Kraft der Alterität: Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen [1. Aufl.] 9783839423554

Dieser Band versammelt Texte im Kontext von Sprechen und Handeln, Performativität und Medialität, die Sprache, Stimme, G

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German Pages 254 Year 2015

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Kraft der Alterität: Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen [1. Aufl.]
 9783839423554

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Performativität, Ethik, Gewalt
» … die Einladung, Widersprüchliches zu ertragen … « Schlaglichter auf den performative turn in Philosophie und Theater/wissenschaft
leben im prozess. Zwischen Performativität und Performance
Ethik der Performativität
Performativität und Gewalt. Überlegungen zur ethischen Dimension des Performativen
Vom Anderen her
Ethik des Bedeutens nach Emmanuel Levinas
Das Be-Deuten des Anderen
Kraft der Toten oder die Melancholie nach Freud
Ästhetik des Alteritären
Was tun die Experten der Praxis? Zum politischen Status der Kunstrezeption nach Benjamin, Habermas und Seel
Pathos des Schauspielers. Dreimal Chaplin
Hören, Berühren, Bewegen
Anderes Erkennen. Zur Greif barkeit und Undurchdringlichkeit medialer Praktiken
Autorinnen und Autoren

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Jörg Sternagel, Dieter Mersch, Lisa Stertz (Hg.) Kraft der Alterität

Band 12

Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.

Jörg Sternagel, Dieter Mersch, Lisa Stertz (Hg.)

Kraft der Alterität Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen

Gedruckt mit Mitteln des Instituts für Theorie (ith) der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Christiane Jordan, Hans Kannewitz, Lisa Stertz, Jana Zschiesche (unter Verwendung einer Fotografie von Melanie Wiener) Lektorat: Jörg Sternagel, Dieter Mersch, Lisa Stertz Korrektorat: Johannes Bennke, Lukas Juretko, Hans Kannewitz, Anna Lederle, Lennart Losensky, Judith Pietreck Satz: Hans Kannewitz Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2355-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2355-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Jörg Sternagel und Dieter Mersch Einleitung7

Performativität, Ethik, Gewalt Barbara Gronau und Alice Lagaay » … die Einladung, Widersprüchliches zu ertragen … « Schlaglichter auf den performative turn in Philosophie und Theater/wissenschaft

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Lisa Stertz mit Romina Achatz und Zeynep Akbal leben im prozess. Zwischen Performativität und Performance

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Fabian Goppelsröder Ethik der Performativität

51

Dieter Mersch Performativität und Gewalt. Überlegungen zur ethischen Dimension des Performativen

67

Vom Anderen her Lenore Hipper Ethik des Bedeutens nach Emmanuel Levinas

95

Anna Sabeth Kerkhoff Das Be-Deuten des Anderen

119

Michael Mayer Kraft der Toten oder die Melancholie nach Freud

133

Ästhetik des Alteritären Ulrich Richtmeyer Was tun die Experten der Praxis? Zum politischen Status der Kunstrezeption nach Benjamin, Habermas und Seel

161

Jörg Sternagel Pathos des Schauspielers. Dreimal Chaplin

185

Annika Haas Hören, Berühren, Bewegen

207

Katerina Krtilova Anderes Erkennen. Zur Greif‌barkeit und Undurchdringlichkeit medialer Praktiken

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Autorinnen und Autoren

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Jörg Sternagel, Dieter Mersch Einleitung Das Erste, was sich dem Menschen darbietet, wenn er sich betrachtet, ist sein Leib, das heißt ein gewisser Teil der Materie, der ihm eigen zugehört. Aber um zu verstehen, was derselbe ist, muss er ihn mit allem vergleichen, was über ihm und was ihm steht, damit er seine rechten Grenzen erkenne. Blaise Pascal

Am Anfang seiner Gedanken über die Lage des Menschen und ihrer Deutung, die inmitten anthropologischer und theologischer Gänge oszillieren, setzt der französische Mathematiker, Physiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) die Existenz des Menschen in den Mittelpunkt: Unbeständigkeit, Langeweile und Ruhelosigkeit bestimmen die Lage des Menschen. Seine Natur besteht in der Bewegung, die nur im Tod zu ihrem Stillstand und damit zur erträglichen Ruhe kommt: »Nichts ist dem Menschen so unerträglich, als wenn er sich in vollkommener Ruhe befindet, ohne Leidenschaf‌ten, ohne Beschäftigungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betriebsamkeit. Dann fühlt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Unzugänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere.« 1 1 Blaise Pascal: Gedanken (1669–1670), übers. v. Ulrich Kunzmann, kommentiert v. Eduard Zwierlein, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 72 (»Langeweile«, bei Zwier­lein Fragment 155, in der Zählung von Lafuma Fragment 622, bei Brunschwicg Fragment 131).

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Pascal beschreibt die Position des Menschen als eine der Endlichkeit aus-gesetzte, die von der Unendlichkeit nichts wissen, sie nicht erreichen kann. Der Mensch in der Natur ist nach Pascal ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, »ein All im Vergleich mit dem Nichts«, ein »Mittelding zwischen nichts und allem, un­endlich weit davon entfernt, die Extreme zu erfassen«.2 Weder das Ende der Dinge noch ihre Anfänge vermag der Mensch zu erfassen, zu durchdringen, sie bleiben ihm Geheimnis, undurchdringlich, unerbittlich verborgen.3 Der Mensch steht daher in der Mitte der Dinge, er kann nichts anderes als ihre Mitte wahrnehmen und bleibt verzweifelt, ohne ihren Anfang oder ihr Ende erkennen zu können. In einer Bewegung vom Endlichen zum Unendlichen positioniert Pascal den Menschen in einem Zwischenraum, in dem sich Fleisch und Sinne (le chair et les sens), Geist (l’esprit) und Wille (la  volonté) miteinander verflechten: das alltägliche menschliche Bestehen im Bereich der Phänomene geht einher mit seinen ebenso alltäglichen Versuchen über das eigene Selbstverständnis, in persönlichen Reflexionen über Wahrheiten und Glück, in der auch die Vernunft (la raison) plural gedacht und eher in Kontexten des Unwissens und des Scheiterns verstanden wird.4 Der Mensch als Natur- und Kulturwesen hat Grenzen, er bewegt sich in Grenzen. Sein Körper und seine Sinne helfen ihm zwar im Begreifen – sein Leib ist das Erste, was sich ihm darbietet – doch verhilft ihm dieses Begreifen nur zur temporären Milde und ändert an seiner Unbeständigkeit, Langeweile und Ruhelosigkeit nichts, denn die äußerste Klarheit der Natur, auch im Sinne der eigenen Herkunft und der angenommenen göttlichen Schöpfung, kann er trotzdem nicht erkennen. Vielmehr verliert er sich, auch mit seinem Geist, im eigenen Denken, in seiner Wissbegierde und Neugier, die auch in seinem naturwissenschaftlichem Vorgehen mit ihren wie auch immer gearteten Erkenntnissen nicht zu stil2 Ebd., S. 16: »Mensch. Mißverhältnis des Menschen«, Zwierlein 10, Lafuma 199, Brunschwicg 72. 3 Die Entbergung der Dinge bleibt dem Schöpfer, bleibt Gott, vorbehalten, so das auch gläubige, christliche Verständnis Pascals. 4 Als Zeitgenosse von René Descartes (1596–1650) erweist sich Pascal dessen Trennung zwischen res cogitans und res extensa gegenüber kritisch: die Lage des Menschen nach Pascal bleibt eine rätselhafte, der Mensch lebt als Fragender, weswegen ihm das cartesianische »Ich denke, ich zweifle, ich bin« zu unbegründet erscheint: wer ist »ich«? Vgl. zum Beispiel Descartes’ sechste Meditation über die Grundlagen der Philosophie: »Über das Dasein der materiellen Dinge und den substantiellen Unterschied zwischen Seele und Körper«, Hamburg: Meiner 1993, S. 64  f.

EINLEITUNG

len ist. Der eigene Wille bleibt unersättlich. Seine originäre, organische Quelle ist bei Pascal das Herz (le cœur) des Menschen, die Ursache aller Wirkungen (les raisons du cœur et des effets), die am eigenen, unverfügbaren Leib, in seinem irrationalen Schlagen, am pulsierenden Handgelenk, inmitten der Dinge, zum Beispiel während einer Tischgesellschaft, beobachtet werden können und leibliche Erfahrungen des Entzugs mit kausalem Vernunftdenken in Widerstreit geraten lassen, ohne dass ein Wissen daraus geschöpft werden kann, dass nicht bereits anderswo begonnen haben muss: »Das Herz hat seine Vernunftgründe, welche die Vernunft nicht kennt; man erfährt es an tausend Dingen.« 5 Was ist das »Ich«? Das Selbst des Menschen ist eines, was nicht verstanden, sondern erlebt wird; es ist ein Selbst, was nicht eindeutig, sondern widersprüchlich verortet ist, was sich in doppelter Bewegung nicht genügt, weder als großes Ganzes, wie dem gesamten Leib, noch von seinen kleinen Teilen her, wie dem dazugehörigen Handgelenk, den Adern und dem Blut. Zwar ist sein Leib das Erste, das sich dem Menschen darbietet, doch muss er ihn mit anderen vergleichen, damit er seine Grenzen in Raum und Zeit erkennt. Pascals allgemeine Kenntnis des Menschen verschiebt sich an dieser Stelle zur Erkenntnis des anderen Menschen: Ein Mensch, der sich ans Fenster setzt, um die Vorübergehenden zu betrachten: Wenn ich nun dort vorbeikomme, kann ich dann sagen, er habe sich dort hingesetzt, um mich zu sehen? Nein; denn er denkt nicht an mich im besonderen; doch derjenige, der eine Person ihrer Schönheit wegen liebt, hat er sie selbst lieb? Nein: Denn die Pocken, die, ohne den Menschen zu töten, die Schönheit töten, werden bewirken, daß er sie nicht mehr liebt.6 Der Philosoph verneint die Frage nach dem Mich, denn der sitzende, aus dem Fenster schauende Mensch denkt nicht im besonderen an den gehenden, am Fenster entlang kommenden anderen Menschen, auch wenn er zufällig von dessen Blick getroffen wird. Eher denke er an eine Person, die er liebe, ihrer Eigenschaf‌ten wegen, zu denen auch das eigene Urteil und Gedächtnis sowie die Schönheit zählen: Eigenschaf‌ten, die jedoch eingebüßt werden können, ohne das eigene Ich zu verlieren. Im Zuge dieser Meditationen fragt Pascal nach dem Ort des Ich, der, so gedacht, weder im 5 Ebd., S. 34: »Herz und Geist«, Zwierlein 36, Lafuma 423, Brunschwicg 277. 6 Ebd., S. 12: »Unbeständigkeit und Komplexität des Themas«, Zwierlein 4, Lafuma 688, Brunschwicg 323.

