. 48. 132 Während Can in Köln ansässig waren, stammten Organisation aus Düsseldorf. 133 Dedekind 2008, S. 80. 134 Schmidt, Irmin, http://www.irminschmidt.com/ (abgerufen am: 08.02.2021).

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2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

dem abermaligen Kontakt mit Stockhausen auch mit John Cage, Luciano Berio und Pierre Boulez in Berührung kam, trat er ab Mitte der 1960er Jahre als Pianist und Dirigent in Erscheinung.135 Holger Czukays akademische Laufbahn begann Anfang der 1960er Jahre mit einem kurzzeitigen Kontrabassstudium an der damaligen Hochschule für Musik in Berlin136 und führte schließlich ebenfalls zu Stockhausens »Kurse[n] für neue Musik« in den Jahren 1963–66,137 bei denen Czukay mit Schmidt in Kontakt kam. Im Jahre 1968 schließlich gründeten Czukay und Schmidt zusammen mit dem Gitarristen Michael Karoli, dem aus dem Free Jazz kommenden Schlagzeuger Jaki Liebezeit und dem Flötisten und freien Mitarbeiter Karlheinz Stockhausens im Studio für Neue Musik, David Johnson,138 eine Musikgruppe, die wenig später nach Hinzukommen des afroamerikanischen Bildhauers Malcolm Mooney, der den Gesang übernahm, in The Can139 benannt wurde.140 Als musikalische Maxime fungierte dabei eine Beschränkung auf »das Notwendigste«,141 einhergehend mit der Entwicklung eines Konzeptes der von allen Mitgliedern evozierten kollektiven spontanen Komposition.142 Der Grad des individuellen Einbringens eines jeden Musikers divergiert auf dem im Jahre 1968 veröffentlichten Debütalbum Monster Movie allerdings stark, was Irmin Schmidt auf die unterschiedliche Vorbildung der einzelnen Protagonisten zurückführte: Da die Tendenz der ersten Sessions darauf hindeutete, dass Can sich offensichtlich auf dem Feld der Rockmusik bewegten, nahm er sich, da er als ein in der klassischen Musik beheimateter Musiker und Komponist im rockmusikalischen Bereich über die geringste Erfahrung verfügte, bewusst zurück.143 Folgerichtig ist Monster Movie ein eher gitarrenlastiges Album, während Schmidts Orgelspiel stark in den Hintergrund tritt. Die unterschiedliche Gewichtung hinsichtlich der individuellen kompositorischen Einflussnahme spiegelt sich auch in den anderen musikalischen Parametern wider. Während rockmusikalische Harmonieschemata, sei es in Form von pentatonischen Rückungen, modaler Harmonik oder dem Bluesschema, sowie die solistische Präsenz der Gitarre auf die kom-

135 Bussy / Hall 1992, S. 48 f. 136 Pauler, Holger: Anarchist der Töne, in: taz. die tageszeitung, 18.8.2006, http://www.taz.de/1/ 137 138 139 140 141 142 143

archiv/?id=archivseite&dig=2006/08/18/a0022 (abgerufen am: 08.02.2021). Czukay, Holger, http://www.czukay.de/history/biography/index.html (abgerufen am: 25.04.2014). Hoff, Hans: Die anarchistische Methode, in: Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010, www.sueddeutsche.de/kul tur/musiklegende-holger-czukay-die-anarchische-methode-1.284572-4 (abgerufen am: 08.02.2021). von Zahn 2006, S. 96. Johnson verließ die Gruppe aber bereits gegen Ende des Jahres 1968 wieder. Bussy / Hall 1992, S. 62. Im Jahre 1969 wurde der Zusatz »The« weggelassen. Young / Schmidt 2018, S. 96. Dedekind 2008, S. 249 f. Bussy / Hall 1992, S. 17. Ebd., S. 60. Bussy / Hall 1992, S. 65 f.

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2 Voraussetzungen

positorische Federführung des Beat-Gitarristen144 Karoli hindeutet, bedient sich der Gesang Mooneys durch die häufige Verwendung der pentatonischen Skala ebenfalls eines Rock- und Popmusik immanenten Elements. Die Dominanz rockmusikalischer Artefakte mag dennoch erstaunen, da Can mit Holger Czukay, Irmin Schmidt und David Johnson drei Musiker in ihren Reihen hatten, die vor ihrem Eintritt in die Sphäre der Rockmusik in der ernsten Musik verhaftet waren und durch Karlheinz Stockhausen – sei es nun als Schüler oder als Mitarbeiter – geprägt waren. Dazu gesellt sich, dass im Rahmen der heutigen musikjournalistischen Betrachtung der Band in Interviews und Retrospektiven immer wieder musikalische Verbindungen von Can zu Stockhausen in den Vordergrund gerückt werden, obgleich vermeintliche musikalische Anleihen kaum zu finden sind, sondern vielmehr medial konstruiert erscheinen. Natürlich muss man dabei berücksichtigen, dass sich die Fokussierung auf die Person Stockhausens angesichts seines hohen Popularitätsgrades und seiner medialen Stilisierung zur Symbolfigur der ernsten Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorragend als Aufmacher eignet. Einem beidseitigen Imagegewinn zuträglich, zeigte sich auch Stockhausen selbst (der die populäre Musik eigentlich auf einem »unbeschreiblich banalen Niveau« sah)145 nach Ansicht Ralf von Appens immer bemüht, seinen Einfluss auf die Popularmusik in der Öffentlichkeit darzulegen.146 Dies unterstreichend, wähnten und wähnen sich im Gegenzug, seit die Beatles Stockhausen im Jahre 1967 auf dem Cover ihres Albums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band platzierten, diverse Vertreter der Unterhaltungsmusik bis heute immer wieder vom Werk Stockhausens inspiriert, neben den Beatles seien hier die isländische Sängerin Björk und auch Kraftwerk aufgeführt,147 wobei sich allerdings – und da bilden Can keine Ausnahme – selten Verbindungen in der eigentlichen Musik der jeweiligen Künstler nachvollziehen lassen. Im Hinblick auf die Neue Musik finden sich, wenn überhaupt, höchstens Reminiszenzen an die Musique concrète in einer Art der Vorwegnahme des Samplings. Allerdings ist es fraglich, ob es sich dabei um eine intendierte Bezugnahme oder nur um eine zwangsweise durch die Technologie hervorgerufene allgemeine musikalische Entwicklung handelt. Angesichts der häufigen Nennung Stockhausens als musi144

Waechter, Johannes: »Can war etwas, das einen ganz und gar aufgesogen hat«, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 18.10.2009, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/sz-diskothek/irmin-schmidt-can-inter view-stockhausen-cage-wenders-87066 (abgerufen am: 04.02.2021). 145 Zit.  n. Karlheinz Stockhausen in: Hufner Martin: Popmusiker wider Willen, in: NMZ 2/2008, https://www.nmz.de/artikel/popmusiker-wider-willen (abgerufen am: 06.02.2021). 146 von Appen, Ralf: Konkrete Pop-Musik. Zum Einfluss Stockhausens und Schaeffers auf Björk, Matthew Herbert und Matmos, in: Samples. Notizen, Projekte und Kurzbeiträge zur Popularmusikforschung. 2. 2003, http://www.aspm-samples.de/Samples2/vappenp.pdf (abgerufen am: 06.02.2021). 147 Ebd.

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2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

kalische Inspirationsquelle besteht natürlich der Verdacht  – gerade weil sein Name mitunter fälschlicherweise in Verbindung mit der Musique concrète148 gebracht wird –, dass losgelöst von künstlerischen Inhalten eine ins Feld geführte vermeintliche Parallele zum Werk Stockhausens primär zur Aufwertung des eigenen Schaffens dienen soll. Allerdings lässt sich das weder beweisen, noch weniger ist es Can zu unterstellen, da es ja eine offenkundige Beziehung einiger Mitglieder der Gruppe zu Karlheinz Stockhausen gibt. Inwiefern aber spiegelt sich dies in der Musik wider? Irmin Schmidt zufolge bestand die Musik Cans sogar in der bewussten Abkehr der damaligen streng seriellen Kompositionsprinzipien Stockhausens.149 Ähnlich äußerte sich David Johnson, der in der Musik Cans eher die Befreiung von Karlheinz Stockhausen denn eine Beeinflussung durch ihn sah.150 Auf der Suche nach Kongruenz wird man in erster Linie im Bereich der Tontechnik fündig. Deutlich wird dies in der Konzeption des von Schmidt in Auftrag gegebenen und im Laufe des Kapitels noch näher besprochenen Synthesizers Alpha 77.151 Die Art der Auswahl der Komponenten zu Bearbeitung von Klangmaterie wie Hallgeräten und Ringmodulatoren ähnelt sehr den von Stockhausen bevorzugten Produktionsmitteln zur externen Klangbearbeitung wie beispielsweise in den Kompositionen »Mixtur« oder »Mikrophonie I+II«. Diese gemeinsame Vorliebe geht einher mit der beiderseitigen Ablehnung des sich gerade etablierenden spannungsgesteuerten Synthesizers.152 Es muss sich dabei nicht zwingend um eine intendierte Beeinflussung durch Stockhausen handeln, es ist aber mit Sicherheit eine Begleiterscheinung seiner Lehrtätigkeit,153 gerade im Hinblick auf die Vermittlung von elektronischer Musik und der dafür notwendigen Studiotechnik. Letzteres war zumindest für Holger Czukay von großer Bedeutung: Der Zugang zum Studio für elektronische Musik in Köln ermöglichte ihm, mit Unterstützung des Stockhausen-Technikers Rolf Geelhaar die Aufnahmen für sein erstes Soloalbum Canaxis 5 im Jahre 1968 zu realisieren und sich dabei für den Sound Cans essenzielle tontechnische Fähigkeiten anzueignen. Evident dabei ist, dass diesem Album als Klangmaterial mit dem Radio erzeugte Kurzwellengeräusche zugrunde liegen, was nach Czukays Aussage unmittelbar durch Stockhausens Komposition »Kurzwellen« inspiriert war.154

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Henshall, Marc: Musique Concrète  – Pioneering Electronic Music  – Part1, in: Sound Matters, 2011, https://www.yoursoundmatters.com/musiqueconcrete1/ (abgerufen am: 07.02.2021). von Zahn 2006, S. 43 f. Ebd., S. 50. Ebd., S. 45. Vgl. Wagner 2013, S. 90 und Dedekind 2008, S. 188. von Zahn 2006, S. 45. Czukay, Holger, http://www.czukay.de/history/essays/stock1.html (abgerufen am: 25.04.2014).

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2 Voraussetzungen

Von Klangmaterie und Technik entkoppelt, sucht man ansonsten zentrale Kompositionsprinzipien Stockhausens in der Musik Cans vergeblich. Weder finden sich Serialität, Formelkompositionen oder Aleatorik, noch lässt sich die Verwendung von additiver Klangsynthese ausmachen. Auf Schmidt persönlich habe vielmehr John Cage, dessen Musik nach Schmidts Meinung als Antipode zu Stockhausen zu verstehen sei, einen großen Einfluss gehabt, ohne dass man das allerdings in der Musik Cans hätte hören können.155 Anhand dieser Aussage zeigt sich, dass sich die Suche nach Stockhausen-Reminiszenzen oder nach Anleihen an andere Vertreter der ernsten Musik wie eben Cage, Ligeti, Kagel und Berio offensichtlich mehr auf einer Metaebene bewegen muss. Man muss dabei der Tatsache Rechnung tragen, dass Karlheinz Stockhausen als sicher unbestritten einer der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Entwicklungen in der Musikgeschichte angedacht und vorangetrieben hat, sei es in Bezug auf die elektronische Klangerzeugung, auf die Einbindung des Raumes in die Komposition wie bei den Aufführungen seiner Werke im Kugelauditorium während der Weltausstellung in Osaka im Jahre 1970 oder auf das Komponieren intuitiver Musik und die Einbindung des Interpreten als Klangmaterial. Stockhausens Eigenschaft als Visionär und die Vermittlung seiner Ideen durch seine Lehrtätigkeit haben nach Meinung Czukays primär dafür gesorgt, dass seine Schüler offen für Neues waren und musikalisch Etabliertes nicht unreflektiert hingenommen haben.156 Genau diese musikalische Herangehensweise scheint das metaphysische Verbindungsstück zwischen Stockhausen und Can zu sein und nicht etwa eine epigonale oder eklektizistische Adaption. Holger Czukay: »Ich habe während meiner klassischen Studien eine Menge gelernt, und als Can anfingen, dachte ich zuerst, ich betrete eine andere Welt. Heute sehe ich die Brücke zwischen diesen beiden Welten, ich sehe Kontinuität.«157 Was macht das Œuvre Cans fernab vermeintlicher Parallelen zur ernsten Musik allerdings so besonders, als dass ihr eine große internationale Reputation beigemessen wird? Wie sich anhand des ersten Albums Monster Movie gezeigt hat, bewegen sich die Stücke eindeutig auf rockmusikalischem Terrain, so dass die Besonderheit gegenüber anderen Krautrock-Vertretern weniger in der Harmonik oder Melodik des Albums zu sehen ist als vielmehr in der rhythmischen Komponente. Hier muss vor allem das extrem präzise, minimalistische Schlagzeugspiel Liebezeits in den Vordergrund gehoben werden, das sich von allem absetzt, was

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von Zahn 2006, S. 44 f. Hoff, Hans: Die anarchistische Methode, 2010, www.sueddeutsche.de/kultur/musiklegende-holgerczukay-die-anarchische-methode-1.284572-4 (abgerufen am: 08.02.2021). Zit. n. Holger Czukay in: Bussy / Hall 1992, S. 14.

2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

man zeitgleich auf deutschen Veröffentlichungen hören konnte.158 Im Vergleich zu vielen Schlagzeugern der damaligen Zeit, die unzählige Drumpattern aneinanderreihten und diese ständig durch Breaks variierten, gründete sich der von außereuropäischer Musik geprägte Liebezeit’sche Stil159 oftmals nur auf ein Pattern, welches im ganzen Stück konsequent durchgehalten und nur geringfügig mit Drumbreaks angereichert wurde. Vor allem zwei Arten von Drumpattern sind aus popmusikwissenschaftlicher Perspektive erwähnenswert. So spielt Liebezeit auf der Aufnahme von »Father Cannot Yell« einen auf Achtelnoten basierenden Grundrhythmus, der durch die Kombination aus einem pulsierenden Bassdrumpattern und minimalistischen Snaredrum-Schlägen auf der zweiten und vierten Zählzeit einen treibenden, marschierenden Charakter erhält. Diese praktizierte Art des monotonen Schlagzeugspiels, welche von Teilen der Musikpresse auch als Motorik160 bezeichnet wurde, findet sich später häufig im Spiel des Kraftwerk- und Neu-Schlagzeugers Klaus Dinger.161

Bsp. 1: Klaus Dinger: Motorik / Apache-Beat

Obgleich ähnlich angelegte Pattern ansonsten auf anderen Krautrock-Produktionen nicht zu finden sind, hat sich diese Art des Schlagzeugspiels durch die retrospektive Emporhebung von Can, Kraftwerk und Neu! im musikjournalistischen Diskurs heutzutage oft zu einem signifikanten Merkmal des Krautrocks transformiert.162 Die zweite Form von für die deutsche Rockmusik genuinen Schlagzeug-Patterns findet sich auf den Folgealben Cans, Soundtracks und Tago Mago. Hier spielt

158

Waechter, Johannes: »Ich bin beim Spielen oft in eine Art Trance geraten«, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 22.12.2011, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/sz-diskothek/jaki-liebezeit-interview-canfree-jazz-rhythmus-87065 (abgerufen am: 04.02.2021). 159 Ebd. 160 González, Diego: The Motorik Beat, 2018, https://blog.pandora.com/us/the-motorik-beat/ (abgerufen am: 04.02.2021). 161 Klaus Dingers favorisierte Bezeichnung dieses Rhythmus war »Apache-Beat«. Perrone, Pierre: Klaus Dinger: Pioneer of the ›motorik‹ beat, in: Independent, 23.10.2011, http://www.independent.co. uk/news/obituaries/klaus-dinger-pioneer-of-the-motorik-beat-806964.html (abgerufen am: 08.02.2021). 162 Vgl. Tangerine Dream: »Madrigal Meridian« auf Cyclone, 1978 und Can: »Mother Sky« auf Soundtracks, 1970.

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2 Voraussetzungen

Liebezeit komplexere, am Funk angelegte synkopierte Patterns,163 deren Besonderheit sich im Vergleich zu den US-amerikanischen Pendants hierbei allerdings sowohl aus der abermals konsequenten, nahezu variationsfreien Monotonie als auch aus der externen Bearbeitung durch Effekte wie etwa einem synchronisierten Delay manifestiert. Die daraus resultierende rhythmische und klangliche Textur wirkt fast wie eine Blaupause für die programmierten elektronischen Rhythmen der englischen Band The Prodigy, die in den 1990er Jahren als einer der führenden Protagonisten des Genres Big Beat galten. Betrachtet man das rhythmische Fundament Cans, muss man natürlich auch dem Bassspiel Holger Czukays Rechnung tragen, welches in Verbindung mit Liebezeits Schlagzeugspiel eine Rhythmusgruppe bildete, die hinsichtlich ihrer Präzision und ihres Timings in der deutschen Rockmusik der damaligen Zeit konkurrenzlos war. Czukay spielte dabei dem Kompositionskonzept Cans folgend, »[…] sich auf das Notwendigste zu beschränken […]164, ähnlich minimalistisch wie Liebezeit. Der Synthese aus Schlagzeug und Bass lag nach Czukays Aussage der Gedankengang zugrunde, »[…] etwas ganz Einfaches mit sehr vielen Wiederholungen [zu] machen«.165 Seiner Ansicht nach lag dabei nicht die Orientierung an Minimalisten wie Terry Riley zugrunde – der zwar rezipiert wurde –, sondern vielmehr die Anlehnung an die US-amerikanische Band The Velvet Underground.166 Czukay selbst oblag allerdings nicht nur im Hinblick auf die Rhythmusgruppe Cans eine wichtige Position, er bekleidete, wie bereits angeführt, gleichfalls die Funktion des Toningenieurs. Dies führt zu einem essenziellen Kriterium in der Musik der Gruppe: Als erste deutsche Rockband erkannten Can für sich die Notwendigkeit, ein eigenes Studio aufzubauen, was ihnen ermöglichte, autark vom Zeit- und Kostendruck, den ein angemietetes Studio mit sich gebracht hätte, an ihren Kompositionen zu arbeiten. Zupasskam ihnen hierbei, dass sie durch ihre Kontakte zur Kunstszene durch einen Mäzen, Christoph Vohwinkel, auf Schloss Nörvenich bei Köln kostenlos Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt bekamen.167 Im Mittelpunkt stand dabei aber nicht eine Artifizialisierung der Musik – das Studio wurde vielmehr zum audiotechnischen Substrat ihrer Kompositionsweise: So wurden alle Jam-Sessions zunächst aufgezeichnet und dann in einem ständigen Rezeptionsprozess ausgewertet, überarbeitet, geschnitten oder abermals neu eingespielt, bis ein alle zufriedenstellendes Ergebnis erreicht wurde, das 163 Vgl. Can: »Tango Whiskeyman«, auf Soundtracks, 1970 und Can: »Mushroom«, auf Tago Mago, 1971. 164 Bussy / Hall 1992, S. S. 17. 165 Zit. n. Holger Czukay in: Bussy / Hall 1992, S. 64. 166 Ebd., S. 64. 167 Ebd., S. 60 f.

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2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

schließlich auf Vinyl gebannt werden konnte.168 Nach Aussage von Jaki Liebezeit wurde die Musik »[…] quasi auf Tonband geschrieben«169  – die Bandmaschine geriet zum wichtigsten Instrument. Auch nach dem Umzug ihres »Inner Space Studio« genannten Studios in ein ehemaliges Kino im Jahre 1971 gestalte sich die Ausstattung immer noch recht spartanisch. Um den Live-Charakter zu konservieren, verzichte man weitgehend auf Overdubs, weshalb Can lange Zeit lediglich nur mit zwei Revox A 77 Stereo-Bandmaschinen arbeiteten.170 Der Einsatz externer Effekte während der Aufnahme oder zur Nachbearbeitung des Rohmaterials erfolgte ebenfalls nur in einem überschaubaren Rahmen. Neben der Verwendung herkömmlicher Effekte wie Verzerrern, Hall-, Echo- und Phasing-Geräten sahen Can für sich auch keine Notwendigkeit, immer zur allerneuesten Technologie zu greifen, die ihre Musik in Relation zu anderen Krautrock-Produktionen zu einer klanglichen Ausnahmestellung verholfen hätte, wie es etwa bei Popol Vuh oder Tangerine Dream durch die Nutzung des Synthesizers der Fall war. Bemerkenswert war allerdings die Kombination verschiedener Effekte. So konstruierte Irmin Schmidt zusammen mit einem Schweizer Ingenieur ein mit dem Namen Alpha  77 versehenes Gerät,171 das neben zwei Oszillatoren über ein Bandecho, einen Ringmodulator, ein Hallgerät sowie über einen Pitch-Shifter verfügte, durch das er seine Farfisa Orgel sowie sein Farfisa E-Piano schleifen und damit seiner Ansicht nach viel interessantere Klänge als mit einem Synthesizer erzeugen konnte.172 Auch die Bearbeitung des Schlagzeugsounds mittels eines Bandechos bei gleichzeitig hoher Feedback-Einstellung sorgte bei einigen Aufnahmen für ein Klangbild, das zu Beginn der 1970er Jahre in der deutschen Rockmusik nicht zu finden war. Hinsichtlich des Schlagzeugs nicht unerwähnt bleiben darf ferner die Implementierung eines Drumcomputers. Obgleich im Bereich der Popularmusik die Verwendung desgleichen durch die Aufnahme von Robin Gibbs Stück »Saved By The Bell« aus dem Jahre 1969 in den Charts Einzug hielt173 und sowohl Sly & the Family Stone als auch Kraftwerk174 1971 respektive 1972 einen Drumcomputer verwendeten, gebührt Can zumindest als deutsche Gruppe die Vorreiterrolle, 168 169

Ebd., S. 134. Waechter, Johannes: »Ich bin beim Spielen oft in eine Art Trance geraten«, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 22.12.2011, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/sz-diskothek/jaki-liebezeit-interview-canfree-jazz-rhythmus-87065 (abgerufen am: 04.02.2021). 170 Bussy / Hall, 1992, S. 131. 171 sequencer.de: Alpha 77, 2011, https://www.sequencer.de/synthesizer/threads/alpha-77.54662/ (abgerufen am: 02.02.2021). 172 Dedekind 2008, S. 189. 173 Der Song erreichte in den UK-Charts den 2. Platz. https://en.wikipedia.org/wiki/Saved_by_the_ Bell_(song) (abgerufen am: 03.02.2021). 174 Vgl. Kraftwerk: »Klingklang«, auf Kraftwerk 2, 1972 und Sly &  the Family Stone: »Family Affair« auf There’s a Riot Goin’ On, 1971.

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2 Voraussetzungen

sich in Form ihres Hits »Spoon« als erste mit einem solchen Gerät in den deutschen Charts platzieren zu können.175 Ob dieser Hit, der die Gruppe als einziger Vertreter des Krautrocks Anfang der 1970er Jahre einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland bekannt machte, im Nachhinein dafür ausschlaggebend war, dass Can in der retrospektiven Wahrnehmung in einem Atemzug mit Kraftwerk, Tangerine Dream und den Scorpions genannt werden, wenn es um die Schlüsselfiguren der deutschen Rock- und Popmusik geht, sei dahingestellt. Unzweifelhaft ist aber die internationale Reputation176 Cans der Tatsache geschuldet, dass ihre Musik durch ihre instrumentale Versiertheit, auf der einem Nährboden gleich ihre Kompositionsmethode der kollektiven Improvisation basierte, im Vergleich zu vielen anderen Krautrock-Formationen einen deutlich höheren Reifegrad besaß. Das musikalische Endergebnis konnte zum einen spieltechnisch problemlos mit dem internationalen Standard angloamerikanischer Produktionen mithalten,177 zum anderen führte das musikalische Vermögen der Bandmitglieder dazu, dass man sich ornamentaler Aufwertungsversuche wie beispielsweise des in den 1960er/1970er Jahren gängigen überbordenden Solospiels weitgehend entziehen und so durch eine transparente und minimalistische Textur eine auch im internationalen Vergleich eigenständige Musik hervorrufen konnte.

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»Spoon« erlangte v. a. durch den Umstand große Aufmerksamkeit, dass er als Filmmusik in der 1971 im ersten deutschen Fernsehen ausgestrahlten Durbridge-Verfilmung »Das Messer« verwendet wurde. Die im deutschen Fernsehen ausgestrahlten Verfilmungen der Romane von Francis Durbridge erreichten damals Rekordeinschaltquoten, die ihnen schnell den Begriff »Straßenfeger« einbrachten. »Spoon« erreichten im Dezember des Jahres 1971 schließlich Platz 6 der Deutschen Hitparade. https://de.wikipedia.org/wiki/Can_(Band) (abgerufen am: 03.02.2021). Gluckin, Tzvi: Forgotten Heroes: Can, in: Premier Guitar, 24.04.2018, https://www.premierguitar. com/articles/27222-forgotten-heroes-can (abgerufen am: 05.02.2021). Holger Czukay befand hingegen im Jahre 2013, dass Can im internationalen Vergleich ebenso wie alle anderen deutschen Rockgruppen nicht mit den angloamerikanischen Vertretern mithalten konnte: »Nach den Maßstäben, die England gesetzt hatte, waren wir [Can] eine schlechte Band. […] Wir machten viel zu viele Fehler.« Zit. n. Holger Czukay in: Witter, Simon und Rossacher, Hannes: Kraftwerk – Pop Art, 2013, https://www.youtube.com/watch?v=jjCduxgK5dw (abgerufen am: 02.02.2021). Dieses Zitat muss allerdings ausschließlich als pures Understatement betrachtet werden. Den Studioproduktionen Cans ist in diesem Hinblick jedenfalls keinerlei Qualitätsmangel anzuhören. Auch im Hinblick auf Live-Auftritten muss man konstatieren, dass, wie anhand vieler Bootleg-Mitschnitten von beispielsweise Pink Floyd oder Jimi Hendrix zu vernehmen ist, die klangliche und / oder spieltechnische Qualität genau den gleichen Schwankungen unterworfen war, die Czukay im Hinblick auf Can bemängelte.

2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

2.4.2  Organisation – die musikalische Findungsphase von Ralf Hütter und Florian Schneider Über die Entstehung Kraftwerks kursieren verschiedene Versionen, die nicht eindeutig zu verifizieren sind. Auf der einen Seite reklamiert der Bassist Eberhard Kranemann einen maßgebenden Anteil an der Gründung der Gruppe durch eine Reihe von Faktoren für sich:178 Zum einen habe er in seiner gemeinsamen musikalischen Arbeit mit Florian Schneider diesen bereits im Jahre 1967 mit experimenteller Musik in Berührung gebracht und damit den musikalischen Grundstein für die ersten Kraftwerk-Alben gelegt. Außerdem sei er es gewesen, der durch seine Bekanntschaft mit dem Produzenten Conny Plank ebenso die klangtechnische Seite Kraftwerks in entscheidende Bahnen geleitet habe. Auf der anderen Seite firmiert als offizielle Version – aus der Warte von Ralf Hütter und Florian Schneider – als Gründungsdatum Kraftwerks das Jahr 1970.179 Infolge der Kanonisierung ihres Werkes durch die neubearbeitete Kompilation Der Katalog im Jahre 2009 beginnt der für Kraftwerk musikalisch repräsentative Zeitraum sogar erst mit der Veröffentlichung des Albums Autobahn im Jahre 1974. Inwiefern es sich hier um gezielte Mythenbildung von Hütter und Schneider oder um durch Ausgrenzung und Nichtberücksichtigung hervorgerufene Ressentiments seitens Kranemanns handelt, der an keiner veröffentlichten Einspielung der Gruppe teilgenommen hat, ist nicht eindeutig zu klären. Zwar verdient es der Erwähnung, da es exemplarisch für die diffuse Quellensituation und die oftmals juristischen Auseinandersetzungen um Autorschaft innerhalb des Kraftwerk-Kosmos steht, es mag auch für die Frühphase Kraftwerks hinsichtlich der musikalischen Genese interessant sein – für den späteren internationalen Erfolg spielt es aber nur eine geringe Rolle, da die Gruppe zu diesem Zeitpunkt, im Jahre 1974, im Vergleich zur Anfangszeit eine radikale musikalische Metamorphose vollzogen hatte. Fakt ist, dass die für die heutige musikhistorische Bedeutung Kraftwerks maßgebenden Personen Ralf Hütter und Florian Schneider sind, weshalb die Rezeptionsgeschichte der Gruppe analog zu den (musikalischen) Biografien dieser beiden Protagonisten zu betrachten ist. Als schwierig erweist sich hierbei, dass sich bei der Auswertung diverser Interviews von Hütter und Schneider zahlreiche Widersprüche finden, gleiches gilt für die Aussagen der übrigen ehemaligen Mitglieder Kraftwerks. Dennoch soll hier durch die Gegenüberstellung einiger kontroverser Positionen der Versuch unternommen werden, ein wenn auch nicht 178 179

Buckley 2013, S. 45 ff. Ralf Hütter im Interview mit Olaf Zimmermann für Radio Eins am 14.01.2015, http://www. radioeins.de/programm/sendungen/elektro_beats/interviews/kraftwerk---rueckblick-auf-diekonzerte.html (abgerufen am: 29.04.2017).

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2 Voraussetzungen

sehr detailliertes, zumindest doch für das Verständnis der Entstehung und Entwicklung Kraftwerks glaubwürdiges und nachvollziehbares Bild zu zeichnen. Ralf Hütter, geboren 1946 in Krefeld und dort aufgewachsen, spielte als Organist ab Mitte der 1960er Jahren in der Krefelder Musikszene in den Beat-Gruppen The Quatermasters und The Phantoms sowie in der Bluesband Bluesology.180 Florian Schneider, geboren 1947 in Kattenhorn / Baden-Württemberg, wuchs in Düsseldorf auf. Bezüglich der musikalischen Vorbildung von Hütter und Schneider kursieren diverse Versionen: Ausschlaggebend dafür ist die Angabe Hütters in einem Interview im New Melody Maker Magazine im Jahre 1981, dass sowohl Hütter als auch Schneider Musik studiert hätten.181 Ob dies einem Kommunikations- beziehungsweise Übersetzungsfehler oder der gezielt stilisierten akademischen Außenwirkung der Gruppe geschuldet war, ist nicht zu belegen, diese Aussage wurde jedoch unkritisch in zahlreichen Publikationen übernommen, obwohl sie nachweislich falsch ist. Als vielmehr gesichert gelten kann, sowohl durch Aussagen von Hütter selbst als auch von zahlreichen anderen Kraftwerk-Musikern, dass Hütter in seiner Jugend zwar Klavierunterricht nahm, ansonsten aber in Aachen Architektur studierte. Eine ähnliche Diskrepanz lässt sich bezüglich der ebenfalls häufig kolportierten Annahme, Schneider habe an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf Flöte studiert, feststellen. Schneider selbst äußerte sich zu seiner Ausbildung wie folgt: »Ich hab’ bis zu einem gewissen Punkt ernsthaft studiert, aber dann fand ich es langweilig. Ich war auf der Suche nach etwas anderem, für mich war die Flöte einfach zu limitierend.«182 Ob mit »studieren« dezidiert ein Hochschulstudium gemeint ist, geht aus dieser Aussage nicht klar hervor. Das ehemalige Kraftwerk-Mitglied Karl Bartos behauptet etwa, Schneider habe nur Privatstunden bei einer Dozentin der Hochschule gehabt.183 Schneiders Schwester Claudia Schneider-Esleben, erwähnte in einem Interview, dass Florian Schneider von besagter Dozentin – Rosemarie Popp – an

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Von diesen Formationen gibt es weder Tonträger noch Live-Mitschnitte, lediglich ein Artikel in der Westdeutschen Zeitung vom 6.11.1965 verweist in einer Kritik eines Konzertes von The Quatermasters auf das »gut zur Geltung kommende Orgelspiel Hütters beim Stück ›The House of the Rising Sun‹«. Daran lässt sich erahnen, dass es sich musikalisch, wie in der Bundesrepublik damals bei vielen Beat-Formationen üblich, offensichtlich um Coverversionen bekannter Stücke angloamerikanischer Rock- und Beat-Gruppen gehandelt hat, das Orgelspiel Hütters also im Bereich von pentatonischen Skalen und Blues-Licks einzuordnen ist. Diese Annahme wird neben seinem Mitwirken in der Bluesband Bluesology v. a. durch die Improvisationsteile auf der Organisation-Veröffentlichung Tone Float begründet, wie im Laufe dieses Kapitels noch ersichtlich wird. Hellfeier 2006, S. 61. Vgl. Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit dem Electronics and Musik Maker Magazine im September 1981, http://kraftwerk.technopop.com.br/interview_13.php (abgerufen am: 14.05.2009). Zit. n. Florian Schneider in: Bussy 1995, S. 23. Buckley 2013, S. 37.

2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

das Robert-Schumann-Konservatorium gebracht worden sei. Ferner habe Schneider gegen Anfang der 1970er Jahre in Köln Musikwissenschaft studiert.184 Es herrscht diesbezüglich offensichtlich Verwirrung, so dass man lediglich konstatieren kann, dass sowohl Hütter als auch Schneider im Vergleich zu vielen anderen deutschen Rockmusikern keine Autodidakten sind, sondern über eine musikalische Ausbildung verfügen, die sich zumindest im Falle Schneiders, wie auf dem ersten Album zu vernehmen ist, auf einem hohen Niveau bewegt. Widersprüche lassen sich auch im Kontext der finanziellen Verhältnisse Schneiders und Hütters ausmachen. Diese Thematik ist insofern von Wichtigkeit, als dass, wie schon im Falle der Gruppen Tangerine Dream und Popol Vuh zu sehen war, der Einsatz von Instrumenten wie beispielsweise des Synthesizers gegen Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre große Aufmerksamkeit mit sich brachte, diese Technologie aber aufgrund der hohen Anschaffungskosten nur wenigen vorbehalten war, weshalb sich die Musiker mit entsprechenden finanziellen Mitteln relativ einfach aus der Fülle von Pop- und Rockproduktionen absetzen konnten. Dies trifft insbesondere für Kraftwerk zu, als dass sie zum einen durch den Aufbau ihres Kling Klang Studios sehr früh autark von ökonomischen Produktionssachzwängen wie beispielsweise der Begrenzung von Aufnahmezeit waren, zum anderen durch die Fokussierung auf Instrumentarium und Studiotechnik eben diese Technologie zugleich als sinnästhetisierendes Kompositionselement einsetzten, ein dementsprechender finanzieller Background dafür folglich vonnöten war. Auch hier ist lediglich gesichert, dass Schneider durch seinen Vater, den Architekten Paul Schneider-Esleben, sehr begütert aufgewachsen ist. Zur Frage, inwiefern ihm elterliche monetäre Mittel auch zur freien Verfügung standen, gibt es allerdings unterschiedliche Meinungen. Nach Ansicht des ehemaligen Kraftwerk-Schlagzeugers Wolfgang Flür bekam Schneider von seinem Vater nur wenig Geld.185 Ein Großteil der ehemaligen Kraftwerk-Mitglieder behauptet allerdings das Gegenteil. Eberhard Kranemann zufolge verfügte Schneider bereits gegen Ende der 1960er Jahre stets über das neueste Instrumentarium, was sich in einer großen Auswahl an Flöten mit teilweise elektronischer Modifizierung widerspiegelte.186 Auch bezüglich Ralf Hütters finanzieller Möglichkeiten gibt es wenig verlässliche Informationen. Der Tenor der ehemaligen Mitglieder Kraftwerks lautet zwar, dass Hütter – mal Sohn eines Arztes,187 mal eines Textilhänd-

184 185 186 187

Terstiege 2020, S. 63. Buckley 2013, S. 79. Ebd., S. 52. Bussy 1995, S. 22.

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2 Voraussetzungen

lers188 – ebenfalls reich aufgewachsen sei und stets über genügend Geld verfügt hätte. Hütter selbst behauptete allerdings, dass Kraftwerk im Jahre 1970 nicht genug Geld für die Abmischung vorher selbst vorproduzierter Bänder gehabt habe und daher auf den Produzenten Conny Plank zurückgreifen musste, der diesbezüglich aushalf.189 Diese Behauptung, die vermeintlich die These widerlegen mag, dass Hütter und Schneider über ausreichend monetäre Mittel verfügten, ist allerdings aus verschiedenen Gründen fragwürdig: Im Wesentlichen ist sie im Zusammenhang mit dem Anteil der Autorschaft Planks an der Musik Kraftwerks zu sehen, die im Laufe dieser Arbeit noch mehrfach zu thematisieren sein wird. In vielen Interviews wird vor allem von Hütter immer wieder betont, dass Plank lediglich ein unterstützender Techniker gewesen sei, der mit der Produktion nichts zu tun gehabt habe, währenddessen auch hier der Großteil der ehemaligen Kraftwerk-Mitglieder die Arbeit von Plank als maßgeblich für den Erfolg der Gruppe sieht. Insofern kann die Argumentation, lediglich aus finanzieller Notwendigkeit mit Plank zusammengearbeitet zu haben, durchaus nur vorgeschützten und sicherlich auch diskreditierenden Charakter haben. Ferner war zwar das erste Kraftwerk-Album mit Platz 30 in den deutschen Charts und dem 20-wöchigen Verbleib in den Top 50190 durchaus ein Erfolg  – allerdings dürfte er in dieser Größe und angesichts der rückläufigen Verkäufe der beiden Nachfolgealben Kraftwerk 2 und Ralf und Florian191 in den Jahren 1971 und 1973 nur bedingt zum Lebensunterhalt und gleichzeitigen Aufbau ihres Kling Klang Studios ausgereicht haben. Angesichts der Plattenverkäufe und Konzerttätigkeiten – von anderen geldeinbringenden Tätigkeiten ist nichts bekannt  – ist es folglich durchaus möglich, dass die in diesem Zeitraum getätigten sehr kostspieligen Investitionen wie die Anschaffung von Synthesizern wie dem Minimoog, dem EMS AKS und dem ARP Odyssey192 sowie der in Auftrag gegebenen Spezialanfertigung eines Vocoders durch Peter Leunig und Karl Obermeyr primär durch externe Geldquellen elterlicher Herkunft finanziert wurden. Die Kombination aus produktionstechnologischem Vorsprung und der unbegrenzt zur Verfügung stehenden, weder durch die Notwendigkeit des Nachgehens anderer beruflichen Tätigkeiten zwecks Einkommenssicherung noch durch die durch Kostendruck 188 189 190 191 192

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Buckley 2013, S. 49. Hütter bezieht sich damit auf das im Jahre 1970 veröffentlichte Album Kraftwerk. Ehnert 1980, S. 34. Während sich Kraftwerk 2 immerhin noch Platz 36 der deutschen Charts erklimmen konnte und sich acht Wochen in den Top 50 hielt, gelang Ralf und Florian der Einstieg in die Top 50 nicht. Ebd. Der Minimoog kostete 1974 $ 1.595. Dies entsprach bei einem Kurs von $ 1 = DM 2,59 ungefähr DM 4.159. Moog Retail Price List, 1974, http://retrosynthads.blogspot.de/2012/01/moog-retailprice-list-1974.html (abgerufen am: 05.02.2021). Der EMS AKS kostete 1974 $ 1.959. EMS Price List, 1974, http://www.synthfool.com/pricelists/prices74e.html (abgerufen am: 05.02.2021).

2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

seitens der Plattenfirma limitierten Studioaufnahmezeit, die die Voraussetzung für den internationalen Durchbruch des Albums Autobahn im Jahre 1974 war, ist bei Kraftwerk also unmittelbar der gesellschaftlich privilegierten Herkunft Ralf Hütters und Florian Schneiders geschuldet. Bevor nun im Einzelnen der Beginn ihrer Zusammenarbeit dargelegt werden soll, lohnt es sich, einen Blick auf ihre individuelle musikalische Arbeit gegen Ende der 1960er Jahre zu werfen, beginnend mit Florian Schneider, da sich dieser bereits 1967 mit experimenteller Musik beschäftigte, die eine große Ähnlichkeit zu den ersten Kraftwerk-Veröffentlichungen hatte,193 während Ralf Hütter zeitgleich noch in der Blues-Band Bluesology spielte. Wie in Kapitel 2.1 erläutert, handelte es sich in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren um eine Zeit, die von gesellschaftlichen und politischen Spannungen und Umbrüchen geprägt war. Noch mehr als in anderen Zentren Deutschlands war die aufstrebende neue deutsche Rockmusik allerdings entlang des Niederrheins in einen Kunstkontext eingebettet, der neben gegenseitiger geistiger Befruchtung durch das Zurverfügungstellen eines Konzertraumes auch als infrastrukturelle Basis diente. Besonders in Düsseldorf durch Joseph Beuys und seine Arbeit an der dortigen Kunsthochschule bedingt fanden zahlreiche Konzerte im Zusammenhang mit Kunstaktionen der damals gerade in Deutschland aufkommenden Fluxus-Bewegung statt. Diese wurde 1960 in New York durch den Amerikaner George Maciunas gegründet und durch seine Stationierung als Soldat ab dem Jahre 1961 in Wiesbaden nach Deutschland transferiert und hatte es sich zum inhaltlichen Ziel gemacht, mit »Konzerten als auch mit […]›Events‹ [, …] direkt an die Praxis des italienischen Futurismus anzuknüpfen«.194 Dabei handelte es sich um Kunstaktionen, die aus collagierten Ereignisabläufen bestanden, bei denen Akustik und Choreographie sich untrennbar aufeinander bezogen. Im Zentrum stand die Degradierung und Entfetischisierung des als bürgerlich empfundenen Kunstwerks zugunsten der künstlerischen Idee als einzig gültigem Wert.195 Die auditive Seite dieser Performances wurde nicht als Einbindung von Musik im Sinne der am klassischen Vorbild orientierten künstlerischen Ausfertigung der Parameter Melodik und Harmonik, sondern als Erzeugung von Geräuschen verstanden. Aufgrund des Kunstkontextes waren bei diesen Konzerten die musikalischen Akteure auch keine ausgebildeten Musiker, sondern Künstler beziehungsweise Kunststudenten, deren Intention dabei nicht in der Darbringung – so denn

193 194 195

Buckley 2013, S. 53. Schneede 2001, S. 207. Ebd., S. 209.

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2 Voraussetzungen

überhaupt vorhandener  – eingeübter Klassik-, Rock- oder Popfragmente lag, sondern im Experimentieren mit Klang an sich. Einer dieser Studenten war der bereits oben angesprochene Eberhard Kranemann, der mit seinem musikalischen Experimentalprojekt Pissoff im Jahre 1968 an einer Beuys-Performance teilnahm.196 In diese Zeit fällt auch die Zusammenarbeit Kranemanns mit Florian Schneider. Ob Kranemann, wie von ihm behauptet, nun derjenige war, der Schneider und später auch Hütter experimentelle Musik vermittelt hat und damit den Ausgangspunkt der musikalischen Entwicklung Kraftwerks bildet,197 ist wie erwähnt nicht hinreichend belegbar. Man kann aus dieser Aussage aber schlussfolgern, dass die Zusammenarbeit ab 1967 zwischen Kranemann und Schneider offensichtlich aus musikalischen Experimenten bestand, die durch das semantische Verständnis dieser Begrifflichkeit in den 1960er Jahren innerhalb des weit gefassten Kosmos des Krautrock als Synonym von musikalischer Improvisation zu verstehen sind, sei sie nun als Improvisation mit musikalisch tradiertem Material über musikalisch tradierten Formen wie zum Beispiel im Rock und im Blues durch pentatonische Skalen über vorgegebenen Formschemata zu verstehen oder als nicht determiniertes, freies Operieren mit Klang wie im Free Jazz. In jedem Falle impliziert dieser Terminus in Bezugnahme auf das Zusammenspiel mehrerer Musiker immer die Interaktion und damit auch die gegenseitige Beeinflussung. Das Ergebnis ist also ein in unterschiedlichen Graduierungen kollektives Werk. Es ist dabei nicht auszuschließen, dass Kranemanns Einfluss auf das Resultat größer war als der Schneiders, die Selbststilisierung Kranemanns als Ausgangspunkt der einer klangästhetischen Doktrin Kraftwerks scheint aber eher übertrieben zu sein. Als zweiter und bis zur heutigen Zeit nur noch einzig existierender Strang Kraftwerks fungiert die musikalische Entwicklung Ralf Hütters ab dem Zeitpunkt seines Ausstiegs aus Bluesology und der daraufhin von ihm ins Leben gerufenen Gruppe Organisation im Jahre 1968. Es ist hierbei nicht klar, inwiefern Florian Schneider an der Gründung beteiligt war. Hütter und Schneider lernten sich 1968 während eines Popkurses an der Akademie in Remscheid198 kennen und musizierten von da an gemeinsam in unterschiedlichen Formationen, sowohl in Düsseldorf mit unter anderem Eberhard Kranemann als auch in Hütters

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Kranemann, Eberhard: Performance mit Joseph Beuys (Handaktion) und der Musikgruppe Pissoff im Creamcheese, Düsseldorf, 1968, https://www.e-kranemann.de (abgerufen am: 05.02.2021). In einem anderen Interview gibt Kranemann als Datum der Performance das Jahr 1967 an. Buckley 2013, S. 46. 197 Ebd., S. 50. 198 NMZ 7/2018: 60 Jahre Akademie der Kulturellen Bildung, 2018, https://www.nmz.de/artikel/60jahre-akademie-der-kulturellen-bildung (abgerufen am: 05.02.2021).

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2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

damaligem Wohnort Aachen. Der Schlagzeuger von Bluesology, Rolf Jeuken, äußerte sich dazu folgendermaßen: »Ralf Hütter hatte damals eine ganze Menge Ideen. Mit Florian Schneider-Esleben wollte er eine ganz neue Art von Musik machen. Doch bei den Stücken, die Ralf machte, diente der Schlagzeuger eigentlich nur als Rhythmusmaschine. […]. Daher schlug ich sein Angebot für eine neue Band aus.«199

Neben dem Hinweis auf die maschinelle Komponente in Hütters Musik spräche dies zumindest dafür, dass Hütter und Schneider ein gemeinsames Musikprojekt hatten; ob sich dies auf Organisation oder erst auf Kraftwerk bezieht, ist diesem Zitat nicht zu entnehmen. Eine Konzertkritik der »Neue[n] Rhein-Zeitung« vom 24.1.1969 weist die Gruppe als »Ralf Hütter, Basil Hammoudi and the Organisation« aus.200 Obwohl Florian Schneider bei diesem Konzert namentlich erwähnt wird, liegt der Fokus eindeutig auf Ralf Hütter: So habe er sich nach seinem einige Monate vorher erfolgten Ausstieg aus Bluesology auf die Suche nach einem neuen Sound gemacht, den er nun »mit Musikern aus drei Ländern [gefunden habe], die den eigenwilligen Vorstellungen des 22jährigen Krefelder Architekturstudenten folgen konnten«.201 Dass in diesem Artikel Hütter gleichfalls als »Leader« bezeichnet wird, der seinen Mitmusikern »viel Raum für Improvisation und rhythmische Steigerungen« lässt,202 verdeutlicht die offensichtliche Führungsposition Hütters innerhalb der Gruppe, die er bis heute auch bei Kraftwerk innehat. Ferner wird augenscheinlich, um welche Art von Musik es sich handelt: sowohl der Auftrittsort, der Hinweis auf die Möglichkeiten zur Improvisation der Musiker als auch die Aussagen Hütters, der die Musik als »ausgefallen« bezeichnet und als »Free Rock« kategorisiert.203 Der Kritiker selbst definiert das Dargebrachte als »eine faszinierende Mischung aus Avantgarde-Pop-Musik, Free Jazz und orientalischen Klangelementen«.204 Mit anderen Worten: All diese Attribute finden sich im musikalischen Raster des Krautrocks wieder. Hütter selbst beschrieb 1991 die damalige Situation wie folgt: »Wir hatten eigentlich keine Strategie, wir stürzten uns einfach in die Herstellung von industrieller Musik und ließen damit alle anderen vorherigen Aktivitäten hinter uns – unsere Erziehung,

199 Zit. n. Rolf Jeuken in: Hellfeier, 2006, S. 21. 200 NRZ 1969, S. 191. 201 Zit. n. ebd. 202 Ebd. 203 Ebd. 204 Ebd.

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2 Voraussetzungen

unsere musikalische Ausbildung. Für uns war es der totale Bruch.«205 Außerdem sei es die Intention gewesen, »zeitgemäße elektronische Musik«206 zu machen. Man begegnet bei diesen Aussagen einer immer wiederkehrenden, typischen medienpolitischen Färbung, die primär durch Hütters Äußerungen die Frühphase Kraftwerks nachträglich als permanente Pionierleistung hinsichtlich der Genese der populären elektronischen Musik darzustellen versucht. Darauf deutet zum einen das Herausheben des Spielens von industrieller und elektronischer Musik, die es in dieser Zeit im popmusikalischen Kontext noch nicht gab, zum anderen schwingt in diesem Kommentar die Betonung auf das Brechen mit Traditionen, Konventionen und Erlerntem mit. Das mag sicherlich in Bezug auf Hütters Vergangenheit als Organist in den Krefelder Beat-Gruppen der Fall sein. Wie allerdings die Analyse des ersten, im Jahre 1970 veröffentlichten und mit Tone Float betitelten Tonträgers der Gruppe207 zeigen wird, ist das klangliche Resultat im Vergleich zu damals schon längst etablierten Gruppen wie den in dieser Arbeit bereits mehrfach zitierten Pink Floyd nicht revolutionär, sondern epigonal. Dennoch lohnt ein Blick auf diese Aufnahme, da sie die erste auf Tonträger festgehaltene musikalische Tätigkeit von Ralf Hütter und Florian Schneider dokumentiert und daher den Beginn der musikalischen Entwicklung Kraftwerks repräsentiert. Auch wenn Eberhard Kranemann der Meinung ist, dass gegen Ende der 1960er Jahre Kraftwerk  – damals noch ohne Namen  – und Organisation zeitgleich in zwei Städten, Düsseldorf und Aachen, existierten, in denen teilweise dieselben Musiker mitspielten,208 das Entstehen Kraftwerks aus chronologischer Perspektive also mit seiner gemeinsamen Arbeit mit Florian Schneider gleichzusetzen sei, kann die Analyse der musikalischen Entwicklung der Gruppe erst mit Organisation beginnen, da es keine anderweitigen, zeitlich vorher veröffentlichten Aufnahmen aus diesem Band-Konglomerat gibt. 2.4.3  Tone Float – Entstehung, Textur und Positionierung innerhalb der Musikgeschichte Das 1970 durch RCA in Großbritannien veröffentlichte Album Tone Float der Gruppe Organisation wurde im Jahre 1969 den Angaben des Covers zufolge mit folgender Besetzung eingespielt:

205 Zit. n. Ralf Hütter in: Bussy 1995, S. 24. 206 Ebd. 207 Hier nur noch Organisation genannt. 208 Buckley 2013, S. 51 ff.

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2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

Ralf Hütter: Hammond-Organ Florian Schneider-Esleben: Electric Flute, Alto Flute, Bell, Triangle, ­Tambourine, Electro-Violin, Percussion Basil Hammoudi: Glockenspiel, Conga, Gong, Musical Box, Bongos, Percussion, Voice Butch Hauf: Bass-Guitar, Shaky Tube, Small Bells, Plastic Hammer, Percussion 209 Drums, Bongos, Maracas, Cowbell, Tambourine, Alfred Mönicks: Percussion Als Komponisten werden Schneider, Hauf und Mönicks angegeben.210 Als Produzent und Toningenieur zeichnete Conny Plank verantwortlich. Sowohl hinsichtlich seiner Instrumentierung, seiner musikalischen Substanz als auch seines Artworks respektive der Namensgebung der einzelnen Stücke lässt sich das Album in allen Facetten dem in dieser Arbeit hinlänglich diskutierten psychedelischgeprägten Zweig des Krautrock zuordnen: So finden sich neben esoterischen Namen wie dem Titelstück »Tone Float« auch fantastische Wortkreationen wie »Noitasinagro«; alles an diesem Werk orientiert sich an den diese Musikrichtung prägenden Blaupausen A Saucerful of Secrets und Ummagumma von Pink Floyd. Obwohl die Platte von einem englischen Verlag veröffentlicht wurde und dies auch ein Grund dafür gewesen sein dürfte, dass die Kreditierung auf Englisch erfolgte, unterstreicht die Herleitung des bilingual deutbaren Wortes Organisation vom ursprünglichen Namen der Formation Ralf Hütter, Basil Hammoudi and the Organisation sowie die generell englische Namensgebung eine klare angloamerikanische Affirmation, die mit dem späteren, gezielt als deutsch dargestellten Image Kraftwerks noch nichts zu tun hat. In diesen Kanon eintretend setzt sich die Musik gleichfalls baukastenartig aus verschiedenen, im Jahre der Einspielung bereits standardisierten Kriterien des Psychedelic Rock zusammen. Entgegen Hütters Aussage vom »totalen Bruch« gegenüber dem Vorhergebrachten und von der Intention, industrielle und elektronische Musik zu erzeu-

209 210

Kreditiert als »Fred Monicks«. Aus welchem Grund Ralf Hütter und Basil Hammoudi nicht kreditiert sind, obwohl sie als einzige bei Konzerten namentlich im Titel der Gruppe (vgl. NRZ 1969) erwähnt wurden und auch in der Auflistung der an Tone Float beteiligten Musiker als erste genannt werden, ist nicht erklärbar. Zumindest die nicht erfolgte Nennung Hütters als Komponist muss ein Fehler sein: Bei der GEMA ist von diesem Album nur das Stück »Milkrock« aufgelistet. Als Komponisten sind hier Hütter und Schneider angegeben. https://www.gema.de/portal/app/repertoiresuche (abgerufen am: 06.02.2021).

71

2 Voraussetzungen

gen,211 lässt sich genau dieses Vorhaben in keiner Note des Album nachvollziehen: Dies beginnt mit der Instrumentierung, die durch die Verwendung von Schlagzeug, Bass und Orgel zunächst eine typische Rock-Rhythmusgruppe repräsentiert. Allenfalls das Fehlen einer (elektrischen) Gitarre erscheint einigermaßen unkonventionell. Die Addition von Flöten, einer Geige und einer Fülle von Perkussionsinstrumenten reiht sich stilistisch ebenfalls in die damals übliche Erweiterung des Instrumentariums durch asiatische Elemente ein. Die Attribute »indus­ triell« und »elektronisch«, die man etwa mit dem Klangspektrum des Synthesizers assoziiert, finden bis auf wenige Beispiele im Flötenspiel Schneiders keinerlei akustische Umsetzung. Was zeichnet die musikalische Textur des Albums aus? Im Vergleich zu Pink Floyd fällt auf, dass das in den Alben A Saucerful of Secrets und Ummagumma weitgehend ausgeglichene Verhältnis von Rock- und Popstrukturen bezüglich einer Erkennbarkeit von Strophe und Refrain – zu hören etwa bei Kompositionen wie »Let there be more light« oder »Remember a day« – und frei gestalteten sowie atonal gehaltenen Passagen wie beim Titelstück »A Saucerful of Secrets« oder »The Grand Vizier’s Garden Party« sich auf Tone Float deutlich zu Klangexperimenten hin verschoben hat: Ausformulierte Melodien weichen hier langen Improvisationsstrecken. Die eigentlichen Kompositionen sind nicht in Form von Hooklines greifbar, sondern anhand eines teilweise collagenhaften, auf meistens nur eine Harmonie reduzierten Klangambientes auszumachen, welches hin und wieder tonal und / oder instrumental ausgedünnt oder verdichtet wird. Lediglich im Stück »Noitasinagro« gibt es eine aus drei verschiedenen Akkorden bestehende Harmonik. Es ist offensichtlich, dass die Musik im Studio einem groben, vorher abgesteckten Raster folgend kollektiv improvisiert wurde. Speziell durch die Verwendung der Hammond-Orgel und des Tremolo-Effektes drängen sich Parallelen zum im Jahre 1971 veröffentlichten Album Alpha Centauri von Tangerine Dream auf. Dies dürfte allerdings weniger Rückschlüsse auf eine Beeinflussung von Tangerine Dream durch Organisation zulassen als vielmehr auf die Omnipräsenz des Pink Floyd-Sounds in der hier diskutierten Subgruppe des Krautrock hindeuten. Wie sieht es mit etwaigen musikalischen Parallelen zu Can aus? Irmin Schmidt negierte wie erwähnt jegliche musikalische Ähnlichkeiten, er sprach der Musik auch ab – und hiermit dürfte der von Ralf Hütter im Hinblick auf die Definition der Musik Kraftwerks oft benutzte Begriff der elektronischen Volksmusik respektive einer industriellen Musik des Ruhrgebietes gemeint sein –, lokal geprägt

211

72

Zit. n. Ralf Hütter in: Bussy 1995, S. 24.

2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

zu sein: »Dass sich Kraftwerk zu technoiden Robotern entwickelt haben, ist eine Ästhetik, die nichts mit Düsseldorf zu tun hat. Die waren nebenan und machten trotzdem das Gegenteil von uns.«212 Es gilt zumindest als gesichert, dass sich beide Gruppen kannten und auch zusammen gespielt haben. Der Can-Gitarrist Michael Karoli äußerte sich dazu wie folgt: »Soweit ich mich erinnern kann, haben wir uns zum ersten Mal im Sommer 1968 getroffen. Ich erinnere mich, daß Ralf sehr offen war, während Florian nicht besonders viel geredet hat. Zu der Zeit waren die beiden mit ihrer Band Organisation am Machen. Bei uns war Malcolm Monney eingestiegen, und wir sollten zur Eröffnung einer Gemäldeausstellung spielen. Wir hatten nur ein paar Instrumente bei uns, und deshalb haben wir mit ihren Instrumenten ein langes Stück von ungefähr 15 Minuten gespielt. Meiner Meinung nach muss das der erste öffentliche Auftritt von Can gewesen sein. Als sie dann später Kraftwerk gegründet hatten, haben sie uns vier- oder fünfmal auf Schloß Nörvenich besucht, und dort haben wir nachmittags Jamsessions abgehalten.«213

Ein analytischer Vergleich mit dem ersten, im Jahre 1969 veröffentlichten Album Cans, Monster Movie, führt hinsichtlich der Suche nach Gemeinsamkeiten zu keinem klaren Ergebnis, was der konzeptuellen Art des Musizierens beider Gruppen geschuldet ist. Sowohl bei Can als auch bei Organisation entstanden die Stücke durch gegenseitige Reflexion und Improvisation; das, was auf den jeweiligen Alben zu hören ist, spiegelt folglich unmittelbar die musikalische Synthese der jeweiligen Formation wider. Natürlich finden sich, da beide Gruppen in ähnlichen Besetzungen spielen und im gleichen rockmusikalischen Kosmos verhaftet sind, vereinzelt Elemente und Passagen, die Anlass dazu geben könnten, von Beeinflussung zu sprechen. Ein Beispiel hierfür wäre das Titelstück »Tone Float«, dass ab 11:10 an Cans »Yoo Doo right« erinnert. Sowohl hinsichtlich des Tempos, des instrumentalen Schwerpunktes auf Schlagzeug und Bass als auch der rhythmischen Charakteristik im Zusammenspiel der beiden Instrumente könnte man schließen, dass sich Organisation an Can angelehnt haben. Zwingend ist diese Schlussfolgerung aber nicht, da diese Passage auch einem spontanen Einfall beider Musiker entsprungen sein könnte. Da sie ähnlich wie »Yoo Doo right« in allen musikalischen Parametern sehr minimalistisch gehalten ist, erscheint es logisch, dass die Reduktion auf das Zusammenspiel der Rhythmusgruppe zu einer ähnlich gearteten klanglichen Textur führen muss. Augenscheinlich ist aber, dass die Dynamik und Präzision des Duos Liebezeit und Czukay von ihrem Pendant  –

212 213

Zit. n. Irmin Schmidt in: Dedekind 2008, S. 80. Zit. n. Michael Karoli in: Bussy 1995, S. 26 f.

73

2 Voraussetzungen

Mönicks und Hauf – zu keiner Zeit erreicht wird. Das ändert sich teilweise beim ersten Kraftwerk-Album, da bei dieser Aufnahme mit Klaus Dinger partiell ein Schlagzeuger mitwirkte, der in seinem Spiel in vielen Facetten Jaki Liebezeit gleicht. Gerade der rhythmische Minimalismus der von beiden Schlagzeugern immer wieder präferierten Motorik-Pattern schafft oftmals einen konformen Klangeindruck, der aber mehr den persönlichen Vorlieben im instrumentalen Spiel geschuldet ist als einer im Bandkontext entwickelten übergeordneten kompositorischen Idee. In erster Linie bezieht sich dies aber auch nur auf die nach der Veröffentlichung des Albums in der Besetzung Florian Schneider / Michael Rother / Klaus Dinger aufgeführten Konzerte im Jahre 1971, da die ersten beide Stücke auf Kraftwerk noch von Andreas Hohmann am Schlagzeug eingespielt wurden. Lediglich das letzte Stück »Vom Himmel hoch« wurde von Dinger gespielt, in welchem allerdings die für Dingers Schlagzeugspiel so charakteristische Transparenz und rhythmische Simplizität aus den Folgejahren bei Neu! noch nicht sehr ausgeprägt ist.214 Bei rhythmisch und melodisch freien Stücken kann man hin und wieder ebenfalls von klangtextuellen Ähnlichkeiten sprechen; diese muss man aber ebenfalls auf die Stereotype des Genres zurückführen, weswegen sie ebenso berechtigt Assoziationen mit Pink Floyd oder Tangerine Dream zuließen. Sie sind aber zwischen Can und Organisation beziehungsweise gleichermaßen innerhalb der ersten drei Kraftwerk-Alben selten, da die Stücke bezüglich der formalen Strukturen meistens stark differieren: So sind bei Can zum einen durch den Gesang, zum anderen durch die Verwendung klassischer Rockschemata wie Strophe und Gesang die Kompositionen konventioneller und Song-orientierter. Infolge des Spiels der Rhythmusgruppe und der Verwendung einer stark verzerrten E-Gitarre wirken sie klanglich außerdem nicht so ätherisch, sondern wesentlich rauer und härter. Es lässt sich also konstatieren, dass aufgrund der gleichen Genre-Zugehörigkeit und des identischen Kompositionskonzeptes hinsichtlich einer interaktiven Kollektivimprovisation Parallelen zwischen Can und Organisation ab und zu durchaus vorhanden sein können, von bewusster Intention oder offenkundiger, gegenseitiger Beeinflussung aber nicht unbedingt gesprochen werden kann. Dass die Musik von Organisation / Kraftwerk wie nach Meinung von Irmin Schmidt als »Antithese« zu Can zu betrachten ist,215 muss allerdings klar bestritten werden.

214 215

74

Im Interview mit Michael Dee für das schwedische Magazin Pop im Oktober 1998 gibt Klaus Dinger an, die Titel »Megaherz« und »Vom Himmel hoch« eingespielt zu haben. http://www.gawl.de/ Dingerland/Talks/pop_int.html (abgerufen am: 05.09.2009). Zit. n. Irmin Schmidt in: Bussy 1995, S. 27.

2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

Diese Position kann man allenfalls ab dem musikalischen Wandel Kraftwerks durch das Album Autobahn im Jahre 1974 gelten lassen. 2.4.4  Tone Float – musikalische Analyse Wie ist Tone Float im Kraftwerk-Kontext einzuordnen respektive welche Rückschlüsse lassen sich von diesem ersten Tondokument Ralf Hütters und Florian Schneiders auf die Entwicklung von Kraftwerk ziehen? Es ist offensichtlich, dass es sich bei diesem Album nicht um ein wegweisendes Kunstwerk der Musikgeschichte handelte, sondern vielmehr um ein Zeitdokument, das ähnlich wie bei Tangerine Dream oder auch Amon Düül primär als Möglichkeit der musikalischen Emanzipation diente. Das Fehlen ausformulierter melodiöser Themen zugunsten der kollektiven Improvisation ist bei vielen anderen Formationen in Westdeutschland in dieser Zeit ebenfalls zu vernehmen, es ist angesichts der starken Anlehnung an den Psychedelic Rock auch wenig revolutionär. Es gibt keine Popsong-Strukturen, keine gesungenen Texte und nur sehr wenig elektronische Klangfarben. Aus dieser Warte lassen sich bei diesem Album keine Ansatzpunkte ausmachen, die für die Entwicklung der für die populäre elektronische Musik entscheidenden Epoche Kraftwerks ab dem Jahre 1974 irgendeine Wichtigkeit besäßen. Man muss im übertragenen Sinne vielmehr zwischen den Zeilen lesen und sich daher den Improvisationsteilen widmen. Neben der instrumentalen Beherrschung erfährt man dabei vor allem etwas über die melodischen Vorlieben Hütters und Schneiders. Dies ist vor allem deswegen von Bedeutung, da das Komponieren vieler Melodiefragmente in der Rock- und Popmusik oft auf das improvisatorische Spiel zurückgeht. Wie das spätere Band-Mitglied Karl Bartos in seiner Autobiografie anführt, bilden auch Kraftwerk hier keine Ausnahme.216 Ein nicht unwesentliches Element ist beispielsweise beim Titelstück die Verwendung der dorischen Skala als harmonisches Gerüst; die darin enthaltene und in den Improvisationen gelegentlich angespielte große Sexte (hierbei von der Tonika d-Moll ausgehend ein H) wird auch in den folgenden Kraftwerk-Platten als stilistisches Merkmal der Melodiethemen häufiger zu finden sein.217 Die Verwendung der dorischen Skala ist natürlich bis heute bei vielen Rockgruppen gang und gäbe, ab Mitte der 1960er Jahre stach dabei besonders das Orgelspiel des Keyboarders der amerikanischen Gruppe The Doors, Ray Manzarek, heraus, der basierend auf dem Stride-Piano-Stil, also mit den sich durch einen ostinaten Grundton abwechselnden Terzsprüngen (5/3), (6/4), (7/5) und (6/4), Kompositio216 217

Vgl. Kap. 4.5.1. Vgl. Kap. 4.3.

75

2 Voraussetzungen

nen wie »Moonlight Drive«, »When the music’s over« oder »Soul Kitchen« geprägt hat. Hütter selbst, nach Angaben einiger Kraftwerk-Mitglieder ein großer Anhänger dieser Musik,218 zeigte sich davon offensichtlich beeinflusst. Dies unterstreichend findet sich im Titelstück eine Passage (ca. 8:00–9:52), die hinsichtlich ihres langsamen instrumentalen Aufbaus und der tonalen Verdichtung durch Hütters Orgelspiel eine unmittelbare Hommage an die Solo-Strecken des The Doors-Keyboarders Ray Manzarek im Song »The End« ist. Ebenso wie dort baut Hütter auf einem Ostinato zunächst clusterartige Klangflächen auf, die dann in über die dorische Skala in Terzen erfolgende, sukzessive Akkordverdichtungen bis zur großen None übergehen. Rhythmisch und melodisch setzt sich dies aus auftaktigen, kurzen und repetitiven Wechselnotenmotiven zusammen, wie dies in diversen Soli von Manzarek zu vernehmen ist. Das Gleiche lässt sich auch im Stück »Noitasinagro« nachvollziehen: Neben Hütters Orgelspiel ist vor allem die Harmonik durch den Sprung von a-Moll nach f#-Moll und wieder zurück nach a-Moll eine recht wahrscheinliche Anlehnung an die im Jahre 1967 von The Doors veröffentlichte Hitsingle »Light my Fire«. Florian Schneiders Flötenspiel ist dagegen weitgehend frei von derartiger Epigonalität. Es dominieren diatonische 16tel-Notenläufe, die seine spieltechnischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Besonders die häufig gespielten, wenn auch manchmal zum Selbstzweck geratenden Triller dokumentieren Schneiders hohen instrumentalen Reifegrad. Allenfalls das Spielen der  – auch von Hütter häufig benutzten – kleinen None respektive phrygischen Sekunde, die der Musik einen leicht orientalischen Charakter verleiht, ist als Genre-typisches Stilmittel einzuordnen, das offensichtlich von Bands wie The Doors oder Pink Floyd adaptiert wurde, die dieses ebenfalls häufig als kompositorisches Element in ihrer Musik verwendeten.219 Interessant im Hinblick auf die Genese Kraftwerks ist eher die produktionstechnische Seite, besonders die Effektbearbeitung der Flöte durch Schneider im Stück »Milk Rock«. Dem Instrument ist hierbei ein Tiefpass-Filter nachgeschaltet, der durch einen Envelope-Follower getriggert wird, so dass beim Spielen eines Tones die Filtereckfrequenz mit relativ kurzen Ein- und Ausschwingzeiten moduliert wird. Man kann das klangliche Ergebnis durchaus mit einem AnalogSynthesizer-Klang vergleichen, da zum einen die Flöte abgesehen von ihrem Anblasgeräusch ein obertonarmes Instrument ist, dessen Klangspektrum einem Sinus- oder Dreieckwellenton ähnelt, wie er auch von den damals bekannten 218 Buckley 2013, S. 70. 219 Vgl. The Doors: »Run« auf Waiting for the Sun, 1968, und Pink Floyd: »Be Careful with This Axe

Eugene« auf B-Seite der Single »Point Me at the Sky«, 1968.

76

2.4  Die Avantgarde vom Rhein – Can und Organisation

Synthesizer-Modellen der Firmen Moog oder EMS generiert werden konnte. Zum anderen ist ein spannungsgesteuerter Filter das effektivste Klangformungswerkzeug in der subtraktiven Synthese, insbesondere durch die Möglichkeit, durch das Hinzufügen von Resonanz einen je nach Flankensteilheit des Filters kleinen oder großen Frequenzbereich hervorzuheben und das Klangspek­ trum dadurch maßgeblich zu beeinflussen. Durch die Anordnung: Tonerzeuger (Flöte) / Filter / Verstärker sind hier alle drei Komponenten der subtraktiven Synthese gegeben, so dass sich die Assoziation mit einem Synthesizer-Klang unmittelbar einstellt. Über diese Art der spektralen Modulation hinausgehend, verwendet Schneider noch einen Ringmodulator, der in der Rock- und Popmusik damals eher selten anzutreffen war. Hier wird zum Flötenton ein zweiter, ebenfalls über den Envelope-Follower modulierter Ton hinzugefügt und dann aus diesen beiden Frequenzen sowohl die Summe als auch die Differenz gebildet, was dem Klang einen metallischen, disharmonischen Charakter verleiht. Obwohl der Einfluss Conny Planks auf das Klangergebnis wie erwähnt kontrovers diskutiert wurde,220 scheint diese für die Platte einzig originelle produktionstechnische Komponente eher auf die Intention Florian Schneiders zurückzugehen, da diese Form der Effektbearbeitung, also die Modulation durch Filter und Ringmodulator nur in Verwendung mit der Flöte erfolgt und Schneider bereits vor der Aufnahme über eine (nicht näher genannte) elektronische Technologie zur Klangformung221 verfügte. Davon abgesehen bietet das Album keine weiteren revolutionären Klangeffekte, als dass zu konstatieren wäre, dass die produktionstechnische Qualität respektive die Arbeit Planks besonders hervorzuheben sei. Zu hören sind lediglich die Verwendung von verschiedenen Hallräumen, Delays und Verzerrern sowie der Einsatz eines Wah-Wahs. Allenfalls erwähnenswert ist, dass das Panorama in seiner ganzen Bandbreite ausgenutzt wird, was insbesondere durch die Positionierung der Perkussionsinstrumente suggeriert wird. Dennoch scheint der kreative Einfluss des Produzenten nicht übermäßig klangbestimmend zu sein, dafür klingt das ganze Album viel zu Krautrock-stereotyp; die Diskussion um Planks Werk erfährt folglich erst mit der Gründung von Kraftwerk eine entsprechende Relevanz.

220 221

Vgl. Kap. 2.4.2. Buckley 2013, S. 52. Kranemann spicht auf seiner Homepage ferner von verschiedenen Filtern und Echogeräten, die zwischen Flötenmodul und Verstärker geschaltet waren. Kranemann, Eberhard: Eberhard Kranemann  – Kraftwerk, http://www.e-kranemann.de/start.htm (abgerufen am: 06.02.2021).

77

3 Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian 3.1 Vorbemerkung

Der kommerzielle Misserfolg von Tone Float, der daraufhin zur Auflösung von Organisation führte, war gleichfalls der Auslöser zur Reformation des musikalischen Konzeptes Hütters und Schneiders, die fortan als unter dem Namen Kraftwerk firmierendes Duo weiter arbeiteten und im Jahre 1970 ein gleich betiteltes Album aufnahmen.222 Sie versuchten nun konsequent, ihre Musik in ein künstlerisches Gesamtwerk einzubetten, das sich in allen Teilbereichen, also hinsichtlich der Außendarstellung, des Artworks und der musikalischen Thematik an einem intellektuellen Überbau orientierte: Der Gedankengang war, sich seiner geografischen Herkunft bewusst zu werden und Wege zu finden, dieser musikalischen Ausdruck zu verleihen: Ralf Hütter dazu: »Nehmen wir jetzt mal eine andere Gruppe wie Tangerine Dream, die einen englischen Namen haben, obwohl sie Deutsche sind, und damit stellen sie auf der Bühne eine angloamerikanische Identität her, was wir völlig ablehnen. Wir wollen, daß es die ganze Welt weiß, daß wir aus Deutschland kommen, weil die deutsche Denkweise, die fortgeschrittenere, immer Teil unserer Verhaltensweise sein wird. Wir schöpfen aus der deutschen Sprache, unserer Muttersprache, die eine sehr mechanische ist, wir benützen (sic) sie als Grundstruktur unserer Musik.«223

Kraftwerk verstanden sich nun als dezidiert deutsche Gruppe, die ihre Wurzeln nicht in der angloamerikanischen Musik hatte, sondern sich als kulturelle Fortführung der durch die Nazizeit abgeschnittenen 1930er Jahre in Deutschland

222

223

Auch hier vertritt Eberhard Kranemann die Position, dass zeitgleich zu eben jener Einspielung eine Live-Formation, bestehend aus Hütter, Schneider, Kranemann und dem Schlagzeuger Karl-Heinz »Charly« Weiss, existiert hätte, wobei letzterem seitens Hütter und Schneider die Aufnahme des Albums bewusst verheimlicht worden sei. Ferner habe Kranemann Aufnahmen von Schneider und ihm aus dem Jahre 1967 gefunden, die bereits wie Kraftwerk (wobei hier nicht dezidiert auf eine musikalische Phase der Band eingegangen wurde) geklungen habe. Auch dieses lässt sich nicht näher belegen. Es soll an dieser Stelle aber erwähnt sein, dass das Label »Kraftwerk« und jegliche fortan bis zum Ausstieg Schneiders im Jahre 2009 unter diesem Namen veröffentlichten Tonträger urheberrechtlich auf Hütter und Schneider zurückgehen, man folglich ab der wie auch immer gearteten Gründung von Kraftwerk sagen kann, dass jegliche Veröffentlichungen seitens der Gruppe konzeptionell federführend auf Hütter und Schneider zurückzuführen sind, auch wenn eine Fülle von wechselnden Mitmusikern in unterschiedlicher Gewichtung kompositorisch Einfluss auf das Ergebnis genommen hat. Zit. n. Eberhard Kranemann in: Buckley 2013, S. 53 und 58 f. Zit. n. Ralf Hütter in: Bussy 1995, S. 37.

79

3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

betrachtete.224 Sowohl die Wahl eines deutschen Bandnamens als auch die Verwendung der deutschen Sprache hinsichtlich der Alben- und Songtitel und später auch der Songtexte, was im Kontext zur Rockmusik damals ungewöhnlich war, gar konträr zum Zeitgeist stand, verdeutlicht diese Intention. Symbolisierte der Name Kraftwerk zum einen die regionale Verbindung zum Ruhrgebiet als damaligem industriellen Zentrum der Bundesrepublik, ließ er sich zum anderen im Sinne seiner genuin linguistischen Bedeutung als Erzeugung von Energie begreifen: Durch die Assoziationsmöglichkeit mit elektronischen Klangquellen, denen im Verlauf der Geschichte Kraftwerks eine immer stärker werdende Bedeutung zukommen sollte, eignete sich der Bandname hervorragend als Überbegriff einer musikalischen Reflexion von Industrie und Technik. Die im Folgenden diskutierten drei zwischen 1970 und 1973 veröffentlichten Alben Kraftwerk, Kraftwerk 2 und Ralf und Florian dokumentieren dabei die sukzessive auditive Umsetzung dieses ideologischen Konstrukts, welches mit der Veröffentlichung des Albums Autobahn im Jahre 1974 schließlich den Abschluss einer musikalischen Metamorphose vom Krautrock zu elektronischer Popmusik hin bildete und als Plattform der heute im allgemeinen als repräsentativ für Kraftwerk angesehenen Musik fungierte. Wie die Untersuchung zeigen wird, unterliegt diese Entwicklung einer sich verändernden Wertigkeit des Materials vom avantgardistischen musikalischen Experiment zur popmusikalisch geprägten kompositorischen Vereinfachung hin. Es wird hierbei ersichtlich, dass durch den zunehmenden Einsatz von Studioelektronik  – vor allem durch den Synthesizer  – das Hauptaugenmerk immer mehr auf das Klangdesign gelegt wird, dergestalt, als dass das Abbild von Technizität an sich respektive die Verwendung von elektronischer Audiotechnologie als determinierender Nukleus musikalischer Genese gegen Ende der Frühphase Kraftwerks als klangkompositorischer Faktor zu einem wichtigen Moment ihrer Musik gerät.

3.2 Voraussetzungen: Studiotechnik – Produzent

3.2.1 Studiotechnik als Klangfetisch – die Wertigkeit des Produzenten Die in Rede stehende sukzessive Fokussierung Kraftwerks auf den Parameter Klangfarbe lässt sich als repräsentativ für eine Entwicklung ansehen, die bereits ab Anfang der 1960er Jahre in der angloamerikanischen Popularmusik Einzug gehal224

80

Ebd., S. 36.

3.2  Voraussetzungen: Studiotechnik – Produzent

ten hat: Durch die schnell voranschreitende Entwicklung im Bereich der Transistortechnik unterzog sich die Studiotechnologie einer Metamorphose vom reinen Memorierungswerkzeug hin zum klangästhetisierenden und partiell kompositionsbestimmenden (Über-)Instrument. Man kann dieser Entwicklung nur ausreichend Rechnung tragen, wenn man sich dabei auch den ausführenden »Instrumentalisten« annimmt, folglich also den Produzenten respektive den Toningenieuren. Da das Aufgabenfeld des Produzenten bei einer Musikproduktion in variierender Gewichtung »technische, kaufmännische und künstlerische«225 Bereiche umfassen kann, sind die Grenzen zum Tätigkeitsbereich etwa des Toningenieurs oft fließend, zuweilen auch gar nicht mehr vorhanden, so dass eine scharfe terminologische Trennung pauschal nicht vorgenommen werden kann, vor dem Hintergrund der dieser Arbeit zugrunde liegenden Fokussierung auf die Segmente Studiotechnologie und Musik im weiteren Verlauf dieser Untersuchung auch nicht vorgenommen wird, auch angesichts dessen, dass die hier diskutierten Produzenten, Toningenieure und -techniker bezüglich ihrer Produktionen mitunter in unterschiedlichen Funktionen kreditiert waren. Analog zur in Kapitel 2.2.1 dargelegten Entwicklung der Studiotechnik änderte sich darüber hinaus auch die Arbeitsweise des Produzenten. Verlangte die ungefilterte, in Echtzeit erfolgte Aufnahme der 1930er und 1940er Jahre primär eine präzise Absprache mit den Toningenieuren und den ausführenden Musikern im Vorfeld eines Takes, ermöglichte erst die Mehrspurtechnik in den 1950er Jahren einen artifiziellen Umgang und Eingriff in die Klangtextur einer Aufnahme und damit die Erweiterung des Arbeitsfeldes des Produzenten.226 In diesem Kapitel sollen zunächst anhand von Phil Spector, dem Erfinder des »Wall of Sound«, dann des Beatles-Produzenten George Martin und des Spiritus Rector der Beach Boys, Brian Wilson, sowie des weitgehend in Vergessenheit geratenen Produzenten und Vorläufer des Homerecordings, Joe Meek, vier unterschiedliche Produzententypen der 1960er Jahre vorgestellt werden, die als Vorreiter neuer Arbeitsweisen und einer daraus resultierenden neuen Klangästhetik galten. Gleichfalls ist dabei anhand der beiden Krautrock-Produzenten Dieter Dierks und Conny Plank zu betrachten, in welchem Verhältnis die Tonstudiolandschaft in Deutschland zur damaligen Zeit hinsichtlich ihrer technischen Möglichkeiten und ihren Arbeitsbedingungen und -abläufen zum angloamerikanischen produktionstechnischen Qualitätsstandard einzuordnen war.

225 226

Smudits 2003, S. 73. Olson / Verna / Wolff 1999, S. 538.

81

3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

3.2.2 Phil Spector – Erfinder des Wall of Sound Einer der Ersten, der die Möglichkeiten des Studios hinsichtlich der Mehrspurtechnik und der Effektnachbearbeitung im Bereich der populären Musik innovativ zu nutzen wusste, war der Gitarrist Phil Spector, der ab dem Jahre 1962 in den Gold Star Studios in Hollywood begann, Pop-Songs zu produzieren und unter seinem eigenen Label Philles Records zu vertreiben. Spector verstand sich dabei nicht als unterstützender, verlängerter Arm seiner unter Vertrag genommenen Musiker, sondern als diktierender Initiator, dem die vollständige Kontrolle aller musikalischen Parameter oblag. Dabei stand die Umsetzung eines artifiziellen orchestralen Klanges im Vordergrund, für den Spector sowohl die Künstler als auch das aufzunehmende Material aussuchte oder selbst komponierte. Mag die Klangfarbe sich im Verlauf der letzten 35 Jahre als der noch einzige wandelbare Parameter der Popularmusik herauskristallisiert haben und heute im Zentrum der Rezeption stehen: Spector war der Erste, dessen Produktionen dezidiert auf den Sound zugeschnitten waren respektive bei dem der Sound der Nukleus allen musikalischen Schaffens war. Charakteristisch dafür war neben Vervielfachung der aufzunehmenden Instrumente,227 die häufig vom gleichen Fundus an Studiomusikern – der sogenannten »Wrecking Crew« – eingespielt wurden, die perfektionistische Akribie, die er seinen Musikern hinsichtlich der Synchronizität im Bereich der Dynamik und des Timings abverlangte.228 Durch die zeitgleiche Aufnahme von beispielsweise Streichern, Bläsern und mehreren Rhythmusgruppen in einem Raum entstand durch das gegenseitige Übersprechen der Mikrofone der sogenannte »Wall of Sound«, in dem – entgegen der bis dato üblichen Aufnahmetechnik, die durch Einzelmikrofonierung in getrennten Räumen auf ein steriles Abbild des Studioklangs abzielte – einzelne Instrumente nur noch schwer zu verorten waren.229 Dem Hörer wurde eine von der Realität entkoppelte künstliche Klangarchitektur suggeriert. Spector griff dabei auf einen bewährten Stab an Mitarbeitern zurück – neben der Wrecking Crew sind vor allem der Arrangeur Jack Nitzsche und der Toningenieur Larry Levine zu nennen, die nach einer immer gleichen Formel arbeiteten, angefangen von der Einspielung mit großer, mehrfach verdoppelter Besetzung, der Addition von metallischen Perkussionsinstrumenten zur Erweiterung 227

228 229

82

Spector benutzte beispielsweise für die Einspielung des Songs »River Deep Mountain High« von Ike und Tina Turner vier Gitarren, vier Bässe, drei Keyboards, zwei Perkussionisten, zwei Schlagzeuger, zwei zusätzliche Vokalisten, sechs Hörner und eine komplette Streicher-Sektion. Moorefield 2005, S. 11. Für den im Jahre 1963 eingespielten Nr. 1-Hit »Be my Baby« der Gruppe The Ronettes waren 42 Takes nötig, um Spector zufriedenzustellen. Williams 2003, S. 77. Hartman 2012, S. 47 ff.

3.2  Voraussetzungen: Studiotechnik – Produzent

des Frequenzspektrums im Bereich der Höhen sowie durch Streicher erzeugte Obertoneffekte.230 Infolge von Overdubbing wurden die aufgezeichneten Spuren mit Hall- und Echoeffekten versehen und den Originalaufnahmen beigemischt. Das Ergebnis war ein hochverdichtetes, facettenreiches Klangbild, das sich im Vergleich zu anderen Produktionen der damaligen Zeit durch seine Brillanz deutlich hervorhob. Spectors künstlerische Signatur war nicht anhand eines kohärenten musikalischen Materials wahrnehmbar – seine Bandbreite umfasste dafür zu viele verschiedene Stilrichtungen, die außerdem von unterschiedlichen Sängern dargeboten wurden –, seine Produktionen einte ein genuiner Sound. 3.2.3 George Martin – Musiker und Produzent War Phil Spector jemand, der in seinem Schaffen die uneingeschränkte Kontrolle aller musikalischen Facetten innehatte, handelte es sich bei George Martin um einen Produzenten, der die Interaktion mit den Musikern suchte. Durch seine Arbeit mit den Beatles, die von ihm zwischen 1962 und 1966 zunächst eher konservativ im Gewand der typischen Beat-Musik produziert wurden, manifestierte sich seiner Aussage nach im Laufe ihrer gemeinsamen Arbeit sukzessiv eine Symbiose,231 die neben dem künstlerischen Potenzial beider Seiten auch den kommerziellen und technischen Rahmenbedingungen geschuldet war. Die Beatles dominierten ab Mitte der 1960er Jahre in solchem Maße das Popularmusikgeschehen, dass sie vonseiten ihrer Plattenfirma völlige künstlerische und finanzielle Freiheit genossen, folglich weder der musikindustriellen Nomenklatura Rechenschaft ablegen mussten, noch zeitlich oder personell – beispielsweise im Hinblick auf die Verfügbarkeit eines Orchesterapparates – an irgendwelche Vorgaben oder Einschränkungen gebunden waren. Martins Aufgabe dabei war es, den Spieltrieb der Musiker und ihre Offenheit gegenüber neuen Klängen zu kanalisieren und in ein mit popmusikalischen Kriterien vereinbares Raster zu bringen, welches zur damaligen Zeit analog zum gesellschaftlichen Umbruch günstigerweise breit gefasst war. Dass diesem Unterfangen durch die Studiotechnik Grenzen gesetzt wurden, schien sich sowohl für die Zusammenarbeit als auch das Ergebnis als positiv zu erweisen. Die Abbey Road Studios in London verfügten zu diesem Zeitpunkt lediglich über 4-Spur-Bandmaschinen, obwohl seit 1957 bereits 8-Spur-Bandmaschinen verfügbar waren. Diese Limitierung versuchte man mit der Kaskadierung mehrerer Maschinen zu umgehen, dergestalt, als dass man nach dem Aufnehmen 230 231

Williams 2003, S. 78. Massey 2000, S. 77 f.

83

3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

der Rhythmusspuren, bestehend aus Schlagzeug, Bass und Gitarre, diese vormischte und auf eine freie Spur einer weiteren Maschine überspielte, eine Prozedur, die nur begrenzt wiederholbar war, da jede weitere Abmischung und Überspielung eine Addition von Rauschen und daher einen Qualitätsverlust bedeutete. Um diesen so gering wie möglich zu halten, war es erforderlich, dass bereits bei der Einspielung und dem folgenden Vormischen die nachträglich zu addierenden Spuren wie etwa der Gesang, ein Orchester oder klangliche Effekte aural antizipiert und einberechnet werden mussten, man sich folglich über das Endergebnis vorher genau im Klaren sein musste. Martin betonte, dass gerade diese Art von Begrenzung ihn immer nach neuen Lösungen habe suchen lassen, wodurch sich sowohl sein Wissen als auch sein Vorstellungsvermögen stetig erweiterte. Dies unterstützend, hätten die Beatles  – gewohnt, dass produktionstechnische Pro­ bleme von Martin und seinem Team stets gelöst wurden – nach neuen, immer komplexeren Klängen gesucht, so dass sich in diesem Wechselverhältnis der produktionstechnische Aufwand und Standard permanent erhöht habe.232 Es handelte sich dabei um abstrakte Klänge, die aufgrund ihrer aufwendigen Synthese aus herkömmlichem Instrumentarium und Studiotechnik weder vorher auf Popularmusiktonträgern noch im Konzertkontext zu rezipieren und dort auch für längere Zeit nicht zu reproduzieren waren.233 Als Blaupause dieser Entwicklung gilt im Allgemeinen das im Jahre 1967 veröffentlichte Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Es repräsentiert aber nicht nur eine progressive Klangmetamorphose innerhalb der populären Musik, sondern durch George Martin auch die Aufhebung der Trennung des Aufgabenbereiches von Musikern und Produzenten hinsichtlich der kreativen Tätigkeit im Aufnahmeprozess. Zwar wirkte Martin wenn auch nur marginal auf den vorherigen Alben als Musiker und Arrangeur mit,234 durch die von ihm initiierten und – oder auch nur – realisierten Klangeffekte235 verlieh er dem Album eine eigenständige aurale, zum damaligen Zeitpunkt ihresgleichen suchende Textur, die von den Beatles allein in dieser Form sicher nicht hervorgebracht worden wäre.

232 Ebd., S. 79. 233 Martin / Hornby 1979, S. 76 f. 234 George Martin spielte etwa auf dem 1965 erschienenen Album Rubber Soul und auf dem 1966 235

84

erschienenen Album Revolver Keyboards. Vgl. The Beatles: Rubber Soul, 1965, und Revolver, 1966. George Martin konnte hierbei auf seine Erfahrung als Produzent von mit zahlreichen Klang-Gimmicks versehenen Comedy-Platten sowie einer im Jahre 1962 unter dem Pseudonym »Ray Cathode« für die BBC eingespielte Kompilation von elektronischer Musik zurückgreifen. Reid, Graham: We Need to talk about … Ray Cathode: Electronic pioneer or just another knob twiddler?, in: Elsewhere, 17.07.2017, https://www.elsewhere.co.nz/weneedtotalkabout/7998/we-need-to-talk-about-raycathode-electronic-pioneer-or-just-another-knob-twiddler/ (abgerufen am: 02.06.2021).

3.2  Voraussetzungen: Studiotechnik – Produzent

3.2.4 Brian Wilson – Prototyp einer neuen Generation von Musikschaffenden Ist George Martin ein prägnantes Beispiel für die Veränderung des Stellenwertes des Produzenten im Hinblick auf die künstlerische Mitgestaltung in der Plattenindustrie der 1960er Jahre, symbolisiert Brian Wilson zur gleichen Zeit eine aufkommende Produzentengattung, die diesen Terminus nur noch als Teilaspekt eines ganzheitlichen Schaffensansatzes begriff. Zwar gab es vor ihm mit beispielsweise Jerry Leiber und Mike Stoller236 schon Komponisten, die ihr eigenes Werk mithilfe von externen Musikern produzierten – auch Phil Spector zählt partiell dazu –, Wilson allerdings fungiert durch seine Funktion als Komponist, Musiker und Produzent der Beach Boys in Personalunion als Archetyp eines Künstlers, der alle Disziplinen innerhalb des Werkprozesses in sich vereinte und damit die personengebundene Funktionskategorisierung auflöste. Obgleich stark von Spectors Arbeitsweise und Klangvorstellung beeinflusst,237 lag sein produktionstechnischer Schwerpunkt weniger auf der Herstellung eines omnipräsenten orchestralen Sounds – nach eigener Aussage fehlte ihm dafür auch das klangliche Vorstellungsvermögen.238 Zwar erweiterte er auf dem im Jahre 1966 erschienenen Album Pet Sounds das auf Popproduktionen der damaligen Zeit konventionelle Instrumentarium durch eine Reihe von Alltagsgeräuschen, sei es nun das perkussive Klappern von Löffeln oder die Einbindung von Aufnahmen bellender Hunde, weshalb in der Musikrezeption das Album immer als essenzieller Bestandteil eines Wettkampfes um die innovativsten Klänge in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zwischen den Beach Boys und den Beatles angesehen wurde,239 sein Hauptanliegen allerdings war, den für die Beach Boys typischen mehrstimmigen Gesang zum klanglichen Zentrum seiner Musik zu machen. Benutzte Spector die Mehrspurtechnik primär für exzessives Overdubbing zur Erzeugung seines Wall of Sound, während er für den Gesang lediglich eine Spur frei ließ, arbeitete Wilson genau umgekehrt: So mischte er die für Pet Sounds auf einer 4-Spur-Bandmaschine eingespielten Instrumentalspuren auf eine Monospur zusammen, die dann auf eine 8-Spur-Bandmaschine kopiert wurde, deren verbleibenden sieben Spuren ausschließlich für den Gesang genutzt wurden.240 Dabei nutzte er Spectors Aufnahmemethoden, in dem er sowohl die einzelnen Gesangsspuren mehrfach

236 237 238 239 240

Leiber und Stoller komponierten und produzierten für das amerikanische Label Atlantic Records. Am bekanntesten dürfte ihre Zusammenarbeit mit Elvis Presley sein. Massey 2000, S. 41. Ebd., S. 41 f. Moorefield 2005, S. 16. Olsen / Verna / Wolff 1999, S. 844.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

einsingen ließ, um durch Schwebungseffekte eine größere Klangdichte zu erhalten, als auch in der Postproduktion mit diversen Hall- und Echoeffekten arbeitete, um eine möglichst große räumliche Artifizialität zu erzeugen. Versucht man Wilsons Produzententätigkeit zu bewerten, sind es dann auch primär die Gesänge auf den Beach Boys-Alben der 1960er Jahre, die im Kontext der Popularmusikgeschichte im Hinblick auf klangliche Innovationen als bemerkenswert erscheinen. 3.2.5 Joe Meek – Pionier des Homerecordings Handelte es sich bei Spector, Martin und Wilson um Stars des Popmusikbusiness, die hinsichtlich ihrer Produktionen finanziell und materiell aus dem Vollen schöpfen konnten, welche allein schon durch die beliebige Verfügbarkeit hochwertigen Instrumentariums auf der höchsten Stufe studiotechnischer Klanggüte angesiedelt waren, entwickelte bereits ab dem Jahre 1960 in England der tontechnische Autodidakt Robert George »Joe« Meek einen Sound, dessen Qualität nicht nur mit den High-End-Produktionen großer Studios mithalten konnte, sondern bezüglich seiner eigenständigen und originellen Textur oftmals zu kopieren versucht wurde. Dies erstaunt vor allem deshalb, als dass Meek als unabhängiger Produzent in seiner zum Studio umgebauten Wohnung arbeitete, deren technische Ausstattung in keiner Weise an den Standard großer kommerzieller Studios heranreichte.241 Meek kam dabei sein aus seiner Ausbildung zum Radartechniker resultierendes technisches Verständnis zugute, das ihm ermöglichte, zahlreiche Apparaturen wie etwa ein Echohallgerät zur Klangverfremdung selbst herzustellen.242 Seine Klangwelten zeichneten sich durch eine Fülle von mittels unterschiedlicher Abspielgeschwindigkeiten verfremdeten Alltagsgeräuschen wie Straßenlärm oder vorbeifahrende Züge aus, die er als Effekte zu seinen Popsongs hinzufügte und ihnen damit den für Meek typischen ScienceFiction-lastigen Sound verlieh. Schon ab Mitte der 1950er Jahre setzte sich Meek – damals noch als angestellter Aufnahmetechniker in den Londoner IBC Studios  – durch seine unkonventionelle Arbeitsweise vom damaligen Zeitgeist ab. Entgegen des vorherrschenden akustischen Leitbildes einer transparenten und trockenen Aufnahme experimentierte Meek mit Verzerrung sowie mit künstlichen Räumen.243 Ferner wirkten die dann ab den 1960er Jahren ausschließlich unter seiner Federführung entstandenen Produktionen durch den omnipräsenten Einsatz von Kompression wesentlich 241 242 243

86

Ebd., S. 528. Voss 1978, S. 258. Olson / Verna / Wolff 1999, S. 528.

3.2  Voraussetzungen: Studiotechnik – Produzent

druckvoller als gängige Popproduktionen der damaligen Zeit. Die Umsetzung von Meeks Klangvorstellungen forderte angesichts seines Perfektionismus gleichfalls eine aufwendig durchdachte konzeptionelle Vorarbeit. Da er, limitiert durch die 4-Spur-Aufnahmetechnik, seine komplexen Klänge nur durch häufiges Overdubbing realisieren konnte, musste er im Vorfeld die unterschiedlichen Lautstärken einzelner Spuren exakt abschätzen und sich stets der klanglichen Vorstellung des endgültigen Mixes gewahr sein. Angesichts dieser Fähigkeit bezeichnete der Besitzer der IBC Studios, Dennis Preston, Meek als den ersten »modernen« Aufnahmeingenieur, der überhaupt konzeptionell an eine Aufnahme heranging.244 Konzeptionalität spielte aber auch hinsichtlich des künstlerischen Kontextes seiner Stücke eine große Rolle. Neben dem einheitlichen produktionsästhetischen Überbau verband er etwa auf dem im Jahre 1960 veröffentlichten Album Joe Meek & The Blue Boys: I Hear a New World – An Outer Space Fantasy alle Kompositionen thematisch miteinander, so dass man diesbezüglich zeitlich noch deutlich vor dem 1966 veröffentlichten Album Pet Sounds der Beach Boys als auch vor dem 1967 veröffentlichten Albums Sgt.  Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles vom ersten Konzeptalbum in der Popularmusikgeschichte sprechen kann. Da Meek kein Instrument spielen konnte, war er zur Realisation seiner Produktionen – auch hinsichtlich der eigentlichen Komposition – auf externe Musiker angewiesen, allen voran der Pianist Geoffrey Goddard, mit dem Meek auch seinen größten Erfolg, den im Jahre 1962 veröffentlichten Instrumental-Hit »Telstar« der von Meek zusammengestellten Gruppe The Tornados umsetzte, welcher sowohl in Großbritannien als auch in den USA den 1. Platz der Charts erklomm.245 Allerdings führte dies zu einem Plagiatsprozess mit dem französischen Filmkomponisten Jean Ledrut, dessen im Jahre 1960 geschriebene Musik zum Film »La Marche d’Austerlitz« hinsichtlich der ersten vier Takte von »Telstar« einige melodiöse Übereinstimmungen aufwies. Der Prozess endete in einem Vergleich, wobei – ein Novum in der Musikgeschichte  – im Gutachten erwähnt wurde, dass auch der »Sound und die gesamte produktionstechnische Aufbereitung des Stücks [in das Urteil einbezogen werden müsse]«.246 Daher sei der Erfolg des Stücks nicht auf die Melodie allein zurückzuführen.247 Die Tätigkeit des Musikproduzenten als eigenständiges, künstlerisches Werk wurde dadurch erstmals juristisch als urheberrechtlich relevant hinsichtlich der Vergütung von Tantiemen bewertet. Meek selbst

244 245 246

Voss 1978, S. 256. https://en.wikipedia.org/wiki/Telstar_(instrumental) (abgerufen am: 13.03.2021). Reetze, Jan: Joe Meek – ein Portrait, Teil 7: Die Fälle Telstar, Heinz, Madras Place, Howard / Blaikley, 2006, http://www.joemeekpage.info/essay_07.htm (abgerufen am: 06.02.2021). 247 Ebd.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

konnte von dem Ausgang des Prozesses nicht mehr profitieren, da er sich, schizophren veranlagt und getrieben von finanziellen Forderungen durch Gläubiger und der Steuerfahndung, im Jahre 1967 das Leben nahm. 3.2.6 Die deutsche Studiolandschaft in den 1960er Jahren – ein Kampf der Kulturen Befand sich die Musiklandschaft in den USA und England in den 1960er Jahren also in einer kreativen Aufbruchsstimmung, in der sowohl die Musikindustrie als auch die Musikschaffenden, sich die audiotechnologische Entwicklung zunutze machend, an einem gemeinsamen Strang zogen und dadurch den Sound in eine neue Dimension transferierten, herrschte in den kommerziellen Tonstudios in Deutschland ein Dissens, wie er hinsichtlich der klanglichen Vorstellungen beider Parteien kaum größer ausfallen konnte. Die technische Ausführung oblag dabei Toningenieuren, deren durch den an Rundfunkanstalten und akademischen Bildungseinrichtungen der 1950er Jahre vermittelten konservativen Geist und Geschmack geprägten Ideal von Klang sich an störgeräuschfreien Aufnahmen und detailgetreuer Wiedergabe von klassischer Musik oder Schlagern orientierte. Zwar hatte sich das Klangbild deutscher Plattenaufnahmen mittlerweile vom von den 1920er bis zu den 1950er Jahren vorherrschenden auralen Leitbild einer akustischen Transparenz auf Kosten des Raumklangs emanzipiert248 – wie die omnipräsente Verhallung insbesondere des Gesangs vieler Schlageraufnahmen der 1960er Jahre hinlänglich belegt –, von Novitäten wie beispielsweise Phil Spectors Wall of Sound war es jedoch weit entfernt. Besonders kritisch war aber die Tatsache, dass es sich beim neuen Kundenstamm des Krautrock nicht um Schlagersänger handelte, deren Musik durch Verhallung lediglich eine gefälligere, massenkompatible Note verliehen werden musste. Vielmehr traten hier autodidaktische Musiker in Erscheinung, die sich an der farbenvielfältigen Klangwelt des Psychedelic Rock orientierten, stets mit der Intention, die Energie der Konzertsituation – die Musik des Krautrock entstand ja zunächst nicht im Studio, sondern auf den Bühnen oder im Proberaum – in all ihren rauen Facetten auf das Medium zu übertragen. Das Anliegen vieler Rockmusiker etwa, die durch hohen Schalldruck hervorgerufene akustische Ekstase eines Live-Konzertes durch Bandübersättigung und Verzerrung abzubilden und diese Art der Klangmanipulation vorbehaltlos auf alle Instrumente zu übertragen  – egal, ob es sich dabei um für die Rockmusik als konventionell geltende

248

88

Jungk 1971, S. 32 f.

3.2  Voraussetzungen: Studiotechnik – Produzent

Instrumente wie Gitarre, Bass und Schlagzeug oder um eher im klassischen Kontext beheimatete Instrumente wie Streicher oder Bläser handelte –, konnte der akademischen Vorstellung von einem transparenten und kristallinen Klangspektrum dabei nur diametral gegenüberstehen. Dass sich die bezüglich der Tonaufzeichnung der konservativen Lehre verpflichteten Techniker ob dieser Diskrepanz mitunter komplett verweigerten,249 ist dabei nicht weiter verwunderlich. Aus diesem Konglomerat gegenseitigen Unverständnisses traten gegen Ende der 1960er Jahre jedoch zwei Personen hervor, die bis heute sowohl als Sinnbild einer neuen deutschen Produzentenkaste als auch als personifiziertes klangtechnisches Markenzeichen des Krautrock gelten: Dieter Dierks und Conny Plank. 3.2.7 Dieter Dierks – klangliches Aushängeschild deutscher Rockmusik Dieter Dierks etwa unterschied sich vom gängigen Bild oben angesprochener Produzenten und / oder Toningenieuren des Nachkriegsdeutschlands zunächst darin, dass seine Ausbildung nicht auf dem Feld der klassischen Musik oder des Schlagers stattfand, sondern er sich seine Fähigkeiten im Studio autodidaktisch analog zu seinen ersten Produktionen erarbeitet hatte. Dadurch, dass er als Gitarrist selbst im Kosmos der Rockmusik verortet war, entfiel zum einen die oben beschriebene Diskrepanz bezüglich unterschiedlicher Anschauungen hinsichtlich des Klangbildes. Zum anderen konnte er sich als praktizierender Musiker viel besser sowohl in die klanglichen Vorstellungen der von ihm produzierten Bands hineinversetzen, als auch auf ihre sozialen Befindlichkeiten Rücksicht nehmen.250 Er begriff die Phase einer Plattenproduktion dabei als ganzheitlichen Ansatz: So waren an sein Studio Räumlichkeiten angegliedert, in denen Musiker während der manchmal monatelang dauernden Produktion wohnten, um sich ausschließlich auf die Studioarbeit konzentrieren zu können. Im Gegensatz zu den üblichen kommerziellen Studios spielte der Zeit- und Kostendruck bei Dierks keine große Rolle – oftmals konnten die aufnehmenden Musiker die Studiokosten nachträglich durch ihre Einnahmen aus Plattenverkäufen finanzieren.251 Die daraus entstandene, von äußeren Sachzwängen und Störeinflüssen weitgehend unberührte Studioatmosphäre sorgte dabei für den Nährboden einer neuen Art der Plattenproduktion respektive für eine neue Form des Musizierens und Komponierens: Wurden früher Stücke bis zur Perfektion geprobt, um sie dann in kurzer Zeit auf 249 250 251

Wagner 2013, S. 106. Ebd., S. 112. Ebd., S. 111.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Matrize zu bannen, entstand die Musik nun oftmals erst im Studio, wobei tontechnischen Experimenten keinerlei Grenzen gesetzt wurden, im Gegenteil das Experiment an sich mitunter als Grundlage des Materials fungierte. Besonders Rolf-Ulrich Kaiser machte mit seinen diversen Labels häufigen Gebrauch von Dierks Studio, so dass Formationen wie Tangerine Dream, Popol Vuh oder Embryo in ihren Anfangsphasen fast ausschließlich dort aufnahmen. Im Gegensatz zur bereits angesprochenen, bis dato in den meisten Studios gängigen Arbeitsweise der reinen Aufzeichnung von Musik stand Dierks jeglicher Art von klanglichen Ideen nicht nur offen gegenüber, er versuchte auch durch mitunter skurrile Methoden,252 das Klangspektrum seiner Produktionen vorbehaltlos zu erweitern und voranzutreiben. Auch wenn die ersten, in Dierks Studio entstandenen Produktionen in ihrer klanglichen Textur eher den rauen improvisatorischen Geist der frühen Krautrock-Phase widerspiegeln und auch nur bedingt mit der auralen Güteklasse zeitgleich entstandener angloamerikanischer Produktionen mithalten konnten – dazu erscheint das Klangbild oftmals zu unausgewogen und flach –,253 schaffte es Dierks, durch permanente Reinvestition den technologischen Rückstand sowie den partiell damit verbundenen klanglichen Qualitätsunterschied zu verringern und sein Studio ab den frühen 1970er Jahren als eine der besten Adressen für Rock- und Popmusik in Deutschland zu etablieren. 3.2.8 Conny Plank – Produzent und Mentor Die zweite zentrale Figur auf dem Feld der Rockmusik innerhalb der deutschen Studiolandschaft Anfang der 1970er Jahre war Conny Plank. Die Personalie Plank ist in dieser Studie bereits mehrfach thematisiert worden, da Plank neben Tone Float die ersten vier Kraftwerk-Alben produziert hat, über den Grad oder die Anteile seiner Arbeit an den Produktionen aber seitens der einzelnen KraftwerkMitglieder ein großer Dissens herrscht. Diese Problematik soll daher punktuell im jeweiligen Kapitel der diskutierten Kraftwerk-Alben untersucht werden, weswegen dieser Abschnitt mehr einem allgemeineren Überblick über die Person und die Arbeitsweise Planks dient. 252 253

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So etwa benutze Dierks einen mikrofonierten 20 Meter langen Öltank zur Erzeugung unterschiedlicher Hallräume. Wagner 2013, S. 111. Ein querschnittartiger Klangeindruck der in den Jahren von 1969 bis 1971 veröffentlichten Alben, die unter Dierks Ägide, sei es nun in seiner Funktion als Produzent, Toningenieur und / oder Mixer, entstanden sind (an dieser Stelle ist die Auswahl der Homepage von Dierks’ Studio zu entnehmen www.dierks-studios.de), lässt beispielsweise im Vergleich zu Alben wie Let It Be von den Beatles oder L. A. Woman von The Doors eine dynamische Tiefe vermissen. Ferner wirkt die finale Abmischung im Vergleich zu den zitierten Referenzalben überkomprimiert und dumpf. Dierks, Dieter, www.dierks-studios.de (abgerufen am: 06.02.2021).

3.2  Voraussetzungen: Studiotechnik – Produzent

Im Gegensatz zu Dierks hatte Plank als Mitarbeiter im Studio für Elektronische Musik beim Westdeutschen Rundfunk in Köln bei Karlheinz Stockhausen sowohl Erfahrungen in der akademisierten Hochkultur der zeitgenössischen Musik gesammelt, als auch durch sein Wirken im Kölner Rhenus-Studio die Welt der Schlagermusik betreten. Seine musikalische Sozialisation und Arbeit beschrieb Plank wie folgt: »At that time we all were influenced by English and American music. We also listened to Koenig, Stockhausen, Varese. I used to work with these people in ’67, ’68, and ’69. Mauricio Kagel gave me a lot of ideas about sounds. In those recordings I worked with very academic musicians being very precise doing these sounds, and to me it seemed lifeless, and dry. I then tried to find people that ­looked in a different way to these materials, that tried to improvise with these dirty sounds, these electronic sounds – to have a feeling like a jazz musician has to his instrument. We often worked with cheap toys and used them in a strange way. We distorted a lot of things and filtered sounds very radically but we didn’t call ourselves electronic musicians. We used any scratch on guitars, or noises on an instrument … we used pianos and scratched the strings and put echoes on them, and tried to find drastic or attractive elements that turned us on.«254

Dieser Selbstcharakterisierung lassen sich verschiedene, essenzielle Faktoren entnehmen, die den Einfluss der Arbeit Planks im Studio auf das Werk und die da­­ raus resultierende Hochschätzung seitens der von ihm produzierten Musiker und Bands deutlich werden lassen. Neben handwerklichem Können und hohem Fachverständnis infolge seiner Arbeit im Bereich der zeitgenössischen Musik stieß – ähnlich wie im Falle von Dierks – seine konventionslose Experimentierfreude im Krautrock werkimmanent bedingt auf große Zustimmung. Hinzu kam, dass Plank bewusst nach neuen Künstlern suchte, die ein ähnliches Interesse an neuen Klängen hatten, die in radikaler Abkehr zum deutschen Schlager standen, und diese dahingehend protegierte, dass er neben der finanziellen Eigenbeteiligung an die Plattenfirmen herantrat und das jeweilige Produkt zu vermitteln versuchte.255 Er verstand sich als verlängerter Arm der technisch zu diesem Zeitpunkt oft völlig unbedarften Musiker und brachte ihnen darüber hinaus die Funktionen der Studiotechnologie näher. Dem Mitinitiator von Kluster, Hans-Joachim Roedelius, zufolge war Plank »eine ungeheuere Bereicherung«.256 Durch ihn hätten sie überhaupt erst erfahren, welche Möglichkeiten sich im Tonstudio etwa durch die 254

Zit. n. Conny Plank im Interview John Diliberto in: Electronic Musician, 1987, http://emusician. com/em_spotlight/interview_conny_plank/ (abgerufen am: 09.05.2009). 255 Esch 2014, S. 72 ff. 256 Morawietz, Stefan: Krautrock & Rüben – Über die Anfänge deutscher Rockmusik, 2006, http://www. youtube.com/watch?v=aQ0XMfbmIeo (abgerufen am: 28.02.2013).

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Effektbearbeitung boten.257 Für Thomas Rother, zeitweilig Gitarrist von Kraftwerk und später Mitgründer der Gruppe Neu!, war Planks Vermögen, das kreative Potenzial von Musikern zu lokalisieren und zu kanalisieren, von entscheidender Bedeutung: »Es hat außer Conny in der Musiklandschaft keinen anderen Tontechniker / Musikproduzenten gegeben, der uns auf der Suche nach einer neuen Ausdrucksform, einer eigenen musikalischen Identität in dieser Form begleitet hätte. Conny und wir waren einfach natürliche Partner. Er hatte dieses riesige Talent, unsere Absichten intuitiv zu erfassen und trotz der damals minimalen Studiotechnik ganz besondere Klanglandschaften zu schaffen.«258

Das Kreieren dieser Klanglandschaften bezeichnet insbesondere Midge Ure, Sänger und Gitarrist von Ultravox, als Alleinstellungsmerkmal Planks, da im Vergleich zu anderen Produzenten, mit denen Ure zuvor zusammengearbeitet hatte, Plank ausschließlich über den Sound nachgedacht habe, und durch ihn diese »wundervollen, einmaligen Atmosphären« entstanden seien.259 All diese Aussagen sind repräsentativ für viele Musiker, die in dieser Zeit mit Plank zusammenarbeiteten – sie unterstreichen die Wertigkeit seiner Position und Funktion innerhalb einer Plattenproduktion.260 Angesichts der sich wandelnden Bedeutung des Parameters Klangfarbe  – und dies bezieht sich neben Kraftwerk auch auf Formationen wie Kluster / Cluster und Neu!  – transformierte Plank ähnlich wie etwa George Martin seinen Tätigkeitsbereich als Toningenieur vom reinen Memorieren, Verwalten und Mischen externer Musik zu dem des Co-Komponisten, wodurch der Typus des musikalisch mitdenkenden und mitagierenden Produzenten am Anfang der 1970er Jahre schließlich auch Eingang in die deutsche Studiolandschaft fand.

257 Ebd. 258 Zit. n. Michael Rother in: Who’s That Man – A Tribute To Conny Plank, https://groenland.com/ 259 260

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artist/conny-plank/ (abgerufen am: 17.10.2016). Zit. n. Midge Ure in: Who’s That Man – A Tribute To Conny Plank, https://groenland.com/artist/ conny-plank/ (abgerufen am: 17.10.2016). Vgl. Esch 2014, S. 72 ff.

3.3  Kraftwerk

3.3 Kraftwerk

3.3.1 Entstehungsprozess und musikalische Analyse »Das Studio entstand eigentlich vor der Band. Alles ging auf das Studio zurück, ähnlich einem Mutterschiff.«261 Die aus dieser Aussage Ralf Hütters hervorgehende Pointierung von Studiotechnik als Ausgangspunkt des musikalischen Schaffens Kraftwerks – und damit des hier in diesem Kapitel zu untersuchenden ersten, schlicht mit Kraftwerk betitelten Albums im Jahre 1970 – muss kontrovers betrachtet werden: Obwohl Hütter sich nicht dezidiert äußert, dürfte mit besagtem Studio das Kling Klang Studio in Düsseldorf gemeint sein. Es handelt sich dabei um einen von Florian Schneider angemieteten, 60 qm2 großen Raum in der Nähe des Düsseldorfer Hauptbahnhofs. Laut Hütter habe man zur Vorbereitung der ersten Platte dort mittels Tonbandgeräten und Kassettenrekordern Aufnahmen angefertigt, die später in einem professionellen Tonstudio lediglich abgemischt worden seien.262 Hütter betonte dabei, dass Kraftwerk im Gegensatz zu anderen, zeitgleich agierenden Bands bereits von Beginn alle Facetten der Produktion innegehabt hätten.263 Abermals gibt es sich widersprechende Standpunkte: Nach Aussage von Kranemann haben Kraftwerk 1970 durchgängig intensiv geprobt  – die Aufnahmen zum ersten Album seien ohne sein Wissen gemacht worden. So diese Aussage wahr sein sollte, wäre es unwahrscheinlich, dass angesichts des auf dem Album angegebenen Produktionszeitraums von Juli bis September 1970 alle Bänder im Kling Klang Studio vorproduziert worden sind, ohne dass Kranemann dies mitbekommen hätte. Die Kreditierung der ersten Alben, Kraftwerk und Kraftwerk 2, unterstreicht dies: Während etwa Kraftwerk 2 vollständig in einem Studio in Hamburg aufgenommen, produziert und gemischt wurde, findet man zwar diesbezüglich zum ersten Album keine genauen Angaben, jedoch gibt die Aussage des Produktionsassistenten Klaus Löhmer Anlass zu der Annahme, dass auch hier zumindest ein Großteil der Musik erst im Rhenus Studio in Köln entstanden ist. Ferner nährt die Tatsache, dass auf beiden Platten Conny Plank neben Hütter und Schneider als Produzent aufgeführt ist, den Verdacht, dass Kraftwerk keinesfalls all ihre Musik ausschließlich in Eigenregie produziert haben. Löhmer beschreibt die erste Zusammenkunft im Studio mit Ralf Hütter und Florian Schneider wie folgt:

261 Zit. n. Ralf Hütter in: Bussy 1995, S. 34. 262 Buckley 2013, S. 60 f. 263 Ebd.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

»Conny introduced them to me. Nobody knew what we were actually doing, since we experienced a lot … For example we set up this kids’ drumkit made a sound check, we played around … […] It was great that we were always experimenting like this. Admittedly we were all high a lot at the time, but that’s the way things were done back then! Conny was open to everything. He was amazing when it came to approaching people and getting the best out of them. That was his special gift. Also staying calm when things didn’t immediately work out. Very calm, very relaxed. Totally peaceful. Ralf and Florian could play their instruments reasonably well, but they were always trying out things, playing around as I remember. They were in no way technically advanced but they always had good ideas and managed to get the best out of the little they had.«264

Schenkt man Löhmer Glauben, sind Hütter und Schneider offensichtlich ohne auskomponierte Stücke ins Studio gekommen. Das auf Kraftwerk enthaltene musikalische Material ist demnach vielmehr auf improvisatorische Art und Weise in Zusammenarbeit mit Plank entstanden, dessen eine hervorzuhebende Fähigkeit es war – und dies deckt sich mit der Aussage von Hans-Joachim Roedelius –, Ideen zu kanalisieren und in strukturierte musikalische Bahnen zu lenken.265 Löhmers Wertung bezüglich des Grades der instrumentalen Beherrschung seitens Hütters und Schneiders266 ist allerdings kontrovers zu betrachten: Muss man sie im Hinblick auf Florian Schneiders flötenspieltechnische Fähigkeiten, die angesichts diverser Beispiele der ersten Alben, sowohl was die Qualität des Spielens von komponierten Themen als auch das solistische Spiel Schneiders anbelangt, auf jeden Fall einem akademischen Anspruch gerecht werden, offen infrage stellen, scheint sie bei Ralf Hütters Keyboardspiel nicht immer unberechtigt zu sein. Besonders in längeren Improvisationspassagen treten immer wieder Timing-Probleme offen zutage, was auch bei den folgenden Alben noch zu hören sein wird.267 Analysiert man nun die Stücke im Einzelnen, treten immer wieder Klang- und Kompositionselemente auf, die charakteristisch für Kraftwerk sind und in variierter Gestalt auch auf den späteren Alben ab Mitte der 1970er Jahre, als Kraftwerk sich schon in Richtung Popmusik bewegten, erscheinen, was angesichts der öffentlichen Darstellung seitens der Gruppe, die den Beginn ihres relevanten Schaffens ja erst mit dem 1974 erschienenen Album Autobahn definieren, verwun-

264 265 266

267

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Zit. n. Klaus Löhmer in: Arnold 2009. Vgl. Kap. 3.2.8. Wie dem Inlay von Kraftwerk zu entnehmen ist, spielt Ralf Hütter auf dem Album Orgel und Tubon, ein 2½-manualiges, Orgel-ähnliches Instrument der schwedischen Firma Joh Mustad AB. Florian Schneiders Wirken ist mit »Flöte, Violine und elektronische[r] Perkussion« kreditiert. Siehe Kraftwerk: Kraftwerk, 1970. Vgl. »Kristallo« auf Ralf und Florian, 1973.

3.3  Kraftwerk

dert. Angesprochen auf eine etwaige Verbindung der Alben vor Autobahn und der danach veröffentlichten Musik äußerte sich Florian Schneider wie folgt: »Vielleicht existierte die [Idee], ein Konzept zu schaffen, das hat natürlich besser funktioniert. Aber heute sehen wir unsere ersten Alben nicht als wichtige Arbeiten an, als wichtige Kompositionen. Das war eine andere Zeit. Früher …«268

Sicherlich mag das klanglich-kompositorische Gewand der Alben vor Autobahn nur bedingt mit der »klassischen« Phase Kraftwerks ab dem Jahre 1974 in Einklang zu bringen sein. Was allerdings die melodische und harmonische Motivik anbelangt, herrscht eine durchaus relevante, nicht wegzudiskutierende Durchlässigkeit, die nicht erst mit Autobahn beginnt. Jedes Album greift diesbezüglich in Teilen das Vorgängerpendant auf und dient gleichfalls als Brückenelement für die jeweils nachfolgende Veröffentlichung. Teilweise sind gewisse Motive auch noch auf späteren Alben zu verzeichnen wie beispielsweise das häufige Hervorheben der Sexte in den Improvisationsteilen auf den sieben Jahre auseinander liegenden Alben Tone Float und Trans Europa Express. Dies unterstreicht bereits das erste Stück »Ruckzuck« in Form einer mit der Flöte gespielten, auf dem Ton A anfangenden, in punktierten Vierteln rhythmisierten Melodie, deren aufsteigende Bewegung aus durch Ganztöne verbundenen Quartschichtungen besteht. Infolge der Verwendung eines ebenfalls in punktierten Vierteln getakteten Delays entsteht ein polyphoner Charakter durch die nachklingenden Echoanteile. Dass Quartschichtungen hin und wieder als Fragmente der Hooklines in der Musik Kraftwerks dienen, zeigt sich auch daran, dass das aufsteigende Quartmotiv von »Ruckzuck« in ähnlicher Form sowohl in dem auf Kraftwerk 2 erschienenen Stück »Strom« als auch in der Einleitung des gleichnamigen Titelstückes des Albums Trans Europa Express zu hören ist, obwohl es in letzterem Stück von Karl Bartos angeregt wurde.269

Bsp. 2: »Ruckzuck«, 1. Flötenthema

268 269

Zit. n. Florian Schneider in: Bussy 1995, S. 47. Bartos 2017, S. 215.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Harmonisch gesehen erhält die Einleitung durch die Quartmotivik einen offenen, keinem Tongeschlecht zuzuordnenden Charakter; erst im letzten Takt der Melodie erfolgt eine Einfärbung in Form der Mollterz A–C, die das Stück in der Tonart a-Moll ansiedelt; mit Ausnahme dieses Motivs erscheint die Mollterz aber nicht wieder. Die harmonische Modalität des Stückes wird zusätzlich durch die perkussive Orgelbegleitung verstärkt, welche aus einem eintaktigen, die kleine Septime und die große Sexte anspielenden Pattern besteht und dem Stück einen mixolydisch anmutenden Klangcharakter verleiht.

Bsp. 3: »Ruckzuck«, Orgelthema

Beispielhaft für das gesamte Album ist gleichfalls die harmonische und melodische Reduktion: Mit Ausnahme eines in der Orgel ausgeführten, auf dem Basston A stehenden D-Dur-Akkordes im Zwischenteil gibt es keine weiteren Akkorde außerhalb der Tonika. Der musikalische Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Rhythmik und der Klangfarbe: Neben der sehr perkussiven Spielweise der Flöte, welche sich tonal fast nur auf dem Grundton und der kleinen Septime bewegt, gibt es im ersten Drittel des Stückes eine Temposteigerung, die ihren Höhepunkt in einzelnen, durch alle Instrumente ausgeführten Abschläge findet, welche in ähnlicher Form auch zwischen den beiden Reprisen des Stückes erscheinen. Das Schlagzeugspiel selbst ist von Andreas Hohmann durch Achtelnotenlastige Bassdrumpattern sowie die Snaredrum auf den Zählzeiten 2 und 4 gleichfalls sehr minimalistisch gehalten. Während der Aufnahmen trennten sich Hütter und Schneider von Hohmann, der daher nur auf der ersten Seite des Albums respektive bei den Stücken »Ruckzuck« und »Stratovarius« zu hören ist. Für die zweite Seite wurde Klaus Dinger engagiert, der, da es sich bei »Megaherz« um ein Stück ohne Schlagzeug handelt, nur bei »Vom Himmel hoch« mitwirkte.270 Diese Umbesetzung erstaunt, da zwischen beiden Schlagzeugern kein stilistischer Unterschied zu hören ist; hinsichtlich des Timings ist sogar zu konstatieren, dass Hohmann wesentlich präziser als Dinger spielt und damit der Kraftwerk’schen Ästhetik vielmehr zuträglich ist. 270 Dinger, Klaus, 1998, http://www.gawl.de/Dingerland/Talks/pop_int.html (abgerufen am:

05.09.2009). Esch 2014, S. 42.

96

3.3  Kraftwerk

Klangtechnisch betrachtet steht wie schon bei Tone Float der Einsatz von Verzerrern, Wah-Wah und Delay im Vordergrund. Erwähnenswert ist gleichfalls die Verwendung von Phasing-Effekten auf der Mischungssumme, da man sich dabei keiner externer Apparaturen bediente, sondern das Phasing von Hand durchgeführt wurde. Dabei ließ Plank zunächst zwei mit dem Masterband bestückte Bandmaschinen synchron laufen, woraufhin er dann eine von ihnen manuell verlangsamte, um dadurch die für das Phasing typischen, zeitlich variierenden Frequenzauslöschungen zu erzielen.271 Neben diesen bis heute in der Rockmusik gängigen Klangeffekten wirkt die Bearbeitung des Orgel- respektive Tubon-Klanges durch einen Ringmodulator schon außergewöhnlich, da das dadurch erzeugte metallische Klangspektrum der Musik im Vergleich zu den meisten rockmusikalischen Produktionen der damaligen Zeit einen sehr industriellen Klangcharakter verleiht. Allerdings muss man der Tatsache Rechnung tragen, dass beispielsweise die bei »Ruckzuck« auf den Zählzeiten 1 und 2-und partiell erklingenden Orgelcluster, die ebenfalls mit einem Ringmodulator bearbeitet worden sind, doch sehr stark an Fragmente der von Peter Thomas im Jahre 1966 für die deutsche TV-Serie »Raumpatrouille  – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion« komponierte Filmmusik erinnern, die Art des Ringmodulatoreinsatzes also nur bedingt eines genuinen Kraftwerk / Plank-Sounds entsprungen sein dürfte. Neben der Einbindung von Ringmodulatoreffekten erfährt die industrielle Klangtextur in den folgenden Stücken ihren Höhepunkt aber vor allem durch die eingebundenen Tonbandaufnahmen von Maschinengeräuschen. Während in »Stratovarius« dem Hörer Geräusche aus einer Fabrikhalle suggeriert werden, beginnt »Megaherz« mit dem Anlaufen einer ketten- oder bandbetriebenen Maschine, welche in einer tiefen, sinuswellenartigen Frequenz mündet. Infolge der Überlagerung mit einer weiteren niederfrequenten Sinuswellenschwingung entstehen starke Interferenzen, die sich durch das Hinzufügen von mit Verzerrung und Wah-Wah bearbeiteten Orgelclustern immer mehr verdichten. Nun ist die Implementierung von Tonbandeinspielungen und Umweltgeräuschen zum damaligen Zeitpunkt keineswegs neu gewesen – als wohl prominentestes Beispiel aus der Welt der populären Musik sei hier das Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles genannt. Dennoch können Kraftwerk für sich verbuchen, als Erste diese Montagetechnik mit dezidiert industriellen Klängen in einen popmusikalischen Kontext gebracht zu haben  – sicherlich auch bedingt durch die heimatliche Umgebung der industriell geprägten Rhein-Ruhr-

271

Michael Rother im Telefoninterview mit dem Verfasser am 25.5.2009.

97

3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Region. Es drängt sich hier wie schon in Kapitel 2.4.1 die Frage auf, inwiefern hier Anleihen bezüglich der Neuen Musik zu finden sind, exemplarisch hinsichtlich der Musique concrète, gerade weil Karl Bartos in verschiedenen Interviews häufiger auf diesen Strang hingewiesen hat  – möglicherweise aber auch zur künstlerischen Aufwertung des eigenen Schaffens, was vonseiten der Musikpresse ob der Griffigkeit dieses Schlagwortes in verschiedenen Artikeln nur zu gern aufgenommen wurde.272 Ralf Hütter hingegen sah die Musik Kraftwerks nicht dezidiert in der Tradition irgendeiner Musik oder personenbezogen eines zeitgenössischen Komponisten wie etwa Karlheinz Stockhausen verortet, sondern betonte, dass die Faszination ganz einfach von Alltagsgeräuschen und Klängen ausging, was folgerichtig durch die im Kraftwerk-Kontext häufig verwendeten Wortbausteine »kling« und »Klang« zum Ausdruck gebracht worden sei.273 Wie Kapitel 4.2.1 zu entnehmen ist, finden sich aber sowohl von Hütter als auch von Schneider getätigte Aussagen, die eher dem Gegenteil entsprechen und sehr wohl eine intendierte Bezugnahme zur Musique concrète oder zur im Nachtprogramm des WDR ausgestrahlten elektroakustischen Musik nahelegen. Auf jeden Fall findet sich auf Kraftwerk eine deutliche Anleihe an die Neue Musik in Gestalt der Dodekaphonie: So erscheint in »Stratovarius« ab 9:48 eine kammermusikalisch anmutende Geigenmelodie, welche im freien Metrum gespielt wird. Mit Ausnahme der Töne Eb und G handelt es sich um eine fast vollständige Zwölftonreihe. Zählt man die tonalen Zentren der beiden vorangegangenen Teile hinzu – im ersten Teil, welcher aus Orgeltönen besteht, deren Frequenz kontinuierlich im Bereich eines Ganztons verändert wird, handelt es sich um Eb, im zweiten, schlagzeugdominierten Teil ist es G –, wäre die Reihe komplett. Ob die Tonarten bewusst so gewählt worden sind oder es sich dabei um einen Zufall handelt, kann zwar nicht belegt werden; angesichts des musikalischen Bildungsgrades Hütters und Schneiders liegt eine gezielte Anordnung dennoch nahe. Da dies aber nur ein singuläres klangliches Ereignis ist, auf das keinerlei Bearbeitung in From serieller Reihentechnik folgt, scheint es sich wohl eher um eine augenzwinkernde Reminiszenz denn um eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit Kompositionstechniken der Neuen Musik zu handeln – dafür ist das Stück auch viel zu stark von rockmusikalischen Elementen geprägt. Sowohl durch die starke rhythmische Fokussierung, welche sich in Temposteigerungen und Tutti-Abschlägen widerspiegelt, als auch durch die harmonische Reduktion auf den jeweiligen 272 273

98

Bartos, Karl: Karl Bartos in einem Interview mit Olaf Neumann in: Drei Jungs, die improvisiert haben, in: Forum – Das Wochenmagazin, 27.10.2017, https://magazin-forum.de/de/node/6177 (abgerufen am: 24.02.2021). Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Olaf Zimmermann für DT 64, 1991, https://www.youtube. com/watch?v=Qs2l2LMGXms (abgerufen am: 10.01.2021).

3.3  Kraftwerk

Grundton der einzelnen Teile ähnelt dieses Stück in seiner Textur dem vorangegangenen Titel »Ruckzuck«. Ebenfalls findet sich hier, melodisch gesehen, die Affinität Kraftwerks zu mixolydischen Skalen wieder: So bewegen sich die mit einer Geige gespielten, immer wieder in verschiedene Flageolett-Lagen wechselnden Töne meistens auf dem Grundton und der kleinen Septime, welche sich hin und wieder mit einem Durchgang von der Durterz über die Quarte zur Quinte hin abwechseln. Das Stück »Megaherz« besteht hingegen aus einer aus g#-Moll und H-Dur bestehenden Bitonalität eines zweitaktigen Orgelthemas, welches später in langsam gespielten Flötentönen erfolgt und im Ambitus sukzessiv ausgebaut wird. Infolge des langsamen Tempos und der Instrumentierung durch die Orgel entsteht ein fast sakraler Charakter. Eine weitere, aus D-Dur und d-Moll bestehende Bitonalität lässt sich auch im zweiten Teil des Stückes ausmachen. Hier basiert die diesmal mit einem Delay versehene Flötenmelodie gleichfalls wieder auf der mixolydischen Skala, welche infolge der manchmal eingestreuten MollAkkorde der Orgel eine Sekundreibung zwischen der kleinen und großen Terz entstehen lässt. Besonderes Augenmerk muss auf das letzte, mit »Vom Himmel hoch« betitelte Stück des Albums gelegt werden, welches mit einzelnen, durch Wah-Wah und Delay bearbeiteten pulswellenähnlichen Tönen beginnt. Zunächst liegt die Vermutung nahe, dass es sich als Klangquelle hierbei um die von Ralf Hütter oft zitierten selbstgebauten Oszillatoren Kraftwerks handeln könnte,274 da die Tonhöhe im Laufe des Stückes Pitchbending-ähnlich stark verändert wird, was mit der Hammond-Orgel oder dem Tubon in dieser Form nicht zu realisieren gewesen wäre. Eine Aufnahme eines Live-Konzertes in der Besetzung Hütter / Schneider / Dinger im Rahmen der Sendung »Musikpalast« im Westdeutschen Rundfunk im Winter des Jahres 1970 zeigt allerdings deutlich, dass genau jene Klänge mit dem Tubon erzielt werden.275 Es muss sich also um eine mittels externer, nicht genau bestimmbarer Effektgeräte ausgeführte Modulation handeln, die Hütter mit einem Fußpedal bedient. Dass Hütter in der Retrospektive bezüglich der Anfangsjahre Kraftwerks dezidiert immer auf die selbstgebauten Oszillatoren verweist, ist möglicherweise darin begründet, dass ein Oszillator in der damals häufig verwendeten subtrakti274

Die Verwendung selbst gebauter Technik erfolgte in der damaligen Zeit allerdings nicht nur bei Kraftwerk; auch bei Gruppen wie Neu! kam Equipment zum Einsatz, welches in der Regel von Technikern aus dem Freundes- und Bekanntenkreis konstruiert wurde. Michael Rother im Telefoninterview mit dem Verfasser am 25.05.2009. 275 Vgl. Kraftwerk: Kraftwerk  – Aspekte Aachen 1970, 1970, http://www.youtube.com/watch?v= 06xM48aNlZw (abgerufen am: 11.05.2009).

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

ven Synthese die erste Komponente der Klangarchitektur und dadurch der Nu­­ kleus allen Klanges war, wodurch ihm eine wie auch in der Elektroakustischen Musik der 1950er Jahre vorhandene ideologisch aufgeladene Konnotation zuteilwurde: Hütter suggeriert damit, dass der Ausgangspunkt der elektronischen Klangwelt Kraftwerks nicht nur in der Bedienung eines für den kommerziellen Musikmarkt gefertigten und damit auch für andere Musiker erhältlichen Oszillators als Bestandteil damalig verfügbarer Synthesizer zu finden ist, sondern dieser an sich sogar schon als Quelle allen Schaffens in Kraftwerk’scher Eigenregie elektrotechnisch konstruiert wurde. Die gezielte Darstellung, dass sich Kraftwerk sozusagen ihre eigenen Klangquellen erschaffen haben, zielt wohl in erster Linie darauf ab, den futuristischen Aspekt und den technischen und damit musikgeschichtlichen Vorsprung der Gruppe zum damaligen Zeitpunkt besonders hervorzuheben. Es soll allerdings nicht in Abrede gestellt werden, dass sich Kraftwerk ganz unzweifelhaft Gerätschaften haben bauen lassen – der als Violinist und Gitarrist an der Einspielung von Autobahn beteiligte Musiker Klaus Röder äußerte sich dazu wie folgt und betonte dabei die Wichtigkeit Conny Planks: »Sie [Hütter und Schneider] haben sich sehr viel von Freunden bauen lassen […]. Ralf und Florian hatten immer die richtigen Freunde, die die Technik beherrschten; da gehörte dann Conny [Plank] auch dazu. Der Conny war wichtig im Studio, um das alles perfekt zu machen. […] Damals war Conny für die Aufnahmen doch sehr wichtig. Ralf und Florian hatten immer diese Bekannten, Studiomenschen oder Bastler, die ihnen diese Technik so hergestellt hatten, wie sie es brauchten. […] Die elektronischen Geräte wurden auch gebaut.«276

Obgleich das von Röder beschriebene, individuell angefertigte Instrumentarium für die Musik Kraftwerks von Wichtigkeit ist, dergestalt, als dass es sowohl mitunter technischen Entwicklungen vorgreift, als auch den Sound der Gruppe maßgeblich bereichert, gibt es jedoch gerade für die Annahme eines vermeintlichen Einsatzes selbstgebauter Oszillatoren in der auditiven Analyse keinen Anlass. Weder bei »Vom Himmel hoch« noch auf den folgenden Kraftwerk-Alben ist ein Klang zu finden, dessen Ursprung sich nicht in anderen Quellen vermuten ließe so wie etwa durch den Einsatz der Synthesizer ab dem Jahre 1973.277

276 Zit. n. Klaus Röder in: Arnold 2009. 277 Technische Eigenentwicklungen sind darüber hinaus keinesfalls Pionierleistungen Kraft-

werk’scher Prägung gewesen. Die Einbindung von selbstgebautem Equipment gegen Ende der 1960er Jahre war bei vielen Gruppen gang und gäbe, allein schon aus ökonomischen oder logistischen Sachzwängen: Gerätschaften wie beispielsweise Verstärker aus den Vereinigten Staaten oder aus England waren in Ermangelung eines Händlernetzes nicht nur schwer zu bekommen, sie waren für viele Musiker schlicht unerschwinglich. Allein aus dieser Notlage heraus war das Doit-yourself-Verfahren oftmals die einzige praktikable Lösung. Vgl. Dedekind 2008, S. 48.