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Körper noch in der Seele liegt, aber dem Wandel der Eigenschaf‌ten unterliegt. Die Zuschreibungen des Anderen stehen im Vergleich zum Selbst, das seinerseits den Vergleich anstellt. Das Ich (ego) Pascals steht dem anderen Ich (alter ego) gegenüber.7 Das Selbst ist nicht allein und wird vom Blick des Anderen getroffen, der sich ihm wiederum entzieht, seine Grenze bildet. Die Lage des Menschen ist keine isolierte, sie ist eine mit anderen Menschen verbundene, soziale und politische, die in offenen Verhältnissen steht, welche sich über Gewohnheiten ausdifferenzieren. Die Zuschreibungen des Anderen stehen nicht einfach im Vergleich zum Selbst, das seinerseits den Vergleich anstellt. Sie sind keine privaten Vorlieben des Einzelnen oder bloße Resultate vergangener Handlungen, sie sind verkörperte Gewohnheiten, Kräfte (les forces), über die sich Gesellschaf‌ten in Macht- und auch Gewaltverhältnissen ausbilden und Fragen nach Gerechtigkeit aufwerfen.8 In gewählter Gewahrung Pascals und selektiver Auslegung seiner Gedanken gerät die Existenz des Menschen in ein Blickfeld, auf dem (1) das Selbst erlernt, dass es ein Außen gibt, welches von Anderen mit gesetzt ist.9 Im Erkunden und Erlernen dieses Außen, zusammen mit anderen Menschen, sieht sich das Selbst (2) jedoch aus-gesetzt und wird vom Anderen beansprucht. Der Andere tritt in seiner Singularität auf und ver-setzt das Selbst (3) ins Akkusativ: der Andere sieht mich an und trifft mich mit seinem Blick aus dem Fenster. In dynamischer Verschränkung dieser drei Perspektiven auf das Blickfeld menschlicher Existenz schließt sich, inspiriert von Pascal, die Erkenntnis an, dass der Mensch zwar mittelpunktbedürftig ist, doch nicht im Mittelpunkt steht: »Mein und dein. Dieser Hund gehört mir, sagten diese armen Kinder. Das ist mein Platz an der Sonne. Darin bestehen Anfang und das

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7 Vgl. auch von diesem Beispiel ausgehend die Lesart Pascals im Kontext von sozial-leiblicher Existenz über Ordnungen des Körpers, des Geistes und der Liebe von Bernhard Waldenfels: Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 32–49, speziell S. 39–46. 8 Mit Henri Bergson wäre an dieser Stelle die Offenheit im Entstehen von Gesellschaf‌ten weiter zu hinterfragen. Gesellschaf‌ten nach Bergson erklären sich nicht von selbst, sondern entstehen hinter Manifestationen des Lebens: »Alle Ethik, ob Druck oder Aufstreben, ist biologischer Natur.« Siehe Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932), übers. v. Eugen Lerch, Frankfurt/M.: Fischer 1992, S. 79. 9 Jean-Paul Sartre, seinerseits in Gewahrung Pascals und im Mitdenken der Pensées, versetzt den Anderen genau auf dieses Feld und sieht im integrativen Blick durchs Schlüsselloch das Ich für den Anderen inmitten einer Welt, die zum Anderen hin »abfließt«. Siehe Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943), übers. v. Hans Schöneberg, Traugott König, Reinbek/H.: Rowohlt 132007, S. 462–473.

EINLEITUNG

Ebenbild der Usurpation der ganzen Erde.« 10 Alle Beschäftigungen des Menschen sind auf Besitz und Wahrheit ausgerichtet, die ihn in den Mittelpunkt stellen sollen und ihn über alles erheben wollen, doch sie misslingen ihm, so die eine hier herausgestellte Möglichkeit, bereits auf Ebenen der Beziehungen zum Anderen: 11 Der Andere setzt sich in seiner Singularität und fordert Priori­ tät: nicht als Bild meines Denkens, sondern in leiblich situierter Dif­ fe­­renz. Weil der Mensch immer schon im nicht überwindbaren Unterschied zu einem Anderen steht, ist er in sich selbst nicht erfüllt, sondern begehrend. Dieses Begehren hebt sich nicht auf, sondern findet sich in der Übernahme von Verantwortung wieder, im Geben. Der Andere zwingt zum Vergleich des Unvergleichlichen und fordert Gerechtigkeit ein. Er steht ständig bereits da und kommt jedes Mal zuvor. Er zeigt sich gegenwärtig und unendlich zugleich, existiert konkret und unfassbar, ist kraft seiner Andersheit nahe und unendlich fern. Das Selbst ist vermöge der Alterität des Anderen nicht bei sich, sondern dem Anderen gegenüber immer schon im Rückstand. Die Egozentrik des Selbst verliert sich sukzessive in dieser Alltäglichkeit. Sie besitzt auch im Bereich der Phänomene keinen sicheren Punkt mehr und fordert eine andere Haltung (ethos) ein. Sichtweisen und Perspektiven verschieben sich bereits in der Wahrnehmung (aisthesis) zur Ver-Antwortung.12 Anschauung und Wissen entgehen daher in der (An-)Erkennung des Anderen nicht diesem ethischen Imperativ, der sich als Dimension des Performativen in Haltungen und Ver-Haltungen gibt: als »Dass«, als Forcierung der Alterität selbst, als nicht negierbar, und im Vollzug leiblich situierter Differenz zur Frage drängend: werden wir der Einzigartigkeit des Anderen gerecht?

Theorie und Praxis des Performativen Im Durchdringen des ethischen Imperativs, der sich als Dimension des Performativen in Haltungen und Ver-Haltungen gibt, vereinigt eine theoría des Performativen in einem ersten Schritt 10 Pacal, S. 68: »Eine Ordnung der Begierde und Gewalt«, Zwierlein 143, Lafuma 64, Brunschwicg 295. 11 Emmanuel Levinas stellt seinem Denken des Anderen diese Gedanken Pascals voran und verläßt zusammen mit ihm den begehrten »Platz an der Sonne«, um einen nicht-integrativen Blick auf den Anderen zu werfen. Vgl. Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974), übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg/B.: Karl Alber 32011, S.  8  f. 12 Vgl. Christoph Wulf, Dietmar Kamper, Hans Ulrich Gumbrecht: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Ethik der Ästhetik, Berlin: Akademie Verlag 1994, S. VII–XI.

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das Betrachten von Zusammenhängen zwischen Sprechen und Handeln mit der Tätigkeit des Betrachtens dieser Zusammenhänge und fragt damit nach der prâxis des Performativen: (I) Wie konstituieren Sprache und Interaktion soziale und kulturelle Wirklichkeiten?, (II) Wie entstehen konkrete Handlungssituationen?, (III) Wie können Wahrnehmen, Tun und Bedeuten aufeinander bezogen werden? 13 Der Begriff des performare erweist sich bei näherer Betrachtung, im Antworten auf Fragen wie diese als ein in der Sprachwissenschaft über die Kultur-, Literatur-, Theater-, TanzFilm- und Medienwissenschaft bis zur Philosophie weit ausdifferenzierter und kann zunächst, je nach Perspektive, mit (1) einem Ausführen von Sprechakten erfaßt, aber auch mit (2) einem Auf‌führen von theatralen oder rituellen Handlungen, einem (3) materialen Verkörpern von Botschaf‌ten im Vollzug des Schreibens oder (4) einem Entstehen von Imaginationen im Prozess des Lesens übersetzt werden.14 Als verbindendes Anliegen der so verschiedenen Auf‌fassungen erscheint das Interesse an den Bedingungen für kulturelle und soziale Zusammenhänge, die im Zuge von Ereignissen und Praktiken entstehen.15 Die Arbeit mit dem Begriff des Performativen verlagert damit unsere Aufmerksamkeit und Tätigkeit gleichsam in die Welt, auf das Erlebnis eines Geschehens, das nicht einfach gegeben ist, sich nicht durch bloße Fakten oder Zahlen erschließen lässt, sondern in einem dynamischen Prozess in Raum und Zeit erfahren wird, in Dimensionen, die sich mit Aktivität, Machen und Herstellen beschreiben lassen: Wir reden nicht nur über die Welt, sondern tun, indem wir sprechen, etwas innerhalb der Welt. Wir sind nicht einfach auf der Welt, jeder allein für sich, als autonomes Subjekt, sondern existieren zusammen mit Ande-

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13 Noch zeitlich vor den oben behandelten Gedanken Pascals aus der Auf‌k lärung des 17. Jahrhunderts sind hier Gedankengänge aus der Antike von Interesse. Aristoteles’ Begriff der theoría als Schau beispielweise, als Betrachtung, contemplatio, die zum ethos, zur Haltung gehört und nicht praktischem Handeln, prâxis, entgegengesetzt ist, wohingegen dieses Handeln vom herstellenden Handeln, poiesis, unterschieden wird. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik (ca. 322 v. Chr.), übers. v. Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner 41985, S.  134  f. 14 Über die »performativen Äußerungen« John L. Austins nähert sich Uwe Wirth in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften auf diese Weise dem Begriff an, der, wie alle Begriffe, weitere folgen lässt. Vgl. Wirth: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«, in: ders. (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frank­furt/M.: Suhrkamp 2002, S. 9–60, hier: S. 9. 15 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 22013, S. 37–44 (»Theorien des Performativen«).

EINLEITUNG

ren, mit anderen Menschen. Wir agieren und reagieren mit unserer Sprache, unserer Stimme, unserem Gesicht, unserem Körper, unseren Gesten.

Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen Es entfalten sich in einem zweiten Schritt über die theoría und die prâxis des Performativen sowohl ethische als auch aisthetische Dimensionen des Performativen, die Sprechen und Handeln, Sein und Alterität, Performativität und Medialität zusammenführen, die Sprache, Stimme, Gesicht, Körper und Geste in sozialen Wirklichkeiten und ästhetischer Praxis verorten, die Effekte und Korrelationen sichtbar und greif‌bar machen: (I) Wie wird die Welt beschrieben, wie ist sie?, (II) Wie begründet sich unser Sein im Anerkannt-Sein?, (III) Können Wörter zu Taten werden, wie verorten wir Sprache, Stimme, Gesicht, Körper und Geste, welche performativen Effekte generieren sie? Diese Dimensionen des Performativen lassen sich jedoch nicht nur einseitig durchdenken und diskutieren, auf der Seite der Aktivität, des Machens, des Sprechens, des Herstellens und auch des Gelingens, vielmehr gehört zu ihnen auch eine andere Seite, eine Kehrseite, die gleichsam in Erscheinung treten und wechselseitig begriffen werden kann: die der Passivität, des Nichttuns, des Schweigens, des Unterlassens und des Scheiterns.16 Die Anteile der Kehrseiten am Zustandekommen sozialer Wirklichkeiten und in Formen künstlerischer Prozesse können demnach mit einem Nichttun, mit Handlungsnegationen und mit einem Zurückhalten und Zurückgehalten-Werden, mit Handungsrestriktionen beschrieben werden und provozieren damit Fragen nach kulturellen, politischen und ästhetischen Handlungsformen, die bestimmten Ökonomien folgen. Mit anderen Worten, es geht darum, das Zusammenspiel von Individuum und Gemeinschaft, Techniken und Möglichkeiten, Macht und Gegenmacht zu diskutieren, und damit dezidiert auch künstlerische Grenzziehungen mit zu durchdenken, Grenzziehungen, die den Weg für das Ästhetische erst bereiten und damit den Weg zur Reflexion überhaupt ermöglichen.

16 Vgl. zu diesen »Kehrseiten« die Arbeiten von Barbara Gronau und Alice Lagaay, insbesondere die Einleitungen in ihren beiden Anthologien Performan­ zen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008, S. 11–19 und Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld: transcript 2010, S. 7–13, sowie ihren Beitrag in diesem Band.

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Herangehensweisen und Reflexionen

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Der vorliegende Band versammelt ausgewählte Arbeiten zur Theorie und Praxis des Performativen, die sich auf exemplarische Weise Fragen der Ethik des Performativen, der künstlerischen Verantwortung, der Dimension des Alteritären und seiner spezifischen dynamis zuwenden. Sie reflektieren auf diese Kraft in Bezug auf die unterschiedlichsten Künste, der Literatur ebenso wie der Musik oder der Performance, wie sie gleichzeitig die Erfahrung des Getroffenseins vom Anderen und seines ›An-Spruchs‹ im Kontext von Sprechen und Handeln, der Gabe der Zeichen und ihrer Stellvertretung bis zum Begriff der Medialität entblättern. Sie thematisieren Sprache, Stimme, Gesicht, Körper und Geste in ästhetischen Praktiken und sozialen Wirklichkeiten, wobei sich die ethischen Dimensionen des Performativen entlang des Zusammenspiels von ­­ Wahrnehmen, Tun und Bedeuten entfalten und die ästhetischen und aisthetischen Dimensionen des Performativen im Rahmen künstlerischer Prozesse den Weg ihrer Erfahrbarkeit allererst ebnen. Die Beiträge durchdenken innerhalb dieser Sinnverflechtungen auch die Performativitätsdebatten der letzten Jahre und versuchen, Anknüpfungsmöglichkeiten für zukünftige Forschungsfelder, gleichsam ihr Ausspreizen in noch offene und ungedachte Bereiche, anzudeuten. So beginnen Barbara Gronau und Alice Lagaay das erste Kapitel »Performativität, Ethik, Gewalt« mit einer Rückschau auf die Theoriegeschichte des Begriffs und seiner besonderen Karriere in Theaterwissenschaf‌ten und Philosophie seit nunmehr 20 Jahren, um dabei Aspekte der Okkasionalität, des Zufälligen, aber auch der Bedeutung des Passiven und des Unterlassens herauszuarbeiten. Beide verbindet ein besonderes Interesse an ›negativen‹ Zügen des Performativen wie der Zurückhaltung, dem Bartleby’schen I prefer not to, oder auch Momenten einer Diskretion, eines Schweigens, denen mitunter eine eigene Kraft zukommt. Jeder kennt in Gesprächen die trüben Augenblicke einer Stille, in denen mehr zum Vorschein kommen kann als im zuvor Gesagten, jener schwer erträglichen Stille, die zum erneuten Reden zwingt. Oder die Macht des Zögerns, die eine vielleicht vorschnelle Reaktion forciert, wie auch die Indifferenzen des Zauderns, denen Josef Vogl einen eigenen Essay gewidmet hat. Ähnliches gilt für den vielbesprochenen ›Zauber des Anfangs‹, des Übergangs von einem Noch-Nicht in ein Werden, worin alle Möglichkeiten noch offen stehen. Ihnen eignet, gerade weil noch keine eigentliche Handlung vollzogen ist, weil sie sich noch im Schwebezustand von Latenzen auf‌halten, eine ganz eigene Wirksamkeit, die ebenfalls für eine ethische Reflexion auf das Performative, Wirklichkeitssetzende relevant erscheint.

EINLEITUNG

Gerade das Herausschälen von Kontingenzen und Momenten der Negativität ist ebenfalls für die Kunst wichtig. Die Künstlerin Lisa Stertz berichtet im Gespräch mit Romina Achatz und Zeynep Akbal über solche Erfahrungen in der Konfrontation mit ihrem Publikum. Ihre Performances mit extrem verlangsamten Bewegungen bis zur Auslöschung der Erkennbarkeit dessen, worum es sich eigentlich handelt – erfordere eine Distanznahme vom Zuschauer, die ebenso unangenehm ist, wie sie allererst eine Beziehung eröffnet, die von vielen Betrachterinnen wiederum als ausgesprochen entlastend und meditativ beschrieben worden sei. Tatsächlich handelt es sich um eine abgründige Beziehung, die von mehrfachen Paradoxien zerschnitten wird, denn die Verlangsamung der Bewegungen erfordert mit Bezug auf die eigene leibliche Erfahrung eine Konzentration und Intimität, die nur dann gelingen kann, wenn sich zusammen mit den Anwesenden ein Raum der Geborgenheit einstellt. In ihm sieht Stertz eine eigene soziale Form der Begegnung, die auf eine besondere Weise eine Ethik des Zuschauens evoziere. Inwiefern dem Terminus des Performativen überhaupt eine ethische Neutralität innewohnt, geht Fabian Goppelsröder in seinen Ausführungen zur »Ethik der Performativität« nach. Vehement weist er darauf hin, dass in den verschiedenen Entwürfen einer Theorie des Performativen in den letzten beiden Jahrzehnten dessen wirklichkeitskonstitutive Kraft und Konstruktivität überbetont wurden, während die stets mitschwingenden ethischen Aspekte angesichts von Kraft und Wirkmächtigkeit unterbetont blieben. Der Beitrag zeigt, dass diese Vernachlässigung des Ethischen bereits zur Gründungsfigur des Performativen bei Austin gehört, insofern dessen einseitige Option für eine pragmatische Bedeutungstheorie die moralische Frage nach ›gut‹ und ›böse‹ oder nach normativen Kriterien der Richtigkeit, Angemessenheit oder Unangemessenheit erfolgreich zu verdrängen half. Erst Judith Butler habe das Performative erfolgreich in den Bereich des Politischen wieder zurückholen können. Entgegen jeder moralischen Indifferenz versucht entsprechend Goppelsröder einerseits entlang des Topos des »Zeigens« bei Wittgenstein sowie dessen »Vortrag über Ethik« und andererseits anhand von Kleists berühmten Text »Über das Marionettentheater« mit der vermeintlichen ethischen Neutralität des Performativen zu brechen. Vielmehr sei der Raum des Performativen genuin ethisch besetzt, eine Ethizität, die allerdings den Fragen der Normativität und moralischen Bewertung vorgelagert bleibe, weil sie in erster Linie einer »Arbeit am Selbst« gelte und der Begegnung mit Welt im Sinne ihrer Widerfahrung angehöre.