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3.3  Kraftwerk

Zurückkehrend zum Stück drängt sich bezüglich der auditiven Wirkung dieser Klangschaltung die Assoziation mit einem Bombardement aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Einerseits klingt die nach unten erfolgende Frequenzänderung der Tonhöhe nach der Sirene eines im Sturzflug befindlichen Sturzkampfbombers, andererseits bei schnellerer Modulation nach einer Luftschutzsirene. Dass dazwischen immer wieder Geräusche von Explosionen eingestreut werden, komplettiert das Ganze ebenso wie die sarkastische Entfremdung des Titels von Martin Luthers Weihnachtslied »Vom Himmel hoch, da komm ich her«. Musikalisch verdichtet sich dieses Klangmuster dann durch einzelne wie schon auf den vo­­ rangegangenen Stücken erscheinende Tutti-Abschläge im Schlagzeug, die sich sukzessiv zu einem Rock-orientierten Rhythmus aufbauen. Harmonisch sich wohl auf einem geschlechtslosen Grundton A bewegend (infolge einer veränderten Abspielgeschwindigkeit des Masterbands befindet sich die Tonart zwischen A und Ab; die folgenden improvisierten Blueslicks lassen aufgrund ihrer besseren Spielbarkeit auf den weißen Tasten der Orgel allerdings eher auf den Grundton A schließen), erfolgt eine Blues-orientierte, die pentatonische Skala bedienende Improvisation, dessen Klangquelle ein stark mit Wah-Wah und Verzerrer bearbeitetes Tubon sein dürfte. Nach der Steigerung der Tonhöhe sowie der Rhythmik schließt das Stück mit einem letzten Explosionsgeräusch. 3.3.2 Blaupause des Industrials? – Einordnung im Kontext des Krautrocks und Vergleich mit Throbbing Gristle, Faust und Kluster Wie ist das Debüt-Album Kraftwerks nun im Kosmos des Krautrock einzuordnen? Formal gesehen lassen sich hinsichtlich der Länge und des Aufbaus der einzelnen Kompositionen diverse Krautrock-typische Kriterien konstatieren: Zunächst einmal handelt es sich um eine reine Instrumentalmusik, deren Struktur, anstatt auf Formalia der angloamerikanischen Popmusik zurückzugreifen, beispielsweise hinsichtlich des Vorhandenseins von Strophe oder Refrain, aus zeitlich größer gefassten, oft ineinander übergehenden Spannungsbögen besteht. Die musikalische Textur basiert primär auf der Improvisation. Hooklines sind wenn überhaupt in der Reduktion rhythmischer Strukturen und der Repetition von Pattern zu finden. Dabei sticht besonders die Kombination aus dem überblasenen Flötenmotiv und des Orgel-Pattern im Stück »Ruckzuck« hervor, dessen aurale Eingängigkeit ansonsten auf dem Album nicht mehr zu finden ist. In der retro­ spektiven Betrachtung ist diese Komposition dann auch maßgeblich für den Er­­ folg des Albums verantwortlich, nicht zuletzt wurde sie zum einen im Rundfunk gespielt, zum anderen folgte durch die Verwendung des Stückes als Titelmelodie

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

der Sendung »Kennzeichen D« im Zweiten Deutschen Fernsehen eine über den üblichen Rezeptionsradius des Krautrocks hinausgehende Verbreitung – Parallelen finden sich diesbezüglich zu dem ebenfalls durch die Verwendung im Deutschen Fernsehen entstandenen Erfolg der Single »Spoon« von Can.278 Sucht man nach Übereinstimmungen mit zeitlich aufgenommenen Alben, böte sich zunächst das im Jahre 1970 veröffentlichte Album Electronic Meditation von Tangerine Dream an. Vor allem die aus lang ausgehaltenen Orgelakkorden bestehenden Klangflächen im Stück »Megaherz« sind in ähnlicher Form auf mehreren Kompositionen des Referenzalbums von Tangerine Dream zu finden. Ansonsten ist Electronic Meditation deutlich gitarrenlastiger und damit Rock-orientierter. Durch die permanente Einbindung von Störgeräuschen und eines unausgewogen in den Hintergrund gemischten ekstatischen Schlagzeugspiels wohnt ihm aus der heutigen Betrachtung ein wesentlich stärkerer Anachronismus inne, als dies bei Kraftwerk der Fall ist. Obwohl Kraftwerk ebenfalls mit Atonalität arbeiteten und auch dort in instrumentale Ekstase mündende Klangverdichtungen vernehmbar sind, klingt Kraftwerk doch deutlich aufgeräumter und leichter konsumierbar – vor allem trifft dies auf »Ruckzuck« zu. Eine Ursache dafür ist die Transparenz der Produktion. Das Mischungsverhältnis der einzelnen Instrumente untereinander ist viel ausgeglichener als auf Electronic Meditation. Durch die Verteilung der unterschiedlichen Flötenspuren sowie der Orgel im Panorama erhält die Aufnahme eine akustische Weite, die den Vergleich zu ähnlich gearteten Indie-Rock-Produktionen der 2000er Jahre nicht scheuen muss. Lediglich die spröde Abmischung des Schlagzeugs ohne Verwendung von Kompression oder Gates – gerade hinsichtlich der Snaredrum – lässt das Stück als Kind seiner Zeit vermuten. Dass »Ruckzuck« im Verhältnis zu anderen Krautrock-Kompositionen des Jahres 1970 hinsichtlich seiner minimalistischen und klaren Klangtextur eine gewisse Ausnahmestellung zuteilwird, ist ohne Frage ein Verdienst der Fähigkeiten und technischen Möglichkeiten Conny Planks. Tangerine Dream, die Elec­ tronic Meditation in Eigenregie produzierten, konnten neben dem Mangel an tontechnischer Erfahrung schon allein angesichts des zur Verfügung stehenden Equipments  – alle Instrumente wurden auf einer 2-Spur-Bandmaschine aufgenommen, die wiederum direkt auf einer Revox 1/4"-Bandmaschine gemastert wurde – nicht gegen Planks Klangkosmos bestehen. In diesem Kapitel sollen aber nicht nur etwaige klangqualitative Faktoren in den Fokus gerückt werden, sondern auch das musikalische Material per se. In den Vordergrund treten dabei die von Kraftwerk in Anlehnung an die Musique con-

278

102

Buckley 2013, S. 59 f.

3.3  Kraftwerk

crète verwendeten Klangcollagen aus industriellen Umweltgeräuschen und Musik, da sie wie der Prototyp des Mitte der 1970 Jahre in England entstandenen Genres des Industrials klingen. Betrachtet man etwa die Musik der Band Throbbing Gristle, die als der Protagonist dieser Gattung gilt, finden sich evidente klangliche Anleihen an die Musik des ersten Kraftwerk-Albums: So beginnt das erste Stück »Industrial Introduction« ihres im Jahre 1977 erschienenen DebütAlbums The Second Annual Report279 mit ähnlichen, sich ebenfalls verdichtenden Interferenzklängen wie bei Kraftwerks »Megaherz«. Neben der Implementierung von Tonbandaufnahmen mit Stimmen und Umweltgeräuschen weckt der häufige Einsatz von verzerrten tieffrequenten Klängen ebenfalls starke Assoziationen zum industriellen Klangcharakter von Kraftwerk. Nun ist diese Klangwelt keinesfalls neu – seit den 1950er Jahren werden derartige elektronische Effekte als Untermalung von Science-Fiction-Filmen genutzt. Ein prominentes Beispiel ist der im Jahre 1956 erschienene Film »Forbidden Planet«, dessen von Louis und Bebe Barron komponierter Soundtrack als der erste rein elektronisch erzeugte in der Geschichte der Filmmusik gilt.280 Die dort zu vernehmenden Klänge wurden durch ringmodulierte Oszillatoren erzeugt, deren Ausgangsmaterial mit Spiralhall und Bandecho bearbeitet wurde. Aber auch bei Peter Thomas’ besagter Filmmusik für »Raumpatrouille  – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion« lassen sich solche Klänge vernehmen: Die in jeder Folge der Serie erscheinende Sequenz des aus dem Ozean aufsteigenden Raumschiffes wurde ebenfalls mit ringmodulierten glissandierenden Klängen untermalt, die eine große Ähnlichkeit zur Einleitung von Kraftwerks »Megaherz« in sich birgt. Gleiches gilt für die ernste Musik: Neben vielen auf dem Mixturtrautonium basierenden Werken Oskar Salas bietet beispielsweise die im Jahre 1953 entstandene »Studie I« von Karlheinz Stockhausen eine Fülle von Klängen, die ein ähnliches Spektrum aufweisen.281 Die aurale Äquivalenz der hier aufgeführten Beispiele verwundert aber nicht, liegt ihre Ursache doch in der ihr zugrunde liegenden Klangquelle. Auch wenn die zum Einsatz kommenden Oszillatoren unterschiedliche Spektren aufweisen, sei es durch die Verwendung verschiedener Wellenformen oder durch konstruktionsbedingte Diversifikationen, ist die resul279 Vgl. Throbbing Gristle: »Industrial Introduction« auf The Second Annual Report, 1977. Im Jahre

1975 spielte die Gruppe ein mit The First Annual Report betiteltes Album ein, das allerdings erst im Jahre 2001 als Bootleg auf dem Label Yeaah veröffentlicht wurde. 280 Brockman, Jane: The First Electronic Filmscore-Forbidden Planet: A Conversation with Bebe Barron, in: The Score: the Society of Composers & Lyricists, Vol. VII, No. 3, 1992, https://www.effectrode.com/ knowledge-base/the-first-electronic-filmscore-forbidden-planet-a-conversation-with-bebebarron/ (abgerufen am: 07.02.2021). 281 Vgl. Oskar Sala: Electronic Virtuosity For Selected Sound, 1969 und Karlheinz Stockhausen: »Studie I«, 1953.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

tierende Klangtextur doch gerade im Vergleich zu akustisch erzeugten Klängen so eindeutig anders, dass man sie einer eigenen kohärenten Klangfamilie zuordnen muss. Zum gleichen akustischen Effekt führt außerdem der omnipräsente Einsatz von Ringmodulation: In Ermangelung von ausgearbeiteten Primärfaktoren wie Tonhöhe, Harmonik oder Rhythmus nimmt der Hörer die in Rede stehenden Klangphänomene vordergründig als elektronisch generierte, glissandierende Frequenzgemische wahr, deren spektrale Unterschiede sich nur dem geschulten Gehör erschließen. So stehen diese Klänge eher als auditives Abbild einer bestimmten studiotechnischen, zwangsläufig so klingen müssenden Schaltung im Raum – in diesem Falle die Aneinanderreihung von Oszillator, Ringmodulator sowie Hall und / oder Echo – denn als komponierte Musik. Da diese Art von Klängen im Science-Fiction-Genre immer und immer wieder verwendet worden sind, gerieten sie bereits in den 1960er Jahren zu einem Klischee. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten Kraftwerk allerdings als die Ersten, die diese Klanglandschaften innerhalb eines popmusikalischen Kontextes verwendet haben.282 Dies ist jedoch nur bedingt haltbar, da diese These vor allem auf dem nachhaltigen Erfolg sowie auf dem in den 1990er Jahren einsetzenden Hype um die Gruppe seitens des Feuilletons basiert, welches Kraftwerk zur Keimzelle nahezu jeglicher elektronischer Popularmusik stilisierte. Dass es bereits sowohl vor Switched-On Bach als natürlich auch infolge des durch den Erfolg dieses Albums evozierten Moog-Booms vor allem in den USA populäre Musik gab, die auf genau jene Science-Fiction-Klischees zurückgriff, wird oftmals vergessen, da dem durchaus auch in kommerzieller Hinsicht vorhandenen Erfolg dieser Veröffentlichungen nur eine kurze Zeitspanne um die Jahre 1967 bis 1972 vergönnt war, sie daher in der historischen Betrachtung weitgehend in Vergessenheit geraten sind.283 Bezieht man sich hingegen explizit auf die Vorwegnahme von Elementen des Industrials, braucht man noch nicht mal im Ausland nach anderen Quellen zu suchen. So gibt es neben Kraftwerk auch im Krautrock noch andere Formationen, die sogar vom Musikjournalismus, sei es nun berechtigt oder nicht, diesbezüglich in den Vordergrund gerückt werden, allen voran die Band Faust.284 Durch einen geschickt ausgehandelten, hoch dotierten Vertrag mit der Plattenfirma Polydor, welche dadurch versuchte, auf den sich sukzessiv einstellenden kommerziellen Erfolg des Krautrocks aufzuspringen, hatte die Gruppe Anfang der 1970er Jahre die Möglichkeit, ohne jeglichen Zeit- und Kostendruck völlig autark in einem Bauernhof in Niedersachsen ein Studio mit hochwertigem technischen 282 283 284

104

Monroe 2014, S. 215. Vgl. Kap. 3.6.4. Dedekind 2008, S. 229.

3.3  Kraftwerk

Instrumentarium einzurichten, um ihre Idee einer Musik umzusetzen, die jegliche Rock- und Popschemata ignorierte285 und sich vielmehr als Klangmalerei verstand.286 Das Ergebnis wurde im Jahre 1971 auf dem nach der Gruppe benannten Album Faust veröffentlicht. Es handelte sich dabei um eine stark collagierte Musik, die Fragmente des Psychedelic Rock mit elektronischen Effekten verband. In schneller Folge wechselten sich so mit konventioneller Rock-Instrumentierung (Gitarre, Bass, Schlagzeug, selten auch Klavier und Blasinstrumente) eingespielte, oft aus ungeraden Metren bestehende Riffs und Pattern mit verzerrten elektronischen Klangflächen ab. Wie lassen sich nun aus diesem Konglomerat Parallelen zum Industrial herleiten? Um dieser Frage gerecht zu werden, muss man der Tatsache Rechnung tragen, dass die musikalischen Kriterien dieses Genres in seiner Anfangszeit ab Mitte der 1970er Jahre unmittelbar durch die oben genannte Formation Throbbing Gristle definiert wurden; sie gaben dem Genre mit der Gründung ihres mit Industrial Records benannten Labels auch den Namen. Die musikalische Referenz für einen Vergleich ist also im Œuvre der Band zu suchen. Throbbing Gristles Musik basiert auf flächigen, meist unharmonischen Klängen, die mit Bandechos und Hall bearbeitet sind und dadurch eine große räumliche Tiefe haben. Wurden diese Klänge auf ihrem im Jahre 1975 eingespielten und 2001 veröffentlichten Album The First Annual Report noch größtenteils mittels Gitarre und Bass erzeugt, erfolgt bei ihrer eigentlichen Erstveröffentlichung The Second Annual Report 1977 die Realisierung dieser durch analoge Synthesizer. Bass und Gitarre werden hier neben einer Trompete nur noch akzidentiell hinzugefügt, durch Effekte aber wie auf dem Vorgängeralbum fast bis zur Unkenntlichkeit des Ausgangsmaterials verfremdet. Hierfür wird neben resonierender Tiefpassfilterung durch etwa ein Wah-Wah und Ringmodulatoreffekten oftmals starke Verzerrung eingesetzt, die dem Gesamtklang eine aggressive und düstere Atmosphäre verleihen. Rhythmische Strukturen sind selten zu vernehmen. Gelegentlich entstehen sie durch aus perkussiven Synthesizer-Klängen und Umweltgeräuschen zusammengeschnittenen Tonbandschleifen, meistens sind sie jedoch durch die Geschwindigkeit und den Feedback-Anteil des Bandechos erfahrbar. Zieht man nun den Vergleich zu Faust hinsichtlich der Abschnitte, die mit ähnlichem Instrumentarium eingespielt sind (Gitarre, Bass und Blasinstrumente), lassen sich Faust ungeachtet der Komplexität musikalischer Primärfaktoren unzweifelhaft der Rockmusik zuordnen, während bei Throbbing Gristle die instrumentale Spielweise von jeglichen rockmusikalischen Traditionen und Klischees entkoppelt ist. Auch infolge der Absenz eines Schlagzeugs auf dem ersten 285 286

Simmeth 2016, S. 138. Wagner 2013, S. 116 ff.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Album – erst ab dem zweiten, im Jahre 1978 veröffentlichten Album D.o.A: The Third and Final Report werden zur Erzeugung von Rhythmik vereinzelt Drumcomputer und Sequenzer eingesetzt – hat die Musik Throbbing Gristles über weite Distanzen nichts mit Faust gemein. Übereinstimmungen lassen sich allenfalls in jenen experimentellen, elektronisch erzeugten Fragmenten finden, mit denen Faust ihre rockbasierten Elemente zu konterkarieren versuchen. Jene aber sind wie erwähnt schon zwei Jahre zuvor von Kraftwerk verwendet worden, auch wenn sie bei Faust durch den starken Einsatz von Verzerrung näher an der aggressiven Klangtextur Throbbing Gristles angesiedelt sind. Die häufig in der musikjournalistischen Retrospektive kolportierte These, dass Faust aber nun als der Vorläufer des Industrials gelten sollen, ist angesichts dieser nur sehr rudimentären klanglichen Übereinstimmungen nicht haltbar. Allenfalls die Art der Implementierung gesprochenen Textes bezüglich der Einbindung von verfremdenden Effekten – abermals durch Filterung, Verzerrung, Hall und Bandecho –, die in dieser Form auch bei Throbbing Gristle zu vernehmen sind, könnten Faust im Lichte des Wegbereiters des Industrials erscheinen lassen. Aber auch diesbezüglich muss man, was die Erstmaligkeit hinsichtlich dieser Klänge im Bereich der populären Musik anbelangt, auf andere Gruppen verweisen. Neben der britischen Formation White Noise287 muss in diesem Zusammenhang noch ein anderes deutsches, experimentelles Musikprojekt in Augenschein genommen werden, welches bereits gegen Ende der 1960er Jahre mit dieser Art von Sprachverfremdung gearbeitet hat: Es handelt sich dabei um die Gruppe Kluster, die, wie im Folgenden dargelegt wird, noch andere Elemente der Musik Throbbing Gristles vorweggenommen hat. Im Hinblick auf diese Arbeit ist dies insofern interessant, da Kluster genau wie Kraftwerk ebenfalls von Conny Plank produziert worden sind. Angesichts der Arbeitsweise Planks und seines Einflusses auf die Musik wirft dies die Frage auf, inwiefern sämtliche Anleihen des Industrials an Kraftwerk und / oder Kluster nicht unbedingt auf das Schaffen der eigentlichen Musiker, sondern möglicherweise eher auf das Werk Planks zurückzuführen sind. Kluster288 wurde im Jahre 1969 von Conrad Schnitzler, Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius gegründet. Ihr erstes Album Klopfzeichen wurde innerhalb eines Tages, am 21.12.1969 aufgenommen, in einem Zeitraum also, in dem

287 288

106

Vgl. Kap. 3.6.3.1. Nach dem Ausstieg Schnitzlers im Jahre 1971 arbeiteten Roedelius und Moebius als Duo weiter und nannten sich fortan Cluster.

3.3  Kraftwerk

Schnitzler ebenfalls Mitglied von Tangerine Dream war. Schnitzler, der Initiator der Gruppe war, beschrieb den Ablauf der Aufnahmen wie folgt: »Wir spielten ohne Unterbrechung und baten Conny nur, uns nach zwanzig Minuten ein Zeichen zu geben, damit wir zum Ende kommen konnten, um so jeder Plattenseite eine abgerundete Form zu geben. […] Plank hat dann mit ein paar Tricks, mit Filtern und Echogeräten, die Stimme noch verformt und schwupp war die Platte fertig.«289

Man könnte diesem Zitat entnehmen, dass Plank also eher als Aufnahmeleiter denn als kreativer Produzent mitgewirkt habe. Mehrere Aussagen sowohl von Moebius als auch von Roedelius290 belegen hingegen, dass Plank der Gruppe erst die Möglichkeiten des Tonstudios nähergebracht hatte und dadurch die Grundvoraussetzungen für den Sound Klusters schuf. Bedenkt man, dass die Musik der Gruppe in Ermangelung musikalischer Primärkomponenten wie Melodik oder Harmonik ihre genuine Textur vor allem aus dem Klang an sich bezieht, ist Planks Rolle als Vermittler von Tontechnik im Entstehungsprozess offensichtlich sehr wichtig gewesen. Als Ausgangsmaterial dienten dabei konventionelle Instrumente wie Schlagwerk, Violine, Orgel, Flöte und Gitarre. Allenfalls der Einsatz der von Freunden der Gruppe gebauten Oszillatoren mag dabei außergewöhnlich erscheinen. Umso erstaunlicher ist dann das durch den Einsatz von Effektbearbeitung entstandene klangliche Ergebnis, welches teilweise vom Ausgangsmaterial völlig entkontextualisiert ist. Das sinnstiftende studiotechnische Element auf den ersten zwei, von Plank produzierten Alben Klusters291 ist dabei ein Bandecho, dass der Musik sowohl eine rhythmische Komponente als auch eine ähnlich wie bei Throbbing Gristle anzutreffende große räumliche Tiefe verleiht. Die daraus resultierende Klangästhetik ist nicht nur von zeitgleich entstandenen KrautrockProduktionen, sondern auch von allen anderen in dieser Zeit im Pop- und Rocksektor veröffentlichten Alben völlig losgelöst. Als Hörer würde man daher das Entstehungsdatum der ersten beiden Alben Klusters zeitlich auch vielmehr gegen Mitte der 1970er Jahre als gegen Ende der 1960er Jahre einordnen. Zwar ist die Verwendung artifizieller Klangräume in der Pop- und Rockmusik der damaligen Zeit kein Novum mehr gewesen, die Radikalität des Einsatzes von Echo in

289 290 291

Zit. n. Conny Schnitzler in: Wagner 2013, S. 83. Vgl. Kap. 3.2.8. Am gleichen Tag wie Klopfzeichen wurde auch das 1971 veröffentlichte Album Zwei-Osterei aufgenommen. Astronauta Pinguim: Interview with Hans-Joachim Roedelius, 2012, http://astronautapin guim.blogspot.de/2012/10/interview-with-hans-joachim-roedelius.html (abgerufen am: 22.09.2016).

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Form der Bearbeitung fast jedes Instrumentes sucht aber ihresgleichen. Singuläre Klangereignisse, etwa ein einzelner Schlag auf einem Tom, werden durch den hohen Resonanz- und Effektanteil des Echos zu Pattern transformiert. Infolge der Veränderung von Reflexionszeiten entstehen bei den zahlreichen auf Feedback basierenden Klängen extreme Tonänderungen: Nicht das durch ein Instrument erzeugte Ausgangsmaterial definiert den Klang  – das Bandecho selbst tritt als eigenständiger Klangerzeuger in den Vordergrund. Aber auch andere produktionstechnische Elemente wie beispielsweise das Zusammenfügen von teilweise starker Frequenzfilterung, Ringmodulation und Verzerrung zu einer dennoch stimmigen, für den Hörer angenehm zu rezipierenden Klanglandschaft finden sich in dieser Form auf keiner zeitgleich entstandenen Plattenaufnahme. Während extreme Verzerrung wie im Falle Fausts primär als akzidentielle Konterkarierung der Musik eingesetzt wird, gehen solche Elemente bei Kluster fließend ineinander über. Im Gegensatz zu abrupt einsetzenden Destruktionsmomenten steht hier eine möglichst weiche Klangmetamorphose im Vordergrund, obgleich die musikalische Textur vornehmlich aus unharmonischen, industriell anmutenden Klängen besteht. Es lässt sich nicht genau sagen, ob diese Klangideen mehr auf Plank oder auf die Musiker von Kluster zurückzuführen sind. Auch eine Aussage von Roedelius über die Funktion Planks bringt nur wenig Licht ins Dunkel: »He taught us how to use the recording studio as a tool, and he became the third silent member of Cluster, touring with us and doing many records later in his studio.«292 Sie betont zwar Planks Wichtigkeit, bleibt bezüglich konkreter Aufgabenverteilungen im Studio aber vage. Gemessen an Planks Selbstverständnis von seiner Produzententätigkeit293 ist es dann auch wahrscheinlich, dass die Musik unter seiner technischen Anleitung respektive aufgrund seines Ideenreichtums in Verbindung mit dem Zurverfügungstellen von studiotechnischer Klangbearbeitung im Kollektiv mit den Mitgliedern Klusters entwickelt wurde. Durch die Wechselwirkung gegenseitiger Inspiration mag eine detaillierte Aufschlüsselung von Urheberschaft bezüglich einzelner Klänge für das Zustandekommen der Musik Klusters auch keine allzu große Bedeutung haben. Im Hinblick auf Kraftwerk ist in diesem Zusammenhang vor allem erwähnenswert, dass Plank offensichtlich an der Produktion mit Kluster essenziell kreativ

292 293

108

Zit. n. Hans-Joachim Roedelius in: Valvona, Dominic: Hans-Joachim Roedelius Interview, in: Monolith Cocktail, 28.10.2010, https://monolithcocktail.com/a-z/archive-q-u/hans-joachim-roedeliusinterview/ (abgerufen am: 23.09.2016). Vgl. Kap. 3.2.8.

3.4  Personelle Umbesetzung – Kraftwerk und Neu!

beteiligt war,294 so dass eben viele Klänge und Effekte, die in ähnlicher Form auf dem im Folgejahr aufgenommenen Debüt-Album Kraftwerks wiederzufinden sind, gerade was die Art der Implementierung von Verzerrung, Filterung und der Erzeugung artifizieller Räume anbelangt, ihren Ursprung in der Musik Klusters und damit auch bei Plank haben dürften. Als Beispiele lassen sich hier etwa neben der Verwendung von Phasing der Einsatz von Ringmodulation in der Einleitung von »Stratovarius« als auch die räumliche Einbettung der Flöte und der Orgel bei »Megaherz« nennen. Zum einen zeigt sich dadurch, dass, obgleich Kraftwerk und Faust in der öffentlichen Wahrnehmung als Wegbereiter des Industrials gelten, diese Art von Klangwelt zuerst und maßgebend von Kluster betreten worden ist. Zum anderen ist die wie auch immer geartete Autorschaft Planks an diesem Klangkosmos ein weiteres Indiz dafür, dass die vornehmlich von Ralf Hütter in Anspruch genommene Position, sämtliche Klänge in Eigenregie erarbeitet zu haben, nicht haltbar ist: Zu augenscheinlich sind die produktionstechnischen Übereinstimmungen hinsichtlich der Klangästhetik zwischen Kluster und Kraftwerk.

3.4 Personelle Umbesetzung – Kraftwerk und Neu!

Nachdem der Schlagzeuger Andreas Hohmann bereits während der Aufnahmen von Kraftwerk die Band verlassen hatte, bestand die Besetzung kurzfristig aus Hütter, Schneider, Dinger und dem neu in die Band eingestiegenen Gitarristen Michael Rother. In diese Zwischenphase fiel lediglich eine Session, da gegen Ende des Jahres 1970 auch Hütter die Band verließ, um sein Architekturstudium zu beenden. Das kurzzeitige Zusammenspiel mit Hütter schien bei Rother allerdings einen tiefen Eindruck hinterlassen zu haben: »When I jammed with Ralf Hütter, it was so appearent that we both had the same idea from melody and harmony which was definately not american not blues. It was european music. There’s a german expression called ›Stunde Null‹.«295

Allerdings existiert von dieser Session ebenso wenig eine Aufnahme wie von den ab Ende des Jahres 1970 gegebenen Konzerten, an denen in wechselnder Besetzung neben Florian Schneider, Klaus Dinger auch Eberhardt Kranemann am

294

Astronauta Pinguim: Interview with Hans-Joachim Roedelius, 2012, http://astronautapinguim.blog spot.de/2012/10/interview-with-hans-joachim-roedelius.html (abgerufen am: 22.09.2016). 295 Zit.  n. Michael Rother in: BBC: Krautrock: The Rebirth of Germany, 2009, http://www.youtube. com/watch?v=x3yRXCnQvL4&feature=watch-vrec (abgerufen am: 07.02.2021).

109

3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Bass, Karl »Charly« Weiss am Schlagzeug sowie Michael Rother teilnahmen.296 Lediglich von einigen in der Formation Schneider, Dinger, Rother gespielten Konzerten ist neben verschiedenen Bootlegs297 ein Live-Mitschnitt des Stückes »Rückstoß Gondoliero« im Beat-Club am 22.5.1971 in Bremen sowie ein nicht näher datierter Mitschnitt des Stückes »Köln  II«298 vom Westdeutschen Rundfunk aus dem Jahre 1971 vorhanden. Da die in dieser Zeit entstandenen Aufnahmen aus dem Nährboden der experimentellen industriellen Frühphase Kraftwerks heraus das musikalische Fundament der im August 1971 nach ihrem Austritt aus Kraftwerk von Dinger und Rother gegründete Band Neu! bildeten, lohnt eine nähere Betrachtung. Nach Aussage Michael Rothers basierte sowohl die damalige Musik von Kraftwerk als auch von Neu! auf Improvisationen, denen lediglich eine im Vorfeld getroffene Absprache bezüglich des Tempos und der Tonart zugrunde lag.299 Dies unterstreichend, handelt es sich bei »Rückstoß Gondoliero«300 daher auch um ein Stück, das nicht nur verschiedene Kraftwerk-Klangcharakteristika in sich vereint, sondern darüber hinaus deutlich von jenem improvisatorischen Charakter durchsetzt ist. Nach einer metrisch freien, aus langsam gespielten Flötentönen, die mit einem Delay mit hohem Feedback-Anteil bearbeitet werden, bestehenden Einleitung erscheinen einzelne, über die mixolydische Skala in D-Dur gespielte, sich sukzessiv rhythmisch zu einem Klanggebilde steigernde Gitarrentöne, welche durch ein sich aufbauendes Schlagzeug-Pattern zu einem langsam accelerierenden Rhythmus verdichtet werden. Diese Steigerung mündet in einen weiteren, auf dem Grundton G basierenden metrisch freien Teil, der ebenfalls wieder rhythmisch zunächst durch das Schlagzeug verdichtet wird und dann zu einem schnellen Drumpattern übergeht. Die harmonische Reduktion auf einen Grundton sowie das im Vergleich zum Debütalbum Kraftwerks mittlerweile maschinell präzise gewordene, nur mit wenigen Breaks angereicherte Schlagzeugspiel Klaus Dingers, welches sich zu diesem Zeitpunkt bereits zum von Jaki Liebezeit bekannten Motorik-Stil verändert hatte, sind nicht nur repräsentativ für die damalige Musik Kraftwerks, sondern fungieren später auch als kompositorische Grundelemente von Neu!. Michael Rother:

296 297 298 299 300

110

Kranemann, Eberhard: Eberhard Kranemann  – Kraftwerk, http://www.e-kranemann.de/kraftw1/ start.htm (abgerufen am: 10.04.2009). Barr 1998, S. 56. Kraftwerk: »Rückstoß Gondoliero«, 1971, https://www.youtube.com/watch?v=ry64e6SVQGs (abgerufen am: 07.02.2021). Michael Rother im Telefoninterview mit dem Verfasser am 25.05.2009. Kraftwerk: »Rückstoß Gondoliero«, 1971, https://www.youtube.com/watch?v=O8Y_-ZLG W1o (abgerufen am: 07.02.2021).

3.4  Personelle Umbesetzung – Kraftwerk und Neu!

»In den Sechzigern hatte ich eine Zeitlang noch versucht, die Musik durch immer größere Komplexität aufzuwerten, bis ich das als nicht sehr befriedigenden Weg erkannte. In Zusammenarbeit mit Kraftwerk und anderen Gruppen und Künstlern ging ich genau den umgekehrten Weg – das heißt, zurück zu ganz einfachen Ausdrucksweisen und Strukturen. EIN Akkord, EINE Harmonie zum Beispiel.«301

Das gleiche Prinzip reflektiert sich auch in der melodischen Gestaltung. Nach Aussage von Michael Rother zielte die Überlegung, sich auf wenige Töne zu beschränken, darauf ab, ihnen dadurch eine größere Bedeutung zu verleihen.302 Die von Rother beschriebene, der Musik zugrunde liegende strukturell-kompositorische Vereinfachung spiegelt sich auch in dem Stück »Köln  II« wider. Das diesmal konstant bleibende Tempo sowie die ebenfalls auf einem Akkord basierende Harmonik nehmen die Textur vieler Stücke von Neu! direkt vorweg. Klaus Dinger: »It’s difficult to say when Michael and I found our music but it didn’t happen on live TV. It was, however, heavily influenced by the live-concerts we had played with Florian.«303 Betrachtet man beispielsweise das Stück »Hallogallo«, mit welchem das erste im Jahre 1972 erschienene und schlicht mit Neu! betitelte Album beginnt, tritt die musikalische Verwandtschaft zu »Köln  II« am deutlichsten zutage. So basieren beide Stücke auf einem zunächst auf dem Grundton fußenden Gitarrenpattern, welches allenfalls mit der Quinte, der kleinen Septime oder der großen None angereichert wird. Im Verlauf der Stücke werden Melodiefragmente appliziert (bei »Köln II« durch Schneiders Flötenspiel, bei »Hallogallo« durch die von Rother gespielte Gitarre), die durch Delay oder Hall verfremdet werden und durch die Implementierung der großen Terz sowie der kleinen Septime eine mixolydische Grundtonart generieren. Dieses Prinzip findet sich auch bei anderen Stücken auf Neu!.304 Neben weiterer musikalischer Kongruenz zwischen den in dieser Zeit live dargebotenen Stücken Kraftwerks und Neu! infolge des Einsatzes des für Dinger signifikanten Apache / Motorik-Beats ist aber auch eine produktionstechnische Übereinstimmung zwischen den Alben Kraftwerk und Neu! in Form von durch Hall oder Delay erzeugten artifiziellen Räumen, der Art der eher trockenen Abmischung des Schlagzeugs sowie verschiedenen Tonbandeffekten ersichtlich, was sicherlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass Conny Plank abermals als Produzent verantwortlich zeichnete.

301 302 303

Zit. n. Michael Rother: Dedekind 2008, S. 58. Michael Rother im Telefoninterview mit dem Verfasser am 25.05.2009. Dinger, Klaus: Klaus Dinger im Interview mit Michael Dee für das Magazin Pop, Okt. 1998, http:// www.gawl.de/Dingerland/Talks/pop_int.html (abgerufen am: 05.09.2009). 304 Vgl. Neu!: »Negativland« und »Weissensee«, 1972.

111

3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Unter Planks Ägide fanden im Sommer 1971 gleichfalls Aufnahmen zum zweiten Album Kraftwerks statt. Der Versuch, die Atmosphäre der Live-Konzerte und damit die auf der Bühne stattfindende, gegenseitige Inspiration im Studio einzufangen, misslang allerdings, weshalb das Ergebnis nie veröffentlicht wurde. Infolge gleichzeitig zunehmender Spannungen zwischen Schneider und Dinger trennte man sich schließlich: Während Dinger und Rother Neu! gründeten, schlossen sich Florian Schneider und Ralf Hütter wieder zusammen und begannen mit den Aufnahmen zu Kraftwerk 2.305

3.5 Kraftwerk 2

3.5.1 Musikalische Analyse Das Album Kraftwerk 2 wurde von September bis Oktober des Jahres 1971 in »Ralf Arnie’s Star Musik Studio« in Hamburg unter der erneuten tontechnischen Leitung Conny Planks aufgenommen und im Januar 1972 veröffentlicht. Ralf Hütter spielte auf diesem Album Orgel, Elektrisches Klavier, Bass, Rhythmusmaschine, Glocken und Harmonika; Florian Schneider spielte Flöten, Geigen, Gitarre, Glocken und bediente das Mischpult. Angesichts der Live-Auftritte Kraftwerks, bei denen Schneider seine Flötenklänge immer über ein Mischpult mit Effekten bearbeitet hat, ist die explizite Nennung seines Namens in Verbindung mit dem Mischpult wohl eher im Zusammenhang mit von ihm generierten Klangeffekten denn als einer Tätigkeit als Mischer des gesamten Albums zu sehen. In den Credits werden bezüglich Produktion, Aufnahme und Mischung dann auch gleichberechtigt Hütter, Schneider und Plank genannt. Da es sich hierbei, kompositorisch betrachtet, größtenteils um eine behutsame Weiterführung des Vorgängeralbums handelt, stehen die produktionstechnischen Neuerungen respektive ihre Auswirkungen auf die Musik im Vordergrund. Als gravierendste Novität sticht dabei die Implementierung eines Drumcomputers306 ins Auge, dessen Einsatz aus einer Notlage heraus zustande kam: So bemängelte Ralf Hütter in verschiedenen Interviews,307 dass es zum damaligen Zeitpunkt unmöglich gewesen sei, einen Schlagzeuger zu finden, der bereit gewesen wäre, 305 306 307

112

Buckley 2013, S. 66 f. Anhand eines Fotos in der Inlays von Kraftwerk 2 ist deutlich das Modell Rhythm 10 der Firma Farfisa zu erkennen. Als Beispiele seien hier genannt: Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Beacon Radio, Manchester 14.06.1981, http://kraftwerk.technopop.com.br/interview_122.php (abgerufen am: 14.05.2009). Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit dem Electronics and Musik Maker Magazine im September 1981, http://kraftwerk.technopop.com.br/interview_13.php (abgerufen am: 14.05.2009).

3.5  Kraftwerk 2

mit einem durch Kontaktmikrofonen abgenommenen, verstärkten Schlagzeug zu arbeiten und sich so dem elektronischen Klangcharakter Kraftwerks am besten angepasst hätte. Die Arbeit mit dem elektronischen Substitut beschreibt Hütter folgendermaßen: »In 1971 Kraftwerk was still without a drummer, so I bought a cheap drum machine giving some preset dance rhythms. By changing the basic sounds with tape echo and filtering we made the rhythm tracks for our second album.«308

Wie bereits erwähnt, war der Einsatz eines Drumcomputers zum damaligen Zeitpunkt zwar eine Seltenheit, aber angesichts der Referenzbeispiele von Robin Gibb, Can und Sly & the Family Stone keinesfalls revolutionär.309 Obgleich Hütter von der Bearbeitung der Schlagzeugklänge durch Filter und Bandecho sprach, lässt der Klang der Schlagzeugspuren doch genau diese vermissen, weshalb man sich vielmehr an eine triviale Alleinunterhalterbegleitung erinnert fühlt. Angesichts des klanglich wenig innovativen Einsatzes dieses Gerätes kann Hütters 1987 getätigte Aussage, im Jahre 1971 bei einem Konzert einen mit eben jenen Filtern und Echoeffekten bearbeiteten Drumcomputer eingesetzt und dabei die Bühne verlassen zu haben, um auf der Tanzfläche eine Stunde (!) zum Rhythmus der Maschine zu tanzen,310 vermutlich eher dem Versuch gleichgesetzt werden, für sich zu reklamieren, die zum damaligen Zeitpunkt aufkommende Electronic Dance Music bereits 16 Jahre vorher in all ihren Facetten vorweggenommen zu haben. Zum einen bezieht sich diese Aussage auf formale sowie rezeptionsbezogene Kriterien wie Repetitivität und Tanzbarkeit. Zum anderen schließt dies die produktionstechnische Seite in Form sowohl der prinzipiell elektronischen Generierung von Schlagzeugklängen als auch der aus der House- und Techno-Musik bekannten Verwendung von durch resonierende Filterung erzeugten Klangverläufen ein. Dies berührt gleichfalls sowohl die Mischästhetik als auch die Art der musikalischen Darbietung insgesamt: Additive Echoeffekte und Filterung sind ein essenzieller Bestandteil der DJ-Kultur. So kann Hütters offensichtliche Verklärung nicht als Versuch gelten, die damalige Musik Kraftwerks als produktionstechnische Blaupause der elektronischen Tanzmusik der 1980er Jahre darzustellen, sondern auch für sich zu reklamieren, die Aufführungspraxis von DJs vorweggenommen zu haben.

308 309 310

Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit dem Electronics and Musik Maker Magazine im September 1981, http://kraftwerk.technopop.com.br/interview_13.php (abgerufen am: 14.05.2009). Vgl. Kap. 2.4.1. Barr 1998, S. 59.

113

3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Kehrt man nun zum eigentlichen Album zurück, besteht neben dem Drumcomputer die zweite technische Neuerung aus der Verwendung eines Farfisa Professional Pianos,311 welches nicht nur auf den folgenden Studioalben, sondern auch bei Konzerten eine neue klangliche Komponente in die Musik Kraftwerks brachte. Da sowohl der Drumcomputer als auch das Farfisa Piano nur beim ersten, mit einer Spielzeit von 17:29 sehr langen Eröffnungsstück »Klingklang« zum Einsatz kam, soll dies in erster Linie Gegenstand der Betrachtung sein. Bereits in den ersten Sekunden des Stückes offenbart sich die zentrale kompositorisch- und produktionstechnische Idee des Albums: Die Zweckentfremdung des Tonbandes zur Klangmanipulation. So sind auf Kraftwerk 2 nicht nur die vom Vorgängeralbum bekannten Klangcollagen aus Industriegeräuschen zu hören, es werden diesmal die aufgenommenen Spuren durch unterschiedliche Abspielgeschwindigkeiten und -richtungen gezielt in ihrem Klangspektrum manipuliert. Dabei fungiert entweder das abgemischte Masterband als Ausgangsmaterial einer finalen, allein im Raum stehenden Klangveränderung oder aber es werden zusammengemischte Spuren zunächst bearbeitet und dann als neues Klangfundament für weitere Overdubs benutzt. Bereits in der rhythmisch freien Einleitung wird von diesen Methoden Gebrauch gemacht: So werden einige der metallischen Perkussionsinstrumente in einer verhältnismäßig langsamen Geschwindigkeit abgespielt, die dadurch dem Gesamtklang hin und wieder einen synthetischen, tieffrequenten Charakter verleihen. Wenn nach knapp zwei Minuten das Schlagzeug-Pattern zusammen mit dem eintaktigen Kadenzmotiv des Basses eingeblendet wird, ändert sich nach kurzer Zeit die Geschwindigkeit des Masterbands, so dass neben einer minimalen Tempoveränderung eine Halbtonrückung von G nach Ab erzielt wird. Diese Verfahrensweise zieht sich durch das gesamte Stück und steigert sich schließlich bis zur Grundtonart H-Dur. Dazu erscheint ebenfalls nach der Einleitung eine in Dur stehende Begleitung durch das Farfisa Piano, bei der ab und zu die Subdominante angespielt wird; diese Art der Begleitung steht durch ihren eher fröhlichen Charakter in einem starken Gegensatz zu den düsteren, industriellen Klängen des Vorgängeralbums und evoziert in Verbindung mit der banalen, repetitiven und völlig ohne Breaks versehenen Schlagzeugspur des Drumcomputers aber auch eine leicht trivial anmutende Atmosphäre. Prinzipiell wird hier die Wandlung zum eher Dur-lastigen Klangbild der Alben Ralf und Florian sowie Autobahn vorweggenommen. Um der Monotonie entgegenzuwirken, spielt die Flöte akzidentiell einzelne auf der mixolydischen Skala basierende kurze Melodiefragmente, die mit einem

311

114

Im Folgenden nur noch »Farfisa Piano« genannt.

3.5  Kraftwerk 2

starken Delay versehen sind. Nach etwa 10:30 wird die Master-Bandmaschine ausgeschaltet, so dass die Musik sukzessiv sowohl an Geschwindigkeit als auch an Tonhöhe verliert, bis sie schließlich ganz zum Erliegen kommt. Dieses Verfahren der totalen Manipulation des Gesamtklanges zieht sich nun bis zum Ende des Stückes durch. Zunächst erfolgt ein langsamer, ungefähr 3:20 dauernder, in halber Bandgeschwindigkeit abgespielter Teil in Ab-Dur, der sich ebenfalls aus Drumcomputer, Bass, Farfisa Piano und Flöte zusammensetzt. Darüber werden rückwärts abgespielte Bänder mit Flötentönen gelegt, die dem Stück eine fast psychedelische, stark an die Musik des britischen, ab Ende der 1990er Jahre tätigen Electronica-Duos Boards of Canada312 erinnernde Komponente verleiht – weit gefasst könnte man dies als Vorgriff auf die Klangästhetik von Teilen des Triphop- und Electronica-Genres deuten. Die darauf folgende etwa 3:15 lange Coda des Stückes basiert auf einem aus Schlagzeug und Bass bestehendem Grundband, welches tonal und rhythmisch die Motive des Hauptteils aufgreift, allerdings hier mit wesentlich höherer Geschwindigkeit abgespielt wird (ca. 200 bpm statt ca. 140 bpm). Zu diesem Material gesellen sich improvisatorisch hinzugefügte, lang ausgehaltene Streichertöne sowie perkussiv eingesetzte, verzerrte Gitarrenklänge hinzu, die das Stück nach einer Klangverdichtung in einem kurzen Fade-Out beschließen. Die anderen Stücke hingegen sind musikalisch sowie klangspezifisch sehr eng mit dem Vorgängeralbum verwandt, ohne wirkliche Innovationen zu enthalten. Während das sich an »Klingklang« anschließende Stück »Atem« aus langsam abgespielten Atemgeräuschen besteht (eine Idee, die Jahre später noch mal bei den Stücken »Tour de France« und »Elektro Kardiogramm« aufgegriffen wird), scheint »Strom« durch das Netzbrummen zu Beginn eine elektrische Variante der an die Musique concrète angelehnten mechanischen Industriegeräusche von Kraftwerk zu sein, bei der durch die sukzessive zweitaktige Tonschichtung des d-MollAkkords in der Flöte sowohl die Akkordschichtungen der jeweiligen VocoderStimmen von »Autobahn« und »Trans Europa Express« vorweggenommen werden. In Form der letzten beiden Quartsprünge dieser Schichtung wird gleichfalls das aus »Ruckzuck« bekannte Quartmotiv aufgegriffen. Bei »Spule 4« und »Wellenlänge«, welche durch das Stück »Harmonika« unterbrochen werden, handelt es sich um zwei thematisch verbundene experimentelle Kompositionen, deren Fokus auf der Bearbeitung von Gitarrenklängen liegt – sei es durch Effekte wie Delay, Verzerrung und unterschiedliche Abspielgeschwin-

312 Vgl. Boards of Canada: »Into the Rainbow Vein« auf The Campfire Headphase, 2005, und »Smokes

Quantity« sowie »1986 Summer Fire« auf Twoism, 1995.

115

3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

digkeiten oder durch verschiedene Spielweisen wie beispielsweise starke Tremoli, Saitenbendings oder das langsame Entlangführen eines Plektrums an den Saiten. Ebenfalls ist hier die bereits von anderen Produktionen Planks – sei es nun beispielsweise von Kraftwerk, der Vorgängerband Organisation oder von Kluster – bekannte Ausnutzung des gesamten Stereopanoramas zu hören. Da die beiden Stücke aber lediglich für das Ausloten der klanglichen Möglichkeiten der Gitarre stehen, welche im weiteren Verlauf der Entwicklung Kraftwerks fast keine Rolle mehr spielt, ist eine nähere Betrachtung überflüssig. Auch das Stück »Harmonika« ist aus musikalischer oder produktionstechnischer Perspektive substanziell eher dürftig. Es handelt sich hierbei um die ungefilterte, trockene Aufnahme von langsamen, mit einem Akkordeon gespielten Arpeggien, die abwechselnd in C-Dur und der grundtonlosen, mit kleiner Septime und großer None angereicherten Dominante G-Dur erfolgen; es werden also ausschließlich weiße Tasten gespielt. 3.5.2 Bedeutung und Wirkung Erscheint »Harmonika« aus musikalischen Gesichtspunkten recht uninteressant, ist im Hinblick auf die Entwicklung von Kraftwerk hier die symbolische Komponente von großer Bedeutung: Die Verwendung eines traditionellen Instrumentes der Volksmusik wie dem Akkordeon, noch dazu in der hier dargebotenen, banalisierten Spielweise, auf einem experimentellen Album im Bereich der Rockmusik dürfte weniger einer seriösen musikalischen Idee geschuldet sein als vielmehr der Dekontextualisierung und Karikierung der deutschen Schlagermusik, ein Topos, welcher sich auf den im Laufe ihrer in den 1970er Jahren entstandenen Alben noch häufiger finden lässt. So wie deutschtümelnde Stereotype zum einen durch bewusst banal gewählte Titelnamen wie beispielsweise im Falle des ersten Stückes »Klingklang« persifliert werden, sind auch die musikalischen Primärfaktoren bewusst an den deutschen Schlager angelehnt. Die Wahl des Tongeschlechts Dur sowie die einfach strukturierten diatonischen Melodien und Begleitmuster wie im Falle von »Klingklang« dienten allerdings nicht vordergründig einer zum Selbstzweck geratenen musikalischen Ironisierung, sie boten vielmehr die Möglichkeit, sich von vielen in der Rock- und Popmusik gängigen Charakteristika abzugrenzen. Zum einen bezog sich dies mittels Substitution des Schlagzeugs durch einen Drumcomputer auf die Instrumentierung. Zum anderen entkoppelte man sich wie beispielsweise bei »Spule 4« und »Wellenlänge« von dem in der Rockmusik üblichen Einsatz der E-Gitarre. So sind auf Kraftwerk 2 konventionelle, mit Verzerrung versehene, auf der Bluestonleiter beruhende Riffs und Soli vergeblich zu finden. Zwar verfügte Kraftwerk  – mit Ausnahme der kurzen

116

3.5  Kraftwerk 2

Bandzugehörigkeit Michael Rothers  – nie über einen Gitarristen,313 auf dem Debütalbum diente allerdings das Tubon noch als vollwertiger E-Gitarrenersatz. Dies betraf nicht nur das Klangspektrum, welches durch die Verfremdung von Verzerrer und Wah-Wah sowie die Abstrahlung durch einen Gitarrenverstärker dem konventionellen Rock-Gitarrensound sehr ähnlich war, es bezog sich bei den im Anschluss an die Veröffentlichung gegebenen Konzerten314 durch die Spielweise respektive die Art der Präsentation durch Ralf Hütter auch auf den performativen Bereich: Infolge seiner Form und der Möglichkeit, sich das Instrument mit einem Gurt über die Schulter zu hängen, gilt es als Vorläufer der sogenannten Remote-Keyboards oder auch Keytars, die dem Instrumentalisten gestatten, typische Posen und Gesten eines Gitarristen nachzuahmen, die gerade in der Rockmusik einen großen Teil der visuellen Körperlichkeit und Authentizität ausmachen. Kraftwerk also entsprachen insofern zu Beginn ihrer Laufbahn sowohl musikalisch als auch optisch durchaus dem gängigen Bild einer Rockgruppe. Erst auf Kraftwerk 2 und den darauffolgenden Konzerten begann eine ideologische Emanzipation von diesem Leitbild – sowohl hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung als auch des öffentlichen Erscheinungsbildes. Die Gruppe schlug damit einen neuen Weg ein, welcher ihr zunächst innerhalb des Krautrock, später dann auch in der Popmusik insgesamt eine einzigartige Stellung einbrachte. Zwar galt Krautrock zur Anfangszeit als ein terminologisches Sammelbecken unterschiedlichster Stilrichtungen, deren musikalische Gemeinsamkeiten sich ab dem Jahre 1971 immer mehr verästelten und zerfaserten. Generell ließ sich in Westdeutschland aber durch die sukzessive instrumentale Professionalisierung und der Etablierung einer Rock- und Popmusikindustrie hinsichtlich der Vermarktung sowie der ton- und aufnahmetechnischen Rahmenbedingungen eine Entwicklung verzeichnen, die den Abstand zu den angloamerikanischen Vorbildern schwinden ließ und damit die Möglichkeit einer authentisch klingenden Adaption bot, zu der sich immer mehr Gruppen verleiten ließen. Damit ging allerdings auch eine klangliche Konformisierung einher, deren Kriterien mehr oder weniger durch das angloamerikanische Normativ determiniert wurden. Amon Düül II beispielsweise veröffentlichten wie in Kapitel 2.3.1 beschrieben im März 1971 mit Tanz der Lemminge ein Album, das mit den chaotischen Anfangstagen und dem musikalischen Dilettantismus des Krautrocks nichts mehr gemein hatte. Zwar reflektieren komplexe formale und harmonische Strukturen die neu

313 314

Zwar ist auf dem im Jahre 1974 veröffentlichten Album Autobahn noch der Gitarrist Klaus Röder kreditiert. Sein Anteil an der Aufnahme fiel aber nur marginal aus. Vgl. Kap. 4.1. WDR Rockpalast: Kraftwerk live | Rockpalast | 1970, https://www.youtube.com/watch?v=A9R6b qcBPfc (abgerufen am: 08.02.2021).

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

gewonnenen oder erlernten musikalischen Möglichkeiten der Gruppe, allerdings entfielen aber auch jene Facetten, die den Reiz und die Originalität der Musik bis dato ausmachten, so dass das Album nur eine von vielen Veröffentlichungen war, die auf den aktuellen Trend in Form des sich zu dieser Zeit etablierenden Progressive Rock aufzuspringen versuchten. Kraftwerk hingegen wandten sich im Gegensatz zu vielen Gruppen einer diametral anders gearteten Simplifizierung zu, in der man sich statt auf eine Fülle von verschiedenen Teilen und Harmonien auf ein rudimentäres, ostinates Pattern beschränkte, welches sukzessiv melodisch verdichtet wurde. Zwar wirkt Kraftwerk 2 durch seine konträre Mischung aus sperrigen Klangexperimenten und zugleich banalisierten Melodien und Harmonien eher inhomogen (infolgedessen es wohl auch hinsichtlich seiner Verkaufszahlen nicht an das Debütalbum anknüpfen konnte und in der Musikgeschichte weitgehend unbeachtet geblieben ist),315 es spielt allerdings in der Historie der Band insofern eine Rolle, als dass hier bereits erste Anklänge bezüglich des Wandels vom experimentellen Krautrock hin zur elektronischen Popmusik zu verzeichnen sind – mit diesem Album also eine Entwicklung in Gang gesetzt wurde, deren erster Klimax in Form von Autobahn im Jahre 1974 Kraftwerk nachhaltig in der internationalen Rock- und Popmusik verankerte.

3.6 Exkurs: Stagnation und Bombast – der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

3.6.1 Stilistische Entwicklungen in der Rock- und Popmusik in der ersten Hälfte der 1970er Jahre Nicht nur Kraftwerk befanden sich gegen Ende des Jahres 1972 in einer musikalischen Übergangsphase – die Pop- und Rockmusik unterlag generell zu diesem Zeitpunkt einem Wandel, bei dem unterschiedlichste Stile um die Vorherrschaft in den Charts kämpften. Ein Blick darauf lohnt sich, erklärt er doch die musikhistorischen Rahmenbedingungen, die den sich mit dem 1974 veröffentlichten Album Autobahn einstellenden Erfolg Kraftwerks ermöglicht haben. Obgleich angesichts der diffusen Gemengelage koexistierender Stile nicht von einem kohärenten, repräsentativen Sound dieser Zeit gesprochen werden kann, zeichneten sich in den Musikmarkt nach wie vor dominierenden Ländern Groß-

315

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Während sich Kraftwerk 20 Wochen in den Top 50 der deutschen Langspielplatten-Charts halten konnte (höchste Platzierung: Platz 30), verblieb Kraftwerk 2 nur 8 Wochen in den Top 50 (höchste Platzierung: Platz 36). Ehnert 1980, S. 34.

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

britannien und den USA doch gewisse Trends ab: So fanden sich im Jahre 1973 beispielsweise in den US-Charts zum einen zahlreiche Phillysound-Produktionen wieder, die vereinzelt Spitzenplatzierungen einnehmen konnten.316 Dabei handelte es sich um eine in den Philly Sigma Sound Studios in Philadelphia durch das Produzententeam Kenny Gamble und Leon Huff ab dem Jahre 1968 ins Leben gerufene Soul-Variante, die die durch den Niedergang des Motown-Sounds entstandene Lücke ausfüllte und als Vorläufer des im Jahre 1974 entstandenen DiscoSounds gilt. Wie schon bei Motown griff man dabei auf einen festen Pool an Studiomusikern zurück, allerdings spielten die für Motown charakteristischen, eben durch jene Musiker entstandenen Bläserriffs und treibenden, Backbeat-lastigen Drumpattern keine Rolle mehr. Vielmehr gerieten nun aufwendige Bläser- und Streicher-Arrangements zur musikalischen Maxime, die den oft balladesken Produktionen eine an der Schwelle zum Easy-Listening befindliche einfache Konsumierbarkeit, aber auch weitgehende Beliebigkeit verliehen. Dies kontrastierend fanden sich aber auch immer wieder – wenn auch nicht in den Single-, so aber doch in den Album-Charts – einige Rockformationen auf Platz 1 der US-Billboard-Charts wieder. Auch hier fand eine Wachablösung statt, die sich vornehmlich aus englischen Exporten zusammensetzte: Während der Psychedelic Rock in den USA durch den Tod des Gitarristen Jimi Hendrix 1970 sowie durch den Tod des Frontsängers Jim Morrison der Band The Doors 1971 wichtige Vertreter verlor, konnten sich mit Led Zeppelin und Pink Floyd zwei englische Gruppen sowohl in den USA als auch in Großbritannien mehrfach an die Spitze der Charts setzen. Während Led Zeppelin als Vorreiter einer psychedelisch geprägten Variante des Hardrock galten, vollzogen Pink Floyd die Wandlung vom Psychedelic Rock zum Progressive Rock,317 der durch Formationen wie King Crimson, Emerson, Lake &  Palmer, Genesis und Yes vor allem in Großbritannien bis in die zweite Hälfte der 1970er Jahre hinein seine künstlerische und kommerzielle Hochphase haben sollte. Der von der Musikindustrie aus marketingtechnischen Gründen geprägte Begriff des Progressive Rock fasste dabei viele Subgenres zusammen, denen als gemeinsamer Konsens zur Abgrenzung zum rockmusikalischen Mainstream lediglich ein Merkmal des Ungewöhnlichen innewohnte. Es lässt sich dennoch konstatieren, dass die oben aufgeführten Gruppen, so sie denn bereits in den 1960er Jahren existierten, ihre Wurzeln vornehm316

317

Während etwa der Song »Me and Mrs. Jones« von Billy Paul sich von Ende 1972 bis Anfang Januar 1973 drei Wochen auf Platz 1 der US-Billboard-Charts halten konnte, fand sich die Gruppe The O’Jays mit dem Stück »Love Train« Ende des Monats März auf Platz 1 wieder. Billboard Hot 100, https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Billboard_Hot_100_number-one_sing les_of_1973 (abgerufen am: 19.11.2016). Auch Prog Rock.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

lich im Psychedelic Rock hatten, ein Genre also, dessen klangliche und formale Charakteristika per se schon deutlich raffinierter gestaltet waren, als das bei eher konservativen, im Mainstream angesiedelten Rockgruppen wie etwa den Rolling Stones der Fall war. Die Verfeinerung dieser musikalischen Parameter ist dann auch das, was man in der heutigen Wahrnehmung als das zentrale Kriterium des Progressive Rock erachtet. Während dies in klanglicher Hinsicht die Implementierung von Elektronik und / oder des Orchesterapparates betraf, wurden bezüglich formaler Strukturen oftmals Gestaltungsprinzipien der ernsten respektive klassischen Musik entlehnt. Dadurch, dass die Adaption von Melodien und / oder Harmoniefolgen der klassischen Musik ebenfalls zu einem häufigen Stilmittel geriet – dann unter dem Subgenre des Art Rocks oder Classic Rocks zusammengefasst  –, die musikalischen Primärkomponenten also auf einer Musik des vergangenen Jahrhunderts basierten, wurde die Bedeutung des »Progressivseins« allerdings bald ad absurdum geführt. Ferner führte der zunehmende Bombast der Live-Konzerte hinsichtlich ausufernder Besetzungen etwa – auf die Spitze getrieben durch Kooperationen mit Orchestern –, bei dem es häufig nur noch um die schiere Zurschaustellung des technischen Leistungsvermögens der Musiker um ihrer selbst willen ging, dazu, dass die eigentliche Musik sukzessiv an Inhalt verlor, was das Genre ab Mitte der 1970er Jahre schließlich implodieren ließ.318 Als Reaktion auf diese Entwicklung entstand bereits zu Beginn der 1970er Jahre ebenfalls in Großbritannien der Glamour Rock.319 Dieses Genre basierte auf dem Rock ’n’ Roll der 1950er Jahre, wobei die Kompositionen im Gegensatz zum Progressive Rock kurz gefasst waren und sich an den gängigen Song-Strukturen im Sinne des Wechsels von Strophe und Refrain orientierten. Inhaltlich bot die Musik wenig Innovatives oder Interessantes, vielmehr lag der Fokus auf der Präsentation und Außenwirkung der Gruppen, die durch ausgefallene Kostümierungen und spektakuläre Shows versuchten, die fehlende Originalität der Musik zu kompensieren.320 Es verwundert daher nicht, dass auch diesem Genre keine lange Lebensdauer vergönnt war. Spätestens mit der musikalischen Revolution durch den Punkrock als Gegenbewegung ab dem Jahre 1976 spielten sowohl der Progressiv- als auch der Glam Rock keine nennenswerte Rolle mehr. Betrachtet man also zusammenfassend die erste Hälfte der 1970er Jahre, herrschte auf dem Feld der Rock- und Popmusik offensichtlich eine gewisse Orientierungslosigkeit: Musikalische Konzepte reproduzierten und überlebten sich. Versucht man in dieser Zeitspanne nach Innovationen zu suchen, wird man daher 318 319 320

120

Vgl. Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 46 f. und 560 f. Auch Glam Rock oder Glitter Rock. Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 46 f. und 288.

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

vornehmlich auch nur auf der Ebene der Studiotechnik fündig wie beispielsweise durch die fortschreitende Entwicklung der Mehrspurtechnologie. Arbeiteten die Beatles bei den Aufnahmen zu Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band noch mit einer 4-Spur-Bandmaschine, verfügte Mike Oldfield bei seinem im Jahre 1973 aufgenommenen Album Tubular Bells bereits über eine 16-Spur-Bandmaschine. Dieser Umstand war eine Grundvoraussetzung für das Album, da Oldfield alle Spuren selbst einspielte und sie sukzessiv im Overdubbing-Verfahren zusammensetzte. Dies verdient besondere Erwähnung, als dass Oldfield dabei als exemplarisch für einen neuen Typus Musiker stand, der auf der Grundlage dieser studiotechnischen Entwicklung nun als Komponist, Instrumentalist und Produzent in Personalunion im Alleingang Soloalben aufnehmen konnte, ohne in ein Bandgefüge eingebunden zu sein oder externe Hilfe von Studiomusikern in Anspruch nehmen zu müssen. Besonders auf dem Feld der sich in den 1970er Jahren konstituierenden elektronischen Popularmusik war dieser Musikertypus häufig anzutreffen. Als Fundament dieser Gattung fungierten dabei vornehmlich Synthesizer, die in diesem Jahrzehnt zunächst größtenteils nur monophon spielbar waren. Die Mehrspurtechnologie ermöglichte es den Musikern also nicht nur, unabhängig von einer Gruppenzugehörigkeit Musik zu produzieren, sie brachte die klangliche Vielfalt der Synthesizer erst richtig zur Geltung, da durch das OverdubbingVerfahren und entsprechende Verfügbarkeit von 16 Spuren und mehr nun vielschichtige, artifizielle Klanglandschaften möglich waren, ohne dass durch das wiederholte Kopieren und Zusammenmischen einzelner Spuren die Audioqualität durch die zwangsweise entstehende Multiplikation von Rauschen in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Daraus folgte in dieser Stilrichtung bald eine omnipräsente Fokussierung auf diese noch neue Klangquelle, die mitunter eigentümliche Blüten trieb: Kreditierten herkömmliche Musikgruppen in den Fußnoten ihrer Alben neben ihren Mitgliedern gewöhnlich auch die Gastmusiker, gipfelte die Fetischisierung des Synthesizers in der elektronischen Popularmusik schließlich darin, dass führende Vertreter dieser Stilrichtung wie Klaus Schulze oder Jean-Michel Jarre auf ihren Alben nun ihren Maschinenpark auflisteten  – nicht ohne den Hintergedanken, ihrer technikaffinen Hörerschaft damit suggerieren zu können, dass die Masse und die Qualität des verwendeten Instrumentariums gleichzeitig mit der Qualität der Musik korreliere.321 Es wird damit aber auch schon ein Aspekt tangiert, der neben der Mehrspurtechnologie ebenfalls in den 1970er Jahren als signifikantes klangliches Novum gilt: So führte der Synthesizer bald nicht mehr nur ein spartenbezogenes Randdasein, sondern galt bald

321

Stump 1997, S. 59 f.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

allgemein als nahezu unverzichtbarer Baustein im Instrumentarium einer jeden Band. Bedenkt man, dass Kraftwerk mit dem Album Ralf und Florian im Jahre 1973 ebenfalls in diese Klangwelt eintraten und damit die Basis für jene Transformation ihrer Musik respektive ihres Sounds legten, die schließlich zum internationalen Erfolg der Gruppe führte und bis heute als ihr klangliches Synonym gilt, ist an dieser Stelle eine Vertiefung der in Kapitel 2.2.2 aufgeführten Untersuchung zur Geschichte des spannungsgesteuerten Synthesizers unabdingbar. Dies betrifft sowohl die Entwicklung des Geräts an sich vom teuren, individuell gefertigten Nischenobjekt, das nur wenigen finanzkräftigen und technisch versierten Experten zugänglich war, zum Massenprodukt hin als auch seinen klanglichen Einfluss auf das Musikgeschehen in Rock- und Popbereich gegen Ende der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre allgemein. 3.6.2 Der Synthesizer im popmusikalischen Mainstream – ­Nischendasein als klangliches Additiv 3.6.2.1 Paul Beaver und Bernhard Krause – die Studioszene ab Ende der 1960er Jahre an der Westküste der USA Wie erwähnt, führte der Erfolg des ersten, ausschließlich mit dem Moog-Synthesizer realisierten Albums Switched-On Bach im Jahre 1968 zu einem regelrechten Synthesizer-Boom, infolgedessen neben vielen Plattenfirmen auch renommierte Bands Interesse an dem Instrument zeigten. Allerdings war der Synthesizer schon vor der Veröffentlichung von Switched-On Bach ein wenn auch nur am Rande vorkommender Bestandteil der US-amerikanischen Studiolandschaft. Dies war unter anderem auch der Werbetätigkeit der Filmkomponisten und Klangeffekt-Spezialisten Paul Beaver und Bernhard »Bernie« Krause geschuldet, die im Zuge der Veröffentlichung des Albums Cosmic Sounds – einer Vertonung der Sternzeichen durch Kompositionen von Mort Garson mittels Orchester, Rhythmusgruppe, gesprochenen Texten sowie den durch Paul Beaver gespielten Moog-Synthesizer – ab dem Jahre 1967 das Instrument in den großen Tonstudios an der US-amerikanischen Westküste vorstellten, um Aufträge als Studiomusiker im Bereich der Rock- und Popmusik zu akquirieren.322 Eine erste Zusammenarbeit des Duos fand im gleichen Jahr mit der Psychedelic-Band The Byrds bei den Aufnahmen zu ihrem Album The Notorious Byrd Brothers statt.323 Allerdings erfolgte der Einsatz des Synthesizers nur in wenigen Stücken des Albums, und 322 323

122

Krause 1998, S. 45 ff. Paul Beaver hatte bereits im Jahre 1967 Moog-Klänge auf dem Stück »Star Collector« der US-amerikanischen Band The Monkees beigesteuert.

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

dann auch nur als klanglich kaum wahrzunehmendes Additiv, welches in der Regel aus stehenden Tönen bestand, deren Klangspektrum durch einen langsam modulierten Tiefpassfilter verändert wurde. Schon auf Cosmic Sounds wurde der Synthesizer nur in einer ähnlich limitierten Form genutzt. Auch hier war er, falls überhaupt, nur als klangliche Untermalung zu vernehmen, die sich primär aus monophonen streicher- oder theremin- respektive sinuswellenartigen Klängen zusammensetzte. Selten wurden Hooklines mit dem Instrument realisiert, vielmehr wurde es primär zur Erzeugung von tief im Raum platzierten, ätherischen Effekten genutzt. Auch auf dem in Eigenregie von Beaver und Krause komponierten und produzierten Album In a Wild Sanctuary 1970 findet man nur selten Klänge, die über die auf gefilterten Sägezahnwellenformen basierenden Emulation von Bläsern hinausgehen. Lediglich atmosphärische Klangmalereien – wie auch bei Tangerine Dream, Popol Vuh und White Noise zu vernehmen –, welche durch den »Sample and Hold«-Generator erzeugt werden, deren Tonhöhe sich in hoher Geschwindigkeit ändert, sowie mittels des Rauschgenerators realisierte Wind- und Meeresbrandungsgeräusche deuten ein etwas komplexeres Klangspektrum an – von einer völlig neuen Klangwelt zu sprechen, wie sie etwa Isao Tomita mit dem Moog-Modularsystem auf seinen ab dem Jahre 1974 erschienen Klassik-Adaptionen kreierte, war dieses Album aber weit entfernt.324 Generell kommt der Synthesizer über den Status eines akzidentiellen Melodieadditivs und / oder Klangeffektgenerators auf Popproduktionen gegen Ende der 1960er Jahre kaum hinaus. Selbst auf dem 1969 veröffentlichten Album Abbey Road der Beatles, die durch die Zusammenarbeit mit George Martin nach wie vor für sich reklamieren konnten, am Puls produktionstechnischer Innovation zu sein, folgte der Einsatz des Synthesizers genau jenem beschriebenen Muster. Dieses auf weiteren, dem Mainstream zugeschriebenen Alben der damaligen Zeit zu dokumentieren, ginge weit über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Dennoch sollen hier zwei Produktionen mit Beteiligung von Beaver und Krause als Beispiele aufgeführt werden, da sie zum einen den Dissens in der Kommunikation zwischen Techniker und Musiker hinsichtlich der Vermittlung respektive der Beschreibung von Klängen verdeutlichen, als zum anderen auch die Frage nach der kompositorischen Relevanz des Klangdesigns tangieren – zwei Aspekte, die für die elektronische populäre Musik generell als auch im Hinblick auf die Thematik dieser Arbeit speziell für Kraftwerk hinsichtlich des Albums Autobahn noch von Bedeutung sind.

324

Vgl. Kap. 4.1.4.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

In der Hoffnung, mittels des Synthesizers das Klangspektrum der Rock- und Popmusik entscheidend zu bereichern und gleichzeitig damit kommerziell verwerten zu können, engagierte Jac Holzman, der Präsident der Plattenfirma Elektra, Beaver und Krause für die Produktion des zweiten, Strange Days genannten Albums der Gruppe The Doors gegen Ende des Jahres 1967.325 Daraus resultierend, dass die technischen Anforderungen zur Bedienung eines Moog-Synthesizers die Fähigkeiten und das Verständnis sowohl der Musiker als auch des Produzenten Bruce Botnick weit überstiegen, gestaltete sich die Zusammenarbeit so, dass Beaver und Krause ihr System während der Aufnahme-Sessions vorführten. Sie erstellten dabei unentwegt neue Patches, so dass die anwesenden Musiker diesen Prozess nur kurz unterbrechen mussten, wenn ein Klang ihnen für die Aufnahmen brauchbar erschien. Als problematisch stellte sich dabei heraus, dass die Klänge in Ermangelung von Speicherbarkeit weder genau zu reproduzieren waren, noch ein Vokabular vorhanden war, um sie zu kategorisieren, so dass ein Zurückspringen zu vorherigen Klangschaltungen fast unmöglich war. Der Synthesizer wurde auf dem Album dann auch nur auf zwei Stücken eingesetzt. Offensichtlich mangelte es den Musikern an jeglichem Interesse, sich mit dem Instrument weiter auseinanderzusetzen, so dass es auf den Folgealben keine Rolle mehr spielte.326 Diese Erfahrung wurde Beaver und Krause häufiger zuteil: Weder zeigten sich die Musiker daran interessiert, tiefer in den elektroakustischen respektive klangtechnischen Kosmos vorzudringen, noch bestand die generelle Bereitschaft, die Möglichkeiten des Moog-Systems weiter auszuloten und in die Musik zu implementieren. Vielmehr bestand die Erwartungshaltung der auftraggebenden Gruppen darin, bereits bekannte und damit kommerziell erfolgreiche Synthesizer-Klänge für sich nutzen zu können, weshalb Beaver und Krause bald nur noch mit einer kleinen Ausführung des Moog-Synthesizers in den Studios arbeiteten.327 Dieser Umstand verdeutlicht, dass in dieser Frühphase elektronischer Klänge in der Rock- und Popmusik der Synthesizer zwar klanglich etabliert erschien, so dass Moog allein in Los Angeles 20–30 Modularsysteme an Tonstudios verkaufen konnte,328 sein klanglicher Einsatz aber auf eine absehbare Anzahl an standardisierten Klängen reduziert wurde, so dass die klanglichen Möglichkeiten eines offenen, frei verschaltbaren Modularsystems durch seine Nutzung als mehr oder weniger Preset-Synthesizer ad absurdum geführt wurden. Dementsprechend bestand das auf den Alben der damaligen Zeit Erfahrbare neben den

325 326 327 328

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Manzarek 1999, S. 239 f. Pinch / Trocco 2002, S. 119 ff. Ebd., S. 126 f. Ebd., S. 123.

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

bereits angeführten sinuswellenartigen Klängen generell aus unmodulierten, statischen, meist auf den rohen Grundwellenformen der Oszillatoren beruhenden Klängen. Nach wie vor galt der Synthesizer gegen Ende der 1960er respektive zu Anfang der 1970er Jahre mehr als modisches Kuriosum, dessen Bedienung in den Händen weniger technikaffiner Spezialisten lag – welche folgerichtig gleich mitgeordert wurden –, als dass sich die Kaufklientel bereit zeigte, das Instrument in seiner klanglichen Eigenständigkeit zu begreifen und seinen Klangkosmos zu erforschen, geschweige denn sich mit den elektrotechnischen Prozessen hinsichtlich seiner Handhabung auseinanderzusetzen. Ein extremes Beispiel, welches das Selbstverständnis der Musikerklientel be­­ züglich der Wertigkeit künstlerischer Eigenständigkeit von Klangdesign in dieser Zeit versinnbildlicht, dürfte sicherlich das im Jahre 1969 veröffentlichte Album Electronic Sound des Beatles-Lead-Gitarristen George Harrison sein. Es handelt sich dabei in großen Teilen um einen heimlichen Mitschnitt einer Studiosession von Harrison und eines von ihm protegierten Musikers namens Jackie Lomax, bei der Bernie Krause Synthesizer-Klänge hinzufügen sollte. Nach Abschluss der Aufnahme-Sessions bat Harrison Krause, ihm den Synthesizer vorzuführen. Krause erstellte Patches, die er für das nächste Album von Beaver und Krause einsetzen wollte, und spielte ihm einige musikalische Versatzstücke vor, die Harrison allesamt von seinem Toningenieur aufzeichnen ließ, ohne dies Krause wissen zu lassen und veröffentlichte diese unter seinem Namen, wobei er Krause lediglich als Assistent kreditierte.329 Neben Harrisons eigentümlichem Verhältnis zur Urheberschaft an sich330 verdeutlich dies zum einen den Status des Synthesizers als zum anderen auch den generellen Habitus der Musikindustrie der damaligen Zeit gegenüber der künstlerischen Leistung der ausführenden Techniker. So urteilten Trevor Pinch und Frank Trocco: »For George Harrison, like so many rock musicians at that time, the Moog was a curiosity, a ›technical thing‹ capable of ›infant sounds‹ but little else. (…) But without an instruction manual and without Krause to teach him how to play it, it became over time just another rich rock star’s playthink«.331

329 330

331

Ebd, S. 123 ff. So bestand Harrisons im Jahre 1970 veröffentlichter Nummer-Eins-Hit »My Sweet Lord« in weiten Teilen aus dem im Jahre im Jahre 1963 ebenfalls auf Platz 1 der US-Charts stehenden Stückes »He’s So Fine« der Gruppe »The Chiffons«, die von Harrison allerdings nicht kreditiert wurden, was zu einem langjährigen Plagiatsprozess führte, der schließlich mit einem Vergleich endete. Zit. n. Pinch / Trocco 2002, S. 126.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Das Erstellen von Klängen fasste man dabei lediglich als Teilbereich der Arbeit der Toningenieure auf, die in keinem Falle im Bereich einer kompositorisch relevanten Kreditierung lag.332 3.6.2.2 Keith Emerson – Instrumentalist und Klanggestalter in Personalunion Dass es aber in der Zeit gegen Ende der 1960er beziehungsweise Anfang der 1970er Jahre – wenn auch nur vereinzelt – Musiker gab, die bereit waren, sich mit dem Synthesizer auseinanderzusetzen, stellte etwa der Keyboarder Keith Emerson der Progressive-Rock-Gruppe Emerson, Lake & Palmer unter Beweis. Er fungierte damit als eine Art Zwitterwesen, das zum einen als Mitglied einer populären und kommerziell erfolgreichen Gruppe sowohl als ein Vertreter der rock- und popmusikalischen Nomenklatur galt – und insofern jenen Gruppen zuzuordnen war, denen der Synthesizer eher als modisches Spielzeug galt, aus dessen von Tontechnikern vorgefertigten Klängen man sich mit Selbstverständlichkeit bediente –, als zum anderen auch selbst als kreativer Kopf die Arbeit des Klangdesigns im Studio übernahm. Allerdings muss auch hier konstatiert werden, dass die auf den Alben von Emerson, Lake & Palmer zu hörenden Klänge des Moog-Synthesizers kaum über den Horizont ebenjener standardisierten Klänge hinausgehen, die in der Rock- und Popmusik populär waren: So etwa besteht der Solosound ihrer Singleauskopplung »Lucky Man« vom 1970 veröffentlichten Debütalbum Emerson, Lake &  Palmer aus drei übereinandergelegten und leicht gegeneinander verstimmten Sinuswellenoszillatoren, die weder besonders moduliert noch gefiltert werden. Auch auf dem Nachfolgealbum Tarkus im Jahre 1971 sind die mit dem Moog-System realisierten Klänge wenig originell. Sie dienen generell nur als akzidentielles Additiv des von Gitarre, Bass, Hammond-Orgel und Schlagzeug dominierten Sounds der Band. Lediglich auf dem ebenfalls 1971 veröffentlichten Live-Album Pictures at an Exhibition, einer Adaption von Mussorgskys Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung, kommen einige Module des Moog-Modularsystems wie beispielsweise der Sample and Hold-Generator zum Einsatz, die Klänge hervorrufen, wel-

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Bis heute bewegt man sich hinsichtlich des urheberrechtlichen Schutzes von Klängen respektive Samples in einem Graubereich. Auch auf die Gefahr hin, dieser Thematik vorzugreifen, muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass sich auch in der Historie Kraftwerks immer wieder ähnlich geartete Belege finden, bei denen Klänge auf fragwürdige Weise urheberrechtlich vereinnahmt wurden, ohne die eigentlichen Urheber zu erwähnen. Dies bezieht sich nicht nur auf die bereits mehrfach diskutierte Zusammenarbeit mit Conny Plank – es wird im Laufe dieser Arbeit noch von einer Reihe Beispielen die Rede sein, in denen sogar ganze kompositorische Versatzstücke unkreditiert geblieben sind.

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

che im Synthesizer-Kosmos der damaligen Zeit eher selten anzutreffen sind.333 Dass die Textur der Sounds generell eher einfach gehalten ist, ist aber vor allem der Art der Aufführungspraxis Emersons geschuldet, der den Synthesizer als Soloinstrument live auf der Bühne einsetzte und dadurch permanent mit allen Unwägbarkeiten hinsichtlich technischer Probleme wie beispielsweise der mangelnden Stimmstabilität der ersten Generation von Moog-Oszillatoren rechnen musste. Emersons Klangfundament basierte daher auf einer einstelligen Anzahl einfach handhabbarer und leicht umzuregistrierender Klänge, deren Ausgangsmaterial meistens aus gemischten Sägezahnwellenformen bestand. Dies lag darin begründet, dass diese Wellenform – dadurch, dass sie über alle Obertöne verfügt – im Gesamtklang am durchsetzungsfähigsten ist und sich daher für den Einsatz als Solo-Sound am besten eignet. In ihrem Klangspektrum ähneln diese am ehesten Blasinstrumenten. Diese Klänge wurden dann live etwa durch das Ändern der Eckfrequenz des primär eingesetzten Tiefpassfilters von Hand, durch einen Niederfrequenzoszillator und / oder einer Hüllkurve moduliert. Diese Modulationsquellen verwendete Emerson auch für die Tonhöhe der Oszillatoren. Da es sich bei Emerson, Lake & Palmer vor allem um eine spieltechnisch versierte, am Jazzrock orientierte Musik handelte, wurde der Synthesizer folglich mehr als orgel­ ähnliches Instrument denn als Effektgenerator eingesetzt und seine klangliche Funktion der Live-Konzerte einfach auf die Studioalben übertragen. In Anbetracht der Tatsache, dass Keith Emerson generell als einer der ersten Musiker den Synthesizer einsetzte, hat er allerdings den Nimbus, diese Klänge, so einfach sie auch erscheinen mögen, als erster erstellt zu haben, so dass man bezüglich jenes Sägezahnwellen-basierten Synthesizersounds – oft aus zwei um eine Quinte auseinander liegenden Oszillatoren bestehend und / oder mit dem von Emerson oft benutzten Portamento-Effekt versehen – bereits seit Anfang der 1970er Jahre von den ersten sogenannten »Signature Sounds« sprechen kann, die sich bei Synthesizer-Spielern schnell großer Beliebtheit erfreuten. Dass die klangliche Qualität bereits damals kritisch beurteilt wurde, verdeutlicht ein Zitat des Musikwissenschaftlers Wolfgang Sandner, der angesichts der Popularisierung dieser Klänge von »eine[r] Art Vulgär-Elektronik in der Nachfolge Keith Emersons« spricht.334 Emerson ist vielleicht das populärste Beispiel dafür, dass sich die Musikindus­ trie der damaligen Zeit nur eines kleinen Teils der Möglichkeiten des MoogModular-Synthesizers bediente. Dieser Tatsache Rechnung tragend, entwickelte 333

334

In der Regel wurde das Sample & Hold-Modul dafür benutzt, durch das Abgreifen (Sampling) der Spannung der Oszillatoren oder dem Rauschgenerator eine periodisch erfolgende, aus zufälligen Werten bestehende Steuerspannung zu generieren, die dann zur Modulation von beispielsweise der Tonhöhe und / oder der Filtereckfrequenz verwendet wurde. Sandner 1977, S. 91.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Bob Moog im Jahre 1970 dann mit dem Minimoog den ersten Kompakt-Synthesizer  – ein Gerät, dessen einzelne Baugruppen im Vergleich zum Modularsystem zum einen in Anzahl und Auswahl reduziert und zum anderen bereits vorverdrahtet waren. Externe Patchkabel waren für das Erstellen von Klängen nun nicht mehr nötig, vielmehr ermöglichte eine Reihe von Kippschaltern eine schnelle Umregistrierung, die das Gerät genauso wie seine kompakten Abmessungen für den Live-Betrieb prädestinierte. Der Minimoog brachte dem Synthesizer in der Musikwelt letztendlich den Durchbruch. Er gilt mit über 13.000 im Zeitraum der Jahre 1970–81 hergestellten Einheiten335 als erster massenhaft gefertigter Synthesizer, dessen Erfolg den Grundstein eines neuen Industriezweiges legte. Konkurrierten auf diesem Markt ab Anfang der 1970er Jahre mit der in London ansässigen Firma EMS sowie der US-amerikanischen Firma ARP noch ausschließlich angloamerikanische Vertreter mit Moog, deren Wurzeln ebenfalls auf dem Pioniergeist einzelner Akteure basierten, traten ab der ersten Hälfte der 1970er Jahre mit Roland, Yamaha und Korg aber bald hochprofessionalisierte japanische Firmen in Erscheinung, die die Protagonisten der Gründerjahre, so sie sich denn nicht durch Missmanagement selbst ins wirtschaftliche Abseits manövriert hatten, weitgehend vom Markt drängten und bis heute die SynthesizerIndustrie dominieren. 3.6.3 Der Synthesizer in der experimentellen Popularmusik – musikalisches Diktat durch neue Technologien? 3.6.3.1  White Noise – Vorgriff auf Sampling Wurde der Synthesizer im popmusikalischen Mainstream also eher als exotisches Additiv zur nach wie vor instrumental diktierenden, aus Schlagzeug, Gitarre und Bass bestehenden Rhythmusgruppe eingesetzt, gab es dennoch auf dem Sektor der experimentellen Rock- und Popmusik einige Formationen, die dem Synthesizer eine weit dominantere Position einräumten und sich mit den Klangmöglichkeiten wesentlich tiefgreifender auseinandersetzten. Obgleich einige dieser Gruppen mittlerweile weitgehend in Vergessenheit geraten sind, verdienen sie doch insofern eine Erwähnung, als dass sie entweder bereits gegen Ende der 1960er respektive zu Anfang der 1970er Jahre Klänge vorwegnahmen, deren Urheberschaft beispielsweise erst in der Musik Kraftwerks ab dem Erfolg mit »Autobahn« verortet wird, und / oder mit dem Sequenzer ein elektronisches Steuermedium einsetzten, welches maschinelle Präzision und Kontrolle in den Kos-

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128

Becker 1990, S. 19.

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

mos des Rock und Pop verpflanzte, gleichfalls ein Umstand, der oftmals Kraftwerk’scher Genuinität zugeschrieben wird. Ein eindrucksvolles Beispiel in dieser Hinsicht ist das im Jahre 1969 veröffentlichte Album An Electric Storm der von David Vorhaus, Brian Hodgson und Delia Derbyshire gegründeten englischen Gruppe White Noise. Hodgson und Derbyshire arbeiteten ab 1962 zusammen für den »BBC Radiophonic Workshop«, einer Abteilung der BBC zur Erzeugung von Klangeffekten für das Radio. Derbyshire erlangte 1963 für ihre elektronische Realisierung der Titelmelodie der ScienceFiction-Serie »Doctor Who« Bekanntheit, deren Klangfragmente ausschließlich mit Sinusgeneratoren erzeugt, auf Tonband aufgenommen und anschließend per Hand zusammengeschnitten wurden. Im Jahre 1966 gründeten Derbyshire und Hodgson mit dem Techniker Peter Zinovieff das Projekt Unit Delta Plus, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, elektronische Jingles für die Werbung zu komponieren.336 Auch wenn das Projekt bereits ein Jahr später wieder beendet wurde, verdient es doch der Erwähnung, da Zinovieff in diesem Zeitraum die Firma Electronic Music Studio (EMS) gründete und 1969 den Synthesizer VCS 3 entwickelte, den Derbyshire und Hodgson als eine der ersten Musiker einsetzen konnten. Das was diesbezüglich auf An Electric Storm zu hören ist, unterscheidet sich dann auch recht deutlich von den mit dem Moog erzeugten Klängen auf zeitgleich entstandenen Popproduktionen. Dies ist unter anderem dem technischen Aufbau des EMS geschuldet, der – obgleich ebenso wie der Moog modular aufgebaut – durch die Verbindung der einzelnen Module mittels eines Kreuzschienensteckfeldes sowie durch das Vorhandensein eines Ringmodulators und eines Joysticks zur manuellen Modulation einzelner Klangparameter bereits durch sehr wenige Handgriffe sehr komplexe Klangspektren hervorbrachte. Ferner ist sowohl die Abklingzeit der Hüllkurve spannungssteuerbar als auch die Hüllkurve an sich mit einer Wiederholungsfunktion ausgestattet, so dass sie als komplexer LFO benutzbar ist. Allerdings muss man auch der Tatsache Rechnung tragen, dass mit Hodgson und Derbyshire zwei ausgewiesene Klangeffektexperten mit dem EMS arbeiteten. So werden viele Klänge in ihrem Spektrum und / oder ihrer Tonhöhe kontinuierlich moduliert, wodurch sie oft wesentlich lebendiger und farbenfroher wirken als die eher an eine elektronische Orgel erinnernden MoogPendants. Allerdings ist auch dieses Album ein klangliches Abbild seiner Zeit: Zum einen bedient es hinsichtlich der kadenzartigen und / oder modalen, mit Medianten angereicherten Harmonik, der diatonischen, mit einem hohen Erin-

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Pinch / Trocco 2002, S. 282.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

nerungswert versehenen Melodik sowie seines häufig aus wechselnder Abfolge von Strophe und Refrain respektive Instrumentalteil bestehenden Aufbaus eindeutig popmusikalische Kriterien, die in ähnlicher Form beispielsweise auch von den Beatles verwendet worden sind. Zum anderen erinnern die mehrstimmigen Gesänge, die Verwendung eines Spinetts, die eher spröde Abmischung des Schlagzeugs sowie die Einbindung von Echo und starken Phasings klanglich an viele andere damals veröffentlichte Alben. Auch muss man konstatieren, dass trotz allen Klangreichtums einige, wenn auch wenige der Synthesizersounds den in Kapitel 3.6.2.1 beschriebenen, eher einfach gehaltenen Moog-Klängen von Bands wie The Doors oder The Byrds ähneln. So etwa wird in dem Stück »Firebird« eine Melodielinie mit einem stark verhallten und mit Echo versehenen Sinus-Sound realisiert, der von Derbyshire schon als zentrales Element in der Titelmusik der TV-Serie »Doctor Who« verwendet wurde. Derbyshires Fähigkeiten337 hinsichtlich der Bearbeitung und Montage von Klängen mittels Bandmaschinen ist es aber auch zu verdanken, dass dem Album eine neue Klangästhetik zuteilwird, die in größerem Stil erst durch aus dem technischen Fortschritt des elektronischen Instrumentenbaus in den 1970er respektive 1980er Jahren hervorgegangenen Produktionsverfahren wie dem Sequencing oder Sampling entstanden ist. So werden durch unterschiedliche Abspielgeschwindigkeiten akustische Instrumente einer spektralen Transformation unterzogen: Bei dem Stück »Love without Sound« fungiert etwa ein Cello durch langsameres Abspielen als Bass. Diese Technik wird gleichfalls auf einige Vokalpartien übertragen, wodurch das Ergebnis an jene mit einem Fairlight-Sampler erzeugten Pitchshifting-Klänge erinnert, die dem schweizerischen Elektronik-Duo Yello in den 1980er Jahren zur internationaler Popularität verhalfen.338 Einige dieser Gesangs- und Sprachsegmente auf An Electric Storm erinnern dabei sowohl an die bereits in Kapitel 3.3.2 diskutierte Implementierung von Kluster respektive Throbbing Gristle, vor allem aber bilden sie durch ihre fragmentarische Gestalt eine Brücke zum Vocal-Sampling des Old School Hiphops der 1980er Jahre, bei dem die Einbindung von kurzen, gesampelten Phrasen oder einzelnen 337

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Auch wenn nicht dezidiert angegeben ist, welche Klänge nun von Derbyshire oder Hodgson realisiert worden sind, oder ob es sich dabei um eine kollektive Leistung handelte, äußerte sich Hodgson in einer Radiosendung der BBC über Delia Derbyshire dahingehend, dass sie in der Klanggestaltung durch die Tonbandtechnologie eine Ausnahmegestalt gewesen sei, was zumindest die Vermutung nahelegt, dass viele der auf An Electric Storm zu hörenden Klänge auf sie zurückgehen dürften. BBC Radio 4: Delia Derbyshire – Sculptress of Sound, 2010, https://www.you tube.com/watch?v=W0OGeEgwKNs (abgerufen am: 08.02.2021). So zu hören auf der 1987 veröffentlichten Single »Oh Yeah«. Man muss an dieser Stelle erwähnen, dass der Produzent von Yello, Boris Blank, in den Jahren 1979–82 vor dem Erwerb des Fairlight viele Klänge ebenso wie Derbyshire mittels Manipulation von Bandmaschinen erzeugte. Siehe auch Kap. 4.8.3.

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

Wörtern zum stilbildenden Element wurde. Bei White Noise wird diese analoge Frühform des Samplings aber noch mit einer weiteren Produktionstechnik kombiniert, die zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls weitgehend unbekannt war: das Sequencing. Im Stück »Here Come the Fleas« werden beispielsweise sowohl akustische Percussionsounds mit kurzen Synthesizer-Klängen zu kurzen Bandschleifen montiert, die in dieser Form in die Popularmusik ebenfalls erst durch die Entwicklung der Sampling-Technologie gegen Ende der 1970er Jahre Einzug gehalten hat. Auf »The Visitation« wurden reine Synthesizer-Klänge zu Bandschleifen zusammengefügt, die vorher abermals durch unterschiedliche Abspielgeschwindigkeiten spektral verändert worden sind. Das Ergebnis erinnert in vielerlei Hinsicht der Klangästhetik vieler Produktionen des Trip-Hop-Genres der 1990er Jahre: Bestand der Einsatz eines Sequenzers in vielen Popproduktionen der 1980er Jahre größtenteils darin, ein rhythmisches Begleitmuster zu realisieren, das lediglich aus einem in verschiedenen Tonhöhen wiedergegebenen Synthesizersound gebildet war, setzten sich die Sequenzen nun aus Tönen mit völlig unterschiedlichen Klangspektren zusammen, wobei jedes einzelne Element mit diversen Effekten und / oder artifiziellen Räumen versehen werden konnte. Eine Sequenz konnte beispielsweise aus der Kombination von akustischen und / oder elektronischen Klängen aller Art bestehen, ohne dass sie nun mehr noch einer speziellen Instrumentengruppe zuzuordnen war. Auch auf An Electric Storm sind die einzelnen Sounds in einer kontinuierlichen Überblendung unterworfen: Echoreflexionen von Perkussionsklängen gehen nahtlos in Bassklänge über; Effekte wie Phasing oder Filterung werden häufig durch das komplette Stereopanorama gefahren. Ferner lassen sich bei dem Stück »Black Mass (Electric Storm in Hell)« jene aus gefiltertem weißen Rauschen bestehenden, Ambient-ähnlichen Klangmalereien vernehmen, die in abgewandelter Form auch bei Tangerine Dream, Popol Vuh sowie auf den Solo-Veröffentlichungen von Beaver und Krause zu hören sind. Bei genauerem Hinhören werden allerdings unsaubere Schnitte deutlich, die mit der Präzision der heutigen Computertechnologie natürlich nicht mithalten können, dennoch ist das klangliche Ergebnis dieser extrem aufwendigen Art der Klangmontage auch für die heutige Zeit noch bemerkenswert  – umso mehr, als sie eben nicht durch elektronischer Hilfsmittel wie dem Sampler oder dem Sequenzer realisiert worden sind.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

3.6.3.2 Tangerine Dream und Mother Mallard – Sequencing als kompositionsstiftendes Element Dass der Sequenzer zu Anfang der 1970er Jahre aber auch in der experimentellen populären Musik zur maschinellen Steuerung von Tönen eingesetzt wurde, ist in dieser Arbeit bereits anhand der deutschen Gruppen Popol Vuh und Tangerine Dream diskutiert worden. Popol Vuh nutzten den Sequenzer auf Affenstunde im Jahre 1970 zur Erzeugung von schnellen Tonfolgen, die tonal frei waren und der Komposition keinerlei makrorhythmische Struktur überstülpten. Sie fungierten als pulsierendes, additives, rhythmisches Element, das die getragenen, schwebenden Klänge der Komposition konterkarierten und durch ihre maschinelle Präzision, die zum damaligen Zeitpunkt ein absolutes Novum darstellte, eine kalte, futuristische Klangkomponente implementierten. Tangerine Dream hingegen fingen mit dem Kauf des Moog-Modularsystems respektive des dazu georderten Sequencer Complement B im Jahre 1973 an, ihre improvisatorisch entstehenden Stücke auf der Grundlage von Sequenzen aufzubauen. Um dies genauer verstehen zu können, bedarf es einer kurzen Abhandlung zur Historie und Funktionsweise dieses Gerätes: Da der Sequenzer ursprünglich als zusätzliche Möglichkeit der Spannungs- und Triggersteuerung des Modular-Synthesizers konzipiert wurde und so als dessen Bestandteil zu verstehen ist, sind die ersten Modelle folgerichtig auch von Donald Buchla und Robert Moog entwickelt worden. Obgleich Donald Buchla bezüglich der Entwicklung des Sequenzers wie beim Synthesizer Robert Moog zeitlich erneut voraus war,339 ist dessen Einsatz lediglich auf dem von Morton Subotnick im Jahre 1967 veröffentlichten, avantgardistischen Album Silver Apples of the Moon nennenswert in Erscheinung getreten. Als erfolgreicher erwies sich der 960 Sequential Controller von Moog. Hierbei handelte es sich um ein Modul, welches eine in ihrer Geschwindigkeit frei wählbare, durch einen internen Oszillator getaktete Abfolge von bis zu 24 Schritten (im Folgenden »Step« genannt) generieren konnte, welche wiederum pro Step in Abhängigkeit zur gewählten Sequenzlänge bis zu drei Steuerspannungen erzeugen konnte. Obgleich diese auf alle Parameter des Modular-Synthesizers einwirken konnten, kristallisierte sich in der praktischen Anwendung des Sequenzers vor allem die Steuerung der Tonhöhe heraus, eine Anwendung, die in der populären Musik mittlerweile zum musikalischen Standard geworden ist, so dass man 339

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Laut André Ruschkowski konstruierte Buchla den mit drei Sequenzern versehenen Prototyp seines Modular-Synthesizers in den Jahren 1962 und 1963, welcher schließlich 1964 kommerziell vertrieben wurde. Ruschkowski 1998, S. 122 f. Trevor Pinch und Frank Trocco hingegen behaupten, dass Buchlas Prototyp erst 1965 fertiggestellt gewesen wäre, während Moogs Prototyp bereits 1964 vorgestellt worden sei. Allerdings sei die Entwicklung des Moog-Sequenzers erst später erfolgt. Pinch / Trocco 2002, S. 41 f.

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

unter Sequencing heutzutage primär repetierende, kurze Tonfolgen versteht. So basierten dann auch die ersten mit diesem Modul realisierten Einspielungen auf genau dieser Art des Einsatzes, wobei Tangerine Dream sicherlich als erste Gruppe gilt, die den Sequenzer in der beschriebenen Art als zentrales Kompositionswerkzeug eingesetzt hat und damit gleichzeitig internationalen Erfolg verbuchen konnte. Allerdings wurde dies nicht kritiklos aufgenommen.340 Wie bereits in Kapitel 2.2.2 beschrieben, polarisierte das Aufkommen des Synthesizers per se gegen Anfang der 1970er Jahre die Musikwelt. Während eine technikaffine Fraktion das Instrument zu einer alle erdenklichen Klänge generierenden Wundermaschine hochstilisierte,341 sahen viele eher konservativ denkende Musiker und Rezipienten im Synthesizer ein Werkzeug zur Entmenschlichung von Musik.342 Benötigte man für den Synthesizer in der Regel noch ein manuelles Eingabemedium, das eine instrumentale Vorbildung voraussetzte,343 wurde das Musizieren mittels eines Sequenzers nun völlig von der konventionellen instrumentalen Praxis und damit von der Zeitachse entkoppelt. Das Einstellen oder Programmieren des Sequenzers konnte sowohl im Vorfeld als auch während einer bereits laufenden Sequenz vorgenommen werden, ohne dass dies Auswirkungen auf die periodische Genauigkeit des Moduls hatte – gerade im Live-Betrieb stellte allenfalls die mangelnde Stimmstabilität der Oszillatoren oder die infolge der fehlenden Rasterung der Drehpotentiometer zur Spannungssteuerung des MoogSequenzers schwer einzustellende Diatonik einzelner Schritte den Anwender vor gewisse Schwierigkeiten; die rhythmische Perfektion, die in erster Linie dem Rezipienten als Anhaltspunkt spieltechnisch bedingter, musikalischer Ungenauigkeiten oder gar als Fehler hätte auffallen können, blieb davon unangetastet. Die instrumentale Fähigkeit eines Synthesizer- beziehungsweise Sequenzer-Spielers definierte sich also nicht durch die konventionelle, an die Zeitachse gebundene Erzeugung von Tönen, sondern vielmehr durch die Geschicklichkeit hinsichtlich der Feinjustierung eines Potentiometers. Tangerine Dream selbst machte auf ihrem für sequenzerbasierte elektronische Musik wegweisenden Album Phaedra im Jahre 1974 aus der Not eine Tugend. So justierte Christopher Franke, die aus der Stimmung geratenen Oszillatoren einer laufenden Sequenz während der Studioaufnahme zum gleichnamigen Titelstück sukzessiv nach. Das Ergeb340 341 342 343

Wagner 2013, S. 92 f. Vgl. Sounds: POPOL VUH, Selbstbildnis einer deutschen Gruppe, 1971, http://www.popolvuh.nl/d/ archsounds1971 (abgerufen am: 07.02.2021). Vgl. Enders 1983, S. 265 ff. Bewusst ist von Moog dafür eine Klaviatur gewählt worden, um eben jenen Vorbehalten der Entmenschlichung von Musik entgegenzuwirken. In dem es sich optisch in die Tradition des Tasteninstrumentenbaus einreihte, wurde dem vornehmlich technischen Erscheinungsbild des Synthesizers durch die Tastatur eine musikinstrumentale Konnotation verliehen. Pinch / Trocco 2002, S. 58 ff.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

nis  – ein kontinuierlich in der Tonhöhe nach oben glissandierender Verlauf  – wurde genau in dieser Form auf Matrize gebannt;344 die Unzulänglichkeit des Instrumentes bestimmte die Komposition. Für eben jene der Musikelektronik ablehnend gegenüberstehenden Gruppe galt genau dieses repräsentative Zusammenspiel von technischer Determinierung bis hin zum reinen Zufall und der nicht mehr erforderlichen Notwendigkeit instrumentaler Fähigkeiten als Ausdruck seelenloser Maschinisierung von Musik.345 Der bis heute im Raum stehende Vorwurf, dass Musikelektronik als regressiv strukturierender und determinierender Faktor das Koordinatenkreuz konventionellen menschlichen und kreativen Musizierens zugunsten eines inhaltsleeren musikalischen Abbildes von Technizität verschoben hat, muss bei aller Polemik der geführten Diskussion hier dennoch untersucht werden, da gerade Kraftwerk im Laufe der 1970er Jahre infolge der zunehmenden Fokussierung auf elektronische Klangerzeugung und -steuerung sich diesbezüglich immer rechtfertigen mussten.346 Es stellt sich durchaus die Frage, inwiefern etwa die Qualität der Musik Tangerine Dreams mehr den zum damaligen Zeitpunkt nahezu konkurrenzlosen technologischen Möglichkeiten geschuldet war als der kompositorischen Kreativität sowie des spieltechnischen Vermögens der einzelnen Musiker. Um dies genauer beleuchten zu können, bietet es sich an, zunächst einen Blick auf das Œuvre einer weitgehend unbekannten amerikanischen Formation namens Mother Mallard’s Portable Masterpiece Company (im Folgenden Mother Mallard genannt) zu vergleichen, da diese ebenfalls sehr früh über mehrere Moog-Modularsysteme verfügte und ihre in den Jahren 1970–73 entstandene Musik in mancher Hinsicht Parallelen zu Tangerine Dream aufweist, wobei sich unweigerlich die Frage aufdrängt, ob es eine gegenseitige Rezeption und eine damit einhergehende Beeinflussung gab. Obgleich Mother Mallard ihre ersten Aufnahmen bereits im Jahre 1970 machten, wurden diese erst 1973 auf dem gleichnamigen Album Mother Mallard’s Portable Masterpiece Co. veröffentlicht,347 im selben Jahr folglich, in dem die Aufnahmen Tangerine Dreams zum Album Phaedra stattfanden. Da Mother Mallard nur über einen sehr geringen Bekanntheitsgrad verfügte und 1970–73 bis dato nur vereinzelte Konzerte in den USA gaben, ist es wenig wahrscheinlich, dass die Mitglieder von Tangerine Dream diesen beigewohnt hätten. Darüber 344 345 346 347

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Zit. n. Edgar Froese im Interview mit Mark Prendergast, 1994, in: Kent Eskildsen: 30 Years Of Dreaming, http://www.voices-in-the-net.de/phaedra.htm (abgerufen am: 07.02.2021). Vgl. Simmeth 2016, S. 276 f. Vgl. Der Spiegel: Blubber von der Datenbank, 1981, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14338286. html (abgerufen am: 06.02.2021). Im Jahre 1999 wurde das Album unter dem Titel 1970–1973 wiederveröffentlicht. Dieses Album erhielt ferner bis dato unveröffentlichtes Material der Jahre 1970 und 1972, das in der musikalischen Analyse in diesem Kapitel mit berücksichtig worden ist.

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

hinaus erklärte Peter Baumann, dass während seiner Mitgliedschaft bei Tangerine Dream 1971–77 nie die Rede von Mother Mallard war, er persönlich die Gruppe zur damaligen Zeit auch gar nicht kannte.348 Auch der umgekehrte Fall, dass Mother Mallard zumindest hinsichtlich der getragenen, sequenzerlosen Teile ihrer Musik von Tangerine Dream beeinflusst sein könnten, ist wenig wahrscheinlich, da ihre 1970 – also noch vor der ersten Veröffentlichung des ersten klangflächenlastigen Albums Tangerine Dreams, Alpha Centauri, im Jahre 1971 – eingespielten Kompositionen »Train« und »Easter« bereits alle Ähnlichkeiten zwischen beiden Gruppen aufweisen. Man kann also davon ausgehen, dass die offenkundige musikalische Übereinstimmung beider Gruppen nicht aus einer einoder gegenseitigen Rezeption entsprungen ist, sondern zum einen zufälligen, zum anderen aber auch technischen Ursprungs ist, wie sich zeigen wird: Da in diesem Kapitel vor allem der Einfluss des Synthesizers und des Sequenzers auf die Musik untersucht werden soll, beschränkt sich der Vergleich hinsichtlich des Œuvres von Tangerine Dream auf das besagte Album Phaedra, da beide Produktionsmittel erst hier in omnipräsenter Weise eingesetzt worden sind. Bei beiden Gruppen basieren die bis zu knapp 18 Minuten langen Stücke zu­­ nächst auf orgeltonähnlichen, getragenen Klangflächen, die ein- und ausgefadet werden. Die dafür verwendeten Wellenformen werden dabei kontinuierlich mittels der Hoch- und Tiefpassfilter des Moog-Systems gefiltert, was der Musik eine permanent schwebende Atmosphäre verleiht. Dies ist zunächst der Tatsache geschuldet, dass Synthesizer bis Mitte der 1970er Jahre nur monophon spielbar waren, Akkorde also allenfalls durch die Schichtung von unterschiedlich gestimmten Oszillatoren realisiert werden konnten, was die Spielbarkeit verschiedener Tongeschlechter mittels einer Tastatur unmöglich machte. Während polyphone Schichtungen bei Mother Mallard nur sporadisch durch das Zusammenspiel mehrerer Instrumentalisten erzielt wurden, erfolgte es bei Tangerine Dream durch den Einsatz eines mehrstimmig spielbaren Mellotrons respektive eines Echos, dessen mit geringer Geschwindigkeit versehenen Reflexionen eine kanonähnliche Polyphonie suggerierten. Bei späteren Aufnahmen halfen sich Tangerine Dream349 damit, die Sequenzen ausschließlich aus Grundtönen und Quinten zusammenzusetzen, die über die Tastatur in ihrer Tonhöhe gesteuert wurden. Die daraus resultierende offene Stimmung der Sequenz ermöglichte es, mit anderen Instrumenten beide Tongeschlechter spielen zu können. Darüber hinaus, und hier begegnet man einem Umstand, den man von klanglich-strukturell verwandter Musik wie beispielsweise von Popol Vuh her kannte, erschienen die Klänge 348 Peter Baumann in einer E-Mail an den Verfasser am 28.02.2017. 349 Vgl. Tangerine Dream: Ricochet, 1975.

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des Gerätes schon in ihrer einfachsten Form als aufregend genug, als dass Primärfaktoren wie Melodik und Harmonik vernachlässigt werden konnten. Der Synthesizer war zum damaligen Zeitpunkt aber nur der signifikanteste Baustein eines Paradigmenwandels, der durch die generelle Durchsetzung von Studiotechnologie innerhalb der Musik hervorgerufen wurde. So konstatierte der Musikwissenschaftler Wolfgang Sandner im Jahre 1977: »Die Rangordnung heißt Technik, Interpretation, Komposition. Nicht was gemacht wird, auch nicht wie es gemacht wird, sondern womit es gemacht wird, bestimmt die Qualität einer Musik, deren Progressivität nicht in der Erneuerung musikalischer Dimensionen, sondern in der Umwertung einzelner Parameter besteht.«350

Mit einfachen Mitteln – gesetzt den Fall, man verfügte über die nötigen finanziellen Mittel, um sich einen Synthesizer kaufen zu können – konnte also ein Ergebnis erzielt werden, das aufgrund eines musikalisch-technischen Alleinstellungsmerkmals zum damaligen Zeitpunkt weitgehend konkurrenzlos war. Ein Aspekt der gleichfalls von Tangerine Dream-Initiator Edgar Froese unumwunden bestätigt worden ist: »1974 existierte auf dem Tonträgermarkt nichts Vergleichbares. Dadurch hatten wir es leichter, auf diese neuen Klänge und rhythmischen Strukturen aufmerksam zu machen.«351 Jene rhythmische Strukturen ähneln sich hinsichtlich ihrer Textur ebenfalls bei beiden Gruppen: Bei Mother Mallard werden auf der Basis dieser Klangflächen sukzessiv tonal angepasste, in der Regel 8-schrittige Sequenzen hinzugefügt, die die Tonhöhe der Oszillatoren steuern und der Musik ein rhythmusstiftendes Element verleihen. Der Orgeltoncharakter bleibt dabei erhalten  – weder erfolgen Rückungen auf andere Töne, noch sind durch das additive Keyboardspiel der Musiker signifikante Melodien zu vernehmen, die über willkürlich wirkendes Phrasieren des auf den jeweiligen Grundtonarten basierenden Tonmaterials hinausgeht, was die Musik insgesamt in Ermangelung jeglicher Spannungsbögen ereignislos und beliebig erscheinen lässt. Man kommt nicht umhin, dass es sich bei aller Neuartigkeit der Musik Mother Mallards substanziell hinsichtlich des gesamten Spektrums an musikalischen Parametern doch um ein wenig innovatives Erzeugnis handelt. Man könnte zur Verteidigung einbringen, dass die Musik in ihrer Gleichförmigkeit auf eine andere Art der Rezeption abzielt, ähnlich wie es im Bereich der sich in den 1970er Jahren

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Sandner 1977, S. 83. Zit. n. Edgar Froese in einem Interview mit Matthias Wagner: Mein erstes und letztes Interview mit Edgar Froese, in: Rückseite der Reeperbahn, 25.01.2014, https://rueckseitereeperbahn.blogspot.de/ 2015/01/mein-erstes-und-letztes-interview-mit.html (abgerufen am: 06.02.2021).

3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

konstituierenden Genres New Age oder Ambient der Fall ist, bei der das kontemplative Erfahren im Vordergrund steht, bei dem beispielsweise eine überbordende, schnell wechselnde Harmonik oder etwa Popsong-orientierte Elemente generell als eher störend empfunden werden. Der Initiator Mother Mallards, David Bordon, fühlte sich selbst primär von Terry Rileys Komposition »In C« beeinflusst, so dass er nach eigener Aussage sowohl komplexe rhythmische Strukturen als auch seinen Jazz-Hintergrund in seine Arbeit mit der Gruppe einbringen wollte.352 Jene Komplexität ist in der Musik Mother Mallards allerdings nicht zu erkennen: Zumindest auf dem Debütalbum der Gruppe stehen alle verwendeten Sequenzen im 4/4-Takt, obwohl komplexe Metren durch die Möglichkeit des Überspringens einzelner Steps mittels der Skip-Schalter des Moog-Sequenzers äußerst leicht zu realisieren gewesen wären. Der Verdacht liegt nahe, dass Mother Mallard der Verführung erlegen sind, mittels des Sequenzers auf einfachstem Wege jene aus der Minimal Music – in dessen Tradition sich Bordon ja durchaus sah  – bekannten repetitiven Elemente zu simulieren, ohne dabei zu bedenken, dass damit auch die ursprünglich kunstvolle Atmosphäre der menschlichen Simulation der Maschinenhaftigkeit verschwand, da der Faktor des Humanen in seinen ganzen Ungenauigkeiten nun durch den Sequenzer, einer realen Maschine also, eliminiert wurde. Die von Mother Mallard erstellten Sequenzen sind dann auch nicht mehr als ein eher oberflächliches Abbild von Technizität, welches aber zum damaligen Zeitpunkt offensichtlich auf offene Ohren traf: So betonte Klaus Schulze, der nach seinem Ausstieg bei Tangerine Dream und dem Kauf des Moog-Systems von Florian Fricke im Jahre 1975 eine ähnliche Art von Musik wie eben Tangerine Dream oder Mother Mallard machte, die Wichtigkeit der durch den Sequenzer hervorgerufenen Mantraartigkeit: »Der Sequenzer wurde zum Hauptinstrument der elektronischen Musik. Das war das, was die Leute fasziniert hat. Ohne Rhythmen war die Musik zu abstrakt. Als dann diese monotonen Sequenzerlinien kamen, die sich immer wiederholten und dabei ein bisschen variierten, haben wir ein größeres Publikum erreicht. Das machte unsere Musik verständlicher.«353

Obgleich diese Aussage auch als Rechtfertigung dafür gedeutet werden kann, durch den verführerischen Einsatz von Technik auf eine simple Art und Weise zu einem neuartigen musikalischen Ergebnis zu gelangen, gab es dennoch Qualitätsunterschiede hinsichtlich der Handhabung dieser neuen Gerätschaften. So muss 352 353

Borden, David: Robert Moog and David Borden, http://mothermallard.com/Robert_Moog_%26_ David_Borden.html (abgerufen am: 06.02.2021). Zit. n. Klaus Schulze in: Wagner 2013, S. 91.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

man im direkten Vergleich zu Mother Mallard konstatieren, dass sich der Einsatz des Moog sowohl hinsichtlich der Klangfarben als auch des Sequencing bei Tangerine Dream auf einer durchgängig kunstvolleren Ebene bewegt. Auch wenn etwa das Stück »Movements of a Visionary« ebenfalls auf einer durchgängig laufenden Sequenz beruht, wirkt diese durch die Bearbeitung mittels eines synkopierten Echos und der permanenten Veränderung der Filtereckfrequenz sowie den Zeiten der Filter- und der Verstärkerhüllkurve wesentlich lebendiger. Außerdem werden sukzessiv weitere Sequenzen hinzugefügt, die teilweise zum einen jene von György Ligeti bekannten Verwischungseffekte simulieren, als auch zum anderen durch die Veränderung der Abspielgeschwindigkeit die Sequenz von einer konkret wahrnehmbaren Tonfolge zu einem reinen Klanggemisch interpolieren lassen. Das Experimentieren mit hohen Abspielgeschwindigkeiten des Sequenzers ist dann auch ein zentrales kompositorisches Element des Titelstückes »Phaedra«. Es entstehen hier neue Klangspektren, die in dieser Art und Weise bis dato noch auf keinem Album, auf dem der Moog-Synthesizer eingesetzt wurde, zu hören waren. Der Sequenzer fungiert nicht mehr nur als reine Steuereinheit zur Erzeugung von konkreten, statischen Tonfolgen, sondern vermag zwischen dieser Funktion und der Einsatzmöglichkeit als Klangerzeuger von FM-Synthese zu interpolieren. So ist dann auch der Klangfarbenreichtum generell bei Tangerine Dream auf einem durchweg höheren Niveau angesiedelt als bei Mother Mallard: Während bei Letzteren sich die verwendeten Klänge aural fast immer auf die Grundwellenformen der Oszillatoren zurückführen und auf wenig komplexe Schaltungen deuten lassen, entlocken Tangerine Dream dem Moog-Synthesizer durch Frequenzmodulation im Audiobereich Klänge, die man von der subtraktiven Synthese zur damaligen Zeit noch nicht zu hören bekommen hatte. Die in Kapitel 3.6.2.1 beschriebene, statisch anmutende Charakteristik der im Pop-Mainstream – aber auch wie hier im Falle von Mother Mallard – erstellten Klänge des Moog-Synthesizers weicht hier einer Mischung aus sowohl mit dem Moog als auch mit dem EMS VCS 3 erzeugten permanent modulierenden, zum Teil metallischen Klangspektren, deren Modulverschaltung sich nur noch sehr schwer erahnen lässt. Die klangliche Diskrepanz zwischen beiden Gruppen wurde zusätzlich noch dadurch verschärft, dass es Tangerine Dream wesentlich kunstvoller verstand, das aufgenommene Rohmaterial mit Effekten wie Phasing, Echo und Hall nachzubearbeiten und der Musik eine vielschichtige räumliche Tiefe zu verleihen. Ferner werden im Mix die unterschiedlichen Sequenzen und live eingespielten Synthesizer-Spuren nicht abrupt addiert oder subtrahiert, sondern permanent ein- und ausgefadet und durch das gesamte Stereopanorama gefahren, wodurch sich weiche Klangübergänge und -verschmelzungen einstellen.

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3.6  Exkurs: Der Beginn der 1970er Jahre in der populären Musik

Natürlich bleibt bei aller tontechnischen Raffinesse die Musik auf Phaedra maschinenbasiert, sie wäre wie bei Mother Mallard ohne den Synthesizer und vor allem den Sequenzer in dieser Form nicht möglich gewesen. So sehr der Sequenzer das Klangspektrum damals erweiterte, so sehr schränkte er durch seine technische Limitierung beispielsweise die Gestaltungsfreiheit im Bereich der Harmonik ein. Ferner erlaubte die maximale Sequenzlänge von bis zu 24 Schritten, wobei Pausen ebenfalls als Schritt mit einberechnet werden mussten, lediglich die Erstellung von kurzen rhythmischen Mustern. Die daraus folgende Patternhaftigkeit dominierte daher auch das musikalische Ergebnis, weshalb es hinsichtlich der musikalischen Primärkomponenten sowie des formalen Aufbaus zwischen Tangerine Dream und Mother Mallard große Ähnlichkeiten gibt. Im direkten Vergleich zeigt sich dann aber doch, dass der kunstvollere Umgang mit Technik und die daraus resultierenden klanglichen Unterschiede zu einem qualitativ völlig anderen Ergebnis führen. Es verwundert daher nicht, dass Tangerine Dream mit ihrer Musik als erste Synthesizer-Formation auch kommerziell erfolgreich waren, und bis heute als Pioniere der populären elektronischen Musik gelten, währenddessen Mother Mallard nur einem überschaubaren Kreis von Menschen bekannt sind und in der musikhistorischen Reflexion so gut wie nie stattfinden. 3.6.4 »Popcorn« – der Synthesizer erobert die Charts Es gab neben den in den letzten Kapiteln diskutierten Beispielen von früher Verwendung des Synthesizers in der populären Musik noch weitere mehr oder weniger geglückte Versuche gegen Ende der 1960er respektive Anfang der 1970er Jahre, die exotische Klangwelt des Synthesizers kommerziell zu verwerten. Zu einem Großteil erfolgte dies im Fahrwasser von Switched-On Bach, an dessen Erfolg eine Fülle von flüchtig und oberflächlich produzierten Synthesizer-Adaptionen auf teilweise recht billige und reißerische Art anzuknüpfen versuchte, wie schon der Wahl von Albumtiteln wie Switched On Santa, Switched-On Gershwin oder Switched-On Rock zu entnehmen war.354 Allerdings gab es schon vor Switched-On Bach Produktionen im Bereich der Popularmusik, auf denen ein Moog-Modularsystem zum Einsatz kam, wie etwa die ab dem Jahre 1966 veröffentlichten Alben von Gershon Kingsley und Jean-Jacques Perrey. Es handelte sich dabei um eine weitgehend instrumental gehaltene Musik, die angesichts ihrer eingängigen Melodien, den Harmonien sowie ihrer formalen Strukturen weitgehend popmusikalischen

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Pinch / Trocco 2002, S. 149 ff.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Kriterien entsprach. Das instrumentale Fundament bestand dabei aus einer konventionellen, aus Schlagzeug, Bass und Gitarre bestehenden Rhythmusgruppe, wobei Harmonien akzidentiell durch elektronische Orgeln erzeugt wurden. Der Moog-Synthesizer diente lediglich zur Realisation von Melodiestimmen sowie von Effekten, die weitgehend – wie bereits erwähnt – den zu der Zeit äußerst populären Klangklischees von Science-Fiction-Filmmusik entsprachen.355 Erwähnenswert sind diese Aufnahmen insofern, als dass ihr klangliches Gerüst gleichfalls auf eine Komposition Kingsleys namens »Popcorn« übergestülpt wurde, welche im Rahmen der Konzerte des von Kingsley im Jahre 1970 ins Leben gerufenen und von ihm selbst dirigierten First Moog Quartet präsentiert wurde. Obgleich sich das Repertoire dieser Formation größtenteils aus elektronischen Adaptionen von bekannten Popkompositionen zusammensetzte, geriet »Popcorn« schnell zu einem der Höhepunkte des Quartetts, so dass einer der vier Synthesizer-Spieler, Stan Free, schließlich 1972 eine neue Version mit der eigens dafür gegründeten Gruppe Hot Butter aufnahm, die sich im gleichen Jahr in mehreren europäischen Ländern auf dem 1. Platz der Charts einfinden sollte.356 Diese Neueinspielung unterschied sich nur in Nuancen von Gershons Original: So findet sich neben der Verwendung des für dieses Stück charakteristischen, perkussiven Sinuswellenklangs für die Melodie auch das an eine Marching-Band angelehnte akustische Schlagzeug-Pattern wieder. Lediglich die bei Kingsley noch mit einer Orgel eingespielten zweiten Stimmen und Begleitungssequenzen wurden bei Hot Butter durch den Moog erzeugt, was dem Stück eine elektronischere Note verleiht. Dennoch handelte es sich immer noch um ein aus elektronischer und akustischer Klangerzeugung bestehendes Hybrid, dessen Erfolg auch nur ein singuläres Ereignis war. Die darauffolgenden, nach ähnlichem Muster umgesetzten Coverversionen bekannter Popstücke konnten nicht an die Verkaufszahlen von »Popcorn« anknüpfen, so dass die Gruppe letztlich keinen neuen Trend in Synthesizer-Musik setzen konnte. Sie darf in der Aufzählung früher Synthesizer-Gruppen jedoch nicht fehlen, da der kommerzielle Erfolg von »Popcorn« gleichzeitig als Meilenstein in der Etablierung des Synthesizers auf dem Musikmarkt fungierte, der zum Ausdruck brachte, dass sich ab den 1970er Jahren für diese Art von Klängen offensichtlich eine breite Öffentlichkeit finden ließ. Dem Synthesizer schien der Weg als Instrument der Zukunft nun endgültig geebnet worden zu sein.

355 356

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Vgl. Kap. 3.3.2. Pinch / Trocco 2002, S. 196 ff.

3.7  Ralf und Florian

3.7 Ralf und Florian

3.7.1 Übergang zu Synthesizer-Musik und Maschinengesang So wie sich die Rock- und Popmusik in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in einer Phase des Umbruchs und der Suche befand, sahen sich auch Kraftwerk mit der Frage nach einer neuen musikalischen Ausrichtung konfrontiert. Kraftwerk 2 war ein Album von starker Inhomogenität, dessen aus atonalen Experimenten und popmusikalischer Eingängigkeit bestehenden Antipoden separat in Form von in sich geschlossener Kompositionen nebeneinander gestellt wurden, ohne dass der Versuch unternommen wurde, diese musikalisch zu verbinden – eine sehr raue und kantige Album-Konzeption, die angesichts der im Vergleich zum Vorgängeralbum stark rückläufigen Verkaufszahlen auch nur bedingt dem Geschmack einer breiteren Öffentlichkeit entsprach. Generell schien sich die Zeitspanne der musikalischen Emanzipation durch anarchistische Klangexperimente in der deutschen Rock- und Popmusik im Jahre 1973 dem Ende zuzuneigen. Im gleichen Maße, wie sich durch die zunehmende, alle Facetten des Musikgeschäfts betreffende Professionalisierung deutscher Gruppen der Rückstand auf den an­­ gloamerikanischen Qualitätsstandard verringerte, wurden auch alle Ecken und Kanten der ursprünglich zuweilen skurrilen Schrulligkeit des Krautrocks – mit Ausnahme der Gruppe Faust – geschliffen. Diesem Zeitgeist folgend, entschieden sich auch Kraftwerk, fortan ihr Augenmerk auf eingängigere, deutlich Pop-orientiertere Musik zu legen. Analog zur Neuausrichtung der strukturellkompositorischen Ebene gesellten sich drei technische Neuerungen bezüglich des Instrumentariums hinzu, die einen signifikanten Einfluss auf die klangliche Entwicklung Kraftwerks haben sollten. Neben der Implementierung des Vocoders sowie des Drumpads ist an dieser Stelle vor allem der Erwerb von Synthesizern zu nennen, ein Schritt, den Kraftwerk angesichts von Bands wie Mother Mallard, Tangerine Dream oder Popol Vuh verhältnismäßig spät vollzogen haben. Dass er zu diesem Zeitpunkt überhaupt erfolgte, führen die ehemaligen, sich wie so häufig kritisch gegenüber Ralf Hütter und Florian Schneider äußernden Kraftwerk-Mitglieder Wolfgang Flür und Eberhard Kranemann auf die Intention Conny Planks zurück. So habe Wolfgang Flür zufolge Plank dazu geraten, sich vollends von amerikanischen »Rock-Attitüden« zu befreien und stattdessen auf eine »speziell deutsche Musik« zu konzentrieren: eine populäre Musik, die Bestand habe und der Bildung und den künstlerischen Visionen Hütters und Schneiders entspräche.357 Einen Schlüssel dafür habe Plank in der Abkehr vom 357

Buckley 2013, S. 98.

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konventionellen Rockinstrumentarium gesehen – exemplarisch in der Substitution der Orgel durch den Synthesizer.358 Auch Eberhard Kranemann betonte, dass Plank derjenige gewesen sei, der Hütter empfohlen habe, sich auf einen von an­­ gloamerikanischen Traditionen unabhängigen Sound zu konzentrieren und sich dafür einen Synthesizer anzuschaffen.359 In der Tat fällt dann auch in die zwischen 1972 bis Anfang 1973 relativ aktionsarme Zeit Kraftwerks die Anschaffung analoger Synthesizer. Während Ralf Hütter einen Minimoog kaufte, erwarb Florian Schneider einen EMS Synthi A.360 Die damalige Ausstattung des KraftwerkStudios beschreibt Wolfgang Flür angesichts seines ersten Treffens mit Hütter und Schneider im Juli des Jahres 1973 wie folgt: »Ralf zeigte mir voller Stolz seinen Synthesizer. Ein ›Minimoog‹ war es […]. Dann spielte er noch eine Farfisa-Orgel,361 und in der Ecke hinter ihm stand seine alte ›Hammond B3‹ […]. Florians Hexenküche war schwerer zu durchschauen. Er besaß eine kleine Anzahl von merkwürdigen Effektmaschinen, ein kleines Mischpult, ein Bandecho mit dem berühmten magischen Auge und einen ganz neuen ›ARP‹-Synthesizer, der keine mechanischen Tasten im herkömmlichen Sinne hatte, sondern nur aufgedruckte Tastensymbole,362 die bei der Berührung Kontakt gaben.«363

Die erste dokumentierte Verwendung dieser Synthesizer erfolgte im Februar des Jahres 1973 während eines Konzertes im Rahmen eines zweitägigen Festivals deutscher Musik im Theatre de l’Ouest Parisien in Paris,364 bei dem Hütter und Schneider als Duo einige Stücke aus Kraftwerk 2 darboten. Daraufhin erweiterten sie kurzzeitig die Kraftwerk-Besetzung für eine Deutschland-Tournee im Sommer 1973 um die Künstler Emil Schult und Plato Kostic, welche Gitarre und 358 359

Ebd., S. 99. Eberhard Kranemann auf dem von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf initiierten Kraftwerk-Symposium »Kraftwerk, die Mythenmaschine« in Düsseldorf am 11.01.2013. 360 Auch hier bemühten sich Hütter und Schneider um externe Hilfe, da sich ihnen die Funktionsweise des Gerätes nicht erschloss. Fündig wurden sie dabei bei einem Techniker des 1968 von Bernd Mailloux gegründeten Lichtschau-Unternehmens »Leiser Society«, der ihnen die Funktionen des Gerätes nahebrachte. Esch 2014, S. 72 ff. 361 Angesichts des auf der Rückseite des Covers von Ralf und Florian enthaltenden Fotos handelt es sich dabei wohl um das Farfisa Piano. 362 Hier handelt es sich vielmehr um die EMS-Tastatur KS, die eben nicht den ARP-Synthesizer ansteuerte, sondern den EMS-Synthi A. Dies lässt sich ebenfalls dem Foto auf der Rückseite des Covers von Ralf und Florian entnehmen. Der ARP-Synthesizer in Form des Modells Odyssey MK I wurde nach Informationen von Dirk Matten erst nach Beendigung von Autobahn gekauft. Matten, Dirk: DIRK MATTEN & KRAFTWERK, http://www.elektropolis.de/ssb_vorgeschichte3.htm. Matten, Dirk: VON UNTEN NACH OBEN, http://www.elektropolis.de/ssb_vorgeschichte4.htm (beide abgerufen am: 06.02.2021). 363 Flür 1999, S. 54. 364 Kraftwerk: Theatre de l’Ouest Parisien in Paris, 1973, https://www.youtube.com/watch?v=NZfHX No0w1w (abgerufen am: 28.04.2017).

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3.7  Ralf und Florian

Violine (Schult) respektive Bass spielten (Kostic).365 Speziell die Zusammenarbeit mit Schult scheint nach Aussage von Tim Barr für die musikalische Entwicklung Kraftwerks von den Klangexperimenten der ersten beiden Alben zur Implementierung popmusikalischer Harmonien und Melodien auf dem im Jahre 1973 erschienenen Album »Ralf und Florian« verantwortlich zu sein (bei dem aber weder Schult noch Kostic als Musiker mitwirkten – Schult zeichnete sich ab Autobahn neben dem Artwork allerdings immer wieder durch seine Mitwirkung an den Texten Kraftwerks aus): »Schult’s impact on the group had an immediate effect on the album […]. Though he was untrained as a musician, he had an instinctive ear for melody. The simple but effective phrases he picked out during the improvised sessions and concerts which he was involved in were largely a result of his limited facility on the guitar and violin but they intrigued both Hütter and Schneider who began exploring ways of simplifying their own melodic ideas.«366

Wie sich im Einzelnen der in Ralf und Florian vollzogene konzeptionell-kompositorische Wandel Kraftwerks nun musikalisch widerspiegelt, soll im folgenden Kapitel in Form einer musikalischen Analyse beleuchtet werden. 3.7.2 Musikalische Analyse – neues Instrumentarium, neue Klänge Das Album Ralf und Florian wurde von Mai bis Juli 1973 im noch als »KraftwerkStudio« deklarierten, späteren Kling Klang Studio in Düsseldorf, in den Studios Cornet und Rhenus in Köln sowie im Münchner Studio 70 aufgenommen und abgemischt und im Oktober 1973 in Deutschland veröffentlicht. Für die Produktion und Komposition zeichneten Hütter und Schneider verantwortlich, während Conny Plank als Toningenieur tätig war.367 Die bis dato bekannten Klangexperimente hinter sich lassend, knüpfen die meisten Stücke zwar musikalisch und produktionstechnisch an »Klingklang« an, bilden aber infolge des Synthesizer-Einsatzes und einer ausformulierteren Melodik  – sei es nun durch Schults Einfluss oder nicht – die Brücke für das ab Autobahn bekannte und bis heute für Kraftwerk repräsentative Klangbild. Bereits das erste Stück »Elektrisches Roulette« basiert harmonisch ausschließlich auf Dur-Akkorden, welche den fröhlichen, leicht verspielten Klangcharakter von »Klingklang« aufnehmen. Nach einer aufgrund seiner komplexen Modula-

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Bussy 1995, S. 54 f. Barr 1998, S. 66. Vgl. Rückseite des Covers von Kraftwerk: Ralf und Florian, 1973.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

tion wahrscheinlich mit dem EMS Synthi A realisierten Einleitung erscheint ein melodisch weitgehend aus der auf- und abwärts gespielten Dreiklangsbrechung der zugrunde liegenden Akkorde A-Dur respektive Asus4, C-Dur und E-Dur bestehendes Thema, welches mit dem Minimoog368 umgesetzt ist. Additiv folgt eine in 16tel-Noten gespielte Begleitung durch das Farfisa Piano, die im Zwischenteil eine abwechselnde Bewegung zwischen H-Dur und der davon ausgehenden Subdominante E-Dur vollzieht  – ein ebenfalls durch »Klingklang« bekanntes kompositorisches Element, das auch auf dem Album Autobahn369 wieder zu hören sein wird. Nach einer Temposteigerung – einhergehend mit einem Snaredrumpattern – erfolgt ein mit dem Minimoog realisiertes, sich tonal immer leicht variierendes Basspattern, welches ebenfalls durch das Anspielen der Subdominante einige harmonische Anklänge von Autobahn vorwegnimmt. Allerdings stellt sich analog zum zunehmenden Tempo eine immer größere Kakophonie ein, da das Timing von Hütter und Schneider – gerade was das Spielen der Perkussionsin­ strumente anbelangt – dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Am deutlichsten wird das bei den eingestreuten Snaredrumbreaks, die oftmals asynchron zum Rhythmus laufen. Das sich anschließende Stück »Tongebirge« hat einen stark meditativ geprägten Charakter, da es in einem freien Metrum gespielt wird, keinerlei Perkussionsin­ strumente aufweist und sämtliche, an sich schon sehr weiche, da obertonarme Klänge mit Verhallung respektive einem starken Einsatz von Echo bearbeitet sind. Zentrales Element sind dabei improvisatorisch erfolgende Flötentriller, die durch schnelle, auf der mixolydischen Skala auf- und abwärts gespielte Läufe verbunden werden, welche in ähnlicher Form auch in den Instrumentalpassagen von »Autobahn« zu hören sind. Untermalt wird dies von sukzessiv gespielten, lang ausgehaltenen Basstönen sowie von tiefpassgefilterten, auf Rechteck- und / oder Sinuswellenoszillatoren basierenden, schnell gespielten, ebenfalls meist diatonischen Läufen des Synthesizers, die die Motivik der Flöte aufgreifen. Die durch die Veränderung der Filtereckfrequenz entstehende Klangcharakteristik des Synthesizers lässt da­ rauf schließen, dass es sich dabei angesichts der eher nach 18 dB denn nach 24 dB klingenden Flankensteilheit des Filters um den EMS Synthi A handelt. Dem Stück »Kristallo« kommt eine besondere Bedeutung in der musikalischen Entwicklung Kraftwerks zu. Zum einen erhält hier die Musik ein neues, für den

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Für die Verwendung des Minimoogs spricht die Klangcharakteristik der sich bei 2:40 deutlich ändernden Cutoff-Frequenz des Filters, welche eher dem 24dB-Moog-Filter als dem Klang des 18dB-EMS-Filters zugerechnet werden kann. Vgl. »Kometenmelodie 2«.

3.7  Ralf und Florian

weiteren Verlauf der Geschichte der Gruppe als archetypisch geltendes, melodisches Element, zum anderen wird durch die Kombination aus einem mit dem Drumcomputer erzeugten Viertelnoten-lastigen Schlagzeug-Pattern und einer auf 16tel-Noten basierenden, mit dem Synthesizer realisierten Basssequenz eins der stereotypen, minimalistischen Klangidiome des Technos vorweggenommen. Diese stilistische Verwandtschaft geht mit einer äußerst einfach gehaltenen Harmonik einher: So bleibt das Stück die ersten zweieinhalb Minuten zunächst auf der Tonika bb-Moll, um dann auf die Dursubdominate Eb-Dur zu wechseln und dort bis zum Ende zu verharren. Die angesprochene melodische Besonderheit liegt darin begründet, dass erstmals ein kurzes, auf dem Farfisa Piano gespieltes, sich wiederholendes und aus wenigen Tönen bestehendes Melodiefragment auftaucht, welches die Mollterz als höchsten Ton anspielt und mit dem Grundton abschließt. Dies mag zunächst banal erscheinen, da pentatonische Gitarrenriffs zur Essenz der Rockmusik respektive des Rock ’n’ Blues gehören; auch die Hookline von »Popcorn« besteht aus einer abwärts fallenden, mit Wechselnoten angereicherten Mollsept-Skala  – allerdings ist »Popcorn« nur ein singulärer Erfolg gewesen: Erst durch Kraftwerk erhalten diese Riffs einen dauerhaften Platz in der (elektronischen) Popmusik. Trotz der Tatsache, dass sie sich dort immer noch als Bestandteil typischer Rock-Motivik ausmachen lassen, wohnen ihnen doch gewisse Eigenarten inne, die sie besonders erscheinen lassen. Auch wenn für das Melodiefragment bei »Kristallo« statt des Synthesizers (noch) das Farfisa Piano verwendet wird  – mit der Substitution der E-Gitarre durch ein elektronisches Tasteninstrument transferierte Kraftwerk ein musikalisches und klangspezifisches Kernelement des Rocks in ein neues stilistisches Feld: Hier erfolgt der erste Schritt in Richtung einer elektronischen Form von Popmusik, die sich ab dem Nachfolgealbum Autobahn im Jahre 1974 schließlich zur musikalischen Programmatik entwickelt. Zwar konkurrierten mit der Hammond-Orgel wie bei Deep Purple oder eben dem Moog-Synthesizer wie bei Emerson Lake & Palmer schon seit der Jahrzehntwende der 1960er/1970er Jahre elektronische Tasteninstrumente mit der E-Gitarre, häufig ging es dabei aber um eine Imitation derselben, dergestalt, dass man durch Effekte wie Verzerrung oder dem Wah-Wah und vor allem der Spielweise ein gleichwertiges Pendant dem Gesamtklang hinzufügen oder die Gitarre dadurch ersetzen wollte; nichts anderes dokumentierte ja die Art der Verwendung des Tubons auf dem Debütalbum Kraftwerk. Was bereits mit Kraftwerk 2 begann, findet auf Ralf und Florian seine Fortsetzung, in dem sich Kraftwerk von Rock-spezifischen Klischees hinsichtlich der Spieltechnik und der Artikulation wie dem Saiten-Bending und der damit einhergehenden Applikation von Blue Notes – was mit dem Minimoog durch die Verwendung des Pitch-Wheels ohne Weiteres möglich gewesen wäre und von vielen Keyboardern wie beispielsweise

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

Jan Hammer oder George Duke auch praktiziert wurde – emanzipieren. Auch der – wenn auch eher unspektakuläre – Klang des Farfisa Keyboards darf hier für sich selbst stehen, ohne in Konkurrenz zur Gitarre zu treten oder gar als ihr Ersatz zu gelten. Neben der Klangtransformation spielt aber auch der kompositorische Umgang mit dem tonalen Material für den zukünftigen Werdegang der Gruppe eine wichtige Rolle: Obwohl die Motivik bei »Kristallo« noch stark improvisatorischen Charakter hat, der von den aus der heutigen Perspektive für Kraftwerk typischen, griffigen Synthesizer-Riffs noch weit entfernt scheint, kündigt sich mit der Tonauswahl beziehungsweise der aus Mollterz und Grundton bestehenden motivischen Klammer eine melodische Vorliebe Kraftwerks an, aus der sich einige prägnante Hooklines der Gruppe ableiten lassen. Wie sich später zeigen wird, liegt eine der Stärken der Gruppe in der Fähigkeit, aus dem einem in der zweiten Umkehrung stehenden Mollseptakkordes entnommenen Tonmaterials kurze, meist nur ein oder zwei Takte lange und dabei sehr eingängige Melodien zu komponieren. So lassen sich auf dieses baukastenartige Kompositionsprinzip zahlreiche spätere Riffs und Hooklines wie beispielsweise bei den Stücken »Schaufensterpuppen«, »Spiegelsaal«, »Das Modell«, »Radio-Aktivität« »Computerwelt« und »Expo 2000« zurückführen.