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Dass diese Ethizität unausweichlich erscheint, demonstriert wiederum der Beitrag von Dieter Mersch, der dem Verhältnis zwischen Performativität und Gewalt nachgeht. Die These besteht dabei darin, dass Gewalt ein Grundzug des Menschlichen darstellt, dass es folglich im Praktischen keine gewaltfreie Zone gibt, ja dass die Gewaltförmigkeit jedes Setzungscharakters gleichsam eine Tragödie im Sozialen markiert, weil sie noch die moralische Tat selbst betrifft. Die Konstitution dessen, was er die »performative Szene« nennt, die immer schon auf der Bühne des Politischen und Gesellschaftlichen stattfindet, bleibt damit von Beginn an prekär, doch bedeute dies eben nicht, in Haltungen der Negation, der Reserve oder Askese zu verfallen, sondern sich gerade der Notwendigkeit des Ethischen in jedem Vollzug eingedenk zu bleiben und zu stellen, ohne bereits eine Antwort, eine normative Sanktionierung oder ein Verbot parat zu haben. Der zweite Teil des Buches, betitelt mit »Vom Anderen her«, widmet sich stattdessen – stark beeinflusst von der Levinas’schen Philosophie der Alterität – den ›pathischen‹ Dimensionen einer gleichsam ›ur-sprünglichen‹ Besessenheit oder Heimsuchung durch den Anderen/die Anderen. Sie weist auf den primordialen Status des Ethischen – einer Ethik, im Sinne von Levinas, als prima philosophia. So untersucht Lenore Hipper zunächst die Zeichentheorie von Levinas, wie er sie am Begriff der ›Stellvertretung‹ entwickelt hat. Jenseits der klassischen Theorie der Repräsentation, der Substitution oder Stellvertretung von etwas durch etwas anderes, welche das ›Als‹ als Funktion des Sinns allererst hervorbringt, verschiebt Levinas die Relation der Stellvertretung, indem er das linguistische Partikel ›von‹ durch ›für‹ ersetzt. Die Stellvertretung für etwas erschöpft sich dann aber nicht mehr in ihrer Zeichenfunktion, der Ersetzung, sondern bedeutet im wesentlichen Sinne ein »Einstehen-für«, dem zugleich immer schon eine ethische Gabe inhärent ist. Levinas kommt so zu einer ethischen Bedeutungstheorie, der von vornherein, wie Hipper demonstriert, ein responsives Element innewohnt, ein Antworten-auf, das das Worauf des Antwortens noch nicht kennt und damit das Zeichen, als Zeichen-­ Geben, chronisch offen hält – eine Offenheit, die sich wiederum von den differenztheoretischen Öffnungen, wie sie sich bei Lyotard und Derrida finden, unterscheidet. Anna Sabeth Kerkhoff wiederum versucht mit Hilfe der Phänomenologie von Levinas eine neue Deutung von Ingeborg Bachmanns »Malina«, wobei sie die Literatur von vornherein als eine Kunstform des feststellbaren Sinns versteht. Das gilt besonders für die Sprache Bachmanns, die weder etwas Bestimmtes sagen will noch zu zeigen versucht, sondern in einem wesentlichen Maße

EINLEITUNG

›berührt‹ – oder besser: anrührt. Die geheimnisvolle Figur Malinas wirkt dabei wie ein alter ego, eine Rätselgestalt, die die Erzählerin von Anfang an spaltet oder auf‌teilt, wie Julia Kristevas Fremder, der wir selbst sind. Sie bildet aber keine Abschattung des Begehrens, keine Projektionsfläche eines verdrängten Anderen, wie man psychoanalytisch interpretieren könnte, sondern eher das Signum einer Nichteinholbarkeit unserer selbst, einer genuinen Unerschöpf‌lichkeit oder Unverständlichkeit, die die Identität des Ich von vornherein Lügen straft. Kerkhoff geht aber noch weiter, denn Malina verkörpere weniger unsere eigene Fremdheit, als vielmehr eine Höhlung, die immer schon den Anderen meint, in sich aufgenommen und eingeleibt hat. Eine solche Einleibung diskutiert Michael Mayer anhand der Trauer, des Schmerzes und der Melancholie, die scheinbar von einem nicht zu ersetzenden oder zumindest nicht zu lösenden Verlust erzählt. Dezidiert setzt sich Mayer mit Freuds Melancholietheorie auseinander, die die libidinösen Bindungen und deren Kathexis betrifft, die sich erst verflüchtigen, wo die Spur des Anderen verblasst und durch etwas anderes ersetzt wird. Doch bewahrt darin die Melancholie ihr Pathologisches, weil sie laufend etwas wiederzubeleben und fortzusetzen sucht, was nicht zu halten ist, sodass sie einer Illusion, einem Traumbild nachhängt, das ihren Realitätssinn, auf den Freud so nachhaltig Wert legte, verstellt. Demgegenüber besteht Mayer auf einer anderen Interpretation der Melancholie, die ihn zurückführt auf die Dürer’sche »Melencolia I« als Gewahrung der eigenen Endlichkeit, aus der sie ihre besondere schöpferische Kraft bezieht. Doch bezieht sich deren Klage nicht auf den eigenen Tod, sondern der beständigen Bezeugung der anderen Toten, die man überlebt, und deren Vorbeigang und Gedächtnis uns in einen seltsamen Zwischenzustand hält. Es ist, so die These Mayers, nicht die Kraft der Liebe und ihre Besetzung, die uns in die Krise der eigenen Existenz stürzt, sondern es ist die Kraft der Toten und ihre permanente Krisis, dem Umschlag oder der Wendung, die ebenso sehr unser Leben heimsucht und zerteilt, wie sie uns wach hält für jene Erinnerung, die unserem Dasein allererst einen Sinn erteilt. Der dritte Teil des Buches, überschrieben mit »Ästhetik des Alteritären«, eröffnet mit einem Aufsatz von Ulrich Richtmeyer über die Frage nach der Differenz zwischen ästhetischer Erfahrung und Kunsterfahrung und ihrem Niederschlag in einer Expertenkultur von Kunsttheoretikern. Es sind die Ansätze von Jürgen Habermas und Martin Seel, mit denen sich Richtmeyer kritisch auseinander zu setzen sucht, weil sie im Grunde notorisch am Primat der Expertenkultur festhalten und das ästhetische Urteil

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in »theoretisch angemessenen Rezeptionen« fundieren, wofür die Verfahren der Kunstkritik ein Vorbild bieten. Demgegenüber argumentiert Richtmeyer mit Walter Benjamins Auf‌hebung jeder Experten-Laien-Differenz, wenn dieser im Kunstwerkaufsatz den Film als politische Kunst gegen die auratische der Tradition ausspielt. Betont wird so ein emanzipatorischer Effekt der Laienkultur, wie er frühestens im Massenspektakel des Kinos, spätestens aber mit der Pop-Art durchgeschlagen sei, denn auch der triviale Gebrauch von Kunst könne ein angemessener sein: Nichts entscheidet vorderhand, wie Angemessenheit von Nichtangemessenheit zu trennen sei oder wie eine elitistische ›Literacy‹ gegenüber kollektivem Konsum ausgespielt werden könne. In Bezug auf das Kino und die Schauspielkunst verweist Jörg Sternagel auf einen anderen Aspekt ästhetischer Alterität. Weniger in der Absicht einer Diskurskritik exemplifiziert er anhand eines dreimaligen Auf‌tritts von Chaplin, dem Mimen oder Schauspieler einmal in einer privaten Szene mit Adorno, zum zweiten in einer filmischen Szene aus City Lights und drittens einer theoretischen Szene, die wiederum einer Auseinandersetzung Adornos mit Kierkegaard entstammt, dass sich die Praxis des Schauspiels, auch im Film, nicht in der Verkörperung einer Figur erschöpft, vielmehr bedeute Mimesis in erster Linie ›Antworten‹. Es gehe folglich nicht um Nachahmung, sondern um das Moment des Pathischen, das sich im letzten Sinne unserer Kontrolle entziehe, wie es im selben Maße unsere Möglichkeiten transzendiere. Die Kunst des Schauspielers/der Schauspielerin, die man fälschlich in Ansehung der Filmgeschichte auf den ›Star‹ reduziert hat, trete mithin aus einem stets prekären wie fragilen Zwischenbereich hervor, worin sich die Fähigkeit zum Spiel, sein Können, einem beständigen Changieren zwischen Widerfahrung und Ermöglichung verdankt, durch den die Figuration allererst entsteht. So lässt die Schauspielerin nicht etwas geschehen, vielmehr geschieht ihr etwas, drängen sich ihr gleichermaßen mimetische wie nichtmimetische Momente auf, droht sie unablässig abzustürzen: Nicht nur erweise sie sich als Akteurin, wie Sternagel schreibt, sondern gleichzeitig auch als Patient. Wie diese Doppelfigur, die Beabsichtigung wie ihre Entwendung, das Handeln wie dessen Versagen oder besser: sein Umschlag in seine eigene Andersheit zu einer Inspirationsquelle von Kunst werden kann, zeigt die Künstlerin Annika Haas am Bespiel eines selbst entworfenen Percussionsinstruments. Ausgestattet mit einem Soundsystem verstärkt es unterschiedliche Formen der Berührung, des Trommelns, Tastens, Reißens, sodass nicht mehr zur Gänze beherrschbare Klänge entstehen. Buchstäblich handelt es sich also

EINLEITUNG

um ein Instrument zur Entdeckung: Man wird, während der Aufführung, von den Klängen, die es erzeugt, ebenso überrascht wie man – in der ursprünglichen Bedeutung von Resonanz – auf sie reagieren, ihnen antworten muss: Berührung und Hören beginnen, wie die Dialektik des Berührtwerdens, sich miteinander zu verschränken. Mit einer erneuten theoriekritischen Wendung schließen die Beiträge des Bandes, diesmal allerdings als Auseinandersetzung mit einem stereotypen Topos der jüngeren Medientheorie, der um die sogenannte »Kehre« zur »Kulturtechnik« kreist. Der Beitrag von Katerina Krtilova zielt dabei auf die genuine »Undurchdringlichkeit der menschlichen Praxis«. Insbesondere macht sie auf die unscharf gezogenen Grenzen zwischen Praxis und Operativität, Rekursion und Reflexion oder Digitalität und Differenzialität aufmerksam. Tatsächlich beruht die deutsche Medientheorie nach Kittler auf deren Engführung, die, wie Krtilova demonstriert, einem hartnäckigen Präjudiz für flache Funktionen, Oberflächen und eine vorentschiedene Technizität unterliegt, was auch für Begriffe wie »Kultur-« und »Körpertechniken« zutrifft. Stattdessen hebt Krtilova mit Husserl auf die Paradoxien einer Theoriearbeit ab, die einerseits ihre Begriffe konkreten Technologien entnimmt, um sie andererseits für die Untersuchung der Technizität des Technischen wieder in Geltung zu bringen. Aufgrund dieser Paradoxalität beharrt darum Krtilova konsequent auf der Opazität der Gegenstände, insbesondere der Undurchdringlichkeit dessen, was Praxis heißt. Das bedeutet aber, dass zuletzt die theoretischen Begriffe, mit denen wir Medien oder das Mediale als Universalie kultureller Prozesse zu beschreiben suchen, stets noch ihre eigene Alterität einbehalten – wie umgekehrt ihr Alteritäres unablässig Anlass bietet, sie immer wieder neu zu denken. Jörg Sternagel und Dieter Mersch, Potsdam und Zürich im Frühjahr 2015

Literatur aristoteles: Nikomachische Ethik (ca. 322 v. Chr.), übers. v. Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner 41985. Bergson, Henri: Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932), übers. v. Eugen Lerch, Frankfurt/M.: Fischer 1992. Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641), durchgesehen v. Hans Günter Zekl, Hamburg: Meiner 1993.

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Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 22013. Gronau, Barbara, Alice Lagaay: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Per­ formanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008, S. 11–19. — »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld: transcript 2010, S. 7–13. Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974), übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg/B.: Karl Alber 32011. Pascal, Blaise: Gedanken (1669–1670), übers. v. Ulrich Kunzmann, komm. v. Eduard Zwierlein, Berlin: Suhrkamp 2012. — Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände (1669–­1670), übers. v. Karl Adolf Blech, Berlin: Holzinger 22013. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943), übers. v. Hans Schöneberg, Traugott König, Reinbek/H.: Rowohlt 132007. Waldenfels, Bernhard: Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. Wirth, Uwe: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«, in: ders. (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frank­ furt/M.: Suhrkamp 2002, S. 9–60. Wulf,  Christoph, Dietmar  Kamper, Hans Ulrich Gumbrecht: »Ein­leitung«, in: dies. (Hg.), Ethik der Ästhetik, Berlin: Akademie Verlag 1994, S. VII– XI.

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Performativität, Ethik, Gewalt

Barbara Gronau und Alice Lagaay » … die Einladung, Widersprüchliches zu ertragen … «  –  Schlaglichter auf den performative turn in Philosophie und Theater/wissenschaft There are many ways in which the thing I am trying in vain to say may be tried in vain to be said. Samuel Beckett (»Three Dialogues«)

Anfänge Wann beginnt die Rede vom Performativen und was löst sie aus? In John Langshaw Austins 1955 gehaltener (und 1962 posthum publizierter) Vorlesungsreihe How to do things with words wird erstmalig die Bezeichnung performative (»ein hässliches Wort«) zur Bezeichnung von jenen sogenannten Sprechakten herangezogen, durch die unsere Welt nicht nur konstatiert, sondern in neuer Weise hervorgebracht wird. In den darauf folgenden fünf Jahrzehnten ist Austins Konzept vor allem im englischen und französischen Sprachraum erweitert und umgedeutet worden. Austins anti-essentialistischer Impuls – seine Frage nach den körpergebundenen, ereignishaf‌ten Wirkmächtigkeiten des menschlichen Tuns – hat sich heute in zahlreiche Varianten aufgefächert, die mit

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Sybille Krämer 1 in mindestens drei zeitgenössische Ansätze differenziert werden können: a.) im Sinne der sprachpragmatischen ›universalisierenden Performativität‹ – wie etwa bei John Searle, der nach den Bedingungen eines gelingenden Sprechens im Rahmen sozialer Interaktion fragt, oder bei Noam Chomsky, für den jede konkrete Sprachäußerung auf eine menschliche universal gültige Sprachkompetenz zurückzuführen ist; b.) aus der Perspektive der iterabilisierenden Performativität – etwa bei Jacques Derrida und Judith Butler – die in der raum- und zeitversetzten Wiederholung von Zeichen ihr konstituierendes und zugleich subversives Potential aufsucht; und c.) im Sinne der korporalisierenden Performanz – u. a. bei Milton Singer, Richard Schechner, Erika Fischer-Lichte – die in den flüchtigen, körpergebundenen Auf‌führungen die Bedingung von Kultur erkennt. Die gemeinsame Basis der verschiedenen Konzepte liegt in der Erkenntnis, dass menschliche Praktiken für die Herstellung sozialer und kultureller Zusammenhänge konstituierend sind. Die Thematisierung der Performativität hat zunächst in allen Bereichen, die sie berührt hat, eine Sensibilisierung für die Prozesshaftigkeit und Medialität von Wirklichkeit ausgelöst. Damit wurde einerseits die Geschaffenheit von Ereignissen und Strukturen, d. h. ihre Konstruiertheit, betont, und andererseits kristallisierte sich die komplexe Interdependenz von Akteuren und Strukturen immer deutlicher heraus. Ein Beispiel, das alle drei genannten Aspekte der Performativität in sich trägt, und insofern als performatives Beispiel par excellence betrachtet werden kann, ist das Medium der menschlichen Stimme.2 Die Performativität der Stimme zeigt sich unter anderem (a) in ihrer Flüchtigkeit und Ereignishaftkeit, d. h. in der Tatsache, dass das Phänomen der Stimme im Moment seines Erscheinens bereits wieder am Verschwinden ist; (b) in ihrem Auf‌führungscharakter, der die Kopräsenz von Akteur und Rezipient voraussetzt; (c) in ihrer Körperlichkeit: die Stimme ist Spur des individuellen wie auch sozialen Körpers; und (d) in ihrem Subversionsund Transgressionspotenzial – d. h. in der Art und Weise wie die Stimme nicht nur als Medium der Rede fungiert, sondern auch eine oft unkontrollierbare Eigendynamik zeigt, die den Sinn der intendierten Sprache verändern oder dazu konträr laufen kann. Am Beispiel der Stimme lassen sich außerdem sowohl die ethischen als auch die politischen Dimensionen des Performativen 1 Siehe dazu: Ekkehard König, Sybille Krämer (Hg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. 2 Siehe z. B.: Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hg.): Stimme, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006.

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zeigen. Zum einen impliziert jede Stimme als Appell an einen Hörer die notwendige Möglichkeit einer Antwort bzw. der Verantwortung. Zum anderen lässt die Erkenntnis der Vielstimmigkeit, die jeder Stimme inhärent ist, auf die Vielstimmigkeit des Körpers der Gesellschaft schließen, womit wichtige Konsequenzen sowohl im Sinne der Arbeit an Gerechtigkeit und demokratischen Werten als auch im Sinne der Theorie des Kollektivs gezogen werden können.3

Begriffsfelder Was bezeichnen Begriffe wie »performativ«, »Performativität«, »Per­ formanz« im jeweiligen Fach? Sämtliche Performativitätsbegriffe leiten sich aus dem englischen Substantiv »performance« ab, das sowohl das »Ausführen« als auch das »Auf‌führen« von Handlungen bezeichnet. Damit deutet sich bereits eine vertrackte Bifurkation des Begriffsfeldes an: denn »performativ« meint einerseits Leistung, Wirkmächtigkeit und Gelingen. Es wird als Bezeichnung und Beschreibung für die Erzeugung von Bedeutungen, Körpernormen, sozialen Identitäten, Rechtsformen, ökonomischen Wertsteigerungen oder Motorenleistungen eingesetzt und kann mit Jon McKenzie zu Recht als zeitgenössisches Leistungsdispositiv gelten.4 Zugleich verweist die Etymologie auf die theatrale Dimension des Begriffes, nach der unser Tun unter spezifischen situativen Bedingungen stattfindet: der live ausgetragenen Interaktion von Personen, die in sozialen Rollen miteinander agieren und sich dabei vor- und füreinander in Szene setzen. Erst diese Dimension des (Wieder-)Auf‌führens ermöglicht die Herstellung von Sinn, in dem es ihn in stets neuen flüchtigen, historischen Konstellationen immer wieder belebt und zugleich verschiebt. Performativität bezeichnet mithin Prozesse sozialer, kultureller, ökonomischer, politischer und ästhetischer Wirklichkeitskonstitution, die in (kollektiven) Handlungen von Subjekten gründen. Intrikaterweise verwandelt sich mit der Performativitätsforschung die Vorstellung eines handelnden Subjekts in bezeichnender Weise. Überspitzt formuliert: Das handelnde Subjekt ist kaum mehr im traditionellen Sinne als souverän zu denken (bzw. die 3 Siehe z. B. Fred Evans: The Multivoiced Body. Society and Communication in the Age of Diversity, New York: Columbia University Press 2008. 4 Jon McKenzie: Perform or Else. From Discipline to Performance, London/New York: Routledge 2001.

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Souveränität selbst wird dekonstruiert), da es weder isoliert noch autark ist, sondern Teil eines komplexen Systems von Handlungen und Bedeutungen, das Resultat eines Netzwerks von Zeichen, einer reichen Sammlung von Gesten, die vor ihm da waren, das Subjekt von vornherein mit geschaffen haben und über seinen Grenzen hinausreichen. Gleichzeitig gibt es aber einen gewissen Spielraum für die Subversion des Systems, also für die Schaffung von Neuem und von Individualität. Im Sinne des Performativen bedarf es jedoch immer eines Kollektivs von Subjekten (Akteure und Rezipienten), um gezielte Transformationen hervorzubringen, und diese Transformationen sind an sich nie ganz kontrollierbar. Denn mit dem Paradigma des Performativen zu denken, bedeutet auch, die Dimensionen von Kontingenz, Unvorhersehbarkeit und Unfall konzeptuell zu berücksichtigen.