Bsp. 4: Kraftwerk: »Kristallo«, Synthesizer-Thema (Auszug)

Richtet man nun sein Augenmerk auf die aus dem Drumcomputer und dem Synthesizerpattern bestehende Begleitung, tritt eine klangliche, ihrer Zeit weit voraus seiende Raffinesse in den Vordergrund, die das Stück »Klingklang« noch vermissen ließ. Realisiert wird dies infolge der Bearbeitung des Drumsounds durch einen von Peter Leunig und Knut Obermayr gebauten 12-Band-Vocoder,370 dessen Synthese- und Analyseeingang mit dem Drumcomputer gespeist wird. Da es 370

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Das Gerät ist nach Aussage von Dirk Matten bei ebay im Juni 2006 für € 12.500 versteigert worden. Dirk Matten in einer E-Mail an den Verfasser am 14.04.2009. Schenkt man dem auf ebay veröffentlichten Anbietertext Glauben, wurde der Vocoder auf den Stücken »Kristallo« (Rhythmus-Maschine und EMS-Synthesizer), »Ananas-Symphonie« (Mikrofon für Elektro-Gesang und Verwendung von Hawaii-Gitarre und Rhythmus-Maschine für den Begleit-Rhythmus) und »Autobahn« (Intro) benutzt. Angesichts der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Aufnahmen von Radio-Aktivität im Jahre 1975 die später von Kraftwerk benutzten Vocoder

3.7  Ralf und Florian

sich bei diesem Gerät vor allem hinsichtlich der im Laufe des Kapitels noch diskutierten Sprachmanipulation um einen klanglich-konzeptionellen Meilenstein in der Geschichte Kraftwerks handelt, darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, wie es überhaupt zur Anschaffung des Vocoders kam. Peter Leunig: »[…], es war eine Spezialentwicklung für Kraftwerk. Wir (Knut Obermeyr und ich) besuchten damals Conny Plank im Margot Eskens Studio in Köln-Godorf, wo er gerade die 1. Kraftwerk-Platte aufnahm. Wir hatten ein Demo-Band371 von ›Siemens‹ mit dem einzigen damals verfügbaren Vocoder (ein Prototyp) mit, um es Conny vorzuspielen. Florian Schneider hörte das zufällig und war sofort Feuer und Flamme und wollte auch sowas haben. Wir kannten nur das grobe Prinzip des Vocoders, hatten aber sonst keine detaillierten Unterlagen. Ich glaube, der ›Siemens‹-Vocoder arbeitete noch mit Röhren. Es wurde eine ziemlich aufwendige Entwicklung und dauerte weit über ein Jahr.«372

Zum vocoderisierten Drumpattern gesellt sich ferner eine Basssequenz. Obgleich der Synthi A einen Sequenzer besitzt, fehlt eine Synchronisationsmöglichkeit mit dem Drumcomputer – die Sequenzen beider Geräte würden irgendwann zeitlich auseinander laufen, weswegen die Einspielung manuell erfolgen musste, was sich auch anhand der zeitweise auftretenden Timing-Ungenauigkeiten erkennen lässt. Der dem Basspattern zugrunde liegende Klang besteht angesichts einer leichten Interferenz aus wahrscheinlich zwei oder drei Sägezahnwellenoszillatoren, die durch einen Tiefpassfilter bearbeitet werden, dessen Cutoff-Frequenz dabei durch einen niederfrequent freischwingenden sinuswellenförmigen Oszillator moduliert wird; das dadurch hervorgerufene Klangergebnis erinnert stark an die im House und Techno durch den Bass-Synthesizer Bassline TB-303 der Firma Roland erzeugten Basssequenzen. Die bereits erwähnten Timing-Schwankungen manifestieren sich allerdings nicht nur in der Bassbegleitung – viel eklatanter tre-

der Firmen EMS und Sennheiser noch nicht gebaut wurden, ist zu vermuten, dass der Vocoder von Leunig und Obermayr auch auf diesem Album zum Einsatz kam. Music Thing: eBay of the Year: Kraftwerk’s original vocoder, 2006, http://musicthing.blogspot. com/2006/06/ebay-of-year-kraftwerks-original.html (abgerufen am: 12.05.2009). sequencer.de: Kraftwerk Vocoder (Barth / Leunig) sold: $ 12,500, 2006, http://www.sequencer.de/blog/?p=843 (abgerufen am: 12.05.2009). Kraftwerk: Technology, http://kraftwerk.technopop.com.br/data_technology.php (abgerufen am: 12.05.2009). 371 Auf diesem Demo-Band war u. a. eine vocoderisierte Version des »Prolog im Himmel« von Goethes »Faust I« zu hören, bei dem als Analysesignal der gesprochene Text und als Synthesesignal zunächst Kirchenglocken und in der Wiederholung ein nicht näher zu verifizierendes Kirchenorgelstück benutzt wurden. Kraftwerk benutzten dieses Demo-Band als Einleitung zu »Kometenmelodie 1« auf ihrer Amerika-Tournee im Jahre 1975. Peter Leunig in einer E-Mail an den Verfasser am 10.06.2009. 372 Ebd.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

ten sie bei Hütters darüber liegender, auf der äolischen und dorischen Skala basierenden Klavierimprovisation in den Vordergrund, womit trotz der zahlreichen, den späteren Kraftwerk-Sound vorwegnehmenden klangspezifischen Charakteristika die maschinelle Präzision sowohl späterer Kraftwerk-Kompositionen als auch der Produktionen der späteren, damit verwandten Gattungen House und Techno völlig auf der Strecke bleiben. Das Stück »Heimatklänge« schlägt deutlich ruhigere Töne an. Es basiert auf einem auf dem Klavier gespielten H-Dur-Akkord ohne Quinte, der mit einer großen Sexte und großen None angereichert wird – auch hier erscheint wieder eine Quartschichtung. Neben lang gespielten, diesen Akkord aufgreifenden Flötentönen wird das Stück durch das Klavierspiel Hütters dominiert: Dass als Grundtonart H-Dur gewählt wurde, ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass man infolge einfach zu spielender, willkürlich aneinandergereihter Quart- und Terzgriffe auf den schwarzen Tasten der Klaviatur eine recht anspruchsvoll klingende, an den Modern Jazz angelehnte Improvisation hervorrufen kann – eine Methode, die Hütter mit Erfolg auch in der sich anschließenden Modulation nach C#-Dur anwenden konnte. Das Stück »Tanzmusik« erinnert bezüglich seiner musikalischen Textur wieder sehr an »Klingklang«, da hier als zentrales Instrument neben dem Drumcomputer erneut das Farfisa Piano zum Einsatz kommt, welches ein zweitaktiges, in Dur stehendes und sich permanent wiederholendes melodisches Motiv spielt. Harmonisch basiert dies auf den taktweise wechselnden Akkorden H-Dur und F#-Dur. Besondere Erwähnung findet das Stück aufgrund seiner Präsentation bei einem Live-Auftritt in der TV-Sendung Aspekte im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) am 10.10.1973 in Berlin,373 da dort das Drumpattern von dem im September 1973 dazugekommenen Schlagzeuger Wolfgang Flür mittels eines selbstgebauten Drumpads, welches die Klänge des Drumcomputers triggerte, gespielt wurde. Da es sich bei diesem Gerät vermutlich um das erste Drumpad der Musikgeschichte handelte und dies erheblich zum Mythos Kraftwerks als Wegbereiter technischer Innovationen beitrug, lohnt ein genauer Blick auf dessen Entstehungsweise. Angesichts des sich anbahnenden Auftritts im Deutschen Fernsehen hatte nach Ansicht Flürs für Hütter und Schneider die Präsenz eines weiteren Band-Mitglieds aus performativen Gründen eine gewisse Wichtigkeit.374 Ferner schien Flürs gutes Timing sowie sein minimalistisches Spiel für die Musik Kraft-

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Kraftwerk: TV-Auftritt Aspekte, 1973, http://www.youtube.com/watch?v=EF6Uzzr-DEU&fea ture=PlayList&p=E02CA1D467D8909D&playnext=1&playnext_from=PL&index=74 (abgerufen am: 14.05.2009). Flür 1999, S. 57.

3.7  Ralf und Florian

werks nahezu prädestiniert zu sein.375 Die Idee zur Entwicklung eines elektronischen Schlagzeugs entstand nach Aussage Flürs schließlich während der Proben im Kling Klang Studio, wo Flür einen Drumcomputer entdeckt habe, bei dem man die einzelnen Klänge durch Drucktasten ansteuern konnte. Beeindruckt vom Klangvolumen des Gerätes, das man mittels elektronischer Verstärkung erzielen konnte, hätten Schneider und Flür daraufhin ein Konzept entwickelt, das das Manko der durch die Drucktasten bedingten schlechten Spielbarkeit eliminieren sollte. Flür habe schließlich diese Idee realisiert, indem er das Gerät so umgebaut hätte, dass er den kontaktschließenden Schalter, welcher den Klang triggerte, mittels des Kontaktes von unter Schwachstrom stehenden Messingröhrchen, die als Sticks dienten, sowie Kupferplatten, die die Funktion der Schlagflächen übernahmen, analog zu einem herkömmlichen Schlagzeug ansteuern konnte.376 Da die Klänge nicht anschlagsdynamisch gespielt werden konnten, habe Flür die Lautstärke über ein eingebautes Gitarren-Lautstärken-Pedal geregelt.377 Das elektronische Schlagzeug ließ er sich allerdings nie patentieren – man habe sich damals zu sehr als Künstler gefühlt, als dass man über eine kommerzielle Verwertung nachgedacht habe.378 Dass bezüglich der Deutungshoheit sowohl hinsichtlich der Urheberschaft als auch der Patentierung allerdings ein Dissens herrscht, zeigt, dass Hütter und Schneider im Juni des Jahres 1977 sehr wohl ein Patent bezüglich des Designs eines Drumpads anmeldeten.379 Ferner reklamierte Ralf Hütter in einem Interview im Jahre 1981 auch die Urheberschaft indirekt für sich und Schneider, in dem er die Entwicklung des Drumpads chronologisch vor der Mitgliedschaft Flürs bei Kraftwerk ansiedelte: »Damals war Wolfgang Flür zu uns gestoßen und spielte auf unserem speziell angefertigten Schlagzeug-System; er war unser erster Perkussionist, der die elektronisch erzeugten Trommelklänge akzeptierte.«380 Die Auseinandersetzung um die Herkunft des Drumpads gipfelte schließlich in einer von Hütter und Schneider initiierten erfolgreichen Unterlassungsklage gegen Flürs im Jahre 1999 erschienenen Autobiografie, in der unter anderem Flürs Behauptung, Urheber dieser Erfindung zu sein, moniert

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Ebd., S. 48. Flür 1999, S. 59 f. Angesichts der zahlreichen Ungenauigkeiten in Flürs Buch ist nicht zu klären, ob es sich dabei um das bis dato zum Einsatz gekommene und von Hütter gekaufte Modell »Rhythm 10« handelt. Flür schreibt auch, dass Schneider das Gerät gekauft hätte, was für einen weiteren Drumcomputer spräche. Esch 2014, S. 88. Flür 1999, S. 68. Electronic percussion musical instrument, in: https://patents.justia.com/patent/D244717 (abgerufen am: 20.09.2020). Zit. n. Ralf Hütter in: Buckley 2013, S. 77.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

wurde:381 Vielmehr habe Florian Schneider das Drumpad bereits 1972 konstruiert.382 Folgt man dieser Version, stellt sich allerdings die Frage, warum auf Ralf und Florian angesichts der klanglichen Möglichkeiten dieses Schlagzeugsystems noch auf akustische Perkussionsinstrumente und den statischen Drumcomputer zurückgegriffen wurde, obwohl man mit dem Novum live spielbarer elektronischer Schlagzeugklänge schon vor Autobahn die Welt der Popmusik mit einem neuen Sound hätte bereichern können. Flürs Sicht der Dinge scheint vor diesem Hintergrund wesentlich wahrscheinlicher zu sein, zumal diese Version sogar während der ersten Session von Hütter, Schneider und des im Jahre 1974 zur Band gestoßenen zweiten Schlagzeugers Karl Bartos von Hütter und Schneider bestätigt wurde. Karl Bartos: »Die Gestaltung des Multipads hatten sie zusammen mit ihm [Wolfgang Flür] entwickelt, erfuhr ich.«383 Es kann also durchaus angenommen werden, dass durch Hütters Aussage, dass das Drumpad schon vor Flürs Kraftwerk-Beitritt vorhanden war, eher der Versuch unternommen wurde, die Autorschaft jeglicher künstlerischen und technischen Prozesse innerhalb Kraftwerks ausschließlich bei Hütter und Schneider zu positionieren, nicht zuletzt, da die Patentierung auch mit entsprechenden Lizenzvergütungen einherging. Ungeachtet der Herkunftsfrage ist die Erfindung für die Entwicklung Kraftwerks gar nicht hoch genug zu bewerten. Zum einen diente die Innovation per se als ein weiterer essenzieller Baustein des in der Außendarstellung immer wieder betonten visionären Charakters und Pioniergeistes der Gruppe. Zum anderen manifestierte sie aber die Emanzipation Kraftwerks von der starren PatternStruktur des Drumcomputers. Schwang bei allen bis dato unter der Verwendung eines Drumcomputers veröffentlichten Popproduktionen stets der durch die vorprogrammierten Rhythmen hervorgerufene biedere Charakter der Alleinunterhalter-Begleitung mit, waren Kraftwerk fortan als einzige Vertreter des Popbusiness in der Lage, eigene Pattern und Breaks herzustellen. Die spieltechnische Freiheit des konventionellen Schlagzeugs wurde erstmals mit elektronischer Klangerzeugung verbunden. Im Gegensatz zu anderen in der populären elektronischen Musik ansässigen Gruppen und Musikern wie beispielsweise Tangerine Dream und Klaus Schulze, die, obwohl ebenfalls an der Speerspitze technologischer Entwicklung befindlich, zur Erzeugung von Perkussionsklängen stets noch ein akustisches Schlagzeug bemühen mussten, konnten Kraftwerk dadurch ab

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Dieser Rechtsstreit wird von Wolfgang Flür in der englischen, im Jahre 2004 veröffentlichten Ausgabe seiner Autobiografie dokumentiert. Flür 2017, S. 298 ff. Ebd., S. 299. Bartos 2017, S. 126.

3.7  Ralf und Florian

dem Jahre 1973 das Klangspektrum des klassischen Rockinstrumentariums vollständig elektronisch substituieren. Man muss dabei der Tatsache Rechnung tragen, dass sich der Zeitgeist schon allein aus performativen Gesichtspunkten allerdings nur bedingt für diese Art der Musik offen zeigte, der Einsatz des Gerätes also ein Wagnis darstellte. Bei allem Vorbehalt gegenüber elektronischer Klangerzeugung384 galt zwar der Synthesizer spielende Keyboarder auf der Bühne als mittlerweile mehr oder weniger akzeptiertes Mitglied einer Band, die Vorstellung eines unangestrengt und körperlos spielenden Perkussionisten ging jedoch über das Maß hinaus, was das gängige Rock- und Poppublikum zu tolerieren bereit war, für das das Schlagzeugspiel ehedem laut, ekstatisch und schwitzend dargeboten werden musste. Dementsprechend wurden Kraftwerk bei zwei Testauftritten in Krefeld und in Leverkusen zur Vorbereitung auf die TV-Sendung ausgebuht.385 Zu diesem Zeitpunkt hatten Kraftwerk die Elektrifizierung des Klangapparates gleichfalls schon auf die sicher essenziellste und menschlichste Komponente der Rock- und Popmusik oktroyiert: den Gesang. Dies verdient umso mehr Beachtung, als dass Kraftwerk bis dato als reine Instrumentalgruppe in Erscheinung trat. Auf Ralf und Florian hingegen finden sich im mit »Ananas Symphonie« betitelten Schlussstück des Albums als Novum zwei für die weitere musikalische Entwicklung Kraftwerks wichtige Kompositions- und Klangkomponenten. Zum einen handelt es sich hierbei eben um die Verwendung von Sprache, zum anderen um die gleichzeitig erfolgende Verfremdung derselben durch den Einsatz des Vocoders (0:53). Während das Analysesignal des Vocoders hierbei aus der menschlichen Sprache – in Form der Wortgruppe »Ananas-Symphonie« – besteht, setzt sich das Synthesesignal durch die zu hörende Mehrstimmigkeit sehr wahrscheinlich aus einem sägezahnwellenbasierten Klang des Minimoogs zusammen, dessen drei Oszillatoren zu einem E-Dur-Akkord gestimmt sind. Der dadurch entstehende klangliche Effekt einer »singenden«, maschinenhaften Stimme war zum damaligen Zeitpunkt allerdings nicht nur bereits aus Fernseh- und Rundfunkproduktionen386 bekannt, auch der kanadische Komponist Bruce Haack setzte auf seinem Rockmusik-beeinflussten, im Jahre 1970 erschienenen Album Electric Lucifer387 als omnipräsentes Klangelement einen Vocoder zur Sprachverfremdung ein; infolge des sich ab Autobahn einstellenden kommerziellen Erfolges, 384 385 386 387

Vgl. Kap. 2.2.2 und 3.6.2. Esch 2014, S. 89 f. Die Sprachverfremdung durch einen Vocoder wurde primär in Science-Fiction-Produktionen eingesetzt. Vgl. »Raumpatrouille  – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion«, 1966–69. Vgl. Bruce Haack: Electric Lucifer, 1970.

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3  Experimentelle Phase – von Kraftwerk bis Ralf und Florian

sollten sich die Maschinenstimmen aber bald nicht nur zu einem klangspezifischen Markenzeichen Kraftwerks herauskristallisieren, sondern Hütter und Schneider auch die Urheberschaft der Implementierung dieser Klänge in der Popmusik angedeihen lassen. Da sich der Spracheinsatz bei »Ananas-Symphonie« nur auf diese sich zweimal wiederholende Wortgruppe beschränkt und damit lediglich die Funktion einer akzidentiell bereichernden phonetischen Klangfarbe hat, lohnt der Diskurs bezüglich des Spracheinsatzes in der Musik Kraftwerks erst beim nachfolgenden Album Autobahn, da dort neben dem textlichen Inhalt der Sprache auch eine melodische Komponente hinzugefügt wird. Der Vocoder wird bei »Ananas-Symphonie« aber auch wie schon bei »Kristallo« zur Klangmanipulation der rhythmischen Begleitung eingesetzt. Während der Analyseeingang hierbei vom Drumcomputer gespeist wird, basiert das Synthesesignal abermals auf dem Farfisa Piano. Durch die wechselnden Harmonien wird daraus ein durch den Drumcomputer rhythmisiertes polyphones Pattern erzeugt, dem die typische leicht metallische Klangcharakteristik des Vocoders zugrunde liegt. Der Vollständigkeit halber ist noch zu erwähnen, dass in Folge der gewählten Instrumentierung dieses Stückes (Hawaii-Gitarren, Thereminähnliche Klänge, gefiltertes weißes Rauschen sowie wieder mit starkem Delay versehene Flötenklänge) als auch der nahezu ausschließlich in Dur stehenden Harmonien mit diesem Stück die industriell klingende Experimentalphase Kraftwerks endgültig abgeschlossen ist. Die noch von den beiden Vorgängeralben bekannten verzerrten Klänge weichen hier einer sanften Atmosphäre, die fast schon an die Klangtextur der späteren Ambient-Musik erinnert. Dennoch fand die musikalische Wandlung Kraftwerks zu eingängigeren und Pop-orientierteren Klängen keine Beachtung durch die Öffentlichkeit: Das Album konnte sich nicht in den Top 100 der deutschen Album-Charts platzieren388 – der kommerzielle Erfolg sollte erst dem Nachfolgealbum Autobahn vorbehalten sein.

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https://www.offiziellecharts.de (abgerufen am: 18.06.2017)

4 Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café 4.1  Autobahn

4.1.1 Einleitung Das Album Autobahn wurde im Jahre 1974 im von Conny Plank neu gegründeten Conny’s Studio in Wolperath aufgenommen. Da Plank über mobiles AufnahmeEquipment verfügte, wurden viele postproduktionstechnische Arbeiten wie etwa das Einspielen der Schlagzeugspuren allerdings im mittlerweile auch offiziell »Kling Klang Studio« genannten Studio Hütters und Schneiders in Düsseldorf vorgenommen, die Plank mit seinem Mitarbeiter Hans Lampe dort aufzeichnete. Die Abmischung erfolgte in Planks Studio.389 Unklarheiten gibt es bezüglich der Besetzung: Während als gesichert gelten kann, dass Hütter und Schneider für alle Kompositionen sowie als ausführende Instrumentalisten für den Gesang und die Elektronik verantwortlich zeichneten, ist der Anteil Klaus Röders, dessen Tätigkeit auf der Rückseite des Covers noch mit dem Spielen von Violine und Gitarre angegeben ist, nicht genau verifizierbar. Während Flür behauptet, dass Röders Aufnahmen in der Mischung des Albums keine Verwendung fanden,390 ist er beim Stück »Mitternacht« mit »Electrogeige« kreditiert. Ralf Hütters Behauptung, dass Röder nicht auf »Autobahn« gespielt hätte,391 bringt ebenfalls in dieser Hinsicht keine Klärung, da sich nicht erschließen lässt, ob Hütter sich damit nur auf das Titelstück oder auf das gesamte Album bezog. Ebenfalls gibt es Unklarheiten bezüglich des elektronischen Schlagzeugs. Zwar ist auf dem Album Wolfgang Flür als Schlagzeuger kreditiert, im Zuge der Unterlassungsklage gegen Flürs Autobiografie wurde von Hütter und Schneider die Behauptung aufgestellt, dass Flür hingegen nicht bei »Autobahn« mitgespielt hätte. In diesem Zuge wurde bei der kanonisierten Fassung im Rahmen der Veröffentlichung von Der Katalog angegeben, dass Hütter und Schneider selbst Schlagzeug gespielt hätten, Flür hingegen nur bei dem Stück »Kometenmelodie 2«.392 Da hier Aussage gegen Aussage steht, ist dieser Sachverhalt nicht restlos aufzuklären – ob Hütter und Schnei-

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Esch 2014, S. 96. Flür 1999, S. 73. Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Beacon Radio, Manchester 14.06.1981, http://kraft werk.technopop.com.br/interview_122.php (abgerufen am: 14.05.2009). Vgl. Booklet von Autobahn in: Kraftwerk: Der Katalog, 2009. Vgl. ferner Kap. 6.3.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

der allerdings über ausreichend instrumentales Können hinsichtlich des Schlagzeugspiels verfügten, um »Autobahn« eingespielt haben zu können, ist angesichts der an Ralf und Florian ersichtlichen Timingprobleme – gerade hinsichtlich der live gespielten Schlagzeug-Parts – doch mehr als infrage zu stellen. Ferner war Flür zu diesem Zeitpunkt bereits ein Bandmitglied und speziell als Schlagzeuger engagiert, so dass es wenig sinnvoll erschienen wäre, dass man nur bei einem Stück auf seine Fähigkeiten zurückgegriffen hätte. Kein Zweifel hingegen besteht daran, dass »Autobahn« kompositorisch wie klanglich die mit »Klingklang« begonnene Metamorphose Kraftwerks vom experimentellen Krautrock zur elektronischen Popmusik vollendet. Zum einen werden hier in produktionstechnischer Hinsicht mit Ausnahme akzidentieller Flöten- und Gitarrenmelodien alle essenziellen instrumentalen Spuren des Stückes (Hauptmelodie, Bass, Schlagzeug) mit dem Synthesizer respektive den Klängen des Drumcomputers realisiert. Zum anderen orientieren sich die der Komposition zugrunde liegenden Melodien und Harmonien durch ihre Simplizität deutlich an popmusikalischen Strukturen. Ein ebenfalls sehr wichtiger Punkt ist die Einführung von Gesang. Während wie erwähnt beim Stück »Ananas Symphonie« Sprache noch als phonetische Klangfarbe fungierte, werden hier erstmals sprachliche Inhalte vermittelt. Karl Bartos sieht dies als Hauptmerkmal der musikalischen Wandlung Kraftwerks zur Popmusik: »They [Hütter und Schneider] came from this classical angle, that’s how I see it, and then they moved to Popmusic by adding lyrics. There is no Popmusic without Lyrics, apparently.«393 4.1.2 Text und Gesang Wie genau sich nun die Beschaffenheit des sprachlichen Elements in der Musik Kraftwerks darstellt, soll an dieser Stelle vertieft werden. Generell lässt sich diesbezüglich konstatieren, dass ab Autobahn die Addition von Sprache primär der inhaltlichen Untermauerung des jeweiligen, dem Album zugrunde liegenden konzeptuellen Überbaus diente. Es handelte sich dabei weniger um Songtexte, deren Thematik sich in narrativer Form klassischen Rock- und Popsong-Texten gleich beliebten Themen der Popkultur wie Liebe und Partnerschaft oder auch sozialen und / oder politischen Problemen widmete, auch wenn es hier mit Stücken wie »Das Modell«, »Computerliebe« oder »Der Telefon Anruf« durchaus

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Zit. n. Karl Bartos in: Arnold 2009. Im Laufe der Geschichte der Popmusik hat es allerdings genügend Beweise dafür gegeben, dass Popmusik auch durchaus ohne Gesang funktioniert: An dieser Stelle sei nur auf die ausschließlich instrumental gehaltenen Produktionen von Joe Meek, George Kingsley, Jan Hammer, Harold Faltermeyer oder Robert Miles verwiesen.

4.1  Autobahn

Berührungspunkte gab. Vielmehr thematisierten Kraftwerk mit ihren Texten ihre ab Mitte der 1970er Jahre vor allem technisch geprägten Sujets, sei es hinsichtlich der Kommunikation durch das Radio wie auf Radio-Aktivität oder beispielsweise der Industrialisierung, Automatisierung und Computerisierung wie auf Die Mensch-Maschine und Computerwelt. Oftmals bestanden die eher fragmentarisch gehaltenen Texte dabei nur aus einzelnen Schlagwörtern wie bei »Metropolis«, »Spacelab« oder »Die Mensch-Maschine« oder aus kurzen, repetitiven Sätzen wie bei »Heimcomputer«, »It’s More Fun to Compute« oder etwa »Musique Non-Stop«. Dass es dabei primär nicht um Tiefgründigkeit ging, beschreibt etwa Karl Bartos wie folgt: »Bis auf wenige Ausnahmen haben die Texte wohl eher einen beschreibenden als einen wertenden Ansatz. Wenn der Text zum Beispiel nur aus einem Wort besteht, bleibt viel Raum zur Interpretation.«394 Aus der auf den Alben befindlichen Kreditierung zu schließen, stammten die Texte dabei größtenteils aus der Feder Ralf Hütters, der sich in Zusammenarbeit mit Florian Schneider aber auch durchaus Fragmente externer, aus dem Kraftwerk-Umfeld stammender Freunde und Mitarbeiter zu eigen machte. An dieser Stelle sei etwa Emil Schult genannt, dessen mit »Sie ist ein Model« betitelter Song als Basis für den Text von »Das Modell« fungierte.395 Wolfgang Flür betont hingegen, dass Emil Schult hinsichtlich der Texte der Hauptanteil gebührte: »Das Texttrio bestand immer aus Emil Schult, Ralf und Florian, wobei Emil oft den größten Anteil daran hatte, vor allem bei den englischen Texten. […] als Texter war er richtig gut.«396 Ebenfalls daran beteiligt war der Manager des französischen EMI-Labels Pathé Marconi, Maxime Schmitt, der für die Belange Kraftwerks in Frankreich zuständig war und beispielsweise auf dem Album Tour de France Soundtracks an vielen Texten mitarbeitete. Durch den Vorschlag des mit Kraftwerk befreundeten französischen Journalisten Paul Alessandrini, mit einem Album den Trans-Europ-Express zu thematisieren, stammte sogar die Idee zu einem programmatischen Überbau eines ganzen Albums aus einer externen Quelle.397 Ralf Hütter selbst sah die Wertigkeit von Sprache ähnlich wie Karl Bartos weniger als eigenständiges oder gar wie beispielsweise auf dem Feld der Singer-SongwriterMusic als zentrales Element der Komposition denn vielmehr als eine Erweiterung des Klangspektrums, das sich der Musik unterzuordnen hatte: »[…] wir sind keine Sänger im Sinne von Rod Stewart, wir setzen unsere Stimmen als ein

394 395 396 397

Bartos 1998b, S. 53. Bartos 2017, S. 260. Zit. n. Wolfgang Flür in: Esch 2014, S. 325. Zit. n. Paul Alessandrini in: Bussy 1995, S. 114.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

zusätzliches Instrument ein. Sprache ist einfach nur ein anderes Rhythmusmuster, sie ist Bestandteil unseres einzigartigen Sounds.«398 Angesichts dieser Aussage muss man allerdings auch konstatieren, dass der Vergleich mit Rod Stewart insofern hinkte, als dass die Gesangsmelodien Kraftwerks folgerichtig dem engen Korsett des geringen Ambitus der Sänger angepasst sind und daher zwangsweise schon eine andere Charakteristik haben, als man es vom oft mit Koloraturen versehenen Gesang der Pop- und Rockmusik gewohnt ist. Infolge der gesanglichen Limitierung von Hütter und Schneider drängt sich fast der Eindruck eines Sprechgesangs auf, der durch den gezielten Einsatz von repetitiver Monotonie wie im Titelstück »Autobahn« inhaltlich durch die Darstellung stundenlangen Fahrens auf der Autobahn oder auch musikalisch durch die sich immer wiederholenden, Pattern-artigen Passagen der Thematik des Stückes Rechnung trägt. Im Laufe dieser Arbeit wird sich zeigen, dass sich Kraftwerk der Limitierung und der mitunter mangelnden Qualität ihrer gesanglichen Darbietung durchaus bewusst waren. So etwa blieben nach dem im Jahre 1975 veröffentlichten Album Radio-Aktivität die Gesangspassagen mit Ausnahme des von Karl Bartos gesungenen Stückes »Der Telefon Anruf« auf dem 1986 veröffentlichten Album Electric Café der deutlich stabileren und durchsetzungsfähigeren Stimme Ralf Hütters vorbehalten, während sich Florian Schneider auf die Sprachmanipulation durch den Vocoder und auf die Generierung von rein synthetischen Stimmen konzentrierte. Der Verdacht liegt durchaus nahe, dass die Implementierung und zunehmende Fokussierung auf Vocoder-Gesang und synthetische Sprache allgemein auch eine Folge unzureichender Gesangsergebnisse, wenn nicht unbedingt seitens Hütters, so doch zumindest seitens Schneiders gewesen ist. Zumindest ließen sich mangelndes Timing und Intonation durch den Vocoder weitgehend ausschließen, da das Gesangsmaterial durch die Transformation eines in der Regel von einem Synthesizer generierten Trägersignals zum einen hinsichtlich der Rhythmik den Fähigkeiten des ausführenden Keyboard-Spielers unterworfen und zum anderen bezüglich der Tonhöhe unmittelbar an die Skalierung der Tastatur gekoppelt war, wodurch Intonationsfehler ausgeschlossen werden konnten – allenfalls die mitunter mangelnde Stimmstabilität früherer analoger Synthesizer in den 1970er Jahren konnte dem gewünschten Ergebnis entgegenwirken. Darüber hinaus war es möglich, durch die Verwendung von polyphonem Synthesematerial auf einfache Weise mehrstimmige Gesänge zu erzeugen, welche, insofern sie auf Vocoder-Bearbeitung oder des ab dem Nachfolgealbum Radio-Aktivität verwendeten Votrax-Sprachsynthesizers

398

156

Zit. n. Ralf Hütter in: Bussy 1995, S. 72.

4.1  Autobahn

basierten, als Stilmittel auf allen weiteren Kraftwerk-Alben zu finden sind. Auf »Autobahn« hingegen singen Hütter und Schneider noch im Duett  – mit allen Ungenauigkeiten und Intonationsproblemen, wobei Hütters Stimme deutlich prägnanter ist, was sicher auch der Abmischung geschuldet ist. Textlich behandelten sie mit der Beschreibung einer Autobahnfahrt dabei ein typisch deutsches Thema, welches nach Ansicht von David Buckley als Gegenstück zu US-amerikanischen Road-Songs hinsichtlich uneingeschränkter Mobilität und des damit verbundenen Freiheitsgedankens gleichfalls den Nerv des amerikanischen Marktes traf.399 Dass die US-amerikanische Öffentlichkeit allerdings den deutschen Text verstanden hat, darf bezweifelt werden. So etwa sah der englische Musiker John Foxx »Autobahn« vielmehr als elektronisches Remake des Songs »Barbara Ann« der Beach Boys, dessen Rhythmisierung der Hookline deutliche Übereinstimmungen mit dem Pendant von »Autobahn« aufweist.400 Der Liedtext spielt darüber hinaus auch durch Sätze wie »Vor uns liegt ein weites Tal. Die Sonne scheint mit Glitzerstrahl« mit gezielten Plattitüden und Banalitäten des deutschen Schlagers. Dementsprechend sah auch der deutsche Musiker und Journalist Wolfgang Seidel in den Texten Kraftwerks vor allem eine Persiflage der deutschen Schlagermusik: »Diese Klichees, die die deutsche Popmusik  – also der Schlager  – hat, welcher eine sehr formalisierte Sprache hat […], das haben Kraftwerk karikiert. Oder so hat man sie hier in Deutschland gehört. Ihre offensichtlich unsinnigen Texte, die auch nicht den Versuch machten, tiefsinnig zu sein und zwar so offensichtlich, dass das dann wieder ein künstlerisches Statement war. Es war eine Karikatur des Schlagers, so wie ihre Krawatten, ihre Frisuren eine Karikatur des disziplinierten, fleißigen Deutschen waren.«401

In der Tat muss man konstatieren, dass trotz aller futuristisch-technischer Thematik in den Texten Kraftwerks – wie in der Außendarstellung der Gruppe allgemein – oft ein leicht deutschtümelnder, kitschiger Ansatz zu finden war, mit dem die Gruppe gezielt humoristisch spielte.402 Dass dieser Aspekt Einfluss auf die Rezeption von »Autobahn« in den Vereinigten Staaten genommen haben dürfte, ist allerdings genauso wenig zu klären wie die Frage nach der Wertigkeit der einzelnen Aspekte des Stückes hinsichtlich des Erfolges auf dem US-amerikanischen

399 400 401 402

Buckley 2013, S. 82. Zit. n. John Foxx in: Buckley 2013, S. 89. Zit. n. Wolfgang Seidel in: Arnold 2009. Hütter, Ralf: Kraftwerk-Chef Ralf Hütter im Interview mit Albert Koch, in: »Ich höre die Stille und die Welt«, in: Musikexpress, 12.02.2019, https://www.musikexpress.de/kraftwerk-chef-ralf-huetterim-interview-840625/2/ (abgerufen am: 12.01.2021).

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Markt an sich – sei es die thematische Konzeption, der Text oder die musikalische Umsetzung. Sicher lässt sich hingegen sagen, dass im Vergleich zu anderen im Jahre 1974 im oberen Bereich der Charts platzierten Popstücken die klangliche Komponente infolge der ausschließlichen Verwendung elektronischen Instrumentariums ihresgleichen sucht, was in den folgenden Abschnitten schwerpunktmäßig untersucht werden soll. 4.1.3 Musikalische Analyse – Produktion und Sound Analysiert man »Autobahn« nun im Detail, lassen sich viele bereits bekannte klangliche und kompositorische Fragmente Kraftwerks wieder entdecken. Dies spiegelt sich zum einen in der Verwendung von Tonbandaufnahmen technischer Geräusche wie dem Anfahren des Autos zu Beginn des Stückes oder der später auftauchenden Radiogeräusche wider, zum anderen entwickeln sich aus der Kombination jener musikalischen Bausteine neue Komponenten, welche wiederum in späteren Kraftwerk-Alben aufgegriffen werden. Ein bereits erwähntes Beispiel hierfür ist der ebenfalls am Anfang des Stückes stehende Vocoder-Mehrklang, der durch die sukzessive Addition weiterer akkordimmanenter Töne, bezüglich seines Aufbaus sehr an die Flötenakkordschichtungen von »Strom« sowie in seiner Vollendung als Vierklang an den Vocoder-Akkord von »AnanasSymphonie« erinnert und damit eine Brücke zum Vocoder-Einsatz von »Trans Europa Express« schlägt. Weitere Ähnlichkeiten finden sich in an den MotorikBeat angelegten Schlagzeugrhythmen, deren Minimalismus sowohl an das Schlagzeugspiel Klaus Dingers bei Neu! als auch an den Pattern des Drumcomputers auf den beiden Vorgängeralben angelehnt ist. Gleiche Verwandtschaften lassen sich in den oktav- beziehungsweise quint- und quartbasierten Bassläufen von »Autobahn«, »Kristallo« und »Klingklang« finden, was möglicherweise auch der Tatsache geschuldet ist, dass sie alle in längeren Improvisationen (dafür spräche auch ihre sich immer leicht verändernde Struktur) entstanden sind und ihr rhythmisches und melodisches Muster dadurch determiniert ist, dass jene Oktav-, Quint- und Quartsprünge eben sehr leicht auf der Klaviatur spielbar sind. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies ein direktes Ergebnis des Probenkontextes ist, in dem Ralf Hütter die Basslinien mit der linken und die Melodie mit der rechten Hand gespielt haben dürfte, wie dies auch anhand einer TV-Aufzeichnung im US-amerikanischen Fernsehen im Jahre 1975 zu sehen ist.403 Möglicherweise geht dies auch auf die Begeisterung Ralf Hütters für die Spielweise des Keyboarders 403 Vgl. Kraftwerk: Kraftwerk  – Autobahn midnight special (us tv 1975), https://www.youtube.com/

watch?v=PJM9xpvMbJ0 (abgerufen am: 12.02.2021).

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4.1  Autobahn

der Gruppe The Doors, Ray Manzarek,404 zurück, der in Ermangelung eines Bassisten, diese instrumentale Funktion mit der linken Hand übernahm. Dadurch, dass mit beiden Händen nur bedingt unabhängig voneinander gespielt werden konnte, reduzierten sich die Bassläufe dementsprechend auf die Rhythmisierung der jeweiligen den Akkorden zugrunde liegenden Basstöne.405 Angesichts der Verwendung eines synchronen Delays erhalten die Basssequenzen hier aber eine lebendige, rhythmische Charakteristik – ein produktionstechnischer Trick, von dem später besonders auf Computerwelt starker Gebrauch gemacht wird. Dass die musikalische Textur von »Autobahn« nicht nur einer augenscheinlich spieltechnischen Determinierung unterliegt, sondern sich auch aus der Limitierung des zum Einsatz kommenden Instrumentariums rekrutiert, lässt sich am besten am Synthesizer-Einsatz und an den harmonischen Strukturen belegen. Das Thema des Stückes setzt sich aus zwei mit dem Minimoog realisierten Melodien zusammen, welche rechts und links im Panorama verteilt sind, obgleich es auf beiden Seiten Übersprechungen gibt. Betrachtet man nun die rechte Spur, fällt auf, dass die drei Oszillatoren des Minimoogs im Abstand eines Dur-Dreiklangs gestimmt sind, deren höchster Ton der Quinte des zugrunde liegenden Akkordes entspricht. In Ermangelung von polyphonen Synthesizern dadurch die Möglichkeit zu erhalten, mehrstimmig spielen zu können, hat direkte Auswirkungen auf die eigentliche Komposition. Nicht nur befinden sich dadurch alle Harmonien in Dur; angelehnt an die in der Popmusik weitverbreitete Mono-Tonalität, in der innerhalb der diatonischen Tonleiter in der Regel nur drei Dur-Akkorde respektive durch die Art der Akkordumkehrung gleichfalls nur drei Melodietöne vorkommen können, erscheinen genau diese in einer Dur-Kadenz als Hauptmelodie (F-Dur, Bb-Dur, C-Dur und abschließend wieder F-Dur), welche im weiteren Verlauf um einen Ganzton nach G-Dur gerückt wird. Es folgt eine Dominantverschiebung nach D-Dur. Angesichts der melodischen Determinierung des in Dur gestimmten Synthesizers bleibt hier folgerichtig der Dreiklang des Minimoogs auf dem Grundton stehen, während die mixolydische Melodie von einem perkussiven Synthesizer-Klang übernommen wird. Den harmonischen Ablauf abschließend erscheint eine aus dem harmonischen Korsett ausbrechende, wiederum durch den Minimoog aufgegriffene Dreiklangsrückung in Ganztönen über BbDur, C-Dur und D-Dur. Die Hauptmelodie wird auf dem linken Kanal noch mit einem entweder mit dem Minimoog oder dem ARP Odyssey gespielten, glockigen Klang gedoppelt. Durch die hohe Oktavlage und der Überlappung mit dem dreistimmigen Minimoog-Akkord ist nicht genau zu hören, ob es sich dabei eben404 405

Buckley 2013, S. 70. Bartos 2017, S. 157 f.

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falls um einen mit drei Oszillatoren gestimmten Dur-Akkord – im Falle der Verwendung eines ARP Odysseys wäre es nur die große Terz – oder einen einzelnen Ton handelt. Aus diesem Grunde ist nicht exakt festzulegen, ob die Oberstimme und damit die Melodie aus den Grundtönen oder den Durterzen der Akkorde besteht  – hier gerät das aurale Wahrnehmungsvermögen an seine Grenzen, da durch die zahlreichen Oktavüberlappungen und die unterschiedlichen Lautstärken der Oszillatoren psychoakustische Effekte entstehen, die das Ursprungssignal für das menschliche Gehör verwischen. So könnte im Falle einer Zwei- beziehungsweise Dreiklangsstimmung nur der um eine Terz nach oben transponierte Oszillator lauter sein als der / die andere(n) Oszillator(en), was im Zusammenspiel mit dem Minimoog-Klang auf der rechten Panoramaseite durch etwaige Interferenzen unterschiedliche Melodietöne hervorheben könnte. Eine Live-Aufnahme aus dem Jahre 1975 zeigt allerdings, dass Ralf Hütter die Melodie in Grundtönen spielt,406 was auch deutlich in der auf dem Album The Mix im Jahre 1991 veröffentlichten Version von »Autobahn« zu hören ist. Bezüglich der Original-Version lässt sich das angesichts aller oben genannter Unwägbarkeiten aber nicht endgültig klären, so dass die folgende Transkription also nur eine Annäherung ist.

Bsp. 5: Kraftwerk: »Autobahn«, Hauptthema

406

160

Kraftwerk: Kraftwerk on BBC’s Tomorrow’s World 1975, https://www.youtube.com/watch?v= ZwQ yUVqtIW8 (abgerufen am: 24.02.2021).

4.1  Autobahn

Auffällig ist, dass die immer wiederkehrenden langen Improvisationsstrecken auf »Autobahn« verhältnismäßig minimalistisch gestaltet sind (dadurch erhalten sie aber auch eine maschinelle Präzision, die beispielsweise die Improvisationen auf Ralf und Florian noch sehr vermissen lassen). Auf einem in doppeltem Tempo gespielten repetitiven, in A-Dur gehaltenen Pattern basierend, erfolgen neben der Imitation des Dopplereffektes von vorbeifahrenden Autos durch die Synthesizer in Form von in der Filterfrequenz und der Dynamik an- und abschwellenden Glissandoklängen sowie länger ausklingenden, perkussiven White-Noise-Klängen additive Flöten- und Gitarrenmelodien, welche aus sich auflösenden Sext-, Quart- und Sekundvorhalten des A-Dur-Akkordes bestehen. Diese schon aus den vorhergehenden Alben bekannte melodische Konzeption wird auch noch auf späteren Aufnahmen Kraftwerks zu hören sein. Betrachtet man die produktionstechnische Komponente des gesamten Albums, müssen natürlich die elektronischen Klänge und die damit einhergehende Realisierung hervorgehoben werden, wobei Kraftwerk ab Autobahn offenbar nicht nur am Puls der Zeit agierten, sondern sich einer Aussage Klaus Röders nach hinsichtlich Innovationen zum Teil auch darüber hinaus bewegten: »Es wurde immer überlegt, was man kaufen und was man besser selber bauen sollte. Selbstgebaut wurde vor allem das, was es noch gar nicht im Handel gab. Umgebaut wurde öfter mal etwas – soviel ich weiß, selten ohne fremde Hilfe. Sie hatten für alles ihre Leute. Der spezielle Vocoder, der schon sehr früh verwendet wurde, war meines Wissens gekauft aber umgebaut. Er rauschte ganz fürchterlich, sie behalfen sich aber damit, dass sie regelbare Filter dahinterschalteten. Ganz zentral war das Phasing und das Echogerät – das waren aber fertig gekaufte Geräte.«407

In der Tat sticht bei Autobahn der starke Einsatz von Phasing hervor, welcher gleichfalls – wenn nicht in so hohem Maße – auch auf den Vorgängeralben zu finden ist. Die Tatsache, dass die Phasing-Effekte auf dem erstmals ohne Conny Plank produzierten Nachfolgealbum Radio-Aktivität so gut wie gar nicht mehr auftauchen, kann darauf schließen lassen, dass sie wahrscheinlich auf Planks Idee zurückgehen dürften. Dies ist aber nur eine Facette der offenen Kontroverse hinsichtlich der schon in den vorhergehenden Kapiteln immer wieder diskutierten Frage einer Autorschaft Planks an der Musik Kraftwerks, die vor dem Hintergrund der Produktion von Autobahn schließlich ihren Höhepunkt erreicht, gerade weil Plank nicht mehr als Produzent, sondern lediglich als Toningenieur kreditiert worden ist, viele Personen aus dem Umfeld Kraftwerks jedoch Planks Leistung und Einfluss auf das Album als größer denn je einschätzen. Letztlich endete 407

Klaus Röder in einer E-Mail an der Verfasser am 18.10.2012.

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sie in einem Disput zwischen Kraftwerk und Plank, infolgedessen es nie wieder zu einer gemeinsamen Zusammenarbeit kam. Auslöser dieser Entwicklung sei nach Ansicht Eberhard Kranemanns gewesen, dass der Manager der amerikanischen Plattenfirma Capitol, Ira Blacker, auf das Titelstück aufmerksam wurde und bei Plank nach einer radiotauglichen Version anfragte, um diese in den USA besser vermarkten zu können. Aufgrund terminlicher Verhinderung habe Plank Hütter und Schneider ein anberaumtes Treffen mit Blacker überlassen, bei dem – wohl ohne Wissen Planks – eine große Bargeldsumme als Vorschuss an Hütter und Schneider ausbezahlt worden sei. Daraufhin hätten Hütter und Schneider Plank DM 5.000 angeboten, um ihm die Produktion abzukaufen, was dieser angenommen hätte. Infolgedessen – auch in Ermangelung einer schriftlichen Vereinbarung zwischen Kraftwerk und Plank bezüglich der Anteile und der Kreditierung Planks an der Produktion  – wurde Plank nicht mehr als Produzent erwähnt,408 worauf Plank sich getäuscht gefühlt und daraufhin erfolglos versucht habe, mittels juristischem Beistand seine Tantiemen als Produzent einzuklagen.409 Michael Rother allerdings beurteilt diesen geschäftlichen Kniff Kraftwerks allerdings keineswegs so einseitig betrügerisch wie etwa Kranemann: Seiner Ansicht nach war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob Autobahn sich zu einem Erfolg entwickeln würde, so dass die gebotene Summe eine durchaus hohe Gegenleistung dargestellt habe.410 Dennoch scheint der kreative Anteil Planks an Autobahn unbestritten zu sein, wie beispielsweise eine Aussage Klaus Röders unterstreicht: »Eine wesentliche Rolle hat der Conny Plank gespielt, der alles gemixt hatte und […] einzelne Teilchen zusammengesetzt hatte, und hinterher wurde dann das Stück draus. Das war, glaube ich, auch das letzte Mal, dass Conny das gemacht hat. Er hat dann noch zu mir gesagt, er wüsste nicht genau, wie dann Kraftwerk klingt, wenn er das nicht mehr macht.«411

Dass Plank nicht nur die Synthesizer überhaupt erst in das Klangbild Kraftwerks implementiert habe, sondern sowohl für deren Programmierung als auch für die eigentliche Einspielung verantwortlich gewesen wäre, sieht etwa Planks Ehefrau Christa Fast:

408 409 410 411

162

Esch 2014, S. 99 f. Buckley 2013, S. 97 f. Esch 2014, S. 100. Zit. n. Klaus Röder in: Arnold 2009.

4.1  Autobahn

»Conny spielte auf dem Moog, und Ralf und Florian reagierten mit Worten wie ›Geh noch mal zurück, spiel noch mal, was du vor fünf Minuten gespielt hast. Ja, okay. Das ist gut, das nehmen wir.‹ Das war ihre Arbeitsweise mit ihm. Er arbeitete; sie saßen nur elegant in ihren Sesseln und entschieden darüber, was genommen wurde, was gemacht wurde.«412

Sicherlich ist an dieser Stelle anzuführen, dass Fast natürlich Partei für Plank ergreift; darüber hinaus fehlt zur Klärung dieser zentralen Frage die Position Hütters und Schneiders, die sich diesbezüglich aber nie geäußert haben. Die im Laufe der hier vorliegenden Arbeit immer wieder aufgeführten Aussagen diverser Musiker lassen aber durchaus die Vermutung zu, dass Plank ein sehr entscheidender Mann in der Entwicklungsgeschichte Kraftwerks war, dessen Arbeit sehr wohl in produktionstechnischer und kompositorischer Hinsicht  – als dass der Sound ein für den Erfolg Kraftwerks maßgeblicher, kompositorisch relevanter Faktor gewesen war – die Musik nicht nur beeinflusst, sondern in Teilen auch gelenkt hat. Dafür spricht auch der klangliche Bruch, der zwischen Autobahn und dem Nachfolgealbum Radio-Aktivität zu verzeichnen ist. Während Autobahn durch den Einsatz von Phasing, künstlichen Räumen wie Echo und Hall sowie der gezielten Ausnutzung des Stereopanoramas eine räumlich dichte und sehr facettenreiche Produktion darstellt, ist Radio-Aktivität zwar experimenteller, aber auch klanglich viel rudimentärer geartet. Dies unterstreicht auch die Art des Synthesizer-Einsatzes. So finden sich auf Autobahn neben den zahlreichen EffektSounds sehr viele Mischklänge, die ein großes Spektrum abdecken, während hingegen die auf Radio-Aktivität zu vernehmenden Synthesizer-Klänge doch stark auf nur gering bearbeitete und modulierte Grundwellenformen zurückzuführen sind. Allerdings brilliert Autobahn nicht nur im direkten Vergleich mit RadioAktivität; es setzte sich in der damaligen Zeit generell deutlich von der bereits angesprochenen sogenannten »Vulgärelektronik« ab, die sich im Zuge des Erfolges von Emerson, Lake & Palmer in der populären Musik etabliert hatte,413 so dass es im Jahre 1974 keine vergleichbare popmusikalische Produktion gab, die sich auf dem klanglichen Niveau von Autobahn bewegte: Weder gab es Popstücke, deren instrumentale Texturen auch nur annähernd radikal auf elektronischer Klangerzeugung basierten, wie es bei Autobahn der Fall war, noch konnten sich die auf zeitgenössischen Produktionen eingesetzten elektronisch generierten Sounds mit der Variabilität und Klangdichte von Autobahn messen.

412 413

Zit. n. Christa Fast in: Buckley 2013, S. 99. Vgl. Kap. 3.6.2.2.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Dass darüber hinaus der Erfolg von Autobahn für die folgenden Alben als idealer Nährboden hinsichtlich der Erschließung eines Publikums weit über die Grenzen der Schublade des Krautrock hinaus diente, auf dem auch ein eher sperriges und experimentelles Album wie Radio-Aktivität gedeihen und einer Weltöffentlichkeit dargeboten werden konnte, ist daher auch in großen Teilen Planks Verdienst. Natürlich ist die für die internationale Reputation dieses Albums relevante Komposition das Titelstück, dennoch lohnt ein Blick auf die anderen auf Autobahn enthaltenen Stücke, da sie sowohl in kompositorischer als auch in klanglicher Hinsicht das bereits bekannte musikalische Baukastensystem Kraftwerks demonstrieren. In Ermangelung von Gesang wohnt ihnen im Vergleich zum Titelstück aber auch ein klangexperimentellerer Charakter inne – allenfalls das zweiteilige Stück »Kometenmelodie  1« trägt durch seine eingängigen, aufsteigend diatonisch harmonisierten Vierklangsbrechungen, welche in ähnlicher Weise schon in »Harmonika« zu hören sind, popmusikalische Züge. Während im ersten Teil des Stückes (»Kometenmelodie 1«) nach einem sich verdichtenden, mit dem Farfisa Piano realisierten Cluster, welcher durch abermals starkes Phasing einen sweependen polyphonen Synthesizer-Klang414 imitiert, die Vierklangsbrechung durch einen ostinaten Minimoog-Bassklang realisiert wird, erfolgt sie im zweiten Teil (»Kometenmelodie  2«) durch einen aus leicht untereinander verstimmten Oszillatoren bestehenden Synthesizersound in hoher Tonlage. Darunter erklingen neben einer sich in Oktavsprüngen bewegenden Basssequenz arpeggiert in 16tel- und Achtelnoten gespielte Akkorde des Farfisa Pianos, welche die durch die immer wiederkehrende Verschiebung von Terz und Quinte zu Quarte und Sexte an »Klingklang« und »Elektrisches Roulette« erinnert. Das Stück »Mitternacht« erinnert angesichts seiner Geigenglissandi und gefilterten White-Noise-Effekte klanglich stark an die Berliner Schule. Während das rhythmische Fundament auf einer Tonbandspur basiert, die aus einzelnen mit Hall versehenen Schrittgeräuschen besteht, fußt die Melodie des Stückes auf einem langsam gespielten, sich in tiefer Fußlage befindenden Orgelostinato. Interessant ist primär eine Live-Aufnahme des Stückes aus dem Jahre 1975,415 da dort bereits einige musikalische und klangliche Elemente verwendet werden, die erst auf später erschienenen Alben zu hören sind. So sind in Ralf Hütters Improvisa414 415

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Unter »Sweep« versteht man im Allgemeinen eine Klangbewegung, die durch die Veränderung der Filtereckfrequenz bei hohen Resonanzwerten erzeugt wird. Kraftwerk: Kraftwerk  – Mitternacht Live 1975 1/2, http://www.youtube.com/watch?v=KZ8Lt_ PiLl8&feature=PlayList&p=06FB981425B7CA70&playnext=1&playnext_from=PL&index=7 Kraftwerk: Kraftwerk  – Mitternacht Live 1975 2/2, http://www.youtube.com/watch?v=PSeTZ 5JymSM&feature=related (beide abgerufen am: 12.02.2021).

4.1  Autobahn

tion auf dem Farfisa Piano die Themen von »Radio-Aktivität« und »Schaufensterpuppen« zu hören. Die sich später anschließende Basslinie, die angesichts der deutlich zu hörenden Oszillatorensynchronisation von Florian Schneider auf dem ARP Odyssey gespielt wird, erinnert gleichfalls stark an die von »Schaufensterpuppen«. Dass nun während dieses Live-Konzertes die Stücke »Radio-Aktivität« und »Schaufensterpuppen« entstanden sind, lässt sich nicht genau sagen, nach Aussage Wolfgang Flürs allerdings schienen Kraftwerk sehr wohl neue Stücke während ihrer Konzerte zu entwickeln, ein Kompositionsprinzip, das offensichtlich vor allem von Ralf Hütter favorisiert wurde416  – zumindest liefert diese Aufnahme einen repräsentativen Querschnitt der modularen Flexibilität des Kraftwerk’schen Baukastensystems. Ralf Hütter antwortete auf die Frage nach der Entstehung der Kompositionen Kraftwerks: »[Die Kompositionen entstehen] im Studio[,] durch Fummeln, Zufälle oder beim Spielen; durch gedankliche Konzeption, also Reißbrettarbeit, oder auch aufgrund reiner Ton-Fundstücke auf den Instrumenten. Oder auch in Konzerten: Da spielen wir manchmal ein Stück immer weiter, und dann wächst daraus wie ein Ast ein neues Stück.«417

Ähnlich beschreibt dies Karl Bartos in mehreren Abschnitten seiner Autobiografie, wobei es eine mehr oder weniger klare Rollenverteilung gab. Die Kompositionen entstanden wie bei traditionellen Rock- und Popgruppen während des gemeinsamen Musizierens im Proberaum, welcher bei Kraftwerk das Kling Klang Studio war. Während von Hütter (ab dem Album Die Mensch-Maschine im Jahre 1978 auch von Bartos) vordergründig die Parameter Melodie und Harmonie geformt wurden, oblag Florian Schneider offenbar die klangliche Ausgestaltung: »Ich wusste […], dass Florian kein Komponist im traditionellen Sinn war. Er war nicht der Mann für Arrangements und Songstrukturen. Wenn man seine Kernkompetenz, die künstliche Sprache, einmal außen vor lässt, bestand sein Talent darin, Klänge oder Geräusche zu erzeugen. […]. Er hatte so eine Art ›Action Painting in Sound‹ drauf, womit er mich gelegentlich ziemlich verblüffte. Immer wenn es in einer Tonart geradeaus ging, war es Florian, der einen absolut unerwarteten Sound, verbunden mit einem akzeptablen Timing brachte.«418

416 417 418

Zit. n. Wolfgang Flür in Barr 1998, S. 92. Zit. n. Ralf Hütter im Interview mit Ingeborg Schober von 1976 im Musikexpress, http://kraft werk.technopop.com.br/interview_49.php (abgerufen am: 10.04.2009). Bartos 2017, S. 232 f.

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Das letzte mit »Morgenspaziergang« betitelte Stück von Autobahn basiert auf einer rhythmischen Variation der Melodie des Zwischenteils von »Autobahn«. Nach einer langen, aus Modulationseffekten bestehenden Einleitung des Synthesizers erfolgt die Melodie zunächst durch eine Altflöte.

Bsp. 6: Kraftwerk: »Morgenspaziergang«, Haupthema (Auszug)

Später baut sich dieses Thema durch eine zweite Flötenstimme, ein zitterähnliches Instrument sowie durch ein Klavier zu einem bis zu dreistimmigen Kanon aus, der schließlich ausgefadet wird. Die Verwendung dieser altertümlich anmutenden, kontrapunktischen Kompositionsform in Kombination eines nicht minder reaktionär erscheinenden Instrumentariums erweckt gerade vor dem Hintergrund des Synthesizer-Einsatzes den Eindruck, dass Kraftwerk nicht nur textlich die deutsche Schlagermusik karikiert, sondern dies auch auf mehr oder weniger subtile Weise in musikalischer Hinsicht mit diesem Stück getan haben. In der Konsequenz, ein so elektronisch dominiertes Album mit diesem musikalischen Statement zu beenden, schließen Kraftwerk hiermit aber auch eine Phase in ihrer Entwicklung ab, indem sie in Zukunft auf akustische Klangerzeuger verzichten. 4.1.4 Exkurs: Isao Tomita – Überfigur der subtraktiven Synthese Es darf an dieser Stelle nicht unberücksichtigt bleiben, dass Autobahn im gesamten Synthesizer-Kosmos allerdings keineswegs die Speerspitze klanglichen Schaffens darstellte: So genuin und herausragend die elektronische Textur im Bereich der Popmusik auch gewesen sein mag  – an Raffinesse bezüglich des produktionstechnischen Aufwandes als auch der klanglichen Ergebnisse sind die elektronischen Klassik-Adaptionen des Japaners Isao Tomita wohl nicht zu überbieten. Obgleich sich diese außerhalb des Popmusikkontextes bewegen, müssen sie dennoch einmal näher betrachtet werden, da sie in dieser Arbeit schon mehrfach als qualitative Referenz hinsichtlich des Sounddesigns herangezogen und darüber hinaus wie Autobahn im Jahre 1974 veröffentlicht worden sind: Generell stellen die Aufnahmen Tomitas in der Historie der Synthesizer-Musik ähnlich wie Switched-On Bach einen Meilenstein dar, demonstrieren sie doch auf dem Feld der

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4.1  Autobahn

subtraktiven Synthese eigentlich das bis heute technisch und musikalisch noch sinnvoll Machbare. Erstmals auf sich aufmerksam machte Tomita 1972 unter dem Pseudonym Electric Samurai mit der als Switched On Rock betitelten Veröffentlichung von elektronischen Adaptionen von Pop- und Rockkompositionen. Wie schon anhand des Titels des Albums ersichtlich, versuchte Tomita zunächst im Fahrwasser von Switched-On Bach am kommerziellen Erfolg elektronischer Klänge zu partizipieren. Im Gegensatz zu seinen auf gleichem Feld aktiven Mitstreitern wie beispielsweise Gershon Kingsley, dessen Klangfarben sich aus recht einfachen Modulschaltungen zusammensetzten, bestachen seine Adaptionen durch eigenständige Klänge, die mittlerweile in jeder Klangbibliothek unter seinem Namen firmieren. Als ein bekanntes, wenn auch einfaches Beispiel dafür gilt etwa der sogenannte »Tomita-Whistler«, welcher klangtechnisch auf weißem Rauschen besteht, welches durch einen selbstresonierenden Tiefpassfilter mit maximaler Resonanz moduliert wird. Die Eckfrequenz des Filters wird dabei durch das Keyboardtracking moduliert, so dass das Rauschen diatonisch über die Tastatur gespielt werden kann. Der Klang entspricht dabei dem menschlichen Pfeifen. Viele der auf Switched On Rock vernehmbaren Klangfarben dienten als Ausgangspunkt für seine aufwendig produzierten, ab 1974 veröffentlichten Adaptionen von Claude Debussy und Modest Mussorgsky. Als klangliche Basis diente ein Moog IIIP Modular-Synthesizer, der in ähnlicher Ausbaustufe auch bei Popol Vuh zum Einsatz kam. Dabei überzeugt vor allem der Klangfarbenreichtum, der sich aus artifiziellen, synthetischen Misch- und Spaltklängen zusammensetzte. Neben der Imitation von Streichern und Chören durch ein Mellotron, welches durch das Modularsystem bearbeitet wurde, machte Tomita exzessiven Gebrauch von Tonhöhen-, Filter- und Lautstärkenmodulation, wobei er dazu neben den LFOs des Moog-Systems häufig den höher angesiedelten Frequenzbereich der Audiooszillatoren verwendete, um metallische und perkussive Effekte zu erzeugen. Um lange Klangverläufe zu realisieren, benutzte er ferner Hüllkurven, die er mit einem Trigger-Delay versah, so dass sich auch innerhalb eines zunächst stehenden Klanggefüges das Spektrum nochmals ändern konnte. Das daraus resultierende Material wurde dann zu tiefschichtigen Klängen zusammengefügt, die bis dato in keiner Produktion zu vernehmen waren. Dies verdient umso mehr Beachtung, als dass schon die zur Realisierung eines einfach gehaltenen, lediglich aus einem Oszillator bestehenden gefilterten Klanges angesichts der modularen Bauweise des Moog-Systems nötige Schaltung bereits aus einer aus Tastatur, Oszillatortreiber, Oszillator, Filter, Mischer, Verstärker und ein bis zwei Hüllkurvengeneratoren bestehenden Modulkette bestand. Angesichts der Komplexität der Klänge ist davon auszugehen, dass in der Regel für nur einen seiner Sounds

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ein Vielfaches an Aufwand betrieben werden musste, was gleichfalls ein großes Vorstellungsvermögen sowohl hinsichtlich der Klangmöglichkeiten als auch deren technischen Realisation erforderte. Obwohl Tomita immerhin über eine 16-Spur-Bandmaschine verfügte, musste er dennoch teilweise über 100 Overdubs anfertigen, um seine angestrebte orchestrale Klangdichte zu erhalten.419 Dass sich die Klangwelt Tomitas qualitativ so sehr von der restlichen Synthesizer-Musik abhob, lag unter anderem daran, dass er in der Lage war, komplexe Modulschaltungen zu erstellen und diese trotz aller spektraler Modulationen dennoch zu einem stimmigen, im tonalen System verortbaren Gesamtklang zusammenzufügen. Allerdings fiel die klangliche Opulenz Tomitas in manchen Tutti-Passagen durch die Kombination aus synthetisierten Röhrenglocken, Streichern und Chören teilweise recht bombastisch und theatralisch aus, so dass man sich wie bei seiner Adaption der »Arabesque No. 1« von Debussy eher an Easy-ListeningBearbeitungen erinnert fühlte. Ferner ließ die Verwendung von übertriebenen Blubber- und Zirpgeräuschen im Kontext klassischer Kompositionen wie beispielsweise bei der Adaption von Mussorgskys »Ballett der unausgeschlüpften Küken« aus dem Klavier-Zyklus »Bilder einer Ausstellung« das musikalische Ergebnis zuweilen ins Lächerliche abgleiten. Neben diesen Kritikpunkten muss man Tomita allerdings zugestehen, dass er es dennoch verstand, seine Klänge feinfühlig und dynamisch abzumischen und diese durch die Einbettung in künstliche Hallräume mit einer großen, aber keineswegs plakativen Tiefe zu versehen. Neben dem großen elektronischen Klangfarbenreichtum bestachen die Produktionen Tomitas dann auch durch sehr realistische Imitationen von Chor- und Streicherklängen, die in dieser Qualität bis dato noch nicht zu hören waren. Seine aufwendige und kleinteilige Produktionsmethode – oft erfolgte die Einspielung Note für Note – setzte eine große Akribie voraus, die schon der Umgang mit dem Synthesizer ob seiner technischen Unzulänglichkeiten erforderte – sei es durch die mangelnde Stimmstabilität oder der lediglich monophonen Spielbarkeit –, so dass das Album einen Produktionszeitraum von 14 Monaten in Anspruch nahm,420 eine Zeitspanne, die aufgrund der hohen Kosten nur in einem eigenen Studio veranschlagbar war. Auch dies dürfte neben den unbestrittenen musikalisch-technischen Qualitäten Tomitas ein Grund für dessen Ausnahmestellung gewesen 419 420

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Tomita, Isao: Isao Tomita in einem Interview mit Mickey Yoshino in: ISAO TOMITA – ELECTRONIC SYMPHONIST, in: Keyboard Magazine 8/77, 1977, http://www.isaotomita.org/inter views/KEYBaug1977/1977int.htm (abgerufen am: 28.09.2018). Tomita gab an, dass er jeden Tag allein zwei bis drei Stunden dafür aufwenden musste, um die Oszillatoren seines Modularsystems zu stimmen. Tomita, Isao: Isao Tomita in einem Interview mit Mickey Yoshino in: ISAO TOMITA – ELECTRONIC SYMPHONIST, in: Keyboard Magazine 8/77, 1977, http://www.isaotomita.org/interviews/KEYBaug1977/1977int.htm (abgerufen am: 28.09.2018).

4.2  Radio-Aktivität

sein: Stellte schon die Anschaffung eines Modularsystems für viele Musikgruppen eine große finanzielle Barriere dar, wäre angesichts der oft bescheidenen Mittel, die den meisten Bands damals zur Verfügung standen, eine derart langwierige Produktion in einem gemieteten Studio niemals bezahlbar gewesen. Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, dass im Bereich der elektronischen Musik erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre durch autark im eigenen Studio arbeitende Synthesizer-Spezialisten wie Klaus Schulze oder Jean-Michel Jarre, welche sich in wahren Materialschlachten ergingen und stets das neueste verfügbare Equipment einsetzten, Produktionen entstanden, die an den klanglichen Variantenreichtum Tomitas heranreichen konnten. Es soll an dieser Stelle nicht der Versuch unternommen werden, klangliche Opulenz wie im Falle Tomitas zum ästhetischen Nonplusultra der elektronischen Musik zu erheben, an dem sich alle anderen Gruppen messen lassen müssen. Da es sich bei Tomitas Veröffentlichungen bis auf sehr wenige Ausnahmen um Vertonungen klassischer Musik handelt, wären da­­ rüber hinaus Vergleiche zum Gros der anderen auf dem Feld der elektronischen Musik erschienenen Tonträger sowieso hinfällig, da diese wenn überhaupt nur auf dem Feld der Klangfarbe vollzogen werden könnten und daher sämtliche anderen musikalischen Parameter wie beispielsweise Melodik oder Harmonik unberührt ließen. Die Musik Tomitas repräsentiert lediglich einen klanglichen Entwurf, der aufgrund des hohen produktionstechnischen Handwerksgrades in der Geschichte der elektronischen Musik einen essenziellen Platz einnimmt und infolgedessen auch in dieser Arbeit nicht fehlen darf. Dass elektronische Musik auch einen völlig konträren Ansatz verfolgen und sowohl kompositorisch als auch klangtechnisch gleichfalls mit einem minimalistischen Konzept einen festen Platz in der Musikgeschichte erobern konnte, bewiesen nicht zuletzt Kraftwerk mit ihren Alben ab Mitte der 1970er Jahre, beginnend mit Radio-Aktivität, welches Thema des folgenden Kapitels sein soll.

4.2  Radio-Aktivität

4.2.1 Einleitung und konzeptioneller Überbau Repräsentiert Autobahn den Wendepunkt im Schaffen Kraftwerks in Richtung Popmusik, fungiert das 1975 erschienene Album Radio-Aktivität infolge der erwähnten puristischen elektronischen Instrumentierung sowie der doppeldeutigen technischen Intention des Titels als Startrampe für das bis heute bekannte musikalisch sowie konzeptionell technikfokussierte Erscheinungsbild der Gruppe. Das Album wurde 1975 in der Besetzung Hütter, Schneider, Flür sowie dem

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schon auf der vorangegangenen USA-Tournee im Frühjahr desselben Jahres mitwirkenden Perkussionisten Karl Bartos (diese Besetzung sollte bis 1987 Bestand haben) unter der Mitarbeit der als Tonmeister beziehungsweise Techniker kreditierten Walter Quintus und Peter Bollig im Kling Klang Studio auf einer aus dem Hamburger Rüssl-Studio ausgeliehenen 8-Spur-Bandmaschine aufgenommen.421 Bollig studierte zum damaligen Zeitpunkt an der Fachhochschule Köln Nachrichtentechnik und kam durch seine Arbeit für Conny Plank – er hatte einen Phaser angefertigt – mit Hütter und Schneider in Kontakt. Während er im Laufe der nächsten Jahre diverse technische Sonderanfertigungen für Kraftwerk entwickelte, fungierte er auf Radio-Aktivität als Tontechniker.422 Peter Bollig dazu: »Ich habe mich ganz auf die Aufnahmetechnik konzentriert und aufgepasst, dass genug Pegel aufs Tonband kam, dass keine Brummschleifen entstanden und alle Signale sauber und klar waren«.423 Die thematische Bedeutung von Radio-Aktivität, die sich textuell in der Mehrzahl der Kompositionen424 widerspiegelt, sei nach Aussage von Wolfgang Flür auf die zahlreichen Interviews zurückzuführen, die Hütter und Schneider während der USA-Tour im Jahre 1975 in den Radiostationen gegeben hätten.425 Er selbst habe den Begriff das erste Mal auf dem Rückflug der USA-Tour 1975 gehört: »When we had been on the backflight [from the US to Germany], I heard Ralf and Emil speaking about ›Radioactivity is in the air for you and me‹.«426 Textlich behandelt das Album in aneinandergereihten Textbausteinen die besagte Ambiguität des Begriffs »Radioaktivität«, wobei sowohl verschiedene Themen der Radiotechnik als auch der Atomenergie behandelt werden. Dies erfolgt in der für Kraftwerk stereotypen fragmentarischen Weise, die abermals unterstreicht, dass es laut Karl Bartos bei den Texten eher um einen beschreibenden Ansatz ginge,427 so dass bezüglich der Analyse des Albums der Schwerpunkt klar auf der Musik liegt. Betrachtet man den textuellen Umgang mit dem Thema der Kernenergie, fällt auf, dass auf dem ganzen Album keinerlei kritische Positionen bezogen werden, womit sich Kraftwerk in den unkritisch affirmativen Fortschrittsglauben der 1960er und 1970er Jahre einreihten. Erst im Zuge der Friedens- respektive der Umweltbewe-

421 422 423 424 425 426 427

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Bartos 2017, S. 167. Ebd., S. 167 f. Zit. n. Peter Bollig in: Bartos 2017, S. 168. Dies betrifft die Titel »Radioland«, »Ätherwellen«, »Sendepause«, »Nachrichten«, »Antenne«, »Radio Sterne« und »Transistor«. Flür 1999, S. 119. Zit. n. Wolfgang Flür im Interview in der Kraftwerk-Dokumentation der schwedischen TV Sendung POP I FUKUS, 2001, http://www.youtube.com/watch?v=hTe2J8ceUJw&feature=related (abgerufen am: 18.04.2009). Bartos 1998b, S. 53.

4.2  Radio-Aktivität

gung in der Bundesrepublik sowie nuklearen Katastrophen wie in Harrisburg (1979) oder Tschernobyl (1986) oder aus neuerer Zeit Fukushima (2011) wurde beispielsweise beim Titelstück »Radio-Aktivität« der Text ab der ComputerweltTournee 1981 mehrfach zugunsten einer atomenergiekritischen Aussage geändert, welche auch auf dem auf dem 1991 veröffentlichten Album The Mix zu vernehmen ist.428 1975 antwortete Florian Schneider in einem Interview auf die Frage, was Kraftwerk mit ihrer Musik ausdrücken wollten, dass die Grundlage ihres Schaffens die Transformation von Alltagsgeräuschen in Musik wäre: »Wir versuchen, die Geräusche des täglichen Lebens in Musik umzusetzen. Für unsere Platte ›Autobahn‹ fuhren wir wochenlang über Autobahnen. Wir nahmen die Fahrtgeräusche auf und verarbeiteten sie in unserem Studio zu Musik. Ebenso entstand unsere neue LP ›Radioaktivität‹. Das Wort hat eine doppelte Bedeutung. Einmal ist es die Aktivität der Rundfunksender. Durch sie wurden wir berühmt. Zum anderen ist es die Atom-Energie in den Bomben und Kernkraftwerken.«429

Vor dem Hintergrund der klanglichen Ereignisse auf Autobahn ist diese Aussage mehr als fraglich. Die einzige Aufnahme von Autogeräuschen ist direkt am Anfang des Titelstücks zu verzeichnen, allerdings besteht sie lediglich aus dem Starten eines Motors sowie dem darauffolgenden Anfahren eines Autos – nach Aussage von Karl Bartos sei diese Aufnahme darüber hinaus sehr wahrscheinlich einer Schallplatte mit Hintergrundgeräuschen zum Vertonen von Filmen entnommen worden.430 Wochenlanges Herumfahren auf Autobahnen und daraus resultierende Aufnahmen spiegeln sich folglich in keiner Weise auf dem Album wider, vielmehr mag ihre Erwähnung wohl eher dazu dienen, Kraftwerk durch die vermeintliche Implementierung von Elementen der Musique concréte in einem kulturell hochstehenden Kontext zu stilisieren. Die Aussage bezüglich der musikalischen Verarbeitung von »Geräuschen des täglichen Lebens« ist in Verbindung zum Konzept von Radio-Aktivität aber höchst interessant, so man sie denn auf das Medium Radio überträgt. Neben der von Schneider zum Ausdruck 428

429 430

Zum Vergleich sind hier die beiden deutschen Strophen der Versionen von »Radio-Aktivität« aus den Jahren 1975 und 1991 gegenübergestellt: »Radio-Aktivität« (1975): »Radio-Aktivität. Für dich und mich im All entsteht. Radio-Aktivität. Strahlt Wellen zum Empfangsgerät. Radio Aktivität. Wenn’s um unsere Zukunft geht. »Radioaktivität« (1991): »Stoppe Radioaktivität. Weil’s um unsere Zukunft geht. Stoppe Radioaktivität. Für dich und mich im All entsteht. Strahlentod und Mutation. Durch die schnelle Kernfusion.« Bei Konzerten wurde ab 1992 noch eine mit einer synthetischen Stimme generierte Einleitung mit folgendem Text eingeführt: »Sellafield 2 will produce 7.5 tons of plutonium every year. 1.5 kilogram of plutonium make the nuclear bomb. Sellafield 2 will release the same amount of radioactivity into the environment as Chernobyl every 4,5 years. One of these radioactive substances, Krypton 85, will cause death and skin-cancer.« Vgl. Kap. 5.2. Schneider 1975, S. 11. Bartos 2017, S. 321.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

gebrachten Ambiguität des Begriffs lässt sich hinsichtlich der Konnationsmöglichkeit von Radiotechnik nämlich noch eine weitere Komponente ausmachen: Nicht nur die Distribution der Musik Kraftwerks durch den Äther und die damit einhergehende Popularisierung der Gruppe lässt sich unter der Bedeutung von »Radio-Aktivität« verstehen, auch die Rezeption und künstlerische Verwertung seitens Kraftwerk von durch das Radio ausgestrahlter Musik – insbesondere des Nachtprogramms des Westdeutschen Rundfunks – scheint ein Grund für die Wahl des Begriffs zu sein, was Ralf Hütter in einem Interview bestätigte: »We were boys listening to the late-night radio of electronic music coming from WDR in Köln, where there was one of the first electronic studios in the world. They played a lot of late night programms with strange sounds and noise. So it was like our dedication to the age of radio, and radiation at the same time, breaking the taboo of including everyday political themes into the music.«431

Bei genauerer Analyse der auf Radio-Aktivität enthaltenen Kompositionen drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass sich Kraftwerk nicht nur vom Programm des Westdeutschen Rundfunks inspirieren ließen, sondern mitunter Teile der Sendungen offensichtlich schlicht plagiiert haben könnten. Das fällt insofern ins Gewicht, als dass angesichts der Tatsache, dass Radio-Aktivität eine neue Qualität der Auseinandersetzung mit Phonetik respektive der Verarbeitung und dem Einsatz von Sprache offenbart, die nicht nur ein neues, bis heute repräsentatives Charakteristikum im Klangbild der Gruppe setzte, sondern ihr auch den Nimbus einer Pionierleistung im Bereich von synthetischer und vocoderisierter Sprache in der populären Musik einbrachte – der eigenständige Sound von Kraftwerk folglich nicht unbedingt ausschließlich auf die eigene künstlerische Leistung zurückzuführen ist, sondern evidente Anleihen externer Quellen in sich trägt. Vor allem trifft das auf einige der experimentellen Kompositionen zu (allen voran »Die Stimme der Energie« und »Nachrichten«), die mehr als die Hälfte der Titel des Albums ausmachen, allerdings meist nur als kurz gehaltene, das Konzept des Albums verdeutlichende Intermezzi zwischen den längeren, Pop-orientierten Stücken fungieren. Dennoch sind gerade sie es, in denen die Verfremdung von Sprache eine große Rolle spielt.

431

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Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Beacon Radio, Manchester 14.06.1981, http://kraftwerk. technopop.com.br/interview_122.php (abgerufen am: 14.05.2009).

4.2  Radio-Aktivität

4.2.2 Musikalische Analyse – Komposition, Sound und synthetische Sprache Im Vergleich zu Autobahn sticht neben den wieder experimenteller ausgefallenen Kompositionen – Karl Bartos etwa bezeichnete das Album als »ein in zwölf Episoden unterteiltes avantgardistisches dramatisches Radio-Hörspiel«432 – vor allem der sprödere und düstere, aber auch transparentere Sound ins Auge, welcher nach Ansicht von Bartos auf die maximale Verfügbarkeit von lediglich acht Spuren zurückzuführen ist.433 Da die Kompositionen hinsichtlich Melodik und Harmonik im Vergleich zum Vorgängeralbum wenig Neues zu bieten haben, lohnt vor allem eine Vertiefung der produktionstechnischen Komponente. Hier sticht  – neben dem vor allem durch die Implementierung eines Votrax-Sprachsynthesizers hervorgerufenen phonetischen Schwerpunkt – die Art der Verwendung der elektronischen Klangerzeuger heraus: So wird der klangliche Charakter des Albums in fast jedem Stück durch die Verwendung von dem Klang nach zu urteilen mit dem EMS Synthi A und dem vor der USA-Tournee gekauften ARP Odyssey realisierten Modulationseffekten aller Art angereichert und manchmal auch diktiert (»Radio Sterne«). Es handelt sich hierbei um starke, durch unterschiedlich schnelle, manchmal bis in den hohen Audiobereich hineinragende Filterfrequenzmodulationen mit maximalen Resonanzwerten,434 deren Gestaltung vornehmlich auf die Handschrift Florian Schneiders zurückzuführen ist.435 Ein anderer klanglicher Aspekt ist die Generierung polyphoner Klangtexturen durch das während der USA-Tournee gekaufte Orchestron der Firma Vaco. Hierbei handelt es sich um ein auf Lichttonscheiben basierendes Instrument, das dem Mellotron ähnliche Streicher- und Chorklänge generieren konnte. Obwohl durch die Kombination aus der »Special Effect Decay«-Einstellung des Farfisa Pianos und einem Phaser bereits auf Autobahn Klänge erzeugt wurden, die ob der Modulation der Filterfrequenz eine starke Ähnlichkeit mit polyphonen Synthesizern aufweisen, setzen Kraftwerk dieses Gerät nicht nur auf Radio-Aktivität, sondern auch auf Trans Europa Express als bewusstes Stilmittel ein – trotz der Tatsache, dass diese Art von Klängen in Form von String-Ensembles in der damaligen Zeit eben genau aufgrund jener Ermangelung polyphoner Synthesizer von nahezu allen Bands eingesetzt wurden und damit eher wenig innovativ wirken. 432 Bartos 2017, S. 181. 433 Ebd. 434 Diese Art von an Laserkanonen in Science-Fiction-Filmen erinnernden Klangeffekten erfreuten

435

sich schon auf dem 1971 erschienenen Album Alpha Centauri der Gruppe Tangerine Dream großer Beliebtheit – auch Jean-Michel Jarre verwendete den EMS Synthi A oft auf diese Weise auf seinem 1976 erschienenen Album Oxygène. Bartos 2017, S. 175.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Betrachtet man das Album aus der die Struktur betreffenden Warte, kristallisiert sich folgende programmatische Dualität heraus: Zum einen gibt es die bereits erwähnten experimentellen Kompositionen, deren Substanz sich mehr aus der Verfremdung von Sprache als aus musikalischen Kriterien wie Harmonien oder Melodien zusammensetzt (»Sendepause«, »Nachrichten«, »Die Stimme der Energie« und »Uran«  – das Stück »Radio Sterne« muss hierbei gesondert betrachtet werden). Zum anderen führen die verbleibenden Kompositionen die popmusikalischen Strukturen von Autobahn nicht nur fort, sondern erweitern sie teilweise hinsichtlich einer radiotauglicheren Länge und der Einteilung in Strophe und Refrain. Unterstützt wird dieser Ansatz durch den häufigen Einsatz von Sprache, die im Zuge des internationalen Erfolges von Autobahn abwechselnd in Deutsch und Englisch oder umgekehrt erfolgt.436 Angesichts der Tatsache, dass auf dem Feld der Popmusik der US-amerikanische Markt der wichtigste war, auf dem mit ausschließlich deutscher Sprache dauerhaft zu bestehen wohl nur schwer möglich gewesen sein dürfte, stellt Tim Barr die Vermutung auf, dass neben dem Eindruck, den der dreimonatige Aufenthalt im englischen Sprachraum während der USA-Tour hinterlassen haben dürfte, der Einfluss Ira Blackers für die Entscheidung, auf Englisch zu singen, von Bedeutung gewesen sein muss.437 Dass der Text zweisprachig eingesungen wurde, wertet Barr als Kompromiss zwischen Blackers kommerziellem Instinkt und der Wahrung der kulturellen Interessen Kraftwerks.438 Ab dem Album Trans Europa Express im Jahre 1977 gab es eine im Ausland erhältliche Version, die komplett ins Englische übersetzte Texte sowie englische Titel enthielt. Diese Multilingualität wurde ab dem 1978 veröffentlichten Album Die Mensch-Maschine auf allen weiteren Alben durch das Verwenden von in Sprachen wie Russisch, Italienisch, Spanisch, Französisch und Japanisch gehaltenen Textbausteinen stetig erweitert, die aber auch in der internationalen Variante beibehalten wurden, so dass hierfür nur noch rein deutsche Texte ins Englische übersetzt wurden. Darüber hinaus gab es von einigen Stücken zusätzliche Versionen, bei denen abhängig vom Erscheinungsland einige Titel in der jeweiligen Landessprache gesungen wurden. Im Folgenden sollen die Stücke von Radio-Aktivität einer Analyse unterzogen werden: Das Titelstück »Radio-Aktivität«, dem das Stück »Geigerzähler« als rhythmische Einleitung vorgelagert ist, beginnt mit einem eingeblendeten Basspattern aus 16tel-Noten sowie einem durch das Orchestron gespielten a-Moll-

436

Darüber hinaus gab es erstmals eine internationale Version eines Kraftwerk-Albums. Diese mit Radio-Activity betitelte Version war mit dem deutschen Pendant allerdings musikalisch identisch. 437 Barr 1998, S. 101. 438 Ebd.

174

4.2  Radio-Aktivität

Dreiklang. Die Rhythmisierung der Basssequenz wurde durch den dritten Oszillator des Minimoogs erzeugt, welcher mit einer niederfrequent schwingenden Sägezahnwelle die Filtereckfrequenz moduliert und so für eine maschinelle Präzision sorgt, die sonst nur mit einem Sequenzer zu realisieren gewesen wäre. Nach Aussage von Karl Bartos wurde diese Spur als erste aufgenommen und diente damit als metrumgebende Basis für alle weiteren Overdubs.439 Der darüber applizierte Morse-Code entspricht der Wiederholung des Wortes »Radioaktivität«. Das zentrale musikalische Thema des Stückes besteht aus dem Wechselspiel einer perkussiven Synthesizer-Melodie und der Gesangsstimme, die fragmentarisch auf dieser Melodie basiert. Es handelt sich dabei wie bereits erwähnt um eines der typischen Kompositionsmerkmale Kraftwerks, dessen Textur im Kern zum ersten Mal im Stück »Kristallo« wahrzunehmen ist, auf »Radio-Aktivität« aber endgültig von jeglichen, durch die E-Gitarre geprägten Rockidiomen befreit ist: Auch wenn sich schon bei »Kristallo« weder Blue Notes fanden, noch hinsichtlich der Phrasierung oder der Artikulation eine Anlehnung an das typische RockGitarrenspiel wie beispielsweise der Verwendung von Ton-Bendings vorhanden war, wird hier das Tonmaterial nicht mehr improvisatorisch verarbeitet oder umspielt, wie es noch auf Ralf und Florian der Fall war. Das Synthesizer-Riff steht hier in seiner Simplizität, aber auch seiner Prägnanz für sich allein und bestätigt den auf »Autobahn« eingeschlagenen Kurs in Richtung einer elektronischen Popmusik fernab jeglicher Einflüsse von E-Gitarren-dominierter Rockmusik.

Bsp. 7: Kraftwerk: »Radio-Aktivität«, Synthesizer-Motiv (Auszug)

Diesem abwechselnd auf a-Moll und harmonisch angepasst auf F-Dur erscheinenden Thema wird zusätzlich am Anfang jeweils ein langsam modulierter White-Noise-Klang hinzugefügt, der wiederum mit Beginn des Drumpatterns durch den mit der Melodie korrespondierenden Gesang ersetzt wird. Wie schon bei »Autobahn« bewegt sich die Gesangslinie abermals nur in einem geringen Ambitus. Das zweiteilige, aus einer Wiederholung bestehende Motiv schließt jeweils mit einer harmonischen Modulation nach C-Dur ab, die über G-Dur zurück zum Thema führt. 439

Bartos 2017, S. 173 f.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Das sich anschließende Stück »Radioland« basiert auf einem sich harmonisch zwischen D-Dur und h-Moll bewegenden, ostinaten Streicherklangthema, welches rhythmisch durch ein Pattern aus abwechselnden Bass- und Bassdrum-Tönen sowie einer durchlaufenden Achtelnoten-Hi-Hat-Figur untermalt wird. Nach dem diatonisch abwärtslaufenden, sich abwechselnden Gesang von Hütter und Schneider erfolgt der Refrain in Form von polyphonen synthetischen, dem Streicherostinato entsprechenden Stimmen, die mit einem F#-Dur-Akkord abschließen. Trotz der gleichbleibenden Harmonie innerhalb der Gesangsteile entsteht durch deren sich anschließende Wiederholung eine aus Strophe und Refrain bestehende formale Struktur. Besonders erwähnenswert ist die klangliche Realisierung des Refrains: Während der Vocoder in der Popularmusik bereits – wenn auch nur geringfügig – Eingang gefunden hatte, war die Verwendung von synthetischer Sprache ein Novum, welches fortan ein Charakteristikum der Gruppe bildete und daher einmal näher betrachtet werden soll. Als Klangquelle diente hierbei ein Gerät der amerikanischen Firma Votrax International, die unter Federführung des französisch-kanadischen Computerexperten Richard T. Gagnon im Jahre 1972 den ersten, mit »Votrax VS-4« benannten Text-to-Speech-Sprachsynthesizer auf den Markt brachte, bei dem mittels einer speziellen Tastatur eingegebene Phoneme zu synthetisierten Lauten zusammengesetzt werden konnten.440 Angeblich wurde Florian Schneider von einem Ingenieur der Firma Siemens auf den Votrax aufmerksam gemacht441 und traf sich nach Aussage von Karl Bartos während Kraftwerks USA-Tournee 1975 mit Gagnon in Detroit, um einen Votrax VS-6 zu erwerben. Die Besonderheit dieses Gerätes im Vergleich zu den übrigen Votrax-Sprachsynthesizern war, dass es nicht aus in Epoxitharz gegossenen Platinen bestand, sondern über einen externen Audio-Eingang verfügte, den man wie bei einem Vocoder mit einem TrägerSignal speisen konnte, um die Phoneme sowohl klangspektral als auch in der Tonhöhe zu modulieren.442 Dadurch, dass das Synthesesignal im Gegensatz zur konventionellen Vocoder-Anwendung anstatt aus menschlicher aus synthetisch generierter Sprache bestand, erhielt das klangliche Ergebnis doch einen völlig eigenständigen Charakter, als dass dies bei den bis dato erfolgten Vocoder-Einsät-

440 441

442

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National Museum of American History: VOTRAX INTERNATIONAL, INC., https://amhis tory.si.edu/archives/speechsynthesis/ss_votr.htm (abgerufen am: 12.02.2021). Tomkins 2010, S. 185. Es liegt allerdings nahe, dass es sich dabei nicht um einen Siemens-Ingenieur handelte, sondern vielmehr der Hinweis von Peter Leunig und Karl Obermayr kam, die mit Aufnahmen des Siemens-Vocoders im Studio von Conny Plank mit Florian Schneider in Kontakt kamen. Da sowohl Leunig als auch Obermayr mittlerweile verstorben sind, lässt sich dies aber nicht verifizieren. Bartos 2017, S. 176.

4.2  Radio-Aktivität

zen bei »Ananas-Symphonie« und »Autobahn« der Fall war.443 Wie anhand eines Mitschnitts eines Konzertes Kraftwerks während ihrer England-Tournee 1975 zu hören ist, fand der Votrax bereits vor der Veröffentlichung von Radio-Aktivität Verwendung. So arbeitete Florian Schneider live mit dem Gerät, in dem er langsam abgespielte Phoneme eingab, die den Text »Die Sonne, der Mond, die Sterne« ergaben, welche durch Ralf Hütters Vako Orchestron moduliert wurden. Der Votrax war fortan auch häufiger Gegenstand von mit Kraftwerk geführten Interviews, da es zur damaligen Zeit keine andere Popgruppe gab, die mit dieser Technologie operierte. So äußerten sich Ralf Hütter und Florian Schneider in einem Interview mit dem Musikexpress: Ralf Hütter: ›Auf den Lichttonplatten verwende ich nur menschliche Stimmen, manchmal Geigen … nicht mehr wie früher rein instrumentale Musik, sondern vorher aufgenommene Stimmen, Sprache, Wort, Poesie und diese sprechende Schreibmaschine.‹ Musik Express: ›Ist das diese Monsterstimme, die euch auch ankündigt?‹ Ralf Hütter: ›Ja, das ist eine völlig künstliche Stimme, eine sprechende Maschine …‹ Florian Schneider: ›Ein Sprachcomputer. Wenn du auf ›a‹ drückst, dann sagt der ›a‹. Die Tastatur ist erweitert, also neben den Druckbuchstaben kannst du auch Zwischenlaute formen, heller, tiefer usw.‹444

Da der Votrax hinsichtlich des Umgangs mit Sprache auf diesem Album eine für die Gruppe richtungsweisende Position bekleidet, sollen im Folgenden unabhängig von der chronologischen Reihenfolge der auf Radio-Aktivität enthaltenen Stücke nun zunächst die Kompositionen untersucht werden, bei welchen phonetische Experimente – sei es nun durch die Verwendung des Votrax oder nicht –

443 444

Auf Basis eines Votrax-Chips entwickelte Florian Schneider mit Gert Joachim Ott und Gert Jalass zusammen das während der Aufnahmen des im Jahre 1991 veröffentlichten Albums The Mix erstmals zum Einsatz gekommene Robovox-System. Vgl. Kap. 5.2. Zit. n. Ralf Hütter und Florian Schneider in einem Interview mit Ingeborg Schober von 1976 im Musikexpress, http://kraftwerk.technopop.com.br/interview_49.php (abgerufen am: 10.04.2009). Neben der Erwähnung der singenden Schreibmaschine, also dem Votrax, begegnet man hier abermals der typischen Informationspolitik Kraftwerks hinsichtlich der gezielten Streuung von Mythen: Die Erwähnung der Lichttonplatten bezieht sich auf das Vako Orchestron  – dadurch, dass Hütter in den Raum stellt, dass das zugrunde liegende Audiomaterial aus vorher (selbst) aufgenommenen Stimmen bestünde, erweckt er den Eindruck, Kraftwerk hätten mit dem Vako Orchestron die Möglichkeit gehabt, ihr eigenes Audiomaterial zu verwenden, was aus heutiger Sicht bedeutet hätte, die Sampling-Technologie vorweggenommen zu haben. Allerdings bestand zu keiner Zeit die Möglichkeit, die Lichttonplatten mit eigenem Material zu bespielen. Man konnte lediglich auf vorgefertigte Platten der Firma Vako zurückgreifen und diese austauschen. Vielmehr benutzten Kraftwerk für das Abspielen eigener, zuvor angefertigter Aufnahmen wie etwa die im Interview angesprochene, mit dem Votrax erzeugte Ansage der Gruppe als auch die mit dem Siemens-Vocoder erzeugte Bearbeitung des »Prologs im Himmel« von Johann Wolfgang von Goethe ein Tonbandgerät.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

thematisch im Vordergrund stehen. Neben »Radioland« sind dies zum einen die aufeinanderfolgenden Stücke »Nachrichten« und »Die Stimme der Energie«, die interessanterweise beide starke Bezüge zu Klangbeispielen aus dem Nachlass Werner Meyer-Epplers aufweisen, welcher von 1957 bis zu seinem Tod 1960 die Professur für Phonetik und Kommunikationsforschung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn innehatte. So besteht das Stück »Nachrichten« – eingeleitet von einer Art akustischen Readymades in Form eines kurzen musikalischen Trailers sowie einer sich anschließenden Sequenz kurzer Pieptöne, wie sie häufig vor zur vollen Stunde gesendeten Radionachrichten zu hören sind  – aus verschiedenen, teilweise fiktiven445 Nachrichtenbeiträgen deutscher Radiosender446 über die Thematik der Atomkraft, die durch eine Bandpassfilterung in verschiedene über das Frequenzspektrum verteilte Frequenzen sukzessiv übereinandergeschichtet werden. Das Stück trägt dabei evidente Anleihen an ein mit »gefilterter Sprache« betiteltes Tonbandbeispiel zu einem Vortrag zur synthetischen Sprache von Werner Meyer-Eppler447 aus dem Jahre 1949 in sich, in dem der Satz »Es kann der beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt« ebenfalls in verschiedene Frequenzbänder zerlegt wird, die zwar nicht übereinandergeschichtet, allerdings hintereinander abgespielt werden. In dem sich anschließenden Stück »Die Stimme der Energie« werden die Reminiszenzen an Meyer-Eppler unüberhörbar. Als Vorbild dient dabei ein signifikanterweise gleichfalls mit »Die Stimme der Energie« betiteltes Tonbeispiel zum Vocoder, welches wie »gefilterte Sprache« ebenfalls auf den Tonbändern zur synthetischen Sprache aus dem Jahre 1949 enthalten ist. Es handelt sich dabei um einen Text,448 der von einer menschlichen Stimme gesprochen wird, welche durch einen Vocoder mittels eines Trägersignals mit konstanter Tonhöhe verfremdet wird. Da das Institut in Bonn zu Beginn der 1950er Jahre noch über keinen Vocoder verfügte, ließ man sich von diversen amerikanischen Instituten, vor allem von den Bell-Laboratories in New York Informationen über die Entwicklungen auf dem Feld der synthetischen Sprache als auch diesbezügliche Klangbeispiele zukommen.449 Da in »Die Stimme der Energie« das vocoderisierte Klangmaterial, 445

Die erste Nachricht – als Nachricht des Westdeutschen Rundfunks deklariert – ist angesichts der starken stimmlichen Ähnlichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit von Ralf Hütter gesprochen. 446 Beispielsweise Westdeutscher Rundfunk, Bayerischer Rundfunk, Radio Bremen, Deutsche Welle 2 etc. 447 Ungeheuer 1992, S. 98 f. 448 Der Text lautet wie folgt: »This is the Voice of Power. I make it possible for you to have electric light and radio and television. This is a giant generator speaking. I am both your servant and your master. So beware of how you use me. This is the Genie of Power.« Dem digitalisierten, undatierten Tonband 1 zum Vortrag »Synthetische Sprache« entnommene Abschrift aus dem Nachlass von Werner Meyer-Eppler. Die Autorschaft des Textes ist ungeklärt. 449 Ungeheuer 1992, S. 25.

178

4.2  Radio-Aktivität

obgleich mit einem deutschen Titel versehen, deutlich hörbar von einem USamerikanischen Sprecher aufgenommen worden ist, kann man davon ausgehen, dass dieses Beispiel, obwohl aus dem Nachlass Meyer-Epplers stammend, einem der angefragten amerikanischen Forschungsanstalten zuzuordnen ist. Auch Kraftwerk verwenden bei ihrer Version einen ähnlich gearteten Text,450 der wie beim Ursprungstonbeispiel durch einen Vocoder mit ebenfalls einem Trägersignal mit konstanter Tonhöhe moduliert wird, so dass man die mit Hütter, Schneider und Schult deklarierte Autorschaft offen infrage stellen muss; zu offensichtlich handelt es sich dabei um ein Plagiat. Ob es für Kraftwerk schlicht nicht möglich war, angesichts des frühen Todes Werner Meyer-Epplers 1960, also 15 Jahre vor Erscheinen des Albums, die genaue Autorschaft zu ermitteln, oder ob sie eben genau aus diesem Grunde glaubten, dass Meyer-Eppler bereits so in Vergessenheit geraten sei, dass das Verschweigen seines Namens keinerlei urheberechtlichen Probleme nach sich ziehen würde, kann hier nicht beantwortet werden. Florian Schneider zumindest bestätigte in einem späteren Interview, dass es sich bei dem Stück um eine Kopie handelte: »We pretty much copied the demonstration of the Bell Vocoder and did the whole thing in the German version […].«451 Das Vorgehen hinsichtlich des Verschweigens von Autorschaft reiht sich allerdings, ähnlich wie der Umgang mit Conny Plank, erneut in eine eher zweifelhafte Urheberschaftspolitik ein, welche sich wie ein roter Faden durch die Geschichte Kraftwerks zu ziehen scheint und ab den 1980er Jahren noch kontroverser ausfallen sollte: In dem Maße, wie sich Kraftwerk unter der Federführung Ralf Hütters fremde Ideen zu eigen machte, ohne die eigentlichen Urheber anzugeben, überzog die Gruppe jeden, der sich – in welcher Art und Weise auch immer  – an ihrem geistigen Eigentum zu bedienen versuchte, mit juristischen Prozessen. Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass es sich bei der Musik Kraftwerks um ein plagiiertes Sammelsurium der Musik des 20. Jahrhunderts handele, dafür sind die nicht kreditierten Fremdanteile im Vergleich zum gesamten Œuvre viel zu gering. Sie sind dennoch ersichtlich und mitunter wie im Falle des Albums Radio-Aktivität stilbildend. Sicherlich muss man Kraftwerk zugutehalten, dass sie klanglich sperrige Elemente, wie sie eben in den Tonbeispielen 450

451

In der englischen Übersetzung des deutschen Textes von Kraftwerk heißt es: »This is the Voice of Energy. I am a giant electrical generator. I supply you with light and power. And I enable you to receive speech, music and image through the ether. I am your servant and lord at the same time. Therefore guard me well. Me, the Genius of Energy.« Der deutsche Originaltext des Stückes lautet: »Hier spricht die Stimme der Energie. Ich bin ein riesiger elektrischer Generator. Ich liefere Ihnen Licht und Kraft und ermögliche es Ihnen, Sprache, Musik und Bild durch den Äther auszusenden und zu empfangen. Ich bin Ihr Diener und Ihr Herr zugleich. Deshalb hütet mich gut. Mich, den Genius der Energie.« Zit. n. Florian Schneider in: Tomkins 2010, S. 196.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Meyer-Epplers zu finden waren, als erste in ein übergeordnetes popmusikalisches Konzept eingebunden und damit synthetischer oder vocoderisierter Sprache den Weg in die Popmusik geebnet haben. Allerdings erhält angesichts dieser evidenten Anleihen der zum Teil auch selbst evozierte Kraftwerk’sche Mythos, dass diese phonetischen Elemente und damit für den weiteren Verlauf der Geschichte der Gruppe zentrale künstlerische Programmatik auf die eigene Genuität zurückzuführen sind, einen etwas schalen Beigeschmack. Die anderen ebenfalls auf der Verwendung des Votrax basierenden Stücke »Radio Sterne« und »Uran« knüpfen teilweise an die bis dato analysierten Klangmuster des Albums an. »Radio Sterne« etwa basiert rhythmisch auf einem durchlaufenden, durch einen ansteigenden Sägezahn modulierten Klangeffekt – tonal manifestiert es sich infolge der Tonwiederholungen am Ende des Gesangs auf F#. Der folgende Votrax-Einsatz, welcher aus formalen Gesichtspunkten infolge der immer wiederkehrenden Ablösung durch die Gesangsrepetition der StropheRefrain-Struktur von »Radioland« sehr ähnlich ist, moduliert über dieses F#Ostinato von einem mit der Quarte und der kleinen Septime angereicherten c#Moll-Akkord über einen F#-Dur-Akkord zu einem mit der Sexte versehenen C#-Dur-Akkord, welcher in der weiteren Folge immer klusterhafter mit Optionstönen angereichert wird und dann durch einen anschwellenden c#-MollAkkord des »Orchestron« schließlich in »Uran« übergeht. »Uran«, das Stück, in dem nach Aussage Florian Schneiders der Votrax in der Tat das erste Mal zum Einsatz kam,452 ist sehr einfach gehalten und besteht lediglich aus besagtem c#-Moll-Akkord, welcher sukzessiv durch die Addition akkordimmanenter Töne in höheren Lagen verdichtet und bis zum Ende des Stückes ausgehalten wird. Darüber wird ein mit dem Votrax generierter, zuerst in Englisch dann in Deutsch erfolgender Text appliziert. Da die synthetische Stimme zwar die durch die Konstruktion des Votrax bedingte unrhythmische Aneinanderreihung der einzelnen Phoneme aufweist, allerdings die typischen stimmhaften Vokale des Gerätes vermissen lässt, ist anzunehmen, dass als Träger-Signal des Votrax weißes Rauschen eingesetzt wurde. Auch hier stand möglicherweise die Arbeit Meyer-Epplers Pate, da die Verwendung von weißem Rauschen als Trägersignal auf dem ebenfalls auf Meyer-Epplers Tonbeispielen enthaltenen, mit »Elektrolarynx« betitelten Stück zu vernehmen ist. Widmet man sich nun den verbleibenden, wesentlich poppigeren Kompositionen, sticht ins Auge, dass diese die strukturelle Konzeption des Titelstückes »Radio-Aktivität« fortführen. So basiert das Stück »Ätherwellen« ebenfalls auf

452

180

Zit. n. Florian Schneider in: Tomkins 2010, S. 185 f.

4.2  Radio-Aktivität

einem Wechselspiel zwischen einer Synthesizer-Melodie und dem Gesang. Harmonisch basiert dieses Stück auf C-Dur und Eb-Dur, wobei die Melodien sich an der mixolydischen Skala orientieren und manchmal auch zweistimmig im Terz­ abstand erfolgen, was ihnen einen etwas süßlichen Charakter verleiht. Die sich an den Gesang anschließende, mit durch Vibrato und Glissando an ein Theremin erinnernde Klänge realisierende, mehrstimmige Improvisation ist wie schon auf »Autobahn« minimalistisch gehalten und fungiert eher als Weiterführung des Themas. Erwähnenswert ist bei diesem Stück in studiotechnischer Hinsicht, dass hier zum ersten Mal ein mit »elektrische Flöte« bezeichneter, von Peter Bollig für Florian Schneider gebauter Synthesizer-Controller zum Einsatz kam.453 Hierbei handelte es sich um ein an einen Schwanenhalsmikrofonständer montiertes Plexiglasrohr, dessen Funktionsweise hinsichtlich der Spieltechnik einer Querflöte nachempfunden war. Dabei wurden unter den Grifflöchern elektrische Kontakte montiert, die die Griffe in eine Pitch- und Gate-Steuerspannung umwandeln konnten, um einen Synthesizer anzusteuern  – im Falle von »Ätherwellen« war dies der ARP Odyssey. Obwohl dieser Controller nicht die klangkonzeptuelle Tragweite der selbst entwickelten Drumpads hatte – er diente lediglich als Sub­ stitut einer Synthesizer-Tastatur und war daher wohl eher in performativer Hinsicht von Bedeutung, denn als Erweiterung des Klangspektrums454 –, symbolisierte er dennoch den großen technischen Innovationsgeist der Gruppe in den 1970er Jahren, einer Zeit, in der elektronische Klangerzeugung in der Popmusik und deren Präsentation im Live-Kontext immer noch mit Vorbehalten betrachtet wurde. Vor allem vor dem Hintergrund der mangelnden Akzeptanz durch das Publikum entwickelte die Gruppe ausgehend von Florian Schneider und Wolfgang Flür verschiedene Ideen,455 um die visuelle Attraktivität zu steigern. Neben dem zur Computerwelt-Tour gegen Ende der 1970er Jahre von Flür vorgenommenen Umbau des Kling Klang Studios, welches fortan V-förmig und neonbeleuchtet auf die Bühne transferiert werden konnte, sowie der Implementierung von zur Musik synchronisierten Videoeinspielungen durch die erste Generation von Röhrenprojektoren mit Reflexbildschirmen der japanischen Firma Sony456 ist als weiterer in etwa zeitgleich zu Radio-Aktivität entwickelter Controller der sogenannte »Käfig« zu nennen, dessen Konzept auf Wolfgang Flür zurückging,

453 454 455 456

Bartos 2017, S. 177. Dieses Instrument wurde von Florian Schneider u. a. bei einer TV-Show im Jahre 1978 im deutschen Fernsehen eingesetzt. https://www.youtube.com/watch?v=wHEoMpMvz7A (abgerufen am: 02.02.2021). Flür 1999, S. 127 ff. Ebd., S. 182 f.

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während die technische Umsetzung des Ganzen durch Peter Bollig erfolgte.457 Dieser Schlagzeug-Controller bestand aus einem aus dünnen Metallrohren zusammengesetzten Kubus, an dessen Seiten sechs fotoelektrische Zellen montiert wurden, die im Falle einer Kontaktunterbrechung einen Triggerimpuls auslösten. Dadurch war es möglich, im Gegensatz zu den Drumpads ohne physischen Kontakt durch pure Handbewegungen einzelne Drumsounds zu spielen. Das Gerät wurde allerdings nur während der Konzerte im Jahre 1975 eingesetzt, da bedingt durch die Einstreuung des Bühnenlichts die Lichtschranken nur sehr unzuverlässig funktionierten. Dennoch bestätigen diese Anfertigungen einmal mehr die Aussage Klaus Röders, dass bezüglich der oft proklamierten Position Kraftwerks als musiktechnologische Innovatoren das eigentliche Know-how aus dem Umfeld der Gruppe kam. Wie erwähnt waren diese Controller primär nur im Kontext der Bühnensituation von Bedeutung, als dass sie eine klangliche Bereicherung während der Aufnahmen zu Radio-Aktivität dargestellt hätten. Darüber hinaus hätten die klavierspieltechnischen Fähigkeiten Florian Schneiders sicherlich auch ausgereicht, um etwa die Melodie von »Ätherwellen« auf der Tastatur des Synthesizers einzuspielen – so dies bei der Aufnahme nicht sogar erfolgte. Kehrt man nun zu eben diesem Stück zurück, ist neben diesem technischen Unikum noch die Beschaffenheit des Drumpattern zu erwähnen, welche aus einem weitgehend Break-losen, an das Motorik-Konzept erinnernden Ostinato besteht. Dieser Minimalismus steht wie schon bei den vorangegangenen Alben repräsentativ für die bewusste Abkehr des zeitgleich auf angloamerikanischen Produktionen zu hörenden, oft solistisch orientierten Schlagzeugspiels und diente vielmehr der rhythmischen Strukturierung der elektronischen Klänge. Karl Bartos äußerte sich bezüglich der Radio-Aktivität zugrunde liegenden klanglichen Konzeption wie folgt: »Das wichtigste Mittel der Gestaltung ist die originäre Tonerzeugung der Sprachsynthese in Verbindung mit den Violinen- und Choraufnahmen des Orchestrons und den synthetischen Klängen der Synthesizer. Das Schlagzeug hat in diesem Kontext lediglich eine ordnende Funktion, gleichwohl erfüllt es durch seine Klangerzeugung die Definition elektronischer Musik.«458

Flür und Bartos mussten sich dabei offenbar der Diktion seitens Hütters und Schneiders unterwerfen: »Es gab zum Beispiel keine Off-Beats, und wenn ich Off-Beats spielte, dann irritierte sie [Hütter und Schneider] das ziemlich.«459 457 458 459

182

Ebd., S. 133 f. Bartos 2017, S. 181. Zit. n. Karl Bartos in: Bussy 1995, S. 39 f.

4.2  Radio-Aktivität

Das Resultat dieser Vorgabe ist daher auch beim klanglich verwandten Stück »Antenne« wahrzunehmen. Im Zusammenklang mit dem 16tel-Noten-Pattern des Basses, welches wie schon bei vielen Stücken auf Autobahn in Oktavsprüngen erfolgt, stellt sich trotz manueller Einspielung ein erstaunlich präziser Höreindruck ein. Thematisch besteht das Stück ebenfalls aus dem Wechselspiel von Gesang und Synthesizer – letzterer allerdings in Form der sich durch das Album durchziehenden Modulationseffekte Florian Schneiders. Was ferner »Ätherwellen« und »Antenne« verbindet, sind die etwas trivial anmutenden, in Terzabständen erfolgenden zweistimmigen Gesänge, die hier allerdings letztmalig in der Geschichte Kraftwerks zu vernehmen sind. Auf den nachfolgenden Alben wurde jegliche vokale Polyphonie durch den Vocoder erzeugt. Die beiden letzten Stücke des Albums »Transistor« und »Ohm Sweet Ohm« bestehen in erster Linie aus Synthesizer-Improvisationen: Während bei »Transistor« ähnlich wie bei »Ätherwellen« sich die Improvisation auf einer mixolydischen Skala bewegt, entwickelt sich ihr Pendant bei »Ohm Sweet Ohm« aus einer 8-taktigen Melodie, welche auf einer in Ab-Dur stehenden kadenzartigen Harmoniefolge basiert. Neben den Kraftwerk-typischen Motorik-Mustern findet sich hier eine schon von den ersten Kraftwerk-Alben bekannte Temposteigerung. Erwähnenswert ist noch die kurze, mit dem Votrax realisierte, aus den Worten »Ohm Sweet Ohm« bestehende Einleitung dieses im Kraftwerk-Kontext eher unbekannten Stückes, welche durch das Sampling seitens des britischen Big-Beat-Duos The Chemical Brothers auf ihrem ersten Album Exit Planet Dust größere Aufmerksamkeit erfahren hat.460 Das Album konnte allerdings in den USA nicht an den Erfolg von Autobahn anknüpfen,461 wobei hier sicherlich die Bipolarität eine Rolle spielte, die aus der dialogfreien Gegenüberstellung von klangexperimentellen und Pop-orientierten Kompositionen resultierte. Auch die bereits erwähnte England-Tournee, welche im Herbst des Jahres 1975 während der Aufnahmen zu Radio-Aktivität stattfand, zeugte angesichts größtenteils schlecht besuchter Konzertsäle davon, dass eine nachhaltige Etablierung auf dem angloamerikanischen Markt offensichtlich noch nicht stattgefunden hatte. In Frankreich allerdings erreichte Radio-Aktivität  – wohl auch durch das geschickte Marketing des französischen Managers der Plattenfirma »Capitol«, Maxime Schmitt – den 1. Platz der Charts.462 Bedenkt man, dass zu diesem Zeitpunkt die Ära des Krautrock bereits zu Ende war und das

460 Vgl. The chemical Brothers: »Leave Home« auf Exit Planet Dust, 1995. 461 Das Album erreichte in den Billboard 200 Charts lediglich Platz 140. https://en.wikipedia.org/wiki/

Radio-Activity (abgerufen am: 12.02.2021).

462 Ebd.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Merkmal, deutsche Rockmusik zu machen, allein nicht mehr ausreichte, um auf dem Musikmarkt Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, scheint dieser Erfolg umso bedeutender. Man muss dabei aber auch der Tatsache Rechnung tragen, dass viele Krautrock-Bands infolge von Missmanagement, Unorganisiertheit oder schlichter Systemverweigerung zerbrochen waren, während Kraftwerk mit Radio-Aktivität den Weg absoluter Professionalisierung einschlugen  – natürlich auch dadurch begünstigt, dass die Veröffentlichung des Albums zum einen im Fahrwasser des internationalen Erfolgs von Autobahn geschah und dass zum anderen Hütter und Schneider finanziell unabhängig waren. Neben diesen positiven Begleitumständen manövrierten sich Kraftwerk durch die alle Bereiche der Produktion betreffende Übernahme seitens Hütters und Schneiders – einhergehend mit der Erweiterung des Kling Klang Studios und der damit verbundenen Abkehr vom konventionellen Produktionsprozess, der teure Anmietungen von kommerziellen Tonstudios erforderte –, aber auch aus eigener Hand in die vorteilhafte Position, fernab vom Zeit- und Kostendruck kompromisslos ihre Vision von elektronischer Popmusik realisieren zu können. Gleichzeitig gründeten sie einen eigenen, »Kling-Klang-Verlag« genannten Musikverlag, so dass auch die Verwertung von Urheberrechten künftig in ihren Händen lag. Nach Aussage von Tim Barr wäre ihnen hier der Umstand der Geschäftsbeziehung zu Ira Blacker entgegengekommen, der ihnen, da ihr Vertrag mit Philips mit Autobahn ausgelaufen war, hinsichtlich eines neuen Plattenvertrags – fortan mit der EMI – in Bezug auf Abgabetermine und Rechteverwertung wesentlich bessere Konditionen ausgehandelt habe.463 Dass sich ungeachtet von Chart-Platzierungen sowie künstlerischer und ökonomischer Unabhängigkeit Kraftwerk mit Radio-Aktivität musikalisch am Puls der Zeit befanden, lässt eine Reihe von Künstlern erahnen, die in dieser Phase auf die Gruppe aufmerksam geworden sind und fortan medienwirksam in Interviews nicht nur Autobahn, sondern auch Radio-Aktivität oft als ausschlaggebende Inspiration bezeichneten: An dieser Stelle wären neben dem Gründer des Plattenlabels Mute-Records und Produzent der Synth-Pop-Gruppe Depeche Mode, Daniel Miller, vor allem die ab den 1980er Jahren erfolgreichen englischen Synth-Poprespektive New-Wave-Gruppen Orchestral Manoeuvres in the Dark (OMD),464 Human League, Heaven 17 sowie Ultravox zu nennen – letztere wurden um die Jahrzehntwende der 1970er/1980er Jahre mehrfach von Conny Plank produziert.465 Die wohl imageträchtigste Aufwartung erfuhren Kraftwerk aber durch 463 464 465

184

Barr 1998, S. 94. Zit. n. Andy McCluskey in: Buckley 2013, S. 116. Esch 2014, S. 127 ff.

4.3   Trans Europa Express

den britischen Musiker David Bowie, der in den 1970er Jahren zu den erfolgreichsten und schillerndsten Protagonisten auf dem Feld der Rock- und Popmusik gehörte. Nachdem Bowie auf seiner Deutschland-Tournee 1976 bereits als Eingangsmusik die erste Seite von Radio-Aktivität spielen ließ, offerierte er der Band als Vorgruppe seiner nächsten Tour spielen zu können, was von Hütter und Schneider allerdings abgelehnt wurde, da sie Kraftwerk als zu eigenständig erachteten.466 Glaubt man den Aussagen Hütters in einem Interview im Frühling des Jahres 1976 muss es dessen ungeachtet aber dennoch Pläne bezüglich einer Kollaboration gegeben haben: »[…] We are going to record with Bowie. He will come to Düsseldorf pretty soon. We still don’t know what we are going to do together, it’s mostly an encounter …«.467 Auch wenn diese Zusammenarbeit nie stattfand, äußerte sich Bowie in dieser Zeit in Interviews oft voller großer Bewunderung über Kraftwerk – ein Umstand der nach Meinung Ralf Hütters angesichts der Bedeutung Bowies in den 1970er Jahren in der Popmusik für die Karriere Kraftwerks von enormer Bedeutung gewesen sei: »Bowie was speaking devotedly about Kraftwerk in Interviews, […], and that had a great importance for us. He was a very important trendsetter at that time and his statements made press and public look at us no longer as an obscure experimental band but as a group making popular music in German. Bowie made us trendy, but our ideas were still the same.«468

Dass David Bowie auf seinem 1977 erschienenen Album Heroes Florian Schneider ein Stück mit dem aus deutscher Sicht zumindest als kontrovers zu bezeichnenden Titel »V-2 Schneider« widmete, muss neben der zum Ausdruck gebrachten Ehrerbietung allerdings wohl auch dem speziellen britischen Humor bezüglich des Umgangs mit dem Zweiten Weltkrieg geschuldet sein.

4.3  Trans Europa Express

4.3.1 Einleitung und konzeptioneller Überbau War Radio-Aktivität klanglich durch die Verwendung des Votrax ein unmittelbares, ungefiltertes Produkt eines speziellen Klangerzeugers, sorgten weitere studiotechnische Anschaffungen im Vorfeld der im Sommer des Jahres 1976 erfol-

466 Ebd., S. 139 f. 467 Zit. n. Ralf Hütter in: Barr 1998, S. 110. 468 Ebd.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

genden Aufnahmen zum Nachfolgealbum Trans Europa Express ebenfalls für eine essenzielle Erweiterung des Klanghorizonts, welche im Laufe der Geschichte Kraftwerks eine omnipräsente klangprogrammatische Bedeutung einnehmen sollte. Dass der Fokus auf die neueste und leistungsfähigste Technologie ehedem im Vordergrund stand, zeigte sich nach Angaben von Wolfgang Flür bereits während der US-Tournee 1975: »When we were in Ontario a man came to meet us from the Eventide Company, […]. He had brought the very first Eventide digital delay with him and so he demonstrated it for us. It was very very expensive  – about 30.000 Deutschmarks – but, of course, Ralf and Florian bought it. They always had to have the newest tools.«469

Wann genau dieses Effektgerät angeschafft wurde und ob es bereits während der Aufnahmen zu Radio-Aktivität Verwendung fand, lässt sich nicht näher verifizieren. Was sich hingegen mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass es auf Trans Europa Express zum Einsatz kam und darüber hinaus für dieses Album das Kling Klang Studio durch neues Equipment erweitert wurde. Neben einer im hohen fünfstelligen D-Mark-Bereich liegenden Investition in ein Mischpult der Firma »Allen & Health« sowie in eine 2"-16-Spur-Bandmaschine der Firma MCI470 war das ein von Florian Schneider gekaufter Vocoder 5000471 der Firma EMS. Dieser Vocoder zeichnete sich im Vergleich zu der Sonderanfertigung von Leunig und Obermeyr durch eine hohe Sprachverständlichkeit, große klangliche Flexibilität sowie  – und dies schien wohl auch ein Kriterium gewesen zu sein, dass das Gerät von Leunig und Obermeyr nur sehr geringe Verwendung fand  – durch äußerste Rauscharmut aus, die es erlaubte, über den Einsatz als purer Klangeffekt hinaus auch längere Gesangspassagen in hoher Audioqualität zu modulieren.472 Florian Schneider begründete mit der Anschaffung des Gerätes eine umfangreiche Sammlung kommerziell vertriebener Vocoder, die in den folgenden Jahren ständig erweitert wurde. Schneider bezog seine EMS-Geräte durch das Synthesizerstudio Bonn, welches unter der Leitung von Dirk Matten ab dem Jahre 1971 als erster Händler in Deutschland Synthesizer verkaufte.473 Die Verbindung zum Synthesizerstudio Bonn sollte sich für Kraftwerk als extrem wichtig erweisen, da sie für die nächsten Jahre zur technisch weitreichendsten Anschaffung führte: Dirk Mat469 470 471 472 473

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Zit. n. Wolfgang Flür in: Barr 1998, S. 134. Bartos 2017, S. 206. Ludwig Rehberg in einem Telefoninterview mit dem Verfasser am 25.05.2009. Vgl. Klaus Röders Aussage zum Leunig / Obermeyr-Vocoder in Kap. 4.1.3. Matten, Dirk: TRIUMPH DES GRILLENS, http://www.elektropolis.de/ssb_triumph.htm (abgerufen am: 12.05.2009).

4.3   Trans Europa Express

ten war durch seine Arbeit für EMS mit dem Ingenieur Hans-Joachim Wiechers in Kontakt gekommen, welcher die Idee hatte, »eine preiswerte und vor allen Dingen technisch bessere Alternative zu dem Moog-Sequencer zu bauen«.474 Dieses »Synthanorma« genannte Sequenzersystem sollte für Kraftwerk ab dem Jahre 1976 zum zentralen Produktionsmittel für die Alben Trans Europa Express, Die Mensch-Maschine und Computerwelt werden. Das Gerät war in vielerlei Hinsicht den Konkurrenzprodukten von Moog oder ARP überlegen und markierte damit bis zu Anfang der 1980er Jahre nicht nur einen technischen Vorsprung Kraftwerks gegenüber den anderen Akteuren der populären elektronischen Musik, sondern auch einen völlig eigenen produktionsästhetischen Ansatz der damaligen Zeit, weshalb der Synthanorma im Folgenden einer genauen Betrachtung unterzogen wird. Nachdem sich als erste Kunden im Jahre 1974 die deutschen Synthesizer-Spezialisten Klaus Schulze und Edgar Froese fanden, versuchte Matten Kraftwerk ebenfalls ein Gerät zu veräußern. Obgleich dies zunächst abgelehnt wurde – nach Aussage Dirk Mattens habe Ralf Hütter dies damit begründet, dass er sein eigener Sequenzer sei  –, gelang es schließlich, Kraftwerk vom Kauf eines Gerätes zu überzeugen.475 Beim Synthanorma handelte es sich um einen stets als Einzelstück gefertigten und mit jeder weiteren Version verbesserten 12-Step-Analogsequenzer mit jeweils drei über Potis einstellbare Steuerspannungen pro Schritt, der analog zum Einsatzbereich der Elektronikmusiker der Berliner Schule zunächst für 8-schrittige Sequenzen konzipiert war.476 Für die Entwicklung des Gerätes stand dabei eine bühnentaugliche, bequeme Ergonomie im Vordergrund, die letztendlich zur eher ungewöhnlichen Anzahl von 12 Sequenzerschritten führte: »Weil Spannungen für exakte Tonhöhen an Drehpotentiometern live kaum einzustellen waren, hatte ich die Idee, weitere 4 Spalten einzufügen, denn bei der vorgegebenen Breite waren leicht bis zu 12 Positionen möglich. Man sollte zur 8er Reihe an 4 passenden Positionen alternative Spannungen für Tonhöhen vorbereiten können, die im Ablauf zunächst über die ›Skip‹-Funktion übersprungen würden und dann im Betrieb mit den ›Nachbarn‹ getauscht werden konnten. Das war der Hauptgrund, 12 Positionen zu verwenden. 16 Potis nebeneinander schien

474

Matten, Dirk: MATTEN &  WIECHERS, http://www.elektropolis.de/ssb_vorgeschichte2.htm (abgerufen am: 12.05.2009). 475 Matten, Dirk: DIRK MATTEN &  KRAFTWERK, http://www.elektropolis.de/ssb_vorge schichte3.htm (abgerufen am: 06.02.2021). Als Grund für die ursprüngliche Ablehnung des Sequenzers seitens Kraftwerks gab Hans-Joachim Wiechers an, dass Hütter und Schneider befürchteten, durch die Verwendung des »Synthanormas« wie Tangerine Dream oder Klaus Schulze zu klingen, was sie auf keinen Fall wollten. Bartos 2017, S. 209 f. 476 Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 24.12.2019.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

mir zu eng gepackt, um mit den Fingern einen Knopf noch sicher fassen zu können, ohne den Nachbarknopf zu berühren. Dabei hätte man unweigerlich eine justierte Tonhöhenspannung geändert. Bereits hier war für mich bei der Entwicklung die Tauglichkeit zur Live-Modifikation des Ablaufs entscheidend. Zur leichteren Messung und Einstellung von Frequenzen habe ich einen kleinen Kasten mit grünen Leuchtziffern gebaut, der die Frequenz an einem von 4 Eingängen per Taster anzeigen konnte.«477

Das für Kraftwerk gefertigte Modell war ebenfalls noch 12-schrittig, basierte aber auf anderer Technik. Hans-Joachim Wiechers lieferte dazu folgende detaillierte technische Beschreibung: »Zur Problemlösung, exakte Steuerspannungen für Tonhöhen zu erzeugen, habe ich vermutlich 1975/76 den ›Intervallomat‹ erfunden. Der war in einem flachen Aufsatzgehäuse zum existierenden Sequencer enthalten. Darin befanden sich 12 Gruppen mit je 2 Drehschaltern untereinander, die optisch und technisch mit denen des Hauptgerätes korrespondierten. Die jeweils aktive Position wurde über eine rückseitige Kabelverbindung synchron zum Grundgerät bestimmt. Der obere Drehschalter hatte ohne Dreh-Stopp 12 rastende Positionen, die zur Wahl von Halbtönen innerhalb einer Oktav (genauer zur passenden Steuerspannung in 1/12 Volt Stufen dafür) diente. Darunter war ein Schalter mit 10 Positionen für Oktaven. Hier gab es einen Stopp am Ende der möglichen Schaltpositionen. Die Schalter lieferten die binären ›Hausnummern‹ von 120 Halbtönen in 10 Oktaven, die über eine Hardware-Matrix in einem 12 Bit DA-Wandler in Steuerspannungen mit maximal exakten 1/12 Volt-Schritten umgewandelt wurden. Solche Wandler waren damals noch extrem teuer. Eine geringere Auflösung war nicht möglich, obwohl man 120 Halbtöne rechnerisch auch mit 7 Bit abbilden könnte. Die Stufenzahl ist nur ein Parameter, man muss aber auch jede Stufenhöhe ausreichend genau treffen, wenn man musikalisch korrekte Tonhöhen erzielen will. Dazu muss man mindestens mit 12 Bit arbeiten bei einwandfreier Technik im Wandler selbst. Dazu kommt, dass die erzeugte Spannung höchst temperaturstabil sein musste, sonst hätte man jede Stimmung vergessen können. Die Drehschalter zeigten Ziffern, mit denen man blitzschnell eine Sequenz wie eine Telefonnummer einstellen konnte. Es erfolgte keine Quantisierung stufenloser Poti-Spannungen aus analoger Quelle, wie später im ARP-Sequencer über nur 2 Oktaven, sondern eine nativ digitale Erzeugung. Zwei weitere Schalterpaare dienten zum wählbaren digitalen Transponieren der kompletten Sequenz, falls keine Tastaturspannung zur Verfügung steht. Eine digitale Speichermöglichkeit war bereits in der Schaltung vorbereitet, wurde aber nicht realisiert. Die Realisierung war schon damals recht kostspielig. Weil bereits im Hinblick auf die Trans-

477 Ebd.

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4.3   Trans Europa Express

portfähigkeit und Liveeinsatz nur qualitativ höchstwertige Komponenten verbaut wurden, kamen ansehnliche Kosten zusammen.«478

Theoretisch ließen sich durch das Hintereinanderschalten der einzelnen Steuerspannungsreihen mittels des CV-Ausgangs auch Sequenzen bis zu einer Länge von 36 Schritten erzeugen. Allerdings waren die drei Steuerspannungen pro Schritt für die Kontrolle von Tonhöhe, Filterfrequenz und Lautstärke des Minimoogs konzipiert, weshalb sie mit unterschiedlichen Voltbereichen arbeiteten, da der Filter zur Vollaussteuerung 10 Volt benötigte, der VCA (Lautstärke) aber nur 4.479 Durch den großen Voltbereich der zweiten Reihe waren Einstellungen von Halbtönen nahezu unmöglich, weshalb die Verwendung von über 12-schrittigenSequenzen keinen Sinn machte. Dieser Limitierung begegnete Wiechers mit einer Doppeltriggerfunktion, die es ermöglichte, pro Schritt eine unabhängig von der Taktfrequenz nach 50 % der Schrittlänge erfolgende zweite Triggerung auszulösen, wodurch sich die Schrittkapazität einer Sequenz verdoppeln ließ480 – allerdings mit der Einschränkung, dass durch die Doppeltriggerung immer eine Tonwiederholung entstand, was im Falle von Kraftwerk einigen Sequenzen einen eigenen musikalischen Stempel aufdrückte. Sicherlich ist daher in der Arbeit mit dem Synthanorma eine wesentliche Ursache für das spätere und bis heute gültige »Mensch-Maschine«-Konzept zu finden, das Ralf Hütter folgendermaßen auf den Punkt brachte: »Wir spielen die Maschinen, die Maschinen spielen uns.«481 Der Synthanorma selbst wurde direkt zu Beginn der im Sommer 1976 erfolgten Aufnahmen von Trans Europa Express angeschafft.482 Während die Einspielung abermals unter der Zuhilfenahme von Peter Bollig als Toningenieur im Kling Klang Studio stattfand, wurde das Album in den Studios The Record Plant in Hollywood sowie im Rüssl Studio in Hamburg abgemischt und im Jahre 1977 veröffentlicht. Wie bereits erwähnt, entsprang die Idee zum Konzept des Albums dem französischen Journalisten Paul Alessandrini: »In Eurem Universum und für die Musik, die ihr macht, die so eine Art elektronischer Blues ist, spielen Bahnhöfe und Züge eine große Rolle. Ihr solltet ein Lied über den ›Trans-Europa-

478 479 480 481 482

Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 24.12.2019. Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 21.08.2020 sowie am 06.10.2020. Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 24.12.2019. Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Christoph Dallach, in: »Die Maschinen spielen uns«, in: Der Spiegel, 14.07.2003, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-27636663.html (abgerufen am: 03.02.2021). Bartos 2017, S. 206 f.

189

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Express‹ machen.«483 Mit der Thematik des Reisens und der maschinellen Bewegung konnten Kraftwerk an das erfolgreiche Konzept von Autobahn anknüpfen. Zum einen passte die durch den Sequenzer evozierte Maschinisierung der Musik in ihrer Gleichmäßigkeit und Repetitivität sinnbildlich hervorragend zur Kinetik von Zügen. Zum anderen ermöglichte die musikalische Reflexion des Begriffs »Europa«, Kraftwerk mit dem Attribut der Internationalität zu versehen und sie endgültig aus der Nische des sich im Niedergang befindlichen, allerdings immer noch als Obergriff firmierenden Terminus »Krautrock« herauszulösen, was sich auch in der Tatsache widerspiegelt, dass das Album gleichfalls wie erwähnt neben der deutschsprachigen Version komplett in Englisch aufgenommen wurde. Auch Karl Bartos sprach vor diesem Hintergrund davon, dass Europa als das »Zauberwort« galt, welches »den Weg aus der Sackgasse« wies, in welcher sich die Gruppe durch »die als schwer zu vermittelnde Mehrdeutigkeit von Radiowellen, Bomben und Kernkraftwerken, verbunden mit einer überholten deutschen Symbolik« auf Radio-Aktivität befand.484 Das Sujet der europäischen Internationalität wird auch textlich in der für Kraftwerk typischen rudimentären Schlagwortartigkeit in »Europa Endlos« und dem Titelstück »Trans Europa Express« aufgegriffen, welche Eindrücke des Reisens innerhalb Europas darstellen. Bei letzterem Stück sei angemerkt, dass mit der Textzeile »Wir laufen ein in Düsseldorf City und treffen Iggy Pop und David Bowie« der zur damaligen Zeit bestehende Kontakt zu David Bowie thematisiert wurde. Vor diesem Hintergrund wurde in den KraftwerkBiografien immer wieder über eine gegenseitige Beeinflussung Kraftwerks und David Bowies spekuliert.485 Könnte man allenfalls diese Textzeile sowie den Text von »Spiegelsaal« als Hommage an David Bowie sehen, in dem die wechselnden Persönlichkeiten eines Künstlers auf Bowies verschiedene Egos wie etwa Ziggy Stardust oder Thin White Duke anspielen könnten, vermisst man doch jegliche musikalische Überschneidungen vonseiten Kraftwerks. Bowie äußerte sich in Bezug auf Kraftwerk folgendermaßen: »Kraftwerks Herangehensweise an Musik hatte an sich in meinem Projekt kaum Platz. Ihre Musik bestand aus einer Reihe kontrollierter, roboterartiger, extrem überlegter Kompositionen, fast eine Parodie des Minimalismus. […] Meine Arbeit bestand eher aus expressionistischen Charakterstudien, die meine eigene

483

Zit.  n. Paul Alessandrini in: Bussy 1995, S. 114. Die korrekte Bezeichnung für den auf diesem Album musikalisch thematisierten Zug ist eigentlich »Trans-Europ-Express«. Im Zuge des steigenden Bekanntheitsgrades des Albums respektive des Titelstückes hat sich jedoch parallel dazu die Bezeichnung »Trans-Europa-Express« respektive »Trans Europa Express« etabliert. 484 Bartos 2017, S. 206. 485 Bowie, David: Bowie on Kraftwerk and his Florian tribute, https://www.davidbowie.com/blog/ 2020/5/6/bowie-on-kraftwerk-and-his-florian-tribute (abgerufen am: 02.02.2021).

190

4.3   Trans Europa Express

Stimmung wiedergaben […]. Die Musik war größtenteils spontan und entstand erst im Studio. Auch in der Sache waren wir weit auseinander. Der PercussionSound bei Kraftwerk wurde elektronisch erzeugt, in starrem Tempo, unveränderlich. Unserer entstand durch die unbeherrschte Spielweise unseres stark emotionalen Schlagzeugers Dennis Davis … Was mir in Bezug auf Kraftwerk so gut gefiel, war ihre einzigartige Entschlossenheit, sich von den typischen amerikanischen Akkordfolgen abzuheben, sowie dass sie sich von ganzem Herzen auf eine europäische Sensibilität einließen, die sich in ihrer Musik zeigt. Das war ihr sehr wichtiger Einfluss auf mich.«486

Dementsprechend sucht man in der Musik Bowies, dessen im Jahre 1977 veröffentlichten Albums Low die Musikpresse oft als von Kraftwerk inspiriert sah, vergebens nach Gemeinsamkeiten – zu unterschiedlich gestalten sich die Kompositionen im Hinblick auf formale Strukturen, Melodien und Harmonien oder die klangliche Textur. 4.3.2 Musikalische Analyse – der Sequenzer als Steuerungsund Kompositionswerkzeug Mit Trans Europa Express vollzogen Kraftwerk endgültig die Abkehr von Klangexperimenten zugunsten einer Hinwendung zu Pop-orientierten formalen Strukturen und Melodien. Die von Karl Bartos im Hinblick auf Radio-Aktivität ins Feld geworfene Beschreibung eines Hörspiels, bei dem eher konventionell anmutende Popstücke mit Klangcollagen verbunden wurden, wich nun einem stringenten Klangfluss, dessen Essenz auf der minimalistischen Repetitivität des Sequenzers basierte. Von Musikern wie Isao Tomita dargebotene Klangopulenz sucht man auch auf diesem Kraftwerk-Album vergeblich. Anstelle von in großen Hallräumen verpackten Klangteppichen dominieren hier perkussive Klänge, die durch die omnipräsente Verwendung des Eventide Delays eine lebendige rhythmische Komponente erhalten, die das Klangbild Kraftwerks bis heute bestimmt. Ralf Hütter dazu: »Unsere Musik ist ziemlich minimalistisch. Wenn wir eine Idee mit einer oder zwei Noten rüberbringen können, ist das besser, als wenn wir Hunderte von Noten oder sowas spielen müssen. Durch unsere Maschinen müssen wir uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob wir genügend virtuos spielen können, diese Maschinen besitzen genügend Virtuosität, deshalb konzentrieren wir uns bei der Arbeit auf einen sehr klaren Minimalismus.«487 486 487

Zit. n. David Bowie in: Buckley 2013, S. 165. Zit. n. Ralf Hütter in: Bussy 1995, S. 114.