Methoden

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Wie haben sich fachliche Konzepte und Methoden unter dem Einfluss der Performativitätsforschung verändert? In der Theaterwissenschaft brachte die Beschäftigung mit dem Performativen zunächst einmal eine Hinwendung zu philosophischen Begriffen wie Ereignis, Materialität, Spur etc. und damit eine wichtige Öffnung der Disziplin. Darüber hinaus hat das Konzept angeregt, sich mit Auf‌führungsformen zu beschäftigen, die nicht textbasiert sind, wie der Performance Art oder dem sogenannten Postdramatischen Theater. Diese Formen haben die etablierten hermeneutischen und semiotischen Modelle der Analyse (»Was für Bedeutungen sind in dem Drama vorhanden? Was und wie findet sich davon in der Auf‌führung wieder?«) ein Stück weit zum Erliegen gebracht, und mit der Perspektive des Performativen wurde es möglich, die Dimensionen der Auf‌führung von denen der Inszenierung methodisch zu trennen. Anstelle von künstlerischen Intentionen und Bedeutungen rückte das Ereignis Auf‌führung selbst in den Mittelpunkt: die Wahrnehmung der Atmosphären des Raumes, die sinnlichen Erfahrungen und Affizierungen, die Körperlichkeit der Darsteller, die zeitlichen Dynamiken wie Flüchtigkeit, Rhythmus etc. Daneben rückte die kollektive soziale Dimension von Auf‌führungen in den Mittelpunkt: Wer handelt wie in welchen Rollen und mit welchen Effekten? Wie konstituiert und beeinflusst das (scheinbar so passive) Publikum jede Auf‌führung? Und welche sozialen und politischen Effekte hat jede Auf‌führung; inwiefern ist sie (und bin damit ich selbst als Zuschauer/in) Teil einer gesellschaftlichen Konstellation? Das Denken des Performativen

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fordert in gewissem Maße ein anderes wissenschaftliches Selbstverständnis, weil es dazu anregt, auch auf der Basis eigener Wahrnehmungserfahrungen zu argumentieren, die in einem flüchtigen, kollektiven Geschehen gründen. Man muss in den Analysen das Ereignishaf‌te und Relationale mitdenken und mitbeschreiben. Darin liegt möglicherweise ein bemerkenswerter Unterschied in der Konsequenz des Performativen für die Theaterwissenschaft im Vergleich zur Philosophie. Denn wenn es für die Theaterwissenschaft eine relativ neue Tendenz ist, aus der individuellen Perspektive des Zuschauers Eindrücke einer Auf‌führung deskriptiv zu reflektieren, dann stellt diese Haltung für die Philosophie nicht wirklich etwas Neues dar. Mindestens seit Descartes ist das Denken an die Individualität des denkenden Subjekts gebunden. Im Anschluss an den Ansatz des Performativen besteht eine neue Herausforderung für die Philosophie vielmehr darin, die Konsequenzen der ultimativen Relativität des Subjekts für ihre Auf‌fassung von »Wahrheit« oder überhaupt von »Wissen« konsequent zu reflektieren. Noch einmal überspitzt: Wenn menschliche Wirklichkeit durch Sprechakte mitkonstituiert wird, dann ist auch der Diskurs der Philosophie nicht etwas, das etwa durch privilegierte Distanz zur Welt diese objektiv beschreibt. In gewisser Weise verliert dadurch die Philosophie etwas von ihrem traditionellen Anspruch, »Wahrheiten« zu vermitteln. Denn die Philosophie ist nicht getrennt oder abgehoben, sondern sowohl Teil der Welt als auch beteiligt an ihrer fortlaufenden Konstituierung – nicht also unbefangen, nicht wertneutral, kein leeres Gefäß, das mit Erkenntnissen bloß gefüllt werden kann. In diesem Sinn forderte der performative turn für die Philosophen eine neue Dimension von selbst-kritischer Reflexion. Fragen, die dabei mit neuer Brisanz zu stellen sind: Was tue ich, indem ich philosophiere? An wen ist die Philosophie gerichtet? Welche Medien benutze ich, um zu Denken? Welche mediale Struktur hat das Denken überhaupt? Was sind die Konsequenzen dieser Medialität? Wie verändert die Form meiner Ausdrucksweise den Inhalt meiner Erkenntnis? All diese Fragen führen zu einer immer größeren Sensibilisierung für die Situiertheit des philosophischen Diskurses, der sich so auch seiner eigenen theatralischen und performativen Dimensionen bewusster wird.5 5 Dass der komplexe Zusammenhang zwischen Philosophie und Theater bzw. Performance heutzutage neu reflektiert wird, zeigt sich u. a. an der Vielzahl von Publikationen, interdisziplinären Forschungsprojekten und Netzwerken, die sich in den letzten Jahren zu diesem Thema vervielfältigt haben. Besonders hervorzuheben sind: a.) das in Wien basierte Projekt Philosophy-on-Stage: www.univie.ac.at/performanz; b.) die Arbeit des Vereins Expedition Philosophie e.V. mit dem laufenden Projekt Soundcheck Philosophie: www.sound

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Negationen

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Was sind die »Kehrseiten des Performativen«? Mit dem performative turn haben sich die Geistes- und Kulturwissenschaf‌ten zunächst auf die Tätigkeiten des Produzierens, Herstellens und Erzeugens konzentriert und den Menschen als homo creator und homo generator in den Vordergrund gerückt. Ein bloß generierend gedachtes Konzept des handelnden Subjekts bleibt jedoch »auf einem Auge blind«, denn nicht nur das Handeln, sondern auch das Unterlassen von Handlungen kann performativ wirksam sein. Inwiefern können Prozesse des Unterlassens und Auslassens performative Effekte generieren? Die Frage, welchen Anteil das Passive an der Konstitution sozialer Wirklichkeiten hat, stellt eine Schlüsselfigur für die Theorien des Performativen dar. Sie führt zu jenen Kehrseiten, die schnell aus dem Blickfeld einer gelingensfixierten Performativitätsforschung geraten: nicht nur das Tun, sondern das Nichttun,6 nicht nur der Vollzug, sondern auch der Entzug,7 nicht nur das Gelingen, sondern auch das Kapitulieren bzw. Scheitern, und nicht nur die kreativen, sondern auch die destruktiven Seiten 8 des Performativen rücken dann in den Fokus und haben performative Kraft. Am Beispiel der Stimme lassen sich alle diese »Kehrseiten« des Performativen deutlich zeigen: so impliziert die menschliche Fähigkeit zu sprechen nicht nur, dass man sich stimmlich äußern, d. h. bestimmte Geräusche körperlich produzieren kann, sondern auch dass man weiß, wie und wann sich stimmlich zu enthalten ist. Das dramatische Potenzial, die performative Kraft des Schweigens und der Stille sind dem Theater natürlich längst bekannt. Aber auch die Philosophie hat in letzter Zeit der schweigenden Dimension der Sprache immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt.9 Dies ist zu einem guten Teil der Performativitätstheorie geschuldet. Die Rhythmik der Sprache – Bedingung der Möglichkeit, akustisch verstanden zu werden – besteht nämlich nicht nur rein phächeck-philosophie.de; und c.) das internationale online Netzwerk www.perfor mancephilosophy.ning.com. 2014 ist zudem eine Buchreihe zum Thema ›Performance Philosophy‹ beim Verlag Palgrave Macmillan gestartet (Hg. Laura Cull, Alice Lagaay, Freddie Rokem). 6 Vgl. dazu: Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.), Performanzen des Nicht­tuns, Wien: Passagen 2006. 7 Dies. (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, Bielefeld: transcript 2008. 8 Alice Lagaay, Michael Lorber (Hg.): Destruction in the Performative, Amsterdam/New York: Rodopi 2012. 9 Vgl. z. B. Sandra Markewitz (Hg.): Jenseits des beredten Schweigens. Neue Perspektiven auf den sprachlosen Augenblick, Bielefeld: Aisthesis 2013.

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nomenal aus dem Wechselspiel zwischen verlauteten Tönen und kleinen Leerstellen oder längeren Pausen. Auch auf einer sozialen Ebene wird nur der- oder diejenige beachtet und gehört, der/die in der Lage ist, sich nicht nur zu artikulieren, sondern in bestimmten Situationen zu schweigen weiß. Besser gesagt: es gehört zur Kunst der »guten« Artikulation, dass man auch erkennt wann, wo und wie sich zurückzuhalten ist. Und es gehört außerdem zum besonderen Wesen – und zum Risiko – der gesprochenen Sprache, dass Sprachfehler, lapsus linguae, sowie Missverständnisse und andere nicht intendierte unvorhersehbare Vorkommnisse passieren. In der Alltagssprache lernen wir solche Fehler meist zu überhören, um den Fluss der (Nicht-) Kommunikation nicht zu unterbrechen. Schließlich zeigt sich auch am Phänomen der Macht der Stimme, dass diese natürlich nicht nur im »positiven« Sinn Welt konstruieren, nicht nur zwischen Menschen kommunikative Brücken bauen kann, sondern sie durch die Kraft ihrer Affektivität auch gewaltig und destruktiv sein kann.10 Die »Kehrseiten« der Performativität sind also längst nicht mehr wirklich Kehrseiten, sondern wurden von Performativitätstheoretikern aufgenommen und für eine erweiterte Theorie des Performativen fruchtbar gemacht. So berechtigt und notwendig diese Erweiterung sein mag, die Berücksichtigung der »negativen« Seiten des Performativen (Schweigen, Latenz, Passivität, Destruktion usw.) führt allerdings zu einem begriff‌lichen Problem. Die ursprünglich relativ klaren Konturen des Konzepts werden geschwächt: ob aktualisierte oder nicht aktualisierte Sprache, ob der aktive oder passive, der konstruktive oder destruktive Aspekt menschlichen Handelns, alles scheint plötzlich unter der Bedingung, dass man es im Sinne der Materialität und Wirkungskraft des Phänomens untersucht, alles scheint plötzlich im Konzept des Performativen mit inbegriffen zu sein, nichts bleibt mehr von der »P-Klammer« ausgeschlossen oder unberührt. Für Theoretiker des Performativen führt dies zu einem eigenartigen Dilemma. Entweder greift man das Pendeln der theo­retischen Ausrichtung auf und definiert das Denken des Performativen nun mehr als solches: als eine an sich prozesshafte, dynamische Bewegung zwischen positiven und negativen Zugängen zu performativen Phänomenen. Oder – vielleicht noch vielversprechender: das Denken des Performativen wird als eine Einladung, Widersprüchliches zu ertragen radikalisiert. Was könnte das heißen? 10 Siehe z. B.: Stef­fen K. Hermann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.): Verletzende Worte: Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld: transcript 2007.