191

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Dass der Sequenzer nicht nur Hilfsmittel zur rhythmischen Präzision, sondern auch ein kreativ einsetzbares Kompositionswerkzeug war, wurde Karl Bartos bereits während des ersten Einsatzes des Gerätes zur Aufnahme von »Europa Endlos« bewusst: »Schon bei der ersten Anwendung war mir klar, dass dieser Apparat die Voraussetzungen für eine neue Spieltechnik schuf und eine Art der Improvisation ermöglichte, die sich nicht den Idiomen eines Genres verpflichtet fühlte, und in der noch genügend Raum war, Regeln zu brechen oder neue zu erfinden.«488

Das Konzept, aus der Improvisation heraus Stücke zu entwickeln, also das, was man allgemein im Jazz / Rock / Pop-Kontext als »jammen« bezeichnet, schien in der Folge aller weiteren Kraftwerk-Alben fortan die bevorzugte Arbeitsmethode Ralf Hütters zu sein, aus dessen Feder mit Ausnahme des Stückes »Endlos Endlos«489 alle Kompositionen auf diesem Album stammten. Nach Aussage von Karl Bartos begannen die Aufnahmen zu »Europa Endlos« damit, dass Hütter zunächst eine Sequenz einstellte, die den Minimoog triggerte. Über die Tastatur habe Hütter die Sequenz transponiert, Melodien dazu erfunden und gesungen, während Bartos auf den Drumpads spielte. Mangels Synchronisationsmöglichkeit mit der Mehrspurmaschine habe man bei den eigentlichen Aufnahmen zunächst die Sequenzerspur als Guide-Track aufgenommen und dann sukzessiv alle weiteren Spuren hinzugefügt. Als letztes Element sei dann der vocoderisierte Gesang von Florian Schneider hinzugekommen.490 Dass der Sequenzer aber nicht nur ein kreatives Arbeitsmittel war, sondern gleichfalls durch seine technische Limitierung die Kompositionen in nicht zu unterschätzendem Maße beeinflusste, zeigt die harmonische Struktur des Stückes. Als zentrales Element fungiert hier besagte Minimoog-Sequenz, die aus einer das ganze Stück durchlaufenden Dur-Drei­ klangsbrechung besteht, welche wiederum mit einem perkussiven, mit Delay bearbeiteten Klang realisiert wird.

Bsp. 8: Kraftwerk: »Europa Endlos«, Synthesizer-Sequenz

488 489 490

192

Bartos 2017, S. 210. Komponiert von Ralf Hütter und Florian Schneider. Bartos 2017, S. 210 f.

4.3   Trans Europa Express

Die Verwendung einer in Dur eingestellten Sequenz hat allerdings zur Folge, dass angesichts der in Echtzeit erfolgten Einspielung wie schon bei der Verwendung des Minimoogs auf »Autobahn« die Realisation von Moll-Akkorden nur unter größtem Aufwand möglich und praktisch daher kaum durchführbar ist. Ein an eine Tonart gebundener harmonischer Verlauf kann dementsprechend nur in Kadenzen erfolgen. Kraftwerk begegnet dieser Problematik durch eine harmonische Rückung: Während die Einleitung, die Hauptmelodie des Synthesizers und der sich anschließende erste Gesangsteil sich auf G-Dur bewegen, erscheint der zweite Gesangsteil in H-Dur. Es gibt dabei weder eine hinführende melodische oder harmonische Modulation noch einen einleitenden Schlagzeug-Break. Auch der nach der Wiederholung der beiden Teile folgende, auf F#-Dur befindliche Zwischenteil wird nicht musikalisch eingeleitet. Diese Aneinanderreihung thematischer Elemente verstärkt die monotone Maschinenhaftigkeit der sich immer wiederholenden Synthesizer-Sequenz. Allerdings fungieren jene Repetition sowie das sich nicht verändernde Drumpattern auch als die verschiedenen Teile verbindende Elemente, die dem Stück eine Einheitlichkeit verleihen – ein Stilmittel, welches sich nicht nur in dem zeitgleich populären Disco-Genre findet, sondern auch in den späteren Stilrichtungen Techno und House eine zentrale Rolle spielt. Ferner resultiert die Kongruenz zu den eben genannten Gattungen sowohl in der Textur des Drumpatterns, die sich durch die auf Viertelnoten wechselnden Bass- und Snaredrum-Schläge sowie der Hi-Hat auf den Off-Beats manifestiert als auch im Pattern-haften Aufbau der Einleitung des Stückes, bei der sukzessiv Spuren hinzugefügt werden. Man muss allerdings konstatieren, dass die zeitgleich stattfindenden, aufgrund ihres Synthesizer-Einsatzes musikalisch vergleichbaren Disco-Produktionen Giorgio Moroders491 klangtechnisch vor allem hinsichtlich der Schlagzeugspuren moderner und druckvoller klangen. Betrachtet man nun die Melodien des Stückes, steht neben der Dreiklangs­ lastigkeit die häufige Verwendung der großen Sexte sowohl im SynthesizerThema als auch in beiden Gesangsteilen und ihren jeweiligen sich anschließenden Vocoder-Partien im Vordergrund. Die Synthesizer-Melodie in den Zwischenteilen verarbeitet dies thematisch mit der zusätzlichen Applikation der großen Sekunde und der Quarte. Daraus entwickelt sich eine Improvisation, die sich von der Umspielung von zunächst der Terz, zur Quinte und dann zur kleinen Septime aufbaut. Nach Aussage von Karl Bartos habe Hütter diesen Teil »ad-hoc« komponiert.492

491 492

Vgl. Kap. 4.4. Bartos 2017, S. 211.

193

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Bsp. 9: Kraftwerk: »Europa Endlos«, Synthesizer-Thema (Auszug)

Neben der Verwendung des Orchestrons für die polyphonen Chorklänge und des Vibratos in der Synthesizer-Melodie fällt aus klanglicher Sicht vor allem die hohe Sprachverständlichkeit des EMS-Vocoders auf. Generell setzt sich das Stück aus wenigen Spuren und damit einhergehend aus wenigen verschiedenen Klängen zusammen. Der musikalische Minimalismus geht dabei mit einem klanglichen Minimalismus einher, was sich auch in den weiteren Kompositionen verzeichnen lässt. Die beiden darauffolgenden Stücke »Spiegelsaal« und »Schaufensterpuppen« sind in vielerlei Hinsicht thematisch verbunden: Zum einen behandeln die Stücke textlich in einer Selbstreflexion die Auswirkungen des Rockstar-Lebens auf die eigene Persönlichkeit respektive die Situation des Musikers auf der Bühne, wobei »Schaufensterpuppen« bereits die Roboterthematik des im Jahre 1978 veröffentlichten Nachfolgealbum Die Mensch-Maschine anschneidet. Zum anderen ist ihnen neben dem Tongeschlecht Moll der durch die Anordnung von Strophe und Refrain Popsong-orientierte formale Aufbau gemeinsam. Während »Schaufensterpuppen« nach Aussage von Karl Bartos komplett live eingespielt wurde,493 fungiert wie bei den restlichen Stücken des Albums der Sequenzer bei »Spiegelsaal« als rhythmisches Fundament. Zusätzlich wird er bei diesem Stück zur Effektgenerierung eingesetzt. So beginnt das Stück mit einer diatonisch aufsteigenden Sequenz, welche einen mit Delay bearbeiteten Rechteckwellenoszillator ansteuert. Durch das im Verhältnis zum Stück auf 32tel-Triolen basierende sehr hohe Tempo der Sequenz wird eine grob gerasterte, langsame, sägezahnwellenähnliche Tonhöhenmodulation impliziert. Dass dem gesamten Album eine repetitive Patternlastigkeit innewohnt, hat nicht zuletzt mit dem aus maximal 12 Tönen bestehenden Umfang einer Sequenz zu tun. Bei »Spiegelsaal« wird diese Limitierung jedoch durch die Doppeltriggerfunktion des Sequenzers umgangen, allerdings mit dem Zugeständnis, dass die Sequenz aus jeweils zwei in der Tonhöhe gleichen aufeinanderfolgenden 16tel-Noten bestehen musste – auch hier musste sich das musikalische Ergebnis dem technischen Diktat unterwerfen. Da bei »Spiegelsaal« die das Fundament des Stückes bildende Bass-Synthesizer-Sequenz trotz des Doppeltriggers immer 493

194

Ebd., S. 224.

4.3   Trans Europa Express

noch aus 16 Schritten besteht, ist anzunehmen, dass mittels der Skip-Funktion im jeweils zweiten Durchlauf der Sequenz manuell die Schritte 5 und 8 verändert wurden. Der tonale Gehalt basiert dabei auf einem tongeschlechtslosen, die Quinte anspielenden Oktavsprung auf dem Ton E, der auf dem Grundton der Subdominante endet (vgl. »Ruckzuck« und »Strom«). Rhythmisch durch – wie bei »Mitternacht« – in Viertelnoten erfolgende Schrittgeräusche unterstützt, bleibt sie immer auf der gleichen tonalen Stufe.

Bsp. 10: Kraftwerk: »Spiegelsaal«, Basssequenz

Erst durch das Synthesizer-Thema und die Gesangsmelodie des Refrains kristallisiert sich die Grundtonart e-Moll heraus. Das Synthesizer-Thema wurde diesbezüglich mit einem neuen Controller realisiert: Nach Aussage Karl Bartos’ hätten infolge der Technikfokussierung Kraftwerks akustische Instrumente wie etwa die Flöte oder das Vibrafon keinen Platz mehr gehabt. Aus diesem Grunde habe abermals Wolfgang Flür ein »Vibrolux« genanntes Vibrafon entwickelt, das auf der Technik der Drumpads basierte. Allerdings sei damit eine elektronische Orgel angesteuert worden.494 Während die Strophe gesprochen wird, besteht der Refrain aus dem gleichen tonalen, nach E transponierten Tonmaterial, welches sich ebenfalls im Ambitus des Synthesizer-Themas von »Radio-Aktivität« befindet, was abermals auf das Kraftwerk’sche Baukastensystem verweist.

Bsp. 11: Kraftwerk: »Spiegelsaal«, Refrain (Auszug)

494

Ebd., S. 211 f. Der mit dem »Vibrolux« getriggerte Klang erinnert allerdings mehr an einen Minimoog als an eine Orgel.

195

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Den gleichen Ambitus enthält auch die den Refrain ergänzende SynthesizerMelodie von »Schaufensterpuppen«, welche auf g-Moll basiert. Aufgrund der Tatsache, dass bezüglich des Gesangs der Refrain nur aus einem mehr gesprochenen als gesungenen Satz besteht, fungiert die Synthesizer-Melodie gleichfalls als zentrales kompositorisches Element des Stückes, was nicht zuletzt durch die tonal darauf aufbauenden Improvisationsstrecken unterstrichen wird  – ein auf dem Album ebenfalls immer wiederkehrendes Stilmittel.

Bsp. 12: Kraftwerk: »Schaufensterpuppen«, Synthesizer-Thema (Auszug)

Wie immer bei Kraftwerk gestaltet sich die Harmonik äußerst einfach: Während der Refrain ausschließlich aus g-Moll besteht, erfolgt die Strophe harmonisch in der Dominante D-Dur. Betrachtet man nun den gesamten harmonischen Verlauf des Stückes, kristallisiert sich infolge der später auftauchenden Akkorde c-Moll und f-Moll eine Quartverwandtschaft heraus. Ungeachtet der bei »Schaufensterpuppen« dem Basspattern zugrunde liegenden Oszillatorensynchronisation des ARP Odysseys knüpfen beide Stücke nicht nur melodisch, sondern auch klanglich an »Radio-Aktivität« an: So erhalten viele der SynthesizerMelodien und Sequenzen durch die Verwendung von Sägezahn- oder modulierten Pulswellenoszillatoren in Kombination mit kurzen Decay-Zeiten und geringen Sustain-Werten der Filter- und Verstärkerhüllkurven sowie einer im Audiobereich befindlichen Frequenzmodulation des Filters einen perkussiveren und ­metallischen Charakter. Das darauffolgende Titelstück »Trans Europa Express« vereint strukturell gesehen die ersten drei Kompositionen des Albums. Einerseits basiert es wie »Europa Endlos« sowohl auf harmonischen Rückungen als auch auf der durch den Sequenzereinsatz evozierten Patternhaftigkeit, andererseits enthält es durch die Verwendung von Strophe und Refrain jene von »Spiegelsaal« und »Schaufensterpuppen« bekannten Popsong-orientierten Strukturen. Dem Stück liegen hinsichtlich der Rhythmik zwei ostinate Drumpattern zugrunde, wobei die tragende Funktion durch eine Hi-Hat-ähnliche Percussion-Spur übernommen wird, welche mit einem Phaser und einem in 16tel-Noten erfolgenden Delay bearbeitet wird. Das rhythmische Motiv lehnt sich dabei an das Geräusch an, welches durch

196

4.3   Trans Europa Express

das kurz hintereinander erfolgende Überfahren der Verbindung zweier Gleisstücke durch zwei Zugräder entsteht, das Ralf Hütter auf dem Synthanorma in das 4/4-Metrum transformierte.495

Bsp. 13: Kraftwerk: »Trans Europa Express«, Drumpattern

Melodisch betrachtet basiert »Trans Europa Express« auf zwei Themen, die beide mit dem Orchestron gespielt werden. Bei der ersten Melodie handelt es sich um die bereits von früheren Aufnahmen bekannte  – in diesem Fall wie bereits erwähnt von Karl Bartos angeregte – Quartschichtung,496 welche mit einem Synthesizer-Klang gedoppelt wird. Hier erfolgt sie allerdings durch das Übereinanderschichten von sechs Quarten in ihrer bis dato konsequentesten Form. Der so entstehende auf dem Grundton Eb basierende Vorhalt löst sich daraufhin zu einem eb-Moll-Akkord auf und dokumentiert damit eine der beiden Tonarten des Stückes.

Bsp. 14: Kraftwerk: »Trans Europa Express«, 1. Thema

Direkt im Anschluss folgt neben dem den Refrain vorstellenden, sich mehrfach wiederholenden und auf einem White-Noise-Signal fußenden Vocoder-Einsatz (bei dem sukzessiv die höheren Frequenzbänder eingeblendet und die tiefen Frequenzbänder ausgeblendet werden, so dass der Klang zunehmend brillanter und obertonreicher wird) ein in der Lautstärke anschwellender, mit dem Orchestron

495 496

Bartos 2017, S. 214 f. Ebd., S. 215.

197

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

gespielter eb-Moll-Akkord, welcher schließlich mit dem Tuning-Regler nach c-Moll glissandiert wird. Dieses Glissando imitiert nicht nur einen wie schon auf »Autobahn« zu hörenden  – in diesem Falle an einen vorbeifahrenden Zug erinnernden – Dopplereffekt, sondern stellt auch die zweite Tonart des Stückes vor, in der wieder das Vocoder-Thema erscheint. Diesem liegt nun allerdings ein c-MollVierklang zugrunde, dessen Wiederholungen ob der ebenfalls stattfindenden sukzessiven Addition der Filterbänder durch die zusätzlich vom Grundton ausgehende oktavierte Akkordschichtung stark an die Verwendung des Vocoders auf »Autobahn« erinnern. Nach dem sich daran anschließenden zweiten Thema  – wobei die Verwendung der kleinen None heraussticht, welche auf dem im Jahre 1981 veröffentlichten Album Computerwelt noch mehrfach kompositorisch aufgegriffen wird – erfolgen nun erstmals Strophe und Refrain hintereinander.

Bsp. 15: Kraftwerk: »Trans Europa Express«, 2. Thema

Angesichts der Tatsache, dass der Ambitus in den Gesangspartien sich nahezu auf den Grundton beschränkt (während die auf eb-Moll stehende Strophe fast gesprochen wird, wechselt die auf c-Moll stehende Melodie des nur aus der Wortgruppe »Trans Europa Express« bestehenden Refrains vom Grundton aus lediglich einmal um einen Ganzton nach unten), ist das wichtigste, den Wiedererkennungswert prägende Motiv in der rhythmischen Gestaltung des Refrains zu finden. Der Pattern-haften Struktur des Stückes geschuldet, werden diese Motive in verschiedenen Kombinationen immer wieder aneinandergereiht und überlagert (beim Zusammenklang beider Melodiethemen wird das zweite nach eb-Moll transponiert), welche durch den rhythmisch dominierten, aus Metallklängen497 bestehenden Zwischenteil (als eigener, mit »Metall auf Metall« benannter Titel deklariert) aufgelockert sind. Die Absenz von Harmonien und Melodien zugunsten einer Fokussierung auf die Parameter Rhythmik und Klang greift beispielhaft die essenziellen Kriterien heutiger elektronischer Tanzmusik auf  – sie fügt sich gleichzeitig in den Zeitgeist ab Mitte der 1970er Jahre ein, in dem das Genre Disco die Hochphase seiner Popularität erreichte. Die ineinander übergehende Reprise

497

198

Die Idee zur Verwendung von Metallgeräuschen als Perkussionsklänge kam laut Wolfgang Flür durch die Verarbeitung von Stahlblechen in Flürs Werkstatt. Flür 1999, S. 154.

4.3   Trans Europa Express

(ebenfalls als eigenes, mit dem Namen »Abzug« deklariertes Stück) hingegen greift die beiden Melodiethemen wieder auf – besonderes Augenmerk sei hier auf die 32-malige Wiederholung des Begriffs »Trans Europa Express« am Ende des Stückes gelegt, welche das Prinzip der Monotonie und Repetitivität auf den Höhepunkt treibt und damit wohl am deutlichsten eine Parallelität zu den späteren Gattungen House und Techno evoziert. Analog zu »Autobahn«, das mit dem Anfahren eines Autos beginnt, endet das Stück mit der Tonbandaufnahme eines haltenden Zuges. Der Schluss des Albums wird mit dem Stück »Franz Schubert« eingeleitet, welches aus einer um eine Oktave nach unten transponierten Variation der Synthesizer-Sequenz von »Europa Endlos« besteht, die durch die Verwendung einer großen Sekunde am Ende tonal leicht verändert ist. Darüber hinaus werden die einzelnen Töne im Vergleich zur Ursprungssequenz durch die Doppeltriggerfunktion verdoppelt, weshalb sich ein Halftime-Charakter ergibt. Wie bei »Spiegelsaal« handelt es sich dabei um eine zweiteilige, jeweils aus acht Schritten bestehende Sequenz, bei der in der jeweiligen Wiederholung durch die Skip-Funktion des Synthanormas der vierte und siebte Schritt ausgetauscht wird. Melodisch besteht das Stück aus einer polyphonen, mit dem Orchestron gespielten Improvisation, die motivisch auf den Hauptmelodien von »Europa Endlos« und »Trans Europa Express« basiert. Daran schließt sich »Endlos Endlos« an, das sich aus der Wiederholung des mit Delay bearbeitenden und sich zum G-Dur-Dreiklang auflösenden Quartsextvorhalts des aus »Europa Endlos« bekannten Vocoder-Elements zusammensetzt. Obgleich Trans Europa Express in Frankreich mit dem 2. Platz der LP-Charts wieder große Resonanz erfuhr und sich insgesamt besser verkaufen konnte als Radio-Aktivität, zeugten Platz 32 in Deutschland, Platz 49 in Großbritannien sowie Platz 117 in den US-Billboard-Charts davon,498 dass sich der Erfolg von Autobahn offensichtlich zunächst nicht wiederholen ließ. Das Album war in der Geschichte von Kraftwerk trotzdem von großer Wichtigkeit: Zum einen förderte es angesichts der positiven Rezeption durch eine neue Generation von anglo­ amerikanischen Elektromusikern ihre internationale Reputation, zum anderen bedeutete Trans Europa Express durch den Einsatz des Sequenzers für Kraftwerk aber auch den Aufbruch zum bis heute gültigen, stereotypen, maschinenhaften Klang- und Erscheinungsbild der Gruppe. Dass der Sequenzer im Jahre 1977 auf dem Feld der Popmusik allerdings keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal Kraftwerks war, sondern im Zuge der Entwicklung und Etablierung elektronischer 498

Kraftwerk: Trans Europa Express, https://en.wikipedia.org/wiki/Trans-Europe_Express_(album) (abgerufen am: 02.03.2021).

199

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Klangerzeuger auch von anderen Musikern entdeckt und genutzt wurde, soll das folgende Kapitel verdeutlichen.

4.4 Exkurs: Der Sequenzer erobert die Tanzfläche – Giorgio Moroder und der Disco-Sound

Allen Bedenken und Vorurteilen zum Trotz war der Synthesizer im Jahre 1977 mittlerweile ein fester Bestandteil der Popmusik: Elektronisch generierte Klänge waren auf dem Vormarsch – durch Gruppen wie Tangerine Dream oder Solokünstler wie Klaus Schulze oder Vangelis hatte sich mit der elektronischen In­­ strumentalmusik ein Genre etablieren können, welches sich trotz der Negation popmusikalischer Parameter, sei es bezüglich struktureller Elemente wie Strophe und Refrain oder der Absenz von Gesang sowie der oft epischen Länge ihrer Kompositionen, mit einzelnen Produktionen dennoch immer wieder in den Charts platzieren konnte und dadurch den Synthesizer aus seinem Nischendasein hervorholte. An dieser Stelle sei vor allem das 1977 veröffentlichte Album Oxygène des französischen Synthesizer-Spezialisten Jean-Michel Jarre genannt, welches in Frankreich den 1. Platz der Charts erreichte und sich weltweit millionenfach verkaufte.499 Auch der diesen Entwicklungen eher ablehnend gegenüberstehende Musikjournalismus konnte sich dieser Tatsache nicht länger verschließen, obgleich die Abhandlungen darüber oftmals von starker Polemik geprägt waren.500 Beispielhaft dokumentiert dies ein im Jahre 1978 von Peter Behrendsen und Michael Rüsenberg mit der Überschrift »Je größer der Apparat … Der Synthesizer im Rock und Jazz« veröffentlichter Artikel, bei dem es sich um ein recht umfassendes Zeitdokument zu diesem Thema handelt, welches sowohl den Stand der Technik darlegt, als sich auch mit den künstlerischen und spieltechnischen Problematiken der elektronischen Klangerzeugung auseinandersetzt.501 Er repräsentiert aber auch – wie schon an der suggestiven Wahl des Titels erkennbar – eben jene einseitige und mitunter engstirnige, offen technikaversive Sichtweise der Dinge, die vor allem den Musikjournalismus in Westdeutschland in den 1970er Jahren – auch durch die überkritische, nahe am Verriss stehende Sprache – in weiten Teilen geprägt hat. Kern des Artikels ist die bereits in Kapitel 3.6.2 angesprochene Problematik der Klangeffekthascherei und Technik um

499 500 501

200

Die Zahlen reichen je nach Quelle von 8–18 Millionen und sind daher wenig aussagefähig. Jarre, Jean-Michel: Oxygène, https://de.wikipedia.org/wiki/Oxygène (abgerufen am: 14.02.2021). Vgl. Sounds 1979, S. 1500 ff. Behrendsen / Rüsenberg 1978.

4.4  Exkurs: Giorgio Moroder und der Disco-Sound

ihrer selbst willen. So behaupteten die Autoren, dass entgegen »der ursprünglichen Konzeption« des frei programmierbaren modularen Synthesizers mittlerweile eine standardisierte Klangästhetik in der Rock- und Jazzmusik Einzug gehalten hätte, die von den Hörern als solche erkannt werde.502 Die Ursache sei darin zu finden gewesen, dass durch die Abkehr vom modularen System hin zum vorverdrahteten Synthesizer zwecks besserer Handhabbarkeit im Live-Betrieb eine unbewusste Vereinheitlichung von Klängen entstanden sei, die textuell auf die industriell etablierte Abfolge der Baugruppen VCO / VCF / VCA zurückgeführt werden könne.503 Einige Musiker hätten den Synthesizer als Imitationsinstrument benutzt und Streicher und Bläser sowie Meeresrauschen und Wind emuliert, wobei die Technizität des Instruments und seine Möglichkeit, andere Instrumente und dadurch auch Musiker überflüssig zu machen, in den Vordergrund getreten sei. Ferner sprachen die Autoren von einem »Technik-Kult«,504 da zur Erzielung einer größeren Klangvariabilität angesichts der zum damaligen Zeitpunkt nur bedingt vorhandenen Speicherbarkeit und Polyphonie viele Geräte nötig gewesen seien, deren schiere Masse auf der Bühne für einen Show-Effekt sorgte, der schon bei Emerson, Lake & Palmer zu sehen war. Eine Elektronikband wie Tangerine Dream etwa würde ihr Instrumentarium wie einen elektronischen Fetisch oder elektronischen Altar präsentieren, wobei angesichts dieser überbordenden Technik die musikalische Reflexion der Gruppe bezweifelt werden müsste. Dementsprechend werteten Behrendsen und Rüsenberg die damit erzeugten Klänge als typische Synthesizer-Klischees ab.505 Dass die beiden Autoren der damaligen populären elektronischen Musik äußerst kritisch gegenüberstanden, ist augenscheinlich; trotz aller berechtigter Einwände wird dies vor allem deutlich, wenn man die Passagen betrachtet, in denen Synthesizer-Musik lobend erwähnt wird: Hier bezogen sich Behrendsen und Rüsenberg auf jene Synthesizer-Spieler, die das Gerät spieltechnisch – also pianistisch – beherrschten,506 wobei sie den Parameter Klangfarbe völlig außer Acht ließen und sich lediglich auf den kunstvollen Einsatz der Spielhilfen wie Pitch-Bending und des Modulationsrades beschränkten, der ihrer Meinung nach die Qualität des Ausdrucks respektive des individuellen (Spiel-)Stils der Musiker verdeutlichen würde. Dieses Urteil steht vor allem in Deutschland sinnbildlich für einen großen Teil der in der traditionellen Rockmusik beheimaten Riege von Musikjournalisten, die mit der Automatisierungsmöglichkeit von Klangmaschinen nur wenig anfangen konnten: Im 502 503 504 505 506

Ebd., S. 136. Behrendsen / Rüsenberg 1978, S. 142 f. Ebd., S. 147. Ebd., S. 148. Ebd., S. 150.

201

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Gegenteil, durch die fragwürdige gedankliche Gleichsetzung von musikalischer Qualität und musikalischer Interaktion durch kunstvolles, instrumentales Spiel konnte ein Gerät wie der Sequenzer etwa als Sinnbild von entmenschlichter, seelenloser Automatenmusik nur auf große Ablehnung stoßen. Diesen Punkt muss man sich immer vergegenwärtigen, wenn man den musikjournalistischen Zeitgeist  – und Behrendsens und Rüsenbergs Meinung ist diesbezüglich durchaus repräsentativ  – in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre betrachtet. Dass ein im Vorjahr des Artikels erschienenes Album wie Trans Europa Express, bei dem Kraftwerk bereits ultimativ auf Automationstechniken gesetzt hatten, in der musikjournalistischen Rezeption da nur abgeurteilt werden konnte, scheint klar.507 Diese polarisierende Haltung repräsentiert allgemein den erhobenen Anspruch auf Deutungshoheit in der kritischen Auseinandersetzung mit Rock- und Popmusik der damaligen Zeit, bei der unter dem Gütesiegel einer vermeintlichen, handgemachten Authentizität musikalische Qualität von vielen Journalisten primär nur den unterschiedlichen Stilrichtungen des Rock attestiert wurde, während man andere Stilrichtungen per se abqualifizierte. Dabei ist allerdings wie erwähnt zu berücksichtigen, dass sich der popmusikalische Diskurs vor allem in Deutschland durch den mitunter bemüht wirkenden intellektuellen Duktus oft gezielt besonders ernsthaft und kritisch gab – auch, um den Eindruck eines hochwissenschaftlichen Niveaus zu erwecken –, während sich etwa der Musikjournalismus in England vermeintlich oberflächlicher, aber auch offener gegenüber neuen Entwicklungen gerierte: Den im Jahre 1976 aufgekommenen, gitarrenlastigen Punk schon wieder im Niedergang betrachtend sahen etwa die Musikjournalisten des englischen Magazins Sounds in der Verwendung des Synthesizers eine wegweisende Neuentwicklung in der Popmusik und veröffentlichten unter dem Begriff »New Musick« eine Reihe von Leitartikeln über die auf diesem Feld operierenden Gruppen und Musiker.508 Bezogen auf eine wie von Behrendsen und Rüsenberg propagierte Geisteshaltung war es allerdings nur folgerichtig, dass eines dieser neuen, vom Synthesizer massiv Gebrauch machenden Genres wie die in diesem Kapitel zu behandelnde Disco-Music,509 deren Textur ab 1977 durch die Gleichförmigkeit und Repetition des Sequenzers maßgeblich geprägt wurde, nur durch das Raster vermeintlicher musikalischer Qualität fallen konnte. Das zen­ trale Element dieser Stilrichtung  – die Tanzbarkeit  – war dabei ein Kriterium, welches sich in der journalistischen Rezeption nur schwer fassen ließ und daher

507 508 509

202

Vgl. Rezension von Trans Europa Express in: Sounds 1979, S. 1404. Buckley 2013, S. 179 ff. Im Folgenden mit der Kurzform »Disco« benannt.

4.4  Exkurs: Giorgio Moroder und der Disco-Sound

durch die daraus resultierende Außerachtlassung überhaupt keine argumentative Relevanz besaß. Den Anfang nahm Disco ab der ersten Hälfte der 1970er Jahre folgerichtig in den (New Yorker) Clubs. Die Fokussierung auf eine Örtlichkeit – die Tanzflächen der Diskotheken – war entscheidend, da es sich dabei zunächst nicht um Musik handelte, die in Proberäumen oder Studios geboren durch die spezifische Gestaltung musikalischer Parameter das Genre definierte, sondern durch die Akzeptanz des Konsumenten bestimmt wurde. Der Journalist Tom Smucker urteilte: »But early disco didnt’t just get by without live acts, it made the audience – the dancers – the live act. It shifted the location of the performance, and hence the way the genre defined itself. If it was danced to at the Loft, then it was disco.«510

Als Initiator fungierten hierbei dementsprechend vordergründig nicht die Musiker und Produzenten, sondern der DJ, dessen Gespür für die Wünsche der Tanzenden der maßgebende Faktor war. Als dafür nützlich kristallisierten sich eine Mischung aus Motown- und Phillysound-Produktionen sowie Stücke des Funk heraus,511 denen als übergreifendes Momentum eben jene Tanzbarkeit gemein war – ein Terminus, dem repetitive und gleichförmige Kompositionen mit einem Tempo von 100–120 bpm am ehesten gerecht wurden. Diese Koordinaten erkennend, begannen ab Mitte der 1970er Jahre Musiker respektive Produzenten wie Van McCoy oder Giorgio Moroder Stücke zu komponieren, die genau auf diese Kriterien zugeschnitten waren,512 so dass man fortan statt eines eher diffusen Konglomerats unterschiedlichster Musik von einer spezifischen Discomusik sprechen konnte. Einer der Prototypen dieses Genres war dabei die von Moroder in den von ihm gegründeten Münchner Musicland Studios im Jahre 1975 für die Sängerin Donna Summer produzierte Single »Love to Love You Baby«, die vor allem in ihrer 16-minütigen Remix-Version auf große Resonanz auf den Dancefloors stieß. Zentrales Element war ein gleichförmiger Rhythmus mit einer durchgehenden, komprimierten Bassdrum auf den Vierteln, zu dem sich auf der zweiten und vierten Zählzeit eine Snaredrum sowie eine Hi-Hat-Figur gesellte, die in späteren Produktionen häufig mit einer akzentuierten offenen Hi-Hat die Achtelnoten auf den »Und«-Zählzeiten betonte. Obgleich Kombinationen dieser Elemente bereits seit Ende der 1960er Jahren in diversen Produktionen Eingang gefunden haben, ist das Pattern in seiner Gesamtheit erstmals durch den Phillysound-Studioschlagzeuger Earl Young auf dem im Jahre 1973 veröffentlichten 510 511 512

Smucker 1992, S. 562. Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 195 f. Poschardt 2001, S. 111.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Stück »The Love I Lost« der Gruppe Harold Melvin & the Blue Notes513 gespielt worden. Ob aus Unwissenheit über dieses Faktum oder aus dem Versuch einer historischen Selbstaufwertung heraus behauptete Moroders Co-Produzent Pete Bellotte allerdings, dass dieses Pattern während eines Soundchecks zu den Aufnahmen zu »Love to Love You Baby« zustande gekommen sei, bei dem der Session-Schlagzeuger Keith Dorsay zum Aufwärmen die Four-to-the-Floor-Bassdrum-Figur mit dem Hi-Hat-Pattern des von der Gruppe The Hues Corporation im Jahre 1974 veröffentlichten Stückes »Rock the Boat« kombinierte, welches die Spitze der US-Billboard-Charts erklommen hatte.514 Pete Bellotte: »That is how the first disco beat elements came about. […]. They simply came out of that jam.«515 Ungeachtet dieser offensichtlichen historischen Ungereimtheit erscheint allerdings die Erwähnung des Faktors Zufall von Bedeutung: So betonte Moroder gleichfalls, dass bei seinen Disco-Produktionen keinesfalls eine am Reißbrett entworfene Strategie bezüglich der Komposition oder des Sounds zugrunde lag. Vielmehr hätten die Songs aus einer Mixtur von in Jam-Sessions entwickelten Groove-Elementen, musikalischen Fragmenten hinsichtlich der Harmonien und Melodien sowie den technischen Gegebenheiten des zum Einsatz kommenden Instrumentariums bestanden,516 was gleichfalls Rückschlüsse auf das stereotype Klangbild zulässt: Über die trocken abgemischte Schlagzeugspur wurde eine meist gleichförmige, in Oktavsprüngen erfolgende Basslinie gelegt. Dieses Fundament ließ genügend Freiraum für Klangeffekte, die speziell auf den großen PAAnlagen der Diskotheken, für die diese Musik ja produziert wurde, zur vollen Geltung kommen konnten. Der Einsatz dieser Effekte wurde durch das Aufkommen der Maxi-Single evoziert, da sie durch die größere Rillenbreite über einen größeren Dynamikumfang verfügte und gleichzeitig bei der Wiedergabe in hohen Lautstärken wesentlich rauschärmer war als die herkömmliche Langspielplatte.517 Zu diesen Effekten gesellte sich der Gesang, welcher weniger in Form von Strophe und Refrain Popsong-orientiert war, sondern eher als klangliches Additiv fungierte. Unterschiedliche Pattern und Sequenzen wurden dabei baukastenartig in immer neuen Konstellationen zusammengefügt, so dass die Musik einem Kontinuum glich. Moroder wurde dabei schnell klar, dass angesichts des

513

Harold Melvin &  the Blue Notes: »The Love I Lost«, https://en.wikipedia.org/wiki/The_ Love_I_Lost (abgerufen am: 14.03.2021). 514 The Hues Corporation: »Rock the Boat«, https://en.wikipedia.org/wiki/Rock_the_Boat_ (The_Hues_Corporation_song) (abgerufen am: 14.03.2021). 515 Buskin, Richard: Donna Summer ›I Feel Love‹ | Classic Tracks, in: Sound On Sound 10/2009, https://www. soundonsound.com/people/donna-summer-i-feel-love-classic-tracks (abgerufen am: 08.02.2018). 516 Ebd. 517 Wicke 1998, S. 263 f.

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4.4  Exkurs: Giorgio Moroder und der Disco-Sound

Klangfarbenreichtums des Synthesizers und der gleichförmigen Repetitivität des Sequenzers sich diese beiden Werkzeuge am besten für seine Produktionen eigneten. Bereits 1970 kam Moroder durch den Tontechniker Robert Wedel des ebenfalls in München ansässigen Komponisten Eberhard Schoener mit dem damals einzigen in Deutschland verfügbaren Moog-Synthesizer in Berührung. Allerdings wollte Schoener ihm sein Modularsystem nicht zur Verfügung stellen, da er als zeitgenössischer Komponist der Verwendung des Instruments in einem Popmusik-Kontext kritisch gegenüberstand.518 Dieses Problem umging Moroder dadurch, dass er das Gerät über Robert Wedel – den er in Ermangelung eigener technischer Fähigkeiten hinsichtlich der Bedienung des Synthesizers als Klangprogrammierer engagierte – immer während der kurzen Zeiträume, wenn Schoener nicht in München war, unautorisiert auslieh.519 Erstmals war der Synthesizer auf Moroders im Jahre 1972 unter dem Künstlernamen Giorgio veröffentlichter, wenig erfolgreicher Single »Son Of My Father« zu hören, die allerdings in einer nahezu identisch klingenden Neueinspielung der englischen Gruppe Chicory Tip noch im selben Jahr in den UK-Charts auf Platz 1 stieg.520 Sowohl der Einsatz des Synthesizers in Form eines immer wiederkehrenden, die Gesangsphrasen in den Strophen verbindenden Arpeggios sowie eines ebenfalls Arpeggio-lastigen Solos nach dem ersten Refrain als auch die eher einfach gehaltenen Klangfarben fallen jedoch eher konservativ aus und lassen sich – suchte man nach einem klanglichen Vergleich – am ehesten mit der Verwendung des Synthesizers bei Keith Emerson in Gestalt eines elektronischen Klangadditivs als Ergänzung zum herkömmlichen Rockinstrumentarium in Verbindung bringen. Das 1975 erschienene und mit Einzelgänger betitelte Soloalbum Moroders hingegen basiert vollständig auf elektronischer Klangerzeugung und erinnert  – auch wenn Moroder immer wieder poppige Melodien einarbeitet  – durch seine permanent tiefpassgefilterten Klangflächen und das rudimentäre Sequencing an den psychedelischen Ansatz Tangerine Dreams, deren Klangfarbenreichtum aber nicht erreicht wird. Zwei Aspekte dieses Albums verdienen aber besonderer Erwähnung: So erinnert die Art der Gesangsbearbeitung und -verfremdung durch das Modularsystem immer wieder an die Vocoder-Klänge Kraftwerks. Der Beginn des Albums mit der Aufzählung der Zahlen »eins, zwei, drei, vier« erweckt sogar den Eindruck, als

518

Buskin, Richard: Donna Summer ›I Feel Love‹ | Classic Tracks, in: Sound On Sound 10/2009, https://www. soundonsound.com/people/donna-summer-i-feel-love-classic-tracks (abgerufen am: 08.02.2018). 519 Ebd. 520 Chicory Tip: »Son Of My Father«, https://en.wikipedia.org/wiki/Chicory_Tip (abgerufen am: 03.02.2021).

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könne dies als Vorbild für das im Jahre 1981 von Kraftwerk veröffentlichte Stück »Nummern« gedient haben. Allerdings ist die Vocoderisierung von Zahlwörtern bereits durch die TV-Serie »Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion« in Form eines vom Komponisten Peter Thomas gesprochenen und mit dem Vocoder des Siemens-Studios in München bearbeiteten Countdowns einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland 1966 bekannt geworden, so dass es sich bei Moroder keineswegs um ein klangliches Novum handelte. Darüber hinaus verzeichnete Einzelgänger keinerlei Chart-relevante Position, so dass fraglich ist, ob Kraftwerk davon überhaupt Notiz genommen haben. In jedem Falle interessant ist das Stück »Percussiv«, in dem der Moog-Sequenzer in Verbindung mit perkussiven, größtenteils nicht tonalen Klangfarben sowie einem rudimentären Drumcomputer im Vordergrund steht. Zentrales Element sind dabei Patches, die durch Filterung und gleichzeitige Modulation dieser durch schnelle Hüllkurvenverläufe einiges von jenen rhythmischen Klangmustern vorwegnehmen, die vor allem durch Kraftwerks Album Die MenschMaschine einem größeren Publikum zuteilwerden sollte. Insbesondere dann, wenn Moroder hohe Resonanzwerte verwendet, erhalten die Klänge jenes dynamisch druckvolle, fast peitschenartig anmutende Spektrum, das für Kraftwerk zu einem Signature Sound werden sollte. Dennoch kann auch hier aufgrund des Nischendaseins von Moroders Album eine bewusste Rezeption durch Kraftwerk nicht nachgewiesen werden. Moroders Klangfarben fallen auch nicht allzu spektakulär aus: Sie repräsentieren eher das klangliche Ausloten der Möglichkeiten des Modularsystems hinsichtlich perkussiver Klänge – was allein schon durch die simple Betitelung des Stückes deutlich wird – und betonen damit vielmehr den generell experimentell ausfallenden Charakter des Albums. Das Album zeigt aber, dass Moroder bereits 1975 über ein wenn auch eher rudimentäres, so doch zumindest vorhandenes Rüstzeug hinsichtlich elektronischer Klangfarben verfügte, die ihm in seinen folgenden Produktionen sehr zupasskamen. Setzte Moroder bei »Love to Love You Baby« noch weitgehend auf konventionelles Instrumentarium, wollte er die einzelnen Spuren für die Produktion des im Jahre 1977 veröffentlichten, ebenfalls für Donna Summer komponierten Song »I Feel Love« ausschließlich mit dem Moog realisieren, was mit Ausnahme der Bassdrum auch gelang.521 Auch hier griff er wieder auf Wedel als Techniker zurück, dessen Arbeit die Produktion erst möglich machte. Wedel hatte eine Möglichkeit entdeckt, den Moog durch ein spezielles Clicktrack-Verfahren mit 521

206

McConville, Davo: Wie Giorgio Moroder »I Feel Love« geschrieben hat, in: Vice, 30.04.2014, https:// www.vice.com/de/article/rmag3v/giorgio-moroder-ueber-donna-summers-i-feel-love (abgerufen am: 13.03.2021).

4.4  Exkurs: Giorgio Moroder und der Disco-Sound

der Mehrspur-Bandmaschine zu synchronisieren, was die Einspielung der einzelnen Spuren maßgeblich vereinfachte und die Basis für den quantisierten Groove bereitete. Darüber hinaus zeichnete er für viele Klänge verantwortlich: So programmierte er sowohl die Snaredrum und die Hi-Hat als auch den aus einem anschwellenden Tiefpassfilterverlauf bestehenden charakteristischen SweepSound. Das entscheidende Element seiner Arbeit war aber die Realisation der dem Stück zugrunde liegenden Synthesizer-Sequenz, deren Zustandekommen Moroder wie folgt beschreibt: »I did not compose [›I feel Love‹] the way I usually compose […]. I didn’t really know how to start, so I started with a bass line which was in C, so Robby gave me a C, and then I asked for a G, and then a B, and so I had dun dun dun dun. Then I triggert it, so it started to play dun dun dun dun, dun dun dun dun.«522

Diese Sequenz wurde daraufhin von Wedel mit einem Delay bearbeitet, welches die komplette Atmosphäre des Sounds veränderte und zu dem treibenden Charakter des Stückes geführt habe.523 Objektiv betrachtet war diese Sequenz tonal oder klanglich keineswegs revolutionärer Natur: Ähnliches war bereits auf zahlreichen Aufnahmen von Klaus Schulze und Tangerine Dream zu vernehmen – auch das durchgehende 16tel-Noten-Pattern auf »Radio-Aktivität« weist eine gewisse Ähnlichkeit auf. Es verwundert daher umso mehr, dass Eberhard Schoener sich als geistiger Vater der »I Feel Love«-Sequenz betrachtete: So etwa führte er diese auf ein für den 1977 veröffentlichten Song »Falling in Trance« entwickeltes und »Black und Decker« genanntes Sequencing-Konzept zurück, welches ebenfalls aus sich im Panorama hin und her bewegenden, mit einem Delay versehenen 16tel-Noten bestand und durch die »Sorglosigkeit« Robert Wedels an Moroder weitergegeben worden sei.524 Es scheint angesichts dieser eher vagen Ähnlichkeiten wenig verwunderlich, dass ein von Schoener angestrengter Plagiatsprozess verloren wurde. Interessant an Moroders Aussage ist, dass die Arbeit mit dem Sequenzer offensichtlich einem Trial-and-Error-Prozess unterworfen war, bei dem die einzelnen Schritte der Sequenz so lange ausprobiert und auf ihre musikalische Wirkung getestet wurden, bis ein brauchbares Ergebnis zustande kam: Instrumentale Beherrschung war obsolet geworden – Wasser auf 522

Bein, Kat: Giorgio Moroder Talks 40 Years of ›I Feel Love,‹ Which Made David Bowie Depressed & Nile Rodgers Practice, in: Billboard, 27.07.2017, https://www.billboard.com/articles/news/dance/7881819/ giorgio-moroder-i-feel-love-donna-summer-david-bowie-nile-rodgers-brian-eno (abgerufen am: 12.02.2021). 523 Buskin, Richard: Donna Summer ›I Feel Love‹ | Classic Tracks, in: Sound On Sound 10/2009, https://www. soundonsound.com/people/donna-summer-i-feel-love-classic-tracks (abgerufen am: 08.02.2018). 524 Mig-Music: Eberhard Schoener  – Trance-Formation, http://www.mig-music.de/releases/eberhardschoener-5/ (abgerufen am: 08.02.2018).

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die Mühlen von kritischen Stimmen wie die von Behrendsen und Rüsenberg –, für das Erfüllen des Kriteriums der Tanzbarkeit war sie aber auch nicht vonnöten. Vielmehr wäre jede menschliche Ungenauigkeit dem gewollten Effekt eines kontinuierlichen und auf der Tanzfläche konsumierbaren Klangflusses ebenso abträglich gewesen wie radikale Klangänderungen oder experimentelle Klänge. Moroder selbst machte keinen Hehl daraus, dass zum einen komplexere Klänge nicht nötig waren, er zum anderen aber auch nicht zur Generierung derselben fähig gewesen wäre: »Der Synthesizer bietet grenzenlose Klangmöglichkeiten, aber ich bin wiederum ein viel zu kommerzieller Komponist, um diese voll ausschöpfen zu können. Das würde ich zwar gerne, aber ich muss akzeptieren, dass ich weder die Zeit noch die Fähigkeiten dazu hätte. Obendrein bin ich sowieso kein besonders guter Keyboardspieler. Tatsächlich bin ich sogar ein ziemlich mieser Keyboardspieler …«525

Die Kombination aus einer mit einem Echo bearbeiteten, tiefpassgefilterten Sägezahnsequenz mit dem Disco-typischen Four-to-the-Floot-Beat wie bei »I Feel Love« war zum damaligen Zeitpunkt in ihrer Wirkung völlig neu, so dass es ähnlich wie schon bei den auf Switched-On Bach zu hörenden Klangfarben, die ja aus heutiger Sicht eher rudimentär und eindimensional anmuten, keiner aufwendigeren Klanggestaltung bedurfte. Wie revolutionär der Klang damals erschien, zeigt ein Zitat Brian Enos während der Aufnahmen zu David Bowies Album Low, dessen klangliche Textur wie erwähnt ja häufiger in Verbindung zu Kraftwerk gebracht wurde: »David, wir können aufhören nach dem Klang der Zukunft zu suchen, dieser Moroder hat ihn mit ›I Feel Love‹ schon entdeckt.«526 Angesichts des Erfolgs dieses Stückes nahm Moroder im Jahre 1977 mit From Here to Eternity ein Album auf, welches dieses Klanggewand perfektionierte. Obgleich Trans Europa Express in vielerlei Hinsicht zentrale Elemente der elektronischen Tanzmusik vorwegnahm, wirkt Moroders Werk diesbezüglich doch ungleich moderner. So gehen etwa die ersten fünf Stücke des Albums nahtlos ineinander über. Themen werden ein- und ausgeblendet, Percussionpattern werden sukzessiv addiert und subtrahiert, jegliche musikalische Entwicklung steht unter der Prämisse eines kontinuierlich wechselnden Klangflusses, dessen Kon­ stante der treibende, ohne jeglichen Break durchlaufende Four-to-the-Floor-Beat ist. Dennoch lehnt sich Moroder durch die Verwendung von Strophe und Ref-

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Buckley 2013, S. 178 f. Moroder, Giorgio, in: Bayerischer Rundfunk, https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuend funk/pop-platten/i-feel-love-wird-40-100.html (abgerufen am: 08.02.2018).

4.4  Exkurs: Giorgio Moroder und der Disco-Sound

rain zumindest beim Titelstück auch an popmusikalische Strukturen an, die der Komposition einen kommerziellen Charakter verleihen. Das futuristische Klangbild wird hierbei wie bei Kraftwerk durch den omnipräsenten Einsatz des Vocoders unterstützt, obwohl Moroder dies durch natürliche männliche und weibliche Gesangsfragmente kontrastiert – ebenfalls ein gewolltes Zugeständnis an den Massengeschmack. Bei »Faster than the Speed of Love« werden verschiedene Vocoderpassagen übereinandergeschichtet, die dem Stück eine chorähnliche Textur verleihen, wie sie auf der für das 1991 von Kraftwerk veröffentlichte Al­­bum The Mix überarbeiteten Version von »Autobahn« zu hören ist. Den durch die technische Limitierung des Sequenzers hervorgerufenen Schwierigkeiten bezüglich der Erzeugung beider Tongeschlechter bei einer durchlaufenden Sequenz begegnet Moroder auf mannigfaltige Art. So erfolgt bei dem Titelstück »From Here to Eternity« eine permanent durchgehende 16tel-Sequenz, deren Tonhöhe über ein Keyboard gesteuert wird, so dass der ausführende Keyboard-Spieler lediglich bei einer Tonänderung einmal eine Taste drücken musste, während die Sequenz durch das Clicktrack-Verfahren synchron zum Rest der Musik läuft. Das gleiche Prinzip von mitunter rhythmisch differenzierten Pattern wendet Moroder bei den Stücken »First Hand Experience in Second Hand Love« und »I’m left, You’re right, She’s gone« an. Bei »Too Hot to handle« erfolgt die Einspielung manuell. Lediglich beim Stück »Utopia – Me Giorgio« arbeitet Moroder mit Rückungen, wie sie auch auf Kraftwerks »Europa Endlos« zu hören sind. Die diesem Stück zugrunde liegenden Sequenzen sind allerdings durch das Auslassen der Terzen tongeschlechtsneutral angelegt. Harmonische Einfärbungen werden lediglich  – wie bei »I Feel Love«  – durch die Addition der kleinen Septime erzeugt. Die Sounds sind dabei ähnlich wie bei »Trans Europa Express« durch kurze DecayPhasen bei geringen Sustain-Werten in den Lautstärkehüllkurven sehr perkussiv gehalten, bekommen aber durch die Übereinanderschichtung mehrerer, separat mit leichtem Phasing bearbeiteten Sequenzen einen lebendigeren Charakter. Zwar verzichtete Moroder auf jene Disco-typischen, mitunter opulent ausfallenden Streicher-Arrangements, die bei seinen vorhergehenden Produktionen noch einen zentralen Platz einnahmen, aufgrund seiner kommerzielleren Ausrichtung sind die Stücke auf From Here To Eternity dennoch immer eine Spur gefälliger und klanglich verdichteter, als dass das bei Kraftwerk angesichts ihres propagierten Minimalismus der Fall war. Interessant ist beim Titelstück die Verwendung eines synthetischen Streicherflächenklanges, der durch das Spielen eines ausgehaltenen Moll-Akkordes, welcher sukzessiv mittels Pitchbending für kurze Zeit um einen Ganzton nach unten transponiert wird, starke Assoziationen zum klanglichen Pendant auf Trans Europa Express weckt. Überhaupt wird gerade im Hinblick auf das im nächsten Kapitel diskutierte, im Jahre 1978 von Kraftwerk veröffentlichte

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Album Die Mensch-Maschine deutlich, dass zum damaligen Zeitpunkt Kraftwerk und Moroder zum Verwechseln ähnlich klangen – allerdings gebührt Moroder die Ehre, diese auf Die Mensch-Maschine und From Here to Eternity zu vernehmende Klangästhetik als Erster geschaffen zu haben. Dass Moroders Produktionen im direkten Vergleich druckvoller und aktueller klingen, mag neben seiner Vorliebe für ein größeres Multilayering sowohl seiner Erfahrung als Produzent als auch der technischen Ausstattung seiner Musicland Studios geschuldet sein, das in dieser Zeit als eines der renommiertesten Tonstudios der Welt galt: Der dort produzierte »Munich Sound« galt in den 1970er und 1980er Jahren in der Popmusik als Gütesiegel erster Klasse. Obwohl Kraftwerk wie erwähnt nie Kosten und Mühen gescheut haben, technisch am Puls der Zeit zu sein, konnte man angesichts der Qualität von Moroders Outboard-Equipment bezüglich der Klangnachbearbeitung wie etwa durch Kompressoren offenbar nur bedingt Schritt halten. Aus tontechnischer Warte betrachtet scheinen etwa bei den Stücken auf From Here to Eternity die Bassdrums auf den einzelnen Vierteln regelrecht zu explodieren, während sie vor allem auf Trans Europa Express aber auch auf Die MenschMaschine spröde und dünn wirken. Die Problematik hinsichtlich einer High-EndProduktion und Mischung wurde Kraftwerk spätestens während den Aufnahmen zum Album Techno Pop / Electric Café ab dem Jahre 1983 bewusst: Das Kling Klang Studio bot trotz hochwertiger technischer Ausstattung nicht die nötigen Räumlichkeiten, die dafür nötig gewesen wären: So gab es keinen abgetrennten Aufnahme- und Regieraum, der ein optimales Abmischen und Abhören möglich gemacht hätte. Aus diesem Grund mussten Kraftwerk den finalen Mix und das Mastering immer in externen Studios vornehmen, was angesichts der sukzessiven Verfeinerung des Klangbildes von Album zu Album immer schwieriger wurde, da nachträgliche Änderungen und Eingriffe in das vorgemixte Audiomaterial nur sehr schwer zu realisieren waren – tontechnische Schwierigkeiten, die im Jahre 1978, welches den zeitlichen Ausgangspunkt des nächsten Kapitels bildet, noch nicht so eklatant waren. Neben der Analyse des Albums Die Mensch-Maschine soll daher im Folgenden ebenfalls näher untersucht werden, worin die angesprochenen musikalischen und klanglichen Ähnlichkeiten zwischen Moroder und Kraftwerk bestanden.

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4.5  Die Mensch-Maschine

4.5  Die Mensch-Maschine

4.5.1 Konzept, produktionstechnische Voraussetzungen und neue Klänge Das Album Die Mensch-Maschine wurde ab dem Sommer 1977 im Kling Klang Studio aufgenommen, in Zusammenarbeit mit Leanard Jackson und Joschko Rudas im Rudas Studio in Düsseldorf gemischt und im Jahre 1978 veröffentlicht. Konzeptuell behandelt das Album technische Sujets wie Kybernetik und Raumfahrt, aber auch den urbanen Raum. Pate hierfür standen nach Aussage von Karl Bartos unter anderem der 1977 erschienene Film »Star Wars« respektive die darin vorkommenden Charaktere in Form der Roboter »C-3PO« und »R2-D2« sowie der erstmals 1927 gezeigte Film »Metropolis«, aus dem auch der Albumtitel Die Mensch-Maschine entnommen wurde.527 Musikalisch basiert es auf dem Vorgängeralbum; so lassen sich aus produktionstechnischem Blickwinkel die intensive Verwendung des Sequenzers und des Vocoders genauso wiederentdecken wie in kompositorischer Hinsicht die harmonischen Rückungen und die seit Ralf und Florian signifikanten zwei- bis viertaktigen Synthesizer-Melodien. Im Gegensatz zu Trans Europa Express ist neben Ralf Hütter nicht nur wieder Florian Schneider, sondern auch Karl Bartos als Komponist kreditiert.528 Laut Bartos war diesem Umstand bereits seine kompositorische Mitwirkung bei den Stücken »Spiegelsaal« und »Trans Europa Express« auf dem gleichnamigen Vorgängeralbum vorangegangen, bei dem eine Kreditierung seiner Person hinsichtlich der Urheberschaft allerdings noch nicht erfolgte. Infolge eines diese Problematik klärenden Gesprächs mit Ralf Hütter wurde Bartos ab dem Album Die Mensch-Maschine fortan auf allen folgenden, während seiner bis zum Jahre 1990 andauernden Mitgliedschaft bei Kraftwerk veröffentlichten Album als Co-Autor genannt.529 Es lohnt sich an dieser Stelle ein näherer Blick auf die Aufgabenverteilung innerhalb Kraftwerks. Bartos selbst äußerte sich dazu wie folgt: »[…], irgendeiner von uns macht die Einleitung, ein anderer den Schlussteil, das improvisieren wir, wir jammen drei oder vier Stunden lang … Florian [Schneider] hat vor allem an der Soundstruktur und mit den Maschinen gearbeitet, er ist jemand, den ich nicht unbedingt als Musiker bezeichnen würde, er ist eher ein Künstler. […] Eigentlich kennt er sich mit Musikakkorden gar nicht aus, sein 527 528 529

Bartos 2017, S. 247 ff. Während Bartos an allen Kompositionen beteiligt war, wirkte Schneider bei den Stücken »Die Roboter«, »Metropolis«, »Neonlicht« und »Die Mensch-Maschine« als Komponist mit. Bartos 2017, S. 232 f.

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musikalischer Ansatz ist eher orientalisch, stundenlang und gedankenverloren herumzuspielen.«530

An anderer Stelle bezeichnet Bartos Schneiders kompositorischen Anteil wie folgt: »Wenn man seine Kernkompetenz, die künstliche Sprache, einmal außen vor lässt, bestand sein Talent darin, Klänge oder Geräusche zu erzeugen. […]. Er hatte so eine Art ›Action Painting in Sound‹ drauf, womit er mich gelegentlich ziemlich verblüffte. Immer wenn es in einer Tonart geradeaus ging, war es Florian, der einen absolut unerwarteten Sound, verbunden mit einem akzeptablen Timing brachte.«531

Wie zahlreichen Beispielen in Bartos’ Autobiografie zu entnehmen ist, scheinen die Stücke Kraftwerks ab Die Mensch-Maschine bezüglich ihrer musikalischen Primärkomponenten offensichtlich in großen Teilen aus den von Hütter und Bartos im Kling Klang Studio abgehaltenen Jam-Sessions – von Bartos als »Writing Sessions«532 benannt – hervorgegangen zu sein, wobei Florian Schneider wohl vor allem im Bereich des Sounddesigns tätig war. Wolfgang Flür trat – wenn überhaupt – allenfalls in Verbindung mit Live-Auftritten sowie mit dem Design von Instrumenten respektive dem im Zuge der Produktion zum Nachfolgealbum Computerwelt erfolgten Umbau des Kling Klang Studios in Erscheinung. Ein musikalischer Input seinerseits während der Studioarbeit scheint jedoch keine nennenswerte beziehungsweise kreditierungswürdige Rolle gespielt zu haben. Das Studio selbst bot durch die im vorherigen Kapitel beschriebene Absenz einer räumlichen Trennung von Regie- und Aufnahmeraum keine vollwertigen Möglichkeiten, um eine komplett autarke, die unterschiedlichen aus Aufnahme, Abmischung und Mastering bestehenden Arbeitsschritte vereinende Produktion realisieren zu können. Angesichts des Umstandes, dass das Kling Klang Studio aus einem 12 × 6 Meter großen und 6 Meter hohen Raum bestand, welcher ohne den Einsatz von Nahfeldmonitoren ausschließlich von einer an der Studiorückwand angebrachten PA beschallt wurde, war nach Aussage von Karl Bartos trotz des Einsatzes von Schallabsorbern eine kontrollierte Ausstrahlung von Bassfrequenzen nicht möglich, so dass auch die Einordnung respektive Einbettung dieser im Gesamtklang nicht in dem Maße gelingen konnte, wie es in konventionellen Tonstudios der Fall war. Bartos begriff dieses Handicap allerdings keinesfalls als Nachteil, vielmehr empfand er die durch die PA evozierte Live-Atmosphäre 530 531 532

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Zit. n. Karl Bartos in: Bussy 1995, S. 126. Bartos 2017, S. 232 f. Bartos, Karl: Karl Bartos in einem Interview mit Philipp Holstein, in: RP-Online, 09.11.2017, https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/kultur/kraftwerk-hat-die-poesie-verloren_aid20810025 (abgerufen am: 20.07.2019).

4.5  Die Mensch-Maschine

für die Jam-Sessions und damit für den eigentlichen Kompositionsprozess als stimulierend.533 Da für Die Mensch-Maschine Peter Bollig als Aufnahmeingenieur nicht zur Verfügung stand, ließen Hütter und Schneider ein sogenanntes Aufspielpult von Matten und Wiechers anfertigen, mit welchem man die Signale der einzelnen Instrumente über eine Matrix auf die Bandmaschine routen konnte.534 Generell blieben sich Kraftwerk treu und erweiterten ihr Instrumentarium: Neben einem zweiten Minimoog sowie einem zweiten ARP Odyssey war vor allem der Polymoog eine für Die Mensch-Maschine klanglich maßgebliche Anschaffung. Es handelte sich hierbei um einen vollpolyphonen Synthesizer, dessen Klangarchitektur – obwohl vordergründig auf Preset-Klängen basierend – durch eine integrierte Resonatorenbank mehrstimmige Klänge erzeugen konnte, die sich durch ihre Lebendigkeit deutlich vom Orchestron unterschieden, welches zum damaligen Zeitpunkt die einzige polyphone elektronische Klangquelle im Kraftwerk-In­­ strumentarium darstellte. Hinsichtlich der Erweiterung des Klangspektrums ist gleichfalls die sich ständig erweiternde Vocoder-Sammlung Florian Schneiders zu nennen, welche auf dem Album in Gestalt des VSM 201 der Firma Sennheiser und eines nicht näher genannten japanischen Vocoders535 zu vernehmen ist. Das omnipräsente und gleichzeitig programmatische Klangwerkzeug ist aber das Sequencing: So liefen nach Aussage von Wolfgang Flür dem konzeptuellen und kompositorischen Überbaus des Albums – Maschinisierung und Automatisierung536 – folgend im Studio manchmal tagelang in nur minimaler Form veränderte Synthesizer-Sequenzen, um deren Wirkung zu testen.537 Gleichfalls übertrug sich die maschinelle Präzision infolge einer modifizierten, von 12 auf 16 Schritte erweiterten, mit »Model 316« benannten Version des Synthanormas durch Hans-Joachim Wiechers auch auf die Herstellung der Schlagzeugspuren, die nun ebenfalls programmierbar waren, weshalb jegliche menschliche Unsauberkeit, wie sie beispielsweise auf dem Vorgängeralbum noch zu hören war, fortan ausgeschlossen werden konnte. Als entscheidende Komponente diente hier eine Sync-to-Tape-Funktion, mit der man den Sequenzer zur

533 534 535 536 537

Bartos 2017, S. 244 f. Ebd., S. 243. Ebd., S. 276. Sehr wahrscheinlich irrt sich Bartos hier, da die ersten verfügbaren japanischen Vocoder mit dem VC-10 der Firma Korg und dem SVC-350 der Firma Roland erst im Jahre 1979 auf den Markt kamen. Vgl. Esch 2014, S. 191. Flür 1999, S. 157. Diese Tests wurden dahingehend erweitert, als dass man die Sequenzen auf Kassette überspielte und diese während einer 15–30-minütigen Fahrt – von Karl Bartos auch »Soundride« genannt – in den Autos von Hütter oder Schneider, welche über hochwertige Stereoanlagen verfügten, abhörte. Bartos 2017, S. 246 f.

213

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Bandmaschine synchronisieren und damit für alle Spuren nutzen konnte. Dafür musste eine Sync-Spur mit Gate-Signalen bespielt werden, bei deren Wiedergabe der Sequenzer bei jedem Gate-Signal einen Schritt weitersprang. Hans-Joachim Wiechers zur Arbeitsweise: »Weil das pulsartige Signal vom Band erst nach einer kurzen Dauer als gültig anerkannt wurde, wurde das Gatesignal nicht sofort ausgegeben. Deshalb war es erforderlich, die Gateabfolge zuerst aufzuzeichnen, natürlich unter voller Audiokontrolle. Das eigentliche Audiosignal wurde aber erst danach auf Band geschrieben, um die immer gleiche zeitliche Verschiebung auszugleichen. War die Syncspur einmal erstellt, so konnten beliebig viele weitere Aufnahmen auf der Mehrspurmaschine […] erfolgen.«538

Das Model 316 entstand aus zahlreichen Komponenten der vorher verwendeten 12-schrittigen Version, die dafür demontiert wurde.539 Der Aufbau wurde dahingehend geändert, dass jetzt jeweils zwei 8-schrittige, mit Intervallomat, Doppeltriggerfunktion und je drei Spannungssteuerungen versehene Reihen übereinandergesetzt wurden. Hans-Joachim Wiechers: »Wahlweise konnten alle 16 Schritte nacheinander, nur die von 1–8 ODER (wichtig: nicht gleichzeitig UND) die von 9–16 aktiviert werden. Die 2 Bereiche konnten auch im laufenden Betrieb ineinander übergehen oder getrennt werden.«540 Das Spektrum der auf diese Art und Weise aufgenommenen Schlagzeugspuren bestand dabei wieder aus der seit Autobahn bekannten Kombination von Drumcomputer- und Synthesizer-Klängen, die in Verbindung mit der maschinellen Präzision in der Rezeption durchaus auf Kritik stieß. So bemerkte Andy McCluskey von der Gruppe OMD: »Mit Man-Machine hatten sie [Kraftwerk] plötzlich so etwas Tightes. Die Drums wurden getriggert oder auch durch Sounds vom Minimoog ersetzt. Das war der Moment, als Kraftwerk vollkommen statisch wurden, sie wirkten programmiert, und sie wollten programmiert wirken. Auf den vorherigen Alben schwang immer eine Art von Melancholie mit; Kraftwerk klangen ursprünglich sehr romantisch. Die Musik begann das zu verlieren, was ich an ihr am meisten mochte: das Menschliche.«541

538 539 540 541

214

Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 30.08.2019. Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 04.02.2021. Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 24.12.2019. Zit. n. Andy McCluskey in: Esch 2014, S. 193.

4.5  Die Mensch-Maschine

4.5.2 Musikalische Analyse im Vergleich: Moroder und Kraftwerk – Technik als kompositorischer Nukleus? Bezüglich der von McCluskey genannten, mit dem Minimoog realisierten Klänge nimmt die Verwendung von sehr kurzen Filter-Sweeps mit hoher Resonanz einen großen Raum ein, die auf zahlreichen Stücken dieses Albums synchron zu den Basssequenzen laufen und so den minimalistisch gehaltenen Schlagzeugspuren – auch durch den Einsatz von Delay – einen pulsierenden rhythmischen Hintergrund verschaffen. Nach Aussage von Karl Bartos wurden diese Delays teilweise schon während des Aufnahmeprozesses im Kling Klang Studio beigemischt, so dass sie beim späteren Mix in ihrer Intensität und Geschwindigkeit nicht mehr verändert werden konnten – gleiches betraf die unmittelbare Klangbearbeitung durch Hallgeräte, Equalizer oder den Einsatz von Phasing, die ebenfalls oft im Kling Klang Studio als »integraler Bestandteil der Komposition« hinzugefügt wurden.542 Wie schon bei den Sequenzen von »Europa Endlos« oder Moroders »I Feel Love« war das Endprodukt ein untrennbares, gleichwertig aus Ausgangsklang und Klangmanipulation bestehendes Konglomerat. Dass dem ganzen Album eine programmatische Verwendung von mit Delay versehenen Synthesizer-Sequenzen sowohl perkussiver als auch melodischer Art zugrunde liegt, lässt sich bereits auf dem ersten, mit »Die Roboter« betitelten Stück vernehmen. Die hier mit dem Minimoog erzeugte zentrale zweitaktige Basssequenz bildet gleichfalls die Hookline, welche sich mit kurzen Unterbrechungen durch das ganze Stück zieht.

Bsp. 16: Kraftwerk: »Die Roboter«, Basssequenz

Wie schon bei »Spiegelsaal« kommt hier die Doppeltriggerfunktion des Synthanormas zum Tragen, die in diesem Falle wie ein einfaches 16tel-Echo wirkt. Da dieser Spur außerdem ein zusätzlicher Echo-Effekt mit ebenfalls 16tel-Wiederholungen hinzugemischt wird, treten besonders die perkussiven Anteile des Klanges hervor. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass der auf zwei um eine Oktave auseinander liegenden Sägezahnoszillatoren basierende Ausgangsklang

542

Bartos 2017, S. 283.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

durch ein mit hoher Resonanz (9/10) versehenen Tiefpassfilter moduliert wird, dessen Eckfrequenz zum einen durch den Synthanorma gesteuert wird, zum anderen über den voll aufgedrehten »Amount of Contour«-Regler durch eine auf den Wert »0« gestellte Decay-Phase schnell auf den ebenfalls auf »0« stehenden Sustain-Wert absinkt, so dass ein prägnantes kurzes Klickgeräusch entsteht, welches durch die Echo-Wiederholungen mit der später einsetzenden Schlagzeugspur verschmilzt. Der hier generierte Sound dient in leicht veränderter Form gleichfalls als Basisklang für die Basssequenz des Stückes »Spacelab« sowie für die Basseinleitung des Stückes »Metropolis«. Dass Hütter die Filterfrequenz permanent manuell leicht moduliert,543 verstärkt darüber hinaus die ohnehin schon starke Lebendigkeit der Sequenz. Diese Art von sequenzierten, mit Delay versehenen Klickgeräuschen als Addition zu konventionell anmutenden, wenn auch elektronisch generierten Schlagzeugklängen wie etwa Bass- und Snaredrum werden ab Die Mensch-Maschine zu einer Art Signature Sound der Gruppe und repräsentieren einen essenziellen Wandel in der Entwicklung des Schlagzeug-Soundesigns bei Kraftwerk, dessen Einfluss auf die erste Hälfte der 1980er Jahre im Bereich des Hiphop und des Electro maßgebend sein sollte. Besonderen Wert auf das Sounddesign wird aber schon in der Einleitung von »Die Roboter« gelegt, die im Laufe des Stückes als klangliche Antipode zweimal die Basssequenz unterbricht. Es handelt sich hierbei um einen durch eine Sägezahnwelle tonhöhenmodulierten Sinuston, der in abwechselnder Reihenfolge von einem Bass-Sweep und frequenzmodulierten metallischen Klängen konterkariert wird, welche »elektronisch imitierte […] Sounds von Elektromotoren, Mechanik und Sonifikationen« repräsentieren.544 Bezüglich der Aufnahme dieser Collage wurde die rhythmische Anordnung der Klänge mehrfach geprobt und dann manuell eingespielt.545 Während nach dieser Einleitung zunächst zweimal allein das Minimoog-Basspattern erklingt, setzt ein Drumpattern ein, dessen auf den Zählzeiten 2 und 4 gespielte Snaredrum eine konkrete, den jeweiligen Harmonien angepasste Tonhöhe enthält. Nach weiteren vier Takten erfolgt eine musikalische Verdichtung durch einen mit dem Polymoog realisierten polyphonen Filter-Sweep in Form eines d-Moll-Akkordes, welcher später weitgehend motivisch durch eine perkussive Melodie bedient wird. Der sich anschließende Vocoder-Gesang, der auf dem d-Moll-Septakkord des jeweiligen Grundtons basiert, gestaltet sich dreiteilig: Während der erste Teil die Strophenfunktion übernimmt, dienen die anderen bei543 544 545

216

Ebd., S. 255. Ebd., S. 255 f. Ebd., S. 256.

4.5  Die Mensch-Maschine

den, nach bb-Moll respektive nach g-Moll gerückten Teile als Refrain. Auch hier unterliegen die Rückungen einer strengen Viertaktigkeit. Im anschließenden, motivisch die Einleitung aufgreifenden Zwischenspiel wird von der »Pitch to Voltage«-Funktion des EMS-Vocoders Gebrauch gemacht, bei der durch lauteres Sprechen die Tonhöhe angehoben wird, was  – im Vergleich zur in der Regel streng auf der Diatonik der Keyboard-Tastatur eingerasteten Tonhöhe in der herkömmlichen Vocoder-Verwendung – dem Klang einen natürlicheren, weicheren Tonhöhenverlauf verleiht. Durch die mehrfache Wiederholung dieses Ablaufs orientieren sich Kraftwerk wieder an klassischen Popsong-Strukturen. Wie im vorherigen Kapitel beschrieben gibt es in den Jahren 1977 und 1978 eine starke musikalische und klangliche Kongruenz zwischen Kraftwerk und Giorgio Moroder, welche vor allem bei den folgenden zwei auf Die Mensch-Maschine befindlichen, mit »Spacelab« und »Metropolis« betitelten Stücken deutlich wird. Wurden im vorhergehenden Kapitel primär etwaige Ähnlichkeiten zwischen Trans Europa Express und Moroders Album From Here to Eternity diskutiert respektive inwiefern sich Moroder musikalisch an der Musik Kraftwerks orientierte oder diese weiterentwickelt haben könnte, muss an dieser Stelle nun der umgekehrte Ansatz verfolgt werden. Wie erwähnt waren aus produktionstechnischer Warte im Vergleich zu Trans Europa Express sowohl der dynamische Umfang als auch die einzelnen Klänge von From Here to Eternity durch ein ausgefeilteres Mixing und intensivere Benutzung von Kompression deutlich druckvoller, so dass im Gegensatz zum etwas spröden und flachen Klangbild von Trans Europa Express Moroders Stücke moderner und mehr auf die Tanzfläche zugeschnitten wirkten. Es verwundert nicht, dass Kraftwerk, die in dieser Zeit häufig an der Clubszene des Ruhrgebiets partizipierten,546 ihr produktionstechnisches Augenmerk auf Die Mensch-Maschine in dieser Richtung zu raffinieren versuchten. Gleiches lässt sich in kompositorischer Hinsicht dahingehend vernehmen, als dass mit Ausnahme der Stücke »Das Modell« und »Die Mensch-Maschine« das vorherrschende Muster der Drumpattern der restlichen Kompositionen aus einer stark viertelnotenlastigen Bassdrum-Figur besteht, zu der Disco-typisch auf den Zählzeiten 2 und 4 Snaredrums hinzugefügt werden – auf die für den Discobeat obligatorische offene Hi-Hat auf den »Und«-Zählzeiten wird auf Die Mensch-Maschine allerdings verzichtet. Obgleich Florian Schneider, darauf angesprochen, ob das Album Die Mensch-Maschine von Moroders Musik beeinflusst sei, erwiderte, dass ihm Moroder zwar ein Begriff sei und einige Freunde ihn gefragt hätten, ob es sich bei From Here to Eternity um eine neue Kraftwerk-Platte handeln würde, er

546

Ebd., S. 235 ff.

217

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

diese aber vorher nicht gekannt hätte,547 schienen Kraftwerk zum damaligen Zeitpunkt durchaus zeitgenössische Popproduktionen in ihre Musik einfließen zu lassen. So etwa erwähnte Karl Bartos die 1977 veröffentlichte Disco-Single »Magic Fly« der französischen Synthesizer-Band Space, die im Juli desselben Jahres in Deutschland den 1. Platz der Charts erklomm548 und von deren Drumsounds sich Kraftwerk offenbar beeindruckt zeigten, so dass sie deren Spektren analysierten. Besonders die Bassdrum, welche auch heute noch in Techno / House-Produktionen Verwendung finden könnte, geriet dabei in den Fokus, da sie auch im oberen Mittenbereich über einen hohen Lautstärkenanteil verfügte, was ihr einen besonders wuchtigen Klang verlieh.549 Ob es sich dabei lediglich um ein oberflächliches Interesse handelte oder Kraftwerk schlicht und einfach nicht in der Lage waren, diese Dynamik zu realisieren, ist nicht belegbar; fest steht allerdings, dass trotz druckvollerer und komprimierterer Schlagzeugklänge als auf Trans Europa Express Kraftwerk nach wie vor nicht an den Sound der auch aus heutiger Sicht durchaus aktuell klingenden Drum-Spuren Moroders oder eben von »Magic Fly« he­­ ranreichen konnten. Lediglich die bereits angesprochenen additiven MinimoogPercussion-Sequenzen verleihen dem Klangbild eine lebendige und durchaus zeitgenössische Note. Seziert man nun das Stück »Spacelab«, sticht wieder die starke Sequenzerlastigkeit ins Auge. Bereits in der Einleitung wird der Sequenzer ähnlich wie bei der in »Spiegelsaal« als Effekt in Form einer aus 16 hintereinander aufsteigenden Ganztönen bestehenden Sequenz eingesetzt, deren Tempo so stark akzeleriert wird, dass sich eine schnelle Tonhöhenmodulation ergibt. Additiv dazu wird durch einen polyphonen, anschwellenden Synthesizer-Klang ein Thema vorgestellt, dessen Melodie mit einem Theremin-ähnlichen Klang realisiert wird. Auffällig hierbei ist die durch die Quintbasstöne entstehende offen klingende harmonische Wirkung. Danach erfolgt eine, das ganze Stück durchlaufende 16tel-NotenSequenz, welche nur auf dem Grundton basiert, so dass im Laufe des Stückes beide Tongeschlechter bedient werden können: Während die Harmonik in der instrumental gespielten Strophe aus der Rückung von Eb-Dur und C-Dur besteht, setzt sie sich im Refrain aus c-Moll und f-Moll zusammen. Durch die darunterliegende Achtelnoten-Bassfigur entsteht ein Klangbild, welches doch sehr an Moroders »I Feel Love« erinnert. Gerade in Verbindung mit dem Four-to-the-Floor-Bassdrumpattern und der Snare auf den Zählzeiten 2 und 4, die die rhythmische 547 548 549

218

Schneider, Florian: Florian Schneider in einem Interview mit Yves Adrien in: Rock & Folk, Juni 1978 Nr. 137, https://kraftwerkonline.pagesperso-orange.fr/interview10.html (abgerufen am: 12.02.2021). https://de.wikipedia.org/wiki/Space_(franz%C3%B6sische_Band) (abgerufen am: 16.03.2021). Bartos 2017, S. 259 f.

4.5  Die Mensch-Maschine

Essenz der stark Pattern-lastigen Komposition ausmachen, kann man hier von einer hochgradigen klangcharakterlichen und konzeptionellen Übereinstimmung sprechen, die Florian Schneiders Aussage doch sehr in Zweifel ziehen lässt. Lediglich der Einsatz von permanenter Filterfrequenzmodulation mit relativ hohem Resonanzanteil durch einen langsam schwingenden Sinus-LFO sowie die Sweep-Bass-Sounds des Minimoog im Refrain geben dem Stück eine eigene Note. Zu berücksichtigen ist allerdings der Vocoder-Einsatz, der nicht nur bei »Spacelab«, sondern auch auf den anderen Stücken, auf denen er zu hören ist, von einzigartiger Qualität ist: Er besticht durch eine hohe Sprachverständlichkeit  – sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass Kraftwerk über High-End-Vocoder wie den EMS 5000 verfügten – sowie durch ein durch entsprechende Kompression niemals abfallendes Dynamikbild, während bei Moroder etwa einzelne vocoderisierte Sprachpassagen im Klangbild dynamisch immer mal wieder verschwinden und eher schwer zu vernehmen sind. Generell sind bezüglich des Einsatzes des Vocoders respektive synthetisierter Sprache Kraftwerk bis heute als federführend zu sehen, nicht zuletzt macht dies in hohem Maße den genuinen Sound der Gruppe aus. Betrachtet man nun das folgende Stück »Metropolis«, sticht ebenfalls wieder die von den bis dato diskutierten Stücken bekannte Patternlastigkeit ins Auge: So basiert die Komposition auf einer eintaktigen Synthesizer-Sequenz, die durch harmonische Rückungen in den Tonarten g-Moll, bb-Moll und c-Moll erscheint.

Bsp. 17: Kraftwerk: »Metropolis«, Synthesizer-Sequenz

Da die Sequenz mit einem 16tel-Echo mit geringem Feedback-Anteil bearbeitet wurde und / oder die Doppeltriggerfunktion zum Einsatz kam, entsteht hier der von Moroder (und Schoener) bekannte »Black und Decker«-Effekt, der in Verbindung mit dem Four-to-the-Floor-Bassdrumpattern und der auf den Zählzeiten 2 und 4 erfolgenden Snaredrum eine große Ähnlichkeit zu den Stücken auf Moroders From Here to Eternity aufweist. Betrachtet man darüber hinaus noch den Snaredrum-Sound, muss man unweigerlich an das Pendant zu Moroders »I Feel Love« denken: Neben dem perkussiven Grundmaterial ist es besonders der hinzugefügte, auf weißem Rauschen basierende Klanganteil, der durch seine Tiefpass-

219

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

filterung fast wie ein Sample von Moroder wirkt. Nach Aussage von Karl Bartos wurde die abfallende Modulation der Eckfrequenz während des Mischens jedes Mal per Hand am Mischpult ausgeführt.550 Was der Komposition genau wie schon bei »Spacelab« eine eigenständige Lebendigkeit verleiht  – vor allem in der Einleitung respektive des Zwischenspiels  –, sind abermals die vielen Filtereckfrequenzmodulationen bei hohen Resonanzwerten – Klangverläufe, die bei Moroder in dieser Form nicht zu finden sind. Neben einer aus kurz gespielten halben Noten bestehenden Bassbegleitung setzt sich dieser musikalische Abschnitt aus einer auf den Terzen des c-Moll-Akkordes sukzessiv erfolgenden Dreiklangsschichtung zusammen, welche durch die manchmal leicht nasalen, auf modulierten Pulswellen basierenden Klangfarben sowie durch ihr Vibrato abermals wie schon auf den Vorgängeralben an den ätherischen Klangcharakter des Theremins erinnern. Diesen Eindruck verstärkend wird durch ein Glissando der jeweils tiefste Ton nach zwei Takten um eine Oktave nach oben transponiert, so dass durch die polyphone Schichtung der einzelnen Töne die aus abwechselnden Basstönen551 resultierende Akkordfolge c-Moll, Eb-Dur und g-Moll (im verkürzten Mittelteil erfolgt nur der g-Moll-Akkord) entsteht. Betrachtet man das melodische Material, welches über der zentralen Basssequenz des Stückes liegt, fällt auf, dass die auf g-Moll liegende und dem Refrain entsprechende Melodie mit ihrem auf c-Moll liegenden Pendant korrespondiert: So beginnen etwa beide mit einer aus einem Takt bestehenden, auf dem Grundton liegenden Note, die im weiteren Verlauf abwärts sequenziert über die kleine Septime (in der Melodie über c-Moll schließt sich noch die kleine Sexte an) auf der Quinte endet. Ferner haben beide Melodien gemein, dass sie in ihren Wiederholungen in der Terz-, Quint- und Oktavlage verdoppelt werden. Dieses Muster auflockernd, besteht die auf bb-Moll fu­­ ßende Melodie aus diatonisch bis zur Quinte aufwärtslaufenden Tönen, welche mit einem Wechselnotenmotiv über die Oktave auf der Quinte abschließt. Nicht ohne einen Seitenhieb auf Ralf Hütter und Florian Schneider äußerte Wolfgang Flür sich zum Entstehungsprozess der Synthesizer-Melodien auf Die MenschMaschine wie folgt: »Viele dieser klassisch angehauchten Melodiebögen sind von Karl, er hat sie eingespielt und erdacht, er war für Man-Machine sehr wichtig. Keiner der sechs Titel kam ohne seinen Beitrag aus. Das war gleichzeitig seine Premiere, da sich auf beiden vorangegangen Alben keine urheberrechtlich relevante Beteiligung von ihm findet. Ich denke, er ist früh eingebunden worden, weil die anderen beiden 550 551

220

Bartos 2017, S. 283. Bei jedem Akkord folgt nach der Grundstellung der Terz- und dann der Quintbass.

4.5  Die Mensch-Maschine

[Hütter und Schneider] immer arbeitsfauler wurden. Sie hatten das MenschMaschine-Prinzip schon verinnerlicht und als Direktoren Karl, Emil und mich beauftragt, das Album zu erstellen.«552

Aus vokalem Blickwinkel ist zu sagen, dass wie bei »Spacelab« und »Metropolis« Gesang nur anhand eines Schlagwortes im Refrain vorkommt, während bei Moroders Kompositionen längere Gesangspassagen auftauchen, wodurch diese insgesamt poppiger wirken. Bei beiden indes erscheint der Gesang sowohl in vocoderisierter als auch in natürlicher Form: Wird dies bei »Spacelab« durch einen Vocoder bearbeitet, ist bei »Metropolis« Ralf Hütters unveränderte Stimme zu hören, während Moroder etwa bei »From Here to Eternity« beide Varianten miteinander kombiniert. Es ist augenscheinlich, dass sich die deutlichsten Kohärenzen zwischen der Musik Kraftwerks und Moroders bei den Stücken finden, bei denen Repetitivität und Minimalismus durch das Verschieben der Wertigkeit der musikalischen Primärkomponenten zugunsten von Rhythmik und Sound im Vordergrund stehen. Zunächst ist das das rhythmische, weitgehend unverändert bleibende Muster des Viertel-lastigen Disco-Rhythmus in Verbindung mit den perkussiven, durchgängig laufenden 16tel-Sequenzen der Synthesizer. Obgleich Moroder als auch Kraftwerk bei den entsprechenden Kompositionen über dieses rhythmische Fundament völlig unterschiedliche Melodien und Harmonien setzen, bleibt der Klangeindruck dennoch gleich, da das Zusammenspiel aus Discobeat und 16tel-Basssequenzen angesichts der Omnipräsenz maschineller Präzision Gleichförmigkeit einerseits und der Pattern-basierten Kompositionsstruktur andererseits musikalisch so stark prägend war, dass besagte Parameter fast austauschbar schienen – ein Phänomen, welches in dieser Form erst wieder im Techno wahrzunehmen war, weshalb diese Musik sicher zu Recht als direkter Vorläufer anzusehen ist. Nach Ansicht Wolfgang Flürs war der damalige Kraftwerk-Sound das Abbild des klanglichen Horizontes des verwendeten Studio-Equipments  – ein direktes Resultat maschineller Determinierung, das auch ohne den Beitrag Kraftwerks irgendwann zu dieser Art von Musik geführt hätte: »Ich persönlich bin auch fest davon überzeugt, dass die Elektronische Musik sich sowieso entwickelt hätte, weil die Industrie längst auf diesen Zug aufgesprungen war. Seit der Erfindung des Synthesizers war das nicht mehr zu stoppen. Und erst nach der Erfindung des Sequencers kam ja Techno auf. Erst der Sequencer – egal, ob es ein analoger oder digitaler ist – hat es möglich gemacht, das ganze Regle-

552

Zit. n. Wolfgang Flür in: Esch 2014, S. 194.

221

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

ment zu programmieren und das Verwalten der Töne und eines ganzen Studios diesem Roboter, dieser Maschine zu überlassen.«553

Dass der Klang der eingesetzten Maschinen sowohl bei Moroder als auch bei Kraftwerk nicht nur ein dominierendes Element der Kompositionen, sondern auch maßgebend für die große musikalische Ähnlichkeit zwischen beiden war, liegt vor allem darin begründet, dass beide Gruppen für ihre Sequenzen MoogSynthesizer einsetzten, die neben dem prägenden Klangcharakter der zugrunde liegenden subtraktiven Synthese sowohl bei Moroders Modularsystem als auch bei Kraftwerks Minimoog zum einen über den baugleichen Tiefpassfilter verfügten, zum anderen sich aber in ihrer Textur durch relative kurze Decay-Zeiten und geringe Sustain-Werte der Hüllkurven sowohl des Filters als auch des Verstärkers und den zugrunde liegenden Gemischen aus Sägezahn- und Rechteckwellenformen der Oszillatoren glichen. Ihre Determinierung als Bassklang erforderte ein tieffrequentes Klangspektrum, genauso wie die schnellen Wiederholungen der Töne einen perkussiven Dynamikverlauf voraussetzten. Die Folge dieser Funktionalisierung war eine Reduktion auf einfachere Klangfarben: Sich diesem Muster unterordnend mussten die Stücke von Moroder und Kraftwerk folglich eine ähnliche Klangtextur aufwerfen – komplexe, sich sukzessiv modulierende Klänge wie etwa bei Isao Tomita wären an dieser Stelle völlig fehl am Platze gewesen. Diese aus Discobeat, 16tel-basierten Basssequenzer-Pattern und VocoderGesang bestehende kompositorische Gleichung war in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ziemlich einzigartig – deren Urheberschaft ausschließlich auf Moroder zurückzuführen, obwohl er sie stereotyp im Jahre 1977, also ein Jahr vor Die Mensch-Maschine, für ein ganzes Album verwendete, ginge allerdings zu weit. Neben dem zeitgleichen Einsatz von Synthesizern und Sequencing sind Kraftwerk die Ersten gewesen, die vocoderisierten Gesang in der elektronischen Popmusik implementiert haben  – Moroder dürfte sich diesbezüglich daher ganz unzweifelhaft an Kraftwerk orientiert haben. Außerdem ist der Moroder-typische Discobeat in vereinfachter Form  – das heißt ohne Bassdrum auf den Zählzeiten 2 und 4 – ebenfalls 1977 bei »Europa Endlos« verwendet worden – einige kompositorische und klangliche Komponenten der auf From Here to Eternity dargebotenen musikalischen Formel wurden also schon unabhängig davon bei Kraftwerk eingesetzt oder sogar früher entwickelt. Betrachtet man allerdings die Zusammensetzung dieser musikalischen Faktoren, hat Moroder in der Tat den Nimbus, diese als Erster in Reinkultur zu einer für den Techno bis heute gängigen Blaupause verbunden zu haben, so dass sehr viel dafür spricht, dass sich Kraft553

222

Flür 1998a, S. 36.

4.5  Die Mensch-Maschine

werk zumindest hinsichtlich der Stücke »Spacelab« und »Metropolis« durchaus an Moroder orientiert haben dürften, auch wenn Florian Schneider dies bestritt. Bei den Folgealben Moroders Love’s in You, Love’s in Me (1978) und E=MC² (1979) als auch bei Kraftwerks Album Computerwelt (1981) spielte diese Art von Musik aber keine Rolle mehr. Durch die Tatsache, dass fortan unterschiedliche Konzepte verfolgt wurden, gab es zwischen Moroder und Kraftwerk auch keine großen musikalischen Gemeinsamkeiten mehr, die über die Benutzung von subtraktiver Synthese, Vocoder-Gesang und Patternhaftigkeit hinausgingen. Während Kraftwerk sich qualitativ nie über Moroder geäußert haben, sah jener Kraftwerk zum damaligen Zeitpunkt recht kritisch: »I like their sounds very much because they are very clean, but I don’t particularly like the songs. They are sometimes a little too easy in their music …«554 Die Ursache in den für ihn zu einfach gehaltenen Kompositionen sah Moroder wie folgt: »Well, I think they thought that they must start selling more. I guess they are making a simple mistake. They still reckon that with an easy melody and a synthesiser they can have a hit.«555 Gänzlich vom Moroder’schen Stil befreit gestalten sich die restlichen drei Stücke auf Die Mensch-Machine. Das Stück »Das Modell«556 ist die poppigste Komposition auf dem Album: Zum einen ist es angesichts seiner Länge von 3:44 radiotauglich, zum anderen erfüllt es bezüglich der Anordnung von Strophe, Bridge und Refrain sowie seines für Kraftwerk-Verhältnisse langen und ausführlichen Textes alle formalen Kriterien eines Popsongs. Auch die Tatsache, dass man auf die Verfremdung durch einen Vocoder verzichtete, der Text also mit der lediglich durch einen geringen Hallanteil bearbeiteten Originalstimme Ralf Hütters umgesetzt wurde, dürfte dem gefälligen Habitus des Stückes zuträglich gewesen sein. Laut Karl Bartos habe man während des Kompositionsprozesses bereits das Gefühl gehabt, dass das Stück angesichts der Verwendung von Text ein großes Hit-Potenzial in sich berge, da zum damaligen Zeitpunkt alle anderen Veröffentlichungen auf dem Feld der populären elektronischen Musik ausnahmslos In­­ strumentalstücke gewesen seien, so dass »Das Modell« folglich über ein Alleinstellungsmerkmal verfügte, das erst bis zum Aufkommen des Synth-Pops in Großbritannien im Jahre 1979 im großen Umfang Einzug in die Historie elektronischer Popkompositionen hielt.557 Waren die Themen der Alben Kraftwerks bisher primär technischer Herkunft, welche oftmals auch nur fragmentarisch in 554 Moroder, Giorgio, http://www.italfree.com/giorgio_morodernme.html (abgerufen am: 24.07.2018). 555 Ebd. 556 Seit dem im Jahre 2005 veröffentlichten Live-Album Minimum-Maximum in »Das Model« umbe557

nannt. Bartos 2017, S. 260 f.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Form von Sprache Ausdruck fanden, setzte sich dieser Text deutlich von dieser Praxis ab, was sich unter anderem in der Textlänge widerspiegelt: Während auf dem Album Die Mensch-Maschine beim Stück »Die Roboter« noch ein kompositorisches Konzept verfolgt wird, bei dem pro Strophe und Refrain jeweils immerhin zwei Sätze erscheinen, reduziert sich das bei »Neonlicht« und dem Titelstück »Die Mensch-Maschine« auf ein Schlagwort mit einem sich anschließenden Satz. Die Stücke »Spacelab« und »Metropolis« hingegen bestehen lediglich aus dem Titel, so dass sich »Das Modell« durch das Vorhandensein von drei Strophen mit jeweils vier Sätzen allein vom Umfang her deutlich von allen anderen Stücken abhebt: Auch wenn der Refrain dennoch instrumental erfolgt, zeugen sowohl die formalen Elemente wie die Syntax der Strophen und des Reimschemas als auch die erzählte Handlung davon, dass es sich um einen Songtext im Sinne klassischer Popmusik handelt. Dieser basiert auf der von Ralf Hütter erweiterten Fassung des von Emil Schult geschriebenen Stückes »Sie ist ein Model«,558 in welchem das Mode-Business und die Model-Szene von Düsseldorf beschrieben wird. Zwar ist diese Abhandlung nicht besonders tiefgreifend, sie bedient sich aber als erste aller Kraftwerk-Kompositionen mittels zwischenmenschlicher Inhalte wie Schönheit, Sehnsucht und einseitiger Zuneigung eines zentralen Sujets der Popmusik: der Liebe.559 Neben der äußerst popmusikkonformen Gestaltung der einzelnen musikalischen Parameter sowie des strukturellen Aufbaus dürfte sicher auch die Eingängigkeit des Textes ein zentraler Punkt für den Erfolg des Stückes sein  – auch auf den Kraftwerk-Konzerten ist dies das einzige Stück, bei dem zumindest ein Teil des Publikums den Text mitsingt. Kompositorisch betrachtet fungiert als zentrales Element ein zweitaktiges, der Einleitung, der Strophe und dem Refrain zugrunde liegendes Basspattern, das durch eine aus Achtelnoten bestehende, harmonisch auf a-Moll und e-Moll basierende Akkordbegleitung untermalt wird. Auf ihm baut sich eine ebenfalls zwei­ taktige, sich ständig wiederholende Melodie auf, die mit dem Synthesizer gespielt und in den ungeraden Durchgängen gesungen wird. Tonal greifen beide Melodien auf das Kraftwerk’sche-Baukastensystem in Gestalt des einen Mollseptakkord in zweiter Umkehrung umfassenden Ambitus zurück.

558 Ebd. 559 1. Strophe: Sie ist ein Model, und sie sieht gut aus. / Ich nähm’ sie heut’ gerne mit zu mir nach Haus. / Sie

wirkt so kühl, an sie kommt niemand ran / Doch vor der Kamera da zeigt sie, was sie kann. 2. Strophe: Sie trinkt in Nachtclubs immer Sekt (korrekt). / Und hat hier alle Männer abgecheckt. / Im Scheinwerferlicht ihr junges Lächeln strahlt. / Sie sieht gut aus, und Schönheit wird bezahlt. 3. Strophe: Sie stellt sich zur Schau für das Konsumprodukt. / Und wird von Millionen Augen angeguckt. / Ihr neues Titelbild ist einfach fabelhaft. / Ich muss sie wieder sehen, ich las, sie hat’s geschafft.

224

4.5  Die Mensch-Maschine

Bsp. 18: Kraftwerk: »Das Modell«, Bass, Gesang und Synthesizer-Hookline (Auszug)

Die instrumentale Bridge, die neben einer aus langen Tönen bestehenden Synthesizer-Melodie akkordisch durch das Orchestron untermalt wird, setzt sich aus einem Harmonieverlauf zusammen, dessen ganztaktig erfolgende Akkorde aus der Reihenfolge C-Dur, h-Moll, G-Dur, G-Dur, C-Dur, H-Dur, E-Dur, E-Dur bestehen. Ergänzt wird das Stück durch einen harmonisch auf der Strophe basierenden Refrain, der aus einer mit dem Synthesizer gespielten, arpeggierten Dreiklangsbrechung erfolgt. Durch die Verwendung Brass-ähnlicher Klänge, prägnanter Synthesizer-Melodien sowie der etwas offeneren rhythmischen Struktur des Bassdrumpatterns deuten sich bereits erste Grundelemente des Ende der 1970er Jahre in England aufkommenden Synth-Pop an. Betrachtet man die ersten Produktionen englischer Bands wie Human League, Soft Cell, Depeche Mode, Ultravox oder Visage, lassen sich generell deutliche Parallelen struktureller und melodiöser Natur zu Die Mensch-Maschine ziehen, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird. Es verwundert daher auch nicht, dass die mit Abstand poppigste Komposition dieses Albums in Form der englischen, mit »The Model« betitelten

225

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Version als Single-Wiederveröffentlichung auf der B-Seite von »Computerworld« im Jahre 1982 den 1. Platz der UK-Charts erreichte.560 Das Stück »Neonlicht« knüpft durch seine romantische Melodie und sein sehr minimalistisches Drumpattern  – mit Ausnahme weniger Breaks wechseln sich hier Bass- und Snaredrum in Viertelnoten ab  – an das Vorgängeralbum Trans Europa Express an. Das Hauptaugenmerk sei hierbei auf die zuerst mit dem bereits bekannten, Theremin-ähnlichen Synthesizer-Klang gespielten und in der Wiederholung gesungenen Hookline gelegt. Wie schon bei »Europa Endlos« steht hier das häufige Anspielen respektive Ansingen der großen Sexte im Vordergrund. Harmonisch basiert das Stück auf einer Kadenzvariation in D-Dur. Dass Kraftwerk sich nicht nur in der Tradition der deutschen Unterhaltungsmusik der Vorkriegszeit sahen, sondern sich dieser offensichtlicher auch direkt bedienten, zeigt ein Vergleich zum im Jahre 1935 vom Komponisten Emil Palm komponierten Schlager »Regentropfen, die an Dein Fenster klopfen«, da von diesem die ersten vier Takte der Gesangsmelodie der Strophe in leicht veränderter Form und von der Phrasierung dem neuen Text entsprechend angepasst561 übernommen wurden – ohne allerdings Palm zu kreditieren. Auf diesen Gesangsteil folgt eine auf dem Ton H stehende mixolydische Melodie, die sich aus einem polyphonen Synthesizersound mit ausklingender Filterund Verstärkerhüllkurve zusammensetzt. Nach Aussage von Karl Bartos resultierte dieser Klang aus einer von Florian Schneider vorgenommenen Schaltung, bei der der Audio-Ausgang des Polymoogs in den Audio-Eingang des Minimoogs eingespeist wurde, dessen Verstärker wiederum durch den Synthanorma-Sequenzer in 16tel-Noten getriggert wurde.562 Das Ergebnis war ein flirrender Klang, der durch die Filtermodulationen des Tiefpassfilters sowie der Resonatorbank des Polymoogs zum einen einen schwebenden, ätherischen Charakter erhielt, zum anderen durch den Sequenzer aber auch in ein strenges rhythmisches, maschinenhaftes Korsett gepresst wurde – gemessen an den eher konventionell klingenden und eindeutig der subtraktiven Synthese zuzuordnenden Sounds des Albums sticht diese Klangfarbe eindeutig heraus. Laut Bartos zeigte sich die Gruppe zum damaligen Zeitpunkt von diesem Sound selbst so angetan, dass er nach der Wiederholung der Hauptmelodie als Basis eines bis zum Fade-Out des Stückes fast sechs Minuten andauernden Improvisationsteils fungierte, der additiv durch den

560 561 562

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Kraftwerk: »Das Modell«, https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Model (abgerufen am: 20.02.2021). Der von Josef Hochleitner geschriebene Text in der ursprünglichen Fassung lautet: »Regentropfen, die an Dein Fensterklopfen«. Ralf Hütter textete dies in »Neonlicht, schimmerndes Neonlicht« um. Bartos 2017, S. 272.

4.5  Die Mensch-Maschine

Thereminklang sowie durch das Orchestron angereichert wurde.563 Erstaunlich ist, dass die Bassfrequenzen in diesem Stück völlig unterrepräsentiert sind. Lediglich die ohnehin eher höhenlastige Bassdrum als auch ein Bass-Sweep-Sound, der alle zwei Takte gespielt wird  – im Improvisationsteil erscheint er für dreieinhalb Minuten gar nicht  –, sind im tieferen Frequenzbereich angesiedelt, was den bereits durch die Thereminklänge evozierten dünnen und nasalen Klangcharakter noch verstärkt und das Stück trotz des Four-to-the-Floor-Beats doch recht weit aus dem Feld der Disco-Klangästhetik rückt. Dass dem Disco-Sound auf diesem Album zweifellos Rechnung getragen wird, haben die Stücke »Spacelab« und »Metropolis« hinlänglich unter Beweis gestellt. Die anderen, zwei Drittel des Albums ausmachenden Kompositionen gehen in ihrer Bandbreite aber darüber hinaus. Obwohl »Das Modell« wie ein Prototyp des gegen Ende der 1970er Jahre aufkommenden Genre des Synth-Pops wirkt und gemessen an den anderen Stücken durch seine große Poplastigkeit eher eine Ausnahmeposition einnimmt, zeugen dennoch alle Kompositionen dieses Albums von der stetigen, aber behutsamen musikalischen Metamorphose in der Historie Kraftwerks, bei der sich die einzelnen Parameter von Album zu Album sukzessive veränderten. Kann man »Neonlicht« als Brückenelement zum Vorgängeralbum Trans Europa Express bezeichnen, deutet das das Album abschließende Titelstück »Die Mensch-Maschine« bereits die rhythmische Heterogenität des mit dem 1981 veröffentlichten, mit Computerwelt betitelten Nachfolgealbums an. So etwa setzt sich das sich in zwei Abschnitten aufbauende Drumpattern aus einer synkopierten Bassdrum-Figur zusammen, die neben der Positionierung der Snaredrum auf den Zählzeiten 1, 2 und 4 von einer als Hi-Hat dienenden Perkussionsspur untermalt wird, welche mit den bereits bekannten kurzen, durch ein Delay bearbeiteten, hoch resonierenden Filter-Sweeps erzeugt wird. Wurde diese Art elek­ trischer Perkussion bei »Die Roboter« oder bei »Spacelab« noch als exakte rhythmische Doppelung der Synthesizer-Sequenzen verwendet, da sie Bestandteil des Klanges war, steht sie diesmal nicht nur als selbstständiges rhythmisches Element, sondern eröffnet das ganze Stück. Auch dies ist ein erster Vorgriff auf die Klangästhetik des mit Computerwelt evozierten Genres des Electro. Melodisch gesehen basiert das Stück auf einem ebenfalls mit Delay bearbeiteten perkussiven, harmonisch auf f-Moll und einem Grundton Bb befindlichen, geschlechtslosen Synthesizerpattern, welches additiv durch eine zweite Synthesizer-Sequenz ergänzt wird, die wie bei »Neonlicht« ebenfalls auf dem Konzept des Einschleifens des Polymoog-Signals in den Audio-Eingang des Minimoogs bei

563 Ebd.

227

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

gleichzeitiger Modulation durch den Synthanorma basiert. Diente der Sequenzer durch seine Funktion als Modulationsquelle des Verstärkers bei »Neonlicht« lediglich zur Rhythmisierung des Klanges, fungiert nun eine durchlaufende 16telNoten Sequenz zur Modulation der Filtereckfrequenz. Da die hier eingestellten Steuerspannungen jedes einzelnen Schrittes keiner Linearität folgten, bei dem der jeweils folgende Schritt in seiner Stärke im Vergleich zum Vorherigen lediglich leicht erhöht oder abgeschwächt wurde, sondern über unterschiedlich große Sprünge verfügte, kam das aurale Ergebnis den Zufallsklängen einer Modulation durch einen Sample and Hold-Generator gleich. Angesichts der permanenten Wiederholung der Sequenz wohnte dem Klang allerdings eine Periodizität inne, die dem Drumpattern eine zusätzliche rhythmische Komponente und dadurch dem Stück eine sehr lebendige Komponente verlieh. Insgesamt sind diese auf »Neonlicht« und »Die Mensch-Maschine« zu vernehmenden Klänge auf dem Album auch die einzigen, die über das eher bieder gehaltene Klangreservoir der subtraktiven Synthese hinausgehen. Interessant ist die Gestaltung des Refrains: Dieser besteht aus der vocoderisierten, über den Grundton, die Mollterz sowie die Quarte laufenden Gesangsmelodie, die durch eine zweite, aus einem aufwärtssteigenden Moll-Akkord bestehende Vocoder-Melodie konterkariert wird, wodurch der Eindruck einer polyphonen, kontrapunktähnlich aufgebauten Vokalpassage entsteht. Tonal durch die Quarte und die kleine Septime angereichert, wird dieser in seiner Wiederholung um einen Ganzton nach oben gerückt. Strukturell besticht das Stück dem dominierenden Konzept von Die MenschMaschine folgend primär durch seine starke Patternhaftigkeit, die sich in dem immer wieder sich ereignenden Addieren und Substituieren einzelner Spuren reflektiert und ebenfalls eine Brücke zum folgenden Album schlägt. Der fließende Übergang beider Alben spiegelt sich nicht nur auf kompositorischer Ebene wider, sondern lässt sich, obgleich zwischen der Veröffentlichung beider Alben eine Zeitspanne von drei Jahren liegt, auch in zeitlicher Hinsicht dokumentieren, da nach dem Abschluss des Mix’ von Die Mensch-Maschine im Februar 1978 die Wiederaufnahme der Writing Sessions für Computerwelt lediglich durch eine viermonatige Promotion-Pause unterbrochen wurde.564 Allerdings zog sich die Veröffentlichung dennoch bis 1981 hin, da das Kling Klang Studio von August 1979 bis zum Mai des Folgejahres komplett umgebaut wurde, so dass die Arbeit am Album zeitweilig völlig zum Erliegen kam.565 Dass im Zeitraum 1978–81 sich analog zur stetig voranschreitenden studiotechnischen Entwicklung auch die 564 565

228

Ebd., S. 305. Ebd., S. 311 und 330.

4.6  Exkurs: Punk, New Wave und Synth-Pop

Popmusik in einem Umbruch befand, aus dem mit Blick auf die 1980er Jahre Genres hervorgingen, die den genuinen Kraftwerk-Sound zum einen verinnerlichten und zum anderen aber unabhängig von der musikalischen Entwicklung Kraftwerks auf eine neue Ebene transformierten, soll nun im folgenden Kapitel erläutert werden.

4.6 Exkurs: Punk, New Wave und Synth-Pop – die Metamorphose des Sounds in der Popularmusik gegen Ende der 1970er Jahre

Wie schon in Kapitel 3.6.1 dargelegt war die erste Hälfte der 1970er Jahre in der Popularmusik durch eine diffuse Ansammlung unterschiedlichster Stilrichtungen geprägt, die untereinander konkurrierend ab Mitte der 1970er Jahre vereinzelt – wie beispielsweise im Falle des Progressive Rocks – zu implodieren drohten. Den finalen Abgesang auf zunehmenden Klangbombast und sich reproduzierende musikalische Plattitüden leitete im Jahre 1976 der Punkrock durch die britische Band Sex Pistols ein – eine Stilrichtung, die sich als musikalisches Abbild sozialer Probleme der Jugend der englischen Unterschicht in den 1970er Jahren verstand und so zum Gegenentwurf der Professionalisierung des glatt gebügelten MusikBusiness wurde, das die auf der Jugendrebellion basierende ursprüngliche Authentizität des Rock verraten zu haben schien.566 So wurden Attribute wie Kommerz, Hochglanz-Sound oder instrumentale Perfektion zugunsten eines zum Credo erhobenen Dilettantismus verkehrt, der als Folge daraus jedem ermöglichte, unabhängig von den kommerziellen Gesetzmäßigkeiten der Plattenindustrie und musikalischer Vorbildung Musik machen zu können. Im Sog des britischen Punkrock formierte sich in den USA eine Fülle von sogenannten Garagen-Bands wie beispielsweise The Ramones, The Cars oder Talking Heads, die unter dem weit gefassten Oberbegriff des New Wave ebenfalls eine unprätentiöse, minimalistische Rockmusik ins Leben riefen, welche sich von der Schwülstigkeit des Progressive Rock befreit wieder »zum Spiegel des Lebensgefühls Jugendlicher« machte.567 Durch die zunehmende Popularität dieses Genres und die mediale Durchschlagskraft des Begriffs wurden unter New Wave bald nicht nur ursprünglich aus dem britischen Punkrock stammende Bands wie beispielsweise The Clash oder The Stranglers, sondern auch Gruppen, die wie The Police oder Madness Gitarrenrock mit Elementen des Reggaes oder des Ska vermischten, zusammengefasst. Dass New Wave sich in weniger klangspezifischen, konformis566 567

Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 566. Zit. n. Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 490.

229

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

tischen Zwängen und Grenzen der Rockmusik bewegte, bewiesen ferner amerikanische Bands wie Devo oder Blondie, die ihren Sound mit dem in der ersten Hälfte der 1970er Jahre noch hoch umstrittenen Synthesizer anreicherten. Generell hatte der Synthesizer den Status der Ächtung weitgehend verloren  – nicht zuletzt durch eben jenen, durch den Punk evozierten Paradigmenwechsel hinsichtlich der Negation spieltechnischer Perfektion. Schließlich war es nun auch für nur gering oder gar nicht ausgebildete Musiker möglich, durch die automatisierte Steuerung mittels Sequenzern nicht nur überhaupt Musik zu machen, sondern durchaus ein Produkt zu schaffen, das auf dem kommerziellen Musikmarkt bestehen konnte. Ferner setzte in dieser Zeit durch die technische Entwicklung und die Verbilligung elektronischer Komponenten wie Transistoren im Bereich der populären elektronischen Musik ein erster Demokratisierungsprozess der Produktionsmittel ein. So erkannte der japanische Synthesizer-Hersteller Korg als Erster die große Nachfrage nach kompakten und günstigen Instrumenten und brachte mit der MS-Serie im Jahre 1978 eine aus drei Synthesizern, einem Sequenzer und einem Vocoder bestehende Produktreihe568 auf den Markt, die nun für viele Musiker erschwinglich war und sich daher größter Beliebtheit erfreute. Ralf Dörper, Mitglied der 1980 gegründeten deutschen Industrial-Gruppe Die Krupps, beschrieb die Situation in der elektronischen Musik der damaligen Zeit wie folgt: »Es gab die Tendenz, dass Elektromusik anfänglich nur von Millionären gemacht wurde, wie bei Jean Michel Jarre (sic), Florian Schneider-Esleben oder Florian Fricke von Popul Vuh [sic].«569 Weiter sagte Dörper: »Erst die Massenproduktion von Korg und Roland brachte eine Art Chancengleichheit in die elektronische Musik. Bis dato gab es Klassenunterschiede.«570 Ähnlich äußerte sich Gabi Delgado von Deutsch Amerikanische Freundschaft (DAF): »Parallel zur DAF-Gründung 1978 kamen die ersten billigen japanischen Synthies von Korg für tausend Mark auf den Markt, und damit konnten wir unsere Visionen umsetzen. Musikgerätehersteller wie Yamaha oder Korg haben ein Angebot gemacht, und wer mutig genug war zuzugreifen und zu sagen, das ist aber Kunst, so wie es da rauskommt, der war der Gewinner. Ich halte den Erfinder des Sequenzers für DAF fast für wichtiger als Robert [Görl] oder mich.«571

Dieses Zitat ist auch insofern interessant, als dass die Gruppe DAF als Prototyp einer neuen Generation deutscher Elektronikmusiker gilt, die sich im gleichen

568 569 570 571

230

Die Korg MS-Serie bestand aus den halbmodular aufgebauten, monophonen Synthesizern MS-10, MS-20 respektive dessen Rackversion MS-50, dem Sequenzer SQ-10 sowie dem Vocoder VC-10. Zit. n. Ralf Dörper in: Esch 2014, S. 342. Ebd., S. 343. Zit. n. Gabi Delgado in: Esch 2014, S. 221.

4.6  Exkurs: Punk, New Wave und Synth-Pop

Maße, wie sich der Krautrock vom angloamerikanischen Psychedelic Rock emanzipiert hatte, nun sowohl von der Rock- und Popmusik der ersten Hälfte der 1970er Jahre zu emanzipieren versuchte: »DAF verweigert sich der normalen Songstruktur. Refrain, Strophe, Refrain, Strophe, B-Part. A-Part, Fade. Bei DAF gibt’s das nicht. DAF ist trackorientierte Musik. Das ist ein Musikband, das läuft.«572 Speziell DAF kommen mit ihrer elektronischen Version des Postpunks – wie auch Throbbing Gristle oder der Sheffielder Gruppe Cabaret Voltaire, die einen dadaistischen, ähnlich geräuschlastigen, wenn auch nicht so radikalen Industrial-Ansatz wie Throbbing Gristle verfolgte573 – in dieser Hinsicht eine besondere musikhistorische Bedeutung zu, da sie zu den Vorreitern des Anfang der 1980er Jahre aufkommenden Genres der Electronic Body Music, kurz EBM,574 zählen, welche in den Jahren 1987 und 1988 ihre Hochphase hatte. Es handelte sich dabei um eine harte, minimalistische und sequenzerlastige Musik mit tief gesungenen, bisweilen gesprochenen oder gerufenen Texten, die wiederum ab den 1990er Jahren durch die deutsche Band Rammstein eine Fortführung unter dem Genre Neue Deutsche Härte fand. Obgleich der musikwissenschaftliche Diskurs Kraftwerk als wichtigen Einfluss der EBM bezeichnet, wurden sie von der zweiten Generation deutscher Elektromusiker in Deutschland gegen Ende der 1970er Jahre als veraltet abqualifiziert.575 Auch im Bereich des Punk, auf dessen Fundament die Musik DAFs576 entstand, galten Kraftwerk als »verpönt«,577 obwohl Ralf Hütter – sicher auch aus Gründen einer positiven medialen Selbststilisierung heraus  – hinsichtlich der »Einfachheit« und der »minimalistischen Haltung« durchaus Übereinstimmungen sah.578 Dass sich DAF nicht nur von der ersten Generation elektronischer Popularmusiker abgrenzen, sondern sich auch vom Punk emanzipieren wollten, in dem sie das herkömmliche Rockinstrumentarium wie Gitarre und Bass durch Synthesizer und Sequenzer substituierten, zeigt generell ihre konzeptionelle Maxime, die auf nichts Geringeres als die Neuerfindung der Musik abzielte: »Wir wollten uns an nichts orientieren, sobald wir merkten, dass was so klingt wie eine andere Band, war es sofort vom Tisch, rich572 Zit. n. Gabi Delgado in: Delgado 2017, S. 28 f. 573 Obgleich Cabaret Voltaire etwa zeitgleich mit Throbbing Gristle entstanden ist, wurde ihr

574 575 576 577 578

Debüt-Album Mix-Up erst im Jahre 1979 veröffentlicht. 1978 erschien auf dem Label Throbbing Gristles allerdings eine Kassette mit dem Titel 1974–1976, welche Stücke aus der Frühphase der Gruppe enthielt. Im Kontext dieses Genres taucht der Begriff erstmalig 1984 auf, da die belgische Gruppe Front 242, die als Hauptvertreter dieser Stilrichtung galten, in den Credits ihres Albums No Comment ihre Musik als »Electronic Body Music« bezeichneten. Esch 2014, S. 217. Delgado 2017, S. 270 ff. Esch 2014, S. 288. Zit. n. Ralf Hütter in: Buckley 2013, S. 170.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

tig gefegt.«579 Der in der Anfangsphase als Manager und Produzent von DAF agierende Musikjournalist Bob Giddens beschreibt die Musik von DAF wie folgt: »Die Musik von DAF eröffnete eine neue Dimension, die entfernt war von allen Bluesschemata. Anders als die pulsierende Punkwelle in London mit Bands wie Clash und Damned, die sich immer noch an traditionellen Akkordfolgen des Rock ’n’ Roll orientierten, war dies hier vollkommen neu. Ähnlich wie Kraftwerk, die aber keinen so treibenden Ansatz hatten.«580

In der Tat sind trotz aller Abgrenzungsversuche DAFs von Kraftwerk581 gewisse musikalische Übereinstimmungen hinsichtlich der Instrumentierung respektive der Verwendung von Synthesizern und Sequenzern sowie des Pattern-orientierten musikalischen Aufbaus sicherlich nicht von der Hand zu weisen – dies gilt generell in Bezug auf den Vergleich zwischen Kraftwerk und der EBM. Die Ursache liegt allerdings sicher nicht in einer ähnlich intendierten musikalischen Ausrichtung, sondern begründet sich vielmehr darin, dass analog zu den Kongruenzen zwischen Giorgio Moroder und Kraftwerk auch hier das Equipment eine determinierende, dominierende und programmatische Funktion hatte, die die Textur der Musik in Teilen vorgab. Im Zuge dessen wird hinsichtlich der Einflüsse auf die EBM genauso wie Moroder selbst auch immer wieder Tangerine Dream genannt  – eben deshalb, weil diese gleichfalls analoge Step-Sequenzer benutzten, die ihren Kompositionen einen Pattern-haften Anstrich verliehen, obgleich ihr Konzept ja das einer getragenen, Ambient-lastigen und psychedelischen Musik war. Dass DAF dennoch einen völlig eigenständigen Sound besaßen, lag abermals an Conny Plank, der ab dem zweiten Album im Jahre 1980 für die Produktion verantwortlich zeichnete. Geschah dies beim Album Die Kleinen und die Bösen noch durch die Finanzierung des gerade von Daniel Miller gegründeten englischen Labels Mute Records,582 ging Plank von der Gruppe beeindruckt bei den Aufnahmen zum 1981 veröffentlichten Nachfolgealbums Alles ist gut nicht nur wie häufig hinsichtlich der Produktionskosten in finanzielle Vorleistung, um DAF eine vom Kosten- und Zeitdruck befreite Arbeitsatmosphäre zu bereiten, sondern ermöglichte durch den Kontakt zum Wintrup Musikverlag einen Plattenvertrag mit dem englischen Label Virgin Records. Was den Sound durch die Zusammenarbeit mit Plank von allen anderen Elektronikgruppen unterschied, war die Tatsache, dass die Synthesizer-Sequenzen analog zu ihrer Funktion als 579 580 581 582

232

Zit. n. Robert Görl in: Esch 2014, S. 223. Zit. n. Bob Giddens in: Esch 2014, S. 247. Delgado 2017, S. 30 f. Plank produzierte die A-Seite des Albums. Bei der B-Seite handelte es sich um einen Live-Mitschnitt des Konzertes im The Electric Ballroom in London am 29.02.1980.

4.6  Exkurs: Punk, New Wave und Synth-Pop

E-Gitarren- und E-Bass-Substitut als solche der gleichen Klangformung unterzogen wurden: Die Klänge wurden nicht möglichst rein in die Produktion eingebunden, sondern durch verschiedene Gitarren- und Bassverstärker moduliert und anschließend durch Planks ausgeklügeltes Mikrofonierungsverfahren wieder auf Band aufgenommen.583 Das Ergebnis waren angezerrte druckvolle Sounds, die in Verbindung mit den schnellen Four-to-the-Floor-lastigen Drumpattern ein bis dato in der Geschichte der elektronischen Popularmusik völlig eigenständiges hartes und metallisches Klangbild hervorriefen. Dass DAF ihren Durchbruch im Jahre 1980 ausgerechnet in England durch einen Plattenvertrag mit Mute Records hatten, liegt vor allem in der Person des Labelgründers Daniel Miller begründet. Dieser erkannte früh, ebenfalls von der Entwicklung der Rockmusik in den 1970er Jahren enttäuscht, unter dem Eindruck deutscher Krautrock-Pioniere wie Can, Amon Düül II, Neu! und Kraftwerk das Potenzial der elektronischen Klangerzeugung in der Rock- und Popmusik:584 »Für mich war der Synthesizer das Punk-Instrument schlechthin, weil man nicht mal die drei fiesen Akkorde lernen musste, die’s angeblich für die Gitarre braucht. Für mich war das der nächste logische Schritt. Ich war kein Musiker, und das war mit das, was mir an der elektronischen Musik so gefiel – ich konnte damit besser ausdrücken, was in meinem Kopf vorging, als mit einem konventionellen Instrument. Um aus Elektronik Musik zu machen, brauchte es nichts als gute Ideen.«585

Von den klanglichen Möglichkeiten des Synthesizers beseelt, schaffte sich Miller im Jahre 1977 einen monophonen Korg Minikorg-700S, ein kleines Mischpult und eine 4-Spur-Bandmaschine an, womit er im Do-it-yourself-Verfahren zuhause zwei Songs aufnahm, von denen vor allem das Stück »Warm Leatherette« für Furore sorgte. Hierbei spielte Miller zuerst einen in seiner minimalistischen, Motorik-ähnlichen Struktur an Can erinnernden Beat auf dem Synthesizer ein, dessen Bassdrum aus einem, mit schneller Decay-Zeit versehenen, tiefpassgefilteren Bass-Sound bestand, während die auf den Zählzeiten 2 und 4 erfolgende Snare­drum durch einen ähnlich gefilterten White-Noise-Klang erzeugt wurde. Neben einer einfachen Melodie bestand das Fundament des Stückes aus einem auf jeweils der ersten Zählzeit erklingenden Bassklang, der taktweise zwischen Hochpass- und Tiefpassfilterung hin und her wechselte. Als letzte Spur kam ein Sprechgesang hinzu. Das Ergebnis wurde zunächst auf 2.000 Einheiten gepresst und unter dem Pseudonym The Normal veröffentlicht. Durch positive Kritiken

583 584 585

Delgado 2017, S. 44 ff. Burrows / Miller 2017, S. 24. Zit. n. Daniel Miller in: Burrows / Miller 2017, S. 31.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

und die Radiopromotion des bekannten DJs John Peel wurde eine weitere Pressung in Auftrag gegeben, so dass in drei Monaten 15.000 Einheiten verkauft wurden. Mit minimalistischen Mitteln war es Miller gelungen, ein Stück zu komponieren, das offensichtlich den Zeitgeist traf und damit zur Gründung seines Labels führte. Obwohl die ersten Single-Veröffentlichungen von Mute Records experimentellen Postpunk-Charakter hatten und das erste Album des Labels mit DAFs Die Kleinen und die Bösen ebenfalls alles andere als Mainstream-Pop war, verfolgte Miller trotz allem eine Vision von elektronischer Popmusik. Hierzu erfand er die virtuelle Gruppe Silicon Teens, wobei Miller alle Instrumente spielte und auch den Gesang übernahm, während die fiktiven Gruppenmitglieder bei medialen Auftritten von Schauspielern gespielt wurden. Bei der Musik handelte es sich um elektronische Coverversionen von Rock ’n’ Roll- und Beat-Klassikern wie »Yesterday Man« oder »Memphis Tennessee«. Der finale Durchbruch in kommerzieller Hinsicht gelang Miller aber durch die Entdeckung der Gruppe Depeche Mode im Jahre 1980, die sich mit ihrem Album Speak & Spell sowie der daraus ausgekoppelten Single »I just can’t get enough« 1981 in den Top Ten der englischen Charts platzieren konnte. Diese bis heute mit Abstand weltweit mit geschätzten über 100 Millionen verkauften Einheiten kommerziell erfolgreichste Synth-Pop-Band586 profitierte dabei vor allem von der Popularität der gegen Ende der 1970er Jahre in Großbritannien aufgekommenen Bewegung der New Romantics, bei der es sich um eine am damaligen Look von David Bowie orientierte Moderichtung handelte, die durch extravagante Kostümierungen und »von phantasievoll produzierten Videoproduktionen unterstützt, eine romantische Popwelt in optischer Raffinesse als Gegenbild zum harten Realismus des Punk Rock heraufbeschwor«.587 Obgleich laut Wicke »die Musik selbst als bloßes Stilelement eine eher untergeordnete Rolle spielte«588 – weitgehend basierte sie auf den konventionellen Schemata der britischen Popmusik –, einte die unter dieser Stilrichtung firmierenden Gruppen wie Visage oder Spandau Ballet der Einsatz des Synthesizers. Nach Meinung des Sängers der ursprünglich aus dem Postpunk kommenden Band Ultravox,589 John Foxx, lag diese instrumententechnische Fokussierung zum einen darin begründet, dass die im Vergleich zum konventionellen Rockinstrumentarium viel größeren Klangfarbenmöglichkeiten des Syn-

586 BVMI: Depeche Mode mit Weltpremiere beim ECHO, 2009, https://web.archive.org/web/201408190 587 588 589

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82648/http://www.musikindustrie.de/presse_aktuell_einzel/back/82/ (abgerufen am: 20.02.2021). Zit. n. Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 490. Ebd., S. 490. Die Gruppe benutzte auf ihren ersten beiden Alben noch den Namen Ultravox!, verzichtete aber dann auf das Ausrufezeichen in ihrem Bandnamen. Im Folgenden der Arbeit wird daher der Name Ultravox benutzt.

4.6  Exkurs: Punk, New Wave und Synth-Pop

thesizers das ideale Werkzeug darstellten, dem komplexen postindustriellen Lebensgefühl in den englischen Städten der späten 1970er Jahren mit all seinen sozialen Missständen musikalischen Ausdruck zu verleihen.590 Zum anderen war neben dem Aufkommen preiswerter Geräte laut Foxx natürlich auch die einfache Handhabbarkeit von eminenter Bedeutung: »[…] man brauchte nur einen Finger, um darauf zu spielen – oder gar keinen, wenn man einen Sequenzer verwendete.«591 Wie schon bei DAF erwies sich der Synthesizer respektive der Sequenzer als ein Interface, welches den instrumental unbedarften Musikern überhaupt ermöglichte Musik zu machen. So urteilte etwa der Sänger der Gruppe The Human League Philip Oakey: »Der Witz bei Human League war, dass wir das [die Musik] nicht spielen mussten. […] Wir konnten uns das ausdenken, planen und irgendwie abspielen. Dann setzen wir alles zusammen. Aber der Schlüssel war, dass wir nicht gut genug spielen konnten, um es zu machen.«592

Sein Bandkollege und Mitgründer der ebenfalls später erfolgreichen Synth-PopBand Heaven 17, Ian Craig Marsh, ging dabei noch weiter, indem er die Hinwendung zu elektronischen Klangerzeuger zur künstlerischen Ideologie erhob: »Es war eine Art Manifest, dass wir ausschließlich elektronische Instrumente verwendeten, selbst wenn das bisweilen eine gewisse Einschränkung bedeutete. […]. Auch Kraftwerk sahen sich definitiv als elektronische Band. Tatsächlich teilten alle neuen deutschen Bands die Meinung, dass ein neues Zeitalter angebrochen sei und man im Prinzip keine alte Instrumentierung mehr verwenden sollte. Es war wie eine neue Volksmusik, die sich in einem rein elektronischen Medium vorwärtsbewegte.«593

Zwar nennt Marsh Kraftwerk in Bezug auf diese ideologische Ausrichtung, eine musikalische Beeinflussung habe laut Oakey aber vielmehr durch Moroder bestanden: »We were much more influenced by Moroder than we were by Kraftwerk. […] we use the same instruments [like Kraftwerk], so some of the sounds are a bit the same. We never really wanted to be Kraftwerk, we wanted to be a pop band.«594

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Buckley 2013, S. 202. Zit. n. John Foxx in: Buckley 2013, S. 202. Zit. n. Philip Oakey in: Buckley 2013, S. 170. Zit. n. Ian Craig Marsh in: Buckley 2013, S. 204 f. Zit.  n. Philip Oakey in: BBC Productions: Synth Britannia, 2009, https://www.youtube.com/ watch?v=1lVljmH0yUw (abgerufen am: 24.02.2021).

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Dieses Zitat ist allerdings dahingehend mit Vorsicht zu genießen, als dass es Oakey vordergründig wohl eher um die medial wirksame Stilisierung ging, mit The Human League den Synth-Pop als Pioniere vorangebracht zu haben – sein Bandkollege Martyn Ware bezeichnete Kraftwerk zumindest sehr wohl als Initialzündung für das musikalische Schaffen.595 Wie dem auch sei, auch wenn Popmusik die Maxime für The Human League gewesen sein mag, konnte dieser Anspruch auf den ersten, in den Jahren 1979 und 1980 erschienenen Alben der Gruppe, Reproduction und Travelogue, nur bedingt umgesetzt werden, dafür gerieten ihre Stücke bezüglich der formalen Struktur und den verwendeten Klängen zu sperrig – lediglich ihr bereits 1978 veröffentlichter Clubhit »Being Boiled« demons­ trierte durch seine eingängige Synthesizer-Basslinie und die elektronisch generierten Schlagzeugklänge, wie viel Potenzial in der Kombination aus Synthesizern und Popschemata steckte. The Human League selbst zeigten sich nach Aussage Marshs vom Sound ihrer ersten beiden Alben wenig begeistert: »Wir waren unzufrieden mit der Produktion, im Vergleich zu Moroder und Kraftwerk klang die Platte [Reproduction] schwach.«596 Den Grund dafür machte Marsh im fehlenden Know-how der Tonstudios in Großbritannien bezüglich des Umgangs mit elek­ tronischer Klangerzeugung aus: »Wir wollten unsere Platten auf der Rhythmusebene viel brutaler haben, aber zu dem Zeitpunkt waren die Techniker und Produzenten, die es damals in Großbritannien gab, dem nicht gewachsen.«597 Dass gegen Ende der 1970er Jahre trotz der seit Dekaden bestehenden angloamerikanischen Führungsposition im Bereich der Pop- und Rockmusik das Feld der elektronischen Popularmusik in der Hand deutschsprachiger Protagonisten lag, beweist auch der Umstand, dass etwa Ultravox, die als eine der ersten New Wave-Bands sowohl Synthesizer als auch Drumcomputer einsetzten, ab ihrem dritten, im Jahre 1978 veröffentlichten Album Systems of Romance mit Conny Plank als Produzenten zusammenarbeiteten, dessen Fähigkeiten im Umgang mit elektronischer Klangerzeugung und deren Einbettung in den Rock / Pop-Kontext seit dem Erfolg von »Autobahn« auch international hohe Anerkennung genossen. John Foxx äußerte sich dazu wie folgt: »Conny liebte und verstand die britische Psychedelia und die deutsche Elektronikmusik. Dies waren zwei Bereiche, um deren Verschmelzung wir uns bemühten. Niemand anders verstand und erfasste all dies so vollständig wie Conny zu dieser Zeit.«598 595 Reynolds 2007, S. 181. 596 Zit. n. Ian Craig Marsh in: Reynolds 2007, S. 333. 597 Ebd. 598 Zit. n. John Foxx im Booklet zur remasterten Version des Albums Systems of Romance von Ultra-

vox im Jahre 2006.

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4.6  Exkurs: Punk, New Wave und Synth-Pop

Der Einfluss der deutschen Elektronikpioniere in der Startphase des englischen Synth-Pops ist sicherlich unbestritten. So bezeichnete der Sänger der Gruppe Orcherstral Manoeuvres in the Dark (kurz OMD), Andy McCluskey, den Besuch als Teenager eines Konzerts von Kraftwerk in Liverpool 1975 als den ersten Tag in seinem neuen Leben.599 Die Verehrung Kraftwerks seitens OMDs ging so weit, dass sie ihr zweites, im Jahre 1980 veröffentlichtes Album in Anlehnung an die erste Formation Ralf Hütters und Florian Schneiders Organisation nannten. Was allerdings unabhängig von der Begeisterung für die elektronischen Klangwelten der deutschsprachigen Vorbilder gegen Ende der 1970er Jahre in Großbritannien passierte, war – Philip Oakeys Aussage entsprechend – eine Hinwendung zum Pop mit elektronischen Hilfsmitteln, die sich bei mehreren Gruppen verzeichnen ließ: Proportional zum Einsatz des Synthesizers und des Verzichts auf konventionelles Rockinstrumentarium glätteten sich sukzessiv auch die mitunter sperrigen Elemente des aus dem New Wave bekannten Songwritings zugunsten klarer Pop-Strukturen. Gleichfalls hatte sich im Zuge der Emanzipation des Synthesizers ein neuer synthetischer Sound etabliert, der mit Musikern wie Gary Numan respektive seiner Band Tubeway Army im Jahre 1979 die britischen Charts stürmen sollte und das Ende der Hochphase des gitarrenlastigen Postpunks einläuten sollte. Elektronische Klangerzeugung war auf einmal en vogue und im Massengeschmack der Popmusik angekommen. Zwar hielten einige Gruppen analog zur ursprünglichen Profession ihrer Mitglieder vereinzelt noch an konventionellen Instrumenten fest – so spielte Andy McCluskey von OMD immer noch E-Bass, auch Ultravox hatten mit Robin Simon noch einen Gitarristen in ihren Reihen –, ein Großteil der Gruppen wie Soft Cell, The Human League oder Depeche Mode arbeiteten aber ausschließlich mit elektronischen Klangerzeugern. Waren ihre Ansätze und musikalischen Ergebnisse unterschiedlicher Natur, kristallisierten sich doch gewisse Stilelemente heraus, die als signifikante Merkmale für das ab 1980 entstandene Genre des Synth-Pop sein sollten: Betrachtet man beispielsweise die beiden Nummer-Eins-Hits des Jahres 1979 von Gary Numan,600 »Are ›Friends‹ Electric?« und »Cars«, fällt auf, dass neben den gesungenen Strophen die eigentliche Hookline der Stücke durch ein Synthesizer-Riff erfolgt, das gleichfalls die Funktion eines Refrains übernimmt. Obgleich diese Art des Songwritings schon in der Rockmusik praktiziert worden ist, bei der jene Hooklines von der E-Gitarre gespielt wurden, wohnte diesem im Synth-Pop 599 600

McCluskey, Andy, in: Südwestrundfunk, https://www.swr.de/swr1/rp/mccluskey-andy-kraftwerkhatten-einen-rieseneinf luss-auf-mein-leben/-/id=233366/did=11223320/nid=233366/g8bimy/ index.html (abgerufen am: 28.03.2019). Der Song »Are ›Friends‹ Electric?« wurde noch von Numans Band Tubeway Army veröffentlicht, kurz darauf trat Numan als Solo-Künstler auf.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

doch eine neue Qualität inne, da diese Riffs durch den Synthesizer eine viel größere Klangfarbenvielfalt erhielten, deren Einzigartigkeit oftmals ausreichte, ein ganzes Stück kompositorisch allein zu tragen. War es bei Numan der streicherähnliche Sägezahnwellen-Sound des Polymoog, der die ganze Textur der Kompositionen prägte, erhielten die aggressiveren Basslinien der Stücke »Fade to Grey« des Nebenprojekts Visage der Gruppe Ultravox sowie »Being Boiled« von The Human League ihren unverwechselbaren Charakter durch Synthesizer, die über integrierte Ringmodulatoren verfügten, welche den Kompositionen zugrunde liegenden, ohnehin schon obertonreichen Sägezahnwellenformen einen noch druckvolleren Klang verliehen, der es problemlos mit der Prägnanz einer E-Gitarre aufnehmen konnte, was die Durchsetzungsfähigkeit in der Gesamtmischung betraf. Während Visage hierfür den bereits von Kraftwerk bekannten ARP Odyssey einsetzten,601 benutzten The Human League den gleichfalls von Daniel Millers Aufnahmen bekannten Korg Minikorg-700S.602 Spricht man über Klangfarbenreichtum, darf man einen Großteil des Spek­ trums nicht vergessen, das man am ehesten mit lieblichen oder süßlichen Klängen assoziieren würde. Diese wurden entweder mit Sinus- oder Dreieckswellenformen erzeugt oder aber mit tiefpassgefilterten Rechteck- oder Sägezahnwellenformen realisiert. Obgleich diese Töne verhältnismäßig obertonarm waren, erhielten sie sowohl durch oktavweise Schichtung der einzelnen Oszillatoren als auch durch die Verwendung von kurzen Decay-Zeiten bei geringen Sustain-Werten seitens der Verstärkerhüllkurve einen perkussiven, glockenähnlichen, aber dennoch warm anmutenden Klang, der in dieser Form mit keinem anderen Instrument zu realisieren gewesen wäre. Als frühe und repräsentative Beispiele wären die Sounds zu nennen, die für die Hooklines der im Jahre 1980 veröffentlichten Stücke »Electricity« und »Enola Gay« von OMD verwendet wurden  – auch hier übernehmen diese instrumentalen Zwischenteile die Funktion des eigentlichen Refrains. Was alle Gruppen der ersten Stunde des Synth-Pops darüber hinaus in kompositorischer Hinsicht einte, waren übereinandergelegte kurze und einstimmige Melodien, was abermals dem programmatischen Diktat der analogen Synthesizer und Controller der damaligen Zeit geschuldet war: Zum einen waren polyphone Synthesizer für die meisten Musiker zur damaligen Zeit immer noch unerschwinglich, zum anderen ging die Kapazität der damals gängigen Sequenzer der Firmen Roland, Korg und ARP, welche häufig für Basslinien und Arpeggio-Begleitungen

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Ultravox, http://www.ultravox.org.uk/forum/ubbthreads.php/topics/84819/Fade_to_Grey_Rhythm #Post84819 (abgerufen am: 14.02.2021). Ware, Martyn: Human League »Being Boiled« – In the studio with Martyn Ware, https://www.youtube. com/watch?v=WdjtAIMZXTs (abgerufen am: 14.02.2021).

4.6  Exkurs: Punk, New Wave und Synth-Pop

benutzt wurden, nicht über 16 Schritte hinaus. Wollte man auf Automation und Präzision – sei es in Ermangelung spieltechnischer Fähigkeiten und bewusst künstlerisch intendiert – nicht verzichten, führte diese technische Limitierung unweigerlich zu eben jenen Pattern-lastigen, baukastenartig zusammengesetzten Kompositionen, wie sie schon auf Kraftwerks Die Mensch-Maschine zu hören waren. Die Parallelen sind dabei mannigfaltiger Art: Zunächst gingen die verwendeten Klangfarben hinsichtlich ihrer Komplexität nicht über ein gewisses Grundmuster hinaus, welches in seinem Spektrum stark von den zugrunde liegenden Wellenformen geprägt war. Viele der zum Einsatz kommenden, meist preiswerten Synthesizer verfügten lediglich über einen Oszillator, so dass die Erstellung von komplexen Mischklängen wie man sie von Isao Tomita her kannte, unmöglich waren. Auch im Hinblick auf den Klang- oder Dynamikverlauf waren diese Geräte sehr eingeschränkt, da zu Modulationszwecken meistens lediglich nur eine Hüllkurve und nur ein LFO eingesetzt werden konnten. Durch die Verwendung von Sequenzern musste ferner häufig auf ein Fundus an Sounds zurückgegriffen werden, die einerseits perkussiv genug waren, um in der schnellen Abfolge einer Sequenz wahrnehmbar zu sein, und andererseits ausreichend druckvoll waren, um beispielsweise im Bassbereich die Dynamik und Durchsetzungsfähigkeit eines E-Basses zu ersetzen  – eine Herausforderung an das Klangdesign, welches wie erwähnt nicht nur Gruppen wie The Human League Probleme bereitete. Ähnliche Schwierigkeiten tauchten hinsichtlich der Erstellung von Percussionsounds zur Substitution eines akustischen Schlagzeugs auf, da auch hier primär wie bei Daniel Millers Soloprojekt The Normal auf preiswerte, aber dafür auch limitierte Synthesizer zurückgegriffen werden musste. Wie schon bei den synthetischen Schlagzeugklängen auf Die Mensch-Maschine kristallisierte sich der spannungsgesteuerte Filter in Verbindung mit hohen Resonanzwerten als effektivstes Werkzeug heraus: So erhielt man infolge schneller Hüllkurvenmodulation durch kurze Decay-Werte einen perkussiven Klang,603 der sich je nach Höhe der Filtereckfrequenz bei geringen Werten zur BassdrumSubstitution oder bei höheren Werten zur Verwendung von additiven Percussionpattern bis hin zur Snaredrum-Substitution eignete. Als ebenfalls nützliches synthetisches Additiv wurde von vielen Gruppen der fast in allen Synthesizern vorhandene Rauschgenerator genutzt, der sich vor allem für die Erzeugung von Hi-Hat-Klängen, aber auch eigenständigen, rauschhaften Percussionsounds 603

Mittlerweile hat sich in der Fachsprache der Musikmagazine für den ersten, perkussivsten Klanganteil im zeitlichen Verlauf eines Bassdrum-Klangspektrums der Begriff »Punch« herauskristallisiert. Je nach Lautstärkeanteil und Länge dieser ersten Klangverlaufsphase wird der BassdrumKlang bei lauten, aber kurzen Zeitwerten im Fachjargon als »punchig« respektive bei einem leisen, aber zeitlich längeren Anteil als weniger »punchig« beschrieben.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

durch gefiltertes weißes oder rosa Rauschen eignete. Hierfür ist abermals das Stück »Being Boiled« von The Human League ein gutes Beispiel, bei dem diese Klänge als tragendes Element der Schlagzeugspur benutzt wurden, welche sich im Vergleich zu den elektronischen Schlagzeugklängen anderer Synth-PopGruppen doch deutlich hervorheben. Ein Grund dafür mag auch gewesen sein, dass The Human League für die Erzeugung von Perkussionsklängen mit dem Roland System 100 ein  – wenn auch nur kleines  – Modularsystem einsetzten, welches im Hinblick auf die Modulationsmöglichkeiten und dem damit verbundenen Klangfarbenreichtum herkömmlichen Analog-Synthesizern überlegen war. Generell ist aber zu konstatieren, dass etwa bis zum Jahre 1980 – also bis zum Aufkommen von kommerziellen Drumcomputern wie der analogen Roland TR-808604 oder der Sample-basierten LM-1 der Firma Linn Electronics – alle synthetischen Schlagzeugklänge doch recht dünn klangen. In Verbindung mit den monophonen Analog-Synthesizern wohnt dieser Frühphase des Synth-Pops dadurch bis zum Aufkommen des Samplings durch die Firma Fairlight im Jahre 1979 und der auf FM-Synthese basierenden DX-Synthesizer-Serie von Yamaha 1983 eine etwas schrullige, mitunter aus heutiger Warte billig wirkende Klangästhetik inne, die aufgrund der ihr zugrunde liegenden technisch und klanglich limitierten Produktionsmittel aber auch sehr kohärent wirkt: Möglicherweise sind die starken Übereinstimmungen in der Frühphase des Synth-Pops hinsichtlich der Pattern-basierten Kompositionen und der verwendeten Klangfarben auch ein Grund dafür, dass die Blaupause dieser Art von elektronischer Popmusik, Kraftwerks Stück »Das Modell«, im Jahre 1982 als Veröffentlichung unter dem Titel »The Model« auf der B-Seite der Single »Computerworld« den 1. Platz der britischen Charts trotz der Tatsache erklimmen konnte, dass die Produktion zum damaligen Zeitpunkt schon vier Jahre alt war. Es zeigt sich daran aber auch, dass sich der Synthesizer zu Beginn der 1980er Jahre endgültig aus dem Nischendasein befreit und zu einem massentauglichen Instrument gewandelt hatte, das fortan auch den Massengeschmack der Popmusik bestimmen sollte. Im Umkehrschluss bedeutete dies allerdings auch, dass das der elektronischen Popmusik innewohnende Spezialistentum, welches bis dato nur von einigen wenigen ausgeübt werden konnte, die über teures Instrumentarium und technisches Know-how verfügten, durch eine neue und zahlreiche Generation von Musikern aufgeweicht wurde, die fortan am Geschehen mitwirkten: Kraftwerk bestimmten den Puls der Zeit nicht mehr allein und mussten sich

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Sowohl die Roland TR-808 als auch die Linn LM-1 kamen im Jahre 1980 auf den Markt.

4.7  Computerwelt

fortan mit ihren Produktionen an einer Fülle von ähnlich gearteten Veröffentlichungen messen. Dass es ihnen dennoch gelang, auf dem expandierenden Feld der elektronischen Popmusik eine Ausnahmestellung zu behaupten, stellten sie mit dem Album Computerwelt unter Beweis.

4.7 Computerwelt

4.7.1 Umbau des Kling Klang Studios – klangliche Evolution Als Kraftwerk nach der fünfmonatigen Promotion-Pause für Die MenschMaschine im Juli 1978 mit den Writing Sessions für das Nachfolge-Album Computerwelt begannen, waren die im vorhergehenden Kapitel dargestellten tiefgreifenden Entwicklungen in der Popmusik nicht absehbar. Ungeachtet der sich durch die Popularisierung der elektronischen Klangerzeugung sukzessiv einstellenden Konkurrenz durch andere Gruppen605 und Künstler komponierten Kraftwerk in der Zeit bis 1980, die Karl Bartos als die kreativste und produktivste Phase Kraftwerks bezeichnete, in über 400 Sessions eine Vielzahl an Stücken, die nicht nur auf Computerwelt veröffentlicht wurden, sondern auch auf dem Nachfolgealbum Electric Café Verwendung fanden.606 Die auf Die Mensch-Maschine eingeschlagene Richtung der minimalistischen, Pattern-basierten Sequenzermusik wurde dabei konsequent weiterentwickelt, sei es hinsichtlich der künstlerischen Programmatik als auch deren musikalischer Umsetzung durch die Erweiterung des Instrumentariums, was für Ralf Hütter eine logische Entwicklung zu sein schien: »Kraftwerk steht für eine ziemlich geradlinige Sache, die wir seit Jahren machen. Wir sind nicht besonders flexibel.«607 Das sich während der Writing Sessions herauskristallisierende Konzept608 von Computerwelt thematisierte dabei die zur damaligen Zeit einsetzende Durchdringung aller Lebensbereiche durch den Computer,609 sei es in der Arbeitswelt oder in der Freizeit. Die Idee, rechnergestützte Datenverarbeitung und deren Anwendungsmöglichkeiten zum Sujet des Albums zu erklären, fügte sich gleichfalls hervorragend in die sukzessiv vorangetriebene musikalische Konzeption der auto-

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Vgl. Esch 2014, S. 288 ff. Bartos 2017, S. 305 ff. Hütter, Ralf: Elektronischer Lebensstil – Ralf Hütter im Interview mit Dankmar Isleib, Musikexpress, 1981, https://www.thing.de/delektro/www-eng/kw5-81.html (abgerufen am: 03.01.2021). Bartos 2017, S. 306 und 331 ff. Bussy 1995, S. 142 f.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

matisierten Tonsteuerung Kraftwerks ein, wodurch einmal mehr die häufig propagierte Wichtigkeit der technischen Komponente und Klangästhetik der Gruppe betont werden konnte. Obgleich sowohl die Synthesizer als auch die Sequenzer Kraftwerks mit Ausnahme des neu angeschafften Gate-Sequenzers Roland MC-8 zum damaligen Zeitpunkt analog waren, kamen hinsichtlich der Klangbearbeitung durch Effektgeräte der Firma Eventide bereits digitale Werkzeuge zum Einsatz. Ferner kaufte sich Florian Schneider ein SWTPC 6800 Computer-System der Firma South West Technical Products Corporation, um seine Sprachsynthese-Experimente zu realisieren.610 Generell befand sich das Kling Klang Studio im Umbruch: Der sukzessive Ausbau des Instrumentariums und der damit einhergehende immer größer werdende technische Aufwand hinsichtlich der Musikrealisation hatten es zunehmend schwerer gemacht, die Musik adäquat auf der Bühne umzusetzen, so dass Kraftwerk im Anschluss an die Veröffentlichung von Die Mensch-Maschine keine Konzerte mehr spielten.611 Um den Konzertbetrieb aber wieder ins Leben zu rufen, entschlossen sie sich, das Kling Klang Studio durch Wolfgang Flür und den Tontechniker Joachim Dehmann so umzubauen, dass es durch eine modulare Bauweise in kleine Elemente zerlegbar und verhältnismäßig leicht auf der Bühne wieder zusammengesetzt werden konnte. Flür orientierte sich dabei an dem Design der Firma Knürr, die für Laboratorien Arbeitspulte herstellten: »[…]. Wir übernahmen im Wesentlichen die ergonomisch schräge Bedienoberfläche mit 16 Höheneinheiten im 19"-Format. Daraus ergaben sich dann alle anderen Maße, wenn man die Geräte im Stehen bedienen wollte. […]. Zunächst leimte ich die Kästen aus Schichtholzplatten zusammen und strich sie grau. Dann brachte ich eigens von mir hergestellte Aluminiumlampen an, die die Geräte von oben beleuchteten. Alle Laborpulte ruhten auf fahrbaren Metallständern. Wir vier würden vor den Pulten stehen. Jedes Keyboard war durch Kabel mit der Elektronik hinter uns verbunden. Diese Kabel liefen durch ein flaches Podest, auf dem wir uns nach links und rechts über die ganze Bühne bewegen konnten. Zusätzlich wurden Pedale zur Lautstärkeregelung in das Podest integriert. […].«612

Als Grundfläche fungierte dabei ein rechtwinkeliges, zum Publikum geöffnetes Dreieck, auf dem die Pulte V-förmig mit einer Länge von jeweils zehn Metern angeordnet wurden. Joachim Dehmann übernahm nach der Fertigstellung der 610 611 612

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Bartos 2017, S. 332. Ein weiterer Grund für den Verzicht auf Konzerte resultiert aus der zunehmenden Abneigung seitens Ralf Hütters und v. a. Florian Schneiders, sich den Strapazen einer Tournee zu stellen. Bussy 1995, S. 200. Flür 1999, S. 166 und 227 f. Zit. n. Wolfgang Flür in: Bartos 2017, S. 311 f.

4.7  Computerwelt

Gehäuse den Einbau und die Verkabelung des Instrumentariums, was sich durch technische Widrigkeiten immer wieder in die Länge zog.613 Da in diesem Zeitraum das Kling Klang Studio nicht benutzt werden konnte, kam die Arbeit an Computerwelt zwischen August 1979 und Mai 1980 völlig zum Erliegen, was die mit drei Jahren relativ lange Zeitspanne zwischen der Veröffentlichung von Die Mensch-Maschine und Computerwelt erklärt.614 Trotz des enormen Aufwandes ergaben sich dennoch konzeptuell bedingte Unzulänglichkeiten: Da das Design des Studios laut Karl Bartos in erster Linie für den Live-Betrieb konzipiert war, tauchten jedoch im eigentlichen Studiobetrieb ergonomische Probleme auf, da man gezwungen war, im Stehen zu arbeiten. Ebenfalls nicht hinreichend beseitigt waren die Schwierigkeiten bezüglich der Beschallung: Obgleich der Studioaufbau mit einer Monitoranlage versehen wurde, blieb die Anordnung der Abhöre unverändert, so dass die bei den Aufnahmen zu Die Mensch-Maschine zutage getretenen akustischen Probleme nicht gelöst wurden.615 Das Kling Klang Studio war folglich im Vergleich zu kommerziellen Studios, zumindest was den Mix anbelangte, nach wie vor im Hintertreffen. Dem Credo Hütters und Schneiders folgend, dass man mit besserem Equipment zum einen bessere Arbeit abliefern und zum anderen auf dem Fundament hochwertiger Technik die eigene Energie für andere Dinge bündeln könne,616 gehörte neben der Mobilität vor allem auch die technische Ausstattung an sich zu den Vorzügen des Studios, die von Hütter und Schneider immer auf den neuesten Stand gebracht wurde. Angesichts des vielschichtigen Klangspektrums auf Computerwelt gestaltet es sich recht schwer, auditiv genau zu lokalisieren, mit welchem Equipment die Umsetzung der einzelnen Klangelemente explizit erfolgte. Einigermaßen detailliert lässt sich daher die genaue Ausstattung des Kling Klang Studios vor allem anhand eines technikfokussierten Artikels des Electronic and Music Maker-Magazins anlässlich der Computerwelt-Tournee im Jahre 1981 sowie durch im Internet gepostete Fotos verifizieren. Neben Effekten der Firma Eventide617 zur Klangbearbeitung finden sich auf der Seite der Klangerzeuger als Neuerungen gegenüber des bei Die Mensch-Maschine zum Einsatz kommenden Instrumentariums die Syn-

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Esch 2014, S. 320. Bartos 2017, S. 328 ff. Ebd., S. 329. Bangs, Lester: Kraftwerkfeature | 1975  – by Lester Bangs, 1975, https://www.thing.de/delektro/ kwbangs.html (abgerufen am: 25.07.2019). Hierbei handelt es sich um einen Harmonizer, einen Flanger sowie das bereits für die Aufnahmen zu Trans Europa Express angeschaffte Digital Delay.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

thesizer der Firmen Korg618 und Sequential Circuits.619 Hinsichtlich der Sequenzer sind neben dem MC-8 Microcomposer von Roland vor allem Spezialanfertigungen von Matten und Wiechers zu nennen. Während es sich beim MC-8 Microcomposer um einen computergesteuerten 8-Kanal-CV / Gate-Sequenzer handelte, dessen Sequenzen mittels eines Tape-Interfaces speicherbar waren, handelte es sich bei der Auftragsarbeit von Matten und Wiechers um die für Kraftwerk finale Ausbaustufe des Synthanormas, die aus einem zweiten Sequenzer und der sogenannten »Triggersumme« bestand. Hans-Joachim Wiechers: »Der zweite Sequencer war schaltungstechnisch zwar kein Klon des ersten, aber in den Funktionen praktisch identisch. Es liegt nahe, dass man beide Geräte variabel (auch im laufenden Betrieb) koppeln konnte. Jetzt war es möglich, beide Geräte abwechselnd ablaufen zu lassen, um Abfolgen mit bis zu 32 Schritten zu erzeugen. Natürlich konnte man auch beide Geräte unabhängig einzeln oder synchron gekoppelt betreiben, weil die Spannungsausgänge ja pro Gerät und damit doppelt vorhanden waren.«

Hans-Jochim Wiechers betonte vor allem die Live-Tauglichkeit des SequenzerKonzeptes: »Wichtig [war], dass jederzeit spontane Änderungen selbst bei laufendem Betrieb möglich waren, ohne in Kakophonie zu enden. Das System hat im Studio die kreative Arbeit und Gestaltung der Komposition bei Kraftwerk entscheidend unterstützt. Das war zu damaliger Zeit nur mit der Synthanorma-IntervallomatTriggersumme-Kombination möglich. […] Ich rechne mir das ganz unbescheiden als Verdienst an, auch wenn ich mit den Kompositionen selbst nicht befasst war. Meine Rolle war stets die eines Werkzeugmachers für Musiker. Das LiveKonzept habe ich dann bei der Triggersumme fortgesetzt. Auch hier wurde die Änderung ohne Unterbrechung oder gar Neustart wirksam. Es ist aber wichtig, dass damit von den Musikern eine eigene, neue Art der Spieltechnik gefordert wurde. Änderungen wirkten sich nämlich erst mit dem folgenden Durchlauf aus. Man arbeitete daher zwar in Echtzeit, aber nicht wie ein Schlagzeuger, der sein Pedal im selben Moment betätigt, zu dem man die Bassdrum auch hört, sondern man musste vorausschauend den Schalter umlegen, damit er bei Errei-

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Im Artikel wird das voll polyphon spielbare Modell PS-3300 angegeben, welches nach Aussage Ralf Hütters durch ein speziell für Kraftwerk in Italien angefertigtes Keyboard angesteuert wird. Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit dem Electronics and Musik Maker Magazin im September 1981, http://kraftwerk.technopop.com.br/interview_13.php (abgerufen am: 14.05.2009). Karl Bartos gab an, dass er sich hingegen einen Korg PS-3100 gekauft habe, für den Wolfgang Flür eine externe Tastatur angefertigt hätte. Bartos 2017, S. 305. Dass es sich in der Tat um einen PS-3100 handelt, belegt ein Foto des Kling Klang Studios im Internet. Kraftwerk: Foto von Karl Bartos, 1981, https://www.pinterest.de/pin/391109548883018550/ (abgerufen am: 25.07.2019). Hierbei handelt es sich um das speicherbare Modell Prophet V.

4.7  Computerwelt

chen (= Aktivieren) der Position einen Trigger zur Bassdrumschaltung leitet. Es war nicht Zweck der Triggersumme, den Schalter genau in dem Moment einzuschalten, in dem auch das Instrument getriggert werden sollte. Davon unterschied sich das ›Stricknadelspiel‹, das stetige Aktionen im exakten Timing erforderte. Bei der Triggersumme konnte ein Pattern nach der Einstellung beliebig oft ohne Zutun wiederholt, aber eben auch im Lauf beliebig geändert werden, ohne das vom Synthanorma vorgegebene Timing zu verlieren. Prinzipiell konnten die Triggersignale auch für andere Zwecke genutzt werden. Kraftwerk hat aber wohl nur Schlagzeugsounds getriggert.«

Im Detail betrachtet handelte es sich bei der Triggersumme um eine 16-schrittige, mit dem Synthanorma-System gekoppelte Trigger-Steuereinheit mit Lauflichtprogrammierung, mit der fünf verschiedene Klänge angesteuert werden konnten. Hierfür stand eine aus farbigen Kippschaltern bestehende Matrix zu Verfügung, mit der man die Triggersignale für jeden Schritt ein- und ausschalten konnte, wobei jedem Klang dafür mit Rot, Orange, Gelb, Weiß und Blau jeweils eine eigene Farbreihe zugewiesen wurde.620 Dadurch war es zum einen möglich, auf einfache Weise Rhythmen zu erstellen und zum anderen während des laufenden Betriebs unmittelbar in das Pattern eingreifen zu können, um beispielsweise Breaks zu programmieren. Das Konzept wurde allerdings nicht von Kraftwerk angeregt, sondern bereits im Jahre 1972 von Hans-Joachim Wiechers entwickelt: »Die Idee zur Triggersumme ist viel älter, da hatte ich noch keinen Kontakt zu Kraftwerk. In der heute noch erscheinenden Zeitschrift Elektor wurde in zwei Ausgaben von 1972 eine Drumbox-Schaltung vorgestellt. Die habe ich nachgebaut. Allerdings waren mir die fest eingestellten Rhythmen zur Orgelbegleitung (Foxtrott, Walzer …) nicht genug. Ich wollte eigene variable Rhythmen haben. Dazu hätte ich jede Menge Schalter benötigt, nämlich 16 Stück pro Instrument, die ich mir damals nicht leisten konnte. Also habe ich mit heißem Lötkolben im laufenden Betrieb Diodenbrücken gelötet oder entfernt. Das entspricht genau dem Prinzip der Triggersumme.«

Für Kraftwerk erwies sich die Triggersumme als unheimlich wertvoll, da die bis dato größtenteils noch live von Bartos und Flür eingespielten Drumpattern in Verbindung mit der maschinellen Präzision der Synthesizer-Sequenzen zu ungenau waren.621 Zwar konnten Schlagzeugklänge mit dem Synthanorma angesteuert werden – was auf Die Mensch-Maschine in Form der mittels Minimoog generierten elektronischen Percussion auch zum Einsatz kam  –, es stand allerdings

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Bartos 2017, S. 330. Ebd., S. 329 f.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

jeweils immer nur ein Klang zur Verfügung, so dass sich die gleichzeitige Steuerung der Basiselemente von Schlagzeugklängen – Bassdrum, Snaredrum, Hi-Hat etc. – nicht realisieren ließ. Dies allerdings ermöglichte nun die Triggersumme. Da sie ein reiner Controller war, konnten die angesteuerten Klänge darüber hi­ naus frei ausgewählt werden, was ihr Konzept in Verbindung mit der Lauflichtprogrammierung im Vergleich zu den bis dato kommerziell vertriebenen programmierbaren Drumcomputern wie etwa der CR-78 von Roland überlegen machte. Zwar gab es die Lauflichtprogrammierung schon beim Drumcomputer EKO ComputeRhythm im Jahre 1972, da das Gerät nur ungefähr 20 Mal verkauft wurde, spielte es – obgleich von Musikern wie Jean-Michel Jarre oder Manuel Göttsching (Ash Ra Tempel) genutzt – in der populären elektronischen Musik keine Rolle.622 Erst der Erfolg der 1980 auf den Markt gekommene Roland TR-808 sorgte schließlich dafür, dass die Kombination aus Lauflichtprogrammierung und Triggerschaltern als Eingabemöglichkeit im Drumcomputer-Bau bis heute nicht mehr wegzudenken ist.623 Von allen für Kraftwerk entwickelten Spezialanfertigungen ist das Synthanorma-System inklusive der Triggersumme zusammen mit den Drumpads im Hinblick auf die Geschichte der Entwicklung elektronischer Klangerzeuger und Controller sicher die größte Pionierleistung, da das Konzept zur Zeit seiner Entstehung konkurrenzlos war und eine völlig neue Arbeitsweise ermöglichte, die die auf Computerwelt enthaltene Musik in weiten Teilen überhaupt erst möglich machte. Karl Bartos äußerte sich dazu wie folgt: »Mit dem Sequenzer ließen sich Tonfolgen automatisieren und mit anderen In­ strumenten synchronisieren. Das war unschlagbar zu der Zeit. Denn das ermöglichte es uns lange vor MIDI, gemeinsam auf elektronischen Instrumenten zu improvisieren. Damit wurden wir musikalisch wirklich zu einer ›MenschMaschine‹.«624

Dass Automatisierung und maschinelle Präzision das Album programmatisch noch mehr dominieren als auf Die Mensch-Maschine, zeigt die Analyse der einzelnen Stücke. So fällt auf, dass sich infolge der Aufstockung der Sequenzer durch die Überlagerung zahlreicher synkopierter und mit Delay bearbeiteter Synthesi-

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Scarth, Greg: EKO ComputeRhythm  – The most valuable drum machine, in: Attack Magazine, 2013, https://www.attackmagazine.com/features/long-read/worlds-most-desirable-valuable-synthe sisers-drum-machines/3/ (abgerufen am: 14.02.2021). Vgl. Mansfield 2013, S. 136 ff. Zit. n. Karl Bartos in: Hoffmann, Heiko: Karl Bartos: »Bei Kraftwerk haben wir zusammen gespielt wie Kinder«, in: Groove, 07.12.2017, https://groove.de/2017/12/07/karl-bartos-bei-kraftwerk-habenwir-zusammen-gespielt-wie-kinder/ (abgerufen am: 12.02.2021).

4.7  Computerwelt

zer-Sequenzen und Drumpattern eine komplexere Klangschichtung ergibt, als das auf den Vorgängeralben der Fall war, die vor allem auf rhythmischer Geradlinigkeit basierten. Eine der Ursachen für die Implementierung von Synkopen mag aus der in der damaligen Zeit häufigen Frequentierung von Diskotheken seitens der Bandmitglieder und der damit verbundenen Rezeption von Funkmusik resultieren.625 So lassen sich auch gewisse Anleihen in Form der SynthesizerSequenzen auf Computerwelt erklären, die durch ihren verzahnenden Charakter die gleiche rhythmische Funktion wie ihre im Funk verwendeten Pendants in Gestalt von Gitarren- oder Clavinet-Licks übernehmen. 4.7.2 Musikalische Analyse Schon das erste Stück »Computerwelt« bietet einen musikalischen und klangästhetischen Querschnitt des Albums. Obwohl in der Einleitung mit der durchgängig auf Viertelnoten basierenden Bassdrum-Figur, dem bereits von Die MenschMaschine bekannten, mit dem Minimoog generierten Percussionsound als Snaredrum-Substitut auf den Zählzeiten 2 und 4 und einer auf den Offbeats erfolgenden Hi-Hat-Figur durchaus noch Anleihen des minimalistischen Klangcharakters der Vorgängeralben zu finden sind, entwickelt sich mit dem Einsatz des Synthesizer-Hauptthemas durch das aufgebrochene Drumpattern und die zahlreichen synkopierten Synthesizer-Sequenzen jenes rhythmisch Filigrane, das Die MenschMaschine noch vermissen ließ. Die ineinander verwobenen und mit einem Delay bearbeiteten Sequenzen bestehen zum einen aus einer grundtonlastigen, sich größtenteils aus Achtel- und 16tel-Noten zusammensetzenden Tonfolge, die gelegentlich die nach unten oktavierte Septime anspielt. Realisiert wird dies mit einem perkussiven Klang, der mit kurzen Decay-Zeiten versehen ist und auf den Pulswellenformen des Minimoogs basiert, was ihm einen nasalen, drahtigen Charakter verleiht. Darüber, neben dem nach oben oktavierten Grundton auch die Mollterz anspielend, liegt eine weitere Sequenz, deren Klangcharakter ähnlich geartet, aber durch die wesentlich höhere Filterresonanz und die leichte Eckfrequenzmodulation deutlich prägnanter, ja fast schmatzend wirkt und damit die Basissequenz mit Akzenten anreichert. Hier werden die Parallelen zum Funk unmittelbar: Die beiden Sequenzen funktionieren zusammen wie zwei ineinander verzahnte FunkGitarren-Licks, von denen eines mit einer Wah-Wah-Gitarre gespielt wird – ein Klangeffekt, der bei der Gitarre ja ebenfalls durch die Modulation der Eckfrequenz eines mit hoher Resonanz versehenen Tief- oder Bandpassfilters erzeugt wird.

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Barr 1998, S. 133.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Unterstützt wird der Funk-Charakter durch das Basspattern, welches aus zwei Noten besteht, die auf der Zählzeit 1 und der zweiten Achtel der Zählzeit 2 erfolgen. Die hieraus resultierende Synkopierung der dritten Zählzeit fungiert gleichfalls als zentrales rhythmisches Element des gesamten Albums. Melodisch gesehen rekrutiert sich sowohl das Thema der Strophe als auch das des Refrains abermals aus dem bekannten, auf der Quinte stehenden Mollseptakkord.626 Während die Melodie harmonisch in der Strophe auf g-Moll steht, basiert sie im Refrain auf e-Moll respektive der Subdominante a-Moll.

Bsp. 19: Kraftwerk: »Computerwelt«, Strophe (Auszug)

Bsp. 20: Kraftwerk: »Computerwelt«, Refrain (Auszug)

Neben der Verwendung des Vocoders für die Gesangslinie des Refrains kommt in der Bridge erstmals der Language Translator und das Speak&Spell der amerikanischen Firma Texas Instruments zum Einsatz. Bei Letzterem handelte es sich um ein für Kinder konzipiertes Gerät zum Erlernen des Buchstabierens von Wörtern, welches wie der Language Translator über einen TMC0280-Sprachsynthese-Chip verfügte, dessen Audiomaterial durch einen internen Lautsprecher oder eine Miniklinkenbuchse ausgegeben werden konnte. Das Sprachmaterial bestand bei beiden Geräten aus einzelnen Buchstaben, Zahlen und Wörtern. Die Geräte waren im Jahre 1980 in den Sprachen Englisch, Deutsch und Französisch verfügbar, die allesamt auf Computerwelt Verwendung fanden. Die technische Limitierung, nur einzelne Worte ausgeben zu können,627 kam Kraftwerks Programma-

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Die Strophenmelodie enthält zusätzlich noch die große None. Die Geräte konnten über die vom Benutzer ausgewählte Ausgabe von einzelnen Buchstaben, Zahlen, Wörtern und Klangeffekten lediglich kurze, im Speicher befindliche, vorkonfigurierte Sätze ausgeben.

4.7  Computerwelt

tik hinsichtlich der sprachlichen Reduktion auf »Code-Worte« respektive »Schlüsselworte«628 dabei entgegen. Ralf Hütter: »Unsere Musik läßt sich nicht in Worten beschreiben, nicht in einzelne Worte zusammenpressen. Deshalb benutzen wir Worte als Klangdinge, als Gedankenstöße«.629 Das Konzept, Sprache als Klangfarbe zu benutzen, zieht sich dabei durch das gesamte Album. Gleichfalls bildet Computerwelt durch den häufigen Gebrauch von verfremdeten oder synthetisch generierten Stimmen eine musikalische Retrospektive zu den phonetischen Experimenten von Radio-Aktivität. Die auf beiden Alben stattfindende zweckentfremdete Anwendung von aus der Unterhaltungsindustrie stammenden Produkten im musikalischen Kontext – sei es durch den Votrax-Sprachsynthesizer oder wie hier in Gestalt des Speak&Spell – geht primär auf den Erfindungsgeist Florian Schneiders zurück. Emil Schult äußerste sich dazu wie folgt: »Florian war immer die treibende Kraft, er war sehr innovativ. Wenn es darum ging, neue Entwicklungen einzuleiten, dann war es Florian, der die Sache vorantrieb. […] Wenn es um die zusätzlichen Details innerhalb der Musik ging, war das Florians Sache.«630

Ferner kommen die konzeptuelle Ausrichtung des Albums unterstützend zahlreiche aus der Computer- und Spieleindustrie stammende Geräte zum Einsatz, deren Möglichkeit einer Tonausgabe für Klangeffekte zweckentfremdet wird. Hierbei handelt es sich neben einem Taschenrechner der Firma Casio, dem Stylophone631 der Firma Dubreq um die Bee Gees Rhythm Machine632 des Spielzeugherstellers Mattel. Die Verwendung von Computerspielklängen im Kontext von Musik wurde allerdings bereits im Jahre 1979 in dem Stück »Computer Games« des japanischen Trios Yellow Magic Orchestra (YMO) vollzogen. Dass diese Gruppe bis dato in dieser Arbeit noch keine Erwähnung gefunden hat, obwohl sie ebenfalls zu den Pionieren der elektronischen Popmusik gehört, liegt an den unterschiedlichen Mechanismen und musikalischen Präferenzen zwischen dem amerikanisch-europäischen Popmusikmarkt und seinem japanischen Pendant: Nach Meinung des DJs und Keyboarders der deutschen Synth-Pop-Gruppe Alphaville, Bernd Gössling, war der musikalische Ansatz von YMO mit seinen 628

Hütter, Ralf: Elektronischer Lebensstil – Ralf Hütter im Interview mit Dankmar Isleib, Musikexpress, 1981, https://www.thing.de/delektro/www-eng/kw5-81.html (abgerufen am: 03.01.2021). 629 Ebd. 630 Zit. n. Emil Schult in: Bussy 1995, S. 126. 631 Hierbei handelt es sich um ein Miniatur-Keyboard, welches mit einem Metallstift gespielt wird. Dubreq Stylophone: https://dubreq.com/product/stylophone-s-1/?doing_wp_cron=1613124078.1 975750923156738281250 (abgerufen am: 12.02.2021). 632 Keyboards: Ein Quatschgerät? Die Bee Gees Rhythm Machine, 19.07.2020, https://www.keyboards.de/ equipment/ein-quatschgeraet-die-bee-gees-rhythm-machine/ (abgerufen am: 12.02.2021).

249

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

verspielten, asiatisch anmutenden Melodien, dem am Progressive Rock orientierten komplexen formalen Aufbau und dem Verzicht auf Gesang für den europäischen Markt viel zu exotisch, als dass sie in den europäischen Charts Relevanz erfahren hätten, geschweige denn in Diskotheken oder dem Radio gespielt werden konnten; die Musik kam in Europa über den Status eines Nischenprodukts für Spezialisten nicht hinaus: »YMO war zwischen den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland zwar bekannt und wurde auch gehört, wirkte aber mehr wie ein Kunstprojekt. Für uns war das totaler Underground, der mit dem angloamerikanischen Postpunk, an dem wir uns ja zunächst musikalisch orientierten, wenig zu tun hatte.«633

Obgleich das Stück »Computer Games« 1979 Platz 20 in den UK-Charts erreichte und in den USA 400.000 Einheiten verkaufte, blieb der große Erfolg der Gruppe mit vier ersten und drei zweiten Plätzen in den Album-Charts doch auf Japan beschränkt.634 Zurückkehrend zu Computerwelt erfährt die angesprochene Zweckentfremdung der von Schneider akquirierten Klangerzeuger635 im zweiten, mit »Taschenrechner« betitelten Stück des Albums ihren Höhepunkt, da sie hier als programmatisch klangästhetisierendes Fundament fungiert. Wolfgang Flür beschrieb die Entstehung des Stücks wie folgt: »Die Idee zu Taschenrechner ist von Florian. Von Florian und mir. Florian ist ja so ein Spielkind, und er hatte einen Texas Instruments-Taschenrechner gekauft. Auch diesen Kinderübersetzer von Speak and Spell, da konntest du Worte einsetzen, and dann gibt es eine Taste, um Englisch zu lernen. Voice, Voice, damit hat er dann gespielt, das fand ich ganz gut. Dazu hat er sich dann einen ordentlichen Taschenrechner gekauft, der beim Tippen Töne machte, so konnte man eine richtige Melodie eingeben.«636

Der Programmatik des Stückes folgend, wurde ferner die den eher gesprochenen als gesungenen Text umschließende, zweitaktige Hauptmelodie mit der Bee Gees Rhythm Machine gespielt. Neben verschiedenen die Begleitung übernehmenden Synthesizer-Sequenzen sticht gleichfalls die Verwendung des Stylophons für die das Hauptthema unterstützende Zusatzmelodie sowie als rhythmisches Additiv während der Gesangspassagen hervor. Hier fällt gleichermaßen der Off-Beat-

633 634 635 636

250

Bernd Gössling im Interview mit dem Verfasser am 22.03.2019. Yellow Magic Orchestra: https://en.wikipedia.org/wiki/Yellow_Magic_Orchestra_discogra phy (abgerufen am: 28.06.2019). Bartos 2017, S. 335. Zit. n. Wolfgang Flür in: Esch 2014, S. 322.

4.7  Computerwelt

Charakter sowie die konstant auf dem Ton Ab verweilende Tonhöhe auf, die angesichts der Tatsache, dass das Stück sich harmonisch ausschließlich auf Bb-Dur bewegt, dem Ganzen eine mixolydische Komponente hinzufügt. Sämtliche Melodien werden darüber hinaus durch die Klangeffekte eines Taschenrechners der Firma Casio untermalt.637 Wie bei »Computerwelt« ergänzen sich die einzelnen Synthesizer-Sequenzen, in denen etwaige musikalische Pausen einer Sequenz durch eine andere gefüllt werden. Klanglich basieren sie ebenfalls wie beim Vorgängerstück auf Pulswellenformen, denen eine gewisse Nasalität anhaftet, welche sich, zumindest was die Begleitungspattern anbelangt, durch das ganze Album zieht. Wie schon auf Die Mensch-Maschine zu hören, handelt es sich um kurze, perkussive Klänge, die in ihrem Spektrum ihrer Funktion entsprechend einfach gehalten werden mussten. Sie wirken auf »Computerwelt« allerdings lebendiger, da hier mitunter drei sich ergänzende Sequenzen übereinandergelegt wurden, deren Klangfarben jeweils leicht voneinander abweichen, ohne einen grundverschiedenen Charakter zu haben. Ferner trägt zur Vitalität bei, dass die Sequenzen im Laufe des Stückes durch das Wegnehmen und Hinzufügen von Tönen sowie durch eine – wenn auch nur gering ausfallende – Modulation der Filtereckfrequenz permanent leicht verändert werden. Die miteinander verbundenen Stücke »Nummern« und »Computerwelt 2« bestechen in erster Linie durch ihr Drumpattern, welches durch die der Basssequenz von »Computerwelt« ähnliche Synkopierung der Bassdrum auf der zweiten Achtelnote der zweiten Zählzeit bei einem gleichbleibenden Snaredrumpattern auf den Zählzeiten 2 und 4 nahezu als Blaupause für alle dem Electrofunk- oder kurz Electro-Genre zugrunde liegenden Drumpattern dient.638 Außerdem erfolgt neben den perkussiven Synthesizer-Klängen, die der mittels eines Bode Frequency Shifters639 modulierten Bass- und Snaredrum-Figur bei »Nummern« hinzugefügt sind, bei beiden Stücken eine sich permanent rhythmisch leicht verändernde, auf 16tel-Noten basierende Synthesizerpercussion-Sequenz, welche ein Hi-Hat-Pattern substituiert.

Bsp. 21: Kraftwerk: »Nummern« und »Computerwelt 2«, Drumpattern

637 638 639

Hierbei handelt es sich um das Modell »FX 501B«. Vgl. Kap. 4.7.4. Bartos 2017, S. 339.

251

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Die Einbettung dieses wie auch schon auf dem Titelstück »Computerwelt« als Snaredrum-Substitut verwendeten Klanges in ein Perkussionsmuster gilt nicht nur als weiteres zentrales Rhythmuselement des Electros, sondern hielt gleichfalls auch in viele Popproduktionen der 1980er Jahre Einzug: Das populärste Beispiel ist sicherlich das Stück »Bad« des gleichnamigen Albums von Michael Jackson. Es handelt sich dabei um einen ausschließlich durch die bei voller Resonanz entstehende Selbstoszillation des Tiefpassfilters des Minimoogs erzeugten perkussiven Klang, dessen Eckfrequenz durch eine schnelle Decay-Phase auf den Sustain-Wert »0« der Filterhüllkurve moduliert wird. Karl Bartos äußerte sich dazu wie folgt: »Den charakteristischen perkussiven Sound von ›Spacelab‹ entwickelte Ralf für ›Computerwelt‹ weiter. Es entstand die sogenannte Elektro-Snare, die später allgemein als ›Zap‹ bekannt wurde. Mit einer um Millisekunden verzögerten Wiederholung verwendeten wir dieses Geräusch hier erstmalig in unsere Musik«640

Es muss an dieser Stelle allerdings erwähnt werden, dass Jean-Michel Jarre am Ende des Titelstückes seines ebenfalls im Jahre 1981 veröffentlichten Albums Magnetic Fields ähnliche Klänge als Perkussionsspur verwendet hat. Bezüglich des von Bartos beschriebenen Zap-Klanges muss man ferner konstatieren, dass dieser von der New Romantic-Gruppe Visage bereits 1980 im Stück »Visa-Age« in den Strophen als rhythmische Betonung der ersten Zählzeit verwendet wurde; Kraftwerk waren also hinsichtlich der Veröffentlichung dieses Klangdesigns weder die Ersten geschweige denn allein. Man muss ihnen aber zugutehalten, dass sie nicht nur auf Die Mensch-Maschine den Grundstein für diese Art der Synthesizer-Perkussion gelegt, sondern auch in Form des »Nummern«-Drumpatterns die rhythmische Struktur und den schlagzeugspezifischen Sound einer ganzen Stilrichtung definiert haben. Während »Computerwelt 2« als Reprise des Titelstücks melodisch ausschließlich auf dessen Refrain beruht – wobei allerdings die Melodie hier durch einen polyphonen, mit langer Release-Zeit versehenen Synthesizer-Klang erfolgt, der mit Ausnahme zweier Rückungen zur Subdominante a-Moll ausschließlich auf e-Moll steht –, liegt bei »Nummern« neben einer permanent tonhöhenmodulierten, mit Delay bearbeiteten Synthesizer-Sequenz der thematische Schwerpunkt auf dem Einsatz von synthetischer Sprache: So wird zur Realisation einer möglichst großen klanglichen Bandbreite neben dem Speak&Spell und dem Vocoder auch wieder der Votrax-Sprachsynthesizer verwendet.

640

252

Ebd., S. 333.

4.7  Computerwelt

Die sich anschließende Komposition »Computerliebe« ist formal durch die Anordnung von Strophe und Refrain wesentlich Popsong-orientierter strukturiert als die beiden Vorgängerstücke. Besonderes Augenmerk sei hier auf die wie bei »Radio-Aktivität« abwechselnd mit dem Gesang korrespondierende Synthesizer-Melodie der Strophe gelegt, deren erster Teil vor allem durch die Verwendung im Stück »Talk«641 der britischen Band Coldplay im Jahre 2005 große Aufmerksamkeit erfahren hat. Nach Aussage Karl Bartos’ entstand das Stück folgendermaßen: »[…] it was just a session in the studio, where I come (sic!) up with this melody, and Ralf, my partner then, answered the bass. It was just a matter of seconds actually …642«. Während die Strophe harmonisch betrachtet auf einem zweitaktigen Wechsel zwischen g-Moll und einem geschlechtslosen Grundton C steht, bewegt sich

Bsp. 22: Kraftwerk: »Computerliebe«, Synthesizer-Hookline (Auszug)

sowohl die Bridge als auch der Refrain auf dem Akkordwechsel Eb-Dur-major7, g-Moll und Bb-Dur, welcher nach der dritten Wiederholung nach F-Dur6 moduliert. Klangtechnisch fällt auf, dass neben den vielschichtigen perkussiven Synthesizer-Sequenzen die Melodielinien durch die Verwendung von Pulswellenklängen eine ähnlich ätherische, fast romantische Ästhetik wie auf Die Mensch-Maschine evozieren. Dieser weiche Klangcharakter wird wie auch beim Stück »Computerwelt« durch den Einsatz von übereinandergeschichteten Sinus- oder Dreieckswellenformen verstärkt, welche durch einen Tremolo-ähnlichen Effekt bearbeitet sind, der auf die Resonatoren des Korg PS-3100 schließen lässt.

641 642

Coldplay: »Talk« auf X&Y, 2005. Karl Bartos in einem Interview während der BMI London Awards 2007, http://www.youtube. com/watch?v=IGUetRWlA2U&feature=related (abgerufen am: 13.02.2009).

253

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Ähnliche Klänge sind auch in den letzten beiden, thematisch verbundenen Stücken »Heimcomputer« und »It’s More Fun to Compute« wahrzunehmen  – in Anbetracht der Tatsache, dass das zentrale motivische Tonmaterial wie schon bei »Trans Europa Express« sowohl harmonisch auf c-Moll basiert, als auch melodisch eine kleine None enthält, gestaltet sich der musikalische Charakter wesentlich düsterer als auf den anderen Stücken des Albums. Eine kleine None findet sich auch in der auf dem Neapolitanischen Sextakkord stehenden Bridge, wobei die Melodie nach dem Anspielen der großen Sexte und der großen None von Db-Dur mit den Tönen D und Ab abschließt.

Bsp. 23: Kraftwerk: »Heimcomputer«, Synthesizer-Hookline I (Auszug)

Bsp. 24: Kraftwerk: »Heimcomputer«, Synthesizer-Hookline II

Beiden Stücken ist hingegen wieder gemein, dass die Hauptmelodie nicht nur durch den Polymoog erfolgt, sondern zusätzlich in den zahlreichen perkussiven Synthesizer-Sequenzen verarbeitet wird; besonders das letzte Stück »It’s More Fun to Compute« erhält durch die starke Delay-Bearbeitung der Sequenzen eine sehr rhythmisch fokussierte Komponente, die durch die Synthesizer-Flächen (die die Hookline in Laidback-Spielweise beziehungsweise fast in Viertel-Triolen verarbeiten) konterkariert wird. Betrachtet man den Anfang des Stückes, fällt der bereits auf »Antenne« zu hörende, laut Karl Bartos mit dem Minimoog gespielte,643 aggressive, in seiner Filtereckfrequenz abfallende Filtermodulationsklang auf, der sich – später durch den Vocoder substituiert – mit einem aus zwei stark verstimmten Sägezahnoszillatoren bestehenden streicherähnlichen Synthesizer-

643

254

Bartos 2017, S. 339.

4.7  Computerwelt

Klang abwechselt. Einen starken Effekteinsatz kann man auch bei »Heimcomputer« verfolgen. Während sich die Einleitung aus den verschiedenen beim Einschalten des Speak&Spells zu hörenden Tonfolgen zusammensetzt, treten nach den jeweiligen Bridge-Abschnitten ebenfalls mit hohen Frequenzen modulierte Filterklänge in Erscheinung. Was aber die Nachbearbeitung von Audiosignalen durch Effekte anbelangt, so stechen die beiden Zwischenteile hervor: Es handelt sich hierbei sowohl um tonal aufwärtssteigende, mit Sinus- oder Dreieckswellenformen generierte Klänge als auch um metallische und tonhöhenlose Klänge, die in beiden durch 16tel-Noten-Pattern teilweise vollständig oder nur fragmentarisch aneinandergereiht werden. Da sie sowohl einen hohen Hall- und DelayAnteil aufweisen, entstehen durch das Zerschneiden und Umgruppieren dieser Sequenzen teilweise sehr artifizielle, sich abrupt ändernde Raumeffekte, die die Klangästhetik der Sampling-Technologie vorwegnehmen. Als Computerwelt schließlich am 10. Mai 1981 veröffentlicht wurde, gingen die Meinungen über den Wert und die Qualität des Albums auseinander. Ausgehend vom Vorgängeralbum Die Mensch-Maschine hatten Kraftwerk konsequent ihr Konzept der Klang- und Tonautomatisierung vorangetrieben. Diesem Technisierungsprozess wurde nach Ansicht von Andy McCluskey aber auch die bis dato noch bei Kraftwerk vorhandene und vom damaligen Zeitgeist auch durchaus noch eingeforderte menschliche Authentizität geopfert.644 Ähnlich sah es der Elektromusiker Thomas Dolby: »Mit Die Mensch-Maschine hatten Kraftwerk den dreckigen Sound analoger Elektronik definiert, […]. Als Computerwelt erschien, war es schockierend sauber. Unsere Ohren, der allgemeine Musikgeschmack brauchten ein paar Jahre, um sich daran zu gewöhnen.«645

Das Zurschaustellen maschineller Ästhetik und Perfektion als künstlerische Maxime wurde Kraftwerk aber vor allem in Verbindung mit ihrer textlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der Computerisierung auch zum Vorwurf gemacht, wie etwa anhand eines im Jahre 1981 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel unter der wenig schmeichelhaften Überschrift »Blubber von der Datenbank«646 veröffentlichten zynischen Totalverrisses des Albums zu entnehmen war: In einer Zeit der Rasterfahndung und der kritischen Diskussion um das im Jahre 1982 in

644 645 646

Zit. n. Andy McCluskey in: Buckley 2013, S. 229. Zit. n. Thomas Dolby in: Buckley 2013, S. 222. Der Spiegel: Blubber von der Datenbank, 1981, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14338286.html (abgerufen am: 06.02.2021).

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der Bundesrepublik Deutschland parteiübergreifend verabschiedete »Volkszählungsgesetz 1983«, in der die Furcht vor dem Überwachungsstaat und dem »gläsernen Menschen« ein zentrales Thema gesellschaftlicher Debatten war, erschien der bewusst inszenierte,647 neutrale und unkritisch affirmative sprachliche Umgang Kraftwerks mit der Computertechnologie als völlig naiv und reaktionär. So beschrieb der Rezensent Computerwelt ironisch als »eine anheimelnde Szenerie, eine wirklich schöne neue Welt, unbeschmutzt von negativen Utopien«, in der »von Überwachung und Totalkontrolle keine Spur« sei.648 Aus dieser grundlegend ablehnenden Haltung leitete sich dann auch das vernichtende Urteil des Autors bezüglich der musikalischen Komponente auf Computerwelt: So ist die Rede von »einfache[n] Blubber- und Piep-Rhythmen […], schlichte[n] Melodien zum raschen Verzehr in Fahrstuhl und Disco« und von »bierernst-einfältige[n] akustische[n] Illustrationen ihrer [Kraftwerks] Computerwelt«.649 Natürlich spiegelt dieser Duktus die zur damaligen Zeit nach wie vor in Deutschland weitverbreitete journalistische Ablehnung gegenüber elektronischer populärer Musik wider.650 Obgleich aus Sicht des Zeitgeistes zu Anfang der 1980er Jahre – besonders im Hinblick auf politisch links stehende Gesellschaftsgruppen – der Vorwurf des oberflächlichen thematischen Umgangs mit der Computertechnologie in Bezug auf das Album sicher verständlich ist, haben sich bis heute allerdings gewisse technologische und soziale Entwicklungen  – wie etwa das InternetDating, oder die Omnipräsenz des Heimcomputers in den Haushalten – bewahrheitet, was Computerwelt aus gegenwärtiger Sicht als unfassbar visionär erscheinen lässt. Ralf Hütter: »Wir hatten definitiv großes Glück, dass sich die Technologie in unsere Richtung entwickelt hat [lacht]. Ende der Siebziger, als wir noch größtenteils analog [mit analogen Geräten] arbeiteten, war das unsere Vision. Dann komponierten wir das Konzept zu [dem Album] Computerwelt, das 1981 erschien, hatten damals aber noch gar keine Computer. Es war also ein visionäres Album.«651

Ungeachtet aller Kritik erreichten Kraftwerk mit dem Album nicht nur höhere Platzierungen in den Charts, sondern mit der ausgekoppelten Doppelsingle »Computerworld«/The Model« wie erwähnt den 1. Platz der UK Singles Chart

647

Hütter, Ralf: Elektronischer Lebensstil – Ralf Hütter im Interview mit Dankmar Isleib, Musikexpress, 1981, https://www.thing.de/delektro/www-eng/kw5-81.html (abgerufen am: 03.01.2021). 648 Der Spiegel: Blubber von der Datenbank, 1981, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14338286.html (abgerufen am: 06.02.2021). 649 Ebd. 650 Vgl. Kap. 4.4. 651 Zit. n. Ralf Hütter in: Buckley 2013, S. 220.

256

4.7  Computerwelt

und begaben sich mit dem Kling Klang Studio im Anschluss an die Veröffentlichung des Albums auf eine Welttournee. 4.7.3 Computerwelt-Tour Die Computerwelt-Tour ging von Mai bis September 1981 und umfasste über 70 Konzerte in 14 verschiedenen Ländern,652 an die sich im November und Dezember desselben Jahres noch eine kleine Tournee in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Luxemburg anschloss.653 Zur Crew gehörten Emil Schult, der als Tourmanager fungierte, Günter Spachtholz, der als Backliner und Stagemanager tätig war, das Merchandising organisierte und die Projektionen und das Licht steuerte, sowie Joachim Dehmann, der den Sound mischte und mit Peter Bollig und Hans-Joachim Wiechers für die Technik verantwortlich war.654 Die auf der Tour gespielten Stücke bestanden aus einem Best-of der letzten Alben, beginnend mit Autobahn. Anhand zahlreicher Bootleg-Mitschnitte655 ist zu vernehmen, dass es sich dabei nur um mehr oder weniger leicht abgewandelte Versionen der Studioproduktionen handelte. Neues Material, wie beispielsweise die während der England-Tour im Jahre 1975 mitgeschnittenen Bootlegs berichten, sucht man hier vergeblich. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die technische Realisierung, da der hohe Sequenzeranteil in der Musik zum damaligen Zeitpunkt nicht ohne Probleme in ein Live-Konzept eingebunden werden konnte. Da die auf Computerwelt enthaltene Klangkomplexität nicht mit reinem Live-Sequencing umgesetzt werden konnte, integrierten Kraftwerk auf Anregung von Florian Schneider ein Tascam Portastudio 144 – ein vierspuriger Kassettenrecorder, welcher 1979 als erstes Mehrspurkassettensystem überhaupt auf dem Markt erschien.656 In seiner Autobiografie erläuterte Karl Bartos das Prinzip anhand des Stückes »Die Roboter«:657 So diente die erste Spur immer zur Synchronisation des

652

Die Tournee umfasste folgende Länder (in chronologischer Reihenfolge): Italien, Spanien, Frankreich, Belgien, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Kanada, USA, Ungarn, Polen, Japan, Australien, Indien. Kraftwerk: Konzerte, http://twingokraftwerk.com/concerts/concerts-main. html (abgerufen am: 10.08.2019). 653 Ebd. 654 Flür 1999, S. 199 f. 655 Vgl. Kraftwerk: Computerwelt-Tour, Ausschnitte der Konzerte in Tokyo, Utrecht, Paris & London, 1981, https://www.youtube.com/watch?v=f16ZTSGu1XQ (abgerufen am: 20.02.2021) und Vgl. Kraftwerk: Computerwelt-Tour, Nottingham, 26.06.1981, https://www.youtube.com/ watch?v=AHe33y4jEQY&list=PLHO60g3jfHZBNEreo1agX6mcLAkXTfsHs&index=15 (abgerufen am: 20.02.2021). 656 Bartos 2017, S. 347. 657 Ebd.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Synthanormas. Diesem folgten alle anderen Komponenten auf der Bühne wie etwa die Triggersumme, da selbige wie auch »der anfangs noch separate Intervallomat weder einen eigenen Taktgeber noch eine Ablaufsteuerung hatten«.658 Auf der zweiten Spur waren Synthesizer-Sequenzen enthalten wie in diesem Falle die Minimoog-Bassspur. Während Spur drei weitere Klangadditive wie hier beispielsweise eine Vocoder-Stimme enthielt, befand sich auf der vierten Spur ein Drumpattern. Jedes Playback eines Songs wurde auf eine separate Kassette aufgenommen, von der es jeweils ein Back-up gab. Die Arbeitsverteilung der einzelnen Musiker gestalte sich dabei folgendermaßen:659 Neben dem Gesang mittels eines Headsets spielte Ralf Hütter einen Minimoog, der auch als Klangquelle des rückwärtig im Rack befindlichen Synthanormas diente, einen Polymoog und das Vaco Orchestron. Hütter stellte dazu mittels Intervallomat die Sequenzen ein – Funktionen wie beispielsweise die Start-/Stoppfunktion, konnten an seinem Frontpult vorgenommen werden.660 Der Synthanorma erwies sich dabei als äußerst Live-tauglich. So äußerte sich Hans-Joachim Wiechers: »Es war das Wesen und die Neuerung, dass Tonhöhen im Synthesizer durch die Intervallomat-Einstellungen ohne Audiokontrolle in Sekunden selbst in dunklem Umfeld an den Stufenschaltern reproduzierbar geändert werden konnten. Waren nur 16er Sequenzen nötig, so konnte zum zweiten Gerät mit nur einem Schalterdreh gewechselt werden, um eine völlig andere vorbereitete Sequenz abzurufen.«661

Karl Bartos spielte einen Korg PS-3100, übernahm die meisten Bassparts und spielte zum Stück »Autobahn« elektronische Perkussion. Während Wolfgang Flür die Triggersumme bediente und ansonsten alle Schlagzeug-Parts übernahm, war Florian Schneider zum einen für das Portastudio verantwortlich, zum anderen spielte er einen Sequential Circuits Prophet V und bediente einen Vocoder,662 dessen Analysesignal ebenfalls via Headset mit Schneiders Stimme gespeist wurde. Zur Klangerzeugung, speziell im Hinblick auf die Schlagzeug-Sounds äußerte sich Hans-Joachim Wiechers wie folgt:

658 659

Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 30.08.2019. Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit dem Electronics and Musik Maker Magazine im September 1981, http://kraftwerk.technopop.com.br/interview_13.php (abgerufen am: 14.05.2009). 660 Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 30.08.2019. 661 Ebd. 662 Um welchen Vocoder es sich handelt, ist nicht zu eruieren. Als gesichert gilt, dass zumindest ein Sennheiser VSM 201 sowie ein EMS Vocoder 5000 im Bühnensetup installiert waren. Kraftwerk: Kraftwerk Revealed – E&MM Sept 1981 (Mike Beecher), http://noyzelab.blogspot.com/2014/09/kraft werk-revealed-e-sept-1981-mike.html (abgerufen am: 01.09.19).

258

4.7  Computerwelt

»Nicht alle Klänge kamen aus Synthesizern, Vocodern  … Gerade für Schlagzeugsounds gab es eine Auswahl speziell gebauter Hardware, die jeweils passende Klänge erzeugten. […]. Heute würde man solche Sounds samplen. Bei Kraftwerk wurden sicher auch ganze Synthesizer zur Erzeugung von Schlagzeugsounds eingesetzt, aber man hat die gewünschten Klänge dann in feste Hardware ›gegossen‹.«663

Für die Realisation des Stückes »Taschenrechner« als letzten Song vor der Zugabe positionierten sich die Musiker am Bühnenrand und spielten auf jenen Miniaturinstrumenten, die schon bei der Studioeinspielung zum Einsatz kamen. Während Ralf Hütter die Bee Gees Rhythm Machine und Karl Bartos das Stylophone spielten, hatte sich Wolfgang Flür ein Miniatur-Drumpad konstruiert, mit dem er drei Schlagzeugklänge ansteuern konnte.664 Florian Schneider benutzte einen Language Translator von Texas Instruments, den er ab und zu den Zuschauern direkt vor der Bühne hinhielt, damit sie auf die Tasten drücken konnten und so kurzzeitig aktiver Bestandteil der Performance wurden.665 Dass der Aspekt der Live-Präsentation für Kraftwerk eine essenzielle Rolle spielte, war wie erwähnt schon an der Konstruktion des Kling Klang Studios zu sehen, welche primär für die Bühne ausgerichtet war. Da zum damaligen Zeitpunkt reine Synthesizer-Musik immer noch argwöhnisch beäugt wurde und die Präsentation des Keyboard-Spiels auf der Bühne mit Ausnahme von Keith Emerson in Bezug auf den Showfaktor im Vergleich zu klassischen Rockinstrumentalisten und -sängern eher bieder und langweilig wirkte, setzten Kraftwerk sehr früh auf Multimedia-Elemente, um ihre Bühnenpräsenz zu bereichern. Neben farbigen Neonröhren, die unterhalb der Pulte des Kling Klang Studios befestigt wurden und die Bühne bei jedem Stück in anderes Licht tauchten,666 kaufte man vier von Sony hergestellte Röhrenprojektoren mit Reflexbildschirmen, die in der Flucht der vier Musiker hinter den Pulten aufgestellt wurden. Nach Aussage von Tim Barr waren die von Emil Schult und Günter Spachtholz angefertigten Projektionen667 nicht synchronisiert und erschienen zeitgleich auf allen vier Monitoren.668 Das Material setzte sich dabei sowohl aus älteren Filmaufnahmen von Konzerten und älteren Promotion-Aufnahmen zusammen als auch aus neu ange-

663 664 665 666 667 668

Hans-Joachim Wiechers in einer E-Mail an den Verfasser am 30.08.2019. Esch 2014, S. 323 f. Kraftwerk: KRAFTWERK  – Taschenrechner (Live 1981  – ORF)  – HIGH QUALITY, https:// www.youtube.com/watch?v=mopXKac2R3E (abgerufen am: 18.08.2019). Bartos 2017, S. 358. Barr 1998, S. 153 f. Kraftwerk: Kraftwerk Revealed  – E&MM Sept 1981 (Mike Beecher), http://noyzelab.blogspot. com/2014/09/kraftwerk-revealed-e-sept-1981-mike.html (abgerufen am: 01.09.2019).

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

fertigten Computergrafiken.669 Ferner wurde als weiteres Gimmick für die erste Zugabe – »Die Roboter« – jeweils eine Doppelgänger-Schaufensterpuppe neben den Spielplätzen der Musiker platziert. Diese als Roboter bezeichneten Puppen wurden bereits zu Promotion-Zwecken für das Album Die Mensch-Maschine angefertigt, wobei jede Puppe mit einem vom Münchner Bildhauer Heinrich Obermaier nachmodellierten Kopf eines jeden Musikers versehen wurde.670 Bei aller Sorgfalt und Innovation hinsichtlich der Bühnenpräsentation entsprach hingegen das Beschallungskonzept während der Computerwelt-Tour ähnlich wie die schwierige Mischsituation in den Räumlichkeiten des Kling Klang Studios in Düsseldorf nicht dem damaligen Stand der Technik. So wurde nach Aussage von Joachim Dehmann auf die Positionierung eines FOH-Mischpultes verzichtet:671 Der Mix erfolgte von rechts oder links seitlich der Bühne – eine Anordnung, die beim Einstellen der PA-Anlage während des Soundchecks weder die unmittelbare Akustik des Raumes berücksichtigen konnte, noch sinnvolle dynamische Korrekturen während des Konzertes ermöglichte und daher in den ersten Konzerten tontechnische Anlaufprobleme mit sich brachte. Dadurch bedingt, dass sich die Musiker auf der Bühne über drei Mischpulte vormischten, habe Dehmann während eines Konzertes auch lediglich die Verhältnisse dieser Pulte untereinander verändern können. Dabei wurde weitgehend sowohl auf künstliche Hallräume verzichtet als auch auf Stereoeffekte.672 Wie einigen Bootlegs zu entnehmen ist, wurden neben den vom Portastudio wiedergegebenen Spuren, die bereits während der Studioprojektion mit Raumeffekten versehen worden sind, lediglich einige, vom Sequenzer gesteuerte Minimoog-Klänge mit Delay-Effekten bearbeitet wie beispielsweise beim Stück »Metropolis«.673 Obgleich die Welt-Tournee bezüglich der Zuschauerzahlen mit Ausnahme der sich im November des Jahres 1981 anschließenden Tour in Deutschland, Österreich, Luxemburg und der Niederlande weitgehend ein Erfolg war,674 sollte dies bis 1990 die letzte Konzertaktivität Kraftwerks sein und damit sinnbildlich für eine Zäsur in der Geschichte der Gruppe stehen, was die Produktivität, die künstlerische Ausrichtung, aber auch die personelle Zusammensetzung im Hinblick auf das »klassische«, aus Hütter, Schneider, Bartos und Flür bestehende Line-up anbelangt. 669 Ebd. 670 Bartos 2017, S. 278 f. 671 Ebd., S. 352. 672 Kraftwerk: Kraftwerk Revealed – E&MM Sept 1981 (Mike Beecher), http://noyzelab.blogspot.com/ 673 674

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2014/09/kraftwerk-revealed-e-sept-1981-mike.html (abgerufen am: 01.09.2019). Kraftwerk: Kraftwerk | Live 1981 [Remastered], https://www.youtube.com/watch?v=f16ZTSGu1XQ (abgerufen am: 01.09.2019). Bartos 2017, S. 388.

4.7  Computerwelt

Schon gegen Ende der Tour stellten sich zwischenmenschliche Krisen ein, die dem Reisealltag und der daraus resultierenden körperlichen Belastung geschuldet waren.675 Laut Wolfgang Flür war es vor allem Florian Schneider, dem der TourStress am meisten zu schaffen machte und ihn den Sinn von Live-Konzerten allgemein infrage stellen ließ.676 Der Zersplitterungsprozess innerhalb Kraftwerks resultierte aber noch aus anderen Faktoren: Neben der sukzessiven Auflösung der langjährigen Wohngemeinschaft von Schult, Bartos und Flür ab dem Jahre 1980677 wog insbesondere das völlige Zurückziehen Emil Schults aus dem KraftwerkKosmos durch sein Übersiedeln auf die Bahamas schwer, da er nicht nur als Texter für die Gruppe eine wichtige Funktion innehatte, sondern sein laut Bartos »ausgeglichenes Wesen […] immer eine Bereicherung für unsere Gruppen- und Gesprächskultur« war.678 Eine Ursache für seinen Weggang lag in der restriktiven Unternehmenspolitik seitens Hütters und Schneiders, die Schult, Bartos und Flür zwar nach Rechnungslegung bezahlten, gleichfalls aber verlangten, exklusiv für Kraftwerk zur Verfügung zu stehen, ohne in Fragen der künstlerischen und unternehmerischen Konzeption sowie der Lizenzverwertung gleichberechtigt zu sein. Emil Schult: »Mein Konzept ging in eine eher globale Richtung, also mit anderen Künstlern zu kooperieren. Vor allem als es mit den Robotern anfing, war der Kontakt zu anderen Künstlern verboten, alles war auf Kraftwerk beschränkt, und das war für mich ziemlich schwer zu akzeptieren. Und aus diesem Grund war die letzte Tournee, bei der ich dabei war, die von 1981.«679

Für Wolfgang Flür fiel diese Doktrin nicht weiter ins Gewicht, da sein Beitrag im Zuge der sukzessiven Verwendung des Synthanormas zur Erzeugung von Schlagzeugspuren seit der Produktion von Die Mensch-Maschine mehr aus dem Umbau und dem Design des Kling Klang Studios, denn aus musikalischer Mitwirkung bestand680 und er eigene musikalische Ambitionen erst mit der unter dem Pseudo­ nym Yamo im Jahre 1993 veröffentlichten Single »Little Child« verfolgte. Bei Bartos war die künstlerische Restriktion allerdings gravierender: So untersagte ihm Ralf Hütter zum einen, ein Soloalbum zu veröffentlichen, zum anderen wurde Bartos die Zusammenarbeit mit Bodo Staiger an dessen Projekt Rhein-

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Buckley 2013, S. 237 f. Flür 1999, S. 227 ff. Bartos 2017, S. 319 f. Ebd., S. 350 f. Zit. n. Emil Schult in: Bussy 1995, S. 156. Flür 1999, S. 254 f.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

gold verboten.681 Allerdings wurde er an den Lizenzen zum Nachfolgealbum Techno Pop / Electric Café 682 beteiligt.683 Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, gesellten sich zum belasteten Gruppengefüge zwei Entwicklungen hinzu, die Kraftwerk vor größere Pro­ bleme stellen sollte. Zum einen führte die Digitalisierung des Studioapparates in den 1980er Jahren zu einer Umstellung der Arbeitsweise der Gruppe: Stücke wurden nicht mehr auf Grundlage gemeinsamer Improvisationen während der Writing Sessions komponiert, sondern vor dem Computerbildschirm erstellt, was nach Ansicht von Karl Bartos die kreative Dynamik der Gruppe extrem hemmte.684 Zum anderen mussten sich Kraftwerk im Zuge des partiell ja selbst evozierten Erfolgs von populärer elektronischer Musik und der Fülle von Produktionen in diesem Genre mit einer neuartigen Konkurrenzsituation auseinandersetzen, die für eine Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Klangqualität sorgte und die Veröffentlichung des Nachfolgealbums Techno Pop / Electric Café bis zum Jahre 1986 hinauszögern sollte. Dass trotz dieser sich abzeichnenden widrigen Umstände Kraftwerk mit Computerwelt zumindest im Jahre 1981 noch für einen Meilenstein in der Popularmusikgeschichte gesorgt haben, soll nun im nächsten Kapitel erörtert werden. 4.7.4  Computerwelt als Blaupause des Electros Obwohl sich Kraftwerk durch »Autobahn« und der sich im Jahre 1975 anschließenden Tour in den USA bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erarbeitet hatten, war es primär das Album Trans Europa Express, welches 1977 vor allem bei afroamerikanischen Musikern und DJs einen bleibenden Eindruck hinterließ. 681 682

Bartos 2017, S. 317 f. und 384. Zur Herkunft des Arbeitstitels des Nachfolgealbums von Computerwelt gibt es verschiedene Versionen: Karl Bartos datierte die Titelgebung Techno Pop auf das Jahr 1981, genauer auf die sich an die Konzerte in Japan anschließende Rückreise nach Deutschland im Rahmen der ComputerweltTour. Ebd., S. 378. Wolfgang Flür gab jedoch an, dass das Album ursprünglich Technicolor heißen sollte und erst gegen Ende des Jahre 1984 aufgrund der befürchteten Urheberrechtsprobleme mit dem gleichnamigen amerikanischen Filmunternehmen in Techno Pop umbenannt wurde. Laut Karl Bartos war »Technicolor« allerdings der frühere Arbeitstitel der ursprünglich auf Techno Pop erscheinen sollenden Single »Tour de France«. Flür 1999, S. 257. Bartos 2017, S. 388. Erst im Jahr seiner Veröffentlichung (1986) wurde das Album schließlich in Electric Café umbenannt. Infolge der Kanonisierung des Kraftwerk-Œuvres unter der als Der Katalog betitelten Wiederveröffentlichung der neu gemasterten Kraftwerk-Alben von Autobahn bis Tour de France Soundtracks im Jahre 2009 wurde es wieder in Techno Pop umbenannt. Ebd., S. 431. 683 Ebd., S. 396. 684 Hoffmann, Heiko: Karl Bartos: »Bei Kraftwerk haben wir zusammen gespielt wie Kinder«, in: Groove, 07.12.2017, https://groove.de/2017/12/07/karl-bartos-bei-kraftwerk-haben-wir-zusammen-gespieltwie-kinder/ (abgerufen am: 12.02.2021).

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4.7  Computerwelt

Angesichts der auf völlig verschiedenen Ansätzen basierenden Diversität zwischen der vokallastigen Soul-Musik, welche ab den späteren 1960er Jahren als »integraler Bestandteil des schwarzen Amerika[s]«685 zum Überbegriff afroamerikanischer Popularmusik wurde,686 und der kalten Maschinenästhetik Kraftwerks schienen jegliche musikalische Verbindungsstränge eigentlich ausgeschlossen zu sein. Dass diese dennoch vorhanden waren, ist einem in den 1970er Jahren innerhalb der afroamerikanischen populären Musik auftauchenden Phänomen geschuldet, das bis heute das Bild des Musikschaffenden in der Popularmusik um eine essenzielle Facette ergänzt hat: die Transformation des DJings vom reinen Abspielen von Schallplatten hin zum kreativen Musizieren und Neuerschaffen von Musik, welches in einem Exkurs näher erörtert werden soll. Dem DJing selbst wohnt eine lange, zu Anfang des 20.  Jahrhunderts beginnende Geschichte inne, die unmittelbar mit dem Aufkommen des Rundfunks verbunden war. Für die damaligen DJs war das Auflegen von Platten zunächst ein aus Kostengründen geborener Teilbereich ihrer eigentlichen Tätigkeit als Radiomoderatoren, welcher es ihnen ermöglichte, ein Musikprogramm ohne die technisch und finanziell aufwendige Aufzeichnung von damals in der Regel von Orchestern dargebotener Live-Musik zu erstellen.687 Durch die Popularisierung des Mediums Radio kristallisierten sich in den 1930er Jahren erste Persönlichkeiten wie der New Yorker Martin Block heraus, die es verstanden, mit der Kombination aus gefälliger Musik und amüsanter, mit sonorer Crooner-Stimme vorgetragener Moderation durch den Äther ein großes Publikum bannen zu können.688 Angesichts des Erfolgs dieser Sendungen erkannte die Industrie schnell, welches Werbepotenzial dieses neue Medium bot, und schloss mit den bekannteren Radiomoderatoren Verträge ab, um ihre Waren promoten zu lassen. Ehemals ein durchschnittlich bezahlter Rundfunkangestellter, konzentrierte der DJ nun ein gewisses Machtpotenzial in sich, welches neben dem entstehenden Personenkult auch große kommerzielle Möglichkeiten beinhaltete. Dass sich dies keinesfalls nur auf Werbung begrenzte, zeigte eine Entwicklung gegen Ende der 1930er Jahre, die 1959 schließlich im sogenannten »Payola-Skandal« mündete: Mit der Etablierung der Hitparade respektive der Charts  – vor allem durch das US-amerikanische Magazin Billboard –, in der ab dem Jahre 1940 auf Grundlage von Plattenverkäufen und Airplay der kommerzielle Erfolg von Musik bemessen wurde,689 entstand ein selbstreferenzielles System, welches zum einen zur künstlerischen Maßgabe der 685 686 687 688 689

George 2002, S. 153. Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 680 f. Poschardt 2001, S. 42 ff. Ebd., S. 47 ff. Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 140.

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Musikindustrie geriet, zum anderen aber genau jene von ihm generierten musikalischen Leitfäden objektiv zu messen versuchte. Je mehr sich also eine Platte verkaufte, umso höher war die Chance eines höheren Airplays, das wiederum höhere Absatzzahlen zur Folge hatte.690 Die Omnipräsenz und Aussagekraft dieses Systems als einzig gültiges Marktkriterium machte es allerdings auch attraktiv für Manipulationen. Da das Airplay einen wesentlichen Teil in der Zusammensetzung der Bewertung einer Chart-Position ausmachte, sahen einige Vertreter der Musikindustrie in der Bestechung von Redakteuren und vor allem von Disc Jockeys eine wirkungsvolle Methode, um die Kontrolle über diese Stellgröße zu erlangen und die eigenen Produktionen in den Charts nach oben zu hieven. Diese unter dem Begriff »Payola« erstmals im Jahre 1938 auftauchende Korruptionsmethode691 gipfelte schließlich in einem durch den US-Kongress ins Leben gerufenen Untersuchungsausschuss, in dessen Folge neben einigen Verurteilungen von DJs und Rundfunkmitarbeitern ein Antikorruptionsgesetz ins Leben gerufen wurde, um diese Praxis fortan zu unterbinden.692 Ferner wurden, um die Macht der DJs einzuschränken, Programmdirektoren in den Rundfunkanstalten installiert, die künftig für die Programmgestaltung verantwortlich waren.693 All diese Widrigkeiten konnten aber nicht verhindern, dass der Status der Disc Jockeys sowohl hinsichtlich ihres starkultartigen Mythos als auch der damit verbundenen musikalischen Deutungshoheit in der Jugendkultur mittlerweile fest verankert war. In Bezug auf dieses Kapitel ist vor allem ein Entwicklungsstrang des DJings interessant, welcher sich etwa zeitgleich zur Payola-Debatte in den 1950er Jahren auf Jamaika ereignet hat. Durch die im Zweiten Weltkrieg auf Jamaika stationierten US-Soldaten und den Einfluss von Miami aus sendenden Radiostationen entstand auf der Insel eine große Nachfrage an R&B-Musik, die in Ermangelung einer eigenen qualitativ hochwertigen Musiker-Szene, die diese Musik adäquat hätte spielen können, bald von DJs bedient wurde.694 Angesichts der schlechten wirtschaftliche Lage Jamaikas in den 1950er Jahren, in der die Menschen nur bedingt in der Lage waren, Schallplatten zu kaufen oder Clubs zu besuchen, entwickelte sich durch mobile PA-Anlagen, den sogenannten Sound Systems, eine Partykultur, die auf der Straße stattfand und zu einem zentralen Ereignis des

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Ebd., S. 140 f. Dieser Begriff setzt sich aus den Wörtern »pay« und »Victrola«, dem Markennamen eines bekannten amerikanischen Grammophonherstellers, zusammen und steht sinngemäß für den Vorgang des ›pay for play‹. Segrave 1994, S. 1. Ebd., S. 100 ff. Ebd., S. 114 f. Poschardt 2001, S. 158 ff.

4.7  Computerwelt

sozialen Lebens wurde.695 Hierzu wurden Lautsprecher auf einen Lieferwagen montiert, über die mit einem Plattenspieler Musik abgespielt wurde. Schnell entwickelte sich eine kompetitive Musikszene, bei der zu Parties mindestens zwei Sound Systeme eingeladen wurden, die untereinander konkurrierten.696 Musikalisch basierten diese Veranstaltungen auf R&B-Stücken, die mit karibischer Musik verbunden wurden. Um im gegenseitigen Wettbewerb bestehen zu können, begann der DJ Winston »Count« Matchuki ab dem Jahre 1956 vokale Elemente in seine Sets zu integrieren, die über das simple Ansagen der Stücke hinaus gingen:697 Um Platz für diese Vorform des Raps – auch Toasting genannt – zu schaffen, begannen schließlich einige jamaikanische DJs wie Coxsone Dodd und Duke Reid ab 1957 R&B-Stücke als Instrumentals nachzuproduzieren, die mit Calypso-Elementen angereichert und in ihrem Mix ihrer Funktion als musikalisches Fundament von Sound System Veranstaltungen gemäß bass- und schlagzeuglastig angelegt wurden. Zunächst nur für den Eigengebrauch gedacht, wurden sie ab 1959 schließlich auch kommerziell vertrieben und legten damit den Grundstein einer eigenständigen jamaikanischen Tanzmusik.698 Einer der ersten DJs, der das Konzept der Sound Systems in den USA popularisierte, war Kool DJ Herc. In Kingston geboren, zog er 1967 mit 12 Jahren nach NewYork und begann dort als DJ auf Privatparties respektive Block Parties zu spielen. Da die von ihm präferierten jamaikanischen Genres Dub und Reggae gegen Anfang der 1970er Jahre in New York noch unpopulär waren, vermischte er diese mit Funk sowie den Instrumentalstellen bekannter R&B-Stücke, um Platz für das Toasting zu schaffen.699 Da diese Passagen relativ kurz waren, arbeitete er mit zwei mit einem Mischpult verbundenen Plattenspielern, auf denen identische Platten abgespielt wurden, was ihm ermöglichte die Instrumentalstellen beliebig zu verlängern. Diese völlig neue Art des DJings basierte nicht mehr auf dem Abspielen von kompletten Stücken, sondern auf dem Ineinandermischen einzelner Breaks, den sogenannten Breakbeats. Da Kool DJ Hercs Mischfähigkeiten allerdings begrenzt waren – was sich in asynchronen Überblendungen zwischen den beiden Plattenspielern äußerte –,700 waren es dann vor allem die ebenfalls jamaikastämmigen und in New York aufgewachsenen DJs Grandmaster Flash und Afrika Bambaataa, die gegen Ende der 1970er Jahre eine Reihe von Mixtechniken entwickelten, die bis heute das 695 696 697 698 699 700

Brewster / Broughton 1999, S. 118 ff. Ebd., S. 122. Moskovitz 2006, S. 70 f. Brewster / Broughton 1999, S. 125 f. Toop 1994, S. 92. Ebd., S. 94 f.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

DJing revolutioniert haben.701 Es zeigte sich dabei schnell, dass sich für diese Art des Auflegens vor allem instrumentale oder perkussive Abschnitte von Stücken eigneten. Ferner implementierten Grandmaster Flash und Afrika Bambaataa im Zuge der aufkommenden Computerspielindustrie elektronische Klangfarben in ihre Sets: Neben Stücken von YMO eignete sich in der Summe seiner musikalischen Faktoren dafür das Kraftwerks Album Trans Europa Express, das durch seine langen, repetitiven Elemente und den elektronischen Sound hervorragend in den damaligen Zeitgeist passte. Afrika Bambaataa: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Kraftwerk gar nicht wussten, wie wichtig sie für die schwarzen Massen ’77 waren, als ihr ›Trans Europa Express‹ rauskam. Ich dachte sofort: Das ist eine der irrsinnigsten und besten Platten, die ich je gehört habe. […]. Was Computer und das Zeugs alles können!«702

Für Grandmaster Flash entsprach das dreiteilige Titelstück »Trans Europa Express« der ausproduzierten und auf Platte gebannten Idealvorstellung seines Mixings, und zwar insofern, als dass er es in seiner gesamten Länge ohne irgendwelche Manipulationen abspielte: »›Trans Europa Express‹ war eine Platte, bei der man nicht viel machen konnte, sie mischte sich sozusagen von alleine.«703 Vor allem aber war es das Album Computerwelt, welches die Klangästhetik des Hiphop der ersten Stunde maßgeblich veränderte. Als eine Initialzündung dafür beschrieb Afrika Bambaataa den Besuch eines Konzerts im Rahmen der Computerwelt-Tour am 4. August 1981 in New York: »Die haben zum Beispiel Taschenrechner genommen, irgendwas dazugetan und sie wie Musikinstrumente gespielt. Das war funky. […]. Sie sind echte Meister im Umgang mit all diesen industriellen Gerätschaften.«704 Das Attribut »funky«, welches ehedem ausschließlich handgespielter, afroamerikanischer Tanzmusik zugeschrieben wurde, mag im Zusammenhang der starren Maschinenästhetik Kraftwerks paradox erscheinen. Es ist aber durchaus nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen hält, dass Kraftwerk auf Computerwelt mit vielen Stilmitteln arbeiteten, die zentrale Elemente des Funk sind: Neben den repetitiven und trocken abgemischten Drumpattern oder den sich wie beim Funk ineinander verzahnenden Sequenzerspuren offenbart sich die Verwandtschaft vor allem in der häufigen Verwendung von Synkopen. Ferner muss man berücksichtigen, dass in den 1970er Jahren in den USA eine Generation bereits mit den Erzeugnissen der elektronischen Unterhal701

Zur weiteren Vertiefung bezüglich DJ-Mixtechniken sei der Artikel über DJing von Peter Wicke und Kai Erik sowie Wieland Ziegenrücker empfohlen: Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 201 f. 702 Zit. n. Afrika Bambaataa in: Toop 1994, S. 203 f. 703 Zit. n. Grandmaster Flash in: Toop 1994, S. 205 f. 704 Zit. n. Afrika Bambaataa in: Toop 1994, S. 204.

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4.7  Computerwelt

tungsindustrie aufwuchs: Im Sog des Erfolgs der Videospiele entstanden zahlreiche Spielhallen, die ihre Umgebung mit den elektronischen Klängen der Spielautomaten beschallten. Elektronische Klangfarben gehörten spätestens seit dem Anfang der 1980er Jahre zum Alltag der Jugendkultur  – auch jener der sozial benachteiligten Afroamerikaner  –, weswegen ihre Implementierung in einen musikalischen Kontext wie hier im Falle von Computerwelt keinesfalls durchgängig als besonders ungewöhnlich oder sogar als abstoßend empfunden wurde. Dass vielmehr die Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung und Automation von vielen Afroamerikanern als essenzielle Weiterentwicklung afroamerikanischer Tanzmusik begriffen wurde, zeigt die Entstehung und der Erfolg des von Afrika Bambaataa & Soul Sonic Force im Jahre 1982 veröffentlichten Stückes »Planet Rock«. Dieses Stück repräsentierte nicht nur den Ausgangspunkt des Genres Electrofunk oder kurz Electro,705 es spaltete auch die Funk-Szene, da einige, interessanterweise oft weiße DJs und Hörer706 den Einsatz von Synthesizern und Sequenzern als Verrat an der Authentizität handgespielter, schwarzer Musik betrachtete. Nach Aussage von Greg Wilson, einem der ersten Electro-DJs der damaligen Zeit, sah die andere Fraktion hingegen den rauen Sound der ersten Electro-Stücke, der keine akustischen Instrumente mehr zu imitieren versuchte, sondern nur noch für sich selbst stand, durch seine grobe klangliche Körnung vielmehr in der Tradition der Soul-Musik der 1960er Jahre wie beispielsweise von Otis Redding stand als die zu Beginn der 1980er Jahre immer bombastischeren und glatter ausfallenden Hochglanz-Produktionen etwa von Luther Vandross.707 In jedem Falle öffnete »Planet Rock« der afroamerikanischen Popularmusik einen breiten Zugang zu elektronischen Klangfarben.

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Die synonyme Verwendung von Electro und Electrofunk gegen Anfang der 1980er Jahre umfasste ein großes Sammelbecken von von Synthesizern geprägter, oft im Hiphop verorteter Musik in den USA, die von der Maschinenhaftigkeit von »Planet Rock« bis zu vom Funk kommenden Gruppen wie Funkadelic und Parliament reichte. V. a. seit der Renaissance des Electros in den 1990er Jahren hat sich aber mittlerweile eine terminologische Diversifizierung etabliert, die die mit elektronischem Instrumentarium angereicherte Funkmusik als Electrofunk bezeichnet und unter Electro einen extrem kohärenten, in der Tradition von Kraftwerks Album Computerwelt stehenden Stil versteht. Dieses terminologische Dickicht noch weiter komplizierend wurde ferner zu Beginn der 1980er Jahre für Electro / Electrofunk auch der Begriff Electroboogie verwendet, ein ursprünglich zum Break Dance gehöriger Tanzstil, dessen ruckhafte und abgehackte Tanzbewegungen Roboter imitierten. Infolge der Technisierung und Automation von Abläufen sowohl in der Arbeitswelt als auch in der Freizeit sowie der Popularisierung elektronischer Klangfarben in den 1980er Jahren erfreute sich dieser Tanzstil als vereinende Visualisierung dieser beiden Entwicklungen großer Beliebtheit, so dass er zumindest bis zur Hälfte der 1980er Jahre im Musikjournalismus zeitweise als Synonym für Electro / Electrofunk benutzt wurde. Brewster / Broughton 1999, S. 415. Ebd., S. 415.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Die Idee zu »Planet Rock« entstand durch die Begeisterung Afrika Bambaataas und seines Produzenten Arthur Baker für das Stück »Trans Europe Express«, welches nach Aussage Bakers trotz der Tatsache, dass es bereits 1977 veröffentlicht wurde, in der damaligen Zeit in der afroamerikanischen Jugendkultur nach wie vor eine präsente Rolle bekleidete.708 Arthur Baker: »I was always into ›Trans Europe Express‹ and after Kraftwerk put ›Numbers‹ out, I said ›I wonder if I can combine them two to make something real funky with a hard bass and beat?‹«709 In »Planet Rock« kulminieren eine Reihe von Meilensteinen in der Geschichte der Rap-und Hiphop-Musik der 1980er Jahre. Zum einen gilt das Stück durch den eklektizistischen Ansatz Afrika Bambaataas und Bakers, ihre Lieblingsstellen von anderen Musikstücken im Studio nachzuproduzieren und so zu einer neuen Komposition zu vereinen, als Vorläufer des Samplings. Zum anderen vereint »Planet Rock« durch die Verwendung eines Roland TR-808 Drumcomputers, dem Drumpattern an sich, der gewählten Klangfarben sowie der formalen Struktur stereotyp alle musikalischen Elemente des Electros. Wie von Baker angedeutet basiert das Stück kompositorisch auf »Trans Europe Express« und »Numbers«, wobei die Hookline mit Ausnahme des vorletzten Tones aus dem zweiten Thema von »Trans Europe Express« besteht,710 während es sich beim Schlagzeug-Pattern um den auf der TR-808 nachprogrammierten Beat von »Numbers« in Verbindung mit dem zentralen Rhythmus-Pattern von »Trans Europe Express« handelt.711 Zwar gesellen sich noch rhythmisch adaptierte Elemente des Stückes »Super Sporm« von Captain Sky und eine im Mittelteil erscheinende, stark veränderte Melodie eines Gitarrenriffs aus dem Stück »The Mexican« der Gruppe Babe Ruth hinzu, die musikalische Essenz von »Planet Rock« lässt sich aber hauptsächlich auf besagte Elemente von Kraftwerk zurückführen. Ein weiteres von Kraftwerk bekanntes Stilmittel sind darüber hinaus vocoderisierte Sprachelemente. Ein Novum allerdings waren die von Afrika Bambaataa und dem Rap-Kollektiv Sonic Force implementierten Rap-Passagen, welche in Verbindung mit 708 709 710 711

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Ebd., S. 125 f. Zit. nach Arthur Baker in: Brewster / Broughton 1999, S. 264 f. Während es sich im Original am Ende des Themas um ein Wechselnotenmotiv zwischen Grundton und der darunter liegenden Sekunde handelt, erfolgt bei »Planet Rock« ein Sprung um eine Quarte nach unten. Dass eine TR-808 zum Einsatz kam, war reiner Zufall und lediglich der Tatsache geschuldet, dass Baker über keinen eigenen Drumcomputer verfügte und daher in Zeitschriften nach Inseraten suchte, in denen die Geräte zur Leihe offeriert wurden. Ein Musiker bot für $ 20 einen Drumcomputer und darüber hinaus auch gleich sich selbst als Programmierer an. Er wurde daraufhin von Baker und Afrika Bambaataa engagiert, ohne dass sie wussten, dass er eine TR-808 besaß. Roland: Arthur Baker und die TR-808, http://www.rolandmusik.de/blog/arthur-baker-und-dietr-808/ (abgerufen am: 10.11.2019). Brewster / Broughton 1999, S. 265.

4.7  Computerwelt

Kraftwerks Electro-Sound einen Meilenstein in der Rap- und Hiphop-Musik darstellten. Die wuchtigen Klänge der damals noch neuen TR-808 in Verbindung mit dem synkopierten Pattern von »Numbers« wurden dabei mit auf der Bassdrum platzierten analogen Bass-Sounds angereichert, bei denen es sich um mit Sägezahnwellenformen generierte Klänge handelte, deren mit hoher Resonanz versehene Eckfrequenz durch eine kurze Decay-Phase der Filterhüllkurve moduliert wurde. Das Ergebnis waren kurze, druckvolle tieffrequente Klänge, die die eher flache Dynamikspanne Kraftwerks deutlich um den Bassbereich hin erweiterten. Obwohl Baker den ebenfalls neuen Musikcomputer Fairlight CMI einsetzte – wenn auch nur in rudimentärer Weise –,712 dessen Klangfarben – hier sind besonders die sogenannten Orchester-Hits zu nennen – sich in den 1980er Jahren ebenfalls großer Beliebtheit erfreuten, war es doch in erster Linie der Mix aus TR-808 und synthetischen Bassklängen, welcher fortan als das stereotype Klangmuster aller weiteren Produktionen dieses Genres galt. Baker äußerte sich bezüglich der Wirkung von »Planet Rock« wie folgt: »Al-Naafiysh (Hashim), Man Parrish  – die New Yorker Jungs kannten alle Planet Rock und sie wollten genau diesen Drum Sound. Unterm Strich basiert der gesamte Miami Bass Trend auf Planet Rock.«713 Einmal mehr begegnet man hier dem Umstand, dass in der Popmusik spätestens seit dem in den 1980er Jahren stattfindenden Siegeszug elektronischer Klangerzeuger ein spezielles Instrument oder ein bestimmter Sound auch entkoppelt von musikalischen Primärkomponenten bereits ein Garant für den Erfolg einer Produktion sein konnte – insbesondere dann, wenn man als Musiker oder Produzent als einer der Ersten ein Gerät einsetzte und dadurch im Besitz neuer, ungehörter und unverbrauchter Klangfarben war. Dass die Konzeption und der Sound von »Planet Rock« zum damaligen Zeitpunkt etwas Besonderes darstellten, war Baker schon während der Produktion bewusst geworden: »I knew before we even mixed it. I knew before there was even a rap on it. I went home the night we cut the track and brought the tape home, and I said to my wife the time ›We’ve just made musical history‹.«714 Obgleich der Fairlight CMI als eines der ersten elektronischen Instrumente über eine Sampling-Funktion verfügte, begnügten sich Afrika Bambaataa und Baker aus welchen Gründen auch immer lediglich mit dem Nachproduzieren verschiedener musikalischer Versatzstücke. Die Grundidee aber, aus vielen eklektizistisch adaptierten Elementen ein neues Musikstück zu schaffen, war 712 713 714

Red Bull Music Academy: Making Musical History: Arthur Baker and Electro in 1980s New York, https:// daily.redbullmusicacademy.com/2018/01/arthur-baker-interview (abgerufen am: 11.11.2019). Zit. n. Baker in: Roland: Arthur Baker und die TR-808, http://www.rolandmusik.de/blog/arthurbaker-und-die-tr-808/ (abgerufen am: 10.11.2019). Zit. n. Arthur Baker in: Brewster / Broughton 1999, S. 264.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

nach Ansicht der Autoren Bill Brewster und Frank Broughton zum damaligen Zeitpunkt revolutionär und gipfelte im Zuge der immer raffinierter gewordenen technischen Möglichkeiten elektronischer Musikinstrumente ab Mitte der 1980er Jahre in einer zum Kompositionskonzept erklärten Sampling-Kultur, bei der aus immer kleineren und bis zur Unkenntlichkeit bearbeiteten Samples eine Musikform entstand, deren Material zum Teil ausschließlich auf Fremdkompositionen basierte: »Baker and Bambaataa showed that sampled elements didn’t necessarily have to be preserved intact: instead they could be collided into each other and woven into an intricate new sound tapestry. Today, this idea is rugulary pushed to its limits, as producers make record from a multitude of tiny samples, often distorting and disguising them to much as possible.«715

Dass diese Praxis allerdings auch Fragen hinsichtlich des Urheberrechts und der Beteiligung an Tantiemen aufwerfen sollte, war schnell abzusehen: Nachdem Ralf Hütter und Karl Bartos »Planet Rock« zum ersten Mal in einer Diskothek gehört hatten, wurden seitens Kraftwerks unmittelbar ein Plagiatsprozess angestrengt, der mit einem Vergleich endete, in dessen Folge Afrika Bambaataa $  100.000716 an Kraftwerk zahlen musste.717 Bis heute gehören Kraftwerk zu den am meisten gesampelten Popmusik-Gruppen718  – bei nicht autorisierten Samples allerdings zeigen Kraftwerk wie bereits schon in Kapitel 4.2 angesprochen eine mittlerweile719 kompromisslose Härte bezüglich der Wahrung ihrer Interessen: Im Falle des mittlerweile 20 Jahre andauernden Prozesses gegen den deutschen Hiphop-Produzenten Moses Pelham, der im Jahre 1997 für den von Sabrina Setlur interpretierten Song »Nur mir« ein zweisekündiges Sample des Stückes »Metall auf Metall« verwendete, klagten sich Kraftwerk durch alle In­ stanzen bis hin zum Europäischen Gerichtshof, der in dieser Frage noch nicht end-

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Ebd., S. 265 f. Barr 1998, S. 169. Nach Aussage von Karl Bartos betrafen die juristischen Streitigkeiten allerdings nur die Melodie von »Trans Europa Express«, da ein Drumpattern wie hier im Falle von »Nummern« nicht urheberrechtlich geschützt ist. Bartos 2017, S. 401 f. Rapp, Tobias: Kraftwerk klagt gegen Musikklau – Die entscheidenden zwei Takte, in: taz. die tageszeitung, 20.11.2008, https://taz.de/Kraftwerk-klagt-wegen-Musikklau/!5172479/ (abgerufen am: 14.02.2021). Im Jahre 1991 vertrat Ralf Hütter noch eine wesentlich mildere Position zum Thema Sampling: »Das ist eine einfache Regelung. Wenn es ganz kurz ist, ist es okay. Wenn es einen bestimmten Bereich übersteigt, oder wenn jemand ganze Phrasen nimmt oder ganze Sequenzen entnimmt, dann ist das Copyright, und dann müssen die das abführen an die Gema.« Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Olaf Zimmermann für DT 64, 1991, https://www.youtube.com/watch?v= Qs2l2LMGXms (abgerufen am: 10.01.2021).

4.7  Computerwelt

gültig entschieden hat.720 Dass aus urheberrechtlicher Sicht dem KraftwerkRadar die unkreditierte Verwendung zuweilen auch entgangen sein mag, zeigen zwei Bespiele, die gleichfalls repräsentieren, wie stark der Electro von Kraftwerk geprägt war. Dabei handelt es sich um das Stück »Rockin’ It« der New Yorker Hiphop-Gruppe The Fearless Four, die, das Erfolgskonzept von »Planet Rock« kopierend, ebenfalls 1982 einen Song auf Grundlage von Versatzstücken Kraftwerks produzierten. Als Fundament hierzu diente der Song »Die MenschMaschine«, wobei sowohl das Drumpattern, das Basspattern als auch die für das Stück signifikante Synthesizer-Sequenz lediglich in leicht abgewandelter Form nachproduziert wurden. Zwar sind die Klänge hierbei stärker komprimiert und mit mehr Raum versehen, weswegen sie druckvoller und auch moderner als im Original erscheinen  – generell entsteht aber unmittelbar der Eindruck, dass es sich bei diesem Song um ein ziemlich ungeniert produziertes Plagiat von »Die Mensch-Maschine« handelt, dessen primärer Unterschied zum Original lediglich aus der Verwendung von Rap-Gesang besteht. Das zweite Beispiel, das 1983 veröffentlichte Stück »Clear« des US-amerikanischen Duos Cybotron, steht gleichermaßen für einen weiteren Geschichtsstrang in der Entwicklung des Electros, dessen Ausgangspunkt im Jahre 1977 die Stadt Detroit war und im folgenden Kapitel näher erläutert werden muss. 4.7.5  Kraftwerk – Urväter des Technos? Detroit war in den 1970er Jahren durch den Niedergang der US-amerikanischen Automobilindustrie von Arbeitslosigkeit, Kriminalität und sozialem Kahlschlag bestimmt. Einer der wenigen Lichtblicke der von Perspektivlosigkeit und GangGewalt geprägten Jugendkultur war der DJ Charles Johnson, der unter dem Namen The Electrifying Mojo ab dem Jahre 1977 in einer eigenen Sendung beim Detroiter Radiosender WGPR eine Mischung aus Funk und Soul sowie elektronischer Popmusik der ersten Stunde spielte.721 Sein Markenzeichen dabei war, Alben oft in ganzer Länge zu spielen, um die gesamte Bandbreite der von ihm präsentierten Musiker vorzustellen. Auf diese Weise kam der heute als Wegbereiter des Detroit-Techno-Genres geltende Schlagzeuger und Bassist Juan Aktins mit der ebenfalls von The Electrifying Mojo gespielten Musik von 720 721

Wilde / Beucke / Solmecke: BGH zu Kraftwerk vs. Pelham: Sampling ohne Erlaubnis kaum mehr möglich, https://www.wbs-law.de/urheberrecht/duerfen-musiker-samplings-nutzen-bgh-fragt-nuneugh-nach-20-jahren-streit-22653/ (abgerufen am: 14.02.2021). Zlatopolsky, Ashley: Theater of the Mind: The Legacy of the Electrifying Mojo, in: Red Bull Academy, 12.05.2015, https://daily.redbullmusicacademy.com/2015/05/electrifying-mojo-feature (abgerufen am: 15.02.2021).

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Kraftwerk in Kontakt, welche sein eigenes Musikschaffen nachhaltig veränderte: »I just froze in my tracks, […]. Everything was so clean and precise, so robotic.«722 Der darauf folgenden Hinwendung zu elektronischen Klangerzeugern förderlich war dabei seine Bekanntschaft mit dem traumatisierten Vietnamveteranen Richard Davis (auch bekannt unter dem Pseudonym 3070), der ein elektronisches Avantgarde-Stück mit dem Titel »Methane Sea« veröffentlicht hatte, welches ebenfalls von The Electrifying Mojo gespielt wurde.723 Davis fungierte dabei als technischer Lehrmeister, der sowohl sein umfangreiches Instrumentarium als auch die damit verbundene Erfahrung einbrachte. Juan Atkins: »Ich war damals verrückt nach Synthesizern. Die Geräte waren damals halt was Neues und deshalb konnten nur wenige Leute sie bedienen. Er [Richard Davis] dagegen hatte schon einen guten Sequenzer, Drummachines, jede Menge, die ich noch nie vorher gesehen hatte. Mit ihm lernte ich diese neuen Technologien kreativ zu nutzen.«724

Unter dem Namen Cybotron produzierten Atkins und Davis ab 1981 mit »Al­ leys of your mind« und »Cosmic Cars« zunächst zwei Singles, die im Jahre 1983 auf ihrem einzigen Album Enter wiederveröffentlicht wurden. Die auf diesem Album enthaltenen Stücke sind dabei unmittelbarer Ausdruck der technischen Möglichkeiten und Restriktionen der zum Einsatz kommenden elektronischen Klangerzeuger der damaligen Zeit und bieten im Vergleich zu den damaligen Kraftwerk-Veröffentlichungen wenig Neues: So finden sich zahlreiche ein- bis zweitaktige Synthesizer-Basssequenzen, wie sie bereits auf Die Mensch-Maschine sowie auf Computerwelt zu hören sind. Ferner sind diesbezüglich neben der Verwendung von vocoderisierter Sprache viele Synthesizer-Melodien zu nennen, deren tiefpassgefilterte, mit leichtem Vibrato versehenen Sägezahnwellenformklänge sowohl an die Hooklines von »Spacelab« und »Das Modell« erinnern, sich in Teilen aber auch an viele aus dem Synth-Pop bekannte Klänge wie etwa den von Gary Numan genutzten streicherähnlichen Presets des Polymoogs anlehnen. Allenfalls die hinzugefügten stark verzerrten E-Gitarren sowie die Addition von gesprochenen Texten verleihen dem eklektischen Kompositionsansatz einen teilweise originären Gesamteindruck. Stärkstes und unverwechselbares Klangidiom ist hierbei allerdings die omnipräsente, damals eben noch neue TR-808, die das rhythmische Fundament des Albums stellt und ihm damit ein zeitgenössisches Klanggewand verleiht. Die sich größtenteils zwischen 120–130 bpm bewegenden 722 723 724

272

Brewster / Broughton 1999, S. 345. Ebd., S. 345. Zit. n. Juan Atkins in: Feige 2000, S. 35.

4.7  Computerwelt

Drumpattern sind dabei an dem von »Nummern« bekannten synkopierten Bassdrum-Muster bei gleichbleibenden Snaredrum- respektive Handclap-Backbeats auf den Zählzeiten 2 und 4 angelehnt. Besonderes Augenmerk gilt dem Stück »Clear«, das zum einen wohl als eines der bekanntesten Stücke von Cybotron gilt, als auch zum anderen am stärksten an die Klang- und Kompositionstechnik Kraftwerks angelehnt ist. So fungiert als zentrales musikalisches Thema eine eintaktige, chromatisch aufwärts verlaufende Synthesizer-Sequenz, die dem auf Computerwelt erschienenen Stück »Heimcomputer« entnommen ist – eine Adaption, die nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, dass »Heimcomputer« für Atkins das beste Techno-Stück in der Geschichte der elektronischen Musik darstellt.725 Die Begeisterung für Kraftwerk spiegelt sich gleichfalls im Refrain wider, dessen auf Terzschichtungen basierende Synthesizer-Hookline aufgrund ihres ganztaktigen Aufbaus und der Verwendung eines streicherähnlichen Klanges stark an die Quartschichtungen in Kraftwerks »Trans Europa Express« erinnert. Weitere Verwandtschaften zu Kraftwerk liegen in den Synthesizer-Bass-Sounds, die aufgrund ihrer Filterhüllkurveneinstellungen einen ähnlichen Klangcharakter wie ihre Pendants in Kraftwerks »Die Roboter« aufweisen. Auch das Drumpattern  – wieder durch die TR-808 ausgeführt – lässt sich vom Drumpattern von Kraftwerks »Nummern« ableiten: Auch wenn die Synkopierung der Bassdrum leicht abgeändert ist, ist die rhythmische Electro-Essenz durch die Bassdrum auf der ersten Zählzeit und der zweiten Achtel der zweiten Zählzeit bei gleichbleibendem Snaredrum-Backbeat auf 2 und 4 deutlich vorhanden. Mit ca. 129,5 bpm entspricht das Tempo ebenfalls ziemlich genau dem von »Nummern« (ca. 129 bpm). Als sei dies der Reminiszenzen nicht genug, erinnern ferner die mit einem Pitchshifter bearbeiteten, gesprochenen Textstellen an den roboterhaften Klang des von Kraftwerk hinlänglich bekannten Vocoder-Einsatzes. »Clear« steht wie »Planet Rock« repräsentativ für den epigonalen Ansatz der Gattung Electro, die sich wie kaum eine andere Stilrichtung im Bereich der populären elektronischen Musik auf die musikalische Tradition einer einzigen Band zurückführen lässt. Bis heute zeigen sich in diesem Genre die von Kraftwerk definierten Grundelemente sowohl in sich selbst als auch in ihrer Addition zur gesamten Produktion wenig wandelbar, so dass die einzige Entwicklungsmöglichkeit im Bereich der Klangfarbe zu finden ist. Allerdings entstand Electro im musikalischen Underground, was Einschnitte bezüglich der Produktionsqualität mit sich brachte: Angesichts der meist prekären finanziellen Mittel der neuen und 725 Phinnweb: model 500 / juan atkins, http://www.phinnweb.org/links/artists/model_500/ (abgerufen

am: 01.08.2020).

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

noch jungen Generation von Elektronik-Musikern fanden die meisten Produktionen abgekoppelt von technischen Neuerungen wie dem Sampling oder der FMSynthese in einfach ausgestatteten Heimstudios statt. Der technische Fortschritt hinsichtlich der digitalen Klangerzeugung hatte zur Folge, dass analoge Synthesizer zu günstigen Preisen in den Second-Hand-Läden angeboten und so vornehmlich in den Electro-Produktionen der ersten Stunde eingesetzt wurden, weshalb sich zwei unterschiedliche Klangarchitekturen entwickelten: Auf der einen Seite wurden die Hochglanz-Popproduktionen des Mainstreams der frühen 1980er Jahre vom modernen, obertonreichen und kristallinen Sound der digitalen Synthese bestimmt. Auf der anderen Seite erfuhr die subtraktive Synthese mit ihren warmen, aber auch weniger brillanten Klängen im Electro-Underground eine Renaissance. Allerdings erschienen die Klangfarben angesichts der limitierten Möglichkeiten der zum Einsatz kommenden, oft noch monophonen analogen Synthesizer bald ausgereizt zu sein, so dass aufgrund des engen stilistischen Korsetts des Electros und des überschaubaren Klanghorizonts sich das Genre bald einer Stagnation ausgesetzt sah. Die Charakteristika des Electro wurden daraufhin gegen Ende der ersten Hälfte der 1980er Jahre zum einen sukzessiv vom Hiphop aufgesogen, zum anderen gingen sie durch rhythmische Modifikationen in Form des Detroit-Techno in ein neues Genre über, welches bald aber massiv vom technischen Fortschritt profitieren sollte: Generell entstand in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine Fülle von neuen elektronischen Klangerzeugern – sowohl Sampler, Synthesizer als auch Drumcomputer  –, die zusätzlich immer billiger und damit auch für die nach wie vor finanziell limitierten Underground-Musiker erschwinglich waren. Dabei handelte es sich einerseits um Musiker wie beispielsweise Atkins, die gerade den Schritt vom Electro zum Detroit-Techno vollzogen hatten, oder andererseits um Musiker, die – von diesem neuen Genre angeregt – überhaupt erst begannen, elektronische Musik zu produzieren. Der etwas spröde, in der Regel recht leicht auf die Grundwellenformen der Oszillatoren zurückführbare subtraktive Sound des Electro wich in den Detroit-Techno-Produktionen gegen Ende der 1980er Jahre sukzessive einem artifiziellen Klangbild, das entkoppelt von jeglichen mittlerweile tradierten elektronischen Klängen keine spektralen Grenzen zu haben schien. Sampling sowie verschiedene, immer neuere digitale Synthese- und Aufnahmeverfahren ermöglichten dieser neuen populären elektronischen Tanzmusik  – bald irreführend auch unter dem Oberbegriff Techno zusammengefasst – ein nahezu exponentiell ansteigendes klangliches und Genre-spezifisches Variantenreichtum. Speziell die vom Detroit-Techno und dem Chicago-House ausgehenden Spielarten erfreuten sich spätestens ab 1988 auch in Europa großer Popularität – allen voran deren Fusion Techno-House, die ab den 1990er Jahren nur noch Techno genannt wurde.

274

4.7  Computerwelt

Nun beinhaltet die Historie von House- und Techno-Musik mehrere Handlungsstränge, die in einem anderen, analog zur chronologischen Entwicklung Kraftwerks erfolgenden Exkurs behandelt werden; um dieses Kapitel abzuschließen, soll allerdings zumindest die Herkunft des Detroit-Technos angerissen werden, da sie – initiiert durch Juan Atkins – eine direkte Fortführung der Musikrespektive der Klangelemente Kraftwerks ist. Juan Atkins beschreibt den Schritt vom Electro Kraftwerk’scher Tradition zum Detroit-Techno wie folgt: »So um 1985 war es vorbei mit Electro, die Szene driftete in die reguläre HipHopWelt ab. HipHop war aber immer zu langsam für mich. Gleichzeitig ging es in Chicago los mit House. Da gefiel mir der Beat. Ich ersetzte also den konventionellen Electro-Rhythmus durch dieses Bumbumbumbum, die Four-to-the-floorPauke. Und das war’s dann etwa.«726

Anhand Atkins’ Aussage wird klar, dass das vordergründige Erkennungsmerkmal der frühen Detroiter Techno-Musik und gleichfalls der entscheidende Entwicklungsschritt vom Electro hin zum Detroit-Techno offensichtlich die der HouseMusik entlehnten, durchgängig auf Vierteln erfolgenden Bassdrums eines Drumcomputers sind. Allerdings wurde dieser Schritt nicht so direkt und eindringlich vollzogen wie geschildert. Viele Elemente der House und Techno-Musik – vor allem der mit elektronischen Bassdrums erzeugte Four-to-the-Floor-Beat  – waren bereits vorweggenommen worden, sei es in den 1970er Jahren durch Giorgio Moroder oder Kraftwerk, in den frühen 1980er Jahren durch New Order oder sogar als Kuriosum in Form einer im Nachlass von Delia Derbyshire gefundenen und auf die zweite Hälfte der 1960er Jahre datierten Aufnahme.727 Auch wenn innerhalb der Techno-Szene sowie des Musikjournalismus allgemeine Einigkeit darüber herrscht, dass der Nimbus, Pionier des Technos zu sein, Juan Atkins gebührt, angefangen mit der noch von Cybotron  – folglich noch in Zusammenarbeit mit Richard Davis  – im Jahre 1984 veröffentlichten Single »Techno City«, einer musikalischen Hommage an die auch »Motor City« genannte Stadt Detroit: Mit dem tieffrequenten, Bassdrum-lastigen, vor allem durch das von Rolands Drumcomputer TR-909 dominierten Klanggewand gegen Ende der 1980er Jahre hatten diese Produktionen wenig gemein. Dass »Techno City« als Nukleus des Detroit-Techno vor allem in der nachträglichen musikgeschichtlichen Betrachtung angesehen wird, ist sicherlich auch der Namensgebung geschul-

726 727

Zit. n. Juan Atkins in: Anz / Walder 1995, S. 30. Jenkins, Russell: Delia Derbyshire, producer of Doctor Who theme music, has legacy restored, in: The Times, 17.07.2008, https://www.thetimes.co.uk/article/delia-derbyshire-producer-of-doctor-who-thememusic-has-legacy-restored-tv8c8cqjcbj (abgerufen am: 03.08.2020).

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

det, obwohl der Wortteil »Techno« im Bereich der populären Musik schon vorher verwendet wurde – so etwa als Titel »Techno Pop« der B-Seite der im Jahre 1980 aus dem Debütalbum »The Age of Plastic« ausgekoppelten Single »Clean, Clean« der britischen New-Wave-Gruppe The Buggles oder aber auch im Zusammenhang mit Kraftwerk  – dergestalt, dass nach Aussage Karl Bartos’ während der Konzerte in Japan im Rahmen der Computerwelt-Tour 1981 der Vorschlag kam, das nächste Album nach Computerwelt »Techno Pop« zu nennen.728 Detroit-Techno sollte allerdings erst im Jahre 1988 durch eine vom gleichfalls als Techno-Apologeten geltenden Produzenten Derrick May zusammengestellte und mit dem Titel Techno! The New Dance Sound of Detroit versehene Kompilation in Europa zum Schlagwort eines neuen Genres werden. Der Begriff »Techno« selbst ist dabei auf den US-amerikanischen Futurologen Alvin Toffler zurückzuführen, der vor allem 1980 in seinem Buch »The Third Wave« den Begriff des »Techno Rebels« proklamierte, einer neuen Generation von Menschen, die, aufgewachsen in einer zunehmend technisierten Welt, die damit verbundenen Errungenschaften nicht ablehnen, sondern als Entwicklungschance der Menschheit begreifen würden.729 Die Ideen, die hinter Tofflers Philosophie steckten, dienten maßgeblich als Inspirationsquelle der ersten Generation von Techno-Musikern in Detroit. Was zeichnet nun die ersten Techno-Stücke Detroiter Prägung musikalisch aus? »Techno City« ist eindeutig noch der Electro-Ästhetik verpflichtet. Es ist um eine einfache viertaktige harmonische Wendung (zwei Takte eb-Moll, ein Takt Db-Dur, ein Takt eb-Moll) Pattern-artig aufgebaut. Wie bei den vorhergehenden Aufnahmen Cybotrons, finden sich eine Reihe von leicht in ihrer Filterfrequenz modulierten Flächenklängen, die den sonst maschinellen Charakter des Stückes auflockern. Auch die Cybotron-typischen, fragmentierten und kurzgehaltenen Gesänge sind wieder zu hören – in diesem Falle aber ohne jene klangliche Verfremdung, die den Vocoder-Stimmen Kraftwerks ähnelte. Diese Gesänge, obwohl immer leicht verändert, repräsentieren neben der harmonischen Wendung die Hookline des Stückes. Eine deutliche Kraftwerk-Verbindung hingegen entsteht durch die collagenhafte Verwendung einer synthetischen Stimme. Das entscheidende Element, was das Stück mit Techno in Verbindung bringt, ist  – wenig verwunderlich – die Bassdrum-Figur mit ihrem Four-to-the-Floor-Muster. Aber auch hier will sich die aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bekannte Techno-Ästhetik noch nicht einstellen, was folgende Ursachen hat: Zunächst war der den Techno-Sound dominierende Drumcomputer Roland TR-909 noch 728 729

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Bartos 2017, S. 378. Toffler 1980, S. 162 ff.

4.7  Computerwelt

nicht verfügbar. Die Bassdrums sind sehr wahrscheinlich mit der Sequential Circuits Drumtraks730 realisiert worden, deren Klänge wesentlich natürlicher sind und der damals im Popbereich omnipräsenten Linn-Drum ähneln. Gleichfalls vermisst man die Hi-Hat- und Snaredrum-Sounds der Roland TR-Serie: Der Umstand, dass bei »Techno City« auf jegliche Hi-Hat-Pattern verzichtet und stattdessen zur Auflockerung des Bassdrumpatterns eine mit dem von »Nummern« und »Computerwelt 2« bekannten »Zap«-Klang realisierte Perkussionsspur verwendet wurde, lässt keinen Zweifel an der Electro-Herkunft aufkommen. Auch erfolgt das Drumpattern nicht ausschließlich auf den Vierteln, sondern wird durch eine zusätzliche Bassdrum auf dem letzten Achtel der Zählzeit 4 zumindest leicht aufgebrochen. Dennoch kann man an »Techno City« erkennen, dass hier seitens Cybotron der Versuch unternommen wurde, sich von den Wurzeln Kraftwerks zu emanzipieren und nach einem eigenen musikalischen Ansatz zu suchen, wenn auch die Herkunft nicht zu verkennen ist. Ein Schritt, den der sich lieber wieder an der klassischen Gitarrenrockmusik orientieren wollende Richard Davis aber nicht mehr mitzugehen bereit war, weswegen sich Cybotron nach Veröffentlichung von »Techno City« folgerichtig auflösten.731 Dass Atkins hingegen an der neu eingeschlagenen musikalischen Richtung festzuhalten gedachte, stellt das erste von ihm unter dem Pseudonym Model 500 im Jahre 1985 veröffentlichte Stück »No UFO’s« unter Beweis, welches sich deutlicher von jedweder Electro- respektive Kraftwerk-Vergangenheit absetzt und in der Tat als musikhistorischer Start von Detroit-Techno gelten kann. Eddie Flashin’ Fowkles, zusammen mit Blake Baxter und den aus den HighschoolFreunden Juan Atkins, Derrick May und Kevin Saunderson bestehenden sogenannten The Belleville Three einer der Protagonisten der ersten Generation Detroiter Techno-Musiker, sah im Detroit-Techno die musikalische Reflexion der von Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt geprägten Metropole Detroit: »Mit dem Ende der Motown-Ära und dem Niedergang unserer Autoindustrie nahmen soziale Konfliktpotentiale und die damit verbundene Kriminalität automatisch zu. Die dadurch entstehende Spannung, diese spezielle Form der Aggression, wurde von da an in der Musik reflektiert. Der Synthesizer wurde so gesehen zur Waffe.«732

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Neben der TR-808 besaß Atkins zu diesem Zeitpunkt ein solches Gerät. Obwohl die Bassdrum stark komprimiert ist, und die Herkunft daher schwer auszumachen ist, spricht die Grundcharakteristik des Klanges stark für die Drumtraks. Trask, Simon: Future Shock, in: mu:zines, http://www. muzines.co.uk/articles/future-shock/2304 (abgerufen am: 12.08.2020). Brewster / Broughton 1999, S. 346. Zit. n. Eddie Falshin’ Fowkles in: Anz / Walder 1995, S. 80.

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Obgleich Juan Atkins Techno eher als musikalischen Eskapismus der damaligen Lebensumstände verstand733 und sich Derrick May dem Begriff »Techno« ursprünglich verweigern wollte,734 lässt sich »No UFO’s« durchaus durch seine maschinelle Präzision, seine klangliche Härte und den fragmentarischen, dystopischen Sprechgesang als musikalische Entsprechung des Detroits der 1980er Jahre interpretieren. Was das Stück auszeichnet – und damit steht es programmatisch für einen wesentlichen Baustein des Genres –, ist das vorwiegend mit der TR-Serie von Roland realisierte Drumpattern. Zwar liegt diesem immer noch eine mit der Drumtraks gespielte Bassdrum zugrunde, im Break ist aber erstmals die von der TR-909 bekannte Bassdrum zu hören, die wie kein anderes klangliches Element bis heute unverwechselbar für Techno steht. Was für Kraftwerk seit Trans Europa Express der Synthanorma als musikästhetisierendes Fundament war, ist ab dem Jahre 1985 fortan für die Techno- wie auch die House-Musik die Roland TR-909  – diesmal allerdings nicht nur in ihrer Funktion als Automationsgerät, sondern gleichfalls als klangformender Baustein. Zwar war auch bei Kraftwerk die Ausgestaltung der Klangfarbe in gewissem Rahmen an das zugrunde liegende Instrumentarium gebunden; die Möglichkeiten der subtraktiven Synthese offenbarten aber einen wesentlich größeren Horizont und verlangten diesbezüglich sowohl ein weit größeres technisches Verständnis als auch eine klangliche Vorstellungskraft, als dies bei den Drumcomputern von Roland der Fall war. Auch wenn die primär im Techno eingesetzten Geräte TR-909, TR-808 und TR-707 durchaus über Möglichkeiten der Klangbeeinflussung verfügten, setzte sich doch schnell eine standardisierte Ästhetik hinsichtlich der Perkussionsklänge durch, die selbst für den Einsteiger nach kurzer Einarbeitungszeit zu reproduzieren war, so dass in den Anfangsjahren des Techno die technische und klangliche Doktrin zumindest hinsichtlich der rhythmischen Komponente – und diese ist in diesem Genre neben der Klangfarbe die wichtigste Essenz – eine noch dominantere und stilprägende Bedeutung einnahm, als das in den 1970er Jahren bei den ersten Produktionen elektronischer Popularmusik der Fall gewesen ist. Dies unterstreichend ist »No UFO’s« auch vom Zusammenspiel der Maschinen der Roland TR-Serie sowie der Sequential Circuits Drumtraks geprägt: So sind neben der Bassdrum und des Backbeatclaps der Drumtraks die typischen Cowbells, Hi-Hats und Handclaps der TR-808 genauso zu vernehmen wie die Toms der TR-909. Auch wenn die gleichfalls

733 734

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Poschardt 2001, S. 326. Brewster, Bill und Broughton, Frank: Interview: Derrick May (August 2004), in: Red Bull Music Academy, 22.05.2014, https://daily.redbullmusicacademy.com/2017/05/interview-derrick-may (abgerufen am: 20.08.2020).

4.7  Computerwelt

repräsentativ für die House- und Techno-Musik stehende Snaredrum der TR-909 noch nicht zum Einsatz kommt: Mit der lediglich durch eine auf der letzten 16tel-Note des zweiten Taktes ergänzten Bassdrum ist das viertaktige Bassdrumpattern durchgehend auf Viertelnoten gesetzt, was unmittelbare Assoziationen mit dem Techno-Genre freisetzt, insbesondere, da dessen zweite Ingredienz, eine rhythmisch das durchgängige Drumpattern auflockernde, synthetische Bassline ebenfalls bei »No UFO’s« zu hören ist. Nun ist bei den Begrifflichkeiten hinsichtlich der Entwicklung von Techno Vorsicht geboten: Die in Rede stehende Musik reklamiert für sich, Ausgangspunkt des Detroit-Technos zu sein – ein Genre, das weder mit dem journalistisch gegen Ende der 1980er Jahre ins Spiel gebrachten, für jene neue, auch Electronic Dance Music (EDM) genannte Musik geltenden Überbegriff »Techno« zu verwechseln ist noch mit dem ab den 1990 Jahren entstandenen Genre TechnoHouse respektive dessen Kurzform »Techno«. Sämtliche Entwicklungen in dieser Richtung sind allerdings fließend, so dass viele Stücke aus dem zeitgleich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren entstandenen Chicago-House mit denen des Detroit-Techno – zieht man etwa die angesprochene Kompilation Techno! The New Dance Sound of Detroit als repräsentative Auswahl dafür heran  – sich zum einen sehr ähneln, zum anderen aber eine stilistische Vielfalt umschließen, die von durch die Verwendung von Strophe und Refrain recht poppigen Produktionen bis zu extrem harten und minimalistischen Stücken reichen, so dass die Unterschiede eher geografischer Herkunft denn musikalischer Art zu sein scheinen. Was sie einte, war das Four-to-the-Floor-Pattern der Roland Drumcomputer, allen voran der TR-909. Mit dem harten, minimalistischen, primär instrumentalen und bis heute mit Techno assoziierten Sound der ab den 1990er Jahren entstandenen Produktionen der zweiten Generation Detroiter Techno-Musiker um das von Jeff Mills und Mike Banks gegründete Label und Produzentenkollektiv Underground Resistance herum hatte der Detroit-Techno um The Belleville Three und ihre Mitstreiter nicht mehr viel gemein: Spätestens aus dieser Warte lässt sich auch die von der Presse oftmals kolportierte These, dass Kraftwerk die Väter des Techno seien, nur mit Einschränkung aufrechterhalten. Ohne Frage geht das Genre Electro auf Computerwelt zurück – zu dominierend ist für diese Stilrichtung bis heute das in diesem Album definierte musikalische Korsett, als dass man dies zur Disposition stellen kann. Entlang dieses Stranges – also die Übernahme und Modifikation Kraftwerk’scher Synthesizer-Sequenzen im Detroit-Techno  – lassen sich musikalische Wurzeln Kraftwerks gleichfalls sicher nicht verleugnen. Wie das gesonderte Kapitel über House- und Techno-Musik zeigen wird, muss man aber dem Umstand Rechnung tragen, dass zwischen den ersten Produktionen des

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Detroit-Techno  – je nach dem, welches Stück man als Ausgangspunkt heranzieht – und Computerwelt schon drei bis vier Jahre liegen, in denen mit Subgenres elektronischer Discomusik wie etwa dem Hi-NRG735 oder Italo Disco nur noch rudimentär auf Kraftwerk zurückgehende musikalische Entwicklungen Fuß fassten, die in die DJ-Sets der House-Szene in Chicago eingeflochten und damit zu einem essenziellen Bestandteil dieses Stils wurden. Auch die Instrumententechnologie sorgte in dieser Zeit für neue, richtungsweisende Produkte wie eben die Roland TR-909, die im Bereich der diffusen stilistischen Gemengelage von Chicago-House und Detroit-Techno auf fruchtbaren Boden trafen und die Basis für bis dato in der elektronischen Popularmusik ungehörte Klänge bildeten. Ferner wurde durch die Implementierung des Four-to-the-Floor-Patterns in Verbindung mit Synthesizer-Sequenzen spätestens durch »No UFO’s« in der Electronic Dance Music ein musikalisches Element eingebunden, das ebenfalls nicht mehr direkt auf Kraftwerk zurückging. Zwar muss man die Musik Kraftwerks in Summe aller Faktoren als wichtige – von allerdings vielen – Quellen des Technos ansehen, dafür hat die erste Generation der Detroiter Techno-Musiker zu oft die Wichtigkeit Kraftwerks als Inspiration betont; Kraftwerk bezüglich einer musikalischen Genese als zentralen Ausgangspunkt des Technos zu betrachten, ginge allerdings zu weit. Obgleich sich Ralf Hütter in vielen Interviews der These, Kraftwerk als Väter oder auch Urväter des Technos anzusehen, nicht verweigert hat – sicher auch aus Imagegründen –,736 betrachten Wolfgang Flür und Karl Bartos diese Verbindung eher nüchtern: Während Flür sich dahingehend äußert, dass Techno »in Detroit und nicht […] am Rhein [geschah]«,737 betonte Bartos die generelle, aufeinander aufbauende historische Bezugnahme von Musik, insbesondere durch den techni735

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Bei Hi-NRG handelt es sich um eine elektronische, an Giorgio Moroder orientierte Version des Discos, die gegen Ende der 1970er Jahre v. a. von den Produzenten Patrick Cowley und Bobby Orlando in San Francisco respektive New York etabliert wurde [Vgl. Sylvester: »You Make Me Feel (Mighty Real)«]. Dieser aus einem um die 130 bpm schnellen durchgängigen und weitgehend ohne Breaks erfolgenden Four-to-the-Floor-Beat in Verbindung mit einfach gehaltenen Synthesizer-Sequenzen bestehende Stil erfuhr v. a. durch das englische Pop-Duo Pet Shop Boys und zahlreichen Produktionen des aus Mike Stock, Matt Aitken und Pete Waterman bestehenden Produzententeams in den 1980er Jahren große Popularität. Der Begriff Italo Disco fasste in den 1970er Jahren zunächst Disco-Produktionen italienischer Herkunft zusammen. In den frühen 1980er Jahren stand er repräsentativ für eine Vielzahl europäischer, nicht mehr ausschließlich aus Italien stammender Produktionen, die die Synthesizer-basierten klanglichen Facetten des Hi-NRG mit den strukturell-kompositorischen Elementen der Popmusik zu verbinden versuchten – Ingredienzien, die in den 1990er Jahren durch den kommerziell sehr erfolgreichen Euro Dance aufgegriffen wurden. Vgl. Hütter, Ralf: Kraftwerk-Chef Ralf Hütter im Interview mit Albert Koch, in: »Ich höre die Stille und die Welt«, in: Musikexpress, 12.02.2019, https://www.musikexpress.de/kraftwerk-chef-ralf-huet ter-im-interview-840625/2/ (abgerufen am: 12.01.2021). Flür 1998b, S. 52.

4.7  Computerwelt

schen Fortschritt: »[…] immer, wenn ein neues Instrument erscheint, gibt es einen Schritt nach vorne. Aber niemand wird wohl behaupten, daß J. S. Bach mit seinem wohltemperierten Klavier die Klaviermusik erfunden hat […].«738 Der Diskurs hinsichtlich der Bedeutung Kraftwerks für die elektronische Popularmusik fällt angesichts des mittlerweile einstimmig affirmativen musikjournalistischen Tenors aus heutiger Sicht wenig differenziert aus: Niemand aus der zweiten Generation der Electro-Musiker der 1980er Jahre würde den Einfluss Kraftwerks in Abrede stellen. Spätestens seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre, als Techno zum Überbegriff einer musikalischen Entwicklung wurde, deren Vielzahl an Genres durch ihre Produktionsmethoden, ihre musikalischen Charakteristika und ihre neue, sich stets verändernde Klangästhetik nach dem Abklingen des Grunge-Hype massiven Einfluss auf den Mainstream-Pop haben sollte, lässt sich anhand unzähliger Interviews und Publikationen aber auch der Eindruck gewinnen, dass es für viele Musiker dieser Zeit offensichtlich teilweise als unique galt, sich auf Kraftwerk zu berufen oder sie in ihrer musikhistorischen Einordnung zumindest als bedeutend zu erwähnen. Dieser Mythos künstlerischer Unantastbarkeit gipfelte seit den 2010er Jahren in einem selbst angestoßenen Prozess  – als Kraftwerk begannen, ihr Werk zu kanonisieren und multimediale Konzertreihen in den führenden Museen zeitgenössischer Kunst wie etwa dem Museum of Modern Art in New York, der Tate Gallery of Modern Art in London oder der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu veranstalten –, als dessen Höhepunkt der Ritterschlag in Form der Verleihung des Grammy Lifetime Achievement Award für das Lebenswerk Kraftwerks im Jahre 2014 stand. Dass die Zeichen für Kraftwerk nach der Veröffentlichung von Computerwelt allerdings keinesfalls so gut standen, wie die heutige journalistische und wissenschaftliche Retrospektive der Öffentlichkeit zuweilen glauben machen will,739 wird den folgenden Kapiteln zu entnehmen sein: So zeichnete sich in den 1980er Jahren ab – als sich die populäre elektronische Musik von den musikalischen Wurzeln Kraftwerks zu emanzipieren begann und zu einem maßgeblichen musikhistorischen Faktor entwickelte  –, dass Kraftwerk selbst zunehmend an den Rand der musikalischen Entwicklung gedrängt wurden und große Probleme bekommen sollten, Schritt zu halten, was eine lange Phase der Orientierungslosigkeit und des Stillstands nach sich zog. Eine die Gruppe in ihren personellen und musikalischen Grundfesten erschütternde Zeit, wie Karl Bartos rückbli-

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Bartos 1998b, S. 53. So bewertete der Kulturwissenschaftler Dirk Matejovski den geringen Output Kraftwerks in den 1980er Jahren auf recht schönfärberische Art als »kluge[n] Schachzug der produktionsästhetischen Verknappung«. Matejovski 2016, S. 27.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

ckend wenig positiv zusammenfasste: »Wir brauchten am Ende fünf Jahre, um das nächste Album fertigzustellen. In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre verloren wir schließlich den Blick auf unsere wirkliche musikalische Kompetenz.«740

4.8 »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café – der Übergang zur Digitalisierung der Studiotechnik

Wie das vorhergehende Kapitel im Schlussteil bereits vorweggenommen hat: In den 1980er Jahren trafen zahlreiche Faktoren aufeinander, die im Bereich der Popmusik zu einer ungeheuren Dynamik führten: Die Entwicklung der Studiotechnik – und dies schließt seit dem Aufkommen großer Musikcomputersysteme wie dem Fairlight oder dem Synclavier gegen Ende der 1970er Jahre immer auch die elektronische Klangerzeugung mit ein – stand wie alle technischen Entwicklungen durch die Markteinführung des ersten kommerziell vertriebenen Mikroprozessors der US-amerikanischen Firma Intel im Jahre 1971 unter dem Einfluss der Digitaltechnik. Die bis dato im Bereich der elektronischen Klangerzeugung gängige subtraktive Synthese wurde sukzessiv von neuen, digitalen Klangsyntheseverfahren wie etwa dem Sampling oder der FM-Synthese verdrängt, die das Klangspektrum um ein Vielfaches erweiterten. Gleichzeitig bestimmten elektronisch erzeugte Klänge zunehmend die Ästhetik des Mainstream-Pops, weshalb sich auch immer mehr große kommerzielle Tonstudios und Produzenten dieser neuen Technologien annahmen. Dies wiederum hatte zur Folge, dass eine Fülle neuer, elektronisch klingender Produktionen auf den Markt drang, die in Konkurrenz zu den wenigen, bis dato ein Nischendasein fristenden Akteuren elek­ tronischer Popularmusik wie etwa Kraftwerk trat und dadurch deren Alleinstellungsmerkmal zunichtemachte. All diese Stränge liefen parallel mit jeweils unterschiedlich stark gewichteten Wechselwirkungen ab, weshalb eine Betrachtung der Studioarbeit Kraftwerks in den 1980er Jahren mit den daraus resultierenden Veröffentlichungen der Gruppe nur schwer in einzelnen Kapiteln thematisch unterteilt abgehandelt werden kann – dazu sind Entwicklungen im Bereich der Technik und die sich analog dazu rapide verändernde, für Kraftwerk letztendlich als auditive Maßgabe dienende Klangästhetik der Popmusik in dieser Dekade zu stark ineinander verwoben. Dennoch soll als Ausgangspunkt der Untersuchung der Aspekt der Digitalisierung der Studiotechnik vorangestellt 740

282

Zit. n. Karl Bartos in: Hoffmann, Heiko: Karl Bartos: »Bei Kraftwerk haben wir zusammen gespielt wie Kinder«, in: Groove, 07.12.2017, https://groove.de/2017/12/07/karl-bartos-bei-kraftwerk-habenwir-zusammen-gespielt-wie-kinder/ (abgerufen am: 12.02.2021).

4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

werden, da diese überhaupt die produktionsästhetische Grundlage für sämtliche musikalische Entwicklungen ermöglichte. 4.8.1 Exkurs: Sampling und FM-Synthese – die digitale Revolution der 1980er Jahre Vom Voranschreiten der Halbleitertechnik begünstigt ermöglichten immer leistungsfähiger und günstiger werdende Mikroprozessoren gegen Ende der 1970er Jahre sukzessiv die Implementierung von rechnergesteuerten Prozessen, Automationen und der Speicherung von Daten auch in so datenaufwendigen Bereichen wie der Audiotechnik. Arbeiteten die Synthesizer der 1970er Jahre weitgehend mit IC-gesteuerter subtraktiver Synthese, bei denen die Klänge durch Filterung eines aus in der Regel aus Sägezahn-, Puls- respektive Rechteck-, Dreieck- und Sinuswellenformen zusammengesetzten Ausgangsmaterials generiert wurden, entwickelten ab etwa Mitte der 1970er Jahre die ersten Synthesizer-Hersteller rein digitale Klangsyntheseverfahren, die auf der Modulation beziehungsweise der Addition von Sinusschwingungen basierten. Als erstes diese Syntheseverfahren verbindendes Instrument gilt das Synclavier der US-amerikanischen Firma New England Digital (NED), welches in geringer Stückzahl als Synclavier I ab 1976 in Erscheinung trat und dann vor allem in der überarbeiteten Version als Synclavier II 1979 die Popmusik weltweit mit neuen Klängen versorgen sollte, auch wenn es angesichts seines enormen Preises741 nur den wenigsten Musikern zugänglich war. Grundlage war dabei die additive Synthese, welche auf dem Theorem des französischen Mathematikers Jean Baptiste Joseph Fourier beruhte, demzufolge sich alle noch so komplexen Schwingungsformen aus einzelnen Sinusschwingungen zusammensetzen lassen.742 Ein Klang, beim Synclavier auch »Timbre« genannt, setzte sich dabei aus bis zu vier »Partials« zusammen, die wiederum aus 24 sinusförmigen Teiltönen bestanden und damit die additiv generierte Grundwellenform lieferten. Diese konnte nun frequenzmoduliert werden, wofür die ursprünglich vom japanischen Synthesizer-Hersteller Yamaha patentierte und an NED lizensierte FM-Synthese743 zum Einsatz kam. Prinzipiell basierte diese auf der Frequenzmodulation von Sinusschwingungen, bei der im 741

742 743

Falk Hoffman: »[…] das Synclavier [kostete] in einer typischen Ausbaustufe meist deutlich über $ 100.000. […] In der Ausgabe des amerikanischen Keyboard-Magazins vom April 1986 ist von bis zu $ 500.000 die Rede.« Hoffman, Falk (Falconi): GREEN BOX: NED SYNCLAVIER II, SYNCLAVIER 9600 – TEIL 1, in: Amazona, 23.07.2016, https://www.amazona.de/green-box-ned-syn clavier-ii-synclavier-9600-teil-1/ (abgerufen am: 29.08.2020). Enders 1997, S. 145. Mix Staff: 1978 New England Digital Synclavier, in: Mix Online, 01.09.2006, https://www.mixonline. com/technology/1978-new-england-digital-synclavier-383609/383609 (abgerufen am: 29.08.2020).