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In seinen Vorlesungen zum »Neutrum« beschreibt Roland Barthes ein ähnliches Problem: Der langjährige Fokus auf die allgegenwärtige Bedeutsamkeit von Zeichen bringt ihn in einen Zustand, in dem er sich nur noch nach Bedeutungslosigkeit, nach einem Raum des Neutrums, sehnt. Es geht darum, sich von der Gewalt der alles bestimmenden Wörter zu befreien und einen Raum zu Jenseits definitorischer Zugriffe zu eröffnen.11 Natürlich ist und bleibt diese Sehnsucht eine Utopie: sobald man etwas als etwas erkennt, wird es schon bestimmt und dadurch verändert, vom Raum des Neutrums sozusagen abgehoben. Barthes definiert das Paradigma als »die Opposition zweier virtueller Terme, von denen ich einen aktualisiere, wenn ich spreche, wenn ich Sinn erzeugen will«.12 Und das Neutrum ist für ihn »dasjenige, was das Paradigma außer Kraft setzt«. Bezogen auf den Sachgehalt der performativen Theorie haben wir es gewissermaßen mit einem Paradigma zu tun, das sich längst selbst außer Kraft gesetzt hat, in dem der jeweils entgegengesetzte Term, der im Akt der Aktualisierung eigentlich – nach dem ursprünglichen Konzept – latent bleiben sollte (Stille, Nichttun, Destruktion usw.), nun auch als aktiver Teil der Performativität aufgenommen wurde: das Schweigen spricht, das Nichttun provoziert, nichts ist mehr wirklich latent, weil die Latenz wirkt. Der Begriff der Performativität hat sich damit selbst neutralisiert.

Ethik

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Wie lässt sich daraus eine »Ethik« des Performativen ableiten? Wir verstehen Ethik hier in mindestens zwei – durchaus verzahnten – Dimensionen. Es geht einerseits um das Denken des Subjekts, um das Subjekt in der Welt, und zwar vor allem in seiner Beziehung zum Nächsten, zum Anderen, und wie diese Beziehung seine Subjektivität von Grund auf prägt und konstituiert. Andererseits geht es um die konkrete, praktische Frage: Wie leben bzw. wie gut leben? Das Konzept der Performativität (in ihrem engen ursprünglichen sowie auch in ihrem erweiterten Sinn) hat zu beiden Perspektiven einiges beizutragen. Für den Bereich des Theaters läuft es zu­allererst darauf hinaus anzuerkennen, dass das besprochene Ich, das spricht, oder das Ich, das schreibt, das Ich, das wahrnimmt, dass es dieses immer im Angesicht eines Anderen tut. Im Thea11 Vgl. Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesungen am Collège des France 1977– 78, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. 12 Ebd., S. 32.

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ter bedeutete das, anzuerkennen, dass es kollektive Situationen sind, die bis einem gewissen Grad, obwohl inszeniert und vorherbestimmt, ausgedacht, kontrolliert und geprobt, auch unverfügbar sind – und ganz anders ablaufen zu können. Aber selbst wenn die Inszenierung wie geplant vonstatten geht, bin ich als Ich, als Teilnehmer/in und Zeug/in dieses Prozesses mitverantwortlich für den Verlauf der Auf‌führung. Darin liegt ein ethisches bzw. politisches Moment. Es ist eine Frage nach der Rolle des Einzelnen im Kollektiv oder im Angesicht des Anderen. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Unverfügbarkeit, nach dem, was über meine intentionale Selbstbestimmung, mein Handeln-Wollen hinausgeht. Das, was mir nicht zur Verfügung steht, was mir entgleitet, was ich übersehe oder nicht übertragen kann, dieses – so paradox es auch klingen mag – sollte ich auch mitreflektieren und mitsprechen lassen. In Bezug auf die Frage, wie leben, ist vor allem die erweiterte Theorie des Performativen, welche unter anderem die inhärente Passivität im Kern jedes Tuns erkennt, relevant. In einer zunehmend beschleunigten und immer mehr leistungsorientierten Gesellschaft ist es wohl notwendig, sich darin zu üben, Widerstand gegen den Druck des Schaffens zu leisten.13 Als Einzelne aber auch im Kollektiv kann das Subjekt lernen, vom Imperativ permanenter Aktivität und Fitness Abstand zu halten, um eigene, selbstbestimmte Räume zu schaffen.14 Indem das Begriffsfeld des Performativen uns für die Materialität, Ereignishaftigkeit und Wirkung von Sprache, Gesten, Handlungen und Prozessen sensibilisiert, hilft es uns, einerseits über die Herkunft und Wirkung unserer ansonsten oft für selbstverständlich gehaltenen Handlungen, Redeweisen und Gesten etwas bewusster zu werden und andererseits das, was an das Subjekt herangetragen bzw. was ihm angetan wird, klarer wahrzunehmen. Denn in einer Welt geprägt von immer mehr Aktion, Produktion, Intervention, Information, Rede und Lärm vermögen die »Kehrseiten« des Performativen – z. B. »Nichttun«, »Sich Zurückhalten«, »Schweigen«, und »Stille« – die

13 Siehe dazu: Svenja Flaßpöhler: Wir Genussarbeiter. Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft, München: DVA 2011. 14 Es ginge dabei nicht nur um ein bloßes dolce far niente (nichts gegen ein herumliegen wie ein gestrandeter Walfisch in der Sonne, aber die Ökonomisierung des Phänomens »Urlaub« ist wohl nichts anderes als der Gegenpart zur heutigen Beschleunigungsgesellschaft, bei der es so gut wie angesagt ist, ständig am Rande des Burnouts zu verharren), sondern auch um ein aufmerksames und ausgeglichenes, differenzierteres Im-eigenen-Körper-Sein.

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Konturen einer Philosophie des »Seinlassens« und der »Gelassenheit« zu beschreiben.15 Darüber hinaus ist vielleicht aber der größte Beitrag der Performativitätstheorie zu Fragen der Ethik weniger ein Angebot oder ein Diskurs über die Ethik als vielmehr eine Praxis des körperlichen Wahrnehmens sowie eine Haltung der Reflexion und des Beschreibens, die an und für sich schon ethisch ist, ohne dass sich normative Sätze von ihr ableiten ließen. Die Einladung, Widersprüchliches zu ertragen, ist vielmehr an-sich-Welt und Subjekt – also Ethik – immanent. Schließlich – und damit eröffnet sich ein noch etwas anderes Denkfeld – geht es bei der Thematisierung des Ethischen im Performativen auch um die Frage nach der Macht des Performativen. Während viele Theoriepositionen das Performative als Subversion von bestehenden Repräsentationsverhältnissen verstanden haben, muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff selbst eine durchaus ermächtigende, leistungsorientierte Wirkungsdimension umfasst, die als modernes Leistungsdispositiv bezeichnet werden kann.16 Das Performative läuft nicht automatisch auf das Subversive hinaus, sondern ist sehr wohl auch Vollzug der Macht (wer spricht, lässt andere schweigen, wer baut, zerstört anderes bzw. verhindert andere Möglichkeiten der Raumgestaltung). Dieser Doppelcharakter stellt ein noch kaum diskutiertes Paradox im Rahmen des Arbeitsfeldes dar.

Kritik

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Welche Kritik braucht die Performativitätsforschung? Ein gewisses Maß an Selbstkritik ist schon immer Teil der Performativitätsforschung gewesen, weil es sich um ein dynamisches Forschungsfeld handelt, in dem die Deutung der Phänomene zwischen verschiedenen Zuschreibungen (Macht und Ohnmacht etc.) bzw. zwischen verschiedenen Definitionen des Performativen oszillierte. All dies führte zu einer interdisziplinären Elastizität des Denkgerüsts und erklärt vielleicht ein stückweit den internationalen und nachhaltigen Erfolg des Begriffs: er ist nicht starr. Gilt es nun, sich von ihm zu verabschieden, sich zu emanzipieren und weitere Denkfiguren zu erforschen? Zeitgenössische Debatten 15 Siehe dazu: Martin Seel: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002; Thomas Strässle: Gelassenheit: Über eine andere Haltung zur Welt, München: Hanser 2013. 16 McKenzie: Perform or Else. From Discipline to Performance, a. a. O.