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

einfachsten Falle bei einem aus zwei Sinusoszillatoren bestehenden sogenannten Operatorenpärchen die Frequenz des einen Sinusoszillators  – auch Träger genannt – mittels der Amplitude des zweiten Sinusoszillators – dem Modulator – moduliert wird. Bewegt sich die Frequenz des Modulators dabei noch im Infraschallbereich, ist diese Modulation als Vibrato wahrnehmbar; wird sie in den Audiobereich ausgedehnt, werden der ursprünglichen Wellenform dadurch neue Obertöne hinzugefügt, wodurch vor allem glockige, metallisch anmutende Klänge entstehen können. Beim Synclavier standen folglich mit den »Partials« vier dieser Operatorenpärchen zur Verfügung, bei denen sowohl der Träger als auch der Modulator mit separaten Lautstärkehüllkurven versehen waren, was bis dato ungehörte Klanglandschaften ermöglichte, die sich in ihrem Spektrum endlos zu bewegen schienen. Natürlich könnten solche Schaltungen auch mit Komponenten der subtraktiven Synthese realisiert werden – allerdings würde das eine enorme Anzahl an Oszillatoren und Hüllkurven erfordern, die zum einen selbst die größten Modularsysteme nicht bieten, und die zum anderen durch die analoge Bauweise niemals über die für die FM-Synthese nötige Stimmstabilität verfügen könnten, wie es im Gegensatz zur diskreten und daher absolut präzisen digitalen Klangerzeugung der Fall ist – solche Überlegungen wären also nur rein theoretischer Natur. Aufgrund der Komplexität brachte die additive Synthese des Synclaviers hinsichtlich der Bedienung allerdings eine Reihe von Nachteilen mit sich: Zum einen konnte die große Anzahl an Klangparametern nicht mehr separat in einem Bedienfeld untergebracht werden, so dass für die Programmierung in einer mehr oder weniger komplexen Menüstruktur zunächst jeder Partialton einzeln angewählt und die Werte eines jeden Parameters mittels eines globalen, mit einem Zahlendisplay versehenen Dateneingabereglers eingegeben werden mussten, während man bei der subtraktiven Synthese in der Regel gleichzeitig auf alle Klangformungsregler zurückgreifen und sich bei nicht programmierbaren analogen Synthesizern wie dem ARP Odyssey und dem Minimoog schnell einen Überblick über die Klangeinstellungen verschaffen konnte. Zum anderen gingen kleine Werteänderungen bei der FM-Synthese oft schon mit sehr großen Klangveränderungen einher, so dass selbst ein versierter Klangprogrammierer nur bedingt vorhersehen konnte, welche Auswirkungen die Parameterveränderungen auf das Klanggeschehen hatten. War das klangliche Ergebnis bei der subtraktiven Synthese mit etwas Übung intuitiv erfassbar, vorhersehbar und steuerbar, griffen daher viele mit der Synthesearchitektur des Synclaviers überforderte Musiker häufig auf die im Speicher des Instruments befindlichen sogenannten Werksklänge zurück. Von Herstellerseite war man sich dieses Problems durchaus bewusst, so dass das Synclavier über einen Anschluss für ein optionales, aus Monitor und alphanumerischer Tastatur bestehendes Terminal VT100 der Firma DEC

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4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

verfügte, mit dem sich neben der Möglichkeit komfortablerer Editierung etwa Hüllkurvenverläufe zum besseren Verständnis grafisch darstellen lassen konnten. Die Idee der Verwendung dieses Editierungsverfahrens wurde angesichts der Vielfalt der programmierbaren Parameter digitaler Klangsyntheseverfahren zeitgleich auch von anderen Herstellern aufgegriffen wie etwa der US-amerikanischen Firma Con Brio mit ihrem ADS-System, der italienischen Firma Crumar mit ihrem in Zusammenarbeit mit den Bell Labs entwickelten Modell GDS und natürlich dem Gegenstück des Synclaviers, dem Fairlight CMI. Da weder Con Brio noch Crumar kommerzieller Erfolg vergönnt war, bringt man retrospektiv mit der Verwendung von Eingabekomponenten aus der Computerindustrie im Bereich elektronischer Musikinstrumente in den 1980er Jahren allerdings immer die Firmen Fairlight und NED in Verbindung. Generell steht die aus der hohen Klangkomplexität hervorgehende schwierige Handhabung digitaler Synthesizer, welche in den 1980er Jahren trotz dieses Handicaps dennoch den Markt eroberten, repräsentativ für eine Entwicklung, die gegen Ende der 1960er Jahre begann: Wie in dieser Arbeit bereits diskutiert wurde, ging mit dem technologischen Fortschritt im Synthesizer-Bau und der Studiotechnik allgemein in den 1960er und 1970er Jahren eine immer deutlicher formulierte Anspruchshaltung an das Musikerportfolio bezüglich des Umgangs mit diesen Gerätschaften einher. Schon damals nahmen viele Musiker und Produzenten die Hilfe einiger weniger Experten in Anspruch, die wie Paul Beaver, Bernie Krause, Michael Boddicker oder auch Patrick Gleeson als Studiomusiker entweder die komplette Editierung und Programmierung der Synthesizer übernahmen oder ihre Klienten zumindest im Umgang mit dem Equipment schulten, was im Hinblick auf die intuitiv erlernbare subtraktive Synthese durchaus auf fruchtbaren Boden fiel. In den 1980er Jahren jedoch wurden durch die digitale Synthese die technischen Anforderungen hinsichtlich der Bedienung so groß, dass nur noch die wenigsten Akteure mithalten konnten744 und sich das Gros der Musiker mehr und mehr zu reinen Anwendern vorgefertigter Klänge wandelte, die nur noch von Experten programmiert werden konnten,745 obwohl die Hersteller dieser Diskrepanz durch Workshops zu begegnen versuchten, in denen geschulte Spezialisten der gerade im Hinblick auf die Musikcomputer exklusiven Käuferschaft746

744

Hier wäre der Ambient-Musiker und Produzent Brian Eno zu nennen, der als einer der wenigen Musiker galt, die in der Lage waren, selbst Klänge auf dem Yamaha DX-7 zu programmieren. Vgl. Tamm 1995, S. 69 f. 745 Ebd. 746 Hancock 2018, S. 219 f.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

die Instrumente nahezubringen versuchten.747 Da dies angesichts der Komplexität der Instrumente jedoch selten von Erfolg gekrönt war, entwickelte sich ein neuer Markt für Synthesizer-Experten und Sounddesigner, die sowohl für Studiosessions inklusive des Equipments engagiert werden konnten,748 als auch unabhängig von Musikproduktionen immer größer werdende Sound-Datenbanken zu programmieren begannen,749 welche dann von den Musikern und Studios gekauft und mittels Disketten oder Speicher-Cartridges in ihre Instrumente eingelesen werden konnten. In der Folge bestanden viele Produktionen der 1980er Jahre aus häufig verwendeten Standardklängen  – sogenannte Signature Sounds  – die im Vergleich zum Klangspektrum der 1970er Jahre zwar völlig neu waren, aber dennoch durch ihre vielfache Nutzung schnell an Originalität verloren.750 Allen Unwägbarkeiten zum Trotz aber entstanden ab Ende der 1970er Jahre eine Fülle neuer Klangsynthesekonzepte, die den Sound der 1980er Jahre maßgeblich von all dem absetzen ließen, was bis dato seit den 1950er Jahren im rock- und popmusikalischen Bereich klanglich erfahrbar gewesen war. Neben der FM-Synthese war es vor allem die Sampling-Technologie, die bis heute wie kein zweites Klangsyntheseverfahren die Textur und die Produktionsästhetik der Popmusik revolutioniert hat. Obgleich es mit dem Mellotron in den 1960er Jahren bereits ein Instrument gab, das mittels rudimentärer Technik in Form von auf Bandschleifen aufgezeichneter Instrumente akustische Klänge über eine Klaviatur spielbar machte,751 ist die Entwicklung des Samplings unmittelbar mit der australischen Firma Fairlight verbunden, die zeitgleich zum Synclavier II im Jahre 1979 mit dem Fairlight CMI einen Musikcomputer auf den Markt brachte, der die Möglichkeit des digitalen Samplings bot. Die Bezeichnung CMI stand dabei für Computer Musical

747

So etwa nahmen Ralf Hütter und Florian Schneider zusammen mit dem Toningenieur Fritz Hilpert, der als speziell für das Synclavier zuständiger Techniker eingestellt wurde, im Jahre 1987 an einem Workshop von NED in New York teil. Bartos 2017, S. 452. 748 Als prominentes Beispiel für externe Hilfe wäre hier Peter Gabriel zu nennen, der für das Album Melt den Fairlight-Entwickler Peter Vogel engagierte. So ist Vogels Tätigkeit im Booklet des Albums unter »Computer Musical Instrument« kreditiert. Auch die Pet Shop Boys kreditierten in den Booklets ihrer Alben immer wieder unter »Fairlight Programming« den Keyboarder Andy Richards, dessen Hilfe auch häufig von dem Produzenten Trevor Horn in Anspruch genommen wurde. Ferner bot die englische Firma Keyboard Hire einen Verleih von Instrumenten wie dem Fairlight CMI oder dem Synclavier inklusive den entsprechenden Technikern und Programmierern an. Jenkins, Marc: Hardware For Hire, in: mu:zines, http://www.muzines.co.uk/articles/hard ware-for-hire/3186 (abgerufen am: 10.10.2020). 749 Ebd. 750 Eines der signifikantesten Beispiele dafür ist der E-Piano-Werks-Sound des im Jahre 1983 auf den Markt gekommenen Synthesizers Yamaha DX7, der auf nahezu jeder Ballade der 1980er Jahre zu hören ist. 751 Ferner wären an dieser Stelle noch das Optigan oder das aus der Technologie des Optigans weiterentwickelte und u. a. von Kraftwerk benutzte Vako Orchestron zu nennen, welche aber ebenfalls als reine Abspielinstrumente vorgefertigter akustischer Klänge fungierten.

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4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

Instrument und definierte eine neue Instrumentengattung, in der mit der Klangsynthese und computergesteuerten Automationsprozessen mehrere Aspekte der Studioproduktion vereint wurden und daher die erste Generation von DAWs (Digital Audio Workstation) darstellte. So verfügte der auf dem 1976 vorgestellten Digitalsynthesizer Quasar M8752 basierende Fairlight CMI über additive Synthese, Sampling und Sequencing, deren Parameter wie erwähnt  – ähnlich wie beim Synclavier II  – bedienungsfreundlich über einen Monitor mittels einer alphanumerischen Tastatur und eines Lichtgriffels editiert werden konnten. Mit der Sampling-Technologie war es möglich, die Amplitude eines beliebigen Audiomaterials mittels eines A / D-Wandlers in sehr kurzen Zeitabständen digital zu erfassen und zu speichern.753 Die Genauigkeit der Abbildung des analogen Signals hängt dabei von der Bittiefe und der Abtastrate – auch Sample Rate genannt – ab; um eine originalgetreue Wiedergabe zu erreichen, muss gemäß des NyquistShannon-Abtasttheorems die Abtastfrequenz mindestens doppelt so hoch wie die Frequenz des gesampelten Materials sein.754 Bezogen auf den bis etwa 20 kHz reichenden Frequenzbereich des menschlichen Gehörs, etablierte sich daher in den 1980er Jahren als Industriestandard für CD-Qualität lange Zeit eine Samplingfrequenz von 44,1 kHz755  – das Audiomaterial wurde dementsprechend innerhalb einer Sekunde in 44.100 digitale Samples (englisch für »Probe«) zerlegt. Da die technische Entwicklung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit von Computerprozessoren und der Größe von Speichermedien gegen Ende der 1970er Jahre noch in den Kinderschuhen steckte, verfügte die erste, auf 6800-Prozessoren von Motorola basierende Generation des Fairlight CMI in Verbindung mit dem selbst entwickelten 8-Bit-A / D-Wandler lediglich über eine relativ niedrige Abtastrate von 20 kHz, die erst mit dem Fairlight CMI IIx im Jahre 1982 auf 30,2 kHz erhöht werden konnte, was zu einer spürbaren Verbesserung in der Wiedergabe im Höhenbereich führte.756 Auch wenn durch die geringe Auflösung den FairlightKlängen der ersten Stunde aus heutiger Sicht ein etwas roh anmutender Charme innewohnt, waren die Möglichkeiten dieses Klangsyntheseverfahrens zur damaligen Zeit revolutionär. Wurde die subtraktive Synthese in den 1970er Jahren teilweise zur mehr oder weniger gut geglückten Imitation von akustischen Instru752 753 754 755 756

Becker 1995, S. 85. Enders 1997, S. 293. Ebd., S. 13. Analog zur DVD-Technologie wird seit Anfang der 2000er Jahre je nach technischer Leistungsfähigkeit der Geräte auch eine Rate von 48 kHz oder 96 kHz verwendet. Becker 1995, S. 85. Mit dem Synclavier konnte mit der 1982 eingeführten Sample-to-Disc-Funktion allerdings schon in 16-Bit/50 kHz-Qualität gesampelt werden. Fuchs, Matthias: Tobias Enhus und sein Synclavier, in: Keyboards 03/2019, https://www.keyboards.de/equipment/tobias-enhusund-sein-synclavier/ (abgerufen am: 01.10.2020).

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

menten wie Bläser oder Streicher genutzt, war es nun möglich, diese – unter der Einschränkung der Größe der Abtastrate und der damit für das Obertonspektrum wichtigen Höhenwiedergabe – in für damalige Verhältnisse einzigartiger Qualität zu digitalisieren und zu reproduzieren: So konnte etwa der Klang einer Trompete mit einem Mikrofon aufgenommen und auf dem Keyboard gespielt werden – allerdings unter der Prämisse, dass das Sample durch Veränderung der Wiedergabegeschwindigkeit transponiert wurde, was die Veränderung der Formanten nach sich zog. Um diesem bei der Wiedergabe von Stimmen als »Micky-MouseEffekt«757 bezeichneten Problem zu umgehen, gab es allerdings die Möglichkeit der Re-Synthese, bei der das Sample digital analysiert und wieder zusammengesetzt wurde sowie mittels des Lichtgriffels in seiner Obertonstruktur verändert, geloopt oder rückwärts abgespielt werden konnte. Auch wenn das klangliche Ergebnis mit der heutigen Sample-Qualität nicht zu vergleichen ist, und die maximale Abtastzeit bei höchster Abtastrate pro Stimme lediglich ca. 500 ms betrug,758 veränderte der Fairlight CMI – wie auch das Synclavier – in vielerlei Hinsicht sowohl studiotechnische Arbeitsprozesse als auch das Klangspektrum respektive das eigentliche Material der Popmusik. Erforderten auf Tonband basierende Klangcollagen wie etwa bei der Arbeit Delia Derbyshires für An Electric Storm im Jahre 1969 noch aufwendiges Schneiden und Kopieren von Bandmaterial, konnte man nun mit einfachsten Mitteln eine große mittels eines 8"-Diskettenlaufwerks speicherbare Klangbibliothek erstellen, sie spielen und / oder mittels des mit einer Kapazität von 50.000 Noten für die damalige Zeit sehr großen 8-spurigen Sequenzers komfortabel am Bildschirm, der Lauflichtprogrammierung der TR-808 ähnlich, zu einem Arrangement zusammensetzen  – eine Funktion, die auch im Synclavier vorhanden war: Hier umfasste der Sequenzer sogar 32 Spuren, deren Handhabung zwar nicht so komfortabel wie beim Fairlight CMI ausfiel, dagegen aber eine Notationsfunktion beinhaltete. Lange bevor die Firma Korg mit dem M1 im Jahre 1988 den Grundstein der Music Workstations legen sollte, definierten das Synclavier und der Fairlight durch die Fusion von Klangsynthese und gleichzeitiger Mehrspuraufnahmemöglichkeit eine neue Gattung von Musikcomputern, die die verschiedenen Elemente des Aufnahmeprozesses in sich vereinten. Dabei markierten die beiden Systeme in den 1980er Jahren durch die stete Entwicklung von Upgrades und / oder neuen Geräteversionen mit Funktionen wie bis zu 96-stimmiger Polyphonie, polyphonem Sampling oder sogar Harddisk-Recording stets das technisch Machbare der damaligen Zeit, ohne dabei auf Kosten zu achten: So betrug bereits der Grundpreis des Synclavier 757 758

288

Vgl. Ruschkowski 1998, S. 341. Becker 1995, S. 89.

4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

9600 im Jahre 1989 $ 148.108, welcher sich durch zahlreiche Ausbaumöglichkeiten problemlos auf über das Doppelte erhöhen ließ.759 In den 1980er Jahren kam kaum ein großes Studio ohne eines der Systeme aus, wobei – obwohl die Wahl zwischen Fairlight CMI und Synclavier mitunter glaubenskriegsähnlich geführt wurde760  – Produzenten wie etwa Trevor Horn gleich über beide Systeme verfügten. Dennoch ist zu konstatieren, dass in der kurzen Zeitspanne der Jahre 1979–82 aus klanglicher Hinsicht der Fairlight CMI durch das Alleinstellungsmerkmal des Samplings die Textur der Popmusik doch am meisten verändert hat, bevor NED mit einer Sampling-Funktion für das Synclavier II 1982 nachzog. Angesichts des hohen Preises waren es dann zunächst auch nur etablierte Stars wie etwa Stevie Wonder, Herbie Hancock, Peter Gabriel oder Jean-Michel Jarre, die sich die erste Generation des Fairlight CMI zulegten;761 vor allem letztere beiden Musiker haben sich damit gegen Anfang der 1980er Jahre um Klangwelten verdient gemacht, die es in der populären Musik bis dato nicht zu hören gab. JeanMichel Jarre erweiterte auf seinem 1981 veröffentlichten Album Magnetic Fields den hinlänglich bekannten, bis dato hauptsächlich auf Klangflächen und Sequenzen analoger Synthesizer bestehenden Ansatz der elektronischen Ambient Music wie etwa noch bei Tangerine Dream oder Klaus Schulze um kühle, obertonreiche Digital-Sounds, um Samples aller Art – etwa Sprachsamples und Umweltgeräusche und vor allem um aus Samples zusammengefügte Sequenzen. Bei Peter Gabriel kam der Fairlight auf dem 1980 veröffentlichten, mit Peter Gabriel respektive Melt betitelten dritten Soloalbum762 – erstmalig in einer Popproduktion überhaupt  – zum Einsatz, ein Werk, das in Teilen als Brückenglied der Klangwelt der populären Musik der 1970er Jahre und der der 1980er Jahren gelten kann, da es einige neue produktionsästhetische Elemente enthielt, die nachhaltige Bestandteile der Rock- und Popmusik der 1980er Jahre geworden sind: Dies betrifft etwa die Abmischung der Drums im ersten Stück »Intruder«, die mit einem großen, aber gleichzeitig mit einem Noise Gate versehenen Hallanteil bearbeitet wurden – eine Effektanordnung, die sich in den 1980er Jahren in fast allen Rock- und Popstücken hinsichtlich des Schlagzeug-Sounds zum klangäs759 760

761 762

Meyer, Chris: The Synclavier Story (Part 1), in: mu:zines, http://www.muzines.co.uk/articles/thesynclavier-story/97 (abgerufen am: 02.09.2020). Im Falle der Gruppe The Police wurde dieser Kampf sogar innerhalb einer Band geführt: Während der Sänger und Bassist Sting mit dem Synclavier arbeitete, verwendete der Schlagzeuger Stewart Copeland zeitgleich im Studio den Fairlight CMI. Garbarini, Vic: Guitar World, 09.04.2003, https://www.sting.com/news/title/guitar-world (abgerufen am: 25.09.2020). Hancock 2018, S. 219 f. Die ersten vier Soloalben Gabriels wurden durchweg nur mit seinem Namen betitelt, weswegen durch die Fans und den Musikjournalismus vom jeweiligen Cover abgeleitete Albenbezeichnungen zur Unterscheidung geprägt wurden. Das dritte Album trägt daher in Anlehnung an das auf dem Cover abgebildete zerfließende Konterfei Gabriels den Namen Melt.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

thetischen Konsens entwickeln sollte. Ähnliches gilt für den Einsatz von Stabspielen und der Implementierung von außereuropäischen Musikelementen – auf Melt vor allem mit afrikanischen Reminiszensen  –, die hier erstmalig durch den Erfolg des Albums763 einem größeren Publikum zuteilwurden und damit der sogenannten Weltmusik und ihren Künstlern zu großer Akzeptanz im angloamerikanisch geprägten popularmusikalischen Kontext und damit zu einem Durchbruch auf der internationalen Bühne in den 1980er Jahren verhelfen konnte. Als dritter Baustein visionärer Klangvorstellungen für die 1980er Jahre ist natürlich die bereits erwähnte Verwendung des Fairlight CMI zu nennen, dessen klangliche Möglichkeiten Gabriel so begeisterten, dass er nicht nur als einer der ersten Musiker in England ein solches Instrument erwarb, sondern fortan auch den Vertrieb von Fairlight im Vereinten Königreich übernahm.764 Obgleich der Fairlight CMI nur vereinzelt in den musikalisch schon feststehenden Songs – sowohl durch Samples akustischer Instrumente wie Streicher und eines Dudelsacks als auch in Form von Samples von Umweltgeräuschen – als klangliches Additiv eingesetzt wurde,765 kündigte dies bereits das Potenzial des Geräts an – wie etwa auch auf dem kurz nach Melt veröffentlichten Album Never for Ever von Kate Bush, welche auf Melt als Background-Sängerin mitwirkte und so mit dem Fairlight CMI in Berührung kam, oder eben auf Jean-Michel Jarres Album Magnetic Fields – und ließ erahnen, in welche Richtung sich die Klangästhetik der Rock- und Popmusik entwickeln sollte: Sampling und digitale Synthese wurden fortan zu einem zen­ tralen Bestandteil des Sounds der Popmusik der 1980er Jahre. 4.8.2 Erste Demo-Versionen und die Single »Tour de France« Dass nach Abschluss von Computerwelt die Produktion von Techno Pop bis zu ihrer Veröffentlichung unter dem in Electric Café766 geänderten Titel im Herbst 1986 letztendlich fünf Jahre in Anspruch genommen hatte, ist wie bereits erwähnt in weiten Teilen der in den 1980er Jahren in der Popmusik allgemein vollzogenen Umstellung von Analog- auf Digitaltechnik geschuldet, die im Falle Kraftwerks zu künstlerischer Unsicherheit und dem daraus folgenden permanenten Revidieren der Aufnahmen führte. So äußerte sich Ralf Hütter wie folgt: 763 764 765 766

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Gabriel, Peter: Melt, https://en.wikipedia.org/wiki/Peter_Gabriel_(1980_album) (abgerufen am: 25.02.2021). Easlea 2018, S. 196. Gabriel nahm dabei die Hilfe des Fairlight-Entwicklers Peter Vogel in Anspruch, dessen Tätigkeit im Booklet von Melt unter »Computer Musical Instrument« kreditiert ist. Easlea 2018, S. 196. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird in der folgenden, chronologisch angelegten Abhandlung das Album bis zur eigentlichen Umbenennung im Jahre 1986 zunächst Techno Pop und ab dann schließlich Electric Café genannt.

4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

»Diese ›Techno Pop‹-LP war quasi fertig, aber wir haben sie dann neu bearbeitet. Die fiel so in dieses Übergangsstadium von Analog-Bändern zu Digital-Technik. Als alles umrüstete und wie verrückt Sampling einsetzte, waren wir unentschlossen, und so hat sich das verzögert.«767

Durch den ständigen Zugzwang der Gruppe in Bezug auf die rasche technische Entwicklung in der Musikelektronik sowie der stark wachsenden musikalischen Konkurrenz auf dem Popmarkt zerfaserte sich der Aufnahme- und Abmischprozess immer mehr, so dass bis zur Veröffentlichung laut Karl Bartos über 750 Produktionstage nötig waren.768 Da das Geschehen in der Popmusik der 1980er Jahre die Produktion von Techno Pop massiv beeinflusste, ist es notwendig, das Album in zwei Abschnitten zu diskutieren: Zuerst sollen daher zunächst die ersten DemoAufnahmen, welche an die Produktionsästhetik von Computerwelt anknüpften, sowie die im Jahre 1983 veröffentlichte und mit »Tour de France« betitelte Singleauskopplung diskutiert werden. In dieser Zeit etwa setzen bei Kraftwerk erste Zweifel hinsichtlich der Produktionsqualität ihrer bis dato für Techno Pop angefertigten Aufnahmen ein, weshalb das für 1983 angekündigte Album769 wie erwähnt in dieser Form nicht veröffentlicht wurde. Da das letztendlich auf Electric Café veröffentlichte Material ab diesem Zeitraum immer wieder klanglichen Umwälzungen unterzogen wurde, die als Reaktion auf die musikalischen Moden der damaligen Zeit zu verstehen sind, ist es notwendig, in der Analyse des Albums hier eine Zäsur zu setzen und sich die Klangästhetik der Popmusik in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zu vergegenwärtigen, bevor dann das eigentliche Album Electric Café analysiert und diskutiert werden kann, obgleich auch hier immer Bezüge zum damaligen Musikgeschehen vonnöten sind. Gemäß den eben dargelegten Überlegungen liegt der Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung im Jahre 1981 nach der Veröffentlichung von Computerwelt. Der Vormarsch der Digitaltechnik in der Popmusik ist zum damaligen Zeitpunkt von Kraftwerk – angesichts der Technikaffinität der Gruppe wenig verwunderlich – natürlich nicht unbemerkt geblieben. Dennoch wurde Computerwelt noch durchgängig bis zur Veröffentlichung – immerhin zwei Jahre nach dem Erscheinen des Synclaviers und des Fairlight CMI im Jahre 1979 – bis auf wenige Ausnahmen wie etwa die Verwendung des Eventide Digital Delays oder des Roland MC-8 Microcomposers mit analogen Studiokomponenten produziert und aufgenommen. Selbst für die darauffolgende Computerwelt-Tour wurde kein wei767 768 769

Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Frontpage, 1991, http://kraftwerk.technopop.com.br/ interview_96.php (abgerufen am: 13.05.2009). Bartos 2017, S. 433. Ebd., S. 412.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

teres digitales Equipment angeschafft. Allerdings erstand Florian Schneider für die sich direkt an die Konzerte in Asien anschließenden Recordingsessions zu Techno Pop im Herbst 1981 mit dem Emulator der Firma E-mu Systems den gerade neu auf dem Markt erschienenen ersten, im Verhältnis zum Fairlight CMI verhältnismäßig kostengünstigen Digitalsampler,770 mit dem bereits im Herbst 1981 noch vor der folgenden Deutschland-Tournee intensiv gearbeitet wurde.771 Als musikalisches Grundmaterial dieser Klangexperimente dienten Stücke, die 1978–80 während der Writing Sessions zu Computerwelt entstanden sind,772 auf dem Album aber keine Verwendung fanden. Davon wird von Karl Bartos namentlich allerdings nur »Tour de France«  – ehemals »Technicolor«  – sowie eine im Jahre 1980 entstandene, unter dem Titel »Italo-Disco« firmierende Melodie, die Grundlage des Stückes »Der Telefon Anruf« werden sollte, erwähnt.773 Auch als die eigentlichen Writing Sessions zum Album im Februar 1982 fortgesetzt wurden, blieb sich die Gruppe hinsichtlich ihrer auf der gemeinsamen Improvisation gestützten Kompositionsmethode in Verbindung mit dem Synthanorma-basierten Analog-Sequencing treu.774 Die kompositorische Herangehensweise war nach wie vor Pattern-orientiert: So nahmen Kraftwerk zahlreiche Versionen auf, bei denen die kompositorische Grundidee immer wieder neu aufgegriffen und variiert wurde.775 In die gleiche Zeit fällt sowohl das Stück »Sex Objekt« als auch das Titelstück des Albums, »Techno Pop«. Die einzigen klanglichen Anhaltspunkte aus dieser Phase, die hier als Grundlage einer musikalischen Analysen dienen können, sind die 1983 veröffentlichte Single »Tour de France« sowie im Internet kursierende Demo-Versionen von »Techno Pop« und »Sex Objekt«, welche durchaus als authentisch gelten können, da sie unverkennbar Gesangsspuren von Ralf Hütter enthalten, die auf den späteren Album-Versionen nicht zu hören sind.776 Zwar ist das Entstehungsjahr im Internet mit 1983 angegeben – dieses lässt sich aber nicht verifizieren. Lediglich die in Karl Bartos’ Autobiografie enthaltenen Angaben zum Entstehungsprozess der Stücke lassen den möglichen Entstehungszeitraum zumindest eingrenzen. Die doch eher unterdurchschnittliche Qualität des Mixes, die nur wenig verschiedenen Klangfarben sowie die Fade-Outs bei

770 771 772 773 774 775 776

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Der Fairlight CMI kostete je nach Ausbaustufe zwischen $ 25.000 und $ 36.000, das im Jahre 1982 erschienene Nachfolgemodell Fairlight CMI IIx $ 32.000. Vail 2000, S. 215. Der Emulator I kostete zur Markteinführung 1981 $ 9.995. Ebd., S. 223. Bartos 2017, S. 386 ff. Ebd., S. 388 und 405. Ebd., S. 388 und 405 f. Ebd., S. 396 f. Ebd., S. 397. Kraftwerk: Kraftwerk  – Techno Pop (Démos) [1983], https://www.youtube.com/watch?v=khi_ Z3UeYWA (abgerufen am: 19.10.2020).

4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

beiden Stücken lassen vielmehr den Schluss zu, dass es sich dabei um die von Bartos als »rudimentär« bezeichneten Versionen handelte, die im April 1982 dem kurzfristig wieder in Deutschland verweilenden Emil Schult vorgespielt wurden.777 Mit Schult wurde daraufhin eine erste Textversion von »Techno Pop« erarbeitet. Ob es sich dabei lediglich um die auf der Demo-Version zu hörenden Textfragmente »Music nonstop – Techno Pop« und »Synthetic electronic Sounds, indus­ trial Rhythms all around« handelt – was darauf schließen lassen würde, dass die im Internet kursierenden Demo-Aufnahmen möglicherweise im Anschluss erfolgt sind –, oder ob diese bereits um weitere, auf der Studioversion enthaltene Textelemente komplettiert wurden – was für eine frühere Datierung der DemoVersionen spräche –, kann nicht belegt werden. Ganz sicher sind sie aber vor der, wenn auch erfolglosen, Mixing-Session mit dem Produzenten und DJ François Kevorkian in New York im November 1983 entstanden – ein professioneller Studiomix dieser Größenordnung hätte ein qualitativ wesentlich besseres Ergebnis zutage gefördert. Musikalisch knüpfen die Demo-Versionen von »Techno Pop« und »Sex Objekt« an die Klangästhetik von Computerwelt an. Die den beiden Stücken zugrunde liegenden Drumpattern bestehen aus zwei sich minimal durch einen hinzugefügten Bassdrum-Schlag unterscheidenden Takten. Erfolgt dies bei »Sex Objekt« streng zweitaktig, wird der Bassdrum-Schlag im Falle von »Techno Pop« allerdings nach keinem festen Taktraster hinzugefügt, so dass man hier eher von einer Eintaktigkeit mit sukzessiv erfolgenden, minimal gehaltenen Breaks sprechen muss. Generell sind die Bassdrum-Schläge in synkopierten Mustern gesetzt, wobei auf den Zählzeiten 1 und 3 im Gegensatz zur Electro-Ästhetik von »Nummern« oder »Computerwelt 2« immer ein Schlag erfolgt. Die Snaredrum bildet auf den Zählzeiten 2 und 4 einen gleichbleibenden Backbeat. Die Drumsounds wurden allerdings nicht mehr ausschließlich wie auf Computerwelt mit Klängen analoger Synthesizer, sondern zusätzlich mit Drumcomputern erzeugt, die sich wie im Falle der TR-808 mittlerweile im Besitz der Gruppe befanden.778 Zusätzlich werden dem Backbeat White-Noise-Klänge sowie bei »Techno Pop« ein wahrscheinlich mit dem Emulator erzeugtes atemähnliches Geräusch hinzugefügt. Auch sind erstmals Hi-Hat-Pattern zu vernehmen, die sehr wahrscheinlich mit Drumcomputern generiert wurden. Speziell bei »Techno Pop« sind diese im Panorama verteilt, so dass sich auch in Verbindung mit der analogen, an den bekannten »Zap«-Klängen orientierten und mit Delay versehenen synthetischen Perkussion ein Klangbild einstellt, das sich von der zuweilen etwas spröden 777 778

Bartos 2017, S. 400. Ebd., S. 401.

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Ästhetik der mit subtraktiver Synthese erzeugten Schlagzeugklänge von Die Mensch-Maschine und Computerwelt absetzt und daher unverkennbar den frühen 1980er Jahren zuzuordnen ist. Formal betrachtet sind die Stücke Pattern-artig angelegt: So besteht »Techno Pop« etwa aus einer auf bb-Moll basierenden zweitönigen Melodie, die aus dem mittels synthetischer Sprache erzeugten Satz »Music nonstop  – Techno Pop« besteht und später mit einer von Ralf Hütter mehr gesprochenen als gesungenen, ebenfalls nur aus zwei verschiedenen Tönen bestehen Melodie angereichert wird. Als diese Teile verbindendes, kompositorisch sinnstiftendes Element erfolgt jeweils eine auf Karl Bartos zurückgehende, nach eigener Aussage an Claude Debussy orientierte, in Dur gehaltene Melodie,779 die von C-Dur über Ab-Dur und F-Dur nach Db-Dur gerückt wird. Klanglich basiert sie auf dem Choir-Sound des Vako Orchestrons, was durch die diatonische Melodieführung und die Anreicherung um die Sexte in der Rückung nach Db-Dur starke Assoziationen mit dem Stück »Europa Endlos« weckt – vor allem in der letzten Wiederholung, wenn eine auf Dur-Dreiklängen aufgebaute Synthanorma-Sequenz hinzugeführt wird. In der finalen, auf Electric Café veröffentlichten Version ist diese Melodie aber gestrichen worden, so dass lediglich das Drumpattern und die beiden Sprachfragmente erhalten geblieben sind. Ähnlich linear ist »Sex Objekt« aufgebaut. Hier bildet eine diatonisch über e-Moll verlaufende Synthanorma-Sequenz die Basis des Stückes, welche mit Ralf Hütters wie bei »Techno Pop« nur aus zwei verschiedenen Melodietönen bestehendem Gesang angereichert wird. Wie so oft bei Kraftwerk folgt darauf anstatt eines gesungenen Refrains eine Synthesizer-Hookline,780 die aus pentatonischen Tönen besteht. Im Falle von »Sex Objekt« wird diese sehr wahrscheinlich mit dem Polymoog gespielt. Als neue Klangfarbe gesellt sich allerdings mit einem SlapBass-Sound ein Preset-Sample des Emulators hinzu, welches als melodisches Additiv zur Hookline verwendet wird. Die Klangfarbe schien zum damaligen Zeitpunkt allerdings so interessant gewesen zu sein, dass sie neben dem Drumpattern im Zwischenteil als einziges Instrument in Form eines lediglich dreitönigen, ebenfalls auf der Pentatonik beruhenden Motivs erklingt. Ebenfalls wird von der Sample-Funktion des Instruments Gebrauch gemacht, in dem einzelne Worte gesampelt und collagenartig in das Stück eingebaut werden. Da es sich bei beiden Stücken nur um Demo-Versionen handelt, die in dieser Form nie veröffentlicht wurden, erfordert ihre Bewertung eine gewisse Nach779 780

294

Ebd., S. 397. Laut Karl Bartos stammt die Hookline von ihm selbst, während Ralf Hütter den Text geschrieben hat. Ebd., S. 398,

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sicht. Sie sind zu spärlich instrumentiert und formal zu wenig ausgearbeitet, als dass sie einen tieferen Eindruck der damaligen Fähigkeiten hinsichtlich des Klangdesigns Kraftwerks vermitteln können. Schon die Verwendung von Fade-Ins und Fade-Outs dokumentiert, dass es sich dabei nur um Momentaufnahmen des Arbeitsprozesses der Gruppe handeln kann. Es lässt sich an ihnen zumindest ersehen, dass sie eine Fortführung des Synthanorma-basierten Kompositionskonzeptes sind, welches neben Pattern-artig aneinandergereihten Sequenzen nun auch durch den Emulator und die Verwendung von Drumcomputern die Klangästhetik der 1980er Jahre aufzugreifen versucht, obgleich hinsichtlich der Melodien und der Vokalfragmente unverkennbar der Geist der vorherigen Alben durchscheint – was auch Ralf Hütters Aussage, nicht besonders flexibel sein zu können,781 bestätigt. Die Abmischung der Aufnahmen hinterlässt jedoch einen zwiespältigen Eindruck. Natürlich sind die produktionstechnischen Möglichkeiten gegen Anfang der 1980er Jahre nicht mit denen heutiger computerbasierter DAWs zu vergleichen, bei denen mit wenigen Mausklicks in Kürze externe Effekte eingebunden und automatisiert werden können,782 was früher nur durch mehr oder weniger umständliche Routing-Maßnahmen möglich war. Ein Aufwand, den man sich 1982 bei einer Demo-Version wahrscheinlich eher erspart hätte. Zumindest bei den Drum-Spuren von »Techno Pop« ist aber deutlich zu vernehmen, dass Kraftwerk sehr wohl versucht haben, diese so weit wie möglich auszuproduzieren. So werden speziell die Hi-Hat-Spuren penibel im Panorama verteilt und mit kleinen Tiefpassfilterverläufen versehen. Auch die verschiedenen, mittels analoger Synthesizer erzeugten Perkussionsspuren werden permanent moduliert und durch unterschiedlich starke Delays bearbeitet, die dadurch sehr lebendige Drumbreaks und insgesamt ein Drumpattern erzeugen, dessen klangliche Vielfalt den auf »Planet Rock« basierenden Pendants des Electrofunk bis Mitte der 1980er Jahre überlegen ist. Diese produktionstechnische Sorgfalt entfällt aber bezüglich der Abmischung. So sind bei »Techno Pop« alle Drum-Spuren mit Hall versehen, die ein diffuses, nicht besonders gut aufeinander abgestimmtes Klangbild entstehen lassen. Sicherlich ist dies zu gewissen Teilen dem Demo-Charakter der Stücke geschuldet. Angesichts der sonst detailverliebten Klangbearbeitung kann dies aber auch ein Indiz für die mangelnde Kompetenz Kraftwerks hinsichtlich der Abmischung von Klängen sein. Bei »Sex Objekt« wurde beispielsweise weitgehend auf künstliche Räume verzichtet, was wiederum einen eher dürftigen und trockenen Eindruck hinterlässt. Generell werden bei beiden Stü781 782

Hütter, Ralf: Elektronischer Lebensstil – Ralf Hütter im Interview mit Dankmar Isleib, Musikexpress, 1981, https://www.thing.de/delektro/www-eng/kw5-81.html (abgerufen am: 03.01.2021). Vgl. Kap. 5.4.

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cken sämtliche Spuren einfach übereinandergeschichtet, ohne dass etwa der Problematik von Frequenzüberlappungen Rechnung getragen oder zum Beispiel durch Hervorhebung von einzelnen Klängen mittels Kompression der Versuch unternommen wurde, eine transparente und lebendige Mischung zu produzieren. Dass das Mixing der Gruppe zunehmend Schwierigkeiten bereitete, dokumentiert die Single-Veröffentlichung »Tour de France«, die neben den Demo-Aufnahmen bis zur Veröffentlichung von Electric Café im Jahre 1986 das einzige akustische Zeugnis der nächsten Jahre sein sollte. Wie erwähnt entstand »Tour de France« während der Writing Sessions zu Computerwelt und wurde in dieser Zeit unter dem Arbeitstitel »Technicolor« geführt.783 Maßgeblich verantwortlich für die Umbenennung des Titels ist die ursprünglich gegen Ende der 1970er Jahre von Florian Schneider ausgehende Begeisterung für den Radsport, die im Jahre 1979 in der von Schneider und Hütter gegründeten sogenannten »Radsportgruppe« mündete.784 Diese auch aus dem Freundeskreis Schneiders und Hütters bestehende Gruppierung sollte fortan großer Bestandteil der Freizeitaktivitäten Kraftwerks werden, was laut Karl Bartos und Wolfgang Flür angesichts des für das Radfahren notwendigen Zeitaufwandes negative Auswirkungen auf das Gruppengefüge und die Arbeitsmoral Kraftwerks hatte: Nach Ansicht Wolfgang Flürs habe der besonders bei Ralf Hütter ausgeprägte »Fahrradfanatismus die Gruppe desillusioniert und entzweit«.785 Darüber hinaus erlitt Ralf Hütter im Mai des Jahres 1982 einen schweren Radunfall, der den Arbeitsprozess an Techno Pop allerdings offenbar nur marginal beeinträchtigte, obgleich die negativen Auswirkungen des Unfalls von den Mitgliedern Kraftwerks unterschiedlich bewertet wurden.786 In jedem Falle schien die Radleidenschaft so ausgeprägt zu sein, dass sie als musikalisches Sujet infrage kam. Der französische Text des Stückes, welcher ohne vocoderisierte oder synthetische Sprache ausschließlich in Form von Ralf Hütters Gesang aufgenommen wurde, entstammte Hütter und Maxime Schmitt und behandelte verschiedene Aspekte der »Tour de France« wie etwa einzelne 783 784 785 786

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Bartos 2017, S. 388. Ebd., S. 307 ff. Ebd., S. 309 f. und 402 f. Flür 1999, S. 274. Zur Schwere des Radunfalls gibt es divergierende Aussagen. Wolfgang Flür äußerte, dass die Rekonvaleszenz »mehrere Wochen« in Anspruch genommen und sich deshalb auch die Veröffentlichung des Albums in die Länge gezogen hätte. Es sei ferner danach nichts mehr wie vorher gewesen. Ebd., S. 257. Esch 2014, S. 358. Selbst Karl Bartos äußerte sich im Jahre 1998 dahingehend, dass der Sturz so schlimm gewesen sei, dass es ein Jahr gebraucht hätte, um die Arbeit am Album wieder aufzunehmen. Barr 1998, S. 170. In seiner fast 20 Jahre später erschienenen Biografie gibt Bartos allerdings an, dass Hütter im Juni wieder genesen sei. Hinweise darauf, dass der Unfall sich negativ auf die Produktion von Techno Pop auswirkte, finden sich dort nicht mehr. Bartos 2017, S. 400 f.

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Etappen, Reifenpannen oder den Zielsprint. Obgleich Karl Bartos die Autorschaft des Stückes für sich reklamiert,787 zeigt sich anhand der Hauptmelodie, dass es Kraftwerk mit der Adaption fremder musikalischer Ideen und deren Kreditierung ein weiteres Mal nicht allzu genau genommen haben. Wie schon bei »Die Stimme der Energie« wird auch hier verschwiegen, dass das zentrale der Komposition zugrunde liegende Motiv auf eine externe Quelle zurückgeht. So entspricht das viermal hintereinander in leichten Variationen erfolgende Hauptmotiv von »Tour de France« mit Ausnahme der letzten beiden Töne sowohl melodisch als auch rhythmisch der Anfangsmelodie der von Paul Hindemith im Jahre 1936 komponierten »Sonate für Klavier und Flöte«. Diese Tatsache ist durch den Musikjournalismus mittlerweile an die Öffentlichkeit gedrungen  – umso mehr verwundert es, dass selbst auf späteren Wiederveröffentlichungen des Stückes Hindemiths Name stets verschwiegen wird, obwohl dies aus urheberrechtlicher Sicht angebracht wäre.788 Betrachtet man nun den formalen Aufbau des Stückes, fällt auf, dass das Hindemith-Motiv als melodische Hookline fungiert, welche alternierend zu den harmonisch zwischen einem geschlechtslosen G und F-Dur wechselnden Strophen erscheint. Aufgebrochen wird dieses Muster durch die perkussive Einleitung, welche nach der zweiten Strophe noch einmal wiederholt wird. Mit der Funktionalisierung von mehr gesprochenem als gesungenem Text als Strophe und einer mit dem Synthesizer gespielten Hauptmelodie als Refrain begegnet man hier abermals bekannten formalen Stilelementen Kraftwerks. Was das Stück besonders macht, ist allerdings seine Klangästhetik: Obwohl äußerst spärlich instrumentiert, leitet es im Œuvre Kraftwerks eine neue Phase ein, da die melodischen Hauptsegmente ausnahmslos mit digitalen und recht obertonreichen Klängen

787 788

Arnold 2009. Wer von den kreditierten Autoren – Hütter, Schneider, Bartos – nun den Anstoß zur Verwendung des Sonatenthemas gab, ist nicht zu eruieren. Die Verwendung eines aus der ernsten Musik entnommenen Themas – noch dazu in der Besetzung Flöte und Klavier – ließe möglicherweise auf Florian Schneider schließen, der eventuell im Rahmen seines Flötenunterrichts mit Hindemiths Werk in Berührung gekommen sein könnte. Dirk Matten vom Synthesizerstudio Bonn führt in einer Rezension der Autobiografie Karl Bartos’ an, dass die Idee von Bartos gekommen wäre und dies Hütter und Schneider einen »beträchtlichen finanziellen Schaden einbrachte«. Allerdings ist diese Aussage mit Vorsicht zu bewerten, da es bezüglich der Deutungshoheit über die Geschichte Kraftwerks zwischen den Parteien Hütter und Schneider sowie den Einzelpersonen Bartos und Flür zu juristischen Streitigkeiten gekommen ist und Dirk Matten durchaus als auf der Seite von Hütter und Schneider stehend zu bezeichnen ist, wie man seinen negativen Äußerungen bezüglich Bartos und Flür in diversen Foren entnehmen kann. Vgl. sequencer.de: Autobahn von Kraftwerk?!, https://www.sequencer.de/synthesizer/threads/autobahn-von-kraftwerk.5211/ (abgerufen am: 20.10.2020). amazon.de: Der Klang der Maschine: Autobiografie, https://www.amazon.de/productreviews/3847906178/ref=acr_dp_hist_1?ie=UTF8&filterByStar=one_star&reviewerType=all_ reviews#reviews-filter-bar (abgerufen am: 20.10.2020).

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Bsp. 25: Kraftwerk: »Tour de France«, Synthesizer-Hookline

realisiert werden. In Verbindung mit der vordergründig in Dur gehaltenen Harmonik entsteht dadurch ein außergewöhnlich fröhlicher Klangeindruck. Innerhalb der Geschichte Kraftwerks kann man »Tour de France« als produktionstechnisches Brückenglied ansehen: Auf der einen Seite basieren das an »Nummern« angelehnte, 132 bpm schnelle Electro-Drumpattern sowie die Basslinie weitgehend auf den von Computerwelt bekannten Synthanorma-Sequenzen, was besonders an der die Hi-Hat-Spur ersetzenden, mit dem »Zap«-Sound realisierten Percussion-Spur deutlich wird  – wobei zumindest die Bassdrum sehr wahrscheinlich mit dem Linn LM-1 Drumcomputer erzeugt worden ist. Auf der anderen Seite dominieren hinsichtlich der Melodiesegmente die digitalen Klänge des Emulators. Mit der Verwendung des von »Sex Objekt« bekannten Slap-BassPresets und eines arpeggierten Harfen-Samples verwenden Kraftwerk außerdem erstmals seit Autobahn wieder instrumentale Klangfragmente, deren ursprüngliche Herkunft außerhalb des Spektrums rein elektronisch generierter Klänge zu finden ist. Fernab vorgefertigter Werksklänge kommt bei »Tour de France« aber auch die Sampling-Funktion des Emulators zum Einsatz. So sind in der Einleitung und dem Zwischenteil Atemgeräusche von Ralf Hütter zu hören, die rhythmisiert in das Drumpattern eingearbeitet sind. Weitere akustische Reminiszenzen an Radrennen finden sich auf den 12"-Maxi-Versionen – die neben dem originalen französischen Text auch auf Deutsch eingesungen wurden – in gesampelten Fahrradgeräuschen wie dem Freilauf, einer Fahrradpumpe oder dem Zischen eines Fahrradventils. Das Sampling spielte in dieser Zeit für Kraftwerk generell eine zunehmend größere Rolle. So wurden für das ebenfalls während der Writing Session zu Computerwelt von Karl Bartos komponierte Stück »Der Telefon Anruf«  – ehemals unter dem Arbeitstitel »Italo-Disco« firmierend  – zahlreiche

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Telefongeräusche wie etwa Freizeichen, Wählscheiben, Klingeltöne und Ansagen gesampelt und collagenartig eingebaut.789 Dieses Stück komplettierte mit »Techno Pop«, »Sex Objekt« und der geplanten Singleauskopplung »Tour de France« die für das Album geplante Trackliste,790 welche gemessen an den bisherigen Veröffentlichungen auch einen augenscheinlichen Ausdruck des sich permanent verringernden Outputs der Gruppe dokumentiert. Neben dem Emulator als neue produktionstechnische Errungenschaft wurde aber auch das Kling Klang Studio abermals umgebaut. Außer der Anmietung neuer Räumlichkeiten – unter anderem für die Einrichtung eines Sprachlabors für Florian Schneider – ist hier als nennenswerte Neuerung der im August des Jahres 1982 erfolgte Ankauf eines 16-kanaligen MCI-JH-600 Mischpultes der Firma Barth zu nennen.791 Diese Aufnahmekonsole ermöglichte neben der Automation die Fernsteuerung diverser Platten- und Tonbandgeräte792 und wurde mindestens bis einschließlich des Albums The Mix im Jahre 1991 verwendet.793 Neben den technischen Funktionen des Pultes war damals laut Karl Bartos vor allem wichtig, ein Gerät anzuschaffen, welches »professionelle Qualitätsstandards« erfüllte.794 Dennoch konnte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fähigkeiten Kraftwerks in Bezug auf das Mixing offenbar zu wünschen übrig ließen: So schlug eine Mixing-Session im März 1983 im Rudas Studio in Köln völlig fehl. Karl Bartos: »Über eine Woche versuchten wir den Telefon-Track zu mischen. Dabei waren wir ziemlich erfolglos  – es klang schrecklich.«795 Kraftwerk versuchten diesem Misserfolg dadurch zu begegnen, dass sie fortan im Kling Klang Studio eigene Mixes anfertigten und diese durch den befreundeten Resident-DJ der Kölner Diskothek Moroco vor Publikum testen ließen.796 Eine zur damaligen Zeit nicht unübliche Praxis, die aber eine neue Problematik in sich barg: Zunächst einmal war sie verglichen mit der Produktionsweise der vorhergehenden Alben Kraftwerks direkter Ausdruck einer für die Gruppe neuen Unsicherheit. Waren die Alben bis einschließlich Computerwelt aus einem Gefühl künstlerischer Autarkie entstanden, die Kraftwerk zum Beispiel wie auf Radioaktivität die Möglich789 790 791 792

Bartos 2017, S. 405 f. Ebd., S. 410. Ebd., S. 403 ff. History of recording: MCI JH-600 Series Console, https://www.historyofrecording.com/MCI_ JH-600.html (abgerufen am: 20.10.2020). 793 So ist das Mischpult auf einem Pressefoto zu The Mix zu sehen. Vgl. aktivitaet-fanzine.com: KLING KLANG: THE ELECTRONIC GARDEN, http://www.aktivitaet-fanzine.com/10_kk0. html (abgerufen am: 15.02.2021). 794 Bartos 2017, S. 404. 795 Ebd., S. 412. 796 Ebd.

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keiten experimenteller elektronischer Musik ausloten lassen konnte  – was im Ergebnis verglichen mit anderen zeitgenössischen Produktionen häufig musikalisches Neuland hervorbrachte –, geriet der Nimbus, im Bereich der elektronischen Popularmusik stets federführend zu sein, erstmals ins Wanken. Angesichts der zahlreichen Neuveröffentlichungen in diesem Genre drohte die Gruppe den Anschluss an ehemals selbst gesetzte Klangqualitätsstandards zu verlieren. Ein Grund dafür war, dass das Zentrum Kraftwerks – das Kling Klang Studio – trotz aller Investitionen immer weniger mit den großen professionellen Tonstudios mithalten konnte. Neben der schwierigen akustischen Beschaffenheit seiner schlauchartigen Form ist aber vor allem völlig unerklärlich, dass nach wie vor über die große PA gemischt wurde und die Anschaffung von Nahfeldmonitoren – ein Studiostandard – offensichtlich noch niemand in Erwägung gezogen hatte.797 Unter diesen Gegebenheiten mit den Produktionen der angloamerikanischen Konkurrenz mithalten zu wollen, musste zum Scheitern verurteilt sein. Die Unsicherheit und der Konkurrenzdruck führten bei Kraftwerk ferner dazu, dass man sich dazu gezwungen fühlte, das musikalische Material stets zu überarbeiten und der popmusikalischen Tagesaktualität anzupassen, was sich als enorm zeitaufwendig erwies – auch dadurch bedingt, dass die Arrangements der für Techno Pop geplanten Stücke bereits früh auf die Bandmaschine überspielt worden waren, um problemlos zwischen den einzelnen Stücken wechseln zu können, was sich laut Karl Bartos aber zum Nachteil entwickelte, da die formale Struktur dadurch festgelegt wurde und Eingriffe in diese nur unter großem Aufwand zu bewerkstelligen waren.798 Der im Moroco durchgeführte ständige Abgleich mit den neuesten Klangmoden schränkte die künstlerische Gestaltungsmöglichkeit aber auch enorm ein, weil zum einen die Musik stets dem Diktat der Tanzbarkeit unterworfen und zum anderen die Reaktion des Publikums auch von rezeptionsbedingten, musikpsychologischen Faktoren abhängig war wie etwa dem Zeitpunkt des Abspielens oder der zuvor gespielten Musik, welche einen wesentlichen Einfluss auf die Anzahl der Menschen und deren Reaktion auf der Tanzfläche hatte. All das waren diffuse Variablen, die nur bedingt Rückschlüsse auf die vermeintlich richtige musikalische Richtung zuließen. Karl Bartos: »[…] im Nachhinein muss ich feststellen, dass die Fokussierung auf den Dancefloor unserer Entwicklung nicht besonders zuträglich war. Im Gegenteil, es begrenzte massiv das Spektrum unserer musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten.«799 Es ist nicht weiter ver-

797 798 799

300

Angesichts der diffusen akustischen Situation im Kling Klang Studio waren Karl Bartos zufolge beispielsweise die Bassfrequenzen nur sehr schwer einzuschätzen. Bartos 2017, S. 244. Ebd., S. 410. Ebd., S. 445.

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wunderlich, dass dieser wenig zielführende Produktionsansatz, die Unsicherheit Kraftwerks weiter vergrößerte. Karl Bartos: »[…] wir [Florian Schneider und Karl Bartos] wussten beide, dass irgendwas mit unseren Mixes nicht in Ordnung war. Wir hatten das Gefühl, mit den aktuellen Produktionen nicht mithalten zu können, konnten uns aber auch nicht erklären, warum das so war.«800 Wie bereits erwähnt gipfelte dieser Umstand schließlich darin, dass das ursprünglich für das Jahr 1983 angekündigte Album zurückgezogen wurde und sich die Gruppe weitere drei Jahre mit der Produktion beschäftigte.801 Was hingegen veröffentlicht wurde, war die im Juni 1983 im Kling Klang Studio gemischte Version von »Tour de France«, die in Großbritannien immerhin Position 22 und in Deutschland Position 47 in den Charts erreichte.802 Trotz der Veröffentlichung zeigte man sich auch mit diesem Mix unzufrieden, so dass Kraftwerk weiterhin an dem Stück arbeiteten, ohne aber zu befriedigenden Ergebnissen zu kommen.803 So setzte sich schließlich die Meinung durch, im August desselben Jahres externe Hilfe in Gestalt des englischen Produzenten Michael Johnson in Anspruch zu nehmen, der als Toningenieur an der zum damaligen Zeitpunkt sehr populären und auch bei Kraftwerk auf große Bewunderung stoßenden Maxi­ single »Blue Monday« von New Order beteiligt war.804 Allerdings fand auch dieser Mix keine Verwendung.805 Worin lagen die Probleme hinsichtlich des Mixings? Laut Karl Bartos stellte sich durch die lange Beschäftigung mit den Stücken eine Art der Betriebsblindheit ein, die zu mangelnden Analysefähigkeiten hinsichtlich des Klangbildes führte.806 Nun ist die Beurteilung eines Mixes eine wenig greifbare, höchst individuelle Sache, die sowohl dem persönlichen Geschmack als auch den Modeerscheinungen unterworfen ist. Sucht man nach objektiv vergleichbaren Faktoren, wird man wohl in erster Linie durch eine spektrografische Analyse fündig. Diesbezüglich wurden die Spektrogramme der Originalversion aus dem Jahre 1983 und dem 1999 wiederveröffentlichten Radio Edit von »Tour de France«, sowie die 12"-Maxisingle von »Blue Monday« von 1983 untersucht. Vergleicht man nun zunächst die Originalversion von »Tour de France« mit »Blue Monday«, fällt auf, dass die Bassdrum bei »Blue Monday« trotz eines ähnlichen Höhenanteils auf 800 801 802 803 804 805 806

Ebd., S. 414. Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Frontpage, 1991, http://kraftwerk.technopop.com.br/ interview_96.php (abgerufen am: 13.5.2009). Kraftwerk: »Tour de France«, https://en.wikipedia.org/wiki/Tour_de_France_(song) (abgerufen am: 15.02.2021). Bartos 2017, S. 415 f. Ebd., S. 416. Ebd., S. 416 f. Ebd., S. 418.

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etwa 90 Hz gestimmt ist, während sie bei »Tour de France« auf etwas mehr als 100 Hz liegt. In Verbindung mit der frequenzmäßig zwischen 50 und 90 Hz liegenden Bassline entsteht dadurch ein wesentlich druckvolleres, basslastigeres Klangbild als bei »Tour de France«, auch deshalb, weil die Basstöne bei »Tour de France« nur sehr spärlich gesetzt sind und durch einen verhältnismäßig hohen Resonanzwert die Frequenzen unter 100 Hz im Vergleich zum Rest des Mixes abfallen. Generell fällt der Bassbereich im Vergleich zum Frequenzbereich der Hauptmelodie um 4–5 dB ab, was ein mittenreiches und etwas dumpfes Klangbild zur Folge hat, vor allem dadurch bedingt, dass der Präsenzbereich (ca. 1–4 kHz) zwischen 6 und 8 dB leiser ist. Hier scheint das Mixverhältnis nicht gut austariert zu sein, während sich bei »Blue Monday« das wahrnehmbare Frequenzspektrum über eine größere Bandbreite zu verteilen scheint und wesentlich ausgewogener klingt – vor allem dann, wenn die im Mittenbereich angesiedelte Sequenzerspur und die Streicherklänge hinzukommen. Vergleicht man nun die Original-Version von »Tour de France« mit dem Radio-Edit aus dem Jahre 1999, ergibt sich ein deutlicher Unterschied. Zum einen wurde in der 1999er Version der Bassbereich unter 40 Hz radikal abgesenkt, wodurch alle tiefen, »mulmigen« Frequenzen verschwinden. Gleichzeitig wurde der Dynamikumfang der Bassdrum auf etwa 70 Hz nach unten ausgedehnt und die Bassdrum um etwa 4 dB angehoben. Deutlich zu hören ist zudem, dass neben einer allgemeinen Summenkompression auch die Bassdrum durch separate Kompression mehr Druck, aber auch größere Transparenz erhält. Dadurch, dass ebenfalls der Brillanzbereich (ca. 3–7 kHz) um über 6 dB angehoben wurde, stellt sich auch hier ein brillanteres und ausgewogeneres Klangbild ein. Es lässt sich zumindest anhand der Originalversion von »Tour de France« konstatieren, dass Kraftwerk damals offenbar zu mittenlastig gemischt haben und es ihnen nicht gelungen ist, sowohl die tiefen als auch die hohen Frequenzbereiche hervorzuheben, weswegen es an Druck im Bassbereich, aber auch an Brillanz fehlte. Außerdem ballen sich durch den Mangel von Kompression die in den Mitten befindlichen Klänge, weswegen es durch die gegenseitigen Überlappungen dort an Transparenz fehlt. Dass die Konkurrenz nicht nur dies offensichtlich besser im Griff hatte, sondern auch bezüglich des Sounddesigns neue und erstmals auch für Kraftwerk maßgebende Wege beschritt, soll nun anhand einiger Fallbeispiele in einem Exkurs über die Popmusik in den Jahren 1982–86 erörtert werden. Hieran soll die sich durch die rasche Entwicklung in der Studiotechnik ebenso rapide verändernde Klangästhetik der 1980er Jahre veranschaulicht werden, an der sich Kraftwerk permanent messen mussten, was sie vor große Probleme stellte.

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4.8.3 Exkurs: Der Popsound in der ersten Hälfte der 1980er Jahre Mittlerweile war die elektronische Popmusik durch den britischen Synth-Pop aus ihrem Nischendasein herausgetreten und in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zum Mainstream geworden. Zwar war das Sounddesign innerhalb dieses Genres zunächst nicht besonders innovativ oder komplex  – die kommerziell äußerst erfolgreiche Verbindung elektronischer Klangfarben mit eingängigen, in der Tradition der englischen Beat-Musik verhafteten Popmelodien und -harmonien hatte allerdings dafür gesorgt, ein breiteres Popmusikpublikum für elektronische Klangfarben zu sensibilisieren und diese im Massengeschmack zu verankern, womit eine Modewelle in Gang gebracht wurde, die fortan in Konkurrenz mit den Pionieren der elektronischen Popmusik stand. Mussten sich Kraftwerk in den 1970er Jahren lediglich mit einer überschaubaren Anzahl an anderen Synthesizer-Experten wie etwa Giorgio Moroder messen lassen, benutzen jetzt neben den zahlreichen Musikern des Synth-Pop auch große Popstars wie Michael Jackson oder Popproduzenten wie Trevor Horn elektronische Klangerzeuger – Personen, die über ausreichend finanzielle Mittel verfügten, um sich stets das beste Equipment und die im Umgang damit führenden Spezialisten leisten zu können. Unweigerlich hatte diese Gemengelage zur Folge, dass sich die Standards hinsichtlich der Produktionsqualität in Regionen verschoben, die selbst für Routiniers wie Kraftwerk schwer zu erreichen waren. In die gleiche Kerbe schlug die Entwicklung der Studiotechnik. War der Synthanorma zur Zeit von Computerwelt noch weitgehend konkurrenzlos, galt er im Zuge der neuen Musikcomputersysteme wie dem Synclavier oder dem Fairlight CMI nun auf einmal als veraltet. Das aus der Digitalisierung hervorgegangene exponentielle Ausmaß sowohl an technischen Neuentwicklungen807 als auch an Neuveröffentlichungen förderte ein sich immer schneller wandelndes Klangbild zutage, welches nicht mehr notwendigerweise an die Klangprogrammierungsfähigkeiten der Musiker gekoppelt war, sondern durch große werkseitige Klangbibliotheken für jedermann, der ausreichend finanziell begütert war, um in diesem Strudel der Neuheiten mitzuhalten, mittels eines Tastendrucks verfügbar war: Neue Klänge mussten nicht zwingend erarbeitet werden, man konnte sie kaufen,808 was zu einer Standardisierung von elektronischen Klangfarben führte, die nicht nur allein auf dem Feld des Synthesizer-Baus zu verzeichnen war: Infolge der Fetischisierung der elektronischen Klangerzeugung, vor allem in den frühen

807 808

Vgl. Miller, Jonathan: Synthie-Virtuose Jan Hammer im Interview, in: Keyboards, https://www.key boards.de/stories/synthie-virtuose-jan-hammer-im-interview/ (abgerufen am: 15.02.2021). Vgl. Warner 2003, S. 29.

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1980er Jahren, wurden auch die Schlagzeugklänge rasch durch elektronisch generierte Pendants substituiert – teils aus dogmatischen Gründen, teils aus Gründen der Praktikabilität. Die dadurch entstandene Nachfrage an solchen Klängen wurde in dieser Zeit unmittelbar von der Musikindustrie bedient, so dass in kurzer Folge immer neue Drumcomputer auf dem Markt erschienen, deren Klangqualität in der Regel all das übertraf, was Pioniere wie Kraftwerk in mühevoller Arbeit in den 1970er Jahren mit analogen Synthesizern zu programmieren versucht hatten. Drumcomputer wie die Roland TR-808, die Linn LM-1, der Oberheim DMX oder der Sequential Drumtraks lieferten fortan die Standardklänge, ohne die eine aktuelle, qualitativ auf der Höhe der Zeit stehende Produktion nicht mehr auskommen konnte – eine Entwicklung, der sich auch Kraftwerk bewusst waren, so dass in der Folge für die Schlagzeugklänge auf Techno Pop eben vordergründig Drumcomputer wie die Linndrum oder die TR-808 zum Einsatz kamen. Konnten in den 1970er Jahren Kraftwerk ihre Musik durch die Mischung aus Experiment und Erfahrung mehr oder weniger einfach entstehen lassen, da sie in ihrer Textur mit Ausnahme der Verwandtschaften zu Giorgio Moroder ein weitgehend eigenständiges Produkt war, waren sie nun eine Gruppe unter vielen, die mit den gleichen Werkzeugen arbeiteten. Neben der zwangsweise daraus folgenden Konkurrenz- und Vergleichssituation musste der Fokus in dieser standardisierten Klangwelt nun auf die Feinabstimmung, also der Abmischung derselben gelegt werden – einer der Problemfelder Kraftwerks. Dass die Schlagzeugklänge von Kraftwerk im Vergleich zu Giorgio Moroder bereits in den 1970er Jahren nicht ausreichend druckvoll waren und weniger gut im Mix platziert wurden, ist damals mangels Konkurrenz nicht weiter aufgefallen. Im Jahre 1983 aber, als elektronische Klänge ein fester Bestandteil des MainstreamPops waren, mussten die Probleme hinsichtlich des Mixings bei Kraftwerk offen zutage treten. Zwar gab es in dieser Zeit immer noch Lo-Fi Produktionen wie etwa die Hitsingle »Da Da Da« der deutschen Band Trio, die international großen Erfolg verbuchen konnte – der Klangqualitätsstandard in der Popmusik war mittlerweile aber allgemein einfach zu hoch, als dass ein durchschnittlicher Mix dem Anspruch einer technisch immer auf der Höhe der Zeit agierenden Gruppe wie Kraftwerk genüge getan hätte. Neben dieser Problematik führte das Sich-Aneignen standardisierter Werksklänge ferner dazu, dass die Klangforschung Kraftwerks in den Hintergrund trat und von den ursprünglich genuinen Schlagzeugklängen mehr oder weniger nur noch der »Zap«-Sound als Markenzeichen der Gruppe gelten konnte. Aber auch hinsichtlich der restlichen Klangfarben drohte Kraftwerk von ihren Epigonen überholt zu werden: Zwar besaß die Gruppe mit dem Emulator relativ früh einen Sampler, die Konkurrenz hingegen verfügte mit dem Synclavier oder

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dem Fairlight CMI aber sehr schnell über die deutlich leistungsfähigeren Musikcomputer, die damals die Popmusik produktionsästhetisch dominierten. Auch hier waren englische Musiker früh am Zug wie etwa die Synth-Pop-Gruppe ­Depeche Mode und deren ehemaliges Mitglied Vince Clarke. Daniel Miller: »Vince hatte einen der ersten Fairlights […] und das wurde zu meiner ersten Erfahrung mit Sampling. Der Fairlight war ein tolles Instrument, recht begrenzt zwar, aber sehr wichtig. Vince benutzte ihn auf dem ersten Album von Yazoo ziemlich oft. Ebenso wie Depeche Mode versuchte er ständig, mehr Technologie einzusetzen. Im Gegensatz zu Ultravox und Duran Duran, die reine Rockbands geworden waren, suchten wir stets neue Klänge, die noch niemand gehört hatte – und schon gar nicht in der Popmusik.«809

Daniel Miller entschied sich im Jahre 1983 im Gegensatz zu Vince Clarke für den Kauf eines Synclaviers, das erstmalig auf dem im gleichen Jahr von Depeche Mode veröffentlichten Album Construction Time Again zum Einsatz kam.810 Unter der Ägide des als Tonmeister kreditierten Klangtüftlers und Produzenten Gareth Jones wurde das Sampling auf die Spitze getrieben – dergestalt, dass wie auf dem Stück »Pipeline« nahezu alle Klänge  – jene, die der Hookline zugrunde liegen, eingeschlossen – aus gesampelten Metallgeräuschen bestanden, die im Synclavier zur eigentlichen Komposition zusammengesetzt wurden. Der ehemalige Ultravox-Frontmann John Foxx, in dessen Studio Teile der Aufnahmen von Construction Time Again stattfanden, äußerte sich zur Bedeutung von Gareth Jones wie folgt: »Gareth war ein Genie, was den Sound anbetrifft. Er ermutigte Depeche Mode dazu, mit Sampling einen Industrial Sound zu kreieren, während doch die meisten Musiker mit Samplern versuchten, den Klang von Orchestern oder echten Gitarren nachzuahmen.«811 Ferner habe laut Foxx Gareth Jones »[…] Depeche Mode wesentlich dabei geholfen, den Weg von analogen Synthesizern in die Welt des Samplings und der digitalen Technologie zu finden«, was den meisten Elektromusikern der ersten Generation eben nicht gelungen sei.812 Depeche Mode bestach neben eingängigen Pop-Kompositionen nicht allein durch die originelle Einbindung von Samples, sie wussten auch – und dies bezieht sich primär auf die Arbeit von Daniel Miller, Gareth Jones und des neuen Bandmitglieds Alan Wilder – die digitalen Synthesemöglichkeiten des Synclaviers auszuloten und damit Klänge zu erschaffen, die zum damaligen Zeitpunkt auf kaum einer anderen Produktion zu hören waren. Dies lag zum Teil allerdings auch in der Exklusivität des 809 Zit. n. Daniel Miller in: Malins 1999, S. 76. 810 Ebd., S. 78. 811 Zit. n. John Foxx in: Malins 1999, S. 77. 812 Ebd.

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Synclaviers begründet, welches für einen Großteil der Musiker unerschwinglich war, wobei digitale Klänge zum damaligen Zeitpunkt auch außerhalb des Musikcomputerkosmos keine Unmöglichkeit darstellten: Als Beispiel wäre hier der DK Synergy zu nennen, ein Abspaltprodukt des Crumar GDS, dessen Tonerzeugung auf einer Mischung aus Additiver Synthese sowie Phasenmodulation und -auslöschung basierte.813 Allerdings ließen sich die Klänge des Synergys nur mittels GDS oder eines Kaypro-Computers programmieren,814 so dass er vordergründig nur als Preset-Synthesizer eingesetzt wurde. Als weitere Digitalsynthesizer wären die mit Wavetable-Synthese arbeitenden PPG Wave 2.2 und PPG Waveterm zu nennen, die Klänge hervorzurufen vermochten, deren Herkunft man auch dem Synclavier hätte zuordnen können. Allerdings waren diese Instrumente technisch nicht ausgereift, was unter anderem zu häufigen Abstürzen führte. So war letztendlich der große Durchbruch der digitalen Synthese mit dem im Herbst 1983 vorgestellten815 und vor allem im Vergleich zum DK Synergy und der PPG WaveSerie verhältnismäßig preisgünstigen816 FM-Synthesizers Yamaha DX7 verbunden,817 welcher ab 1984 die Klangfarben der Popmusik nachhaltig prägte: Fortan waren gewisse DX7-Presets wie die berühmten Sounds »E.PIANO1« und »BASS 1« fast nicht mehr wegzudenkende Begleiter unzähliger Popproduktionen ebenso wie zahlreiche metallische, obertonreiche und glockenähnliche Klänge – genau jene Klangfarben also, die Miller, Jones und Wilder bereits ein Jahr vor ihrer Popularisierung durch den DX7 für Construction Time Again programmiert hatten, weswegen das Album bezüglich des aus der Verbindung von Sampling und digitaler Synthese bestehenden Sounddesigns zur damaligen Zeit sicher als eines der fortschrittlichsten und visionärsten gelten kann. Was den Einsatz dieser neuen, die Klangästhetik der Popmusik in der ersten Hälfte der 1980er Jahre revolutionierenden digitalen Produktionsmittel anbelangt, schienen die Briten generell tonangebend zu sein. Neben Pionieren wie Peter Gabriel, Kate Bush, Vince Clarke und Depeche Mode ist vor allem der Produzent Trevor Horn zu nennen, der zusammen mit dem Keyboarder und Produzenten Geoff Downes das erste Mal durch den Nummer-Eins-Hit »Video Killed

813 814 815 816

817

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Becker 1995, S. 106. Vail 2000, S. 209. Becker 1995, S. 121. Der DK Synergy kostete im Jahre 1982 zur Markteinführung $ 5.295, während der Preis des Crumar GDS $ 27.500 betrug. Vail 2000, S. 209. Die Preise für den Wave 2.2 sowie den Waveterm von PPG betrugen 1982 $ 8.800 bzw. $ 10.650. Vail 2000, S. 202. Der Yamaha DX7 kostete 1983 $ 1.995. Vail, Mark: LINEARE FM – DER YAMAHA DX7, in: Megasynth, 14.09.2015, https://megasynth. de/features/lineare-fm-der-yamaha-dx7/ (abgerufen am: 19.10.2020). Becker 1995, S. 120.

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the Radio Star«818 der von ihnen gegründeten Band The Buggles im Jahre 1979 auf sich aufmerksam machte. Dieser Produktion lag eine Klangvorstellung zugrunde, die nach Aussage Horns direkt auf Kraftwerk zurückging: »Schon mit ›Video Killed The Radio Star‹ hatten wir versucht, einen [Kraftwerk-]ähnlichen, programmierten Sound in die Popmusik einzuführen, obwohl wir selber damals überhaupt noch keine Computer hatten.«819 Die dahinterstehende musikalische Maxime formulierte Horn wie folgt: »I had a kind of Vision at that time, which was a sort of ›Vince Hill meets Kraftwerk‹. I thought: I want to make electronic records that work in the mainstream.«820 Um dies zu realisieren, band er in den frühen 1980er Jahren Keyboarder und Sounddesigner respektive Programmierer wie etwa Jonathan »JJ« Jeczalik oder Anne Dudley in sein Produzententeam ein, welche mit der Digitaltechnologie umzugehen und Horns Ideen musikalisch umzusetzen wussten, was sich in bis dato ungehörten Klängen widerspiegelte. Diese Zusammenarbeit erwies sich als großer Vorteil, da die Digitaltechnologie am Anfang der 1980er Jahre für viele Musiker neben den hohen Anschaffungskosten auch im Hinblick auf die Handhabung ein unüberbrückbares Hindernis darstellte. Trevor Horn: »In the beginning of the 80’s people knew about a sort of digital audio, but they didn’t really understand how it worked and what it was capable of.«821 Als für die Klangästhetik von Horns Produktionen maßgebendes Instrument erwies sich der seit dem Jahre 1981 in Horns Besitz befindliche Fairlight CMI,822 mit dem es in Form der von Jeczalik gesampelten und montierten Backingvocals auf dem von Horn produzierten und 1982 auf dem Album The Dollar Album veröffentlichten Stück »Give Me Back My Heart« des Pop-Duos Dollar gelang, ein produktionstechnisches Ausrufezeichen zu setzen und der Popwelt aufzuzeigen, welche Möglichkeiten in der Sampling-Technologie verborgen lagen, auch wenn die aufgrund der mangelnden Bittiefe raue Klangästhetik des Fairlight eine angepasste Arbeitsweise erforderte.823 JJ Jeczalik:

818

The Buggles: »Video Killed the Radio Star«, https://en.wikipedia.org/wiki/Video_Killed_the_ Radio_Star (abgerufen am: 15.02.2021). 819 Boenisch, Peter M.: Erfolgsproduzent Trevor Horn: »Man kann nicht einfach zurückgehen«, in: Der Spiegel, 04.10.2000, https://www.spiegel.de/kultur/musik/erfolgsproduzent-trevor-horn-man-kannnicht-einfach-zurueckgehen-a-96379.html (abgerufen am: 04.11.2020). 820 Zit. n. Trevor Horn in: Sound On Sound: Trevor Horn – The Art of Record Production, https://www. youtube.com/watch?v=0I2Lmvo4rvA (abgerufen am: 04.11.2020). 821 Ebd. 822 Peel, Ian: Trevor Horn: 25 Years Of Hits, in: Sound On Sound, 2005, https://www.soundonsound. com/people/trevor-horn (abgerufen am: 02.11.2020). 823 Sound On Sound: Trevor Horn – The Art of Record Production, https://www.youtube.com/watch?v= 0I2Lmvo4rvA (abgerufen am: 04.11.2020).

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»Right from the start I noticed that when you put a sound in the Fairlight, it comes out differently. It’s obvious: it must get transformed. The Fairlight is very rock ’n’ roll because everything gets very dirty and raunchy and gritty, as if it’s been through a Marshall 100W amplifier. I developed this idea that if that’s what it was like, then I should make it sound worse, so that it stands out.«824

Trotz dieser limitierenden Eigenheiten gelang es Horn und seinem Produzententeam, eine außergewöhnliche Klangqualität zu erreichen. So markieren die für das Album von Horn produzierten Stücke825 nicht weniger als eine Blaupause der kühlen Hochglanz-Klangästhetik der 1980er Jahre. Hierbei wurden neben großen Hallräumen für den Gesang und die Schlagzeugspuren opulente Streicher- und Flächenklänge verwendet, die den Stücken eine obertonreiche, kristalline Tiefe verleihen, welche repräsentativ für die Popmusik dieser Dekade steht. Diesen Bombast-Sound brachte Trevor Horn schließlich auf dem 1982 veröffentlichten Nummer-Eins-Album The Lexicon of Love826 der Gruppe ABC zur Vollendung – ebenfalls wieder unter Einbeziehung von Jeczaliks Programmierfähigkeiten und den am Phillysound orientierten Orchesterarrangements von Anne Dudley.827 Wurde der Fairlight CMI auf dieser Produktion etwa durch gesampelte StreicherSounds zwar eher konservativ eingesetzt, wurde seine Sampling-Funktion auf der 1983 veröffentlichten Nummer-Eins-Single »Owner of a Lonely Heart«828 der Progressive Rock Band Yes zu einem essenziellen Klangelement, das sowohl in den Breaks als auch in kurzen, die Strophen konterkarierenden Einwürfen zur Geltung kam. Obgleich Trevor Horn zu dieser Zeit ebenfalls über ein Synclavier verfügte, wurden sämtliche Orchester- und Drumsound- respektive Drumloopsamples auch hier mit dem Fairlight CMI realisiert.829 Ferner kam mit dem »Orchester-Hit« des Fairlight CMI auch einer der in der Folge unzählige Male verwendeten Signature Sounds der 1980er Jahre zum Tragen. War auf »Owner of a Lonely Heart« Sampling eher eine klangliche Ergänzung zum Rocksound, stellte es bei der ebenfalls von Trevor Horn 1983 ins Leben geru-

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Zit. n. JJ Jeczalik in: Tingen, Paul: THE NOISE OF ART, in: Electronic & Music Maker, 1985, https:// www.theartofnoiseonline.com/Z999-THE-NOISE-OF-ART.php (abgerufen am: 04.11.2020). 825 Trevor Horn produzierte vier der insgesamt zwölf Stücke. 826 ABC: Lexicon of Love, https://en.wikipedia.org/wiki/The_Lexicon_of_Love (abgerufen am: 15.02.2021). 827 Spitfire Audio: Cribs: Anne Dudley, https://www.youtube.com/watch?v=8x9bm8kzT7o (abgerufen am: 04.11.2020). 828 Yes: »Owner of a Lonely Heart«, https://en.wikipedia.org/wiki/Owner_of_a_Lonely_Heart (abgerufen am: 15.02.2021). 829 Sound On Sound: Trevor Horn  – YES, »Owner of a Lonely Heart« Track Breakdowns  – Original and Reimagines the 80s, https://www.youtube.com/watch?v=X3Za2xF3wAc&feature=emb_logo (abgerufen am: 03.11.2020).

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fene Gruppe The Art of Noise überhaupt erst die Grundlage musikalischen Schaffens dar. So wurden einmal mehr unter JJ Jeczaliks technischer Ägide und den kompositorischen Fähigkeiten Anne Dudleys diverse Samples mittels des Sequenzers des Fairlight CMI  – der sogenannten Page  R  – zu rhythmisierten Klangcollagen zusammengefügt, die das gesamte Produktionsspektrum des Fairlight CMI abbildeten. JJ Jeczalik: »I would say that 85 % of the record was pro­ duced via the Fairlight and 15 % were bits and pieces, pianos, spoken words  … Anne always did those.«830 Die auf der im Jahre 1983 veröffentlichten EP Into Battle with the Art of Noise enthaltenen Klänge waren spektakulär und neu, die darauf basierenden Kompositionen für den Mainstream-Pop allerdings zu experimentell. Dennoch gelang es der Gruppe, mit dem Stück »Beat Box« 1984 den Spitzenplatz der US-Dance-Charts zu erreichen831 – ein Erfolg, der die Sampling-Technologie und die damit verbundene Ästhetik unheimlich popularisierte: So fanden die aus Samples bestehenden, stark komprimierten und sich rhythmisch stets variierenden Drumpattern des Stückes vor allem in der Hiphop-Szene großen Anklang.832 Generell fungiert »Beat Box« als ein Vorläufer der sich nach und nach vor allem durch Gruppen wie etwa Public Enemy über den Hiphop ausprägenden Sampling-Kultur.833 Auch Trevor Horn sah den künstlerischen Ansatz von The Art of Noise als Pionierleistung an: »Gewiss waren wir die erste Band, die ausschließlich mit Samples gearbeitet hat. Wir haben uns damals als Piraten betrachtet und haben eine Unmenge Sachen aus Songs von anderen geklaut, die wir aber so verfremdet haben, dass niemand etwas gemerkt hat. Damit waren wir wohl so etwas wie die erste wirklich moderne, zeitgemäße Band.«834

Obgleich im Hinblick auf die Verwendung des Samplings der Puls der Zeit in der ersten Hälfte der 1980er Jahre eindeutig in England schlug, blieben die Musiker in anderen Ländern nicht ganz untätig. In den USA fanden sich allerdings in dieser Zeit kaum kommerzielle Produktionen, in denen Gebrauch von dieser Techno830

Zit. n. JJ Jeczalik in: Tingen, Paul: THE NOISE OF ART, in: Electronic & Music Maker, 1985, https:// www.theartofnoiseonline.com/Z999-THE-NOISE-OF-ART.php (abgerufen am: 04.11.2020). 831 The Art of Noise: »Beat Box«, https://en.wikipedia.org/wiki/Beat_Box_(song) (abgerufen am: 15.02.2021). 832 Wade, Ian: The Art of Noise, in: The Quietus, 26.09.2011, https://thequietus.com/articles/07063-theart-of-noise-who-s-afraid-of-the-art-of-noise-review (abgerufen am: 15.02.2021). 833 Mason, Adams: Anne Dudley’s ›Plays the Art of Noise‹ Is an Unexpected Triumph of Tunes Over Technology, in: Pop Matters, 27.06.2018, https://www.popmatters.com/anne-dudley-plays-art-of-noise2581772213.html?rebelltitem=1#rebelltitem1 (abgerufen am: 05.11.2020). 834 Boenisch, Peter M.: Trevor Horn: »Straßenbau macht mir Spaß«, in: Der Spiegel, 26.09.2000, https:// www.spiegel.de/kultur/musik/musikproduzent-trevor-horn-strassenbau-macht-mir-einen-rie senspass-a-94298.html (abgerufen am: 15.02.2021).

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logie gemacht wurde. Sampling trat dort vordergründig erst ab 1985 im Hiphop in Erscheinung, da bis dato Geräte wie das Synclavier, der Fairlight CMI oder sogar der Emulator für dieses eher im Lofi-Bereich arbeitende Genre weitgehend unerschwinglich waren. Erst die günstigen Sampler der S-Serie der japanischen Firma Akai ermöglichten einer breiten Schicht an Musikern den Zugang zu dieser Technologie.835 Nennenswert wäre aus dem Zeitraum davor als eine der wenigen Sample-lastigen Produktionen vor allem das 1983 veröffentlichte Stück »Rockit« des Jazzpianisten und Keyboarders Herbie Hancock – eine durch die Verwendung von Vocoder-Elementen und eines mit den aus Computerwelt bekannten »Zap«-Klängen versehenen Electrobeats stark an Kraftwerk angelehnte Komposition, welche mit gesampelten Scratching-Klängen angereichert wurde. Neben diesem Stück kann man noch auf die in den US-amerikanischen Charts sehr erfolgreiche Musik836 zur US-Krimi-Serie »Miami Vice« des ebenfalls im Jazz beheimateten Keyboarders Jan Hammer verweisen, die ab dem Herbst 1984 im US-amerikanischen Fernsehen gesendet wurde. Wie bei Hancock entstanden die Kompositionen dabei unter der Zuhilfenahme des Fairlight CMI. Obwohl hier Samples durchaus Verwendung fanden, standen bei der Produktion aber vor allem die studiotechnischen Möglichkeiten in Form der Verbindung von Sequenzer und interner Klangerzeugung des Gerätes im Vordergrund,837 weswegen die Musik eher als typisches Abbild aller Facetten der digitalen Fairlight-Ästhetik dient denn als explizites Beispiel für eine rein Sampling-basierte Klangwelt. Sucht man in Bezug auf Sampling nach klanglich innovativen Beispielen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre hingegen im übrigen Europa, fällt der Blick unweigerlich auf das Schweizer Elektronik-Duo838 Yello, welches neben Kraftwerk ebenfalls häufig als einer der Urheber des Techno genannt wird839 und mit zwei in kurzer Abfolge in den Jahren 1980 und 1981 veröffentlichten Alben Solid Pleasure und Claro Que Si auf sich aufmerksam machte. Die auf dem ersten Album 835

Lösener, Bernhard: Love The Machines: Akai-Sampler der S-Serie (04.07.2018), in: Sound & Recording 01/2020), https://www.soundandrecording.de/equipment/love-the-machines-akai-sampler-ders-serie/ (abgerufen am: 15.02.2021). 836 Jan Hammer: »Miami Vice Theme«, https://en.wikipedia.org/wiki/Miami_Vice_Theme (abgerufen am: 15.02.2021). 837 Miller, Jonathan: Synthie-Virtuose Jan Hammer im Interview, in: Keyboards, https://www.keyboards. de/stories/synthie-virtuose-jan-hammer-im-interview/ (abgerufen am: 15.02.2021). 838 Yello wurden im Jahre 1978 von Dieter Meier, Boris Blank und Carlos Perón gegründet. Letzterer hat die Gruppe 1983, zwei Jahre nach der Veröffentlichung des zweiten Albums Claro Que Si allerdings wieder verlassen. Perón habe Blank zufolge musikalisch nur eine geringe Rolle gespielt und am zweiten Album schon nicht mehr mitgewirkt. Seitdem bestehen Yello nur aus Meier und Blank. Ryser 2011, S. 45 f. 839 Diening, Deike: Der letzte Provokateur, 2016, https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/ yello-gruender-dieter-meier-in-berlin-der-letzte-provokateur/14561328.html (abgerufen am: 15.02.2021).

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enthaltene Disco-lastige Single »Bostich« wurde dabei schnell zum Geheimtipp der zum damaligen Zeitpunkt gerade prosperierenden New Yorker Underground-Clubkultur.840 Yello zeichneten sich durch zwei Dinge aus: Zunächst war Boris Blank ein kreativer Sounddesigner, dem es auf den ersten beiden Alben gelang, mit analogem Equipment vielschichtige Klangwelten zu schaffen. Ähnlich wie Delia Derbyshire experimentierte Blank dabei sowohl mit Alltagsgeräuschen als aber auch mit elektronischen Klängen, die auf Tonbändern und Kassetten aufgenommen durch nachträgliche Effektbearbeitung verfremdet und dann in mühevoller Kleinstarbeit zerschnitten und zu neuen Klanggebilden zusammengefügt wurden.841 Diese analoge Form des Samplings war den Aufnahmen allerdings nicht anzuhören, da die Samples zum einen erstaunlich rauscharm klangen und zum anderen so präzise gesetzt waren, dass der Eindruck entstand, dass Blank hierfür einen Sequenzer benutzt hätte. Dass die ersten Alben Yellos dem Vergleich mit der perfekten Audioqualität späterer, mit dem Fairlight oder dem Synclavier erzeugten Produktionen der 1980er Jahre standhalten konnten, lag außerdem daran, dass Blank hinsichtlich des Mixings eine extreme Pedanterie an den Tag legte, um den Aufnahmen ein Maximum an Trennschärfe zu verleihen.842 Nach Blanks Aussage sei die Klangqualität der Produktion dadurch so hoch gewesen, dass Audio-Magazine Yello-Platten als Referenz für Tests von Monitoren herangezogen hätten.843 Durch den Einsatz des im Jahre 1982 erstandenen Fairlight CMI844 veröffentlichten Yello 1983 das Album You Gotta Say Yes to An­­ other Excess, das nicht nur den bis heute andauernden internationalen Erfolg des Duos begründete, sondern auch Blank in den 1980er Jahren zu einem der führenden Akteure im Bereich des Samplings aufsteigen ließ. All diese musikalischen Entwicklungen fanden in der ersten Hälfte der 1980er Jahre statt; diese Darstellung ließe sich noch um andere Protagonisten erweitern – sie scheint aber auch in der wiedergegebenen Form ausreichend, um zu vermitteln, dass sich Kraftwerk während ihrer Arbeit zu Techno Pop erstmals in ihrer Karriere mit einem technischen Quantensprung und einer daraus resultierenden, exponentiell anwachsenden Konkurrenzsituation auseinanderzusetzen hatten, deren mannigfaltige Auswüchse die Gruppe plötzlich nur noch als eine von vielen erscheinen ließ.

840 841

Ryser 2011, S. 55. Brockhaus, Immanuel: Boris Blank Swiss Sound &  Sampling Pioneer, 2015, https://www.youtube. com/watch?v=ePqnuupexfM (abgerufen am: 10.11.2020). Ryser 2011, S. 69. 842 Yello: Yello ~ Touch, Behind The Scenes  – English Subtitles, https://www.youtube.com/watch?v= vPbAywXAKQs (abgerufen am: 05.11.2020). 843 Ebd. 844 Ryser 2011, S. 68.

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4.8.4  Techno Pop / Electric Café – weiterer Produktionsprozess und musikalische Analyse Angesichts der zunehmenden Unzufriedenheit hinsichtlich des Mixings von Techno Pop entschlossen sich Kraftwerk im Jahre 1983 abermals dazu, externe Hilfe in Anspruch zu nehmen.845 So wurde Ralf Hütter nach der Recherche von in Clubs gut klingenden Schallplatten auf den Produzenten François Kevorkian aufmerksam, mit dem man im November des Jahres zusammen im »The Power Station«-Studio in New York die Stücke abzumischen versuchte846 – allerdings ebenfalls mit unbefriedigendem Ergebnis.847 Die sich an diese Session anschließende weitere Vorgehensweise hinsichtlich der Produktion offenbarte laut Karl Bartos das Grundproblem der Arbeit an Techno Pop: So wurden die Stücke Remixartig in mühsamer und zeitaufreibender Weise zunächst umeditiert, anstatt zu akzeptieren, dass das musikalische Material offensichtlich nicht überzeugend genug war und die Unzufriedenheit sowie die Unfähigkeit, zu einem guten Mix zu kommen, nur ein Symptom dessen war.848 Schließlich erachtete man aber auch diese Methode als gescheitert und begann, das Material zu Techno Pop im Jahre 1984 noch einmal neu einzuspielen, ohne dieses aber durch die ursprüngliche und erfolgreiche Methode des kollektiven Komponierens in Form der Writing Sessions anzureichern oder gar zu ersetzen.849 Karl Bartos: »[…] wir hatten damals kein Mixing-Problem – das mochte vielleicht bei ›Tour de France‹ der Fall gewesen sein –, sondern eher ein Problem unsere Kompositionstechnik, die sich durch das Sampling immer mehr in Richtung Montage entwickelte. Schon lange hatten wir aufgehört, miteinander zu musizieren. Wir hatten vergessen, dass genau so unsere Musik entstanden war.«850

Dennoch ergänzten Kraftwerk 1984 das Album um neues musikalisches Material: So gesellte sich als Einleitung von »Techno Pop« das Stück »Boing Boom Tschak« hinzu, welches aus rhythmisierten Sprachsamples bestand. Obwohl diese Art der Einbindung von Vokalfragmenten zur damaligen Zeit auch von anderen Gruppen wie etwa The Art of Noise verfolgt wurde,851 befand sich die klangliche Umsetzung dieses kompositorischen Elements bei Kraftwerk durch die langjährige Erfahrung und Expertise Florian Schneiders im Bereich der Sprachsyn845 Bartos 2017, S. 417. 846 Barr 1998, S. 173 f. 847 Bartos 2017, S. 417 f. 848 Ebd., S. 418 f. 849 Ebd., S. 419. 850 Ebd. 851 Ebd., S. 420.

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these852 auf einem in der Popwelt immer noch einmaligen Niveau. Schneider, der neben zahlreichen Vocodern und dem modifizierten Votrax auch die beiden Text-to-Speech-Programme Infovox und Dectalk besaß – letzteres in der diverse Sprachen umfassende Vollversion  –,853 wurde bei seinen Recherchen bezüglich synthetischer Sprache im Jahre 1982 auf Wolfgang Kulas – Ingenieur und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für allgemeine Elektrotechnik und Akustik der Ruhr-Universität Bochum – aufmerksam,854 der mit seinen Kollegen ein auf der Sprachausgabe des Votrax basierendes Programm entwickelt hatte, welches in der Lage war, einen Fließtext in Phoneme und Betonungsinformationen umzusetzen. Aus dem von Schneider aufgenommenen Kontakt entstand in den folgenden Jahren eine Zusammenarbeit, bei der Kulas half, »den Dectalk, den Infovox-Sprecher und zwei, drei andere Maschinen zum Sprechen zu bringen.«855 Kulas selbst schilderte die gemeinsame Arbeitsweise wie folgt: »Im Laufe der Zeit entwickelten sich verschiedene Arbeitsabläufe. Florian schickte mir zum Beispiel eine Musikkassette als Referenz. Auf der linken Spur war eine TR-606 Schlagzeugmaschine und auf der rechten ein vom Votrax gesprochener Text. […]. Mit seinem Demo konnte ich mich vorbereiten und verschiedene Einstellungen testen. Wenn wir dann [im Kling Klang Studio] in der Mintropstraße zusammen gebastelt haben, sah das immer so aus: Ich tippte die Worte ein, und Florian hat gesamplet oder die Sprachausgabe auf Kassette aufgenommen. Nach und nach verbesserten wir unsere Ergebnisse. Ich glaube, Florian profitierte von meiner Kenntnis der Geräte. Wenn er sagte ›Mach das mal ein bisschen spitzer, weniger spitz oder höher, tiefer‹, wusste ich, wie ich das erreichen konnte.«856

Die daraus resultierenden Ergebnisse bedeuteten im Vergleich zu den bisherigen synthetisch generierten oder vocoderisierten Vokalelementen eine enorme Erweiterung hinsichtlich der klanglichen Bandbreite, obgleich diese schon auf den Vorgängeralben ihresgleichen suchte. So konnten sich Kraftwerk sicher sein, über zumindest ein zur damaligen Zeit nach wie vor konkurrenzloses musikalisches Merkmal zu verfügen. Allerdings hatten die Mixing-Probleme jedoch weiterhin Bestand, so dass François Kevorkian im März und April 1984 erneut engagiert wurde, um im Kling Klang Studio am Mix zu arbeiten. Hierbei wurde auch endlich die langjährige akustische Schwachstelle bezüglich des Abhörens korrigiert, in dem auf der Konsole Yamaha NS-10 Nahfeldmonitore installiert wur852 Ebd., S. 408. 853 Ebd. 854 Ebd., S. 407 f. 855 Zit. n. Wolfgang Kulas in: Bartos 2017, S. 408. 856 Ebd., S. 427.

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den,857 die ein von den Raumeigenschaften des Kling Klang Studios weniger beeinflusstes, neutraleres und leiseres Abhören ermöglichten, als das zuvor über die PA-Anlage der Fall war. Dennoch wurde der Mix bis zu Kevorkians Abreise nicht beendet. Zusätzlich vergrößerten sich in der Folge die Zeiträume zwischen den Arbeitstagen im Studio sukzessiv,858 so dass 1984 nichts mehr auf eine baldige Veröffentlichung des Albums hindeutete. Zum einen war diese Antriebslosigkeit neben der allgemeinen Frustration innerhalb der Gruppe wohl der immer extremer werdenden Radsportleidenschaft Ralf Hütters geschuldet,859 zum anderen erlaubte die finanzielle Unabhängigkeit von Hütter und Schneider, sich vom Zeitdruck des Popbusiness zu entkoppeln, was sich für die übrigen beiden, finanziell nur bedingt begüterten Mitglieder Karl Bartos und Wolfgang Flür allerdings als großes Problem erwies und letztendlich zum Zerbrechen der Gruppe führte.860 Wolfgang Flür, der schon an der Einspielung zu Computerwelt nicht mehr direkt beteiligt war, hatte sich bereits zu Anfang der Aufnahmen zu Techno Pop nach und nach zurückgezogen: »Meine musikalischen Aufgaben waren mit der Einführung der Sequenzer derart gering geworden, daß es nur noch wenige Besuche im Studio bedurfte, um ab und zu einige Styles und Rhythmen auszuprobieren und zu beraten, was für eventuelle neue Tracks programmiert wurde.«861

Zwar wurde Flür noch in das Artwork des Albums integriert, musikalisch hatte er aber keine Funktion mehr inne. Seiner Aussage zufolge hätten Hütter und Schneider ihm nach Abschluss des Albums allerdings angeboten, den in der Folge geplanten Komplettumbau des Kling Klang Studios zu organisieren, was Flür aber abgelehnt habe.862 Als Kraftwerk zu Anfang des Jahres 1990 drei Test-Gigs spielen sollen, wurde Flür noch einmal von Florian Schneider kontaktiert und gebeten daran mitzuwirken. Flür habe allerdings abgesagt, womit seine Mitgliedschaft bei Kraftwerk endgültig beendet gewesen wäre.863 Blickt man zurück auf die Produktion von Techno Pop, lässt sich konstatieren, dass auch das Jahr 1985 trotz drei weiterer Mixing-Sessions mit François Kevor-

857 Ebd., S. 421. 858 Ebd. 859 Ebd., S. 309 f., 425 f. und 480. Flür 1999, S. 274. 860 Barth, Alexander: Karl Bartos: »Bei der Musik geht es um Leben und Tod«, in: Aachener Zeitung, 861 862 863

314

12.02.2018, https://www.aachener-zeitung.de/kultur/karl-bartos-bei-der-musik-geht-es-um-lebenund-tod_aid-24430723 (abgerufen am: 15.02.2021). Flür 1999, S. 254. Ebd., S. 273. Bartos 2017, S. 471 f. In Wolfgang Flürs Autobiografie findet sich darüber allerdings keine Notiz.

4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

kian im Kling Klang Studio864 keinen nennenswerten Fortschritt im Hinblick auf den Abschluss des Albums brachte, da sich Kraftwerk durch den steten Blick auf die technische Entwicklung abermals zu einer Revision der Aufnahmen gezwungen sahen: Das Synthanorma-Konzept galt als veraltet. Neben dem Roland MC-202865 hielt mit dem LinnSequencer endlich der MIDI-Standard Einzug in das Kling Klang Studio, mit dessen Hilfe die sich ebenfalls mittlerweile im Besitz Kraftwerks befindlichen Yamaha DX7 und dessen aus acht DX7 bestehende Rack-Version TX-816 angesteuert werden konnten, so dass viele der Stücke umregistriert und mit den aktuellen Sounds der Yamaha-Synthesizer versehen wurden.866 Karl Bartos: »[Wir haben] bei Techno Pop / Electric Café zu sehr auf den Zeitgeist mit seinen Moden und technischen Innovationen geschaut, als uns mit der Gestaltung der ureigenen Elemente der Musik auseinanderzusetzen. In dieser Phase verwandelten wir uns unmerklich von unabhängigen Komponisten zu Musik- und Sounddesignern.«867

Dies unterstreichend entstand an neuem musikalischen Material im Jahre 1985 lediglich das Stück »Musique Non-Stop«.868 Trotz aller Technikfokussierung blieben Kraftwerk in der Frage, sich einen Musikcomputer anzuschaffen, hingegen zögerlich: Nachdem sich Karl Bartos und Florian Schneider bereits während des Mixes von »Tour de France« in den Britannia Row Studios in London in einem Musikaliengeschäft das Synclavier869 und Bartos und Hütter später einen Fairlight CMI hatten vorführen lassen, reifte in Ralf Hütter erst nach einem Besuch in der NED-Filiale in New York im Juni 1986 der finale Entschluss zum Kauf eines Synclaviers,870 was allerdings erst im darauffolgenden Jahr in die Tat umgesetzt wurde,871 obgleich in dieser Zeit durch das Aufkommen von Software-basierten Sequenzer-Programmen wie etwa dem auf der Atari-Plattform laufenden »Notator« von C-LAB die großen Musikcomputer sehr bald als veraltet gelten sollten – ein weiterer Beleg dafür, dass Kraftwerk in den 1980er Jahren dem Zeitgeist in Bezug auf technische und musikalische Entwicklungen in mancherlei Hinsicht hinterherliefen.

864 865 866 867 868 869 870 871

Ebd., S. 428 f. Bartos 1998b, S. 54. Bartos 2017, S. 429 f. Ebd., S. 445. Ebd., S. 427 f. Ebd., S. 416. Ebd., S. 438. Ebd., S. 449.

315

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Das Jahr 1986 war schließlich das letzte in der fünf Jahre andauernden Produktion von Techno Pop, auch wenn sich der restliche Weg bis zur Veröffentlichung immer noch als steinig erweisen sollte. Allerdings brachte es auch neues musikalisches Material hervor: Auf Anraten von Maxime Schmitt, der eine neue Musiksendung mit dem Namen »Electric Café« für das französische Fernsehen plante, komponierten Kraftwerk im Februar 1986 einen gleichnamigen Track, der als Titelmelodie dienen sollte. Zwar kam die Sendung nicht zustande, das Stück hingegen wurde jedoch für das Album verwendet und diente fortan nun auch als dessen Namensgeber: Techno Pop wurde in Electric Café umbenannt.872 Um den Mix endlich zum Abschluss zu bringen, reifte die Überlegung, einen Toningenieur aus dem Umfeld der Gruppe miteinzubinden, worauf Karl Bartos daraufhin seinen ehemaligen Kommilitonen Henning Schmitz empfahl, der mit der Gruppe in einer sechstägigen Session das Stück »Sex Objekt« mischte.873 Obgleich laut Karl Bartos die Session zufriedenstellend verlief, erschien Ralf Hütter die Arbeit in Deutschland als Sackgasse, so dass er erneut François Kevorkian ins Spiel brachte, in dessen Axis Studio sowie den Right Track Studios in New York vom 1. Juni bis zum 21. Juli des Jahres der finale Mix vorgenommen wurde.874 Dennoch verblieb Hütter als einziger der Gruppe bis zum 6. September in New York, um letzte Edits vorzunehmen,875 so dass das Album im Oktober 1986 unter dem Namen Electric Café veröffentlicht werden konnte.876 Wie sieht nun das klangliche Ergebnis dieses fünfjährigen, mühevollen Produktionsprozesses aus? Vergleicht man Electric Café mit den vorhergehenden Veröffentlichungen, sticht natürlich die digitale Klangerzeugung heraus, die im Gegensatz zu den auf analoger Technik beruhenden Vorgängeralben in der Historie Kraftwerks völlig neue Klänge zum Vorschein brachte. Angesichts der zahlreichen Umstrukturierungen und Umregistrierungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass von den ursprünglichen Demo-Versionen nur sehr wenig Material übrig geblieben ist. Das Album setzt sich dabei aus folgenden klanglichen Komponenten zusammen: Auf der einen Seite dominiert die programmatische Verwendung von Sampling und synthetischer Sprache, auf der anderen Seite re­ krutieren sich die eingesetzten Klänge aus verschiedenen den Zeitgeist der 1980er Jahre bestimmenden Instrumenten  – sei es bezüglich der Schlagzeugspuren, Drumcomputer wie die TR-808 und die Linn Drum beziehungsweise die Linn LM-1 oder hinsichtlich der Synthesizer die FM-Klangfarben der DX-Serie von 872 873 874 875 876

316

Ebd., S. 430 f. Ebd., S. 431 f. Ebd., S. 432 ff. Ebd., S. 438 f. Ebd., S. 440.

4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

Yamaha. Hinsichtlich des musikalischen Materials bleiben sich Kraftwerk treu: So finden sich immer wieder kurze Synthesizer-Hooklines, die sich mit fragmentarischen  – teils synthetisch generierten, teils von Ralf Hütter gesprochenen  – Vokalelementen ablösen. Hier knüpfen Kraftwerk nahtlos an das Konzept von Computerwelt an. Gleiches gilt für die Drumpattern, deren statischer Backbeat von synkopierten Bassdrum-Mustern konterkariert wird. Dass der musikalische Schwerpunkt neben einem zeitgemäßen Produktionsstandard dennoch mehr auf der Rhythmik liegt, als das bei Computerwelt der Fall war, und damit primär an die Tanzfläche adressiert ist, lässt sich anhand der ersten drei thematisch verbundenen Stücke verfolgen. So beginnt das erste mit »Boing Boom Tschak« betitelte Stück des Albums mit verschiedenen Samples von Florian Schneiders Stimme,877 die durch die Bearbeitung mit unterschiedlichen Hallräumen und in verschiedenen Tempi erfolgenden Delays zu einem sich variierenden rhythmischen Konstrukt zusammengesetzt werden. Die Sprachsamples werden schließlich durch ein sich sukzessiv aufbauendes synkopiertes Schlagzeug-Pattern untermalt, welches sich neben den Klängen des Linn-Drumcomputers und den »Zap«-Sounds aus metallisch klingenden Percussionsamples zusammensetzt. Auch wenn das Pattern nicht genau der Demo-Version von »Techno Pop« entspricht und ca. 6 bpm langsamer ist, stellt sich durch die vielen identischen Klänge sofort eine klangliche Assoziation ein. Nach Abschluss der Sprachsamples erfolgt eine auf dem Grundton Bb stehende Synthesizer-Melodie, die neben dem Grundton und der Quinte die kleine Septime und die Quarte anspielt. In ihrer späteren Wiederholung wird sie durch einen auf Quarten basierenden Akkord verdichtet, der die Rhythmik der Refrain-Melodie von »Computerwelt« aufgreift. Neben der collagenhaften Verarbeitung der Sprachsamples tritt ebenfalls wieder der Einsatz von synthetischer Sprache in den Vordergrund, die durch den Votrax realisiert wird und in dieser Form bereits auf der Demo-Version zu hören war. Die starke Patternhaftigkeit setzt sich auch im nahtlos anschließenden Stück »Techno Pop« fort: Hierbei werden die verschiedenen durch Fills verbundenen Schlagzeugspuren durch eine immer wiederkehrende harmonisch auf g#Moll stehende Melodie vereint, welche vereinzelt durch ein zweites, dem Thema des nachfolgenden Stückes »Musique Non-Stop« entsprechenden Motiv konterkariert wird. Da es sich hier eher um kurze Melodiefragmente handelt, rekrutiert sich die musikalische Substanz des sehr repetitiven Stückes neben den in verschiedenen

877

Ebd., S. 420.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Bsp. 26 a + b: Kraftwerk: »Techno Pop«, 1. und 2. Thema (Auszug)

Sprachen erfolgenden synthetischen Stimmen – vordergründig des Dectalks878 – und dem Gesang Ralf Hütters vor allem aus der klanglichen Variation durch sich abwechselnde Synthesizer-Klangfarben, dem punktuellen Einsatz der Effektbearbeitung durch Hall, Delay, das Rückwärtsabspielen von Klängen sowie durch Flanging. Es sind hier vor allem kleine Details, die das Stück trotz aller Wiederholungen keinesfalls statisch erscheinen lassen: So etwa ist die Filterfrequenz der auf dem Backbeat erscheinenden »Zap«-Sounds bei jedem zweiten Einsatz etwas niedriger. Generell wandern in den Breaks die Perkussionsklänge im Panorama, was dem Ganzen in Verbindung mit unterschiedlichen Raumeffekten eine ungemeine Lebendigkeit verleiht, die trotz Pultautomation zum damaligen Zeitpunkt keineswegs einfach zu realisieren war. Obgleich das tonale Material durch zwei kurze melodische Motive etwas spärlich ausfällt, merkt man dem Mix, trotz der vielen Rückschläge während der Produktion, sowohl eine Transparenz und Trennschärfe bezüglich der einzelnen Frequenzbereiche als auch eine generelle, detailverliebte Akribie an. Das Stück »Musique Non-Stop« bildet den Abschluss dieser rhythmisch und melodisch ineinander verwobenen Trilogie. Im Vordergrund steht hierbei das aus dem Zwischenteil von »Techno Pop« bekannte melodische Motiv, welches hier allerdings nicht synkopiert erfolgt. Das diesem Thema zugrunde liegende klangliche Material besteht aus zusammengesetzten, im Panorama verteilten Samples einer mit »Betty« benannten Frauenstimme des Dectalks,879 unter denen eine geloopte, ausschließlich aus dem Hallanteil eines dieser Samples bestehenden Klangfläche liegt. Erwähnenswert ist neben einem ebenfalls aus den gleichen

878 879

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Verschiedene Stimmen des Dectalk sind hier zu entnehmen: Gendered Innovations: DECTalk Voices, https://www.youtube.com/watch?v=8pewe2gPDk4 (abgerufen am: 10.11.2020). Bartos 2017, S. 427 f.

4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

Samples bestehenden Zwischenteil – hier erfolgen sie allerdings mehrstimmig in Form einer kleinen, aus den Tönen H und D bestehenden Terz – sowie verschiedenen anderen, ebenfalls mit dem Dectalk erzeugten Sprachsamples880 vor allem das Drumpattern. Aufbauend auf den Schlagzeugklängen der Linn-Drumcomputer der ersten beiden Stücke kommt dabei zusätzlich eine TR-808 zum Einsatz, dessen Klänge auch hier durch verschiedene artifizielle Hallräume und Delays verändert werden. Wie bei den vorhergehenden Stücken wird auch hier der »Zap«-Klang als kraftwerk’scher Signature Sound als Bestandteil der Perkussionsspuren verwendet.

Bsp. 27: Kraftwerk: »Musique Non-Stop«, Drumpattern

Das Stück »Der Telefon Anruf« vereint die aus tanzbaren Rhythmen und Samples bestehende Kombination der Vorgängerstücke mit Song-orientierten formalen Strukturen in Gestalt der Wiederholung eines zweigliedrigen Gesangsteils, welcher von Karl Bartos gesungen wird.

Bsp. 28: Kraftwerk: »Der Telefon Anruf«, Synthesizer-Hookline

Mit dem abwechselnden Einsatz von Gesang und Synthesizer-Melodie wird ferner ein bekanntes Stilelement Kraftwerks aufgegriffen, dem neben digitalen Synthesizer-Klängen wie etwa den Violinen-Presets der DX-Serie881 auch die bereits auf Die Mensch-Maschine zu hörenden ätherischen Pulswellenklänge 880 881

Ebd., S. 427. Ebd., S. 430.

319

4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

zugrunde liegen. Wie bereits erwähnt nimmt bei diesem Stück das Sampling eine besondere Position ein, welches sich primär aus Geräuschen und Stimmen der Telekommunikation zusammensetzt, die  – ursprünglich von Florian Schneider erstellt  – während der Mixing-Sessions im Jahre 1985 von François Kevorkian ergänzt wurden.882 Zum einen setzen sich wie bei »Musique Non-Stop« aus der Aneinanderreihung dieser Klänge einzelne Melodien zusammen, zum anderen wird dadurch der textuelle Gehalt des Stückes akustisch untermauert. Ergänzt wird das Sampling durch einen auf dem Grundton G stehenden, perkussiven, über dreiminütigen Teil, der sich aus den ebenfalls von Die Mensch-Maschine bekannten Bassklängen zusammensetzt, deren Filterfrequenz jeweils stark variiert, wodurch infolge der hohen Resonanzwerte ständig verschiedene Obertöne hervorgehoben werden. Darüber hinaus werden auch hier wie schon auf den vorherigen Stücken die Percussion-Spuren mit dem unverkennbaren »Zap«-Sound angereichert. Der Teil ist weitgehend von den Popsong-spezifischen Elementen der ersten Hälfte des Stückes entkoppelt und orientiert sich angesichts seines Pattern-artigen Aufbaus und der ständigen, in nur geringen Variationen erfolgenden Wiederholungen weniger musikalischer Motive eindeutig an der Gestalt von 12"-Singles, was einerseits sicherlich der Publikumstestphasen in der Diskothek Moroco geschuldet sein dürfte. Andererseits könnte man auch unterstellen, dass diese Art von Motivverarbeitung den – trotz aller kraftwerk-immanenter, programmatischer Reduktion  – auf Electric Café vorherrschenden melodischen Ideenmangel zu kaschieren und die mit 36 Minuten ohnehin kurze Spielzeit in die Länge zu treiben versucht. Das nachfolgende Stück »Sex Objekt« knüpft formal an »Der Telefon Anruf« an: Auch hier finden sich neben synkopierten Schlagzeug-Pattern und Sprachsamples Gesangspassagen, die sich an Song-basierte Strukturen anlehnen. Harmonisch abwechselnd auf e-Moll und einem auf dem Quintbass stehenden a-Moll-Akkord basierend setzen sich die den monotonen Gesang untermalenden sowie konterkarierenden Synthesizer-Melodien aus dem für Kraftwerk typischen minimalistischen Tonmaterial zusammen, welches in nahezu unveränderter Weise auch schon auf der Demo-Version zu vernehmen war, auf der Album-Version aber deutlich opulenter orchestriert wurde. Etwa ab der Mitte des Stückes schließt sich ein Teil an, der in etwa die gleiche Funktion des Dancefloor-affinen Instrumentalteils von »Der Telefon Anruf« hat. Hier wird neben den zahlreichen Telefon-Samples auch die Eröffnungssequenz motivisch verarbeitet. Neben den bereits auf »Tour de France« zu hörenden »Slap-

882

320

Ebd., S. 406 und 428 f.

4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

Bsp. 29: Kraftwerk: »Sex Objekt«, Synthesizer-Hookline

Bsp. 30: Kraftwerk: »Sex Objekt«, Synthesizer-Bridge (Auszug)

Bass«-Samples liegt der klangspezifische Schwerpunkt auf synthetischen DXStreicherklängen, die dem Stück insbesondere durch die lang ausgehaltenen Töne am Schluss eine orchestrale Schwere verleihen. Das Titelstück »Electric Café« ist nicht nur das letzte Stück des Albums, sondern auch diejenige Komposition, die in der Post-Synthanorma-Phase entstand, in welcher primär auf den LinnSequencer in Verbindung mit den DX-Klängen gesetzt wurde. Interessanterweise wurde aber die aus stark tonhöhenmodulierten Sinuswellenklängen bestehende Einleitung, welche auch im Zwischenspiel noch einmal auftaucht, mit Analogtechnik realisiert: So kombinierte Florian Schneider nach Aussage von Karl Bartos »ein paar analoge Synthesizer und einen Sequenzer«, deren Verschaltung sich zum Tempo des Stückes synchronisieren ließ.883 Neben diesem Motiv basiert das Stück aus zwei Melodien, die beide mit einem Vokalähnlichen, an das Hauptmotiv von »Musique Non-Stop« erinnernden Synthesizer-Klang gespielt werden, bei welchem es sich angesichts der Klangverläufe wahrscheinlich um ein modifiziertes »Voice«-Preset der DX-Serie handeln dürfte. Über der ersten Melodie  – eine Abwandlung des Hauptmotivs von »Trans Europa Express« – erscheint in der Regel der unter der Mitwirkung von Maxime Schmitt entstandene französische Text, welcher von Ralf Hütter gesprochen wird. Lediglich nach dem ersten Zwischenspiel erfolgt eine synthetisierte Sprachvariante in der spanischen Übersetzung. An die stichwortartig gehaltenen Vokalpassagen schließt sich jeweils eine zweite, laut Karl Bartos einer früheren Version

883

Ebd., S. 430 f.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Bsp. 31: Kraftwerk: »Electric Café«, 1. Thema

Bsp. 32: Kraftwerk: »Electric Café«, 2. Thema

von »Techno Pop« entnommene, Refrain-artige Melodie an,884 deren Abschluss jeweils der ebenfalls mittels synthetischer Sprache generierte Satz »Electric Café« bildet. Das Stück ist Karl Bartos zufolge in ungefähr einer Woche geschrieben und eingespielt worden.885 Was sich gleichzeitig aber auch nicht ganz verhehlen lässt: Neben der klanglich interessanten Einleitung besteht es lediglich aus zwei minimalistischen Motiven, die dazu noch mit dem gleichen Sound besetzt wurden. Auch das synkopierte Drumpattern zeigt nur wenig Variantenreichtum und lässt die klangliche, gerade bei den ersten drei Stücken des Albums zu vernehmende Akribie hinsichtlich der Effektnachbearbeitung doch vermissen. So gesehen dokumentiert »Electric Café« möglicherweise am deutlichsten, warum das Album nach seiner Veröffentlichung in der Presse weitestgehend durchfiel:886 Das Konzept einer bedingungslosen musikalischen Reduktion im Hinblick auf Melodik und Harmonik funktionierte offenbar nicht mehr und drohte zum Recycling der eigenen musikalischen Vergangenheit zu werden. Karl Bartos sah dies unter anderem in der Sampling-Technologie begründet, durch die Kraftwerk einer Klangfetischisierung anheimfielen, welche zur Vernachlässigung der übrigen musikalischen Inhalte führte: »Durch die Sampling-Technik wurden […] konkrete Klänge oft zum Ausgangspunkt der Gestaltung. Dadurch hatte sich unsere Musik in den letzten Jahren zu einer immerwährenden Reihung rhythmischer Muster von Sprache und Geräuschen entwickelt. […] Unser musikalischer Ausdruck, der einst von

884 Ebd., S. 431. 885 Ebd. 886 Ebd., S. 444.

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4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

Polyphonie geprägt war, wandelte sich zu einer Form der aneinandergereihten Events, die mehr mit dem seriellen System als mit der originären Idee unserer Musik gemein hatte.«887

Eine Einschätzung hinsichtlich der Qualität von Electric Café fällt schwer. Die Schwerpunktverlagerung von Melodik und Harmonik in Richtung Sounddesign entsprach natürlich dem Zeitgeist der digitalen Revolution in der Studiotechnik der 1980er Jahre, in dem schon ein neuer Klang interessant genug war, um als kompositionsstiftendes Motiv zu genügen  – ein in der Historie der Popmusik häufiges Phänomen, das wie erwähnt auch schon mit dem Aufkommen der Analog-Synthesizer zutage trat. Ferner griff das Album durch die ständige, in verschiedenen klanglichen Variationen erfolgende Motivwiederholung die RemixPraxis der Clubmusik auf, die sich damals zumindest im Hinblick auf House und Techno noch im musikalischen Untergrund befand und in den folgenden Jahren allein den Aspekt des Sounds in Kombination mit minimalistischer Repetitivität zum musikalischen Inhalt machen sollte. Aus dieser Warte könnte man Electric Café sogar als durchaus zukunftsweisend ansehen. Allerdings steht das Album auch in der Historie einer als Pioniere geltenden Gruppe, die in der Vergangenheit durch sehr starke Konzepte wie auf Die Mensch-Maschine und Computerwelt stets neue musikalische Welten hervorgebracht hat, an denen sie sich permanent messen lassen mussten, was mit Electric Café schließlich nicht mehr gelang. Bernd Gössling: »Für mich hatten Kraftwerk mit Computerwelt alles gesagt. ›Tour de France‹ fand ich als Song schwach – auch die Fahrradthematik war für mich ein bedeutungsloser Rückzug ins Private. Das hatte einfach nichts Progressives mehr. Von Elec­ tric Café habe ich dann gar keine rechte Notiz mehr genommen, da gab es bedeutend stärkere Sachen.«888

Ähnlich äußert sich Andy McCluskey: »Früher konntest du bei Kraftwerk noch handgemachte Elemente ausmachen, die dem Ganzen Charme und Menschlichkeit verleihen. Mit diesem Album war das nicht mehr der Fall. […] Die menschliche Seite ist gänzlich verloren gegangen, und ich finde das alles lange nicht mehr so verlockend und fesselnd wie früher […].«889

887 888 889

Ebd., S. 447. Bernd Gössling im Interview mit dem Verfasser am 10.11.2020. Zit. n. Andy McCluskey in: Esch 2014, S. 376.

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4  Elektronische Popmusik – von Autobahn bis Techno Pop / Electric Café

Im Vergleich zu Die Mensch-Maschine und Computerwelt wirkt das Album dementsprechend wie eine lose Ansammlung von Dancefloor-orientierter Musik ohne ein einheitliches rahmengebendes Konzept – ein Mangel, der durch Umbenennung von Techno Pop in Electric Café nochmals verschärft wurde. Obwohl sich Kraftwerk in ständiger Konkurrenz zu aktuellen Produktionen der 1980er Jahre wähnten und permanent das Gefühl hatten, in diesem Vergleich nicht bestehen zu können, erwies sich der Produktions-Marathon in Bezug auf die klangliche Komponente im Endeffekt doch als fruchtbar: So ist der Sound wesentlich zeitloser als bei den während des Mixings von Karl Bartos als Referenz herangezogenen Produktionen von Peter Gabriel und Janet Jackson.890 Weder findet man der damaligen musikalischen Mode entsprechende große Hallräume, auch die Drumpattern orientieren sich vielmehr am genuinen Electro-Stil, als dass hier Konzessionen an für die 1980er Jahre typische Modeerscheinungen wie etwa die Shufflebeats gemacht wurden. Dass das Album in der retrospektiven Betrachtung wesentlich zeitloser klingt als andere Produktionen dieser Ära, mag auch daran liegen, dass viele Electro-Klänge in den 1990er Jahren ein Revival erfahren haben und die Klangästhetik hinsichtlich künstlicher Räume sich in dieser Zeit auch wieder von der Artifizialität und dem Bombast der 1980er Jahre in eine vermeintliche authentischere und damit trockenere Richtung entwickelt hat. Es ist aber auch ein Zeichen dafür, dass Kraftwerk sich bei aller Unsicherheit offensichtlich weitgehend treu geblieben sind, was eine originäre Klangästhetik anbelangt, wie anhand von Signature-Klängen wie dem »Zap«-Sound oder der in dieser Qualität nach wie vor konkurrenzlosen Verwendung von synthetischer Sprache zu sehen ist. Als weiteres Beispiel hierfür kann eine Anfrage der US-amerikanischen Plattenfirma im November 1986 herangezogen werden, einen Remix der englischen Version »The Telephone Call« von den damals laut Karl Bartos extrem populären Remixern Steve Thompson und Michael Barbiero anfertigen zu lassen. Hierbei verwendeten Letztere die damals omnipräsente Cowbell der TR-808, als dessen Folge Ralf Hütter die Zusammenarbeit beendete, da man sich mit dem musikalischen Mainstream nicht gemein machen wollte:891 Obgleich Kraftwerk sehr wohl daran interessiert waren, klanglich immer am Puls der Zeit zu sein, wurde in allen musikalischen Bereichen immer eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt, was zum Teil auch unbeabsichtigt der Fall gewesen sein mag – schlicht aus der Tatsache heraus, es nicht anders zu können respektive »nicht besonders flexibel«

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Bartos 2017, S. 436 f. Ebd., S. 441 f.

4.8  »Tour de France« und Techno Pop / Electric Café

zu sein, wie Ralf Hütter schon zu Zeiten von Computerwelt formulierte.892 Die Autonomie der Gruppe stand aber immer im Vordergrund, sei es im Bezug auf die künstlerische Unabhängigkeit und die Verwertung und Kontrolle des eigenen Produktes als auch in Form der musikalischen Eigenständigkeit, die auch durch die konsequente Ablehnung von Kollaborationen mit anderen Musikern zum Ausdruck gebracht wurde.893 Im Jahre 1986 allerdings befanden sich Kraftwerk nach der Veröffentlichung von Electric Café auf dem Tiefpunkt ihrer Karriere. Angesichts des verhaltenen Erfolgs des Albums stand eine Tournee nicht zur Debatte.894 Den negativen Erfahrungen bezüglich des mühsamen Umstiegs auf die Digitaltechnologie begegneten Ralf Hütter und Florian Schneider mit einem Sprung nach vorn, indem sie nach dem Kauf des Synclaviers abermals das Kling Klang Studio umbauen ließen, um es auf den neuesten technischen Stand zu bringen.895 Zwar konnte man mit diesem Entschluss die Konkurrenzfähigkeit hinsichtlich der technischen Komponente wiederherstellen, im musikalischen Bereich verschärfte sich die Situation jedoch immer mehr: Galt es noch während der Produktion von Electric Café mit den Veröffentlichungen des zunehmend elektronischer klingenden Popmarkt mitzuhalten, entwickelte sich mehr oder weniger unter dem Radar in den USA eine im Untergrund operierende mannigfaltige Clubszene, in der die Musiker eine neue Form von elektronischer Tanzmusik kreierten, welche in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nach und nach auf den Musikmarkt drängte. Neben den Electro-Epigonen aus Detroit schickten sich nun auch DJs und Produzenten aus Chicago und New York an, mit den Genres House und Techno das Geschehen im Bereich der elektronischen Popularmusik in eine neue Richtung zu führen, in der Kraftwerk nur noch als Randnotiz vorkamen.

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Hütter, Ralf: Elektronischer Lebensstil – Ralf Hütter im Interview mit Dankmar Isleib, Musikexpress, 1981, https://www.thing.de/delektro/www-eng/kw5-81.html (abgerufen am: 03.01.2021). Laut Wolfgang Flür hatte neben David Bowie auch das Management von Michael Jackson Kontakt aufgenommen und die Wünsche für eine Zusammenarbeit formuliert. Aus Gründen der Autonomie hätten sich Hütter und Schneider aber dagegen entschieden. Flür 1999, S. 265 f. Karl Bartos erwähnte ferner, dass in den 1980er Jahren Elton John an einer Zusammenarbeit interessiert gewesen sei, ohne allerdings näher darauf einzugehen, ob jemals vertiefende Gespräche in dieser Richtung stattgefunden hätten. Zu einer Zusammenarbeit ist es jedenfalls nie gekommen. Bartos 2017, S. 406 f. Ebd., S. 440. Die 12"-Single von »The Telephone Call«/»House Phone« erreichte genauso wie die Singleauskopplung »Musique Non-Stop« die Nummer 1 der amerikanischen Dancecharts. Kraftwerk: »The Telephone Call«, https://en.wikipedia.org/wiki/The_Telephone_Call (abgerufen am: 15.02.2021). Kraftwerk: »Musique Non-Stop«, https://en.wikipedia.org/wiki/Musique_NonStop (abgerufen am: 15.02.2021). Bartos 2017, S. 451.

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5 Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug 5.1 Exkurs: House und Techno – elektronischer Underground wird zum Massenphänomen

Die Historie von Techno, House und Garage setzt sich aus mehreren Handlungssträngen zusammen, die zum Teil parallel entstanden und sich gegenseitig beeinflussten. Nachdem bereits in den Kapiteln 4.7.4 und 4.7.5 die Entstehung des Kraftwerk-basierten Detroit-Technos thematisiert wurde, soll im Folgenden der Fokus auf das aus Chicago stammende Genre House gelegt werden, dessen Ursprung im Disco der 1970er Jahre lag. Spricht man über Disco, gilt es nicht nur die diesem Genre zugrunde liegende Produktionen wie etwa von Giorgio Moroder zu berücksichtigen, sondern das Augenmerk gleichfalls auf die eigentlichen Protagonisten dieser Stilrichtung zu lenken, die aus dem Fundus unterschiedlichster Musik die eigentliche Essenz des Discos – die Tanzbarkeit – in den Clubs in immer unzähligeren Variationen jedes Mal neu ineinandermischten: die Disc Jockeys. Das DJing als schöpferischer Prozess war in den 1970er Jahren keinesfalls nur der aufstrebenden Hiphop-Szene vorbehalten. So hoben etwa New Yorker wie Francis Grasso oder Nicky Siano in der ersten Hälfte der 1970er Jahre das »Beatmatching« – die rhythmische Synchronisation zweier auf den Plattentellern laufenden Stücke  – auf ein bis dato nicht gekanntes Niveau und erschufen dadurch für die Tanzfläche prädestinierten, perfekten, nicht enden wollenden Musikfluss.896 Siano, einer der Initiatoren des 1972 in New York eröffneten Clubs »The Gallery«897 und einer der Stars der DJ-Szene, gab seine Fähigkeiten an die beiden befreundeten DJs Frankie Knuckles und Larry Levan weiter, die den Ausgangspunkt der eigentlichen House-Musik bilden.898 Namensgebend für dieses Genre war der Chicagoer hauptsächlich von schwarzen Homosexuellen frequentierte Club »The Warehouse«, in dem Knuckles auf Vermittlung von Levan 1977 zum ersten Mal auflegte, was ihm unmittelbar die Stelle als Resident-DJ einbrachte.899 Was Knuckles’ historische Leistung ausmachte, war der kreative Umgang mit dem zum damaligen Zeitpunkt beginnenden Abebben der Discowelle: Zwar stieß Disco in den schwarzen Schwulenclubs nach wie vor auf große Resonanz, es mangelte aber an neuen Uptempo-Veröf-

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Brewster / Broughton 1999, S. 145 ff. und 160 ff. Siano, Nicky, https://www.nickysiano.com/Bio.htm (abgerufen am: 23.11.2020). Kempster 1996, S. 13. Brewster / Broughton 1999, S. 314 ff.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

fentlichungen, so dass sich Knuckles gezwungen sah, Stücke radikal zu mixen und völlig neue Versionen daraus zu machen, um seine Sets nach wie vor tanzbar zu halten;900 eine Praxis, die in New York durch DJs wie Francis Grasso und Nicky Siano, aber auch durch die beispielsweise von Afrika Bambaataa und Grandmaster Flash vertretene Hiphop-Fraktion normal, in Chicago hingegen völlig neu war, was das Warehouse zum angesagtesten Club der Stadt machte. Frankie Knuckles: »So I would take different records like ›Walk The Night‹ by the Skatt Bros. or stuff like ›A Little Bit Of Jazz‹ by Nick Straker, ›Double Journey‹ [by Powerline] and things like that, and just completely re-edit them to make them work better for my dancefloor. Even stuff like ›I’m Every Woman‹ by Chaka Khan, and ›Ain’t Nobody‹«901

Da der von Knuckles dargebotene Stilmix nicht auf Platte veröffentlicht wurde und deswegen nur live im Warehouse erfahrbar war, kristallisierte sich gegen Anfang der 1980er Jahre für diese Art Musik bald in Anlehnung an den Namen des Clubs der Begriff House Music respektive House heraus.902 Nachdem Knuckles in dieser Zeit bereits begonnen hatte, von ihm auf Tonband anfertigte Mixes in seine DJ-Sets zu integrieren,903 verfeinerte er diese im Jahre 1983, in dem er zunächst zur Überbrückung, schließlich auch zur Untermalung der einzelnen Stücke einen nicht näher benannten Drumcomputer einsetzte. Obgleich Knuckles bis dato mit Stücken von Yello oder Kraftwerk eine elektronische Komponente in seinen Mix implementierte,904 ist dieser technologische Schritt doch die eigentliche Geburtsstunde von House. In dieser Zeit verließ Knuckles nach einem Streit das Warehouse, um einen eigenen Club mit dem Namen The Power Plant zu gründen,905 woraufhin das Warehouse in The Music Box umbenannt wurde. An Knuckles’ Stelle trat als Resident-DJ Ron Hardy, der eine härtere, schnellere und 900

Broughton, Frank: Frankie Knuckles im Interview mit Frank Broughton (February 1995), in: Red Bull Music Academy, 21.02.2018, https://daily.redbullmusicacademy.com/2018/02/frankie-knuckles1995-interview (abgerufen am: 16.02.2021). 901 Zit. n. Frankie Knuckles in: Broughton, Frank: Frankie Knuckles im Interview mit Frank Broughton (February 1995), in: Red Bull Music Academy, 21.02.2018, ebd. 902 Brewster / Broughton, 1999, S. 314 f. 903 Knuckles, Frankie: Frankie Knuckles im Interview mit Jeff »Chairman« Mao, in: Red Bull Music Academy, 2011, https://www.redbullmusicacademy.com/lectures/frankie-knuckles-lecture (abgerufen am: 24.11.2020). 904 NPR: Legendary House Music Producer Frankie Knuckles Dies At 59, 2014, https://www.npr.org/ transcripts/297852297?storyId=297852297?storyId=297852297&t=1606223115266 (abgerufen am: 24.11.2020). 905 Broughton, Frank: Frankie Knuckles im Interview mit Frank Broughton (February 1995), in: Red Bull Music Academy, 21.02.2018, https://daily.redbullmusicacademy.com/2018/02/frankie-knuckles1995-interview (abgerufen am: 16.02.2021).

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5.1  Exkurs: House und Techno

perkussivere Variante der House-Musik auflegte,906 die aber ebenfalls auf dem Fundament einer elektronisch generierten Four-to-the-Floor-Bassdrum stand, was bis heute als eines der zentralen Merkmale von House gilt. Ron Hardy: »[…] Es ging eben mehr um einen bestimmten Vibe, das, was so in den Clubs passierte, da war für ziemlich vieles Platz. Frankie goes to Hollywood’s ›Two Tribes‹ z. B. war ein Mordshit, das war auch House für uns: Letztendlich alle mit ’ner synthetischen Kickdrum und ’nem funkigen Grundgefühl, fast alles, was dieses ›ts, ts, ts‹ auf der Hi-Hat und ’ne Kickdrum hatte, lief unter ›Oh, it got a Kick – it’s House‹.«907

House entstand dabei keinesfalls autark, sondern war gleichfalls dem sich gegenseitig befruchtenden Austausch und Wettbewerb zwischen den Protagonisten des Detroit-Techno und den Chicagoer DJs unterworfen,908 was sich auch in technischer Hinsicht manifestierte. So etwa kam der 1985 für kurze Zeit in Chicago lebende Derrick May mit Knuckles in Kontakt und verkaufte ihm den 1983 erschienenen Drumcomputer Roland TR-909,909 welcher bis heute für beide Stile das klangästhetische rhythmische Fundament bildet. Die Analyse eines Mitschnitts eines DJ-Sets von Knuckles im Power Plant910 aus dem Jahre 1983 gibt einen guten Überblick, was House-Musik zur damaligen Zeit ausmachte: So werden Disco-, Hi-NRG- und Funk-Produktionen wie etwa von Rare Essence oder Two Tons O’ Fun in ein- bis dreiminütiger Länge in loser Abfolge mit elektronischen Stücken von beispielsweise Yello oder Klein & M. B. O. gemischt. Das Fundament bildet dabei ein durchgängiger, 128 bpm schneller Four-to-the-Floor-Beat, der in den Übergangsphasen zwischen den einzelnen Stücken immer wieder mit Percussionbreaks und dem Einblenden kurzer Vocalelemente – sogenannter »Sayings« – angereichert wird. Obgleich allem Anschein nach zumindest in dem hier diskutierten Abschnitt kein zusätzlicher Drumcomputer verwendet wird, stellt sich durch das im Abgleich zu den von Knuckles aufgelegten Studioproduktionen der Stücke extrem basslastig eingestellte EQ-ing hinsichtlich der Bassdrums eine unmittelbare Verwandtschaft zur Klangästhetik der TR-909 ein. Dies wird dadurch verstärkt, dass einige der von 906

Eshun 2000, S. 75. Brewster, Bill und Broughton, Frank: Interview: Derrick May (August 2004), in: Red Bull Music Academy, 22.05.2014, https://daily.redbullmusicacademy.com/2017/05/interviewderrick-may (abgerufen am: 20.08.2020). 907 Zit. n. Roy Davis Jr. in: Feige 2000, S. 37. 908 Rubin 2000, S. 116. 909 Laut Frankie Knuckles erfolgte der Kauf im Jahre 1984. Broughton, Frank: Frankie Knuckles im Interview mit Frank Broughton (February 1995), in: Red Bull Music Academy, 21.02.2018, https://daily. redbullmusicacademy.com/2018/02/frankie-knuckles-1995-interview (abgerufen am: 16.02.2021). 910 Knuckles, Franckie: Frankie Knuckles – Live at the Powerplant, Chicago – Somewhere in 1983 Side A, https://www.youtube.com/watch?v=1J_CFFRjGlY (abgerufen am: 22.11.2020).

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

Knuckles aufgelegten Stücke aus Beats der TR-808 bestehen, deren Handclapund Rimshot-Sounds identisch klingen. Neben Frankie Knuckles, der durch seine DJ-Sets die Ästhetik des House definiert hatte und damit als Initiator dieses Genre gilt, begannen auch andere DJs in Chicago diesen Sound zu adaptieren und weiterzuentwickeln. So bereicherte Roy Hardy seine DJ-Sets, in dem er von den EQ-Möglichkeiten seines Mischpultes extremen Gebrauch machte. Um musikalische Verläufe dynamisch zu steigern und zusätzliche Höhepunkte einzubauen, blendete er verschiedene Frequenzbereiche ein und aus oder fügte durch extreme Resonanzeinstellungen sogenannte Filterfahrten durch, bei denen wie bei den Sweep-Sounds von analogen Synthesizern bestimmte Frequenzen betont wurden  – eine Praxis, die bis heute das Mixing in der Dance Music bestimmt.911 Abseits des Clubbetriebs begannen auch einige DJs der Chicagoer Radiostationen Musik im House-Stil zu mischen, allen voran die aus fünf DJs912 bestehenden Hot Mix 5 des Senders WBMX,913 welche vor allem eine Mischung aus Synth-Pop wie Depeche Mode, The Human League oder Gary Numan sowie Hi-NRG-Produktionen spielten.914 Zupasskam ihnen hier das ab Anfang der 1980er Jahre populäre Genre des Italo Disco, welches ähnlich wie Hi-NRG an der von Moroder geprägten elektronischen Variante des Discos anknüpfte. Die darunter zusammengefassten Stücke verband die Kombination aus einem synthetischen Four-to-the-Floor-Beat sowie einfachen Synthesizer-Sequenzen, die sich leicht ineinandermischen ließen. Die Hot Mix 5 hatten allerdings nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf das Geschmacksgeschehen und der einzelnen Ingredienzen des House,915 sie zeichneten sich auch durch ein hohes handwerkliches Können aus: So urteilte einer der Chicagoer DJs und House-Produzent Marshall Jefferson: »All of the Hot Mix 5 were amazing, technique-wise, […], They would have to records of everything, everything was phased, they’d do backspinning and things on every song. Perfect, no mistakes, […]«916 Ein sehr populäres Werkzeug der damaligen Zeit stellte eine 1981 veröffentlichte niederländische Produktion dar, welche ausschließlich aus programmierten, minutenlang ohne Break laufenden Discobeats bestand und direkt an DJs adres-

911 912

Brewster / Broughton 1999, S. 321. Begründet wurden die Hot Mix 5 von Kenny »Jammin« Jason, Farley Keith Williams, auch bekannt als Farley »Jackmaster« Funk, Mickey »Mixin« Oliver, Ralphi Rosario und Steve »Silk« Hurley. In den folgenden Jahren gesellten sich jedoch auch andere DJs hinzu. Ebd., S. 324. 913 Ebd. 914 Ebd. 915 Ebd., S. 325. 916 Zit. n. Marshall Jefferson in: Brewster / Broughton 1999, S. 324.

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5.1  Exkurs: House und Techno

siert war,917 die damit auf einfache Weise ihre Stücke zum einen untermalen oder zum anderen die Pausen zwischen zwei Stücken kaschieren konnten. House entstand bis dato aus dem kreativen Prozess des Mischens der DJs und war daher nur entweder in den Clubs oder im Radio erfahrbar. Einer der ersten DJs, der Knuckles’ Idee der Verwendung eines Drumcomputers adaptierend auf diesem synthetisch generierten rhythmischen Fundament eigene Stücke produzierte, war Jesse Saunders. Diese Pattern-basierten Stücke wurden (in Anlehnung an die englische Bezeichnung der Schlagzeugspur) Drumtracks – im Folgenden Tracks  – genannt, ein Terminus, der bis heute in der Electronic Dance Music synonym für den Begriff des Songs verwendet wird und verdeutlicht, dass »das Stück neben seiner relativen Eigenständigkeit als Song, vor allem als Teil eines DJ-Mixes seine letzte ästhetische Bestimmung erhalten hatte«.918 Als erster House-Track gilt das im Jahre 1984 von Saunders veröffentlichte, neunminütige Stück »On and On«, welches in seiner Struktur durch einzelne mit der TR-808 programmierte Drumparts, welche mit Vokalfragmenten, Synthesizer-Sequenzen und Klangeffekten immer wieder neu ineinandergemischt werden, ganz der DJ-Praxis des House entsprach. Überzeugt von der Nachfrage nach solchen Produktionen gründete der Chicagoer Geschäftsmann Larry Sherman im selben Jahre das House-Label Trax Records und nahm Saunders neben einigen anderen bekannten DJs unter Vertrag. Wie in Kapitel 4.7.5 anhand des DetroitTechno dargelegt, basierten auch die auf den ersten Stücken des House verwendeten Klänge nahezu ausschließlich auf analogen Synthesizern, die zur damaligen Zeit durch den Siegeszug der Digitaltechnologie in der Synthesizer-Industrie als veraltet galten und ihr Dasein in Second- Hand-Läden fristeten, wo sie für wenig Geld zum Verkauf angeboten wurden. Obgleich um die Jahrzehntwende der 1970er/1980er Jahre der Synthesizer-Markt schon durch günstige Kompakt-Synthesizer wie der Korg MS-Serie einer größeren Klientel zugänglich war, konnten durch die erneute, in kürzester Zeit einsetzende Verbilligung der Produktionsmittel mehr Musiker am vormals durchaus exklusiven Bereich der elektronischen populären Musik teilnehmen. In der Folge setzten sich die Chicagoer wie auch die Detroiter EDM-Produktionen klanglich stark von der digital geprägten Klangwelt der Popularmusik ab. Neben dem günstigen Anschaffungspreis boten

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918

Brewster / Broughton 1999, S. 325. Die Produktion mit dem Namen MIX YOUR OWN »STARS« erschien auf dem Label TTS und war mit dem Zusatz »Supersound Disco Mix for DJs only« versehen. Den auf der Platte lediglich durchnummerierten Stücken waren Informationen zum Tempo sowie der Instrumentierung hinzugefügt. MIX YOUR OWN STARS: MIX YOUR OWN ›STARS‹ – TRACK ONE (119 BEATS A MINUTE), https://www.youtube.com/watch?v= tu1kswAJrB0 (abgerufen am: 22.11.2020). Poschardt 2001, S. 250.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

die analogen Synthesizer durch ihre Bedienungsfreundlichkeit aber auch einen selbst für ungeübte Musiker guten, leicht verständlichen Zugriff auf das Klanggeschehen, welches für die wachsende Bedeutung des Parameters Klangfarbe  – gerade hinsichtlich der in der Techno- und House-Musik allgegenwärtigen, durch Filterung erzeugten Klangverläufe – äußerst zuträglich war. Allen ersten House-Produktionen war erstaunlicherweise gemein, dass sie durch die Verwendung von Drumcomputer wie der TR-707, der TR-808 oder dem Drumtraks zwar elektronisch generierte Beats hatten, die damit evozierte Klangästhetik allerdings eher Anleihen an Electro hatte denn an dem, was man heute unter House versteht. Auch die Abmischung der Bassdrums fiel etwas dünn aus, was sich erst mit dem Aufkommen der TR-909 änderte. Obwohl dieser Drumcomputer in den Clubs durch Frankie Knuckles und Ron Hardy bereits live eingesetzt wurde,919 dauerte es doch bis 1986, bis er auf den ersten House-Produktionen Verwendung fand. Diese Zeitverzögerung war allerdings der allgemeinen Praxis geschuldet, dass die fertiggestellten Tracks zunächst über einen längeren Zeitraum von den DJs in den Chicagoer Clubs getestet und erst im Falle einer positiven Publikumsresonanz veröffentlicht wurden.920 Die TR-909 erwies sich recht bald als alternativlos  – gerade die Bassdrum klang extrem druckvoll und war in dieser Form mit keinem anderen Gerät zu erzeugen. In Verbindung mit dem ebenfalls sehr signifikant klingenden Snaredrum- und dem von der TR-808 bekannten Handclap-Sound entwickelte sich die TR-909 daher schnell zum klanglich stilbildenden rhythmischen Fundament, welches bis heute im Bereich von Techno und House nicht mehr wegzudenken ist. Dass ein Instrument in der populären elektronischen Musik klanglich so prägend sein kann, dass es ein einzelnes Subgenre definiert, zeigt ferner der ebenfalls von Roland entwickelte Bass-Synthesizer TB-303 Bass Line, dem an dieser Stelle genaueres Augenmerk zuteilwerden soll. Ursprünglich in Verbindung mit dem Drumcomputer TR-606 – einer reduzierten Version der TR-808 – als Begleitung für Gitarristen und Organisten 1981 auf den Markt gebracht, erwies sich die Kombination aus Sequenzer und Synthesizer aufgrund ihrer extrem unnatürlich klingenden Klangeigenschaften und der umständlichen Programmierung für die angepeilte Zielgruppe als völlig ungeeignet, weswegen das Gerät 1984 wieder vom Markt genommen wurde, obgleich es in einigen Pop- und Electro-Produk-

919 909originals: »When you feel it, it wraps itself around you …« Frankie Knuckles on the devastating impact of

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the Roland TR-909, 09.09.2019, https://909originals.com/2019/09/09/when-you-feel-it-it-wrapsitself-around-you-frankie-knuckles-on-the-devastating-impact-of-the-roland-tr-909/ (abgerufen am: 22.11.2020). Poschardt 2001, S. 250.

5.1  Exkurs: House und Techno

tionen als Bass-Synthesizer durchaus Verwendung gefunden hatte.921 Ihre eigentliche Entdeckung im Bereich der EDM fand aber durch den Chicagoer DJ Pierre statt, der dem Gerät durch Experimentieren den bis heute stilprägenden, aus der permanenten Filtereckfrequenzmodulation bei hoher Resonanz entstehenden aggressiven, oft auch als zirpend oder blubbernd beschriebenen Sound entlockte. Auch hier wurde das fertige Stück zunächst einem Testlauf unterzogen: So spielte Ron Hardy das Stück an einem Abend beharrlich mehrere Male, obgleich die erste Reaktion des Publikums darauf ablehnend war. Durch den sich im Verlauf des Abends stetig steigernden Drogenkonsum der Clubbesucher in Form von LSD und Ecstasy wurde die Resonanz darauf immer euphorisierender und steigerte sich beim letztmaligen Abspielen zur puren Ekstase.922 Die Kombination aus TR-909 und TB-303 war durch ihre genuinen, ganz eigentümlichen Klangeigenschaften nicht nur völlig neu, sie schien im Clubkontext durch ihren aus wenigen Sequenzen bestehenden monotonen, jedoch durch die Filtermodulation stetig an- und abschwellenden Klangcharakter offenbar geradezu prädestiniert zu sein für den mit der Clubkultur untrennbar verbundenen Drogenkonsum des Publikums. Aus diesem Grunde benannten DJ Pierre und seine beiden Mitstreiter Herb Jackson und Earl »Spanky« Smith jr. die im Jahre 1987 unter dem Namen Phuture veröffentlichten Stücke in Anlehnung an das Synonym von LSD mit »Acid Tracks« und legten damit den klangprogrammatischen Grundstein des Acid-House-Genres.923 Wie schon zu Beginn der 1970er Jahre der Synthesizer in Verbindung mit dem Sequenzer in den simpelsten auralen Darstellungen einfachster Klangprogramme als aufregend genug wahrgenommen wurde, war gleichfalls im Acid-House das aus der Fusion von TR-909 und TB-303 hervorgehende Klangidiom auch ohne die Addition weiterer Klangerzeuger, geschweige denn besonderem melodischen Einfallsreichtum bereits so stark, dass schon mit geringem technischen Aufwand und künstlerischem Esprit in der Folge zahlreiche auf dieser Klangkombination basierende Tracks entstanden, die ein eigenes Subgenre ausfüllen konnten, welches trotz des extremen musikalischen Minimalismus und einem engen klanglichen Korsett für längere Zeit auf große Publikumsresonanz stieß. Wie stark die klanglichen Möglichkeiten sowie auch die Limitierungen der Roland-Instrumente die Textur der Musik dominieren konnten, zeigt das erst in den 2000er Jahren wiederentdeckte Album Synthesizing: Ten Ragas to a Disco Beat, welches der indische Musiker Charanjit Singh 1982 veröffent921

Als prominente Bespiele seien hier das 1982 veröffentlichte Stück »Let Me Go« der Synth-PopGruppe Heaven 17 sowie das 1984 veröffentlichte Stück »Automan« der Electroformation Newcleus genannt. 922 Brewster / Broughton 1999, S. 335 f. 923 Ebd.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

licht hatte. Singhs damals kommerziell erfolgloses und daher auch in der westlichen Hemisphäre nicht wahrgenommenes Album basierte auf mit der TR-808 programmierten Four-to-the-Floor-Beats, zu denen zum einen mit der TB-303 programmierte als auch mit dem Roland Synthesizer Jupiter 8 live gespielte Ragas liefen. Obgleich durch die zugrunde liegende Melodik der indische Klangcharakter immer präsent ist, wecken die Filterbewegungen der TB-303 und die Discobeats der TR-808 sofort Assoziationen zum Acid-House. Das hat folgende Ursachen: Generell sind im Acid-House Klang und Komposition so stark miteinander verwoben wie in vielleicht keinem anderen Stil der elektronischen Popularmusik. So lässt sich ein Musikstück diesem Genre erst zuordnen, wenn gewisse Kriterien erfüllt sind, die selbstreferenziell aus der Verwendung spezieller Instrumente resultieren. Nähert man sich diesem Gedankengang nun von der rhythmischen Seite, ist die Basis von Acid-House – unabhängig von dem verwendeten Instrumentarium  – der Four-to-the-Floor-Discobeat mit wahlweise einem mit einer Snaredrum oder einem Handclap gespielten Backbeat. Hier bieten sich den Musikern noch die größten Variationsmöglichkeiten wie etwa das Hinzufügen zusätzlicher Events der einzelnen Schlagzeugklänge. Wichtig ist dabei aber die elektronische Klangkomponente, die ein unverzichtbarer Bestandteil des Genres ist. Auch wenn man die zugrunde liegenden Beats mit einem akustischen Schlagzeug realisieren könnte, müsste man dieses mit größerem Aufwand nachbearbeiten, um die für den Acid-House notwendige gleichmäßige, synthetische und druckvolle Textur zu erhalten. Der Umstand, dass dieser Klangcharakter ohne weiteres Zutun sofort auf Abruf bei den Roland Drumcomputern der TR-Serie bereitstand, und auch die Tatsache, dass diese ohne großes Vorwissen oder instrumentale Vorbildung durch die Lauflichtprogrammierung äußerst einfach zu handhaben waren, hatte sie schnell zum dominierenden Werkzeug werden lassen, infolgedessen sich die Frage nach einer Realisierung durch andere Instrumente gar nicht erst stellte. Besteht im Bereich der Drumpattern noch ein gewisser instrumentaler Spielraum, ist für den Acid-House bezüglich der Synthesizer-Sequenzen die TB-303 aber unerlässlich, was zum einen an ihrem völlig eigenständigen Klang und zum anderen aber auch an der technischen Limitierung lag. So war der Sequenzer durch die separate Eingabe der einzelnen Steps im Hinblick auf Noten und deren Tonhöhen und -längen sowie das Einfügen von Pausen, Akzenten und Portamento-Befehlen recht umständlich zu programmieren und im Ergebnis selbst für vorgebildete Musiker nur schwer vorherzusehen, was dazu führte, dass man sich – wie übrigens auch bei »Acid-Tracks« geschehen  – auf spielerische Weise einer Sequenz annäherte und der Zufall eine große Rolle spielte. Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass die meisten im Acid-House verwendeten Sequenzen sich

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5.1  Exkurs: House und Techno

selten in einem dur- oder molltonalen Raum bewegen: Durch die im Zuge hoher Resonanzwerte starke Betonung der Obertöne, welche in der Extremeinstellung zur Unkenntlichkeit der eigentlichen Grundtonhöhe führte, spielte das eingegebene Notenmaterial eine völlig untergeordnete Rolle, da als musikalisches Erkennungsmerkmal ausschließlich der Klang des Gerätes im Vordergrund stand. Eine besondere Funktion, die andere Sequenzer in der Regel nicht boten – was ebenfalls zum unverwechselbaren Charakter der TB-303 beitrug  –, war ferner die Möglichkeit einer Akzent- und Slide-Eingabe (Portamento), welche infolge der damit realisierbaren dynamischen Unterschiede sowie der Interpolation von Tonhöhen die programmierten Sequenzen sehr lebendig wirken ließen. Die andere Eigentümlichkeit des Gerätes bestand in der Klangerzeugung und den damit verbundenen recht geringen Eingriffsmöglichkeiten. Als Basis stand ein wahlweise eine Sägezahn- oder Rechteckwellenform liefernder Oszillator zur Verfügung, dessen Signal einem Tiefpassfilter mit 18  dB Flankensteilheit zugeführt wurde. Die einzigen Klangbearbeitungsmöglichkeiten bestanden im Feintuning des Oszillators, in der Einstellung der Cutoff-Frequenz, der Resonanz, der Stärke der Hüllkurvenmodulation, der Decay-Zeit der Hüllkurve sowie in der Stärke des Akzents. Arbeitet man heute mit diesem Instrument, wird man in kurzer Zeit feststellen, dass sobald man höhere Resonanzwerte eingestellt hat, das Gerät durch die Selbstoszillation des Filters sofort jene grobkörnigen, leicht verzerrten Klänge liefert, die den Klangcharakter der dem Acid-House zugrunde liegenden Synthesizer-Sequenzen ausmachen, mit anderen Synthesizern nur sehr schwer zu realisieren sind. Im Umkehrschluss ist zu sagen, dass es durch diese eigene Klangcharakteristik in Verbindung mit dem Sequenzer fast schwerfällt, Sequenzen zu erzeugen, die nicht sofort Assoziationen zum Acid-House wecken, weshalb sich auch die großen auralen Verwandtschaften zwischen diesem Genre und Singhs Album erklären lassen. Die Eigenheiten der TB-303 sind so stark ausgeprägt und die klanglichen Möglichkeiten gleichzeitig so begrenzt, dass der Einsatz dieses Gerätes aus jeder Produktion sofort heraussticht. Sicherlich hat in der elektronischen Popularmusik seltener ein Instrument, welches nur über so einen geringen klanglichen Spielraum verfügte, ein Genre mehr geprägt als die TB-303: Das Gerät spielte sich mehr oder weniger selbst, ohne dass das menschliche Zutun in dem Maße entscheidend war, wie es sonst bei Instrumenten – den Synthesizer an sich eingeschlossen – der Fall war. Auch wenn Acid-House vor allem für den internationalen Erfolg der EDM sehr bedeutend war, handelte es sich dabei nur um eine Spielart von mehreren Subgenres des House, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zur Popularisierung der EDM beitrug: So entwickelte sich im Fahrwasser von Chicago und Detroit auch New York zu einem weiteren Ort, an dem aus der abebbenden

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

Discowelle eine neue Stilrichtung elektronischer Tanzmusik entstand: Garage oder Garage-House. Ausgangspunkt ist dabei der New Yorker Club Paradise Garage, der für das Genre – ähnlich wie das Warehouse in Chicago für House – namensgebend war. Dieser im Jahre 1977 eröffnete Club galt durch sein Soundsystem und seine aufwendige Lichtanlage als einer der besten Clubs in New York, welcher sich jedoch dem oberflächlichen Chic etwa des Studio 54 – dem Inbegriff eines Clubs in der Hochphase des Disco-Hypes der damaligen Zeit – verweigerte und Disco vielmehr als Underground-Genre verstand.924 Die zentrale Figur der Paradise Garage war der eng mit Franckie Knuckles befreundete Resident-DJ Larry Levan, der es wie kein anderer DJ zu dieser Zeit verstand, sein DJ-Set durch Lichtshows und den Einsatz spezieller Geruchsaromen mittels eines komplexen Klimatisierungssystems wie eine abendfüllende Inszenierung zu gestalten und das Publikum dadurch zu vereinnahmen.925 Die Musik, die Levan auflegte, bestand dabei zunächst aus den damals populären Disco-Produktionen, welche er in der ersten Hälfte der 1980er Jahre mit elektroniklastigen Veröffentlichungen wie unter anderem der seines eigenen Projektes NYC Peech Boys anreicherte. Es handelte sich dabei im Gegensatz zu den ersten Pattern-basierten House-Produktionen aus Chicago um Song-orientierte, teilweise mit synkopierten Beats versehene elektronische Musik im Upbeat-Tempo, welche vor allem soul- und vokallastige Fragmente in den Vordergrund stellte. Auch wenn der aus diesen Ingredienzien entstandene Garage-Sound wenig mit der minimalistischen Geradlinigkeit des Chicago-House gemeinsam hatte, waren es gerade jene Soul-Anteile, die gegen Ende der 1980er Jahre von anderen Musikern der EDM aufgegriffen und im Kontext des Four-to-the-Floor-Beats zu einer Stilrichtung verarbeitet wurden, welche fortan in Anlehnung an Levans Wirken Garage-House oder auch DeepHouse genannt wurde. 1986 begann man auch in Europa nennenswerte Notiz von House zu nehmen. So erreichte das Stück »Love Can’t Turn Around« des Hot Mix 5 Mitglieds Farley »Jackmaster« Funk den 10. Platz der UK Singles Chart,926 woraufhin auch die englischen DJs und Produzenten begannen, den House-Stil zu adaptieren und eigene Produktionen zu veröffentlichen, in deren Folge es dem House-Projekt M/A/R/ R/S mit dem Stück »Pump Up the Volume« 1987 gelang, den 1. Platz der UK

924 925 926

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Poschardt 2001, S. 148. Brewster / Broughton 1999, S. 296 f. Poschardt 2001, S. 149. Farley »Jackmaster« Funk & Jesse Saunders featuring Darryl Pandy: »Love Can’t Turn Around«, https://en.wikipedia.org/wiki/Love_Can%27t_Turn_Around (abgerufen am: 17.02.2021).

5.1  Exkurs: House und Techno

Singles Charts zu erobern.927 Diese Sampling-basierte Produktion markierte im Bereich der elektronischen Popularmusik in vielerlei Hinsicht einen Meilenstein. Sampling war durch die Verfügbarkeit günstiger Geräte wie der S-Serie von Akai oder des Ensoniq Mirage im Hiphop eine weitverbreitete Technik, die das völlig neue, collagenhafte Klangdesign bei New School Hiphop-Gruppen wie etwa Public Enemy überhaupt erst ermöglichte. Da in der Regel diese Produktionen in den Charts keine große Rolle spielten, gab es in dieser Zeit keine urheberrechtlichen Auseinandersetzungen bezüglich der gängigen Vorgehensweise, Samples weder zu kreditieren, geschweige denn überhaupt bei den Autoren um Erlaubnis einer Verwendung zu bitten. Auch M/A/R/R/S sampelten recht unverblümt Versatzstücke fremder Aufnahmen – gleichfalls ohne deren Herkunft zu kreditieren, was allerdings angesichts des Erfolgs des Stückes erstmals in der Musikgeschichte urheberrechtliche Konsequenzen und eine Debatte über die SamplingKultur und deren Verortung in einem urheberrechtlichen Graubereich nach sich zog. So klagte das Produzententeam Stock, Aitken, Waterman (SAW) erfolgreich gegen die Nutzung eines aus ihrem ebenfalls 1987 veröffentlichten Stück »Roadblock« entnommenen und in »Pump Up the Volume« montierten Samples, woraufhin dessen Verwendung bei für den internationalen Markt gedachten Pressungen unterlassen werden musste.928 Die Praxis der Sampling-gestützten Nutzung von musikalischen oder anderweitigen akustischen Zitaten wie etwa von Sprachfragmenten reduzierte sich dann vor allem durch einen von Gilbert O’Sullivan angestrengten Prozess gegen den Rapper Biz Markie im Jahre 1991, welcher in seinem Stück »Alone Again« aus dem gleichen Jahre Versatzstücke von O’Sullivans im Jahre 1972 veröffentlichten Song »Alone Again (Naturally)« verwendet hatte, in dessen Folge ein Urteil stand, welches besagte, »dass vor Benutzung und (erneuter) Veröffentlichung von Samples die Rechte von den jeweiligen Autoren, Verlagen und Produzenten einzuholen waren«.929 Angesichts des zu erwartenden hohen finanziellen und verwaltungstechnischen Aufwandes, die die Kreditierung von – in der Regel meist kurzen – Samples nun erforderte, machten Sample-reiche Produktionen ab dieser Zeit keinen Sinn mehr, weshalb sich der Sound im Hiphop massiv änderte. In der Zeit davor aber führte diese Collagentechnik zu einer wahren Flut von Crossover-Produktionen im Bereich des Hiphop und der EDM, was zu weiten Teilen auf den Erfolg und die kompositorische Herangehensweise von M/A/R/R/S zurückging: Bei »Pump Up the Volume« handelte es

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M/A/R/R/S: »Pump Up the Volume«, https://en.wikipedia.org/wiki/Pump_Up_the_Volume_ (song). Wicke / Ziegenrücker 2007, S. 636 f. Zit. n. ebd.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

sich um ein Stück, dessen Elemente Genre-übergreifend nur dem persönlichen Geschmack der Musiker und DJs der Gruppe unterworfen waren. So wurden Versatzstücke aus Jazz-, Soul- und Funk-Produktionen genauso wie Elemente aus Hiphop-Stücken selbstreferenziell, ohne die Herstellung eines inhaltlichen Bezugs – sei es musikalisch und / oder soziokulturell –, zu einem klingenden Sammelsurium montiert, dessen oberste Prämisse ausschließlich in der Wirkung des Klanges im rahmengebenden Kontext des Housebeats bestand. Laut Ulf Poschardt bedeutete »Pump Up the Volume« »den Anfang für eine Synthese aller Formen von Dancefloor-Musik zu einem neuen Ganzen. House, Hip-Hop und selbst Disco wurden von dem britischen DJ-Team eingesetzt, um in einer programmatisch künstlichen Form – der Montage – als reines ›Kunstprodukt‹ die Welt der Musik zu betreten. Kunstprodukt deshalb, weil nichts bei dieser Musik noch auf eine außermusikalische Wirklichkeit bezogen war.«930

Die in »Pump Up the Volume« betriebene entkontextualisierte Klangmontage diente nicht nur vielen DJs als Vorbild eines neuen produktionsästhetischen Ansatzes, sie eröffnete generell vielen Menschen, die über keinerlei musikalische Vorbildung verfügten, einen Zugang zu musikalischem Schaffen: Durch die Kombination aus Heimcomputern wie dem Commodore C64 oder dem Atari ST sowie Software-Sequenzern zur Midi-Aufzeichnung der einzelnen Spuren waren keine besonderen instrumentalen Fähigkeiten mehr erforderlich. Mitunter wurden Töne oder Klänge häufig in Arrangier- und Aufnahmeprogrammen durch das Setzen von Steuerereignissen erzeugt, womit sich etwa der historische Vergleich zum Walzenklavier oder zur Spieluhr aufdrängt: Der Faktor des praktischen Musizierens zur Erzeugung von Musik spielte keine Rolle mehr. Darüber hinaus änderte sich aber auch das musikalische Material: Gerade durch den Einsatz von Sampling war die Grundlage von Musik nicht etwa eine Ansammlung von instrumental selbst erzeugten und den musikparametrischen Kriterien entsprechend angeordneten Klänge, sondern nur noch die in beliebig wiederholbaren Trial- und Error-Prozessen zusammengefügte Collage aus vorgefertigten, absoluten Musikfragmenten, für deren Zusammenfügen das Wissen um Melodik oder Harmonik völlig unerheblich war. Infolge dieses neuen musikalischen Zugangs entstanden ab 1988 durch Musikprojekte wie Bomb the Bass, S’Express oder KLF zahlreiche Sample-basierte EDM-Stücke, die allesamt hohe Platzierungen nicht nur in den englischen Charts, sondern in ganz Europa einnehmen konnten. 930

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Poschardt 2001, S. 270.

5.1  Exkurs: House und Techno

England – das erste europäische Land, in welchem sich die amerikanische EDM nachhaltig etablieren konnte – übernahm rasch die Führungsposition innerhalb der elektronischen Tanzmusik. So entwickelten sich in der Folge ab den 1990er Jahren neben den zwischen Hiphop und EDM agierenden Crossover-Projekten sukzessiv Stilrichtungen, die die Beat-orientierte Härte und Schnelligkeit des House entweder wie im Drum ’n’ Bass verstärkten oder sich zugunsten von langsamen Beats wie im Trip Hop davon abwandten. Bis 1988 firmierten in England zunächst noch alle Stilrichtungen der EDM unter dem Sammelbegriff »House«, was vor allem durch die Popularität des Acid-House den im ganzen Land veranstalteten, illegalen Parties des in Anlehnung an die Hippie-Ära genannten »Summer of Love« des gleichen Jahres geschuldet war. Infolgedessen wurde auch der Detroit-Techno dadurch terminologisch vereinnahmt, was angesichts der vielen stilistischen Parallelen zur damaligen Zeit nicht weiter verwundert. Wie in Kapitel 4.7.5 geschildert sorgte allerdings die von Derrick May kompilierte Veröffentlichung Techno! The New Dance Sound of Detroit gegen Ende des Jahre 1988 zunächst in England und dann im übrigen Europa für einen medial geprägten Popularitätsschub des Techno-Begriffs, der die Vormachtstellung von House als stilistische Subsumierung der EDM daraufhin ablöste. Selbst der in den Chilloutrooms der Clubs gespielte Ambient, eine stilistisch auf die Soundscapes Brian Enos zurückgehende klangflächenlastige und weitgehend rhythmuslose Entspannungsmusik, welche mit den Beat- und Sequenzer-basierten Tracks von Techno und House nichts mehr gemein hatte, außer lokaler und akustischer Bestandteil der Clubkultur zu sein, firmierte ab dieser Zeit unter dem Begriff Techno. Dies wandelte sich mit dem Aufkommen der zweiten Generation der Detroiter Techno-Musiker unter der Ägide des 1989 gegründeten DJ- und Produzentenkollektivs Underground Resistance, das in Abkehr zu der zur damaligen Zeit beginnenden kommerziellen Ausschlachtung des House eine Musik zu schaffen begann, welche sich mehr und mehr von popreferenziellen Elementen löste – sei es melodischer, harmonischer oder struktureller Art – und die Parameter Rhythmik und Klangfarbe in den Vordergrund stellte. Dieses zunächst unter dem Begriff Techno-House firmierende, schließlich schlicht Techno genannte Genre entspricht bis heute dem, was in der Popularmusikhistorie allgemein unter Techno verstanden wird: Eine auf dem Four-to-the-Floor-Beat basierende, elektronisch generierte, weitgehend instrumentale Musik, die durch ein Kontinuum an fließenden, aus Sequenzerlinien bestehenden, ineinander übergehenden Spannungsbögen in erster Linie an das Cluberlebnis respektive an die Tanzfläche adressiert ist. Im Zuge des Erfolgs dieses Stils und der damit einhergehenden Vereinnahmung und erneuten Umdeutung des Begriffs »Techno« wurden die immer zahlreicher werdenden Stile dieser elektronischen Tanzmusik ab Anfang der 1990er Jahre fortan unter

339

5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

vielen Überbegriffen zusammengefasst, sei es Electronic Dance Music, oft schlicht Dance genannt, Dancefloor, Clubmusic oder stilistisch wertungsfreier  – allerdings begrifflich mit der gleichnamigen Richtung der Neuen Musik kollidierend – Elektronische Musik. So komplex und schwer zu durchdringen dieses terminologische Dickicht auch sein mag – es wird deutlich, dass spätestens ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die elektronische Klangerzeugung nicht nur den Mainstream-Pop erfasst hatte, sondern gleichfalls eine neue, im Untergrund agierende Generation an Elektromusikern herangewachsen war, die weitgehend unabhängig von Pionieren wie Kraftwerk oder Giorgio Moroder eine Fülle an neuen Genres im Bereich der populären elektronischen Musik geschaffen hatte. Die in diesem Rahmen entstandenen, die Clubkultur dominierenden Produktionen beinhalteten bis dato ungehörte musikalische Elemente, die wiederum den Mainstream bis heute nicht nur bereichert, sondern auch verändert haben. Ein gutes Beispiel für den Einfluss der EDM auf das Popgeschehen ist sicherlich das 1990 veröffentlichte Stück »Vogue« des US-amerikanischen Superstars Madonna, welches sich zahlreicher Ingredienzien des House bediente. So finden sich sowohl ein auf der TR-909 programmierter Four-to-the-Floor-Beat als auch die gleichfalls aus dem House bekannten, in synkopierten Pattern gespielten Piano-Dreiklänge mit dem damals omnipräsenten House-Piano-Sound des Korg M1 – neben den Instrumenten der Firma Roland ein weiteres Standardinstrument der EDM. Das Stück erreichte sowohl in den USA als auch in England die Spitzenposition der Charts931 und dokumentierte damit, dass House sich um die Jahrzehntwende der 1980er/1990er Jahre von einem Nischenprodukt zum nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil des Popmainstreams entwickelt hatte.

5.2  The Mix

5.2.1 Einleitung und konzeptioneller Überbau All diese im vorherigen Kapitel aufgezeigten Entwicklungen liefen in einem Zeitraum ab, in dem Kraftwerk sich in einer Phase absoluter Stagnation befanden. Nicht nur glaubte man, in der mittlerweile elektronisch geprägten Popmusik den Anschluss verloren zu haben, auch im elektronischen Underground der EBM schickten sich nicht nur die vormaligen Epigonen der Electro-Szene, sondern

931

340

Madonna: »Vogue«, https://de.wikipedia.org/wiki/Vogue_(Lied) (abgerufen am: 20.01.2021)

5.2  The Mix

auch eine ganz neue Generation von DJs und / oder Musikern an, Kraftwerk nicht nur einzuholen, sondern sie sogar zu überflügeln. Während der Produktion zu Electric Café waren mehrere Probleme offen zutage getreten, sei es hinsichtlich des geringen Outputs, dem personellen Auseinanderdriften der Gruppe, des schlechten Timings hinsichtlich der Marketingstrategie oder – durch die zögerliche Umstellung von Analog- auf Digitaltechnik – schlicht technologischer Art. Zumindest Letzteres versuchten Ralf Hütter und Florian Schneider nach der Veröffentlichung des Albums in Angriff zu nehmen, in dem sie ihrer ursprünglichen Maxime entsprechend, immer die neueste Technologie zu verwenden,932 ein Synclavier II anschafften, um das Kling Klang Studio auch in anderen technischen Bereichen auf den aktuellen Stand zu bringen: So wurden 1987 unter der Leitung von Joachim Dehmann zum einen die Akustik des Studios durch eine Neupositionierung des Pultes und des Abhörsystems sowie durch eine generelle Schallisolierung verbessert, zum anderen erfolgte eine neue Verkabelung des Studios und die Installation eines Kühlraums für das Terminal des Synclaviers.933 Die 1986 von Ralf Hütter getroffene Entscheidung, ein Synclavier zu kaufen, ist aus Sicht der damaligen Zeit sicherlich nachvollziehbar: Das Synclavier-System hatte wie auch der Fairlight CMI die Studiotechnik in den 1980er Jahren geprägt wie kein anderes Gerät. Es repräsentierte im Rahmen der unaufhaltbar voranschreitenden Entwicklung der Studiotechnologie lange Zeit das technisch Machbare  – durch die Implementierung des polyphonen Samplings und des 16-Spur-Harddisk-Recordings ab dem Jahre 1984 konnte selbst der Fairlight CMI nicht mehr mithalten, weswegen in den großen kommerziellen Studios das Gerät nahezu unverzichtbar schien. Der Einsatz des Synclaviers barg für Kraftwerk aber auch einige Schwierigkeiten. So erforderte die Bedienung des Instruments eine neue, für die Gruppe unübliche Herangehensweise, die bedeutend weniger intuitiv als der Umgang mit dem Synthanorma war.934 In der Folge engagierten Kraftwerk über den von Henning Schmitz hergestellten Kontakt als Synclavier-Operateur den Toningenieur Fritz Hilpert, der zunächst mit Ralf Hütter und Florian Schneider an einem Synclavier-Workshop teilnahm und fortan alle auf den 16-Spur-Bändern befindlichen Sounds sampelte und damit digitali932 933

934

Barr 1998, S. 134. Bartos 2017, S. 451. Einen guten Eindruck der Räumlichkeiten des Hauptstudioraums vermittelt ein nach dem 2009 erfolgten Umzug des Studios gedrehtes Video. Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop: Kraftwerk – Kling-Klang-Studio, 2009, https://www.youtube.com/watch?v=LbwJwPnioeo (abgerufen am: 10.12.2020). Henle, Clemens: Auf Kraftwerks Spuren in Meerbusch, in: RP-Online, 05.02.2013, https://rp-online. de/nrw/staedte/meerbusch/auf-kraftwerks-spuren-in-meerbusch_aid-14854415 (abgerufen am: 10.12.2020). Bartos 2017, S. 450.

341

5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

sierte.935 Das Synclavier eignete sich durch das digitale Harddisk-Recording und der für die perfekte Wiedergabe von akustischen Instrumenten wie Bläsern oder Streichern nötigen hohen Sample-Auflösung zwar hervorragend im Popbereich, in der eher im Lofi-Bereich agierenden EDM aber – die in punkto Sounddesign gegen Ende der 1980er Jahre zunächst neue Wege beschritten hatte und ab den 1990er Jahren auf dem Feld elektronischer Klangfarben generell im weit gefassten Rahmen der Popularmusik federführend war – wurde auf andere Produktionstechniken und Instrumente gesetzt. Die zunächst aus Kostengründen erfolgte Fokussierung auf analoge Klangerzeugung führte durch den Erfolg der EDM in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bald zur Renaissance analoger Klangerzeuger und Drumcomputer, welche durch nachträgliche Midifizierung auch in ein computergesteuertes Sequenzer-Setup integriert werden konnten. Generell begann in den 1980er Jahren die Computerindustrie nicht nur sukzessiv den Lebens- und Berufsalltag zu durchdringen, sie fand auch zunehmend in der Studiotechnik Verwendung. So brachte die US-amerikanische Firma Octave-Plateau Electronics 1984 das Sequenzer-Softwareprogramm Sequencer Plus auf den Markt, in dessen Folge immer mehr Softwarefirmen den professionellen Musikbereich als Marktnische entdeckten. Als Plattform dienten dabei allerdings keinesfalls die großen Musikcomputer wie der Fairlight CMI oder das Synclavier, sondern vielmehr die mittlerweile in großer Zahl vorhandenen MIDI-fähigen Heimcomputer wie der Commodore 64 oder der Atari ST. Die von Dave Smith936 in Kooperation mit der Firma Roland konzipierte und 1982 vorgestellte digitale Schnittstelle für Musikinstrumente (Musical Instrument Digital Interface, kurz: MIDI) entwickelte sich in den 1980er Jahren als Industriestandard hinsichtlich der Kommunikation zwischen elektronischen Musikinstrumenten wie beispielsweise Synthesizern, Effektgeräten oder Drumcomputern, welche mit einem Computer-Setup zentral gesteuert werden konnten. Eines der ersten, mit einem Preis von DM 290 vergleichsweise kostengünstigen Computerprogrammen937 war die für den Commodore 64 konzipierte MIDI-Sequenzer-Software Pro 16 der deutschen Firma Steinberg aus dem Jahre 1985, die den Anwendern ermöglichte, die Steuerdaten von 16 gleichzeitig laufenden Sequenzerspuren aufzuzeichnen, zu bearbeiten und zu einem kompletten Stück zusammenzufügen. Steinberg und Octave-Plateau Electronics waren nur zwei von vielen prominenten Beispielen neu entstandener Softwarefirmen, die die Leistungsfähigkeit der Heimcomputer für den Musikbe935 936 937

342

Ebd., S. 452 f. Dave Smith war Initiator der 1974 gegründeten US-amerikanischen Synthesizer-Firma Sequential Circuits. Aicher, Richard: Pro 16 MIDI Sequenzer Software für Commodore 64 von Steinberg Research, April 1985, http://www.richard-aicher.de/html/pro16_sequenzer.html (abgerufen am: 10.12.2020).

5.2  The Mix

reich früh erkannt hatten und mit immer neueren Entwicklungen den Herstellern großer Musikcomputersysteme wie NED oder Fairlight nicht nur erfolgreich Konkurrenz machten, sondern sie letztendlich zu Beginn der 1990er Jahre auch vom Markt drängten, da sie nicht nur viel preisgünstiger waren, sondern mit ihren Programmen viel flexibler auf Entwicklungen in der Computerindustrie reagierten und daher stets am Puls der Zeit waren. Dass etwa der Sequenzer des Synclaviers bereits 1987 im Vergleich mit den verfügbaren Software-Lösungen nicht mehr mithalten konnte, war auch Kraftwerk bewusst, die alternativ zum Synclavier bald mit dem portablen Musikcomputer Yamaha C1 oder im Falle von Karl Bartos mit dem Sequencer Plus arbeiteten.938 Aber auch hinsichtlich des Klangdesigns erwiesen sich der Fairlight CMI und das Synclavier als zu unflexibel. Statt mit einer All-in-One-Lösung zu arbeiten, setzten viele Musiker ihre Klänge aus vielen unterschiedlichen Quellen zusammen. So rückte wie erwähnt neben Drumcomputern, den wiederentdeckten Analog-Synthesizern sowie zahlreichen Neuentwicklungen im Bereich der digitalen Synthese durch den starken Einfluss des DJings das Sampling mehr und mehr in den Vordergrund, wobei den Akteuren nicht nur immer kostengünstigere Sampler zur Verfügung standen, sondern auch neue Konzepte entwickelt wurden, wie etwa die 1988 auf den Markt gebrachte AKAI MPC 60. Die bis heute gebaute MPC-Serie bestand aus der Kombination von Drumcomputer, MIDISequenzer und Sampler, dessen Audiomaterial über 16 anschlagsdynamische Pads gespielt und eingegeben werden konnte, was sich besonders für den im Hiphop praktizierten, aus der Montage von vorgefertigtem, auf Tonträgern gebanntem Audiomaterial bestehenden Kompositionsansatz eignete, weshalb diese Instrumente über Jahre hinweg zum Standard-Werkzeug in diesem Genre gehörten. Letztendlich waren es aber die immer leistungsfähigeren Personal Computer um die Jahrzehntwende der 1980er/1990er Jahre, die in Verbindung mit der Musiksoftware-Industrie dafür sorgten, dass das Konzept eines in sich geschlossenen, computergestützen Hardware-Studiosystems durch seine mangelnde Flexibilität, die technische Limitierung und vor allem aufgrund seines viel zu hohen Preises nicht mehr tragfähig war. Das Synclavier wäre zu Beginn der 1980er Jahre aus technischer Hinsicht für Kraftwerk sicherlich eine lohnende Investition gewesen, 1987 dagegen, gerade unter der von Kraftwerk angestrebten Prämisse, technisch wieder auf dem aktuellen Stand sein zu wollen, war dieser Kauf eher kon­ traproduktiv, zumal durch den damit verbundenen, bis 1989 dauernden Umbau

938

Bartos 2017, S. 450 und 458 f. Bartos 1998b, S. 54.

343

5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

des Kling Klang Studios wieder zwei Jahre ins Land gingen, in denen eine produktive Studioarbeit nicht möglich war.939 Neben den technischen Unwägbarkeiten war darüber hinaus nach dem Misserfolg von Electric Café nicht klar, in welche Richtung sich die musikalische Reise Kraftwerks entwickeln sollte. Schließlich ausschlaggebend für das nächste Album sollte die im September 1987 vorgetragene Idee des Chefs des Plattenlabels Elektra, Bob Krasnow, sein, ein Best-of-Album zu veröffentlichen und sich mit einer anschließenden Tournee auf dem US-Markt zu etablieren.940 Nach Aussage von Karl Bartos erschien dieser Ansatz für Ralf Hütter und Florian Schneider allerdings ein ideologisch nicht zu vertretender Ausverkauf zu sein, weshalb sie sich entschlossen, zwar die Idee eines Best-of-Albums anzunehmen, die dafür gedachten Stücke allerdings durch neu angefertigte Remixes zu ersetzen und das Album The Mix zu nennen.941 Als klangliches Fundament diente dabei die von Fritz Hilpert mittels des Synclaviers aus den Multitrack-Bändern erstellte Sample Library, welche anhand der transkribierten Live-Arrangements der Computerwelt-Tour zunächst in Karl Bartos’ Heimstudio mittels des auf einem IBM PC XT laufenden Sequencer Plus sowie drei nicht näher genannten Samplern zu ersten Rohfassungen zusammengesetzt wurde.942 Nach Abschluss des Studioumbaus im Januar 1989 installierte Bartos sein Computer-Setup schließlich im Kling Klang Studio, worauf die eigentliche Arbeit am Album begann.943 Die Implementierung der Computertechnologie war aber nicht die einzige technische Neuerung, auch die von Florian Schneider betriebene Forschung im Bereich der synthetischen Sprache  – einem nach wie vor in der Popmusik exklusiv von Kraftwerk besetzten Feld – brachte neue Verfahren hervor: Zum einen sampelte er mit Bartos’ Hilfe 32 gesprochene Phoneme, die als phonetisches Basismaterial für die Zusammensetzung von Worten dienten, was etwa in der Einleitung der auf The Mix veröffentlichten Version von »Radio-Aktivität«944 zu vernehmen ist.945 Zum anderen entwickelte er zusammen mit Gert Joachim Ott und Gert Jalass ein »Robovox« genanntes System zur Synthetisierung von Gesang in Echtzeit, welches beim Europäischen Patentamt im Mai 1989 als »System for and me­ thod of synthesizing singing in real time« angemeldet wurde.946 Die Funktions939 Bartos 2017, S. 455 und 463. 940 Ebd., S. 453. 941 Bartos 1998a, S. 46. 942 Bartos 2017, S. 459. 943 Ebd., S. 463. 944 Auf The Mix »Radioaktivität« genannt. 945 Bartos 2017, S. 460. 946 Gert Joachim Ott sowie Gert Jalass werden im Booklet von The Mix unter den Kategorien »Hard-

ware« respektive »Software« aufgelistet. Jalass programmierte zum damaligen Zeitpunkt Soft-

344

5.2  The Mix

weise des Robovox gestaltet sich wie folgt:947 Als Klangquelle fungiert ein vermutlich von Jalass modifizierter Votrax SC-02-Chip, wobei der interne Klanggenerator als Trägersignal wahlweise durch externes Audiomaterial ersetzt werden kann, was den Klangcharakter der synthetischen Sprache im Vergleich zum Serien-Chip massiv erweitert. Wie beim auf Radio-Aktivität erstmals eingesetzten, ebenfalls modifizierten Votrax VS6 sind durch den Umbau daher auch mit dem Votrax SC-02 sowohl rauschhafte als auch polyphone Klänge möglich. Der Votrax-Chip wird dabei mittels eines eigens konstruierten MIDI-Interfaces durch zwei MIDI-Keyboards in Echtzeit angesteuert, wobei bei einer der beiden Tastaturen jedes der 54 Phoneme des Votrax auf jeweils eine Taste geroutet wird,948 während die andere Tastatur Tonhöhe, Länge und Lautstärke der Phoneme kontrolliert. Alternativ kann die Steuerung durch eine speziell entwickelte Sequenzer-Software erfolgen. Die Robovox-Klänge sind bis heute ein weiterer Signature Sound hinsichtlich der synthetischen Sprache bei Kraftwerk, mit dem auf The Mix einige ursprünglich mit dem Vocoder erzeugte Gesänge wie etwa bei »Die Roboter« ersetzt wurden. Zwar ist das Robovox-System von Kraftwerk patentiert worden, allerdings entwickelte der österreichische Musiker Alexander Guelfenburg zeitgleich, aber unabhängig von ihnen ein ähnliches System, bei dem neben dem Votrax SC-02 noch der Votrax SC-01 sowie der Anfang der 1980er Jahre von der US-amerikanischen Firma General Instrument auf den Markt gebrachte SPO-256-Chip eingesetzt wurde, welcher ursprünglich häufig als optionale Sprachausgabe bei Heimcomputern wie beispielsweise dem Commodore und dem Atari diente.949 Sowohl die Implementierung von Computertechnologie als auch die neuen Wege im Bereich der synthetischen Sprache konnten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Kraftwerk nach wie vor in einer künstlerisch unproduktiven Phase befanden, was mehreren Faktoren geschuldet war: Neben dem Stu-

947 948

949

ware für Atari Computer. Kistenmacher, Bernd: Mondsüchtig in Berlin, in: Amazona, 09.09.2017, https://www.amazona.de/interview-gert-jalass-von-moon-modular/ (abgerufen am: 12.12.2020). Europäisches Patentamt: EP0396141 (A2) – System for and method of synthesizing singing in real time, http://v3.espacenet.com/publicationDetails/biblio?CC=EP&NR=0396141A2&KC=A2&FT= D&date=19901107&DB=EPODOC&locale=de_EP (abgerufen am: 16.02.2021). Die folgenden Ausführungen sind den Informationen zum Patent entnommen. Freepatentsonline: European Patent EP0396141A2, https://www.freepatentsonline.com/EP0396141.pdf (abgerufen am: 17.02.2021). Dabei handelt es sich um eine speziell für diesen Einsatz modifizierte Tastatur der Firma Doepfer. doepfer.de: Doepfer-Story – Der Modul-Mogul, Textauszüge aus dem Firmenportrait in der Fachzeitschrift Keys, Ausgabe 12/97 ab Seite 152, http://www.doepfer.de/hist_d.htm (abgerufen am: 12.01.2021). In den Anmerkungen zum Patent wird allerdings explizit angegeben, dass die Ansteuerung der Phoneme durch jede MIDI-fähige Tastatur erfolgen kann. Virtual Music: 1991: Robovox – Die MIDI-steuerbare synthetische Stimme, https://www.virtual-music. at/de/hybrid-machine/ (abgerufen am: 12.12.2020).

345

5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

dioumbau schienen nach Aussage von Karl Bartos sowohl die nach wie vor ungebrochene Radsportleidenschaft Ralf Hütters950 als auch der neue, computerorientierte Arbeitsansatz an sich zwei essenzielle Gründe dafür gewesen zu sein, dass das Arbeitstempo und der künstlerische Output gering blieb. Wie in dieser Arbeit mehrfach angeführt, weist Karl Bartos in seiner Autobiografie immer wieder daraufhin, dass die produktivsten Jahre in der Zeit seiner Mitgliedschaft bei Kraftwerk diejenigen gewesen seien, in der die Musik auf Basis einer interaktiven, auf gemeinsamer Improvisation fußenden Arbeitsweise entstand.951 Obgleich durch den Synthanorma Automatisierungsprozesse bereits eine große programmatische Rolle spielten und statt konventionellem Rockin­ strumentarium vornehmlich elektronische Klangerzeuger eingesetzt wurden, war Kraftwerk in dieser Phase nicht von einer herkömmlichen Pop- oder Rockband zu unterscheiden. Durch die Digitalisierung der Studiotechnik in den 1980er Jahren rückten aber komplexe Produktionsmittel in den Vordergrund, die dem ursprünglichen Zugang zur Musik Kraftwerks konträr gegenüberstanden. Waren analoge Synthesizer klanglich intuitiv zu erfassen und ähnlich wie eine Gitarre in den interaktiven Band-Kontext integrierbar, verlagerte sich durch den Einsatz von Computern das musikalische Geschehen vom zwischenmenschlichen Dialog zur singulären Interaktion mit der Studiotechnik, wodurch die bis dato erfolgreiche, aus dem gegenseitigen Austausch der Band-Mitglieder bestehende Musizier- und Kompositionspraxis völlig in den Hintergrund rückte. In der Folge arbeiteten während der Produktion von The Mix Hütter, Schneider und Bartos zunehmend für sich allein, was zum einen den zwischenmenschlichen Zusammenhalt in der Gruppe nachhaltig beeinträchtigte und zum anderen den kreativen Output nahezu zum Erliegen brachte. Karl Bartos: »[Ab dem Jahre] 1986 arbeiteten wir mit dem Computer – und wir sahen uns bald nicht mehr in die Augen, sondern starrten nur noch auf den Bildschirm. Von da an änderte sich unsere Kommunikation. Wir sprachen nicht mehr miteinander. Wir interagierten nicht mehr musikalisch. Wir gaben die Musik nur noch in den Computer ein.«952

950 951 952

346

Bartos 2017, S. 455. Ebd., S. 478 f. Bartos, Karl: Zit. n. Karl Bartos in einem Interview mit Frank Weiffen, in: Ex-Kraftwerk Musiker Karl Bartos: »Wir starrten nur noch auf den Bildschirm«, in: Westdeutsche Zeitung, 11.10.2017, https:// www.wz.de/nrw/duesseldorf/ex-kraftwerk-musiker-karl-bartos-wir-starrten-nur-noch-aufden-bildschirm_aid-25704953 (abgerufen am: 29.09.2020).

5.2  The Mix

Auch die vier zu Testzwecken des neuen Materials organisierten Auftritte am Anfang des Jahres 1990 in Italien, in denen Fritz Hilpert die Position von Wolfgang Flür eingenommen hatte, konnten keine neuen dynamischen Impulse innerhalb des Band-Gefüges erzeugen, so dass Karl Bartos angesichts der musikalischen Stagnation der Gruppe und der sich nicht abzeichnenden Veröffentlichung von The Mix schließlich im Juli 1990 Kraftwerk verließ.953 Dennoch wurde das Album schließlich im Juni 1991 sowohl in einer deutsch- als auch in einer englischsprachigen Version veröffentlicht. Bartos’ Mitwirkung an The Mix fand im Folgenden jedoch weder bei der Erstveröffentlichung noch bei der überarbeiteten und im Rahmen der Kompilation Der Katalog im Jahre 2009 erschienenen Fassung Erwähnung. 5.2.2 Musikalische Analyse Fraglos ist The Mix hinsichtlich seiner Textur ein Zugeständnis an beziehungsweise eine Reaktion auf die zum damaligen Zeitpunkt prosperierende Electronic Dance Music. Produktionstechnisch auf der kühlen, digitalen Atmosphäre von Electric Café beruhend wurden viele Klänge entweder mit Effekten bearbeitet oder durch zeitgenössische Pendants ersetzt. Neben dem Sampling akustischer Klänge in Form von Autogeräuschen auf »Autobahn« oder zahlreichen Percussionsamples wie bei »Metall auf Metall« steht besonders die Verwendung der Bassdrum der im Techno und House programmatisch eingesetzten TR-909 im Vordergrund, welche durch die Kombination von einem auf Viertelnoten basierenden Bassdrumpattern mit einer Offbeat-Hi-Hat-Figur in zahlreichen Stücken sicherlich dem Versuch gleichgesetzt werden muss, den ehemals richtungsweisenden Kraftwerk-Sound der damals aktuellen Klangästhetik anzupassen.954 Als originäres Element wird dieses statische Pattern in den Stücken »Die Roboter«, »Computerliebe«, »Taschenrechner« und des ineinander übergehenden »Dentaku«,955 »Radioaktivität«956 sowie in »Heimcomputer« mit einer häufig mittels der TR-909 erzeugten, zweitaktigen Snaredrum-Figur aufgelockert. Hierbei wird dem obligatorischen Housebackbeat oftmals auf den Zählzeiten 2 und 4 zusätzlich eine

953 954 955 956

Bartos 2017, S. 482. Obgleich zur damaligen Zeit nach wie vor live gespielt, sind daher möglicherweise die bekannten Singles »Das Modell« und »Tour de France« auch nicht auf dem Album enthalten, weil sie nur bedingt diesem Sound angeglichen werden konnten, ohne ihre Grundcharakteristik zu verlieren. Hier handelt es sich um die japanischsprachige Version von »Taschenrechner«. Bei »Radioaktivität« wird das Halftimefeeling des Originals durch eine Tempoverdoppelung zu einem Housebeat transferiert.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

Bsp. 33: Kraftwerk: The Mix, Drumpattern

Synkope auf der letzten 16tel-Note der zweiten Zählzeit sowie im jeweils zweiten Takt auf der zweiten 16tel-Note der dritten Zählzeit hinzugefügt. Die Anlehnung an die elektronische Tanzmusik Ende der 1980er Jahre spiegelt sich auch kompositorisch wider: So sind neben den damals für die House-Musik typischen, meistens mit einem perkussiven Klang  – auch als »Stab-Sound« bekannt  – versehenen Akkord-Pattern in »Computerliebe«, »Taschenrechner« und »Dentaku« fast in jedem Stück zusätzliche synkopierte Basslinien zu hören, die den Four-to-the-Floor-Beat rhythmisch konterkarieren. Dies unterstützend werden häufig in Viertelnoten, Viertel-Triolen und Achtelnoten getimte Delays eingesetzt, die den Pattern zusätzliche rhythmische Lebendigkeit verleihen. Das bekannteste neu komponierte musikalische Additiv ist sicherlich die SynthesizerSequenz in der Einleitung von »Die Roboter«, welche sich bei allen folgenden Konzerten Kraftwerks zu einem immer wiederkehrenden zentralen Charakteristikum des Stückes entwickelt hat.

Bsp. 34: Kraftwerk: »Die Roboter«, Synthesizer-Hookline

Zusätzlich wurde die vor den Vokalstellen erfolgende Synthesizer-Hookline durch 16tel-Verschiebungen synkopisch rhythmisiert. Generell ist das Stück »Die Roboter« eines der im Vergleich zur Originalversion am meisten veränderten Stücke, an dem die modische Hinwendung zum House-Sound am deutlichsten zutage tritt. Divergieren bei allen Mix-Versionen die Tempi im Vergleich zu den Originalversionen um bis zu maximal 3 bpm, ist die Version »Die Roboter« auf The Mix um fast 8 bpm schneller als die Originalfassung, was sicherlich der durch das finale Tempo von 122 bpm entstehenden Dancefloor-Kompatibilität geschuldet ist. Neben der Substitution des Drumpattern durch den bereits angeführten Four-to-the-Floor-Beat wurden die harmonischen Wendungen vereinfacht. So entfallen im Vergleich zu der Originalversion die Akkordwechsel zwischen der

348

5.2  The Mix

Molltonika und der Molldominante im letzten Chorus. »Die Roboter« stellt außerdem als erstes Stück der Platte die neuen Robovox-Klänge vor, welche die vokale Komponente des Albums dominieren und gleichfalls auf »Computerliebe«, »Dentaku«, »Autobahn«, »Radioaktivität« und »Heimcomputer« zu hören sind. Die ursprünglichen Gesangspassagen wurden von Ralf Hütter neu eingesungen, wobei einige textliche Änderungen zu verzeichnen sind: So fällt die dritte Strophe von »Trans Europa Express« weg, während der Text von »Radioaktivität« revidiert und mit einer Anti-Atomkraft-Aussage versehen wurde.957 Ist das Robovox ein unverkennbares stilistisches und originär klangästhetisches Element von Kraftwerk auf The Mix, dominieren doch die Reminiszenzen an die EBM, so etwa auch im strukturellen Bereich: Während Stücke wie »Autobahn« oder »Trans Europa Express« verkürzt respektive Stücke wie »Taschenrechner« und »Dentaku«, »Heimcomputer« und »It’s More Fun to Compute« sowie »Boing Boom Tschak« und »Musique Non-Stop«958 zugunsten einer prägnanten Themenraffung zusammengemischt sind, wurden in fast allen Stücken perkussive, aus atonalen Effektklängen bestehende Pattern ob besserer Möglichkeiten des Mischens für den DJ-Gebrauch hinzugefügt. Dass das Album unter anderem auch an DJs adressiert war, zeigt sich daran, dass es auch als Doppel-LP mit größerer Rillenbreite erhältlich war. Bei den in den oben genannten Pattern enthaltenen Sounds handelt es sich häufig um bearbeitete Samples von Klängen der jeweiligen Originalversion, die ebenfalls dem Zeitgeist folgend entweder in kurzer Abfolge wiederholt werden – analog zum oft auf Vokalspuren eingesetzten Stutter-Effekt  – oder sich in hoher Frequenz mit anderen Samples abwechseln. Hierbei wird sowohl von Pitch-Effekten, dem Rückwärtsabspielen von Samples und dem Hinzufügen unterschiedlicher Raumeffekte Gebrauch gemacht, welche an verschiedenen Positionen im Panorama verteilt werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Prozedere der Effektbearbeitung dabei dem neuen Live-Konzept entnommen wurde, für das man kurze Sequenzen erstellt hatte, die während eines Konzertes von jedem Musiker ausgewählt und modular immer neu zusammengesetzt werden konnten.959 Obgleich Karl Bartos dadurch den Verlust an »Dramaturgie, Diversität und Bandbreite« des Repertoires sah, da seiner Ansicht nach eine einmal gefundene, gelungene Kombination zur permanenten Reproduktion verführe,960 entspricht dies bis heute in weiten Teilen der gängigen Live-Praxis in der elektronischen Popularmusik, bei der nicht das in­­ 957 958

Vgl. Kap. 4.2.1. Auf der deutschsprachigen Version von The Mix wurde das Stück in »Musik Non Stop«, in der englischsprachigen Version in »Music Non Stop« umbenannt. 959 Bartos 2017, S. 472. 960 Ebd.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

strumentale Spiel, sondern das Mischen und Bearbeiten vorgefertigter musikalischer Elemente im Vordergrund steht. Bartos’ Vorwurf der dramaturgischen Statik ist diesem Konzept dabei aber nur bedingt zu machen, da auch bei herkömmlichen Rock- und Popkonzerten einmal als gelungen erachtete Abläufe in der Regel ebenfalls kaum revidiert werden. Ein Vergleich unterschiedlicher Konzerte der Computerwelt-Tour 1981 unterstreicht ebenfalls, dass trotz analogen Equipments und größerem Anteil an live gespielten Parts sich viele Stücke in den Abläufen gleichen.961 Ralf Hütters Ansicht zufolge handelt es sich bei The Mix gar um ein Live-Abum: »Unser Gerät, auf dem wir spielen, ist das KlingKlang-Studio, das Studio ist unser Instrument, und unsere musikalische Arbeit ist der Mix. […] Also ist der Mix nichts anderes als ein Live-Konzert. Im Prinzip ist The Mix ein Live-Album.«962

Nun muss dem gegenübergestellt werden, dass ein Live-Album immer die Aufnahme eines zeitlich in einem Stück dargebotenen Konzertes mit allen Unwägbarkeiten und Fehlern darstellt, obgleich mittlerweile infolge der üblichen Nachbearbeitung durch Overdubs, der nachträglichen Korrektur von Spielfehlern oder selektiven Auswahl einzelner Stücke aus verschiedenen Konzerten der LiveCharakter immer mehr verfälscht wird, weswegen man die Authentizität von Live-Alben häufig anzweifeln kann. Angesichts der Tatsache, dass The Mix in einem Zeitraum von mehreren Jahren entstand, ist die Deklarierung als LiveAlbum allerdings mehr als infrage zu stellen. Angesichts der Unterschiedlichkeit der im Internet verfügbaren Mitschnitte der vier zu Beginn des Jahres 1990 zu Testzwecken veranstalteten Konzerte kann allerdings angenommen werden, dass die finalen Versionen von The Mix in Teilen auch auf der Bühne erarbeitet worden sind. Auch wenn The Mix klangästhetisch ein Kind seiner Zeit ist und einige der damals modehaften Elemente wie etwa die Einbettung der TR-909-Pattern seit Beginn der regen und bis heute andauernden Konzerttätigkeit ab 2002 mittlerweile zurückgenommen wurde, sind doch bis heute viele Elemente der damals erstellten Mixes nach wie vor Bestandteil der Live-Darbietung. Auch die in dieser Zeit neu gemischten und live gespielten Stücke wie »Nummern« und »Computerwelt«, die nicht auf dem Album enthalten sind, entsprechen in weiten Teilen den heutigen Live-Versionen.963 In jedem Falle repräsentiert die für The Mix betrie961 962 963

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Hierbei sei auf die zahlreichen im Internet verfügbaren Mitschnitte der Computerwelt-Tour verwiesen. Zit. n. Ralf Hütter in: Bussy 1995, S. 210 f. Das schließt auch das Stück »Die Mensch-Maschine« ein, dessen erstmals 1993 live gespielte Version bis heute immer noch nahezu unverändert in Konzerten dargeboten wird. Vgl. Kraftwerk:

5.3  Die Zeit nach The Mix – Rückzug aus der Öffentlichkeit

bene Digitalisierung der Masterbänder den ersten Schritt zur Katalogisierung, Kanonisierung und Transfomation des Œuvres in die Neuzeit. Ralf Hütter: »Wir haben alle unsere Klänge, sämtliche Erinnerungen, alle alten Bänder, die sich inzwischen bereits entmagnetisierten, digital übertragen, und wir haben unsere ganzen Originalklänge im Speicher des Computers in ein digitales Format gebracht. Damit haben wir das gesamte Kraftwerk-Lexikon auf dem Schirm zur Verfügung, einen kompletten Katalog.«964

Nach Ansicht Karl Bartos’ begann in dieser Zeit auch eine Persönlichkeitsveränderung Ralf Hütters: »The Mix markiert den Zeitpunkt, in dem sich Ralf vom unabhängigen Künstler zum Designer und Kurator des Kling-Klang-Œuvres wandelte.«965

5.3 Die Zeit nach The Mix – Rückzug aus der Öffentlichkeit

Die Dekade der 1990er Jahre ist ein weitgehend ereignisloser Abschnitt in der Historie Kraftwerks, der von zahlreichen, in dieser Arbeit nicht zu klärenden Spekulationen begleitet wurde, da durch den Ausstieg Karl Bartos’, mit dem in seiner Autobiografie der tiefgreifende Einblick in das musikalische Schaffen Kraftwerks ein Ende hat, auch der für diese Studie bis dato wichtigste Paratext entfällt. Mit diesem Verlust geht gleichfalls eine acht Jahre andauernde Zeitspanne einher, in der zum einen von Kraftwerk nichts veröffentlicht wurde und zum anderen nach einer kurzen Phase von Interviews von Ralf Hütter zu Promotion-Zwecken nach der Veröffentlichung von The Mix die Gruppe sich aus der Öffentlichkeit extrem zurückzog. Das, was von Kraftwerk zu vernehmen war, beschränkte sich auf eine kurze Spanne reger Konzerttätigkeit in Europa.966 So wurde direkt im Anschluss an die Veröffentlichung von The Mix im Juli 1991 eine aus neun Konzerten bestehende The-Mix-Tour in England unternommen, für die als Ersatz für Karl Bartos der portugiesische Musiker Fernando Abrantes engagiert wurde. Für den zweiten, von Mitte Oktober bis Ende November 1991 andauernden, aus 26 Konzerten bestehenden Block der The-Mix-Tour wurde Abrantes wiederum durch den bereits für Kraftwerk tätig gewesenen Toninge-

964 965 966

Kraftwerk  – The Man Machine  – Osnabrück 1993, https://www.youtube.com/watch?v=KsgpH1e VoG8&list=PLeH8o91_fH36HhebxglqOpLX-CMqMZ3fL&index=7 (abgerufen am: 05.01.2021). Zit. n. Ralf Hütter in: Bussy 1995, S. 211. Bartos 2017, S. 480. Kraftwerk: Concerts, http://twingokraftwerk.com/concerts/concerts-main.html (abgerufen am: 10.08.2019).

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

nieur Henning Schmitz ersetzt,967 der damit das bis zum Ausstieg Schneiders 2009 für 18 Jahre gültige, aus Hütter, Schneider, Hilpert und Schmitz bestehende Lineup Kraftwerks komplettierte.968 In den Jahren 1992 und 1993 fanden jeweils nochmal drei Konzerte statt, danach verschwand Kraftwerk aus dem Blickfeld des Musikgeschehens. In dieser Zeit verwarfen Kraftwerk allerdings ihr Konzept völliger künstlerischer Eigenständigkeit, in dem sie für den TV-Sender MTV Jingles für die Sendung »Music Non Stop« komponierten. Hierbei handelte es sich um harmonisch und melodisch erweiterte, kurze Versionen des Stückes »Musique Non-Stop«, die primär aus den durch Vocoder bearbeiteten oder mit synthetischer Sprache generierten Schlagworten »Music Non Stop« bestanden.969 Mit dem Rückzug Kraftwerks aus der öffentlichen Wahrnehmung ging in den 1990er Jahren eine mythologische Aufladung der Gruppe einher, die sich aus verschiedenen Strängen speiste. So war die Rezeption des Werkes von Kraftwerk durch zahlreiche Adaptionen mittlerweile auf vielen Feldern der populären Musik ersichtlich. Viele in diesem Bereich tätige Musiker und Komponisten gaben Kraftwerk als Inspiration für das eigene Schaffen an und betonten immer wieder die Bedeutung der Gruppe für die Entwicklung der populären elektronischen Musik, in deren Folge auch der musikjournalistische Diskurs entgegen der oft kritischen, vornehmlich aus Deutschland stammenden Stimmen aus den 1970er und 1980er Jahren damit begann, das Schaffen Kraftwerks für die popmusikhistorische Entwicklung als originär und wichtig einzuordnen. Obgleich sich Ralf Hütter dieser Position in den raren Interviews zwischen der zweiten Hälfte der 1980er bis zu Beginn der 1990er Jahre keinesfalls verweigerte, sondern dies durchaus imageträchtig für Kraftwerk zu vereinnahmen wusste,970 wurde die Kommunikation nach außen in der nachfolgenden Zeit abgebrochen.971 Karl Bar967

Henning Schmitz ist als Toningenieur auf Electric Café und als Assistent auf der 2009 im Rahmen der Kompilation Der Katalog remasterten Version von Die Mensch-Maschine kreditiert. 968 Meixner, Udo: Henning Schmitz: Mehr Mensch als Maschine, in: Nordbayerischer Kurier, 08.10.2017, https://www.kurier.de/inhalt.henning-schmitz-mehr-mensch-als-maschine.09b1dad1-cc60450e-8905-f98ca4b69502.html (abgerufen am: 04.10.2020). 969 Kraftwerk: MTV Europe – Music Non-Stop (1993–97) – ALL Idents, https://www.youtube.com/ watch?v=_eeQ jo8A2MI (abgerufen am: 12.01.2021). Ferner fügten Kraftwerk die Elemente der Jingles zu einem mit »Non Stop« betitelten Stück zusammen, welches auf der 2020 veröffentlichten Kompilation Remixes enthalten war. 970 Beispielsweise gab Ralf Hütter in einem Interview mit der US-amerikanischen Zeitschrift Keyboard im Jahre 1991 an, dass die Adaption des Housesounds auf The Mix nicht von der damaligen Entwicklung innerhalb der EBM beeinflusst wäre, sondern eine werkimmanente logische Schlussfolgerung gewesen sei. Ralf Hütter in einem Interview mit Mark Drey in: Keyboard 10/91, San Francisco: Miller Freeman Publications, 1991, S. 59. 971 Hütter, Ralf: Kraftwerk-Chef Ralf Hütter im Interview mit Albert Koch, in: »Ich höre die Stille und die Welt«, in: Musikexpress, 12.02.2019, https://www.musikexpress.de/kraftwerk-chef-ralf-huetterim-interview-840625/2/ (abgerufen am: 12.01.2021).

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5.3  Die Zeit nach The Mix – Rückzug aus der Öffentlichkeit

tos vermutete im Jahre 1998, dass auch die hohe Erwartungshaltung an Kraftwerk respektive dem damals bereits ausgeprägten Mythos der Gruppe gerecht zu werden für Hütter und Schneider eine »hohe Bürde« darstelle, was möglicherweise einer Veröffentlichung neu komponierter Musik im Wege stünde.972 Dies stellt nur eine der zahlreichen, vonseiten Hütters und Schneiders unkommentierten Spekulationen dar, die sich in den 1990er Jahren um Kraftwerk rankten, aber dennoch weiter zur Mythologisierung der Gruppe beitrugen. So urteilte der Kulturwissenschaftler Dirk Matejovski: »Diese Mystifizierung durch Kommunikationsabbruch bildet bis heute auch eine Grundvoraussetzung für die Ausbildung des Mythos Kraftwerks.«973 Die Ausbildung dieses Mythos ist in verschiedenen Publikationen hinlänglich besprochen worden974 und soll ob der Fokussierung auf das Musikalische und Technische in dieser Arbeit im Folgenden auch nicht weiter behandelt werden. Sie verdient an dieser Stelle jedoch der Erwähnung, da sie die Grundlage einer gewissen in den 2000er Jahren einsetzenden Verklärung der 1990er Jahre bildet, die weitgehend ausklammert, dass Kraftwerk mit The Mix ein Album veröffentlichten, welches zwar vordergründig die Sound-Transformation und damit den ersten Schritt in Richtung der Kanonisierung des Œuvres darstellte, nicht aber darüber hinwegtäuschen konnte, dass angesichts fehlender Neukompositionen offensichtlich der künstlerische Output Kraftwerks zum Erliegen gekommen war. Glaubt man den Aussagen Karl Bartos’,975 war The Mix insofern auch aus der Not heraus geboren und gleichfalls symptomatisches Abbild der künstlerischen Stagnation, die anhand der insgesamt 13-jährigen, von der Veröffentlichung von Electric Café 1986 und der Veröffentlichung der Single »Expo 2000« 1999 dauernden Zeitspanne, in der von Kraftwerk kein neues musikalisches Material veröffentlicht wurde, nicht in Abrede gestellt werden kann. Die Entstehung des Mythos Kraftwerk in den 1990er Jahren ist daher möglicherweise auch ein gelegener Rettungsanker für die Gruppe gewesen, um nicht vollends von der musikalischen Bildfläche zu verschwinden, zumal sie in eine musikalisch äußerst umwälzende Zeit fiel, in der nach der digitalen Revolution in den 1980er Jahren eine weitere, bis heute die Musikwelt produktionstechnisch dominierende Entwicklung einsetzte, welche im folgenden Kapital erörtert werden soll: die Computerisierung der Studiotechnik.

972 973 974 975

Bartos 1998a, S. 46. Matejovski 2016, S. 8. Vgl. Matejovski 2016 und Schütte 2018. Bartos 2017, S. 453 ff.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

5.4 Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren

Der Einsatz computergestützter Technologie im Audiobereich war in den 1980er Jahren, wie in Kapitel 4.8.1 dargelegt, bereits eine der zentralen Neuerungen in der Studiotechnologie. Bezüglich der Speicherung von Daten erwiesen sich die damaligen Festplatten der Personal Computer aber als zu langsam und kapazitätsmäßig viel zu klein, als dass damit aufwendige Mehrspurproduktionen vorgenommen werden konnten. Orientiert man sich bezüglich der Größe von Audiodaten am damaligen CD-Format (44,1 kHz Sampling-Rate bei einer Auflösung von 16 Bit), so dass ungefähr für eine einminütige Aufnahme etwa 5 MB zu veranschlagen waren, benötigte man für eine vierminütige, aus 16 Spuren bestehende Produktion 320 MB Speicherkapazität. Dies konnte im Jahre 1989 allenfalls von einem großen Musikcomputer wie dem Synclavier 9600 mit seinem werksseitig 320 MB großen Speicher vorgenommen werden,976 wobei aber die Kapazität auch schon voll ausgeschöpft wurde. Zur Datenauslagerung verwendete man damals zum einen aus der Computerindustrie bekannte Tape-Streamer, mit denen man die Festplatten spiegeln konnte  – was allerdings mit zweitaufwendigen Ein- und Ausleseprozessen verbunden war –, und zum anderen sogenannte, einmal beschreibbare, optische WORM-Drives (write once / read many).977 Angesichts dieser Limitierung verwendete der Großteil der Studios bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre hinein nach wie vor Mehrspurbandmaschinen, die seit den 1980er Jahren nicht mehr nur auf analogen, sondern auch auf digitalen Verfahren basierten. Lagen die Vorteile der digitalen Bandgeräte in der auch bei mehrmaligem Kopieren und Zusammenmischen der Spuren gleichbleibenden Audioqualität, konnten die Bänder allerdings nicht wie bei der analogen Aufnahmetechnik geschnitten werden, was eine Editierung deutlich erschwerte, so dass je nach Einsatzgebiet beide Verfahren parallel verwendet wurden. Neben den Mehrspurbandmaschinen wurden in den 1980er und 1990er Jahren alternative Konzepte digitaler Audioaufzeichnung entwickelt wie das DAT (Digital Audio Tape) und die Minidisc von Sony oder die DCC (Digital Compact Cassette) von Philips, wobei sich die beiden letzteren aufgrund ihrer auf Datenreduzierung basierenden Funktionsweise und dem damit im Vergleich zum DAT einhergehenden Qualitätsverlust jedoch nicht auf dem Markt behaupten konnten. Wesentlich erfolgreicher dagegen war das ADAT-System der Firma Alesis ab dem Jahre 1992. Hierbei konnten bis zu 16 8-Spur-Rekorder miteinander synchronisiert werden, so 976

Meyer, Chris: The Synclavier Story (Part 1), in: mu:zines, http://www.muzines.co.uk/articles/thesynclavier-story/97 (abgerufen am: 02.09.2020). 977 Ebd.

354

5.4  Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren

dass maximal 128 Spuren möglich waren, was vor allem für den semiprofessionellen Bereich eine kostengünstige Alternative zu den großen Mehrspurmaschinen von Studer, Otari oder Sony darstellte. Dass auch diesem System kein nachhaltiger Erfolg beschert war, lag am Siegeszug der Computertechnologie. Boten bereits gegen Ende der 1980er Jahre viele US-amerikanische Softwarefirmen wie Alchemy oder Opcode auf unterschiedlichen PC-Plattformen wie Mac oder Atari MIDI-Sequenzer-Software oder computergestützte Editoren für Sampler an, mit denen kurze Audiofragmente bearbeitet werden konnten, sorgte schließlich die Firma Digidesign mit ihrer Software Sound Tools 1989 respektive des darauf basierenden, $ 5.995 teuren Pro Tools Systems 1991 für einen Meilenstein in Richtung HD-Recording.978 Bei diesem Programm, welches bis heute vor allem in den USA einen Standard im Bereich der digitalen Audioaufzeichnung darstellt und einen dynamischen, sich exponentiell entwickelnden Prozess der Computerisierung der Audiotechnik in den 1990er Jahren in Gang setzte, handelte es sich um eine Mischung aus einer Mac-basierten Software sowie Hardware-Komponenten. Zum einen wurden diese in Form von mit DSP-Prozessoren versehenen Steckkarten in den Rechner eingebaut, wobei eine Karte vier Aufnahmespuren generierte, die gleichzeitig bearbeitet werden konnten.979 Zum anderen bestand die Hardware aus AudioInterfaces, die den Rechner mit Standard-Studiokomponenten wie etwa einem Mischpult verbanden. Die sich daraus ergebenden Vorteile lagen auf der Hand: Man erhielt direkten Zugriff auf das Audiomaterial, ohne Vor- und Zurückspulen zu müssen, und konnte dies grafisch bequem editieren, ohne klangliche Verluste in Kauf nehmen zu müssen. Allerdings stand auch hier die nach wie vor geringe Festplattenkapazität aufwendigeren Mehrspuraufnahmen im Wege: So konnten die als Plattform dienenden Apple Macintosh IIc Rechner mit maximal 80 MB großen Festplatten ausgestattet werden.980 Daher bot sich das Programm vor allem für die Editierung von im Klassikbereich üblichen Stereoaufnahmen sowie von einzelnen, aus einer Mehrspurproduktion extrahierten Spuren an, die nach der Bearbeitung in Pro Tools wieder in die Gesamtaufnahme integriert werden konnten. Ferner eignete sich das Programm durch die Möglichkeit einer SMPTE-

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Thornton, Mike: The History Of Pro Tools, in: Pro Tools Expert, 03.04.2018, https://www.pro-toolsexpert.com/home-page/2018/3/27/a-brief-history-of-pro-tools (abgerufen am: 14.01.2021). Die im Jahre 1992 vorgestellte Version Pro Tools 1.1 ermöglichte durch die Kombination aus vier Steckkarten maximal 16 Audiospuren. Ebd. Sanford, Glen: Macintosh II, in: Apple History, https://apple-history.com/ii (abgerufen am: 12.01.2021). Speicher war zu diesem Zeitpunkt darüber hinaus noch exorbitant teuer. So kostete 1990 ein 650 MB großes Speichermedium für den Roland Sampler S-770 DM 11.000. Roland: Produktübersicht und Preisliste 1990, S. 8.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

Synchronisation zum Schnitt von Stereotonspuren im Filmbereich. Auch wenn man an das Pro Tools System größere externe Festplatten anschließen konnte, stand der gleichzeitigen Aufnahme mehrerer Spuren der geringe Datendurchsatz des internen Bussystems des Computers im Wege. Um diesem Problem zu begegnen, entwickelte Digidesign 1994 ein TDM (Time Digital Multiplexer) genanntes, mit flexiblem Routing ausgestattetes 24-Bit Bussystem, durch das gleichzeitig 256 Signale unabhängig voneinander in Echtzeit vorgenommen werden konnten. Ferner war es dadurch möglich, externe Programme (Plug-ins), sei es nun von externen Anbietern oder Digidesign selbst, an das System anzudocken, um das Host-Programm durch Software modular erweitern zu können. Preislich bewegte sich ein 16-spuriges Pro Tools System mit TDM-Modul im Jahre 1995 bei etwa DM 13.500,981 was angesichts der hohen Kosten für Mehrspurmaschinen982 eine mehr als preisgünstige und dazu technisch wesentlich flexiblere Alternative war – gleichfalls dadurch begünstigt, dass in dieser Zeit ein rapider Preisverfall bei gleichzeitig großen Kapazitäts- und Leistungssteigerungen bezüglich der Speichermedien einsetzte: Zum einen waren die Festplatten so schnell, dass auch der beim gleichzeitigen Aufzeichnen von mehreren Spuren nötige Schreibprozess in ausreichend hoher Geschwindigkeit vonstattenging, zum anderen lagen auch die für längere Mehrspuraufnahmen – wie etwa bei LiveMitschnitten – nötigen Festplattenkapazitäten im hohen einstelligen GB-Bereich mittlerweile in erschwinglichen Preisregionen.983 Neben Pro Tools, das ursprünglich als reines HD-Recording-System gedacht war, aber im Laufe der Jahre sukzessiv mit MIDI-Funktionen ausgestattet wurde, gab es Software-Hersteller, die in den 1990er Jahren den umgekehrten Weg gingen, indem sie zunächst MIDI-Sequenzer-Programme anboten, die später um HD-Recording-Funktionen erweitert wurden. Zwei namhafte und bis heute auch international sehr erfolgreiche Hersteller sind die bereits genannte Firma Steinberg sowie die ebenfalls aus Deutschland stammende Firma Emagic mit ihren Produkten Cubase beziehungsweise Logic, die das für Digidesign-Audiokarten nötige Treiberprogramm DAE (Dididesign Audio Engine) unterstützen und damit gleichfalls TDM-basiertes HD-Recording anbieten konnten. Infolge der Tatsache, dass Digidesign-Produkte auf der Mac-Plattform basierten, entwi981

Das System ließ sich auf bis zu 48 physikalische Ein- und Ausgänge erweitern. Waehnfeldt 1995, S. 138 ff. 982 So kostete die 24-Spur-Bandmaschine Studer A827 im Jahre 1989 ca. DM 80.000. Im Vergleich zum HD-Recording kamen außerdem noch Materialkosten für die Tonbänder hinzu. Vgl. von Behren 2004, S. 119. 983 So kostete eine 9,1 GB große SCSI-Festplatte des Herstellers Micropolis im Juli 1995 $  2.259. McCallum, John C.: Disk Drive Prices 1955+, https://jcmit.net/diskprice.htm (abgerufen am: 19.01.2021).

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5.4  Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren

ckelte sich der Apple-Rechner in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zum führenden Computer für Musikanwendungen. Steinberg und Emagic begannen aber darüber hinaus in dieser Zeit, Versionen ihrer Produkte auch für die WindowsPlattform zu entwickeln, so dass HD-Recording  – wenn auch in reduzierter Form ohne die Vorteile des TDM-Systems  – ab 1995 schließlich auch für die breite Masse an Amateurmusikern möglich war, die primär über Rechner verfügte, die mit dem Windows-Betriebssystem arbeiteten. Dass der Siegeszug des HD-Recordings nicht aufzuhalten war, zeigte sich 1996 auf der Musikmesse in Frankfurt, wo analoge Bandmaschinen keine Rolle mehr spielten.984 Dienten Computer bis dato lediglich als technische Plattform für die entsprechende Host-Software, in die Plug-ins eingebettet wurden, welche durch die DSPLeistung externer Hardware generiert werden musste, verfügten die auf Power PC985 basierenden Topmodelle der Computerhersteller neben ausreichend großen Speichermedien nun auch über eine Rechenleistung, die Audioprozesse ohne zusätzliche Hardware wie etwa DSP-Steckkarten zu generieren vermochten und damit die Grundlage für sogenannte native DAWs986 legte. Hierfür veröffentlichte Steinberg 1996 mit Cubase VST (Virtual Studio Technology) ein zunächst 32-spuriges HD-Recording-Programm, dessen Neuerung darin bestand, dass in Abhängigkeit der Rechenleistung beliebig viele echtzeitfähige Audio-Plug-ins in einem Kanalzug implementiert werden konnten. Bei diesen VST-Plug-Ins genannten Programmen handelte es sich zunächst um virtuelle Effektgeräte – durch die Modifikation der VST-Schnittstelle konnten 1999 allerdings auch MIDI-Daten empfangen werden, so dass auch virtuelle Instrumente wie Synthesizer, Sampler oder Drumcomputer von Drittanbietern wie beispielsweise Native Instruments oder Propellerhead in das Programm eingebunden werden konnten. Diese SoftwareInstrumente gewannen bereits seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend an Bedeutung und sind bis heute aus der Studiolandschaft nicht mehr wegzudenken. Die VST-Schnittstelle etablierte sich schnell zu einem Standard, der es ermöglichte, komplette Studioproduktionen ausschließlich im Computer vorzunehmen – das virtuelle Studio ist damit seit Ende der 1990er Jahre zur Realität geworden: So konnte auf teure Hardware wie Aufnahmegeräte, Mischpulte und OutboardEquipment wie Effektgeräte und Klangerzeuger verzichtet werden, was im

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Keyboards 05/96, S. 28. Bei »Power PC« handelte es sich um eine 1991 gemeinsam von Apple, IBM und Motorola entwickelte Mikroprozessor-Architektur. Power PC ist die zweiteilige Abkürzung für »Performance optimization with enhanced RISC« und »Performance Chip«. Man unterscheidet bei Host-basierten DAWs zwischen DSP-Systemen, bei denen externe Signal Prozessoren die Audiosignalverarbeitung übernehmen, und nativen Systemen, bei denen die Audiosignalverarbeitung nur durch die internen Prozessoren des Computers übernommen wird.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

Umkehrschluss den endgültigen Demokratisierungsprozess der Produktionsmittel zur Folge hatte. Waren zwar für die Aufzeichnung von – in der Rock- und Popmusik nach wie vor üblich – externen Instrumenten oder auch Gesang zwar immer noch Audio-Interfaces und Mikrofone notwendig, benötigte man hingegen im Bereich der elektronischen Popularmusik nur noch einen leistungsfähigen, mit entsprechender Software (die zudem von vielen Anwendern durch die ebenfalls prosperierende Software-Piraterie in gecrackter und daher kostenloser Form genutzt wurde) ausgestatteten Rechner, um komplette Stücke zu realisieren. Aber auch hinsichtlich der Hardware setzte auf dem Markt eine Diversifizierung und ein damit einhergehender Preisverfall ein: So gab es 1997 eine Fülle an PCI-Audio-Karten (Peripheral Component Interconnect) aller Preisklassen, durch die die Vormachtstellung der teuren Digidesign-Geräte beendet wurde.987 Ab 1998 spielten auch auf dem Mac / TDM-Format basierende Plug-ins keine große Rolle mehr, da fast alle Anbieter mittlerweile Formate wie VST oder den DirectX-Standard der Windows-Plattform unterstützten.988 Das virtuelle Studio ermöglichte neben allen finanziellen Vorteilen aber auch eine räumliche Entkoppelung. Die ebenfalls gestiegene Prozessorleistung von Laptops gegen Ende der 1990er Jahre machte es möglich, diese nun als Plattform für DAWs zu nutzen, wodurch das Studio leicht und transportabel wurde; es konnte überallhin mitgenommen werden und war jederzeit verfügbar, weshalb sich gleichfalls die Arbeitsökonomie änderte: Galt es bei professionellen Mietstudios sämtliche Details einer Komposition im Vorfeld auszuarbeiten und zu proben, um die kostenintensive Studiozeit so gering wie möglich zu halten, spielte der Zeitfaktor nun keine Rolle mehr. Nach einmal getätigter Anschaffung stand das virtuelle Studio ohne weiteren finanziellen Aufwand rund um die Uhr zur Verfügung, was Raum für klangliche Experimente bot, die unter Zeit- und Kostendruck im Zweifel womöglich unterblieben wären. Darüber hinaus entfiel das zeitaufwendige Erstellen und Verkabeln eines Studio-Setups, da die Plug-ins komfortabel in der DAW eingebunden waren und man mit wenigen Maus- beziehungsweise Trackpad-Klicks zum gewünschten Ergebnis kam. Genau diese eher fremde und indirekte Eingabe- und Steuermöglichkeit des Computers stellte für viele an Hardware gewohnte Anwender allerdings ein Problem dar, da der intuitive und haptische Zugang fehlte. Auch hier reagierte die Industrie jedoch schnell, indem sie zahlreiche Controller entwickelte, die speziell auf die wichtigsten Parameter von DAWs und Plug-ins zugeschnitten waren, um eine optimale Arbeits-

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Wilke 1997, S. 18 ff. Keyboards 04/98, S. 30.

5.4  Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren

ergonomie zu erzielen, die Hardware-basierte Klangerzeuger nicht weiter vermissen ließ. Dass hinsichtlich der Hardware in den 1990er Jahren trotzdem gravierende Veränderungen und Entwicklungssprünge erfolgten, war gleichfalls der Computertechnologie geschuldet. Wie erwähnt gab es analog zur Marktdominanz des Yamaha DX7 in den 1980er Jahren die Tendenz, Geräte mit immer komplexeren, auf verschiedenen digitalen Synthesearten basierenden Klängen herzustellen, die den Anwender als aktiven Klangoperateur nach und nach immer mehr ausschlossen, da sich die Klangprogrammierung angesichts der in der Regel aus Display, einem zentralen Data-Entry-Regler bestehenden, extrem reduzierten Eingabemöglichkeiten bei gleichzeitig immer mehr Funktionen und immer dicker werdenden Handbüchern zunehmend mühsamer und zeitaufwendiger gestaltete. Diese Bedienungsunfreundlichkeit wurde zunächst nur von der Softwareindus­ trie erkannt, die ab Mitte der 1980er Jahre infolge der Etablierung des MIDIStandards grafische Editoren für Synthesizer und Sampler entwickelten – Hardware-seitig sahen die Hersteller aber innerhalb der gesamten Dekade keinen Handlungsbedarf. Für ein Umdenken sorgten erst die in der Electronic Dance Music beheimateten Musiker, die analoge Synthesizer angesichts ihres als warm empfundenen Klanges, der übersichtlichen Bedienung sowie des bis Anfang der 1990er Jahre günstigen Preises den digitalen Geräten vorzogen, wie das US-amerikanische Magazin Keyboards in einem Artikel über die britische EBM-Gruppe Nitzer Ebb 1991 feststellte: »Like a lot electronic groups these days Harris and McCarthy find themselves turning more and more to old analog synths.«989 Der erste Synthesizer-Hersteller, der diesen Trend erkannte, war die Firma Roland, die im selben Jahr mit dem JD-800 einen Digital-Synthesizer auf den Markt brachte, der über eine analoge Bedienoberfläche verfügte, mit der ein großer Teil der Klangparameter editiert werden konnte. Ferner kündigte der durch seine Analog-Synthesizer bekannt gewordene, allerdings im Zuge der Digitalisierung 1985 mit seiner Firma bankrottgegangene Ingenieur Tom Oberheim 1991 mit dem OB-Mx Rack einen neuen 19"-Analog-Synthesizer an, der es allerdings erst 1994 zur Marktreife brachte. Abgesehen davon hielten führende Synthesizer-Hersteller wie Korg und Yamaha aber zunächst an dem auf einem zentralen Data-EntryRegler bestehenden Eingabekonzept fest. Selbst Roland kehrte zu diesem Design zurück  – wohl auch ob des Misserfolges des JD-800  –,990 implementierte aber 989 di Perna 1991, S. 60. 990 Bloderer, Theo: Roland JD-800  – der beste digitale Flächen-Synthesizer?, in: greatsynthesizers.com,

31.05.2015, https://greatsynthesizers.com/testberichte/roland-jd-800-der-beste-digitale-flaechensynthesizer/ (abgerufen am: 24.01.2021). Schulze 1997, S. 24

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

immerhin fortan auf der Bedienoberfläche zusätzliche Fader zur Editierung. Als die Nachfrage nach analogen Synthesizern schließlich immer größer wurde und die Preise für Standardinstrumente der Techno- und House-Szene wie dem TR-909 oder TB-303 immer weiter stiegen,991 begannen ab 1993 respektive 1994 kleine europäische Hersteller wie Novation oder Doepfer abgewandelte Nachbauten der begehrten analogen Roland-Bass-Synthesizer wie dem SH-101 oder eben der TB-303 zu entwickeln. Der Erfolg dieser Geräte setzte zum einen eine bis heute anhaltende retrospektive Entwicklung in der Synthesizer-Industrie in Gang, in der neben der Renaissance der subtraktiven Synthese, die Bedienungsfreundlichkeit der Geräte und damit der Musiker als Klangdesigner wieder in den Vordergrund rückte. Zum anderen zeigt dies die Bedeutung, die die EDM mittlerweile auf dem Musikmarkt eingenommen hatte, da viele neue Konzepte wie etwa die Groovebox – eine Kombination aus Synthesizer, Drumcomputer und Sequenzer  – speziell für die Club-Szene entwickelt wurden. Selbst die großen Hersteller positionierten nun auf den Bedienoberflächen ihrer Geräte eigene Regler für die wichtigsten Klangparameter – allen voran der Cutoff-Frequenz, da die Modulation dieses Parameters in den 1990er Jahren begründet durch den Acid-House zu einem der wesentlichen Klangcharakteristika in der populären elektronischen Musik wurde. In der folgenden Zeit ergaben sich anhand des re­­ trospektiven Zeitgeistes weitere Entwicklungsstränge: So erfreuten sich auf der einen Seite neben Analog-Synthesizern auch die ebenfalls in den 1980er Jahren vom Markt gedrängten Modularsysteme einer großen Nachfrage, so dass die Firma Doepfer 1995 mit dem A-100 wieder ein Analogsystem auf den Markt brachte, welches nicht nur den sogenannten Eurorack-Standard für Modularsysteme begründete,992 sondern auch eine Fülle neuer Modularsystemhersteller nach sich zog. Auf der anderen Seite war die Instrumentenindustrie auch neuen Technologien zugetan: So entwickelte die schwedische Clavia 1995 mit dem Nordlead einen Synthesizer, der auf DSP-gestützter, virtuell analoger Klangsynthese

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Hierzu sei auf die Angebote im Markteil der Zeitschrift Keyboards am jeweiligen Anfang der Jahre 1992–98 verwiesen: Roland TB-303: 1/92: DM 480, 2/93: DM 950–1.250, 1/94: DM 1.790, 1/95: DM 1.800–1.950, 1/96: DM 2.000–2.350, 1/97: DM 1.900–2.500, 1/98: DM 2.000; Roland TR-909: 1/92: DM 1.100–1.200, 2/93: DM 1.250, 1/94: DM 1.900–2.190, 1/95: DM 2.200– 2.450, 1/96: DM 2.450, 1/97: DM 2.100–2.600, 1/98: DM 1.700–2.190. Vgl. Keyboards, diverse Ausgaben. Hersteller von Modularsystemen in den 1960er bis 1980er Jahren wie beispielsweise Moog, ARP, Roland, Buchla oder E-mu verwendeten unterschiedliche Gehäusegrößen. Durch den Erfolg des Doepfer A-100, dessen Modulgrößen den 3HE (1HE = 44,45mm) großen Gehäusen der in Europa in der Elektrotechnik standardisierten Europakarte (Eurocard) entsprach, übernahmen viele der sich in dieser Zeit neu gegründeten Modularsystemhersteller diese. Alternativ dazu etablierten sich als zweiter Standard die von Moog verwendeten Modulgrößen (5HE).

5.4  Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren

basierte. Anstatt wie bei vielen anderen Geräten aus dieser Zeit auf gespeicherte Samples als Ausgangsmaterial zurückzugreifen, welche dann durch klassische Komponenten der subtraktiven Synthese moduliert und bearbeitet wurden, erfolgte hier die Berechnung des Signals der Oszillatoren mittels Computerprozessoren in Echtzeit, was im Gegensatz zur oft statisch klingenden Sample-Bearbeitung zu einem lebendigen, authentisch analogartigen Klangbild führte. Die Nutzung der mittlerweile exponentiell gestiegenen Rechenleistung von Computerprozessoren setzte einen Trend in Gang, auf den auch große Firmen wie Roland, Yamaha oder Korg mit verschiedenen auf virtuell analoger Klangsynthese basierenden Instrumenten aufsprangen. All diese Entwicklungen hatten zur Folge, dass das Klangbild nicht nur in der populären elektronischen Musik, sondern in der populären Musik überhaupt in den 1990er Jahren abermals einem großen Wandel unterworfen war, da durch die Technik auch der Arbeitsprozess revolutioniert wurde. Waren früher Kompositions-, Aufnahme- und Mischvorgänge voneinander getrennt und in eine lineare Zeitabfolge gepresst, ließen sich diese nun durch die Echtzeitfähigkeit und das Total Recall – die Möglichkeit, alle Einstellungen zu speichern und wieder abzurufen – von HD- und Sequenzer-Software miteinander verbinden. Zwar konnten bei den ersten automatisierten Mischpulten in den 1970er Jahren zumindest beim Mix Lautstärkeverläufe programmiert werden, die Feineinstellung von Equalizern und die Verkabelung aller Effektwege musste aber immer noch per Hand vorgenommen werden, was bei mehreren zeitlich voneinander abgetrennten Sessions in Mietstudios zur Folge hatte, dass diese Arbeit nicht nur jedes Mal von Neuem vorgenommen werden musste, sondern angesichts der Komplexität eines solchen aufeinander abgestimmten Vorgangs die einmal vorgenommene Einstellung nur sehr schwer zu reproduzieren war, was wiederum einen einheitlichen Sound erschwerte. Durch die Midifizierung bei Mischpulten in den 1990er Jahren konnten zwar sukzessiv weitere Funktionen durch Software editiert und kontrolliert werden, wirkliche Abhilfe schaffte in dieser Zeit erst das Aufkommen digitaler Mischpulte, bei denen alle Funktionen durch den Computer automatisiert werden konnten. Auch wenn diese Geräte über interne Effekte verfügten, reichte deren Qualität und Anzahl in der Regel für eine hochwertige Studioproduktion nicht aus, so dass nach wie vor teure Outboard-Effekte nötig waren, die immer noch extern in die Pulte eingeschleift werden mussten. Hinzu kam, dass je nach Ausstattung des Studios nicht nur das Outboard-Equipment, sondern auch die Aux-Wege und Insert-Eingänge der Pulte nur in begrenzter Anzahl zur Verfügung standen, so dass man sich vor dem Mixdown genaue Gedanken machen musste, für welche Spur man welchen Effekt benötigte oder ob gegebenenfalls, um Effektwege und -geräte einzusparen, im Vorfeld etwaige Spuren destruktiv

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

downgemixt werden mussten. Durch das HD-Recording und die damit einhergehende Visualisierung der Studiowelt ab Mitte der 1990er Jahre standen Effekte und Routing-Möglichkeiten nicht nur – je nach Rechenleistung – in unerschöpflicher Menge zur Verfügung, man konnte auch an jeder Stelle des Mixes eingreifen und jeden Parameter sowohl exakt fixieren, als auch immer wieder bis zum Erreichen des gewünschten Ergebnisses editieren. Die bis dahin in der Popmusikwelt geltenden Produktionszeitachsen von der Komposition über die Aufnahme bis hin zum Mix waren ausgehebelt: Fortan konnte der Mix respektive das Hinzufügen von Effekten gleichzeitig Bestandteil des Kompositionsprozesses sein und so analog zum Resampling zum musikalischen Grund- und Ausgangsmaterial werden. In Verbindung mit zunehmend ausgefalleneren Bearbeitungsmöglichkeiten durch Plug-ins führte dies zu immer komplexeren Klangarchitekturen, die mitunter schwer vorhersehbar oder gänzlich Produkt eines Trial-und-ErrorPrinzips waren, das den Zufall zum essenziellen Bestandteil des Kompositionskonzepts erhoben hatte. War im Umgang mit der subtraktiven Synthese das klangliche Ziel mit etwas Übung recht einfach zu imaginieren, wurde man nun durch schwer zu kalkulierende Bearbeitungsschritte durch den Computer in ständig neue Klangwelten geworfen, die als Basis weiterer Experimente dienten.993 Dieser spielerische Ansatz wurde vor allem in der EDM praktiziert, aus deren sich immer weiter diversifizierenden Genre-Geflecht schon seit Mitte der 1980er Jahre die maßgebenden Vorstöße im Klangdesign kamen, welche je nach kommerziellem Erfolg sukzessive in den Mainstream-Pop integriert wurden. Eines der besten und eindrücklichsten Beispiele für die Adaption dieser Klänge ist Madonna, die für ihre Produktionen immer wieder Produzenten aus dem Bereich der EDM zu gewinnen vermochte, um damit ihrer Musik einen zeitgenössischen Sound aus dem elektronischen Underground zu verleihen. So war es um die Jahrzehntwende der 1980er/1990er Jahre neben dem House-Piano-Pattern vor allem der Four-to-the-Floor-Beat der TR-909, der Madonna mit »Vogue« an die Spitze der US-amerikanischen und britischen Charts brachte,994 und dadurch zu einem klangästhetischen Standardbeat der 1990er Jahre stigmatisiert wurde, der bis in die Untiefen der Schlagermusik Verbreitung fand. Bei ihrem 1998 veröffentlichten Album Ray of Light, für dessen Produktion unter anderem William Orbit verantwortlich zeichnete, verwendete sie neben Hiphop-Beats für den Trance charakteristische, mit permanenter Filtermodulation versehene Klangflächen. Noch elektronischer fiel das Resultat ihrer Zusammenarbeit mit dem Produzenten 993 994

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Einen guten Einblick in diese Arbeitsweise gibt das 1998 in der Zeitschrift Keyboards veröffentlichte Interview mit dem englischen Electronica-Duo Autechre. Piltz / Hauser 1998, S. 52–59. Madonna: »Vogue«, https://de.wikipedia.org/wiki/Vogue_(Lied) (abgerufen am: 20.01.2021).

5.4  Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren

Mirwais Ahmadzai auf dem 2000 veröffentlichten Album Music aus, bei dem neben Electrobeats, Glitch- und Stutter-Effekt-Klängen auch Vocoder und der zum damaligen Zeitpunkt hochaktuelle Autotune-Effekt zur Gesangsbearbeitung eingesetzt wurden.995 Dass diese Klänge in den 1990er Jahren das Licht der Musikwelt erblickten, ist neben den aus der technologischen Entwicklung hervorgegangenen, immer ausgefalleneren Klangerzeugern und Bearbeitungsmöglichkeiten der Verbilligung und der allgemeinen Verfügbarkeit dieser Produktionsmittel geschuldet, in deren Folge auch mit geringen finanziellen Mitteln besonders im Bereich der elektronischen Popularmusik in Heimstudios Produktionen entstehen konnten, die qualitativ nicht nur auf dem Markt bestehen konnten, sondern zur Entstehung von neuen Genres maßgeblich beigetragen haben: Die Emanzipation von der Hardware ermöglichte nun vielen Amateurmusikern, ihre eigene Musik aufzunehmen und zu produzieren. Darunter fielen auch einige ambitionierte Musiker, die, ursprünglich vom Kosmos der Musikindustrie ausgeschlossen, nun Zugang zu günstiger, aber leistungsfähiger Technologie hatten und autark von plattenindustriellen Konventionen durch neue musikalische und klangtechnische Ideen eine Underground-Kultur etablieren ließen. So urteilte der Electronica-Musiker Richard D. James (Aphex Twin): »Homerecording war in dieser Hinsicht wirklich eine Befreiung. Es hat die Industrie entmachtet.«996 Neben dem vom Sampling geprägten Hiphop in den USA, der mit elektronischen Beats und Klängen den musikalischen Mainstream in den 1990er Jahren zu dominieren begann, waren es die zahlreichen sogenannten Bedroom-Producer in England, deren Homerecording-Experimente in den Zentren elektronischer Musik wie London, Manchester, Bristol und Sheffield zahlreiche Genres wie beispielsweise Drum ’n’ Bass, Trip Hop oder Bleep Techno, aber auch experimentelle, innovative und völlig vorbildlose Musikansätze hervorriefen, welche sich nur bedingt stilistisch subsumieren ließen. Eines der dafür bis heute wichtigsten Plattformen ist das 1989 gegründete Label Warp Records, dessen Veröffentlichungen sich bewusst von der sich im Assimilationsprozess durch den Mainstream befindlichen Electronic Dance Music abgrenzten und fortan unter dem Überbegriff der IDM (Intelligent Dance Music) firmierten.997 Obgleich die IDM in weiten Teilen vor allem bezüglich der rhythmischen Komponente an vom House, Electro oder Hiphop bekannte Elemente anknüpfte, zeichnete sich die Musik sowohl durch komplexe Klänge als auch komplexe harmonische, melodische und rhythmische Strukturen 995 996 997

Szulerecki / Sunderkötter 2001, S. 32 ff. James 1995, S. 93. Collins 2009, S. 337.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

aus, die sich zuweilen jeder Repetitivität verschlossen. Im Fokus von Protagonisten dieses Genres wie beispielsweise Aphex Twin oder Autechre stand weniger der Dancefloor als vielmehr das kreative und künstlerische Erforschen ungehörter Klangtexturen, die sich aural zuweilen eher im Bereich der zeitgenössischen elektronischen Musik verorten ließen. Folgerichtig stellte sich bald die Frage nach der terminologischen Sinnhaftigkeit von IDM, so dass in den späten 1990er Jahren der Begriff durch die wertneutralere Bezeichnung Electronica ersetzt wurde.998 Richard D. James etwa verweigerte sich jeglicher von der EBM abgeleiteter, Genre-spezifischer Einordnung und sah seine Arbeit lediglich unter dem weiten Feld der elektronischen Musik subsumiert.999 Sucht man nun nach Bezügen zwischen Kraftwerk und den Elektromusikern der 1990er Jahre, entwirft Albert Koch, der dieser Frage in vielen Interviews nachgegangen ist, ein kontroverses Bild, in dem ein Gros der Musiker zwar den historischen Wert Kraftwerks anerkennt,1000 direkte Impulse der Gruppe für das Musikgeschehen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre aber nur bedingt oder nicht mehr sieht – hiervon ausgenommen sind Kraftwerk-Epigonen wie etwa Dopplereffekt oder AUX88, die in den 1990er Jahren mit an Computerwelt angelehnter Musik dem Electro-Genre zu einer Renaissance verhalfen.1001 Richard D. James äußerte sich im Vorfeld des Auftritts Kraftwerks beim Tribal Gathering Festival in Luton 1997 wie folgt: »Ich bin mit ihrer [Kraftwerks] Musik aufgewachsen, und hatte totalen Respekt vor ihnen, den ich aber mittlerweile verloren habe. Ich kann mich irren, aber meine Intuition sagt mir, dass sie mittlerweile den Anschluss verloren haben.«1002

Diese Aussage repräsentiert den Zeitgeist der damaligen Jahre, in denen eine neue Generation von Elektromusikern das Heft des Handels an sich gerissen hatte, deren musikalische Arbeit in einem mehr oder weniger digital dominierten Umfeld vonstattenging, dessen Kern der Computer beziehungsweise die darauf laufende DAW war. Mit entsprechender Software ließen sich zuhause im Handumdrehen immer komplexere Klänge realisieren, so dass die lange existierende finanzielle Barriere hinsichtlich des in der populären elektronischen Musik so wichtigen technischen Vorsprungs gegen Ende der 1990er Jahre endgültig beisei 998 Ebd., S. 335. Der Begriff »Electronica« geht auf das gleichnamige und erstmals 1983 in Sheffield

veranstaltete Musikfestival für Ambient-, Industrial- und experimentelle Musik zurück.

 999 James 1995, S. 92 f. 1000 Eine Zusammenfassung mit Stimmen zur musikhistorischen Bedeutung Kraftwerks findet sich

hier: Kraftwerk: Kraftwerk  – Godfathers of Electronic Music, 17.05.2008, https://www.youtube. com/watch?v=n4z5VmOIYu8 (abgerufen am: 26.06.2019). 1001 Koch 2002, S. 129 ff. 1002 Zit. n. Richard D. James in: Koch 2002, S. 130.

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5.4  Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren

tegeschoben war und damit ein jahrelanger Vorteil Kraftwerks zunichtegemacht wurde. Unbestritten hatte die Gruppe zwar zu diesem Zeitpunkt einen festen Platz in der Musikhistorie inne, angesichts ihres lediglich auf wenige Konzerte reduzierten Outputs galten sie allerdings nur noch als eine Musikgruppe unter einer unüberschaubaren Anzahl von vielen, welche angesichts günstiger und immer einfacher zu handhabenden Produktionsmittel den Markt mit Musik überschwemmten. Auch wenn vieles darunter qualitativ minderwertig war, kristallisierte sich an der Spitze doch eine Fülle fähiger Protagonisten heraus, die fluktuierend den musikalischen Puls der Zeit vorantrieben und in hoher Dichte und kurzen Zeitabständen hochwertige, mit immer neuen Klängen versehene Produktionen veröffentlichten. Ob wie von Karl Bartos ins Feld geführt diese Übermacht an ständig neuer Musik und der daraus resultierende stetige Wandel von Klangmoden für Kraftwerk ein hemmender Faktor war, um neue Musik zu veröffentlichen, ist nicht zu klären. Auf die Frage, ob der Ruhm Kraftwerks sich so lähmend auf das Schaffen ausgewirkt habe, dass sie 16 Jahre für ein neues Album gebraucht hätten, antwortete Ralf Hütter in einem 2003 im Rahmen der Promotion-Aktivitäten zur Veröffentlichung des Albums Tour de France Soundtracks gegebenen Interviews: »Wir sind ganz normale Musikarbeiter und mit Kraftwerk in unserem Studio in Düsseldorf gut beschäftigt. Dabei gibt es keinen 4- oder 20-Jahresplan. Wir haben zuletzt wenig veröffentlicht, könnten das Tempo aber jederzeit anziehen.«1003 Ob dies der Wahrheit entspricht, sei ebenso dahingestellt wie weitere, im typischen Kraftwerk-Duktus1004 von Ralf Hütter getätigte Erläuterungen zur Arbeitsweise, in denen er etwa – wohl nicht ohne ein Augenzwinkern – behauptete: »Wir sind an sieben Tagen die Woche im Studio. Wir fangen spät am Nachmittag an und gehen spät am Abend. Wir haben für uns die 168-Stunden-Woche eingeführt.«1005 Sucht man Fakten bezüglich einer Reaktion Kraftwerks auf die Entwicklung im Musikbereich der 1990er Jahre, ist zumindest zu sagen, dass das Kling Klang Studio von den technischen Innovationen in dieser Dekade nicht unberührt geblieben ist: Einen Eindruck der Ausstattung des Studios bieten neben von Peter Boettcher angefertigten Pressefotos1006 ein während der Bühnenprobe für das Kon-

1003 Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Christoph Dallach, in: »Die Maschinen spielen uns«, in:

Der Spiegel, 14.07.2003, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-27636663.html (abgerufen am: 03.02.2021). 1004 Siehe Einleitung. 1005 Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Christoph Dallach, in: »Die Maschinen spielen uns«, in: Der Spiegel, 14.07.2003, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-27636663.html (abgerufen am: 03.02.2021). 1006 Boettcher / Hütter 2013, S. 17 und 19 (die Seiten sind im Buch nicht durchnummeriert).

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

zert im November 1991 angefertigtes Video1007 sowie die anhand von Fotos rekonstruierte schematische Darstellung aus dem Jahre 1992.1008 So wurde im Vergleich zur Computerwelt-Tour der Bühnenaufbau leicht verändert: Anstelle der ursprünglich zehn Rack-Einheiten pro Seite1009 verkürzte man diese auf jeweils acht, wobei die beiden zur Bühnenmitte befindlichen Einheiten abgetrennt und zu einer Zweiergruppe in der Mitte zusammengefasst im 45°-Winkel zu den rechts und links befindlichen Rack-Einheiten gruppiert wurden. Unter anderem durch den Wegfall der Kontrollmonitore für die Projektoren wurden vier Racks komplett mit Blenden versehen und nur noch aus optischen Gründen auf die Bühne gestellt.1010 Zwar ist das Equipment nicht im Detail aufzulisten – im Wesentlichen ist aber erkennbar, dass der Synthanorma zugunsten eines Yamaha C1 Sequenzers ausgetauscht wurde. Zusätzlich gesellte sich ein rückwärtig zu den Spieltischen von Ralf Hütter und Henning Schmitz in der Studiokonsole eingebauter Atari ST Computer, durch den die Steuerung der Video-Projektoren erfolgte.1011 Um diesen Computer herum sind zwei 19"-Rackversionen des Minimoog sowie ein Waldorf Microwave platziert. Zur weiteren Klangerzeugung dienen drei an unterschiedlichen Positionen in den Konsolen verteilte Akai S-1000 Sampler. Bezüglich des HD-Recordings gesellte sich zum in einem externen Rack untergebrachten Synclavier-Terminal noch ein Akai DD 1000 Stereo-Editing-System hinzu, was damals vordergründig für das Mastering verwendet wurde.1012 Die Spieltische selbst beinhalteten als jeweils zentrales Instrument neben zwei Roland PAD-80 MIDI-Drumpads für Fritz Hilpert bei Ralf Hütter das Synclavier-Keyboard, bei Henning Schmitz ein speziell angefertigtes, nicht näher deklarierbares Keyboard und bei Florian Schneider ein Yamaha DX100. Darüber hinaus waren die Spieltische von Schmitz, Hilpert und Schneider mit zahlreichen Controllern ausgestattet. Mit der Entwicklung des Robovox begann in den 1990er Jahren gleichfalls eine Zusammenarbeit Kraftwerks mit der Firma Doepfer, die beispielsweise unter anderem zur Entwicklung des MAQ (MIDI Analog Sequencer) 16/3 im Jahre 1994 oder dem Vocoder-Modul des Modular Systems A-100 führte,

1007 Kraftwerk: Kraftwerk  – Robots Stage Rehearsals, Paris, 1991, https://www.facebook.com/techno

pop2000/videos/rare-footagekraftwerk-robots-stage-rehearsals-paris-1991youtube-1539-bywilly-bi/680279139199237/ (abgerufen am: 12.01.2021). 1008 aktivitaet-fanzine.com: KLING KLANG: THE ELECTRONIC GARDEN, http://www.aktivitaet-fanzine.com/10_kk0.html (abgerufen am: 15.02.2021). 1009 Kraftwerk: Kraftwerk Revealed  – E&MM Sept 1981 (Mike Beecher), http://noyzelab.blogspot. com/2014/09/kraftwerk-revealed-e-sept-1981-mike.html (abgerufen am: 01.09.19). 1010 Emportal: Kraftwerk live in Amsterdam, http://www.emportal.info/viewtopic.php?p=90540&sid=7f8e 429d1980efdceb331c9dc7ec415d (abgerufen am: 18.01.2021). 1011 Kraftwerk: Equipment, http://www.kraftwerkfaq.com/equipment.html (abgerufen am: 21.02.2021). 1012 Bernd Gössling im Interview mit dem Verfasser am 18.02.2021.

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5.4  Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren

in deren Folge Doepfer Produkte mit Kraftwerk bewerben durfte,1013 teilweise auch unter Mitwirkung Florian Schneiders.1014 Zur technischen Auf- und Umrüstung des Kling Klang Studios in den 1990er Jahren sind darüber hinaus allerdings keine weitere Quellen zu finden. Es ist aber davon auszugehen, dass angesichts der Technikfokussierung der Gruppe der Fortschritt hinsichtlich der Computertechnologie im Audiobereich sicherlich sehr genau wahrgenommen und in dieser Richtung auch investiert wurde. Den Beleg dafür liefert das Booklet der im nächsten Kapitel diskutierten Single »Expo 2000« aus dem Jahre 1999, da hier Instrumenten-, Studiotechnik- und Softwarehersteller aufgelistet wurden. Neben der Hardware-seitigen Kreditierung von Synthesizer-Herstellern wie Doepfer, Kawai oder Quasimidi finden sich die Studiotechnik- und Audiosoftwarefirmen TC Electronics, TC Works und Steinberg, was darauf schließen lässt, dass Kraftwerk zum damaligen Zeitpunkt die Schwelle zum virtuellen Studio bereits überschritten hatten. Da Kraftwerk mit der Umstellung ihres Live-Setups im Jahre 2002 mit Cubase SX arbeiteten, ist davon auszugehen, dass sie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre als DAW die Vorgänger-Version Cubase VST nutzten. Rückschlüsse bezüglich des erstmaligen Einsatzes der Software lassen sich allenfalls anhand der wenigen Live-Konzerte in diesem Zeitraum ziehen. Anhand des Auftritts auf dem Tribal Gathering Festival 1997 ist zu erkennen, dass zunächst der Bühnenaufbau dahingehend geändert wurde, als dass die beiden in einem Winkel von 90° befindlichen Rack-Reihen zu einer parallel zur Bühne platzierten Reihe zusammengefasst wurden.1015 An der Stelle in der Mitte der Rack-Reihe, an der sich der Akai DD 1000 befand, wurde nun ein Computer-Monitor platziert, über dessen Einsatzgebiet allerdings nichts Näheres bekannt ist.1016 Wie im Internet geposteten Videos von Konzerten in Japan oder Brasilien zu entnehmen ist, kehrte man im folgenden Jahr jedoch zur Anordnung des Kling Klang Studios in

1013 doepfer.de: Doepfer-Story – Der Modul-Mogul, Textauszüge aus dem Firmenportrait in der Fachzeitschrift

Keys, Ausgabe 12/97 ab Seite 152, http://www.doepfer.de/hist_d.htm (abgerufen am: 12.01.2021).

1014 Bloderer, Theo: Dieter Doepfer  – Schöpfer des A-100 Modular Systems, in: greatsynthesizers.com,

29.10.2013, https://greatsynthesizers.com/allgemein/interview/dieter-doepfer-schoepfer-des-a100modular-systems/ (abgerufen am: 12.02.2021). Schneider, Florian: Electronic Poem, https://www.youtube.com/watch?v=pLRgjzEjFkM (abgerufen am: 12.01.2021). 1015 Rogers, Jude: Kraftwerk, Tribal Gathering 1997: past, present and future become one, in: The Guardian, 27.07.2020, https://www.theguardian.com/music/2020/jul/27/iconic-festival-sets-kraftwerk-tri bal-gathering-1997 (abgerufen am: 20.01.2021). 1016 Ebd.

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

Form eines gleichschenkeligen Dreiecks mit abgeflachter Spitze zurück.1017 Insgesamt gab es statt 16 Rack-Einheiten jedoch nur noch 14, in deren Mitte sich nun zwei Computer-Monitore befanden. Es ist auch angesichts der zeitlichen Nähe zur Veröffentlichung von »Expo 2000« zu vermuten, dass zumindest einer der dazugehörigen Computer für das Sequencing verwendet wurde und den nicht mehr zeitgemäßen Yamaha C1 ersetzte – belegen lässt sich das aber nicht. Ansatzpunkte für den Computereinsatz in dieser Zeit können allerdings drei neue, unbenannte Kompositionen1018 bieten, die angesichts ihrer komplexen Klangästhetik zumindest auf den Einsatz von Software-Synthesizern schließen lassen. Bei »Tribal Gathering« handelt es sich um ein mit 145 bpm recht schnelles Four-to-the-Floor-basiertes Instrumental, dessen Hookline sich aus einer von der Quinte tonal über die A-Blues-Tonleiter absteigende Melodie zusammensetzt, die mit einem flächigen, aber obertonreichen, mit einer perkussiven Attackphase versehenen Klang gespielt wird, welcher wiederum in ähnlicher Form auch auf dem 2003 veröffentlichten Album Tour de France Soundtracks wie etwa im Stück »Tour de France Étape 3« zu hören ist. Laut Fritz Hilpert handelt sich dabei um einen mit einem Software-Sampler generierten Klang,1019 was angesichts der klanglichen Nähe dafür spräche, dass Kraftwerk bereits 1997 Software-Synthese verwendeten. Das Stück »Tango« gleicht »Tribal Gathering« in vielerlei Hinsicht: Zum einen ist es mit 141 bpm ähnlich schnell, zum anderen hat es durch den Four-to-theFloor-Beat – wenngleich dieser auch ab und zu durch ein leicht von »Nummern« abgewandeltes Drumpattern aufgebrochen wird  – dieselbe Techno-Ästhetik. Auch hinsichtlich der Sounds, sei es in Form der modulierten Perkussionsklänge als auch der Hookline, gibt es große Übereinstimmungen. Am gravierendsten ist die Kongruenz jedoch im melodischen Bereich: Auch hier besteht das Thema aus einer abfallenden Blues-Tonleiter, wobei im Vergleich zu »Tribal Gathering« 1017 Kraftwerk: Kraftwerk  – Music Non Stop  – Brazil 1998, https://www.youtube.com/watch?v=po

I3MlHjZiQ (abgerufen am: 18.01.2021). Kraftwerk: Kraftwerk JAPAN 1998, https://www.you tube.com/watch?v=XLSwDEzzs94 (abgerufen am: 18.01.2021). 1018 Auf Bootlegs der jeweiligen Live-Konzerte erhielten sie in Anlehnung an die Venues ihrer erstmaligen Präsentation in Brasilien, auf dem Tribal Gathering Festival in Luton sowie dem Lichthof im ZKM in Karlsruhe die Namen »Tango«, »Tribal Gathering« oder »Luton« und »Lichthof«. Aufnahmen finden sich im Internet unter: Kraftwerk: »Tribal Gathering« (hier als »Unreleased Track« betitelt), 1997, https://www.youtube.com/watch?v=gRAN0D_noUM (abgerufen am: 10.02.2021). Kraftwerk: »Tango«, 1997, https://www.youtube.com/watch?v=gDNhHBl-Jz8 (abgerufen am: 10.02.2021). Kraftwerk: »Lichthof«, 1997, https://www.youtube.com/watch?v=QRvY-kITGhE (abgerufen am: 10.02.2021). 1019 Hilpert, Fritz: Fritz Hilpert im Interview mit Cornel Hecht in: Kraftwerk in 3D (Teil 2), 25.04.2018, https://www.steinberg.net/de/community/storys/2018/kraftwerk_in_3d_teil_2.html (abgerufen am: 4.10.2020).

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5.4  Die Computerisierung der Studiotechnik in den 1990er Jahren

diese um einen Halbton nach oben transponiert und nicht mit der reinen Quinte, sondern der Flatted Fifth beginnt. Die Verwendung der Blues-Tonleiter bei beiden Stücken weckt durch das häufige Anspielen der Flatted Fifth beziehungsweise bei deren in »Tango« erfolgenden tonalen Umdeutung, in der die Quarte in einer der Basissequenzen als Tonika fungiert und die Flatted Fifth damit zur kleinen Sekunde beziehungsweise kleinen None wird, Erinnerungen an die Motive von »Trans Europa Express«, »Heimcomputer« und »It’s More Fun to Compute«. Lediglich eine zweite Melodielinie weicht davon ab und ähnelt den typischen pentatonischen, aus dem Ambitus des in der zweiten Umkehrung stehenden Mollsextakkordes bestehenden Synthesizer-Hookline Kraftwerks, auch wenn der Tonumfang nach oben zur Quarte erweitert wurde. Dennoch sind alle Motive unverkennbar aus den melodischen Vorlieben und Erfolgsformeln der Bandhistorie entnommen und bieten daher wenig Neues. Das dritte unveröffentlichte und nur bei einem Konzert live dargebotene Stück »Lichthof« vermittelt den unfertigsten Eindruck: Hier werden zwei Hauptthemen aneinandergereiht, die lediglich von etwas wahllos erfolgenden, improvisiert wirkenden Klang- und Melodiemalereien abgelöst werden. Dadurch, dass »Lichthof« nur 116 bpm schnell ist und die Percussion-Klänge durch ihr lateinamerikanisches Merengue-Pattern die monotone Four-to-the-Four-Bassdrum rhythmisch auflockern, stellt sich hier allerdings eine etwas filigranere Klangästhetik als bei den Techno-lastigen Stücken »Tango« und »Tribal Gathering« ein. Untermauert wird das durch das erste Hauptthema, welches aus synkopierten, vornehmlich aus Achtel- und 16tel-Noten bestehenden, kurzen Fragmenten synthetischer Sprache besteht, deren Vokalanteile durch Formantfilterung und Phasenmodulation permanent verändert werden, was dem Motiv einen interessanten und groovigen Charakter verleiht. Synthetische Sprachanteile sind auch im schlagzeuglosen Mittelteil und am Ende zu vernehmen, die sich dort aus langgezogenen Vokalen zusammensetzen. Insgesamt lässt das Stück keinen Zweifel daran aufkommen, dass die synthetische Sprache immer noch eine der Stärken Florian Schneiders darstellt. Obgleich »Lichthof« bei allem Kraftwerk-immanenten Minimalismus durch seine biedere Aneinanderreihung von Motiven eher den Status einer musikalischen Ideensammlung denn einer fertigen Komposition hat, sind die Themen im Vergleich zu »Tango« und »Tribal Gathering« aber umso interessanter. So lässt sich die ebenfalls wieder mit besagtem obertonreichen Flächenklang  – offenbar ein Lieblings-Sound Ralf Hütters – gespielte, eigentliche Hookline des Stückes dadurch, dass ihr die Basstöne folgen, harmonisch zweifach deuten. Nimmt man Ab als imaginären Grundton, würde sich die insgesamt viertaktige, auf dem a/b/a/ b’-Muster basierende Melodie aus dem Tonvorrat der mixolydischen Skala zusammensetzen, wobei die Septime den ersten Ton darstellt. Im Falle des Grundtons Eb

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5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

bestünde das Tonmaterial aus der dorischen Skala mit der kleinen Terz als Ausgangston. Sowohl durch das für den Anfang von Hooklines eher ungewöhnliche Arpeggieren eines verminderten Dreiklanges als auch durch den dreimal jeweils als motivischer Abschluss erfolgenden kleinen Terzsprung nach oben bleibt die Melodie in ihrer harmonischen Gestalt immer offen. Selbst das aus einem Quartfall bestehende Ende der Melodie suggeriert kein harmonisches Zentrum, obwohl sie insgesamt sehr eingängig wirkt. Allerdings ist die Vorliebe für arpeggierte, verminderte Dreiklänge in der Musik Kraftwerks – wie die Beispiele »Heimcomputer« oder »It’s More Fun to Compute« zeigen – nichts Neues, sie wird vor allem aber nochmal auf dem Album Tour de France Soundtracks zutage treten. Insgesamt bilden die in Rede stehenden Stücke eine Brücke zwischen der von der TR-909 geprägten und für die frühen 1990er Jahre typischen Klangästhetik von The Mix und dem schlagzeugtechnisch viel feineren, minimalistischeren und mischtechnisch mittenlastigeren Ansatz auf Tour der France Soundtracks. Angesichts der Tatsache, dass sie nie veröffentlicht wurden, schien ihre Funktion – wie schon bei einigen Stücken in den Konzerten gegen Mitte der 1970er Jahre – eher die eines klanglichen und kompositorischen Testlaufs zu sein, wobei nur ersteres offenbar als zukunftsträchtig befunden wurde: Trotz nach wie vor wuchtiger TR-909-Bassdrum finden sich hier sehr viele vielschichtige, sich permanent in ihrem Spektrum ändernde Stabsounds wieder, die in ähnlicher Form genau wie der Leadsound der Hooklines auch auf den Stücken von Tour de France Soundtracks zu hören sind, während die (mit Ausnahme von »Lichthof«) eher belanglosen Melodien allesamt verworfen wurden. Möglicherweise ist die Techno-Ästhetik von »Tango« und »Tribal Gathering« auch einmal mehr eine konzessionelle Annäherung an das modische Musikgeschehen in der EBM gewesen; dass die Stücke keine kompositorischen Vorläufer für eine neue musikalische Neujustierung in Richtung härterer, schnellerer und Techno-lastiger Stücke gewesen sind, beweist zumindest die 1999 veröffentlichte Single »Expo 2000«, die im nächsten Kapitel Gegenstand der Untersuchung sein soll.

5.5 »Expo 2000«

Gegen Ende der 1990er Jahre nahmen die in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Aktivitäten Kraftwerks wieder zu, auch wenn mit der Wiederveröffentlichung einer digital remasterten Version der Single »Tour de France« 1999 zunächst noch nichts auf neue Musik hindeutete. Kapital sollten Kraftwerk allerdings aus ihrer mittlerweile auch in Deutschland anerkannten musikhistorischen Bedeutung schlagen, was im Falle Florian Schneiders zu einer Professur für Medienkunst in

370

5.5  »Expo 2000«

den Jahren 1998–2000 an der HfG Karlsruhe führte.1020 Als monetär besonders einträglich erwies sich vor allem eine Auftragsarbeit für die Expo 2000, für die Kraftwerk 1999 eine Erkennungsmelodie produzieren sollte. Ralf Hütter sah dies allerdings keinesfalls als kommerziellen Ausverkauf an, sondern wähnte diese Arbeit in der Tradition des völkerverbindenden kulturellen und musikalischen Austausches der Weltausstellung in Paris im Jahre 1889: »We were in the middle of working on an album, and weren’t able to play a on-off concert to open EXPO. While I was talking to the artistic director, he asked Kraftwerk to produce an electronic sound for EXPO, for computers, phones and all electronic communications. I think he had something like the Windows opening signature in mind. The history of EXPO I knew from Paris, which was the beginning, when European composers such as Debussy and the like were confrontated with ethnic music from Bali, Africa and elsewhere for the first time. It was cultural as well technological. So the whole idea in the spirit of the musical world and history came to our mind. Let’s work with languages and computer languages, Russian, Japanese, Latin, German, and just make it an idea: (imitates electronic voice) ›EXPO 2000‹. But then we liked it and didn’t want to just do four seconds, so we made a whole composition.«1021

In diesem Zuge wurden sechs in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch und Japanisch erfolgende Vokal-Jingles angefertigt, die es auf eine Gesamtspielzeit von 30 Sekunden brachten. Angesichts des kolpotierten Honorars von DM 400.000 führte dies zu hämischen Kommentaren seitens der Presse. So urteilte Der Spiegel: »Der Kulturchef der Expo schätzte den Kultwert der Elektronik-Pioniere Kraftwerk falsch ein und hat nun 400.000 Mark für eine Erkennungsmelodie der Weltausstellung gezahlt, die kein Radiosender spielen möchte.«1022 Auch der Sprecher des Deutschen Rock- und Popmusikverbandes Ole Seelenmeyer nannte »den Preis mörderisch und eine Lachnummer. Es gebe keinen anderen Job für Musiker in Deutschland, um so schnell und einfach soviel Geld zu verdienen.«1023 1020 HfG Karlsruhe: Die HfG trauert um Florian Schneider, 07.05.2020, https://www.hfg-karlsruhe.de/

aktuelles/die-hfg-trauert-um-florian-schneider/ (abgerufen am: 13.12.2020). Claudia SchneiderEsleben gab in einem Interview an, dass Florian Schneider ab Ende der 1990er Jahre »digitale Komposition« unterrichtet habe. Schneider-Esleben 2020, S. 63. 1021 Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit dem Mojo Magazine, 2005, https://web.archive.org/ web/20070328222333/http://kraftwerk.technopop.com.br/interview_115.php (abgerufen am: 02.02.2021). 1022 Der Spiegel: Der 400.000-Mark-Jingle, 07.07.1999, https://www.spiegel.de/kultur/musik/expo-der400-000-mark-jingle-a-30536.html (abgerufen am: 01.02.2021). 1023 Zit. n. Ole Seelenmeyer in: Fertmann, Ludger: Expo-Spot wird verspottet, in: Die Welt, 06.07.1999, https://www.welt.de/print-welt/article576187/Expo-Spot-wird-verspottet.html (abgerufen am: 30.01.2021).

371

5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

Musikalisch betrachtet setzten sich die sechs Jingles mit wenigen Ausnahmen aus einem Sprung um eine kleine Terz nach unten sowie einem sich anschließenden, aus einer großen Sekunde bestehenden Wechselnotenmotiv zusammen. In Abhängigkeit der Anzahl der Silben der jeweiligen Sprachen wird die letzte Note dabei wiederholt. Auch wenn das Ergebnis aus melodischer Sicht für den Hörer eintönig ausfallen mag, ergibt sich durch die Aneinanderreihung der Jingles eine erstaunlich harmonische Komplexität: Obwohl man Db-Dur als harmonisches Zentrum ausmachen kann, bilden mit Ausnahme des dritten, nach eb-Moll gerückten Jingles und des fünften Jingles, der aus einer nach Db-Dur führenden IIm-V-I-Kadenz besteht, alle Melodietöne die Quinte eines mit der Sekunde angereicherten Dur-Akkordes, dessen Rückung dem Melodieverlauf folgt. Da diese harmonische Mehrschichtigkeit das Trägersignal des zum Einsatz kommenden Vocoders bildet, entsteht in der vocoderisierten Sprache ein extrem komplexes Klangspektrum, das einmal mehr Florian Schneiders Fähigkeiten bezüglich der synthetischen Sprache unter Beweis stellt und das bis heute bestehende Alleinstellungsmerkmal Kraftwerks in Bezug auf den Vocoder in der Musikwelt deutlich macht. Obgleich vocoderisierte Sprache durch Gruppen wie Air oder Daft Punk zum damaligen Zeitpunkt wieder in Mode kam und man Kraftwerk nicht mehr zur Speerspitze der elektronischen Musik zählen mochte – der Klangreichtum der Jingles, die hohe Sprachverständlichkeit und die vielen modulierten, einzeln wahrnehmbaren Frequenzbänder zeigten, dass Kraftwerk auf diesem Gebiet nach wie vor konkurrenzlos waren. Dennoch blieb die öffentliche Missstimmung groß, so dass sich etwa der Norddeutsche Rundfunk weigerte, den Jingle zu verwenden.1024 Der in die Kritik geratene Expo-2000-Kulturleiter Tom Stromberg verteidigte dennoch die Beauftragung und hohe Vergütung Kraftwerks, da man mit der Summe auch alle weltweiten Rechte an der Musik erworben hätte und kündigte eine längere und »melodischere« Langfassung an.1025 Diese Fassung wurde zusammen mit drei Remix-Versionen schließlich in Form der Single »Expo 2000« im Dezember 1999 veröffentlicht, wobei neben Ralf Hütter und Florian Schneider erstmals auch Fritz Hilpert als Komponist kreditiert ist. Musikalisch basiert sie auf dem Material der Vocoder-Jingles, wobei die von dort weitgehend übernommene Melodie immer wieder neben dem Vocoder alternierend durch einen komplexen perkussiven, an einen Orchestra-Hit erin-

1024 Der Spiegel: Der 400.000-Mark-Jingle, 07.07.1999, https://www.spiegel.de/kultur/musik/expo-der-

400-000-mark-jingle-a-30536.html (abgerufen am: 01.02.2021).

1025 Ebd.

372

5.5  »Expo 2000«

Bsp. 35: Kraftwerk: »Expo 2000«, Hookline

nernden Sample-Klang gespielt wird, der tonal wie auch bei den Jingles aus einem auf der Quinte stehenden, mit einer Sekunde angereicherten Dur-Akkord besteht. Dass es sich dabei um ein monophon gespieltes Sample und nicht um einen mehrstimmigen, auf der Tastatur gespielten Akkord handelt, ist daran zu erkennen, dass sich durch das Spielen der Melodielinie auch die Formanten des Klanges ändern und die einzelnen Akkordtöne niemals harmonisch angepasst werden. Vermutlich ist dieses Sample auch der musikalische Ausgangspunkt der Jingles gewesen, aus dessen spielerischer Verwendung in Verbindung mit einer Melodielinie – ähnlich wie bei dem zu einem Dreiklang gestimmten Akkord des Minimoog bei »Autobahn« oder den harmonischen Rückungen durch die DurSequenz bei »Europa Endlos«  – die Harmonien vorgegeben werden. Da das melodische Material den Vorlieben Kraftwerks entsprechend aus dem viel zitierten, auf der Quinte stehenden Mollseptakkord besteht, kann der harmonische Überbau durch die Rückungen von Dur-Akkorden innerhalb der Pentatonik  – ohne extreme Dissonanzen entstehen zu lassen – diesen entweder nur folgen oder lediglich aus wenigen ostinaten Tönen bestehen. Dieser Problematik begegnend findet sich bei »Expo 2000« folgerichtig ein der Melodielinie folgendes 16tel-Pattern als akkordische Begleitung, bei dem durch die mit hohen Resonanzwerten erfolgende kontinuierliche Filterung eine ständig wechselnde Betonung verschiedener Obertöne entsteht. Verstärkt wird der diffuse Klangcharakter durch gefilterte Hallanteile und Echoeffekte, wodurch in Verbindung mit dem Grundsound unabhängig voneinander mehrere Filterfrequenzbewegungen entstehen. Mit Beginn des Vocoder-Themas rückt das 16tel-Ostinato dann auf den Ton Db. Hier erscheint dann auch das zweite, mit einem Puls-ähnlichen, flächigen Klang gespielte Thema des Stückes, welches durch das Nicht-Anspielen einer Terz die offene harmonische Struktur unterstützt. Vergleicht man das melodische Material des Stückes mit den im letzten Kapitel diskutierten drei unveröffentlichten, während der Konzerte 1997 und 1998 gespielten Kompositionen, lässt sich

373

5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

hier eine Brücke zum eher filigranen Stück »Lichthof« schlagen. Dass die harte Techno-Ästhetik von »Tribal Gathering« und »Tango« nicht weiterverfolgt wurde, wird auch am klanglichen Grundcharakter und dem Drumpattern deutlich. So verwenden Kraftwerk einen mit 91  bpm eher langsamen Electro-Beat, dessen Klänge neben den »Zap«-Sounds dünn und minimalistisch wirken und an eine TR-808 erinnern. Durch die Verbindung des Patterns mit den Vocoder-Vocals entsteht erstaunlicherweise eine große Nähe zu den für MTV angefertigten »Music Non Stop«-Jingles, die möglicherweise als Vorbild gedient haben könnten. Sowohl die Electro-Ästhetik als auch die Verwendung zahlreicher synthetisch generierter Stimmen, mit denen in verschiedenen Sprachen die Schlagworte des Expo-Programms wie »Planet der Versionen« oder »Mensch, Natur, Technik« realisiert wurden, verleihen dem Stück ferner den Eindruck, dass Kraftwerk wieder zu ihren Kernkompetenzen zurückgekehrt sind. Der Remix »Expo 2000 (Kling Klang Remix 2000)« basiert weitestgehend auf dem Radio-Edit. Hier werden lediglich die Sprachpassagen ausgebaut, indem etwa zusätzliche Vocoderpassagen der Jingles hinzugenommen werden, wodurch die Harmonik durch die eingangs des Kapitels beschriebene Rückung nach EbMoll sowie durch die Schlusskadenz nach Db-Dur angereichert wird. Der Remix »Expo 2000 (Kling Klang Remix 2001)« unterscheidet sich von dieser Version nur dadurch, dass das Schlagzeug weggelassen wurde. Beim Remix »Expo 2000 (Kling Klang Remix 2002)« hingegen wurde auf die Akkordrückung des Eingangsthemas verzichtet. Die Melodie erfolgt allerdings in einer Vierklangsbrechung durch den Vocoder über dem zweiten, nun nach f-Moll transponierten Thema, welches die Hookline des Stückes bildet. Durch die Erhöhung des Tempos auf 130 bpm ist das Stück eher an den Dancefloor adressiert, ohne aber durch die Verwendung von TR-909-Klängen oder einem Four-to-theFloor-Beat auf plakative Weise Techno- oder House-Elemente zu adaptieren. Der mit The Mix eingeschlagene und noch bis in die Konzerte des Jahres 1998 verfolgte Weg in Richtung eines technoiden Klangansatzes schien damit vorerst beendet zu sein. Generell ist Kraftwerk in Bezug auf das Klangdesign mit »Expo 2000« ein entscheidender Sprung in die Gegenwart gelungen, was in großem Maße sicherlich der finalisierten Digitalisierung respektive Computerisierung des Kling Klang Studios geschuldet ist, da mit (höchst wahrscheinlich) Cubase VST1026 eine native

1026 Auch wenn wie erwähnt im Booklet nur die Firma Steinberg kreditiert wurde, kann man davon

ausgehen, dass es sich angesichts der Technikfokussierung Kraftwerks bei der verwendeten Software um Cubase VST handelte. Ferner erwähnte Fritz Hilpert die Verwendung von Cubase während der Aufnahmen zum 2003 veröffentlichten Album Tour de France Soundtracks. Hecht, Cornel:

374

5.5  »Expo 2000«

DAW als Produktionsplattform verwendet wurde. So besticht das Stück durch ein kontinuierliches Klangmorphing, welches durch Reverse-, Echo und Halleffekte sowie auch die filigranen Perkussionsklänge viele Merkmale der IDM enthält. Auch der Mix präsentiert sich aufgeräumt und trotz der minimalistischen Klangarchitektur erstaunlich druckvoll. Insgesamt fungiert »Expo 2000« nicht nur als überzeugende Transformation des Kraftwerk-Sounds in das 21. Jahrhundert, sondern auch als klangästhetischer Nährboden für das 2003 veröffentlichte Album Tour de France Soundtracks. Es änderte sich in dieser Zeit aber offensichtlich auch die Politik hinsichtlich der künstlerischen Eigenständigkeit Kraftwerks. So hatten sie nicht nur ihre Vorbehalte hinsichtlich kommerzieller Auftragsarbeiten abgelegt, sie waren auch gegenüber Kollaborationen mit anderen Künstlern offener eingestellt. So beauftragten sie mit François Kevorkian, Rob Rives, dem englischen Techno-Duo Orbital und dem Detroiter Techno-Kollektiv Underground Resistance namhafte Künstler aus dem EBM-Bereich damit, zusätzliche Remixes von »Expo 2000« anzufertigen, die im Jahre 2000 unter dem Titel Expo Remix als EP veröffentlicht wurden. Obgleich diese Remix-Praktik schon in der Zeit von Electric Café begonnen wurde, handelte es sich diesmal um eine musikalische Interaktion, welche die Verbindung und dementsprechend auch den Einfluss Kraftwerks auf den Techno, aber auch die gegenseitige Respektsbezeugung der verschiedenen Generationen von Electro-Musikern unterstreichen sollte. So äußerte sich Ralf Hütter über die Verbindung von Düsseldorf und Detroit: »Wir kennen die kreativen Köpfe Detroits wie Derrick May, Mike Banks und Kevin Saunderson. Und das ist unserem Verständnis nach eine wirkliche Inspiration, wechselweitig (sic), die in dieser Sprache ihren Sound findet. Die Dynamik, die da wie hier drin ist. Dieser Elektrofunk oder wie immer man das nennen will, das ist schon eine Geistesverwandschaft.«1027

Musikalischen Ausdruck verlieh dieser Aussage der Umstand, dass mit Beginn der Wiederaufnahme von Konzerten im Jahre 2002 live mit »Planet of Visions« beziehungsweise »Planet der Visionen« ein Stück dargeboten wurde, das die Elemente der Underground Resistence-Remixes1028 wie der Vocoderpassage mit den Wor-

Kraftwerk in 3D (Teil 2), in: Steinberg, 25.04.2015, https://www.steinberg.net/de/community/sto rys/2018/kraftwerk_in_3d_teil_2.html (abgerufen am: 02.02.2021). 1027 Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Hauke Schlichting, in: Electro Empire, 09.02.2005, http:// www.electroempire.com/index.php?thread/1755-ralf-hütter-kraftwerk-interview-2005/ (abgerufen am: 02.02.2021). 1028 Dazu zählt auch die Version »Expo 2000 DJ Rolando Mix«, da dieser zum damaligen Zeitpunkt Mitglied von Underground Resistance war.

375

5  Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug

ten »Detroit. We’re so electro. Germany. We’re so electro.« und zwei SynthesizerSequenzen enthielt  – musikalisches Material folglich, das nicht aus der Feder Kraftwerks stammte. In gewisser Weise lässt sich anhand dieser generationsübergreifenden Kollaboration bereits erahnen, dass im 21. Jahrhundert für Kraftwerk der mit The Mix eingeschlagene Kurs der mit der Überarbeitung und Kanonisierung des Œuvres einhergehenden pophistorischen Selbstpositionierung und -stilisierung eine zunehmend wichtigere Rolle spielen sollte, als das Erschaffen neuer Musik, was Dirk Matejovski als ein äußerst intelligentes Vorgehen erachtete, da sich daran zeige, »wie virtuos Kraftwerk damit eine Rezeption, die tendenziell die Wirkungskraft ihres Werkes hätte abschwächen können, durch Verknappung steuerten und dass es ihnen gelungen ist, die Neutralisierung der eigenen Geltung auf ebenso elegante wie wirkmächtige Weise selbst zu neutralisieren.«1029

1029 Matejovski 2016, S. 29.

376

6 Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk Mit der Veröffentlichung von »Expo 2000« und Expo Remix kehrten Kraftwerk nicht nur in das Licht der Öffentlichkeit zurück, sie nahmen ab dem Jahre 2002 auch ihre seit vier Jahren ruhende Konzerttätigkeit wieder auf, was sich bis zur Covid-19-Pandemie 2020 in über 450 Auftritten äußerte.1030 Hiermit ging ein komplettes Re-Design des Bühnenaufbaus einher, in dem auf jene Hardware des Kling Klang Studios, die sich bis dato in den rückwärtigen Konsolen hinter den Spieltischen der einzelnen Musiker befand, verzichtet wurde, um fortan vollständig auf virtuelle Klangerzeugung durch Plug-ins von Steinberg, Native Instruments und TC Works zu setzen.1031 Als Basis dafür diente die zum damaligen Zeitpunkt gerade neu auf dem Markt erschienene DAW Cubase SX von Steinberg, die auf vier synchronisierten, jeweils in den Spieltischen integrierten Sony Vario Laptops lief, deren Signale mittels RME-Multifaces in einem Yamaha 02R 96 Digitalmischpult zusammengefasst wurden.1032 Die Editierung des Pultes folgte über einen weiteren Sony Vario Laptop, welcher gleichfalls zur Einmessung des d&b Line Array Systems verwendet wurde.1033 Wie anhand von Konzertvideos zu erkennen ist, sind alle Spieltische mit Midi-Keyboard-Tastaturen ausgestattet, wobei Fritz Hilpert und Henning Schmitz lediglich das zweioktavige Oxygen 8 von M-Audio verwenden.1034 Neben externen MIDI-Controllern wurde auch das visuelle Konzept überarbeitet, in dem anstatt der vier Sony-Monitore nun drei große, zusammengefasste LED-Screens hinter den Spieltischen platziert wurden, die zur Musik synchronisiertes Bildmaterial zeigten und die Kraftwerk-Konzerte ab dieser Zeit zu einer eindrucksvollen Multimedia-Show machten. Über die Beweggründe, wieder live aufzutreten, lässt sich nur spekulieren, war es doch vor allem Florian Schneider, der angesichts des Tour-Stresses den Sinn und Zweck von Konzerten bereits während der Computerwelt-Tour infrage

1030 Kraftwerk: Concerts, http://www.kraftwerk.com/concerts/index-concerts.html (abgerufen am:

24.02.2021).

1031 Sony Information Technology News: Die Gruppe »Kraftwerk«: Musik aus dem Mikrochip, 2003,

http://kraftwerk.hu/honlap/eszkozok/sonyvaio.pdf (abgerufen am: 24.02.2021).

1032 RME: Kraftwerk, https://archiv.rme-audio.de/en/artists/kraftwerk.php (abgerufen am: 24.02.2021).

Sony Information Technology News: Die Gruppe »Kraftwerk«: Musik aus dem Mikrochip, 2003, http://kraftwerk.hu/honlap/eszkozok/sonyvaio.pdf (abgerufen am: 24.02.2021). 1033 Ebd. 1034 Kraftwerk: Kraftwerk  – The Robots  – Live 2004, https://www.youtube.com/watch?v=lhAk9Ax qvU8 (abgerufen am: 24.02.2021).

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

stellte.1035 Natürlich hatte man während der Computerwelt-Tour noch mit Hardware-seitigen Stabilitätsproblemen zu kämpfen, sei es nun durch Temperaturunterschiede zwischen Soundcheck und Auftritt oder durch unterschiedliche Netzspannungen, die die Stimmungen der Analog-Synthesizer schwanken ließen oder zu Synchronisationsschwierigkeiten im Synthanorma-System führten.1036 Durch die Digitalisierung des Kling Klang Studios in Form des Synclaviers und der Verwendung von Digitalsequenzern konnten aber seit der The Mix-Tour technische Unwägbarkeiten minimiert werden, so dass die früher sicherlich berechtigte Sorge um technische Probleme schon in den 1990er Jahren kein Hinderungsgrund für Konzerte mehr gewesen sein dürfte. Die Verwendung einer computergestützten DAW und die damit einhergehende weitere Reduktion von Hardware führte ab 2002 allerdings nicht zwangsläufig zu mehr Stabilität, wie einige im Internet zu findende Zusammenschnitte von technischen Fehlern bei Kraftwerk-Konzerten dokumentieren,1037 obgleich davon auszugehen ist, dass eine technisch derart fokussierte Gruppe wie Kraftwerk ihr System redundant abgesichert haben dürfte, so dass sich derartige Probleme sicher im Rahmen eines bei der Durchführung von Live-Konzerten nicht zu verhindernden technischen Restrisikos bewegen dürften. Nicht unwesentlich für die Wiederaufnahme von Konzerten – vor allem in diesem Umfang – dürfte allerdings die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre durch die Verbreitung von CD-Brennern und im Internet agierende Peer-to-PeerMusiktauschbörsen wie Napster ausgelöste Krise der Musikindustrie sein, welche zu extremen Umsatzeinbrüchen führte – immerhin so dramatisch, dass sich der BVMI als Reaktion darauf gezwungen sah, ab dem Jahre 1999 die Verleihungsgrenzen für Gold- und Platinauszeichnungen mehrfach nach unten zu setzen.1038 Galten bis dahin für viele Gruppen Konzertaktivitäten  – manchmal aufgrund

1035 Vgl. Kap. 4.7.3. 1036 Flür 1999, S. 240. Bartos 2017, S. 383. Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Olaf Zimmermann für

DT 64, 1991, https://www.youtube.com/watch?v=Qs2l2LMGXms (abgerufen am: 10.01.2021).

1037 Kraftwerk: A compilation of Kraftwerk fuckups, https://www.youtube.com/watch?v=TnrOl4aLJBk

(abgerufen am: 28.02.2021).

1038 Musste man für die Verleihung einer Goldenen Schallplatte bis zum 24.09.1999 noch 250.000 (Pla-

tin 500.000) Alben abgesetzt haben, lag die Grenze danach bis zum 31.12.2002 bei 150.000 (Platin 300.000 Einheiten). Ab dem 01.01.2003 mussten nur noch 100.000 (Platin 200.000) Einheiten verkauft werden. Ähnliches erfolgte bei den Single-Verkäufen: So mussten für eine Goldenen Schallplatte ab dem 01.01.2003 statt 250.000 (Platin 500.000) nur noch 150.000 (Platin 300.000) Einheiten verkauft werden. Ab dem 01.06.2014 wurden diese Zahlen für Single-Verkäufe allerdings wieder auf 200.000 (Platin 400.000) angehoben. BVMI: RICHTLINIEN FÜR DIE VERLEIHUNG VON GOLD / PLATIN AUSZEICHNUNGEN, 01.06.2016, https://www.musikindustrie.de/fileadmin/bvmi/upload/02_Markt-Bestseller/ Gold_Platin/Richtlinien_Anmeldungen/Richtlinien_BVMI_Gold_Platin_2_4_Final.pdf (abgerufen am: 18.02.2021).

378

6.1  Tour de France Soundtracks

mangelnder instrumentaler Fähigkeiten nur auf Playback-Auftritte beschränkt – als lästige Promotion-Aktionen für eine Neuveröffentlichung, reifte in dieser Zeit innerhalb der Musikbranche die Erkenntnis, dass nicht mehr der Verkauf von physischen Tonträgern als Haupteinnahmequelle diente, sondern das Live-Entertainment, so dass viele Aktivitäten in diesen Sektor verlegt wurden.1039 Auch angesichts der cleveren Geschäftstätigkeit Kraftwerks ist es vor dem Hintergrund des Wandels innerhalb der Musikindustrie durchaus wahrscheinlich, dass monetäre Gründe eine nicht zu unterschätzende Rolle für Ralf Hütter und Florian Schneider spielten, wieder live aufzutreten – eine Erklärungsmöglichkeit, die vor allem Karl Bartos als Ursache für die bis heute rege Konzerttätigkeit Kraftwerks sieht: »Das was heute stattfindet, das war grundsätzlich das, wogegen wir oder meine beiden Kollegen waren: Sie wollten nie live spielen. Wir haben die 80er-Jahre fast nur im Studio verbracht. Überhaupt nur am Anfang diese legendäre 80-StädteTournee gemacht. Und danach war das Live-Spielen eigentlich gar nicht mehr angesagt. Weil durch die Tonträger natürlich auch der Umsatz erzielt wurde. Heutzutage spielt Kraftwerk live, weil nur noch dort Geld zu verdienen ist.«1040

Was auch immer die Beweggründe dafür waren – diese Entscheidung fiel in eine Zeit, in der Kraftwerk sich generell wieder verstärkt musikalischer Aktivitäten widmeten, nicht nur im performativen Bereich, sondern vor allem im Bezug auf Studioarbeit – mit dem Ergebnis, dass im August 2003 nach 17 Jahren mit Tour de France Soundtracks wieder ein Album mit neuer Musik veröffentlicht wurde, was bis dato auch das letzte sein sollte und im folgenden Kapitel Gegenstand der Untersuchung ist.

6.1  Tour de France Soundtracks

6.1.1 Konzept Mit Tour de France Soundtracks widmeten sich Kraftwerk wieder einer Thematik, die  – wie in dieser Arbeit mehrfach anhand Aussagen von Wolfgang Flür und Karl Bartos dargelegt – vor allem Ralf Hütters Privatleben seit Beginn der 1980er Jahre offenbar maßgeblich geprägt hat. Dementsprechend thematisiert das Album inhaltlich verschiedene Facetten der Tour de France oder des Radsports allge1039 Overbeck 2006, S. 111 f. 1040 Bartos, Karl: Karl Bartos im Interview mit Martin Böttcher in: Kraftwerk ist der Schatten, der mir

hinterher läuft, in: Deutschlandfunk Kultur, 28.08.2017, https://www.deutschlandfunkkultur.de/ musiker-karl-bartos-ueber-seine-biografie-kraftwerk-ist-der.2177.de.html?dram:article_id= 394503 (abgerufen am: 03.02.2021).

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

mein wie beispielsweise verschiedene Etappen und Abschnitte des Rennens, technologische Aspekte hinsichtlich des Rennradbaus oder den menschlichen Körper der Radrennfahrer betreffende Faktoren wie Leistungsdiagnostik oder Ernährung. Ob die Faszination für den Radsport immer noch so dominant war oder es angesichts des fluktuierenden und sich permanent beschleunigenden technischen und gesellschaftlichen Wandels nicht gelang, ein visionäres Konzept wie bei Die Mensch-Maschine oder Computerwelt zum Thema des Albums zu machen, das nicht sofort in Gefahr geriet, von der Tagesaktualität überholt zu werden, kann man nicht belegen. Der Literaturwissenschaftler und Autor Enno Stahl führt in einem Essay über Tour de France Soundtracks zumindest einige Stimmen an, die dem Album nicht nur in dieser Hinsicht eine gewisse Ideenlosigkeit vorwerfen.1041 Ralf Hütter sah die Entstehung des Konzeptes zum Album folgendermaßen begründet: »Die Idee für das Album hatten wir vor 20 Jahren. Damals haben wir ein Skript als Film durchgeschrieben. Aber erst als wir letztes Jahr [2002] in Paris Konzerte gaben und unsere Roboter dort im Museum ausgestellt wurden, klickte es bei uns, und wir haben die Pläne zu Ende geführt.«1042

Diese Aussage ist wieder mit Vorsicht zu betrachten, da Ralf Hütter in einem Interview angegeben hatte, dass Kraftwerk sich 1999, als die Anfrage kam, dass Eröffnungskonzert der Expo zu bestreiten, mitten im Produktionsprozess eines neuen Albums befunden hätten,1043 welches in Ermangelung weiterer Veröffentlichungen in dieser Zeit unweigerlich Tour de France Soundtracks gewesen sein müsste. Es ist hinsichtlich der langen Produktionszeiträume Kraftwerks unwahrscheinlich, dass mit der Arbeit an diesem Album erst 2002 begonnen wurde oder dass angesichts der konsequenten Fokussierung auf die Radsportthematik diese erst im letzten Jahr der Produktion auf das Album übergestülpt wurde. Wann auch immer mit der Arbeit an Tour de France Soundtracks begonnen wurde, es handelt sich bei diesem Album um ein unmittelbares musikalisches Abbild der sich in der damaligen Zeit rapide verändernden Produktionsmittel, vor allem im Hinblick auf die Nutzung virtueller Klangsynthese – ein mit »Expo 2000« eingeschlagener Weg, der auf dem Album weiterverfolgt wird. Allerdings spielte, obgleich auf der Bühne konsequent auf die DAW Cubase SX gesetzt wurde, in der Pro-

1041 Stahl 2018, S. 179 ff. 1042 Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Christoph Dallach, in: »Die Maschinen spielen uns«, in:

Der Spiegel, 14.07.2003, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-27636663.html, (abgerufen am: 03.02.2021). 1043 Vgl. Kap. 5.5.

380

6.1  Tour de France Soundtracks

duktion zu Tour de France Soundtracks, das Synclavier immer noch eine Rolle, wie Fritz Hilpert angab: »Sehr viele Tracks wurden zunächst von Ralf in den Synclavier Sequenzer eingespielt und dann über Midi in das Cubase Arrangement übertragen. Mit wachsender Leistungsfähigkeit der Computer wurde die digitale Soundverarbeitung natürlich immer mächtiger und das Sampling ist darin aufgegangen. Aber man kann nicht sagen, dass das, was das Sampling ausmachte, im Sounddesign jetzt verschwunden wäre.«1044

Allerdings nahm die Implementierung von virtueller Klangsynthese und -steuerung nach Angaben Hilperts aber eine zentrale Rolle innerhalb der Produktionsästhetik ein: »We’ve been trying a lot of new things and the virtual technologies were key to that. […] We all have an ›old-school‹ studio background where lots of cables and complex connections are required before anything goes. Working with virtual setups has changed all that.«1045

Inwiefern diese neuen Technologien nun in musikalischer Form Ausdruck fanden, soll im nächsten Kapitel erläutert werden. 6.1.2 Musikalische Analyse Der mannigfaltigen Möglichkeiten der computergestützten Klangerzeugung entsprechend fällt die Textur von Tour de France Soundtracks sehr komplex aus, weshalb eine musikalische Analyse angesichts des Sound-spezifischen Detailreichtums hier an ihre Grenzen gerät: Zum einen würde durch die Fülle der zu beschreibenden Klangereignisse eine allumfassende Analyse den Rahmen dieses Kapitels sicherlich sprengen, zum anderen begegnet man hier einer spektralen Multidimensionalität, die durch Sprache nur unzureichend zu vermitteln ist. Daher sollen an dieser Stelle nur die essenziellsten kompositorischen Elemente, Klänge und Effekte diskutiert werden. Produktionstechnisch betrachtet kann aber repräsentativ für dieses Album konstatiert werden, dass die schon »Expo 2000« zugrunde liegende Affinität zum Genre der IDM hier konsequent fortgeführt wurde, welche sich neben dem Klangfarben-Morphing in der häufigen Ver-

1044 Hilpert, Fritz: Fritz Hilpert im Interview mit Cornel Hecht, in: Kraftwerk in 3D (Teil 2), 25.04.2018,

https://www.steinberg.net/de/community/storys/2018/kraftwerk_in_3d_teil_2.html (abgerufen am: 04.10.2020). 1045 TC-Helicon: Artists, http://www.tc-helicon.com/artist_select.asp?AjrDcmntId=9530 (abgerufen am: 02.06.2009).

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

wendung von punktuell eingesetzten Delays und Hallräumen widerspiegelt  – Letztere wurden nach Aussage von Fritz Hilpert häufig durch die Plug-ins MegaVerb und ClassicVerb der Firma TC sowie einem Reverb der Firma Quantec generiert.1046 Musikalische Motive der gegen Ende der 1990er Jahre im Live-Set integrierten Stücke »Tribal Gathering«, »Tango« und »Lichthof« finden sich aber nicht – allenfalls ließen sich durch die in einigen Stücken verwendeten Tritoni etwaige Verbindungen konstruieren; da diese aber auch auf anderen Alben wie Trans Europa Express oder Computerwelt zu finden sind, scheint es sich aber eher um ein allgemein bevorzugtes melodisches Element zu handeln. Als Komponisten treten wie schon auf »Expo 2000« Ralf Hütter und mit wenigen Ausnahmen Fritz Hilpert sowie Florian Schneider in Erscheinung. Maxime Schmitt fungiert wie schon auf der 1983 veröffentlichten Single »Tour de France«, die hier als letztes Stück in einer überarbeiteten Version neu aufgenommen wurde, bei fast allen Stücken als Co-Texter. Der programmatische Einsatz von Effekten zeigt sich bereits in den ersten fünf Stücken (»Prologue«, »Tour de France Étape 1–3« und »Chrono«), die thematisch miteinander verbunden sind. Als Fundament fungiert hierbei ein in mehreren Variationen erscheinendes akkordisches Pattern, das auf einem mit Hall und Delay bearbeiteten sowie stark durch einen hoch resonierenden Filter modulierten perkussiven pulswellenähnlichen Klang basiert. Harmonisch auf der Tonart f-Moll fußend erfolgt es in einem Wechsel aus in der Grundstellung stehenden f-Moll- respektive c-Moll-Akkorden. Bereits die mit »Prologue« betitelte Einleitung, welche metrisch frei aus den besagten, mit Flächenklängen gespielten Akkorden besteht, ist klanglich so komplex, dass als Analyse eine grafische Darstellung des Klangspektrums die sinnvollste Lösung repräsentiert. Hier ist anhand der Energiedichte am Anfang der jeweiligen Akkorde der perkussive Anteil der verwendeten Flächenklänge gut zu sehen. Gleichfalls lässt sich durch die zeitlich diffuse Verteilung der Energie der einzelnen Frequenzen der große Hallanteil genauso erkennen wie die am Ende der Effektkette geschaltete hoch resonierende Bandpassfilterung, die die unterschiedlichen Frequenzen der verhallten Klänge eingrenzt. Die Darstellung von Musik in Form von Klangspektren ist angesichts der hohen Informationsdichte allerdings nur auf singuläre Klangphänomene anwendbar, weswegen sie zwar ob der geringen Anzahl an musikalischen Ereignissen bei der Einleitung von Tour de France Soundtracks sinnvoll erscheint, auf die anderen Stücke des Albums aber nicht übertragbar ist. 1046 Hilpert, Fritz: Synthopia: On Tour de France, Kraftwerk Showcases Move to Virtual Studios, 26.07.2004,

https://www.synthtopia.com/content/2004/07/26/on-tour-de-france-kraftwerk-showcasesmove-to-virtual-studios/ (abgerufen am: 28.02.2021).

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6.1  Tour de France Soundtracks

Bsp. 36: Kraftwerk: »Prologue«, Spektrogramm

Bei den sich an »Prologue« anschließenden Stücken wechselt sich diese Akkordfolge mit einem aus den in der Grundstellung stehenden Akkorden f-dim, f-Moll und f-Moll9 bestehenden perkussiven, Stabsound-ähnlichen Pattern ab, welches ebenfalls permanent in seiner Filterfrequenz moduliert wird. Durch das diffuse, echolastige Klangbild und die hohen Resonanzwerte scheint es sich bei den Optionstönen des f-Moll9-Akkord allerdings eher um verstärkte Obertöne der Grundstellung zu halten als dezidiert gespielte Töne und / oder um einen zusätzlich gespielten, mit einer ähnlichen Klangfarbe versehenen Akkord, weswegen man in der Transkription auch hier nur von einer Annäherung ausgehen kann. Zusätzlich erscheint immer wieder ein auf einem f-Moll9-Akkord basierendes melodisches Motiv, dessen Tonmaterial Ähnlichkeiten mit der zweiten Hauptmelodie von »Expo 2000« aufweist. Die hier zum Einsatz kommende, durch verschiedene übereinandergeschichtete Sinusoszillatoren generierte kristalline Klangfarbe der Hookline findet nicht nur in weiteren Stücken des Albums Verwendung, sondern kommt als klangliches Stilmittel auch vermehrt auf dem 2005 veröffentlichten Live-Album Minimum-Maximum zum Tragen. Ferner war sie in abgewandelter Form schon auf den bereits mehrfach diskutierten unveröffentlichten, aber live dargebotenen Stücken »Tribal Gathering«, »Tango« und »Lichthof« zu hören und stellt wie

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Bsp. 37: Kraftwerk: »Tour de France Étape 1–3« (Auszug)

erwähnt offensichtlich einen der Lieblingsklänge Ralf Hütters dar. Zur Programmierung dieses Klanges äußerte sich Fritz Hilpert wie folgt: »[…] man kann […] mit Software-Samplern interessante Stellen eines Tracks isolieren und mit anderen Layern ein Patch erstellen, um so ein völlig neues spielbares Instrument zu bauen, welches genau der Klangwelt der aktuellen Produktion entspricht. So ein echtes Unikat ist z. B. der Lead Sound von Tour de France 03.«

Betrachtet man das Drumpattern der 140 bpm schnellen Stücke, fällt auf, dass trotz einer mit Ausnahme weniger Breaks auf den Viertelnoten erfolgenden Bassdrum keinesfalls eine technoide Färbung wie noch auf The Mix erzeugt wird. Vielmehr erhält es durch die Verwendung eines mittenfrequenzlastigen, dezent

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6.1  Tour de France Soundtracks

klingenden Bassdrum-Samples in Verbindung mit der Offbeat-lastigen Hi-HatFigur1047 eine sehr filigrane Komponente. Generell sind alle Percussionsounds äußerst variantenreich, dazu aufwendig ausgearbeitet und fernab jeglicher PresetÄsthetik der im Techno standardisierten Klänge der Roland TR-Serie. Auch im Hinblick auf die Kraftwerk-Domäne der synthetischen Sprache kommt hier mit einer extrem tieffrequenten, sehr körnig klingenden synthetischen Stimme ein auf mehreren Stücken des Albums verwendeter neuer Signature Sound hinzu, der durch verschiedene Effektbearbeitungen wie auch die Beimischung eines Vocoders einmal mehr die Bandbreite Kraftwerks in diesem Segment zeigt. Wie im Einzelnen die Sprachsynthese auf dem Album realisiert wurde, lässt sich angesichts ihrer Komplexität nicht erörtern. Fritz Hilpert gab jedoch doch an, dass unter anderem das Programm Voice Modeler der Firma TCHelicon1048 zum Einsatz kam. Zur Bedeutung von Sprachsynthese bei Kraftwerk äußerte sich Fritz Hilpert allgemein: »Sprachsynthese und Vocoder Entwicklung waren von Anfang an Florians Forschungsgebiet und prägten zu einem wichtigen Teil den Kraftwerk-Sound. Andersrum wurden diese elektronischen Stimmen grade in den 90ern so sehr mit Kraftwerk assoziiert, dass andere Künstler diese Elemente schon gar nicht mehr nutzen wollten.«1049

Das Fundament des nachfolgenden, mit 91 bpm wesentlich langsameren Stücks »Vitamin« besteht aus einem synkopierten, mit perkussiven, ringmodulierten Klängen versehenen Drumpattern sowie einer mit Sägezahnwellenformen erzeugten Bassfigur die durch ihre 16tel-Noten-Repetitionen entfernt an die Doppeltrigger-Basssequenz von »Spiegelsaal« erinnert. Die Hookline besteht aus einer erneut mit den Sinuswellenklängen gespielten Melodie, die sich aus einer vorgehaltenen und sich zum Grundton auflösenden kleinen Septime sowie einem aus der Terz und der Quarte rekrutierenden Wechselnotenmotiv zusammensetzt. Harmonisch wird diese Melodie über die jeweils viertaktig erfolgenden Akkorde G-Dur, Bb-Dur, D-Dur und C-Dur gerückt. Einem Kraftwerk-typischen Kompositionscharakteristikum folgend wird diese Melodie in den Strophen von einem eher gesprochenen als gesungenen Text abgelöst.

1047 Klanglich liegen hier gesampelte Geräusche einer sich bewegenden Fahrradkette vor. 1048 Hilpert, Fritz: Synthopia: On Tour de France, Kraftwerk Showcases Move to Virtual Studios, 26.07.2004,

https://www.synthtopia.com/content/2004/07/26/on-tour-de-france-kraftwerk-showcasesmove-to-virtual-studios/ (abgerufen am: 28.02.2021). 1049 Hilpert, Fritz: Fritz Hilpert im Interview mit Cornel Hecht in: Kraftwerk in 3D (Teil 2), 25.04.2018, https://www.steinberg.net/de/community/storys/2018/kraftwerk_in_3d_teil_2.html (abgerufen am: 04.10.2020).

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Ein Wechselnotenmotiv findet sich auch bei den zusammenhängenden Stücken »Aéro Dynamik« und »Titanium« in Form eines kleinen Terzsprungs der mit Delay bearbeiteten Basssequenz. Rhythmisch gesehen basiert das Stück auf einem Viertelnoten-Bassdrumpattern, welches durch die darüberliegende minimalistische Snare- und Hi-Hat-Figur einen ähnlich filigranen Charakter aufweist wie die ersten Stücke des Albums. Die vermeintlich statische Atmosphäre des Four-tothe-Floor-Beats wird dabei durch vereinzelt erscheinende, synkopierte Percus­ sionpattern aufgelöst. Betrachtet man nun die melodische Komponente des Stückes, sticht in erster Linie ein akkordisches Motiv ins Auge, das aus einem phasenmodulierten streicherähnlichen Klang besteht. Angesichts der Tatsache, dass hier in der ersten Umkehrung stehende Moll-Dreiklänge gerückt werden, ist anzunehmen, dass ähnlich wie bei »Autobahn« der Grundklang bereits aus mehreren Oszillatoren besteht, die zu besagtem Akkord gestimmt wurden, so dass bei der Aufnahme lediglich eine Note für den ganzen Akkord gespielt werden musste. Dadurch, dass sowohl dieses Motiv die Akkorde F#-Moll und D#-Moll anspielt, als auch die Basslinie ständig zwischen den Tönen F# und D# hin und her springt, entsteht eine Bitonalität, wobei ferner durch die kleinen Terzen der Moll-Akkorde ein verminderter respektive tritonuslastiger Grundcharakter evoziert wird. Abwechselnd hierzu erfolgt die aus den ersten Stücken des Albums bekannte synthetische Stimme, die am Ende jeder Textzeile durch einen Vocoder ergänzt wird. Dieselbe Stimme ist – wenn auch in leicht abgewandelter Form – gleichfalls beim folgenden, mit »Elektro Kardiogramm« betitelten Stück zu vernehmen. Eine

Bsp. 38: Kraftwerk: »Aéro Dynamik« / »Titanium«, Basssequenz und Hookline

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6.1  Tour de France Soundtracks

hinzugefügte zweite, den Titel des Stückes sprechende synthetische Stimme ist dabei mit dem besagten Voice Modeler von TC-Helicon realisiert worden.1050 Auch hier werden die monoton gehaltenen Textpassagen von einer kurzen Melodie konterkariert, die in Ermangelung von Basstönen – es erfolgt lediglich auf den Backbeats ein in der eingestrichenen Oktave stehendes D, welches mit einem nasalen, bandpassgefilterten Klang gespielt wird – auch die Tonart d-Moll andeutet.

Bsp. 39: Kraftwerk: »Elektro Kardiogramm«, Hookline

Hinsichtlich der rhythmischen Komponente des Stückes fällt besonders ein von der Single »Tour de France« bekanntes Element auf: So enthält das unter anderem mit dem D-Coder der Firma Waldorf generierte synkopierte Drumpattern1051 ebenfalls rhythmisch aneinandergereihte Atemgeräusche, zu denen sich ein ge­­ sampelter Herzschlag gesellt. Das Stück »La Forme« fällt aus dem eher Pattern-haften Rahmen des Albums heraus. Obgleich auch hier ein repetitives, aus Quinten bestehendes Wechsel­ notenmotiv das harmonische Fundament bereitet, über das sukzessiv verschiedene synkopierte Synthesizer- und Schlagzeug-Sequenzen übereinandergeschichtet werden, steht der melodische Aspekt des Stückes doch im Vordergrund. Im Gegensatz zu den kurzen, mehr fragmentarischen melodischen Motiven der anderen Kompositionen des Albums besteht das Hauptthema von »La Forme« aus einer längeren, von mehreren Harmonien getragenen Melodie, für deren Umsetzung ebenfalls wieder die Sinuswellenklänge bemüht wurden. Die Basssequenz passt sich dabei der Akkordfolge an, bewegt sich harmonisch aber immer auf der Tonart g#-Moll, so dass nicht nur Sprünge zwischen einzelnen Quinten, sondern auch zwischen Quarten erfolgen. Auch hier entsteht dadurch eine Bitonalität, weswegen in der Transkription als Akkordsymbole nur offene Quinten angegeben werden. 1050 Hilpert, Fritz: Synthopia: On Tour de France, Kraftwerk Showcases Move to Virtual Studios, 26.07.2004,

https://www.synthtopia.com/content/2004/07/26/on-tour-de-france-kraftwerk-showcasesmove-to-virtual-studios/ (abgerufen am: 28.02.2021). 1051 Hilpert, Fritz: Synthopia: On Tour de France, Kraftwerk Showcases Move to Virtual Studios, 26.07.2004, https://www.synthtopia.com/content/2004/07/26/on-tour-de-france-kraftwerk-showcasesmove-to-virtual-studios/ (abgerufen am: 28.02.2021).

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Bsp. 40: Kraftwerk: »La Forme«, Basssequenz

Bsp. 41: Kraftwerk: »La Forme«, Hookline

Die Klangfarbe der Hookline wird auch für den weitestgehend auf C#-Dur stehenden Zwischenteil verwendet, der tonal neben der mixolydischen Skala durch das Anspielen der großen Sexte eine gewisse Ähnlichkeit zu den Melodien von »Europa Endlos« aufweist. Dieser Teil bildet auch gleichzeitig die Basis für das sich anschließende Stück »Régéneration«. Als Kraftwerk-typisches Stilelement werden wie bei »La Forme« auch hier wieder synthetische Stimmen sowie ein Vocoder eingesetzt. Das Album schließt mit einer überarbeiteten Version der im Jahre 1983 erschienenen Single »Tour de France«. Die einzigen Unterschiede zum Original bestehen neben formalen Änderungen aus klanglichen Aspekten. Zum einen ist das Drumpattern durch eine Hi-Hat-Figur ergänzt worden, zum anderen wurden die im Original wahrscheinlich mit dem Linn LM-1 Drumcomputer realisierten Bassund Snaredrum-Sounds durch wesentlich dezentere Klänge ersetzt und auch mehr in den Hintergrund gemischt. Ferner wurde die Klangfarbe der Hauptmelodie durch ein filigraneres, auf subtraktiver Synthese basierendes Pendant substituiert, dass allerdings die Brillanz des möglicherweise mit dem Emulator erzeugten Originalklanges vermissen lässt, so dass diese Fassung insgesamt durch die Klangästhetik zwar zeitgenössischer, aber auch etwas blasser klingt als das Original. Auch wenn das Album nicht die visionäre Tragweite von früheren KraftwerkAlben besitzt, besticht es doch durch eine ungeheuer lebendige Klangkomplexität, die dennoch den minimalistischen Kompositionsansatz Kraftwerks nicht verhehlen will. Trotz des Weggangs von Karl Bartos zeigt sich, dass Kraftwerk (und vor allem offensichtlich Hauptkomponist Ralf Hütter) zu Anfang der 2000er

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6.1  Tour de France Soundtracks

Jahre wieder in der Lage waren, einen zeitlosen und doch aktuellen Sound zu erschaffen, der sich mit popmusikalischen (und bis heute anhaltenden) Klangmoden wie Über-Kompression oder Autotune nicht gemein macht, dennoch aber Klänge fernab jeder Preset-Ästhetik hervorbrachte, welche den Vergleich mit Electronica-Produktionen der damaligen Zeit nicht zu scheuen brauchten – gleiches gilt trotz unterschiedlichster künstlicher Raumeffekte für die transparente, sich qualitativ auf höchstem Niveau bewegende Abmischung. Natürlich ist das Album insofern ein Kind seiner Zeit, als dass sehr viele auf der in den 1990er Jahren auch im Popmainstream wiederentdeckten und bis heute noch äußerst populären subtraktiven Synthese basierende Klänge verwendet wurden. Allerdings knüpft die auf dieser Grundlage erschaffene Klangwelt ästhetisch keinesfalls an die 1970er Jahre an – vielmehr haben es Kraftwerk verstanden, durch die digitalen Transformationsmöglichkeiten virtueller Klangerzeugung wie beispielsweise permanente, echtzeitgesteuerte Modulation, digitale Effektnachbearbeitung sowie die Möglichkeit grenzenlosen Layerings und Resamplings die jeweiligen Vorteile beider Technologien zu einem artifiziellen, aber äußerst vitalen Ergebnis zu kombinieren, das weder an den limitierten Klanghorizont analoger Synthesizer noch an das oft als kühl empfundene Sounddesign digitaler Klangerzeugung erinnert. Tour de France Soundtracks wurde in einer Zeit veröffentlicht, in der es neben dem allgemeinen Zugang zur Musiktechnologie produktionstechnisch durch computergestützte Klanggenerierung und -steuerung keinerlei Grenzen mehr zu geben schien.1052 Zeichnete sich spätestens seit den 1980er Jahren hinsichtlich der Parameter Melodik und Harmonik eine künstlerische Stagnation ab, schien nun mit dem Sound auch der ab dieser Zeit einzig weiter wandlungsfähige Parameter in eine Phase zu treten, in der Klangästhetiken einzelner Dekaden und Stile vor allem untereinander in immer neuen Konstellationen vermischt wurden, ohne dass ein revolutionär neues Klangidiom zum Vorschein gekommen wäre. Es ist Kraftwerk trotzdem gelungen, sich nicht im Dickicht totaler technischer Freiheit zu verlieren, sondern den eigenen Sound konsequent weiterzuentwickeln, ohne dabei die kompositorischen Grundfesten dem Klangdesign zu opfern. So finden sich auf Tour de France Soundtracks viele Kraftwerk-typische Elemente, sei es in Form von Sprachsynthese und vocoderisierter Sprache, einfacher und eingängiger Hooklines und Sequenzen oder generell einer dezidiert minimalistischen Klang- und Tonsprache. Auch wenn ange1052 Es gab aber seither im Musikbereich auch keine technisch revolutionäre Innovation mehr. Allen-

falls die im Jahre 2001 von der deutschen Firma Celemony zur Intonationskorrektur entwickelte Software Melodyne, welche ab 2008 in der Lage war, auch aus polyphonem Audiomaterial einzelne Noten herauszugreifen, zu analysieren und zu bearbeiten, stellt bis heute das letzte wirklich neue Klangwerkzeug dar.

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

sichts der Krise der Musikindustrie nicht mehr an die Verkaufszahlen der 1970er und 1980er Jahre angeknüpft werden konnte, war das Album doch das erste, das in der Geschichte Kraftwerks den 1. Platz der deutschen Charts erklomm.1053 Es ist bis heute das letzte Album mit neuer Musik und stellt so möglicherweise auch den Abschluss des Œuvres der Gruppe dar.

6.2  Minimum Maximum und Florian Schneiders Ausstieg

Obgleich seitens Ralf Hütters immer wieder betont wurde, dass permanent an neuer Musik gearbeitet werde,1054 lässt sich anhand der Veröffentlichungen seit Tour de France Soundtracks sicherlich nicht bestreiten, dass der Fokus dabei vor allem auf die Kanonisierung des Werkes gelegt wurde statt auf das Erschaffen neuer Musik. Streng genommen bildet – in Ermangelung von Veröffentlichungen neuer Kompositionen – aus thematischer Sicht die Analyse von Tour de France Soundtracks den Abschluss dieser Arbeit. Dennoch sollen auch die danach veröffentlichen Alben (obwohl es sich dabei nur um Live-Alben und die Kompilierung der remasterten Alben von Autobahn bis Tour de France Soundtracks handelt) in diese Untersuchung eingebunden werden  – sei es aus Gründen der Vollständigkeit, aber auch aufgrund der Tatsache, dass sie die Entwicklung der Klangtransformation Kraftwerks im 21. Jahrhundert dokumentieren. Letzterer Aspekt wird vor allem auf dem 2005 veröffentlichten Live-Doppelalbum Minimum Maximum ersichtlich, welches aus ausgewählten Mitschnitten der im Rahmen der Welt-Tournee 2004 gegebenen Konzerte besteht. Das Album war dabei in mehreren Versionen erhältlich: So gab es neben der Doppel-CD sowohl eine mit Bildmaterial versehene DVD-Version als auch eine später erschienene, mit »Notebook« betitelte Special Edition, die beides vereinte. All diese Versionen waren darüber hinaus in einer deutschen und in einer internationalen Variante erhältlich, bei der allerdings nur wenige Stücke durch auf Englisch gesungene Pendants ausgetauscht wurden. Ferner arbeiteten Kraftwerk auf Minimum Maximum zum ersten Mal mit Raumklang: So war das Album zum einen als SACD im Mehrkanalton erhältlich, zum anderen wurde die DVD-Version in DTS 5.1. Surround Sound gemischt.

1053 Kraftwerk: Tour de France Soundtracks, https://en.wikipedia.org/wiki/Tour_de_France_Sound

tracks (abgerufen am: 14.03.2021).

1054 Siehe u. a.: Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Christoph Dallach, in: »Die Maschinen spielen uns«,

in: Der Spiegel, 14.07.2003, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-27636663.html (abgerufen am: 03.02.2021).

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6.2  Minimum Maximum und Florian Schneiders Ausstieg

Das Album weist angesichts der zeitlichen Nähe eine deutliche klangästhetische Kongruenz zu Tour de France Soundtracks auf, von dem mit Ausnahme von »Titanium« sowie »La Forme« und »Regeneration« alle Stücke in leicht umarrangierter Form enthalten sind. So finden sich neben der Klangbearbeitung durch punktuell erfolgende Delays und Hallräume vor allem eine exzessive, mit hoher Resonanz versehene Filterung und häufiges Pitchshifting wieder. Ferner werden viele Melodien durch Ralf Hütter entweder mit den bereits bekannten perkussiven Sinuswellenklängen angereichert oder komplett ersetzt.1055 Obwohl viele Stücke in ihrer Textur auf der Version des The Mix-Albums basieren, sind manche um dem zum Teil etwas trivialen technoiden Charakter der 1990er Jahre entsprechende Elemente revidiert worden. Genauso wie das Stück »Heimcomputer« wieder auf den (gesampelten) Originalklängen und dem synkopierten statt wie auf »The Mix« Viertelnoten-lastigen Drumpattern beruht und damit zu seiner ursprünglich funkigen Ästhetik zurückkehrt, findet sich auch bei »Radioaktivität« im ersten Teil das Drumpattern der Originalversion von 1975 wieder. Das Stück »Planet der Versionen« entspricht wie erwähnt einer Kombination von »Expo 2000 (Kling Klang Remix 2002)« sowie Teilen der auf Expo Remix enthaltenen Versionen von Underground Resistance,1056 wobei alle textlichen Reminiszenzen an »Expo 2000« entfernt wurden. Über die Gründe ist mannigfaltig spekuliert worden: Zum einen könnte dies aufgrund des öffentlichen Dissens bezüglich des »Expo«-Jingles geschehen sein, zum anderen könnte durch Rückbezug auf ein zeitlich fixiertes Ereignis dem Stück schnell ein gewisser Anachronismus innewohnen1057  – Kraftwerk selbst äußerten sich bezüglich der textlichen Änderungen allerdings nicht. Obgleich Henning Schmitz betonte, dass auf der Bühne »viel Handarbeit und Modulation erforderlich [sei], um den Kraftwerk-Klang lebendig wirken zu lassen«,1058 wurde bei Kraftwerk-Konzerten angesichts der Omnipräsenz des Sequencings immer wieder über die eigentliche Tätigkeit der Musiker spekuliert. Anhand der DVD-Version von Minimum Maximum und einigen in den 2010er Jahren gemachten Videos ist allerdings ersichtlich, dass neben Ralf Hütter auch Henning Schmitz und Fritz Hilpert das Live-Geschehen sehr wohl aktiv bestimmen.1059 1055 Vgl. »Das Modell«, »Trans Europa Express«, »Radioaktivität«, »Computerwelt« und »Music Non

Stop«.

1056 Vgl. Kap. 5.5. 1057 Uhrmacher 2018, S. 165 f. 1058 Zit. n. Henning Schmitz in: Meixner, Udo: Henning Schmitz: Mehr Mensch als Maschine, in: Nord-

bayerischer Kurier, 08.10.2017, https://www.kurier.de/inhalt.henning-schmitz-mehr-mensch-alsmaschine.09b1dad1-cc60-450e-8905-f98ca4b69502.html (abgerufen am: 4.10.2020). 1059 Vgl. Kraftwerk: Kraftwerk.Intro Tour De France Paradiso Amsterdam 2015, 23.01.2015, https://www. youtube.com/watch?v=7GfyLS8L0LA (abgerufen am: 13.03.2021).

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

2015 äußerte sich Ralf Hütter zur Aufgabenteilung auf der Bühne wie folgt: »Ich spiele […] Keyboards und steuere verschiedene Sounds, mache Sprechgesang und Vocoder-Gesang. Henning macht sehr viele Sequenzen und Bass. Fritz macht perkussive Sounds.«1060 Auch wenn diese Aussage elf Jahre nach den Aufnahmen zu Minimum Maximum getroffen wurde, ist sie doch in gewisser Weise auf die Bühnentätigkeit des Jahres 2004 übertragbar, da die Frage, inwiefern damals live gespielt wurde, bezüglich des Aufgabenfeldes und des Grades der Bereitschaft Florian Schneiders, aktiv an Konzerten mitzuwirken, durchaus berechtigt scheint. Während der Computerwelt-Tour befanden sich Kraftwerk in einer Zeit, in der trotz leistungsfähiger Automatisierungsmöglichkeiten wie dem SynthanormaSystem das kontrollierende Eingreifen sowie das additive instrumentale Spiel unerlässlich für das Entstehen eines Stückes auf der Bühne waren, die performative Seite also nicht nur aus der Imitation musikalischer Aktivität bestand. Eine Ausnahme stellten TV-Shows dar, in denen die musikalischen Darbietungen bis heute fast immer auf Playbacks basieren – zum einen aus zeitlichen und logistischen Gründen, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass viele Gruppen damals wie heute weder technisch in der Lage, noch instrumental ausreichend versiert waren, um ihre Musik live darzubieten (die Abneigung gegenüber diesen TVShows ist Florian Schneider während der Playback-Darbietung von »Das Modell« in der 1982 im deutschen Fernsehen ausgestrahlten Sendung »Na Sowas!« anzumerken, in der er äußerst lustlos lediglich lang gehaltene Grundtöne spielt).1061 Aber auch während der The Mix-Tour, indem digitale Steuerungsmöglichkeiten durch das Synclavier und dem Software-Sequencing immer mehr musikalische Prozesse übernehmen konnten, schien sich der Aktionsrahmen von Schneider verkleinert zu haben. Durch das Robovox-System, dessen Steuerung vom Sequenzer übernommen wurde, entfielen die bis dato live dargebotenen Vocoder-Elemente. Selbst ein aktiv beteiligtes Gruppenmitglied wie Karl Bartos war sich selbst darüber im Unklaren, inwiefern während der Testkonzerte 1990 in Italien Florian Schneider noch auf der Bühne am Geschehen teilnahm: »Aufgefallen ist mir, dass Florian live fast vollständig untergetaucht war. Seine Rolle bei diesen Konzerten war für mich nicht mehr auszumachen.«1062 Möglicherweise war Schneiders Unbehagen bezüglich der Veranstaltung von Konzerten Ursache dafür, dass er mit Ende des Jahres 2006 nicht mehr mit Kraftwerk auf der Bühne 1060 Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Olaf Zimmermann für Radio Eins am 14.01.2015, http://www.

radioeins.de/programm/sendungen/elektro_beats/interviews/kraftwerk---rueckblick-auf-diekonzerte.html (abgerufen am: 29.04.2017). 1061 Kraftwerk: Kraftwerk  – Das Model, Na Sowas  – ZDF German Television (original transmission 29/03/1982), https://www.youtube.com/watch?v=84YCcDY4coU (abgerufen am: 28.02.2021) 1062 Bartos 2017, S. 474.

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6.2  Minimum Maximum und Florian Schneiders Ausstieg

stand. Letztendlich mündete dies in einem 2007 begonnenen Rückzug, der schließlich zum 2009 verkündeten Ausstieg Florian Schneiders führte.1063 Ralf Hütter kommentierte dies wie folgt: »Ich habe Ende der 60er-Jahre Kraftwerk mit meinem Partner Florian Schneider praktisch aus der Stille erschaffen. Er hat sich 2007 zurückgezogen auf seine anderen Interessensgebiete, und ich mache immer weiter. Kraftwerk ist mein künstlerisches Leben.«

Schneiders Position auf der Bühne und letztlich auch in der Gruppe wurde zunächst durch den Video-Operateur Stefan Pfaffe besetzt, der wiederum 2013 durch den ebenfalls als Video-Operateur tätigen Falk Grieffenhagen ausgetauscht wurde. Zieht man stichprobenartig Mitschnitte und Videos der Live-Konzerte aus den Jahren 2002–06 (2007 spielten Kraftwerk keine Konzerte) – der letzten Phase Schneiders Mitgliedschaft – zurate, ist lediglich anhand des die Konzerte jeweils abschließenden Stückes »Music Non Stop« offen ersichtlich, dass Florian Schneider aktiv ins Geschehen eingreift, indem er kurze Fragmente der Textstellen von »Boing Boom Tschak« in immer neuen Konstellationen aneinanderreiht und diese durch Filterung, Pitchshifting sowie räumliche Effektbearbeitung moduliert, vor allem im dafür vorgesehenen Solo.1064 In der Zeit der Mitgliedschaft von Stefan Pfaffe wurde diese Solostelle von 32 Takten auf 8 Takte reduziert, wobei die Abfolge der Textbausteine immer gleich blieb und Pfaffe – falls überhaupt – diese lediglich filterte.1065 Auch während der Konzerte mit der Beteiligung Falk Grieffenhagens blieb diese Stelle auf 8 Takte begrenzt, wobei Grieffenhagen allerdings mehr in das Material einzugreifen schien.1066 Ein Konzertvideo vom Januar 2015 erweckt aber auch den Eindruck, als sei besagte Stelle von Hen-

1063 Der Spiegel: Gründungsmitglied Schneider verlässt Kraftwerk, 07.01.2009, https://www.spiegel.de/kul

tur/musik/elektro-pioniere-gruendungsmitglied-schneider-verlaesst-kraftwerk-a-599968.html (abgerufen am: 28.02.2021). 1064 Vgl. Kraftwerk: Kraftwerk – (Minimum Maximum) Music non stop, 03.06.2004, https://www.you tube.com/watch?v=oQENfDAnL-s (abgerufen am: 10.03.2021) und Kraftwerk: Kraftwerk  – Music Non Stop  – Belgium 2006, 21.10.2006, https://www.youtube.com/watch?v=y0iJeu7Qvwg (abgerufen am: 10.03.2021). 1065 Vgl. Kraftwerk: Kraftwerk – Music Non Stop – Manchester 2009, 02.07.2009, https://www.youtube. com/watch?v=5GDHwaEYRik (abgerufen am: 10.03.2021) und Kraftwerk: Kraftwerk – Music Non Stop [Sacrum Profanum Festival 2008], 13.10.2008, https://www.youtube.com/watch?v=d48Bdf6gtu8 (abgerufen am: 10.02.2021). 1066 Vgl. Kraftwerk: Music Non Stop – Kraftwerk Live in Hong Kong 2013, 04.05.2013, https://www.you tube.com/watch?v=6bzBxeBYbZo (abgerufen am: 10.03.2021) und Kraftwerk: Kraftwerk – Music Non Stop LIVE @ Moscow 13.02.2018, 13.02.2018, https://www.youtube.com/watch?v=hVti4u2UqQo (abgerufen am: 10.03.2021).

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

nig Schmitz übernommen worden.1067 Ob nun Pfaffe oder Grieffenhagen überhaupt mit musikalischen Dingen betraut waren oder nicht – das wohl recht geringe Aufgabenfeld Schneiders konnte offenbar problemlos von Hütter, Schmitz und Hilpert entweder übernommen oder komplett programmiert werden. Nicht nur für die Konzerte schien Florian Schneider offenbar entbehrlich geworden zu sein – wie sich in den folgenden Kapiteln zeigt, blieb sein Ausstieg auch für den Fortbestand Kraftwerks ohne weiteren Belang.

6.3 Die Kanonisierung des Œuvres: Der Katalog

Ob nach der Veröffentlichung von Tour de France Soundtracks generell die Entscheidung von Hütter – mit oder ohne Zustimmung Florian Schneiders – getroffen wurde, das Œuvre Kraftwerks als abgeschlossen zu betrachten und sich fortan nur noch um dessen Konservierung und Pflege zu kümmern – sei es nun in Form digitaler Überarbeitung oder der Live-Darbietung  –, ist eine spekulative, aber nachvollziehbare Frage. Zumindest böte diese Überlegung angesichts des daraus resultierenden Wegfalls eines kreativen Betätigungsfeldes und der Abneigung gegenüber Konzerten aber eine Erklärung für den Ausstieg Florian Schneiders. Seine Mitgliedschaft scheint angesichts der danach folgenden Aktivitäten hinsichtlich der Kanonisierung und musealen Präsentation des Werkes auch nicht weiter vonnöten gewesen zu sein, da durch den Prozess der Mythologisierung Kraftwerks in den 1990er Jahren,1068 spätestens aber mit der Veröffentlichung von Tour de France Soundtracks ein internationaler Stellenwert erreicht worden war, dessen Aufrechterhaltung keinerlei weiteren musikalischen Outputs bedurfte, im Umkehrschluss angesichts der selbst gesetzten musikqualitativ hohen Messlatte aber auch nicht durch neues Schaffen gefährdet werden sollte, wie etwa Dirk Matejovski vermutete: »[…] ihr ökonomischer Umgang mit dem eigenen Werk kann als eine Strategie begriffen werden, die den Zwang zur ästhetischen Selbstüberholung neutralisieren will. Klassisch wird man nicht durch das, was man tut, sondern auch durch das, was man unterlässt, und so ist es nicht das geringste Verdienst Kraftwerks, diejenige Band zu sein, die fast keine Fehler gemacht hat.«

1067 equipboard.com: Ralf Hütter’s Creamware Minimax ASB, https://equipboard.com/pros/ralf-hutter/

creamware-minimax-asb (abgerufen am: 13.03.2021).

1068 Vgl. Kap. 5.3.

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6.3  Die Kanonisierung des Œuvres: Der Katalog

Dieser Nimbus war für lange Zeit keinesfalls selbstverständlich: Selbst in der künstlerischen Hochphase – der Zeit während der Veröffentlichung von Computerwelt etwa – wurden Kraftwerk eher als musikalisches Nischenprodukt bewertet, denn als Ikonen einer neuen (elektronischen) Popmusik gefeiert, wie nicht nur der Verriss im Nachrichtenmagazin Der Spiegel,1069 sondern auch sukzessiv schrumpfende Besucherzahlen während der sich an die Computerwelt-Tour anschließenden Konzerte in Deutschland 1981 untermauern.1070 Neben der musikalisch zweifelsohne herausragenden Leistung Kraftwerks darf es auch als großes Glück in der Historie der Gruppe angesehen werden, dass ihre visionären Konzepte zum einen gesellschaftliche Entsprechung fanden, zum anderen aber auch ihre Musik von vielen Künstlern als richtungsweisend erkannt und adaptiert worden ist – auf diesem Nährboden ist letztendlich der Mythos Kraftwerk zu einer musikalisch-künstlerischen Stellgröße in den 2000er Jahren gewachsen, die sich nicht nur in internationaler Reputation und in kürzester Zeit ausverkauften Konzerten widerspiegelt, sondern auch die Grundlage für die Überlegung schuf, das eigene Werk zu kanonisieren. Diese Idee baute dabei auf der im Zuge der Aufnahmen zu The Mix begonnenen Digitalisierung des gesamten, von Ralf Hütter als »Kraftwerk-Lexikon« bezeichneten Audiomaterials auf.1071 Im Jahre 2004 äußerte sich Ralf Hütter dazu wie folgt: »We’ve been digitally transferring all of Kraftwerk’s original recordings and sound sources from our badly degrading master tapes while our engineers, Fritz and Henning, have been working in parallel to remaster our early albums for rerelease. So for the first time, our recordings will be available in crisp, clear Kling Klang sound with all the fold-out covers and images our label at the time either messed up or wouldn’t pay for.«1072

Im selben Artikel stellte Ralf Hütter – wie schon 19911073 – in Aussicht, dass dies auch die ersten, nicht mehr auf Schallplatte verfügbaren Alben Kraftwerk, Kraftwerk  2 sowie Ralf und Florian beinhalten würde  – eine Aussage, die in gewisser Weise verwundert, da Florian Hütter jene Werke als für das Œuvre unbedeutend erachtete.1074 Letztendlich ist dies trotz aller Ankündigungen nicht eingetreten: 1069 Vgl. Der Spiegel: Blubber von der Datenbank, 1981, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14338286.

html (abgerufen am: 06.02.2021).

1070 Bartos 2017, S. 388 ff. 1071 Vgl. Kap. 5.2.2. 1072 Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Tim Perlich in: Steady Werk – Electro-pop pioneers see

future in past, in: Now Magazine, 22.04.2004, https://nowtoronto.com/music/steady-werk (abgerufen am: 12.02.2021). 1073 Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Olaf Zimmermann für DT 64, 1991, https://www.youtube. com/watch?v=Qs2l2LMGXms (abgerufen am: 10.01.2021). 1074 Vgl. Kap. 3.3.1.

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

Als die remasterten Alben 2004 in einer 12345678 genannten kompilierten Promotion-Version vorgestellt wurden, umfasste dies nur die Alben von Autobahn bis Tour de France Soundtracks.1075 Warum die eigentliche Veröffentlichung dieser Kompilation unter dem Titel Der Katalog1076 nach einer erneuten Nachbearbeitung erst 2009 erfolgte, lässt ebenfalls Raum für Spekulationen. Uwe Schütte stellt gar die Möglichkeit in den Raum, dass es diesbezüglich zum Konflikt zwischen Hütter und Schneider gekommen sein könnte.1077 In einem Interview 2009 mit dem Musikmagazin Groove hatte Hütter sich im Vorfeld verbeten, nach Florian Schneider gefragt zu werden.1078 Auch wenn Florian Schneider noch bis zum November 2016 gemeinsam mit Ralf Hütter als Geschäftsführer des Verlags »Kling Klang Musik GmbH« eingetragen war,1079 kann sicher kein Zweifel daran bestehen, dass Ralf Hütter spätestens ab 2009 die Geschicke Kraftwerks allein bestimmt hat – wenn das nicht schon vorher der Fall gewesen sein sollte.1080 Bezüglich Der Katalog ist Ralf Hütter zumindest als alleiniger Rechteinhaber aufgeführt. Zur Motivation dieser Kompilation äußerte sich Hütter folgendermaßen: »Das war einfach eine Aufgabe, die fällig war. Das ist ja unser Lebenswerk. Der Katalog, der vorher erhältlich war, existierte zum Teil in mieser Qualität und wurde damals mit wenig Sorgfalt rausgehauen. Zum Teil gab es da bedruckte Innenhüllen mit Werbung für irgendwelche Rock- und Schlagerprodukte in den CDs. So, wie wir das jetzt gemacht haben, kann das keiner mehr antasten. Die ersten drei Alben machen wir dann noch, wenn wir Zeit haben. Der Katalog ist jetzt aber erst einmal abgeschlossen.«1081

Die Reaktionen hinsichtlich des Ergebnisses der digitalen Überarbeitung des Back-Kataloges waren größtenteils positiv. Kritik wurde dahingehend geäußert, dass durch das Remastering und die Reduktion von Rauschen den Alben zuweilen der analoge Charme genommen wurde, was aber stets vom individuellen 1075 Kraftwerk: 12345678, https://www.popsike.com/KRAFTWERK-The-Catalogue-12345678-20

04-UK-promoonly-8CD-box-set/232060230031.html (abgerufen am: 10.01.2021). Hierbei wurde das Album Electric Café in Techno Pop umbenannt. Auf Der Katalog wurde darüber hinaus das Album Tour de France Soundtracks in Tour de France umbenannt. 1076 Für den internationalen Markt wurde unter dem Titel The Catalogue eine die englischsprachigen Alben enthaltende Version veröffentlicht. 1077 Schütte 2018, S. 190. 1078 Hoffmann, Heiko: Kraftwerk: »Das hatte etwas von einem mechanischen Ballett«, in: Groove, 18.04.2012, https://groove.de/2012/04/18/feature-kraftwerk-groove-121/ (abgerufen am: 10.03.2021). 1079 North Data: Kling Klang Musik GmbH, https://www.northdata.de/Kling+Klang+Musik+ GmbH,+Kempen/Amtsgericht+Krefeld+HRB+13660 (abgerufen am: 10.03.2021). 1080 Vgl. kraftwerkfaq.com: Why did Florian leave Kraftwerk?, http://kraftwerkfaq.com/members. html#present (abgerufen am: 11.03.2021). 1081 Hütter, Ralf: Ralf Hütter in einem Interview mit Heiko Hoffmann, in: Kraftwerk: »Das hatte etwas von einem mechanischen Ballett«, in: Groove, 18.04.2012, https://groove.de/2012/04/18/feature-kraft werk-groove-121/ (abgerufen am: 10.03.2021).

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6.3  Die Kanonisierung des Œuvres: Der Katalog

Geschmack des Hörers abhängen dürfte. Da Der Katalog keinerlei neue Musik enthält – lediglich auf Techno Pop wurde das Stück »Der Telefon Anruf« durch die Single-Version sowie dessen B-Seite »House Phone« ersetzt – und daher wohl vor allem in tontechnischer Hinsicht interessant sein dürfte, ist für die Thematik dieser Arbeit eine detaillierte Analyse nicht erforderlich.1082 Es sei allerdings so viel angemerkt, dass bei der Überarbeitung nicht in das musikalische Material eingegriffen wurde: Weder wurden Intonationsschwankungen Ralf Hütters ausgeglichen, noch vermeintliche Spielfehler wie etwa die (möglicherweise) unbeabsichtigt getriggerte Snaredrum bei »Europa Endlos« oder das abrupte Absinken der Masterband-Geschwindigkeit in den letzten Sekunden von »Computerliebe« korrigiert. Tendenziell lässt sich auf den remasterten Versionen eine Anhebung des Bassbereiches ausmachen, die der oft mittenlastigen Mischung der Originalaufnahmen hinsichtlich der Schlagzeug- und Bassspuren deutlich mehr Druck verleiht. Wie schon auf Tour de France Soundtracks haben sich Schmitz und Hilpert bei ihrer Arbeit keineswegs von Klangmoden wie der Überkompression verleiten lassen. Lediglich auf »Radio-Aktivität« ist ein deutlicher, durch den SnaredrumSound auf dem rechten Kanal ausgelöster Ducking-Effekt zu vernehmen. Generell sind die auf Der Katalog vordergründig aus Rauschreduktion und Frequenzanhebungen bestehenden Änderungen eher dezent ausgefallen und schaffen im Vergleich zu den Originalversionen vor allem ein transparenteres und druckvolleres Klangbild. Allenfalls das Hinzufügen von zusätzlichen Hallräumen auf Ralf Hütters Gesang wie etwa bei »Spiegelsaal« könnte als größerer mischtechnischer Eingriff bezeichnet werden. So lässt sich dann auch konstatieren, dass bei aller Fokussierung auf die tontechnische Überarbeitung bei Der Katalog speziell die visuelle Komponente eine sehr große Rolle spielt: Neben einigen neu designten Covern gibt es zu allen Alben umfangreiche Booklets, die aber einen gewissen musikalischen Geschichtsrevisionismus nicht verhehlen können: War die Kreditierung hinsichtlich der musikalischen Beteiligung an den einzelnen Alben bis dahin zuweilen recht kryptisch gehalten oder auch gar nicht vorhanden, fiel sie in den Booklets der einzelnen Alben von Der Katalog umso präziser aus. Nach dem unrühmlichen Ausstieg von Karl Bartos1083 und dem damit einhergegangenen endgültigen Ende der klas-

1082 Zur Vertiefung sei allerdings auf folgende Rezensionen hingewiesen: 5:4: Kraftwerk: a remastered

retrospective, 08.11.2009, http://5against4.com/2009/11/08/kraftwerk-a-remastered-retrospective/ (abgerufen am: 10.03.2021). Cordas, Alexander: Kraftwerk – Der Katalog, in: laut.de, 2009, https:// www.laut.de/Kraftwerk/Alben/Der-Katalog-46607 (abgerufen am: 10.03.2021). Ewing, Tom: Kraftwerk – The Catalogue, in: Pitchfork, 01.12.2009, https://pitchfork.com/reviews/albums/13742the-catalogue/ (abgerufen am: 10.02.2021). 1083 Bartos 2017, S. 468 ff.

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

sischen, aus Hütter, Schneider, Bartos und Flür bestehenden Kraftwerk-Besetzung, wurde Ralf Hütter nicht müde, in der Öffentlichkeit zu betonen, dass Kraftwerk generell immer nur aus ihm und Florian Schneider bestanden hätten und es sich bei den darüber hinaus beteiligten Musikern lediglich um »irgendwelche Mitarbeiter« gehandelt habe.1084 Dies gipfelte wie in Kapitel 3.7.2 erwähnt schließlich in einem Rechtsstreit bezüglich Äußerungen in Flürs Autobiografie unter anderem zu seiner Mitwirkung bei der Entwicklung der Drumpads sowie seiner Funktion als Musiker auf Autobahn.1085 In der Folge wurde Flür – auf dem Originalalbum von Autobahn noch generell als Schlagzeuger genannt – womöglich aus Rache und / oder der Motivation heraus, nachträgliche Fakten zu schaffen, auf der Der Katalog-Fassung nur noch bei »Kometenmelodie 2« kreditiert, während die anderen Schlagzeug-Parts nun Hütter und Schneider zugesprochen wurden. Während Flür auf den Alben Radio-Aktivität, Trans Europa Express und Die Mensch-Maschine zumindest noch unter der Tätigkeit »Elektronisches Schlagzeug« genannt wurde, sprach man ihm auf den folgenden Alben jegliche instrumentale Beteiligung ab. Auch Karl Bartos – obgleich seit dem Album Die Mensch-Maschine häufig als Komponist genannt und seiner Autobiografie zufolge in erster Linie als Keyboarder bei Kraftwerk mitwirkend – ist auf den Alben von Radio-Aktivität bis einschließlich Electro Pop lediglich als Schlagzeuger aufgeführt. Nachdem mit Der Katalog das Œuvre kanonisiert – die Wiederveröffentlichung der ersten drei Alben ist trotz aller Ankündigungen bis in die 2020er Jahre hinein noch nicht erfolgt –, konserviert und visuell dem Zeitgeist angepasst wurde, richteten Kraftwerk ihr Augenmerk in den 2010er Jahren darauf, ihr Werk auch hinsichtlich der Bühnenpräsentation zu modifizieren, was Gegenstand des folgenden und letzten Kapitels dieser Untersuchung sein wird.

6.4  3-D Der Katalog und Remixes

Nach einer möglicherweise im Zusammenhang mit dem Rückzug Florian Schneiders stehenden Pause im Jahre 2007 nahmen Kraftwerk 2008 ihre Konzerttätigkeit wieder auf. In dieser Zeit wurde das Live-Konzept überarbeitet, in dem man 3D-Effekte hinzufügte, für deren Erfassung die Zuschauer eine 3D-Brille ausgehändigt bekamen. Erstmalig vorgestellt wurde dies während der drei aufeinanderfolgenden Konzerte im April 2009 in Wolfsburg. Allerdings versuchte man nicht nur hinsichtlich der visuellen Komponente neue Wege zu 1084 Flür 1999, S. 277 f. 1085 Flür 2017, S. 298 ff.

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6.4  3-D Der Katalog und Remixes

beschreiten – auch der Sound wurde einer Transformation unterzogen, die sich zum einen in der Implementierung von Raumklang respektive der Verteilung diverser Schallquellen im gesamten Zuschauerraum widerspiegelte, zum anderen in einem verfeinerten, zuweilen auch retrospektiv wirkenden Klangdesign verzeichnen ließ, für das abermals in einer weiteren Konzertpause im Jahre 2010 das Live-Setup umgebaut wurde. So ist anhand von Fotos der Spieltische im Rahmen der Konzerte am ZKM in Karlsruhe im September 2014 zu erkennen, dass die Laptops durch Tablet-PCs ausgetauscht wurden (seit Februar 2018 verwenden Kraftwerk hierfür speziell modifizierte Surface Book Rechner1086 von Microsoft).1087 Daneben beinhaltete der Spieltisch von Ralf Hütter eine Keyboard-Tastatur sowie die Hardware-Version der digitalen Minimoog-Emulation Creamware Midimax. Während Henning Schmitz nach wie vor noch ein Oxygen 8-Keyboard von M-Audio in Verbindung mit dem Zero SL MKII-MIDI-Controller von Novation und dem Numark Orbit DJ-Controller spielte, fand sich auf Fritz Hilperts Spieltisch kein Keyboard mehr. Hier bestanden die zentralen Spielelemente neben einem zusätzlichen Tablet aus einem Doepfer Ribboncontroller und der digitalen Audioworkstation Maschine von Native Instruments. Falk Grieffenhagen benutzte zur Steuerung der Visuals einen QuNeo 3D Multi-Touch Pad Controller von Keith McMillen sowie SmartView Monitore von Blackmagic Design. Einen guten Eindruck der Live-Tätigkeit verschaffen zwei Videos von einem Konzert im Januar 2015 in Amsterdam sowie zahlreiche im Internet verfügbare Fotos.1088 Seit 2005, als Kraftwerk im Rahmen der Biennale in Venedig ein Konzert gaben, wurde ihr Schaffen gerade hinsichtlich der multimedialen Live-Performance auch im Bereich der zeitgenössischen Kunst wahrgenom-

1086 Ralf Groene, Head of Industrial Design, Microsoft Devices, bei der Microsoft Corporation

äußerte sich dazu wie folgt: »Wir haben eng mit KRAFTWERK zusammengearbeitet, um ihren spezifischen Anforderungen gerecht zu werden und haben das Surface Book mechanisch umkon­ struiert, indem wir das 2in1-Gerät in einen elektronischen Klangerzeuger integriert haben, welcher für die Live-Performance auf der Bühne optimiert ist. Über Änderungen an der Tastatur und am Gelenk wurde das Gerät außerdem in das Bühnenequipment der Klangkreativen integriert, wodurch es nun leicht und in Echtzeit Zugriff auf alle in der Musiksoftware oder im Synthesizer erstellten Töne von KRAFTWERK oder auf andere virtuelle Instrumente auf dem Surface bietet.« Zit. n. Ralf Groene in: Nadler, Irene: Elektronische Klänge: Grammy-Gewinner KRAFTWERK mit Microsoft Surface auf 3D-Europatournee, 07.02.2018, https://news.microsoft.com/de-de/kraft werk-surface-book/ (abgerufen am: 13.03.2021). 1087 kraftwerkfaq.com: Equipment, http://kraftwerkfaq.com/equipment.html#equipment (abgerufen am: 05.03.2021). 1088 Kraftwerk: Kraftwerk Trans Europe Express.Amsterdam Paradiso 2015, 22.01.2015, https:// www.youtube.com/watch?v=a_7URJHwduE&t=286s (abgerufen am: 13.03.2021). equipboard. com: Ralf Hütter’s Creamware Minimax ASB, https://equipboard.com/pros/ralf-hutter/creamwareminimax-asb (abgerufen am: 13.03.2021). synthanatomy.com: Kraftwerk Live setup.001, https:// www.synthanatomy.com/wp-content/uploads/2020/05/Kraftwerk-Live-setup.001.jpeg (abgerufen am: 13.03.2021).

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

men.1089 Als Gegenstand musealer Präsentation wurde das Werk Kraftwerks erstmals 2011 in Form einer mehrkanaligen 3D-Videoausstellung präsentiert, an die sich drei 3D-Konzerte anschlossen, bei denen oben genanntes Setup erstmalig zum Einsatz kam. In dieser Zeit erfolgte auch eine Einladung zu einem Konzert durch das Museum of Modern Art in New York, welche zur Idee führte, das kanonisierte Gesamtwerk von Der Katalog live umzusetzen. Ralf Hütter: »Wir haben vom Museum of Modern Art in New York eine Einladung bekommen, dort zu spielen. Ich habe mir dann überlegt, was wir machen: alte Fotos, Texte, Objekte, Instrumente, Roboter? Irgendwie hat mir das alles nicht gepasst. Es war so vitrinenlastig. Zusammen mit dem Kurator und der Galeristin kam mir dann plötzlich der Gedanke, unser Gesamtwerk aufzuführen und unsere Musik und Performance mit 3D-Elementen darzustellen. Auf die Idee folgten einige Jahre Arbeit.«1090

Das Ergebnis dieser Arbeit war eine achttägige, mit »Der Katalog 1 2 3 4 5 6 7 8«1091 betitelte Konzertreihe, in der 2012 pro Tag jedes Album von Der Katalog in neuem Klanggewand sowie mit teils überarbeitetem, teils neu entstandenem 3D-Videomaterial live in New York gespielt wurde. Dieses Konzept wurde bis einschließlich 2017 als Ergänzung zu normalen Konzerten und Konzerttourneen weltweit sowohl in verschiedenen bekannten Museen wie der Tate Gallery of Modern Art in London oder der Neuen Nationalgalerie in Berlin als auch in renommierten Konzert- und Theaterhäusern wie der Oper in Sydney oder dem Wiener Burgtheater präsentiert. Da zum Teil erhebliche musikalische Kürzungen vorgenommen wurden, die im Falle von Autobahn, Trans Europa Express, Computerwelt und Techno Pop zu einer Spielzeit von unter 30 Minuten führten, wurde nach den Alben jeweils ein Best-of-Programm gespielt. Die Konzerte wurden durch den FOH-Mischer Serge Gräfe mitgeschnitten, von Fritz Hilpert gemischt sowie von Henning Schmitz gemastert und schließlich in einer achtteiligen, mit 3-D Der Katalog1092 betitelten Kompilation in vielen verschiedenen Versionen veröffentlicht: So gab es unter anderem neben der Vinyl- und CD-Fassung eine DVDsowie eine Blu-Ray-Disc-Variante.1093 Eine große Rolle spielte dabei wie schon

1089 Lenbachhaus: KRAFTWERK. 3-D VIDEOINSTALLATION, 2011, https://www.lenbachhaus.

de/entdecken/ausstellungen/detail/kraftwerk-3-d-videoinstallation (abgerufen am: 13.03.2021).

1090 Hütter, Ralf: Ralf Hütter im Interview mit Olaf Zimmermann für Radio Eins am 14.01.2015, http://www.

radioeins.de/programm/sendungen/elektro_beats/interviews/kraftwerk---rueckblick-auf-diekonzerte.html (abgerufen am: 29.04.2017). 1091 Im nicht deutschsprachigen Ausland mit The Catalogue 1 2 3 4 5 6 7 8 betitelt. 1092 In der internationalen Fassung mit 3-D The Catalogue betitelt. 1093 Darüber hinaus gab es eine ebenfalls in diversen Abspielformaten erhältliche 77-minütige Best-ofVersion mit dem Titel 12345678.

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6.4  3-D Der Katalog und Remixes

auf Minimum Maximum die Implementierung von Raumklang, wobei Kraftwerk abermals mit der Firma d&b Audio zusammenarbeiteten und so seit 2013 als eine der ersten Bands live mit einem Immersive Sound System in Verbindung mit der auf Wellenfeldsynthese basierenden Software Iosono arbeiten konnten.1094 Infolgedessen konnten 30 Schallquellen im Raum platziert werden, was den Zuhörern ein völlig neues Klangempfinden im Konzertsaal ermöglichte. Die hier gemachten Erfahrungen flossen in die Produktion von 3-D Der Katalog mit ein: Neben The Mix, dessen Audiomaterial sich aus ausgewählten Stücken der anderen Alben zusammensetzte (als letztes Stück wurde »Planet der Visionen« hinzugefügt), welche in Headphone Surround 3D gemixt wurden, mischte man die DVD-Version im Dolby Surround 5.1-Format. Die Blu-Ray-Fassung erschien zusätzlich noch im wesentlich aufwendigeren Dolby Atmos-Format.1095 Diese vor allem aus tontechnischer Sicht interessanten Aspekte tangieren die Thematik dieser Arbeit allerdings nur am Rande, so dass in diesem Kapitel das Augenmerk vor allem auf das modifizierte Sounddesign zu legen ist. Da 3-D Der Katalog keine Neukompositionen beinhaltet, also ebenfalls streng genommen nicht in direkter Verbindung mit dem Kern dieser Untersuchung steht, würde eine detaillierte Analyse jeglicher neuer Klangdetails den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zumindest aus Gründen der Vollständigkeit soll dennoch ein zusammenfassender Überblick erfolgen. Auf 3-D Der Katalog manifestiert sich der seit Minimum Maximum eingeschlagene Weg, auf ein retrospektives, aber in das 21. Jahrhundert transferiertes und transformiertes Klangdesign zu setzen, welches sich vieler technoider Moden aus der The Mix-Ära der 1990er Jahre entledigt hat. Allerdings sei als Gegenbeispiel die Version von »Ätherwellen« genannt, bei der nach einer getragenen, flächenlastigen und mit vocoderisiertem Gesang angereicherten Einleitung ein 154 bpm schneller Four-to-the-Floor-Teil erfolgt, der trotz eines verhältnismäßig weichen Bassdrum-Sounds sowie den »Zap«-Sounds eine starke Parallele zur Euro-Dance-

1094 Zur weiteren Vertiefung seien folgende Internet-Links empfohlen: Crack Magazine: Behind the sce-

nes of Kraftwerk 3D, 01.08.2019, https://www.youtube.com/watch?v=Ew0NE27qs-U (abgerufen am: 08.02.2021). EventElevator: Kraftwerk: Wellenfeldsynthese in der Kunstsammlung NRW, 25.01.2013, https://www.youtube.com/watch?v=np_bhcpE91A (abgerufen am: 04.01.2021). 1095 Hier sind zur weiteren Vertiefung folgende Interviews mit den mit dem Mix betrauten Ton-Ingenieuren Fritz Hilpert und Tom Ackermann empfohlen: Hilpert, Fritz: Fritz Hilpert im Interview mit Cornel Hecht in: Kraftwerk in 3D (Teil 1), 25.04.2018, https://www.steinberg.net/de/commu nity/storys/2018/kraftwerk_in_3d_teil_1.html?et_cid=15&et_lid=22&et_sub=Kraftwerk%20 in%203D (abgerufen am: 04.10.2020). Hilpert, Fritz: Fritz Hilpert im Interview mit Cornel Hecht in: Kraftwerk in 3D (Teil 2), 25.04.2018, https://www.steinberg.net/de/community/storys/2018/ kraftwerk_in_3d_teil_2.html (abgerufen am: 04.10.2020). Vogt, Raphael: Exklusiv: Making of Kraftwerk 3-D Der Katalog, 16.06.2017, https://www.lowbeats.de/exklusiv-making-of-kraftwerk3-d-der-katalog/v (abgerufen am: 05.01.2021).

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6  Vom Jahr 2000 bis zur Gegenwart – Mythos Kraftwerk

Ästhetik aufweist. Da es sich aber im Vergleich zu den anderen Stücken auf 3-D Der Katalog um einen Einzelfall handelt, könnte dies durchaus als Persiflage gedacht sein – in jedem Fall verschafft dieser Teil dem eher ruhigen Charakter von Radio-Aktivität aber eine für die Konzertdramaturgie hilfreiche tempomäßige Steigerung. Ansonsten lässt sich bei allen Alben vor allem eine starke Rückbesinnung auf das ursprüngliche Audiomaterial verzeichnen. Besonders deutlich wird das im Falle von Computerwelt, da hier viele der Klänge und Beats der Originalversion entnommen wurden, wodurch der technoide TR-909-Preset-Klangcharakter von The Mix, der bis dato noch einigen Live-Versionen anhaftete, endgültig der Vergangenheit angehörte. Durch eine fast durchweg erfolgte Frequenzanhebung im Bassbereich, dem Hinzufügen von Basssequenzen, der permanenten Klangbearbeitung durch Filterung, Panoramafahrten, Echos sowie Hallräumen, was in Summe zur gelungenen Verknüpfung des Klangmaterials vergangener Jahrzehnte mit der schlanken Electronica-Ästhetik der 2010er Jahre führte, wohnt den Stücken eine zeitlose Eleganz inne. Das retrospektive Klangdesign lässt sich auch daran festmachen, dass auf »Autobahn« etwa die 1991 auf The Mix im Mittelteil durch gesampelte Autogeräusche ersetzten Synthesizersounds wieder zu hören sind. Gleichfalls sind viele Robovox-Elemente zugunsten von vocoderisierter Sprache ersetzt worden, was der Musik eine analoge Wärme verleiht; selbst der ursprünglich auf dem Votrax basierenden Version von »Radioland« wurde Vocoder-Gesang hinzugefügt. Insgesamt werden hinsichtlich des Gesangs kleine Änderungen vorgenommen: So wurde in der gesprochenen Einleitung von »Radioaktivität« in der Wiederholung das Wort »Hiroshima« durch »Fukushima« ersetzt und der erste Teil des Stückes von Ralf Hütter komplett auf Japanisch gesungen. Außerdem wurde der Gesang von Karl Bartos auf »Der Telefon Anruf« nicht von Hütter übernommen, sondern ersatzlos gestrichen. Strukturelle Änderungen lassen sich sowohl anhand dramaturgischer Kürzungen als auch der teilweise umgestellten Stückreihenfolge ausmachen. Ferner beinhaltet das Stück »Planet der Visionen« wieder die musikalischen Teile von der Single-Version von »Expo 2000«. Obgleich es sich bei 3-D Der Katalog um Konzertaufnahmen handelt, stellt sich keinesfalls der Charakter von Live-Alben ein, da sämtliche Zuschauergeräusche entfernt wurden. Vielmehr wird hier der Eindruck einer stimmigen, zeitgenössischen Adaption des Gesamtwerkes von Kraftwerk erweckt, was auch von der Öffentlichkeit äußerst respektabel aufgenommen wurde: So erhielten Kraftwerk nach dem Grammy Lifetime Achievement Award für das Lebenswerk im Jahre 2014 vier Jahre später für 3-D Der Katalog den Grammy Award for Best Dance / Electronic Album.

402

6.4  3-D Der Katalog und Remixes

Bis heute ist 3-D Der Katalog das letzte nennenswerte Lebenszeichen hinsichtlich Neuveröffentlichungen der Gruppe. Zwar brachten Kraftwerk im Dezember 2020 eine mit Remixes betitelte Kompilation von verschiedenen Single-Remixes als Download heraus, allerdings wurden diese (mit Ausnahme des Stückes »Non Stop«, welches sich aus den Elementen der 1993 für MTV komponierten Jingles zusammensetzt)1096 bereits alle in der Vergangenheit veröffentlicht. Möglicherweise ist dies ein weiterer Hinweis dafür, dass der Fokus von Kraftwerk seit Tour de France Soundtracks strikt auf die Verwaltung des bestehenden Werkes gelegt wurde statt auf das Erschaffen von neuer Musik. Wie dem auch sei – man wird sich überraschen lassen müssen, oder um es mit den Worten von Henning Schmitz zu sagen, als er nach der Veröffentlichung eines neuen KraftwerkAlbums gefragt wurde: »Wer weiß schon, was die Zukunft bringt?«1097

1096 Vgl. Kap. 5.3. 1097 Schmitz, Henning: Henning Schmitz im Interview mit Udo Meixner in: Henning Schmitz: Mehr

Mensch als Maschine, in: Nordbayerischer Kurier, 08.10.2017, https://www.kurier.de/inhalt.henningschmitz-mehr-mensch-als-maschine.09b1dad1-cc60-450e-8905-f98ca4b69502.html (abgerufen am: 4.10.2020).

403

7 Ausblick Ziel dieser Arbeit war es, die Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition bei Kraftwerk zu untersuchen. Hierfür wurden analog zur Historie der Gruppe soziokulturelle, musikalische sowie technologische Entwicklungen beleuchtet und dabei in Augenschein genommen, inwiefern Kraftwerk im Bereich der Popularmusikgeschichte Prozesse angestoßen haben und / oder von ihnen beeinflusst worden sind. Es hat sich dabei gezeigt, dass für die heutige exponierte Stellung der Gruppe innerhalb der Popularmusik primär die Schaffensphase in den 1970er Jahren bis einschließlich des 1981 veröffentlichten Albums Computerwelt ausschlaggebend war. In dieser Dekade ist es Kraftwerk gelungen, sich durch eine technologisch-kompositorische Metamorphose von ihren Krautrock-geprägten Wurzeln zu lösen und mit dem Album Autobahn 1974 einen Entwurf einer elektronischen Popmusik zu skizzieren, der zum damaligen Zeitpunkt völlig neuartig war und sich in vielerlei Hinsicht als Nährboden für die allgemeine popmusikalische Entwicklung erweisen sollte. Zupasskam ihnen dabei, dass sie wie nur wenige andere Gruppen durch den Ausbau ihres Studios den Fokus früh auf künstlerische und technische Autarkie legten – dergestalt, dass sie konsequent auf neue Technologien zu setzen wussten und diese als Auftraggeber innerhalb eines Netzes externer Spezialisten gezielt voranzubringen vermochten, was ihnen ermöglichte – wie in Form der Drumpads oder des Synthanormas –, dem Zeitgeist in produktionsästhetischer Hinsicht partiell immer wieder voraus zu sein. Wie kaum eine andere Musikgruppe in den 1970er Jahren waren Kraftwerk in der Lage, eine Synthese aus Technologie und Komposition zu kreieren, die auf der einen Seite durch die innovative programmatische Implementierung automatisierter Steuerungsprozesse und die Konzentration auf eine artifizielle, elektronisch generierte Klangarchitektur bestach, auf der anderen Seite durch das Vermögen der Gruppe, reduzierte und prägnante Melodien zu komponieren, jedoch auch in tonaler Hinsicht Akzente setzen konnte. Versucht man sich an einer Zusammenfassung der für Kraftwerk typischen klanglichen Charakteristika sind neben Sequencing, elektronischen Klangfarben, vocoderisierter und synthetischer Sprache respektive Gesang daher sicher auch die zahlreichen eingängigen Hooklines zu nennen, die einen wesentlichen Teil der musikalischen Qualität der Gruppe ausmachen. Aus dieser Mixtur gelang es der Gruppe bis 1981, eine minimalistische elektronische Popmusik zu entwerfen, die sich als so visionär und nachhaltig erwies, dass sie zum einen wie im Falle des Synth-Pops in Teilen vom Mainstream aufgesogen wurde, zum anderen aber auch als Ingredienz für viele ab den 1980er Jahren im

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7 Ausblick

Bereich der Electronic Dance Music entstandene Genres verwendet wurde, deren eigene Blüten in hoher Fluktuation fortan den Puls der Zeit bestimmen sollten. Diese Entwicklung basierte auf mehreren produktionstechnischen, durch die Digitalisierung und die Computerisierung der Studiotechnik evozierten Demokratisierungsprozessen, die es einer großen Masse an Musikern, denen bis dato der exklusive Zugang zur professionellen Musikproduktion verwehrt geblieben war, nun erlaubte, in Heimstudios eigene, sich fernab jeglichen musikindustriellen Diktats bewegende Ideen zu entwickeln und zu realisieren. Kraftwerk verloren dadurch nicht nur ihre technologische Vormachtstellung – sie gerieten angesichts der immer rasanter vonstattengehenden Entwicklungsschritte auf dem weit gefassten Feld der populären elektronischen Musik und der sich dadurch konstituierenden, für die Gruppe völlig neuen Konkurrenzsituation zunehmend ins Hintertreffen, wodurch ihre künstlerische Produktivität nicht nur massiv zurückging, sondern auch konzessionellen Anpassungsprozessen unterworfen war. Erst um das Jahr 2000 herum gelang es Kraftwerk mit der Single »Expo 2000« und dem Album Tour de France Soundtracks, sich künstlerisch und produktionstechnisch wieder auf Augenhöhe mit aktuellen Electronica-Produktionen zu bewegen. Diese Veröffentlichungen stellen gleichfalls das letzte Lebenszeichen im Hinblick auf neu komponierte Musik dar – wie nun die Zukunft der Gruppe aussieht, lässt sich schwerlich vorhersagen. Obwohl in der musikalischen Entwicklung der Band immer eine gewisse Stringenz zu verzeichnen war, die sich auch durch den Austritt des in einem nicht unerheblichen Maße an allen Kompositionen von Die Mensch-Maschine bis Electric Café beteiligten ehemaligen Mitgliedes Karl Bartos nicht veränderte, wird der im Jahre 2009 erfolgte Ausstieg des 2020 verstorbenen Gründungsmitgliedes Florian Schneider im Hinblick auf neue Musik ungleich schwerer zu kompensieren sein. Gerade sein Wirken hinsichtlich der Implementierung synthetischer Stimmen sowie sein innovativer Geist bezüglich der klanglichen Textur haben zum unverwechselbaren Charakter Kraftwerks beigetragen, so dass möglicherweise der nach der Veröffentlichung von Tour de France Soundtracks 2003 eingeschlagene Kurs, die Pflege, Konservierung und Transformation des Œuvres zur obersten Doktrin zu erklären, die Geschicke auch in Zukunft bestimmen wird, zumal das Alter Ralf Hütters dem Fortbestand der Gruppe biologische Grenzen setzt. Dennoch sind Kraftwerk in ihrer über 50 Jahre andauernden Geschichte bis zuletzt – das hat die Veröffentlichung von 3-D Der Katalog auf eindrucksvolle Art und Weise bestätigt – stets kreativ, handlungs-, aber auch wandlungsfähig geblieben, was nicht von ungefähr zu ihrer mittlerweile unangreifbaren, respektierten und exponierten Stellung innerhalb der Popularmusik geführt hat. Gut möglich also, dass sie auch in Zukunft wieder die Welt mit neuen Klängen bereichern werden.

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Anhang 1 Bibliografie Anz / Walder 1995 techno, hrsg. von Philipp Anz und Patrick Walder, Zürich 1995 Arnold 2009 Thomas Arnold: Kraftwerk und die elektronische Revolution (DVD), New Malden 2009 Bamberg 1989 Heinz Bamberg: Beatmusik: kulturelle Transformation und musikalischer Sound, Pfaffenweiler 1989 Barr 1998 Tim Barr: Kraftwerk, from Düsseldorf to the future (in love), London 1998 Bartos 1998a Karl Bartos in einem Interview mit Albrecht Piltz in: Piltz, Albrecht: Kraftwerk Connection I, in: Keyboards 7/98, Augsburg 1998 Bartos 1998b Karl Bartos in einem Interview mit Albrecht Piltz in: Piltz, Albrecht: Nachgefragt, Kraftwerk Connection, in: Keyboards 9/98, Augsburg 1998 Bartos 2017 Karl Bartos: Der Klang der Maschine. Autobiografie, Köln 2017 Becker 1990 Matthias Becker: Synthesizer von gestern, Augsburg 1990 Becker 1995 Matthias Becker: Synthesizer von gestern vol. 2, Augsburg 1995 von Behren 2004 Karl-Hermann von Behren: Die analogen Hitmaschinen, Tonstudiotechnik – die vergangenen 50 Jahre, Weyhe-Dreye 2004 Behrendsen / Rüsenberg 1978 Peter Behrendsen und Michael Rüsenberg: Je größer der Apparat … Der Synthesizer im Rock und Jazz, in: Rock Session 2, hrsg. von Jörg Gülden und Klaus Humann, Reinbek bei Hamburg 1978 Berendt 2007 Joachim-Ernst Berendt: Das Jazzbuch, Frankfurt am Main 2007

407

Anhang

Betts 2019 Graham Betts (Hrsg.): The Official Albums Charts: The Seventies, London 2019 Blome 1993 Rainer Blome: Vom Moog zu Mozart: Florian Fricke, in: Keyboards 2/93, Augsburg 1993 Boettcher / Hütter 2013 Peter Boettcher und Ralf Hütter: Kraftwerk, Roboter, Kempen 2013 Brewster / Broughton 1999 Bill Brewster und Frank Broughton: Last night a DJ saved my life. The History of the Disc Jockey, London 1999 Buckley 2013 David Buckley: Kraftwerk. Die unautorisierte Biographie, Berlin 2013 Burrows / Miller 2017 Terry Burrows mit Daniel Miller: Mute, Die Geschichte eines Labels, 1978 bis morgen, London 2017 Bussy / Hall 1992 Pascal Bussy und Andy Hall: Das Can Buch, Augsburg 1992 Bussy 1995 Pascal Bussy: Kraftwerk. Synthesizer, Sounds und Samples – Die ungewöhnliche Karriere einer deutschen Band, München 1995 Collins 2009 Nick Collins: Electronica, in: The Oxford Handbook of Computer Music, hrsg. von Roger T. Dean, New York 2009 Cope 1996 Julian Cope: Krautrocksampler – One Head’s Guide To The Grosse Kosmische Musik, Löhrbach 1996 Dedekind 2008 Henning Dedekind: Krautrock. Underground, LSD und kosmische Kuriere, Höfen 2008 Delgado 2017 Gabi Delgado u. a.: Das ist DAF, Deutsch Amerikanische Freundschaft, die autorisierte Biografie, Berlin 2017 Easlea 2018 Daryl Easlea: Without frontiers, the music and life of Peter Gabriel, London 2018 Ehnert 1980 Günther Ehnert (Hrsg.): Hit Bilanz, Hitparaden Langspielplatten 1965–1979, Hamburg 1980

408

1 Bibliografie

Enders 1983 Bernd Enders in: Musikpädagogische Forschung, Band 4: Musikalische Teilkulturen, hrsg. vom Arbeitskreis Musikpädagogische Forschung e. V. (AMPF) durch Werner Klüppelholz, Laaber 1983 Enders 1997 Bernd Enders: Lexikon Musikelektronik, Mainz 1997 Esch 2014 Rüdiger Esch: Electri_City / Elektronische_Musik_aus_Düssel-dorf 1970–1986, Berlin 2014 Eshun 2000 Kodwo Eshun in: Modulations. A history of Electronic Music: Throbbing Words on Sound, hrsg. von Peter Shapiro, New York 2000 Feige 2000 Marcel Feige: Deep in Techno, Die ganze Geschichte des Movements, Berlin 2000 Flür 1998a Wolfgang Flür in einem Interview mit Albrecht Piltz in: Piltz, Albrecht: Nachgefragt, Kraftwerk Connection I, in: Keyboards 7/98, Augsburg 1998 Flür 1998b Wolfgang Flür in einem Interview mit Albrecht Piltz, in: Piltz, Albrecht: Nachgefragt, Kraftwerk Connection, in: Keyboards 9/98, Augsburg 1998 Flür 1999 Wolfgang Flür: Ich war ein Roboter, St. Andrä-Wördern 1999 Flür 2017 Wolfgang Flür: Kraftwerk, I was a robot, London 2017 Fricke 1993 Florian Fricke in einem Interview mit Rainer Blome, in: Blome, Rainer: Vom Moog zu Mozart: Florian Fricke, in: Keyboards 2/93, Augsburg 1993 Frisius 2002 Rudolph Frisius: Das andere Hören. Unsichtbare Musik oder akustische Kunst?, in: Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Band 5: Elektroakustische Musik, Laaber 2002 Fritsche 1984 Ralf-Artur Fritsche: Über den psychologischen, musikalischen, technischen und ökonomischen Aspekt moderner Unterhaltungsmusik, Hamburg 1984 Froese 2017 Edgar Froese: Tangerine Dream, Force Majeure. Die Autobiografie, Berlin 2017

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Anhang

George 2002 Nelson George: R&B. Die Geschichte der schwarzen Musik, Freiburg 2002 Gruber 1994 Gerold W. Gruber: Analyse, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Band 1, Kassel 1994 Hancock 2018 Herbie Hancock: Möglichkeiten, Die Autobiografie, Höfen 2018 Hartman 2012 Kent Hartman: The Wrecking Crew. The inside story of Rock and Roll’s best-kept secret, New York 2012 Hartwich-Wiechell 1974 Dörte Hartwich-Wiechell: Popmusik, Köln 1974 Hellfeier 2006 Wolfgang Hellfeier u. a.: Die Live-Beat-Szene der 60er Jahre in Krefeld. Wer beatet mehr?, Krefeld 2006 Helms 2002 Dietrich Helms: Musikwissenschaftliche Analyse populärer Musik?, in: Musikwissenschaft und populäre Musik: Versuch einer Bestandsaufnahme, hrsg. von Helmut Rösing, Albrecht Schneider und Martin Pfleiderer, Frankfurt am Main 2002 James 1995 Richard D. James im Interview mit Albrecht Piltz in: Keyboards 9/95, Augsburg 1995 Jungk 1971 Klaus Jungk: Musik im technischen Zeitalter. Von der Edison-Walze bis zur Bildplatte, in: Musik im technischen Zeitalter; SFB (Hrsg.), Berlin 1971 Kaiser 1969 Rolf-Ulrich Kaiser: Das Buch der neuen Popmusik, Düsseldorf und Wien 1969 Kempster 1996 Chris Kempster: History of House, London 1996 Keyboards Keyboards (div. Ausgaben), Augsburg Keyboards 05/96 Musikmesse Frankfurt 1996, news und trends, in: Keyboards 05/96, Augsburg 1996 Keyboards 04/98 Musikmesse 1998 – Highlights & Facts, in: Keyboards 04/98, Augsburg 1998

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1 Bibliografie

Klatte 2006 Ulrich Klatte: Cosmic Price Guide to Krautrock records, Hamburg 2006 Koch 2002 Albert Koch: Kraftwerk, Höfen 2002 Krause 1998 Bernie Krause: Into a Wild Sanctuary, A Life in Music & Natural Sound, Berkeley 1998 Maegraith 1969 Michael Maegraith: Mondlandung – Dokumentation der Weltraumfahrt der USA und UdSSR, Stuttgart 1969 Malins 1999 Steve Malins: Depeche Mode, Eine Biografie, Höfen 1999 Mansfield 2013 Joe Mansfield: Beat Box, a Drum Machine Obsession, Malden 2013 Manzarek 1999 Ray Manzarek: Die Doors, Jim Morrison und ich, Höfen 1999 Martin / Hornby 1979 George Martin und Jeremy Hornby: All you need is ears, New York 1979 Massey 2000 Howard Massey: Behind the Glass. Top Record Producer tell how they craft the Hits, San Francisco 2000 Matejovski 2016 Dirk Matejovski: Arbeit am Mythos Kraftwerk: Zur Produktionsästhetik eines intermedialen Konzepts, in: Kraftwerk – Die Mythenmaschine. Konzeption und Ästhetik eines popmusikalischen Gesamtkunstwerks, hrsg. von Dirk Matejovski, Düsseldorf 2016 Mitscherlich 1966 Alexander Mitscherlich, Pubertät und Tradition, in: Ludwig Friedeburg (Hrsg.), Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln und Berlin 1966 Monroe 2014 Alexei Monroe: Laibach und NSK. Die Inquisitionsmaschine im Kreuzverhör, Mainz 2014 Moorefield 2005 Virgil Moorefield: The Producer as Composer. Shaping the Sounds of Popular Music, Cambridge, Massachusetts 2005 Morawska-Büngeler 1988 Marietta Morawska-Büngeler: Schwingende Elektronen, eine Dokumentation über das Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln 1951 – 1986, Köln-Rodenkirchen 1988

411

Anhang

Moskovitz 2006 David Moskovitz: Caribbean Popular Music, An Encyclopedia of Reggae, Mento, Ska, Rock Steady, and Dancehall, London 2006 Nanz 1994 Dieter A. Nanz: Varèse, Edgar, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Band 16, Kassel 1994 NRZ 1969 Neue Rhein Zeitung (NRZ): Eigenen Stil endlich gefunden – Ralf Hütters musikalische Experimente endlich erfolgreich, 24.01.1969, Abbildung in: Wolfgang Hellfeier u. a.: Die Live-Beat-Szene der 60er Jahre in Krefeld. Wer beatet mehr?, Krefeld 2006 Olson / Verna / Wolff 1999 Eric Olson, Paul Verna und Carlo Wolff: The Encyclopaedia of Rock Producers, New York 1999 Overbeck 2006 Peter Overbeck: Die Entwicklung der Tonträgertechnologie, in: Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd 10: Musik und Kulturbetrieb – Medien, Märkte, Institutionen, hrsg. von Arnold Jacobshagen und Frieder Reinighaus, Laaber 2006 di Perna 1991 Alan di Perna: Nitzer Ebb, in: Keyboard 2/91, San Francisco 1991 Piltz / Hauser 1998 Albrecht Piltz und Vivien Hauser: Autechre, Interview mit Sean Both und Rob Brown, in: Keyboards 8/98, Augsburg 1998 Pinch / Trocco 2002 Trevor Pinch und Frank Trocco: analog days, Cambridge, Massachusetts und London 2002 Poschardt 2001 Ulf Poschardt: DJ-Culture: Diskjockeys und Popkultur, Reinbek 2001 Rauhe 1974 Hermann Rauhe: Popularität in der Musik, Karlsruhe 1974 Reynolds 2007 Simon Reynolds: Rip It Up and Start Again, Schmeiss alles hin und fang neu an, Höfen 2007

412

1 Bibliografie

Rubin 2000 Mike Rubin in: Modulations. A history of Electronic Music: Throbbing Words on Sound, hrsg. von Peter Shapiro, New York 2000 Ruschkowski 1998 André Ruschkowski: Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen, Stuttgart 1998 Ryser 2011 Daniel Ryser: Yello, Basel 2011 Sandner 1977 Wolfgang Sandner: Sound & Equipment, in: Rockmusik, Aspekte zur Geschichte, Ästhetik, Produktion, hrsg. von Wolfgang Sandner, Mainz 1977 Schneede 2001 Uwe M. Schneede: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert, München 2001 Schneider 1975 Florian Schneider in einem Interview mit Bravo in: Bravo Nr. 42/1975, München 1975 Schneider-Esleben 2020 Claudia Schneider-Esleben in einem Interview mit Gerrit Terstiege in: Mint, Magazin für Vinyl-Kultur, 11/20, Dortmund 2020 Schober 1979 Ingeborg Schober: Tanz der Lemminge, Reinbek 1979 Schröder 2012 Daniel Schröder: Der Komponist Frank Zappa – Über die Aktualität der »Neuen Musik«, Darmstadt 2012 Schütte 2018 Mensch – Maschinen – Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk, hrsg. von Uwe Schütte, Düsseldorf 2018 Schulze 1997 Klaus Schulze in einem Interview mit Albrecht Piltz, in: Piltz, Albrecht: Das Klaus Schulze Interview [Teil 2], in: Keyboards 1/97, Augsburg 1997 Schwinn 1986 Michael Schwinn: Klaus Schulze – … eine musikalische Gratwanderung, Neustadt 1986 Segrave 1994 Kenny Segrave: Payola in the Music Industry. A History, 1880–1991, North Carolina und London 1994 Simmeth 2016 Alexander Simmeth: Krautrock Transnational, Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD 1968–1978, Bielefeld 2016

413

Anhang

Smucker 1992 Tom Smucker: Disco, in: The Rolling Stone Illustrated History of Rock ’n’ Roll, hrsg. von Jim Miller, London 1992 Smudits 2003 Alfred Smudits: A Journey into Sound, in: Pop Sounds. Klangtexturen in der Popund Rockmusik, hrsg. von Thomas Phelps und Ralf von Appen, Bielefeld 2003 Sontheimer / Bleek 2002 Kurt Sontheimer und Wilhelm Bleek, Grundzüge des politischen Systems Deutschlands, München 2002 Sounds 1979 Sounds, Plattenkritiken 66–77, Hamburg 1979 Stahl 2018 Enno Stahl: Das Rose Xeon DX-3100 ist schöner als die Nike von Samothrake, in: Mensch – Maschinen – Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk, hrsg. von Uwe Schütte, Düsseldorf 2018 Stockhausen 1963 Karlheinz Stockhausen: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Band 1, Köln 1963 Stump 1997 Paul Stump: Digital Gothic, a critical discography of Tangerine Dream, Wembley 1997 Szulerecki / Sunderkötter 2001 Jan Szulerecki und Jörg Sunderkötter: Mirwais Ahmadzai, in: Keyboards 01/01, Augsburg 2001 Tamm 1995 Eric Tamm: Brian Eno, His Music and the vertical color of sound, Boston 1995 Terstiege 2020 Gerrit Terstiege in: Mint, Magazin für Vinyl-Kultur, 11/20, Dortmund 2020 Toffler 1980 Alvin Toffler: Die dritte Welle. Zukunftschance. Perspektiven für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, München 1980 Toop 1994 David Toop: Rap Attack, African Jive bis Global Hip Hop, München 1994 Tomkins 2010 Dave Tomkins: How to Wreck a Nice Beach. The Vocoder from World War II to Hip-Hop. The Machine speaks, Chicago 2010

414

1 Bibliografie

Uhrmacher 2018 Jost Uhrmacher: Von Expo2000 zu »Planet of Visions«, in: Mensch – Maschinen – Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk, hrsg. von Uwe Schütte, Düsseldorf 2018 Ungeheuer 1992 Elena Ungeheuer: Wie die elektronische Musik »erfunden« wurde …, Mainz 1992 Ungeheuer 1996 Elena Ungeheuer: Entwicklungsgestalten und statistische Form: Werner Meyer-Eppler und die elektronische Musik der fünfziger Jahre, Feedback-Papers Nr. 41, Köln 1996 Vail 2000 Mark Vail: Vintage Synthesizers, San Francisco 2000 Voss 1978 Werner Voss: Der Satellit aus der 4-Spur-Bandmaschine. Joe Meek und sein R. G.M. Sound, in: Rock Session 2, hrsg. von Jörg Gülden und Klaus Humann, Reinbek bei Hamburg 1978 Waehnfeldt 1995 Johannes Waehnfeldt: Digidesign Pro Tools III, in: Keyboards 06/95, Augsburg 1995 Wagner 2013 Christoph Wagner: Der Klang der Revolte / Die magischen Jahre des westdeutschen Musikundergrounds, Mainz 2013 Warner 2003 Timothy Warner: Pop Music – Technology and Creativity: Trevor Horn and the Digital Revolution, Aldershot 2003 Wilke 1997 Ralf Wilke: Musikmesse ’97, Trends & Highlights, in: Keyboards 04/97, Augsburg 1997 Wicke 1998 Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Leipzig 1998 Wicke / Ziegenrücker 2001 Peter Wicke und Wieland & Kai-Erik Ziegenrücker: Handbuch der populären Musik, (Ohne Ort) 2001 Wicke 2001 Peter Wicke: Klang-Figurationen und Sound-Technologien, in: Rock-und Popmusik, Laaber 2001 Wicke 2002 Peter Wicke: Popmusik in der Theorie, in: Musikwissenschaft und populäre Musik: Versuch einer Bestandsaufnahme, hrsg. von Helmut Rösing, Albrecht Schneider und Martin Pfleiderer, Frankfurt am Main 2002

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Anhang

Wicke / Ziegenrücker 2007 Peter Wicke und Wieland & Kai-Erik Ziegenrücker: Handbuch der populären Musik, Mainz 2007 Wicke 2011 Peter Wicke: Rock und Pop. Von Elvis bis Lady Gaga, München 2011 Williams 2003 Richards Williams: Phil Spector, Out of his Head, London 2003 Young / Schmidt 2018 Rob Young und Irmin Schmidt: All gates open. The Story of Can, London 2018 von Zahn 2006 Rolf von Zahn: Energien / Synergien 6: von Zahn / Czukay, Liebezeit, Schmidt: Can, Köln 2006

2 Internetquellen 5:4: Kraftwerk: a remastered retrospective, 08.11.2009, http://5against4.com/2009/11/08/ kraftwerk-a-remastered-retrospective/ (abgerufen am: 10.03.2021) 909originals: »When you feel it, it wraps itself around you …« Frankie Knuckles on the devastating impact of the Roland TR-909, 09.09.2019, https://909originals.com/2019/09/09/whenyou-feel-it-it-wraps-itself-around-you-frankie-knuckles-on-the-devastating-im pact-of-the-roland-tr-909/ (abgerufen am: 22.11.2020) Aicher, Richard: Pro 16 MIDI Sequenzer Software für Commodore 64 von Steinberg Research, April 1985, http://www.richard-aicher.de/html/pro16_sequenzer.html (abgerufen am: 10.12.2020) aktivitaet-fanzine.com: KLING KLANG: THE ELECTRONIC GARDEN, http://www. aktivitaet-fanzine.com/10_kk0.html (abgerufen am: 15.02.2021) amazon.de: Der Klang der Maschine: Autobiografie, https://www.amazon.de/product-re views/3847906178/ref=acr_dp_hist_1?ie=UTF8&filterByStar=one_star&reviewer Type=all_reviews#reviews-filter-bar (abgerufen am: 20.10.2020) von Appen, Ralf: Konkrete Pop-Musik. Zum Einfluss Stockhausens und Schaeffers auf Björk, Matthew Herbert und Matmos, in: Samples. Notizen, Projekte und Kurzbeiträge zur Popularmusikforschung. 2. 2003, http://www.aspm-samples.de/Samples2/vappenp.pdf (abgerufen am: 06.02.2021)

416

2 Internetquellen

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417

Anhang

Billboard Hot 100: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Billboard_Hot_100_numberone_singles_of_1973 (abgerufen am: 19.11.2016) Bloderer, Theo: Dieter Doepfer – Schöpfer des A-100 Modular Systems, in: greatsynthesizers. com, 29.10.2013, https://greatsynthesizers.com/allgemein/interview/dieter-doepferschoepfer-des-a100-modular-systems/ (abgerufen am: 12.02.2021) Bloderer, Theo: Roland JD-800 – der beste digitale Flächen-Synthesizer?, in: greatsynthesizers. com, 31.05.2015, https://greatsynthesizers.com/testberichte/roland-jd-800-der-bestedigitale-flaechen-synthesizer/ (abgerufen am: 24.01.2021) Boenisch, Peter M.: Trevor Horn: »Straßenbau macht mir Spaß«, in: Der Spiegel, 26.09.2000, https://www.spiegel.de/kultur/musik/musikproduzent-trevor-horn-strassenbaumacht-mir-einen-riesenspass-a-94298.html (abgerufen am: 15.02.2021) Boenisch, Peter M.: Erfolgsproduzent Trevor Horn: »Man kann nicht einfach zurückgehen«, in: Der Spiegel, 04.10.2000, https://www.spiegel.de/kultur/musik/erfolgsproduzent-trevor-hornman-kann-nicht-einfach-zurueckgehen-a-96379.html (abgerufen am: 04.11.2020) Borden, David: Robert Moog and David Borden, http://mothermallard.com/Robert_ Moog_%26_David_Borden.html (abgerufen am: 06.02.2021) Bowie, David: Bowie on Kraftwerk and his Florian tribute, https://www.davidbowie.com/ blog/2020/5/6/bowie-on-kraftwerk-and-his-florian-tribute (abgerufen am: 02.02.2021) Brewster, Bill und Broughton, Frank: Interview: Derrick May (August 2004), in: Red Bull Music Academy, 22.05.2014, https://daily.redbullmusicacademy.com/2017/05/interviewderrick-may (abgerufen am: 20.08.2020) Brockhaus, Immanuel: Boris Blank Swiss Sound &  Sampling Pioneer, 2015, https://www. youtube.com/watch?v=ePqnuupexfM (abgerufen am: 10.11.2020) Brockman, Jane: The First Electronic Filmscore-Forbidden Planet: A Conversation with Bebe Barron, in: The Score: the Society of Composers & Lyricists, Vol. VII, No. 3, 1992, https:// www.effectrode.com/knowledge-base/the-first-electronic-filmscore-forbidden-pla net-a-conversation-with-bebe-barron/ (abgerufen am: 07.02.2021) Broughton, Frank: Frankie Knuckles im Interview mit Frank Broughton (February 1995), in: Red Bull Music Academy, 21.02.2018, https://daily.redbullmusicacademy.com/2018/02/ frankie-knuckles-1995-interview (abgerufen am: 16.02.2021) Buskin, Richard: Donna Summer ›I Feel Love‹ | Classic Tracks, in: Sound On Sound 10/2009, https://www.soundonsound.com/people/donna-summer-i-feel-love-classic-tracks (abgerufen am: 08.02.2018) BVMI: Depeche Mode mit Weltpremiere beim ECHO, 2009, https://web.archive.org/ web/20140819082648/http://www.musikindustrie.de/presse_aktuell_einzel/back/82/ (abgerufen am: 20.02.2021) BVMI: RICHTLINIEN FÜR DIE VERLEIHUNG VON GOLD / PLATIN AUSZEICHNUNGEN, 01.06.2016, https://www.musikindustrie.de/fileadmin/bvmi/up

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Anhang

3 Diskografie

Kraftwerk Im Folgenden werden nur die Studio- und Live-Alben sowie die wichtigsten deutschen und internationalen Single-Veröffentlichungen von Kraftwerk aufgelistet, welche für das Thema dieser Arbeit musikalisch relevant sind, wobei die Titel der jeweiligen internationalen Versionen in Klammern gesetzt sind. Darüber hinaus gibt es eine schier unüberschaubare Fülle an Bootlegs, Special-Editions sowie Compilation- und Single-Veröffentlichungen, die, musikalisch kaum voneinander abweichend, sich primär durch divergierende Titelzusammen-stellungen und Cover unterscheiden und daher vor allem für Sammler interessant sein dürften. Da die vollständige Auflistung aller Veröffentlichungen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, sei zur Vertiefung auf die Internetseite https:// twingokraftwerk.com/discographymirror/01/discog.htm verwiesen, auf der dieser Aufgabe mit viel Akribie und Sorgfalt nachgegangen wurde. Studio-Alben Kraftwerk, Philips: 1970 Kraftwerk 2, Philips: 1972 Ralf und Florian, Philips: 1973 Autobahn, Philips: 1974 Radio-Aktivität (Radioactivity), Kling Klang / EMI / Capitol: 1975 Trans Europa Express (Trans Europe Express), Kling Klang / EMI / Capitol: 1977 Für den französischen Markt gab es eine französischsprachige Version von »Schaufensterpuppen« mit dem Titel »Les Mannequins«. Die Mensch-Maschine (The Man-Machine), Kling Klang / EMI / Capitol: 1978 Computerwelt (Computerworld), Kling Klang / EMI / Elektra: 1981 Für den japanischen Markt gab es eine japanischsprachige Version von »Taschenrechner« mit dem Titel »Dentaku«. Für den französischen Markt gab es eine französischsprachige Version von »Taschenrechner« mit dem Titel »Mini Calculateur«. Electric Café, Kling Klang / EMI / Elektra: 1986 Für den spanischen Markt gab es eine spanischsprachige Version von »Sex Objekt« mit dem Titel »Objeto Sexual«. The Mix, Kling Klang / EMI / Elektra: 1991 Tour de France Soundtracks, Kling Klang / EMI: 2003

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3 Diskografie

Live-Alben Minimum-Maximum, Kling Klang / EMI: 2005 3-D Der Katalog (3-D The Catalogue), Kling Klang / Parlophone: 2017

EPs Expo Remix, Kling Klang / EMI / Astralwerks: 2000

Singles »Kohoutek-Kometenmelodie«, Philips: 1973 »Autobahn«, Philips: 1975 »Kometenmelodie 1«, Philips: 1975 »Radio-Aktivität« (»Radio-Activity«), Kling Klang / EMI / Capitol: 1976 »Trans Europa Express« (»Trans Europe Express«), Kling Klang / EMI / Capitol: 1977 »Die Roboter« (»The Robots«), Kling Klang / EMI / Capitol: 1978 »Das Modell« (»The Model«), Kling Klang / EMI / Capitol: 1978 »Kometenmelodie 2«, Vertigo / Phonogram: 1981 »Taschenrechner« (Pocket Calculator), Kling Klang / EMI: 1981 »Computerworld« (B-Seite: »The Model), UK, Kling Klang / EMI: 1981 »Das Modell« (»The Model«), Kling Klang / EMI: 1981 »Tour de France«: Kling Klang / EMI: 1983 »Tour de France« (Remix): Kling Klang / EMI: 1984 »Musique Non-Stop«: Kling Klang / EMI: 1986 »Der Telefon Anruf« (»The Telephone Call«): Kling Klang / EMI: 1987 »Die Roboter« (»The Robots«: Kling Klang / EMI: 1991 »Radioaktivität« (»Radioactivity«): Kling Klang / EMI: 1991 »Tour de France«: Kling Klang / EMI: 1999 »Expo 2000«: Kling Klang / EMI: 1999 »Tour de France 2003«: Kling Klang / EMI: 2003 »Aerodynamik«: Kling Klang / EMI: 2004 »Aerodynamik«: Kling Klang / EMI: 2007

Boxsets / Kompilationen Der Katalog (The Catalogue), Kling Klang / EMI: 2009 Remixes, Kling Klang / Parlophone: 2020

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Tonträger anderer Musiker und Musikgruppen ABC The Lexicon of Love, Neutron: 1982 Afrika Bambaataa and the Soulsonic force »Planet Rock«, Tommy Boy: 1982 Agitation Free Malesch, Vertigo: 1972 AIR Moon Safari, Source / Virgin: 1998 Alphaville Forever Young, Warner: 1984 Amon Düül Psychedelic Underground, Metronome: 1969 Amon Düül II Phallus Dei, Liberty / Repertoire: 1969 Yeti, Liberty / Repertoire: 1970 Tanz der Lemminge, Liberty: 1971 Aphex Twin Selected Ambient Works 85–92, Apollo / R&S: 1992 Selected Ambient Works Volume II, Warp / Sire: 1994 … I Care Because You Do, Warp: 1995 Richard D. James Album, Warp: 1996 Drukqs, Warp: 2001 The Art of noise Into Battle with the Art of Noise, Island / ZTT: 1983 Who’s Afraid of the Art of Noise?, Island / ZTT: 1984 Ash ra Tempel Ash Ra Tempel, Ohr: 1971 Schwingungen, Ohr: 1972 Autechre Incunabula, Warp: 1993 Amber, Warp: 1994 Tri Repetae, Warp: 1995 Chiastic Slide, Warp: 1997 Babe Ruth »The Mexican« auf First Base, Harvest: 1972

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3 Diskografie

Banks, Mike (Underground Resistance) X-102 – Discovers The Rings Of Saturn, Tresor: 1992 Beach Boys »Fun, Fun, Fun«, Capitol: 1964 Beach Boys’ Party!, Capitol: 1965 »Good Vibrations«, Capitol: 1966 Pet Sounds, Capitol: 1966 The Beatles Rubber Soul, Parlophone / Capitol / EMI / Universal: 1965 Revolver, Parlophone / Capitol / EMI / Universal: 1966 Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, Parlophone / Capitol / EMI / Universal: 1967 Abbey Road, Apple / EMI / Universal: 1969 Let It Be, Apple / EMI / Universal: 1970 Beaver & Krause In a Wild Sanctuary, Warner Bros.: 1970 Bee Gees Saturday Night Fever, RSO / Polydor / Reprise: 1977 Biz Markie »Alone Again« auf I Need a Haircut, Cold Chillin’ / Warner Bros.: 1991 Blondie Blondie, Private Stock / Chrysalis: 1976 Parallel Lines, Chrysalis: 1978 Boards of Canada »Into the Rainbow Vein« auf The Campfire Headphase, Warp: 2005 »Smokes Quantity« und »1986 Summer Fire« auf Twoism, Music70: 1995. Bomb the Bass »Beat Dis«, Mister-Ron: 1987 Bowie, David The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars, RCA: 1972 Station to Station, RCA: 1976 Low RCA: 1977 Heroes, RCA: 1977 Peter Brötzmann Oktett Machine Gun: BRÖ: 1968 The Buggles »Video Killed the Radio Star«, Island: 1979 The Age of Plastic, Island: 1980 Bush, Kate Never for Ever, EMI: 1980

435

Anhang

The Byrds The Notorious Byrd Brothers, Columbia: 1968 Cabaret Voltaire 1974 – 1976, (MC) Industrial: 1978 Mix-Up, Rough Trade: 1979 Can Monster Movie, Music Factory / Liberty: 1969 Soundtracks, Liberty / United Artists: 1970 Tago Mago, United Artists: 1971 Ege Bamyası, United Artists: 1972 Captain Sky »Super Sporm«, Dynamic Sounds: 1978 Carlos, Walter Switched-On Bach, Columbia Masterworks: 1968 The Cars The Cars, Elektra: 1978 Chaka Khan »I’m Every Woman«, Warner Bros.: 1978 »Ain’t Nobody«, Warner Bros.: 1983 The Chemical Brothers »Leave home« auf Exit Planet Dust, Junior Boy’s Own/Freestyle Dust / Virgin / Astralwerks: 1995 Chicory Tip »Son Of My Father«, CBS: 1972 The Chiffons »He’s So Fine«, Laurie: 1963 The Clash The Clash: CBS: 1977 Coldplay »Talk« auf X&Y, Parlophone: 2005 Cybotron Enter, Fantasy: 1983 »Techno City«, Fantasy: 1984 Czukay, Holger Canaxis 5, Music Factory: 1969

436

3 Diskografie

DAF Produkt der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft, Warning: 1979 Die Kleinen und die Bösen, Mute: 1980 Alles ist gut, Virgin: 1981 Gold und Liebe, Virgin: 1981 Für immer, Virgin: 1982 Daft Punk »Around the World«, Virgin: 1997 Discovery, Virgin: 2001 Davis, Richard »Methane Sea«, Deep Sea: 1978 Depeche Mode Speak & Spell, Mute: 1981 A Broken Frame, Mute: 1982 Construction Time Again, Mute: 1983 Some Great Reward, Mute: 1984 Black Celebration, Mute: 1986 Devo Q: Are We Not Men? A: We Are Devo!, Warner Bros./Virgin: 1978 Dodd, Clement »Coxsone« Musical Fever 1967–1968, Trojan: 1989 Dollar The Dollar Album, WEA: 1982 Dolph, Norman Switched-On Rock, Columbia: 1969 The Doors The Doors, Elektra: 1967 Strange Days, Elektra: 1967 Waiting for the Sun, Elektra: 1968 L. A. Woman, Elektra: 1971 Duke Reid Gems From Treasure Isle – 1966–1968, Trojan: 1982 Electric Samurai Switched On Rock, CBS: 1972 Embryo Opal, Ohr: 1970

437

Anhang

Emerson, Lake & Palmer Emerson, Lake & Palmer, Island / Manticore / Atlantic: 1970 Tarkus, Island / Cotillion: 1971 Pictures at an Exhibition, Island / Manticore / Atlantic: 1971 Trilogy, Island / Manticore / Cotillion / Atlantic: 1972 Eno, Brian Another Green World, Island: 1975 Discreet Music, Island: 1975 Ambient 1: Music for Airports, Polydor: 1978 Faust Faust, Polydor: 1971 So Far, Polydor: 1972 The Fearless Four »Rockin’ It«, New York Connexion: 1982 First Moog Quartet First Moog Quartet, Audio Fidelity: 1970 Floh de cologne Vietnam, Ohr: 1968 Foxx, John Metamatic, Virgin: 1980 Frankie Goes to Hollywood Welcome to the Pleasuredome, Island / ZTT: 1984 Front 242 Geography, New Dance: 1982 No Comment, Another Side: 1984 Funk, Farley »Jackmaster« und Saunders, Jesse »Love Can’t Turn Around«, Jessay / London: 1986 Funkadelic Funkadelic, Westbound: 1970 Gabriel, Peter Melt (unbetitelt), Charisma / Geffen / Mercury: 1980 »Sledgehammer« auf So, Charisma / Geffen: 1986 Genesis Selling England by the Pound, Charisma / Atlantic Records: 1973 The Lamb Lies Down on Broadway, Charisma / Atlantic Records: 1974

438

3 Diskografie

Gibb, Robin »Saved By The Bell«, Polydor / Atco / Spin: 1969 Giorgio »Son Of My Father« auf Son Of My Father, Hansa: 1972 Grandmaster Flash & The Furious Five The Message, Sugar Hill: 1982 The Grateful Dead The Grateful Dead, Warner Bros.: 1967 Anthem of the Sun, Warner Bros.: 1968 Aoxomoxoa, Warner Bros.: 1969 Haack, Bruce Electric Lucifer, CBS: 1970 Hammer, Jan »Miami Vice Theme« auf: Miami Vice, MCA: 1985 Hampel, Gunter The 8th of July 1969, Birth / Flying Dutchman: 1969 Hancock, Herbie »Rockit«, Columbia: 1983 Harold Melvin & the Blue Notes »The Love I Lost«, Philadelphia International: 1973 Harrison, George Electronic Sound, Zapple: 1969 »My Sweet Lord«, Apple: 1970 Heaven 17 Penthouse and Pavement, Virgin: 1981 »Let Me Go«, Virgin: 1982 The Luxury Gap, Virgin: 1983 The Jimi Hendrix Experience Are You experienced, Track: 1967 Axis: Bold as Love, Track: 1967 Electric Ladyland, Reprise: 1968 Hot Butter »Popcorn«, Interfusion / Musicor: 1972 The Hues Corporation »Rock the Boat«, RCA: 1974 The Human League »Being Boiled«, Fast Product: 1978

439

Anhang

Reproduction, Virgin: 1979 Travelogue, Virgin: 1980 Dare!, Virgin: 1981 Jackson, Janet »Nasty« auf Control, A&M: 1986 Jackson, Michael Thriller, Epic: 1982 »Bad« auf Bad, Epic / CBS: 1987 Jarre, Jean-Michel Oxygène, Disques Dreyfus / Polydor: 1976 Équinoxe, Disques Dreyfus: 1978 Les Chants Magnétiques / Magnetic Fields, Disques Dreyfus: 1981 Zoolook, Disques Dreyfus / Polydor: 1984 Jawsh 685 und Derulo, Jason »Savage Love«, Columbia 2020 King crimson In the Court of the Crimson King, Island: 1969 Kingsley, Gershon Music to Moog By, Audio Fidelity: 1969 Kingsley, Gershon und Hambro, Leonid Switched-On Gershwin, Avco: 1972 Klein & M. B. O. »Dirty Talk«, 25 West: 1982 The KLF Chill Out, KLF Communications: 1990 The White Room, KLF Communications: 1991 Kluster Klopfzeichen, Schwann: 1970 Zwei-Osterei, Schwann: 1971 Kraan Kraan, Spiegelei: 1972 Die Krupps Stahlwerksynfonie, Zickzack: 1981 Volle Kraft voraus!, WEA: 1982

440

3 Diskografie

Led Zeppelin Led Zeppelin, Atlantic: 1969 Led Zeppelin II, Atlantic: 1969 Led Zeppelin III, Atlantic: 1970 Led Zeppelin IV (unbetitelt), Atlantic: 1971 Ligeti, György Kammerkonzert / Ramifications / Lux Aeterna / Atmosphères, Sinfonie-Orchester des Südwestfunks Baden-Baden (Ltg.: Ernest Bour), aufgenommen 1966, Wergo: 1993 Zehn Stücke f. Bläserquintett, Continuum f. Cembalo; Orgeletüden Nr. 1 & 2; Volumina f. Orgel; Artikulation; Glissandi, SWF Bläserquintett, Karl-Erik Welin, ­Antoinette Vischer, Szigmond Szathmáry, Elektronik-Studio des WDR, Wergo: 1988 Madness One Step Beyond …, Stiff: 1979 Madonna »Vogue«, Sire / Warner Bros.: 1990 Ray of Light, Maverick / Warner Bros.: 1998 Music, Maverick / Warner Bros.: 2000 M/A/R/R/S »Pump Up the Volume«, 4AD / 4th & B’way / Island / PolyGram: 1987 May, Derrick & Rushton, Neil Techno! The New Dance Sound of Detroit, Virgin: 1988 Meek, Joe & The Blue Boys I Hear a New World – An Outer Space Fantasy, Triumph TRX-ST9000: 1960 Mills, Jeff Waveform Transmission Vol. 1, Tresor: 1992 Model 500 »No UFO’s«, Metroplex: 1985 »Night Drive (Thru Babylon)«, Metroplex: 1985 The Monkees »Star Collector« auf Pisces, Aquarius, Capricorn & Jones Ltd., Colgems: 1967 Moroder, Giorgio Einzelgänger, Oasis: 1975 From Here to Eternity, Oasis / Casablanca: 1977 Love’s in You, Love’s in Me: Casablanca: 1978 E=MC2, Oasis / Casablanca: 1979

441

Anhang

Mother Mallard’s Portable Masterpiece Company Mother Mallard's Portable Masterpiece Co., Earthquack: 1973 1970–1973, Cuneiform: 1998 Neu! Neu!, Brain: 1972 Neu! 2, Brain: 1973 Newcleus »Automan«, Sunnyview: 1984 New Order »Blue Monday«, Factory / Tonpress: 1983 Nick Straker Band »A Little Bit Of Jazz«, CBS / Prelude: 1980 The Normal »T.V.O.D.« / »Warm Leatherette«, Mute: 1978 Numan, Gary The Pleasure Principle, Beggars Banquet / Atco: 1979 NYC Peech Boys »Don’t Make Me Wait«, West End: 1982 Life is Something Special, Island: 1983 The O’Jays »Love Train«, Philadelphia International: 1972 Oldfield, Mike Tubular Bells, Virgin: 1973 Orchestral Manoeuvres in the Dark (OMD) Orchestral Manoeuvres in the Dark, Dindisc: 1980 Organisation, Dindisc: 1980 Architecture & Morality, Dindisc: 1981 Dazzle Ships, Telegraph: 1983 Organisation Tone Float, RCA: 1970 O’Sullivan, Gilbert »Alone Again (Naturally)«, MAM:1972 Parliament Osmium, Invictus: 1970

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3 Diskografie

Paul, Billy »Me and Mrs. Jones«, Philadelphia International: 1972 Paul, Les & Ford, Mary »How High the Moon«, Capitol: 1951 Perrey, Jean-Jacques und Kingsley, Gershon The In Sound from Way Out!, Vanguard: 1966 Kaleidoscopic Vibrations: Electronic Pop Music From Way Out, Vanguard: 1967 Perrey, Jean-Jacques The Amazing New Electronic Pop Sound of Jean-Jacques Perrey, Vanguard: 1968 The Happy Moog, Pickwick: 1968 Moog Indigo, Vanguard: 1970 Peter Thomas Sound Orchestra Raumpatrouille – Original-Soundtrack aus der 7-teiligen Fernseh-Serie der BAVARIA, Fontana: 1966 Pet Shop Boys Please, Parlophone / EMI: 1986 Phuture »Acid Tracks«, Trax: 1987 Pink Floyd The Piper at the Gates of Dawn: Columbia: 1967 A Saucerful of Secrets: Columbia: 1968 »Careful with That Axe, Eugene« (B-Seite der Single »Point Me at the Sky«), Columbia / Capitol: 1968 Ummagumma: Harvest: 1969 Atom Heart Mother: Harvest: 1970 The Dark Side of the Moon: Harvest: 1973 The Police Outlandos d’Amour, A&M: 1978 Popol vuh Affenstunde, Liberty: 1970 In den Gärten Pharaos, Pilz: 1971 Hosianna Mantra, Pilz: 1972 Powerline »Double Journey«, Prelude: 1981 The Prodigy Experience, XL: 1992 Music for the Jilted Generation, XL: 1994

443

Anhang

The Ramones Ramones, Sire: 1976 Rare Essence »Disco Fever«, Atlantic: 1978 Redding, Otis Otis Blue / Otis Redding Sings Soul, Volt: 1965 Rheingold Rheingold, EMI: 1980 Riley, Terry »In C«, Columbia: 1968 The Ronettes »Be my Baby«, Philles 1963 Sala, Oskar »Electronic Virtuosity For Selected Sound«, Selected Sound: 1969 »Subharmonische Mixturen«, Erdenklang: 1997 Saunders, Jesse »On and On«, Jes Say: 1984 Schulze, Klaus Irrlicht, Ohr: 1972 Timewind, Brain: 1975 Moondawn, Brain: 1976 Setlur, Sabrina »Nur mir« auf Die neue S-Klasse, Pelham Power Productions / Epic: 1997 S’Express »Theme From S’Express«, Rhythm King / Capitol: 1988 Silicon Teens »Memphis Tennessee«, Mute: 1979 Music for Parties, Mute: 1980 Singh, Charanjit Synthesizing: Ten Ragas to a Disco Beat, Sa Re Ga Ma / Bombay Connection: 1982 Skatt Brothers »Walk the Night«, Casablanca: 1979 Sly & the Familiy Stone »Family Affair« auf There’s a Riot Goin’ On, Epic: 1971 Soft Cell Non-Stop Erotic Cabaret, Some Bizzare: 1981

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3 Diskografie

Space »Magic Fly«, Hansa International: 1977 Spandau Ballet Journeys to Glory, Chrysalis: 1981 Stock, Aitken, Waterman »Roadblock«, A&M: 1987 Stockhausen, Karlheinz Stockhausen Edition no. 3 (»Etude«, »Studie I and II«, »Gesang der Jünglinge«, »Kontakte«), Stockhausen-Verlag: 1992 Stockhausen Edition no. 8 (»Mixtur«) Stockhausen-Verlag Stockhausen Edition no. 9 (»Mikrophonie I«, »Mikrophonie II«, »Telemusik«), Stockhausen-Verlag Stockhausen Edition no. 13 (»Kurzwellen«), Stockhausen-Verlag Stockhausen Edition no. 18 (»Sternklang«), Stockhausen-Verlag The Stranglers Rattus Norvegicus, United Artists: 1977 Subotnick, Morton Silver Apples of the Moon, Nonesuch / Electra: 1967 Summer, Donna »Love to Love You Baby«, Oasis / GTO: 1975 »I Feel Love«, Casablanca: 1977 Sylvester »You Make Me Feel (Mighty Real)«, Fantasy: 1978 Sy Mann und Perrey, Jean-Jacques Switched On Santa, Pickwick/33 Records: 1969 Talking Heads Talking Heads: 77, Sire: 1977 Tangerine Dream Electronic Meditation, Ohr: 1970 Alpha Centauri, Ohr: 1971 Zeit, Ohr: 1972 Atem, Ohr: 1973 Phaedra, Virgin: 1974 Rubycon, Virgin: 1975 Ricochet, Virgin: 1975 Cyclone, Virgin: 1978 Green Desert, Jive Electro: 1986

445

Anhang

Throbbing Gristle The Second Annual Report, Industrial: 1977 D.o.A: The Third and Final Report, Industrial: 1978 20 Jazz Funk Greats, Industrial: 1979 The First Annual Report, (Bootleg) Yeaah!/Thirsty Ear: 2001 Tomita, Isao Snowflakes Are Dancing, RCA:1974 Pictures at an Exhibition, RCA: 1975 ton steine Scherben Warum geht es mir so dreckig?, David Volksmund Produktion: 1971 Keine Macht für Niemand, David Volksmund Produktion: 1972 The Tornados »Telstar«, Decca / London: 1962 Toto »Africa«, Columbia: 1982 Trio »Da, Da, Da«, Mercury: 1982 Tubeway Army Tubeway Army, Beggars Banquet: 1978 Replicas, Beggars Banquet / Atco: 1979 Turner, Ike & Tina »River Deep – Mountain High«, Philles: 1966 Two Tons o’ Fun »I Got the Feeling«, Fantasy Honey: 1980 Ultravox! Ultravox!, Island: 1977 Ha!-Ha!-Ha!, Island: 1977 Systems of Romance, Island: 1978 Vienna, Chrysalis: 1980 Underground Repairs Conga Attack, UR: 1996 Underground Resistance »Your Time Is Up« w / Yolanda, UR: 1990 X-101 : X-101, Tresor: 1991 Vandross, Luther Never Too Much, Epic: 1981

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3 Diskografie

The Velvet underground The Velvet Underground & Nico, Polydor: 1967 White Light / White Heat, Verve: 1968 The Velvet Underground, MGM / Verve: 1969 Loaded, Atlantic: 1970 Visage Visage, Polygram 1980 White Noise An Electric Storm, Island: 1969 Yamo Time Pie, EMI: 1996 Yello Solid Pleasure, Ralph / Do It / Mercury: 1980 Claro Que Si, Ralph / Do It / Mercury: 1981 You Gotta Say Yes to Another Excess, Stiff / Elektra: 1983 »Oh Yeah« auf Stella, Vertigo / Elektra / Mercury: 1985 Yellow Magic Orchestra »Computer Games«, Horizon: 1979 Yes »Owner of a Lonely Heart« auf 90125, Atco: 1983 The Zodiac Cosmic Sounds, Elektra: 1967

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Danksagung Diese Arbeit wäre undenkbar gewesen ohne die unermüdliche Betreuung durch Herrn Prof. Dr. Michael Heinemann – sei es durch Hilfestellungen, Anregungen oder schlicht der Tatsache, sich für meine zahlreichen, manchmal auch noch so kleinteiligen Anliegen immer Zeit genommen zu haben und diese klug und geduldig zu beantworten. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken. Ebenfalls danke ich Herrn Prof. Dr. Martin Lücke, der sich bereit erklärte, diese Arbeit als Zweitgutachter in Augenschein zu nehmen. Einen wichtigen Beitrag in Form von Hintergrundinformationen, Korrekturen und dem Austausch von Gedanken leisteten ferner Peter Baumann, Bernd Gössling, Richard Kay, Peter Leunig (†), Dirk Matten, Ludwig Rehberg, Klaus Röder, Malte Rogacki, Michael Rother, Daniel Schröder, Hartwig Schierbaum sowie Hans-Joachim Wiechers, denen hiermit ebenfalls dankend gedacht werden soll. Gedankt werden soll an dieser Stelle auch meinen Eltern Hermann (†) und Renate Brocker, deren Unterstützung diese Arbeit überhaupt auf den Weg bringen konnte, weswegen ich sie ihnen widmen möchte. Zuletzt – aber doch vor allen anderen – danke ich meiner Freundin Marilli.

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