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wie der spekulative Realismus oder die objektorientierte Ontologie lassen es ahnen: die Rede von Sprechakten, von iterabilisierender Performativität oder von korporalisierender Performanz machen nur noch bedingt Sinn, wenn nicht mehr von menschlichen Subjekten, sondern von anderen Modi der Existenz wie Steinen und Bäumen, Tieren und Netzwerken ausgegangen wird! 17

Literatur Barthes, Roland: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. Benso, Silvia: The Face of Things. A Different Side of Ethics, New York: State University of New York Press 2000. Bogust, Ian: Alien Phenomenology. Or what is it like to be a thing? Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2012. Brown, Charles S., Ted Toadvine: Eco-Phenomenology. Back to the Earth Itself, New York: SUNY Press 2003. Butler, Judith: Hass Spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. Chomsky, Noam: Regeln und Repräsentationen, Frankfurt/M.: Suhr­kamp 1981. Cull, Laura, Alice Lagaay (Hg.): Encounters in Performance Philosophy, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988. Evans, Fred: The Multivoiced Body. Society and Communication in the Age of Diversity, New York: Columbia University Press 2008. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. Flasspöhler, Svenja: Wir Genussarbeiter. Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft, München: DVA 2011. Gronau, Barbara, Alice Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, Bielefeld: transcript 2008. — (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2006. 17 Um einige unterschiedliche Perspektiven zu nennen: Silvia Benso: The Face of Things. A Different Side of Ethics, New York: State University of New York Press 2000; Ian Bogust: Alien Phenomenology. Or what is it like to be a thing? Minneapolis/­London: University of Minnesota Press 2012; Charles S. Brown, Ted Toadvine: Eco-Phenomenology. Back to the Earth Itself, New York: SUNY Press 2003; Graham Harman: Towards Speculative Realism, Winchester/UK: Zero Books 2010.

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Harman, Graham: Towards Speculative Realism, Winchester/UK: Zero Books 2010. Hermann, Steffen K., Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.): Verletzende Worte: Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Biele­ feld: transcript 2007. Kolesch, Doris, Sybille Krämer (Hg.): Stimme, Frankfurt/M.: Suhr­­kamp 2006. König, Ekkehard, Sybille Krämer (Hg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004. Lagaay, Alice, Michael Lorber (Hg.): Destruction in the Performa­ tive, Amsterdam/New York: Rodopi 2012. Markewitz, Sandra (Hg.): Jenseits des beredten Schweigens. Neue Per­spektiven auf den sprachlosen Augenblick, Bielefeld: Aisthesis 2013. McKenzie, Jon: Perform or Else. From Discipline to Performance, London/New York: Routledge 2001. Schechner, Richard: Between Theatre and Anthropology, Philadel­ phia: University of Pennsylvania Press 1985. Searle, John: Sprechakte, Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971. Singer, Milton: Traditional India. Structure and Change, Philadelphia: American Folklore Society 1959. Strässle, Thomas: Gelassenheit: Über eine andere Haltung zur Welt, München: Hanser 2013.

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Lisa Stertz mit Romina Achatz und Zeynep Akbal LEBEN IM PROZESS – Zwischen

Performativität und Performance Dance is ipso facto about me […]; whereas the area of the emotions must necessarily directly concern both of us. This is what allowed me permission to start manipulating what at first seemed to be blatantly personal and private material. But the more I get into it the more I see how such things as rage, terror, desire, conflict, et al., are not unique to my experience the way my body and its functioning are. I now, as a consequence, feel much more connected to my audience, and that gives me great comfort.1 Yvonne Rainer, Januar 1973

In ihrem Brief an Nan Rosenthal vom Januar 1973 nimmt Yvonne Rainer Bezug auf die Verbindung zwischen Publikum und Perfor­ mer. Diese Verbindung zu erreichen und zu reflektieren ist ein zentraler und wichtiger Punkt in meiner eigenen künstlerischen Arbeit. Das obige Zitat stammt aus ihrem Buch Feelings are Facts: A Life. Bereits der Titel markiert die phänomeno­logische Herausforderung verschiedener Modi, Referenz zu denken (Selbstreferenz wie auch die Referenz zu oder mit anderen) durch Formen physischer Wahrnehmung. Er eröffnet einen freien, losen Raum, der einen mit einschließt, in dem man sich unweigerlich befin1 Yvonne Rainer: Feelings Are Facts: A Life, Cambridge: MIT Press 2006, S. 390.

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det, einen Raum, der einen seine eigene Präsenz erfahren lässt, einen Raum ohne Negation. Dieser Raum besitzt das Potenzial, sich als Mensch in ihm zu hinterfragen. Im Hinblick auf das Zitat von Yvonne Rainer heißt das die eigene Person und Persönlichkeit sowie den eigenen Körper, den performenden wie auch performten Körper in Frage zu stellen: Wer ist man als Performer? Welche Art von Transmitter? Und: Was geschieht mit einem als Performer? Was geschieht mit dem Publikum während einer Performance? In wie fern kann ein Performer Einfluss auf die Wahrnehmung seiner Zuschauer nehmen? Ist dies wünschenswert? Ein möglicher Ansatz in diesem Dreieck aus Raum, Publikum und Zeit in Bezug auf den Performer könnte die Unterscheidung sein, ihn entweder als zivile Person oder als Schauspieler mit einem bestimmten Repertoire an Charakteren zu denken.2 Man könnte sich fragen, ob ihm bestimmte Eigenschaf‌ten oder eine bestimmte Identität innewohnt? Aber der Begriff Identität ist wie ein Bruch oder ein Anhalten zu verstehen. Identität ist nicht performativ. Identität soll etwas markieren, etwas wieder erkennbar, stabil und nachhaltig machen. Sie ist künstlich, wohingegen eine Performance real ist.3 Sie, die Performance, geschieht. Ein Künstler ist und bleibt ein Mensch. Er ist eine sich bewegende und durchaus eine sich auf-etwas-hin-bewegende Person. Es ist in diesem Sinne nicht erstrebenswert, eine Definition zu finden, es sei denn, man beginnt aus der Perspektive der Negation heraus zu argumentieren, was nichts anderes ist als eine Form des Kreisens um ein Thema und nicht das Aufgreifen des Themas selbst. Anders formuliert: Es ist eine Form der Bewegung, also prozessual und dadurch instabil, da das Aushandeln der Argumente und zwischen den Argumenten der Negativität notwendig ist, um einen standfesten Ansatz zu kreieren, einen neuen Gedanken zu hegen. Vor dem Hintergrund dieses Paradoxons stellte sich mir die Frage, inwiefern eine Annäherung an etwas, das in Bewegung ist, überhaupt möglich ist. Wie lässt sich etwas beschreiben, das gerade geschieht? Und was geschieht mit dem Performer, der als Teil des Ganzen dieses Geschehnis initiiert hat?

2 Bei Zweiterem denke ich an Helmuth Plessners Auseinandersetzung »Zur Anthropologie des Schauspielers« in: ders., Zwischen Philosophie und Gesellschaft – Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S.  205–­219. 3 Ich gehe hierbei von Performances aus, die mindestens einen lebendigen, anwesenden Performer haben, der die Performance unter Umständen auch konzeptualisiert, aber in jedem Fall performt hat.

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Fragen wie diese stellten den Ausgangspunkt für eine Diskussion dar, die ich, Lisa Stertz (L), mit Romina Achatz (R) und Zeynep Akbal (Z) geführt habe. z: Eine mögliche Annäherung könnte funktionieren, indem ich Yvonne Rainers Gedanken von der Verbindung des Künstlers mit dem Publikum aufgreife. Sie schreibt, dass diese Verbindung dadurch bestimmt ist, was dem Publikum durch den Künstler gegeben wird. Du bist dir dessen nicht sicher, denn für dich ist diese Verbindung fokussiert auf deine Arbeit und auf das, was du zu geben imstande bist, nicht jedoch auf das, was du gibst und im Gegenzug erhältst. Mir fällt dazu Alice Lagaay 4 ein, die über den selbstreferenziellen Charakter der Performancekunst nachdenkt und damit argumentiert, dass es vom Beobachter und seinem persönlichen Hintergrund abhängig ist, was und wie er oder sie eine Performance wahrnimmt und interpretiert. Sie gibt auch ein Beispiel: Als sie in Liverpool am Bahnhof wartete, beobachtete sie, wie ein Mann einen epileptischen Anfall bekam. Sie blieb stehen und verspürte plötzlich Panik in ihr hochkommen. Sie schreibt darüber: Everyone else will have their own impression of the event. There was nothing in the event itself that told you what it was referring to or what it was supposed to mean. This is the self-referential character of performance art. It does not mimetically tell a story or point to something outside of itself, it just happens.5 Während des Anfalls verspürte sie große Wut gegenüber den Passanten, denn es wurde von niemandem ein Versuch unternommen zu helfen. Alsbald realisierte sie, dass auch sie zu jenen gehörte, die nicht halfen, und spürte Wut gegen sich selbst auf‌kommen. Erst später verstand sie, dass es sich um eine Performance gehandelt hatte, was schließlich einen Groll gegenüber dem Performer provozierte, der so unverblümt einen moralischen Fakt infrage stellte und damit die öffentliche Moral auf die Probe. Ihre Gefühle veränderten sich und wurden zu Anerkennung, da sie den Mut verstand, der die Handlung überhaupt erst ermöglicht hatte. Sie ließ alle Emotionen zu: Wut, Elend, Panik, dann wieder Wut und schließlich Anerkennung, wie eine Katharsis der Persönlichkeit, weil sie es von einem intellektuellen Standpunkt aus betrachtete. Das ist ihre selbstreferenzielle Erklärung bzw. Sichtweise. Um den Kreis

4 Alice Lagaay: Metaphysics of Performance, Berlin: Logos Verlag 2000. 5 Ebd., S. 40.

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zu schließen, geht es also bei deiner Arbeit, bei den Slow Pieces 6 oder anderen Performances, wohl weniger darum, was du dem Publikum gibst, denn jeder identifiziert sich aus einer anderen Perspektive damit. Meine Frage lautet also, wie du zum zweiten Teil von Yvonne Rainers Zitat gelangen willst? Welches Bewusstsein erhoffst du dir davon? Wie glaubst du, zufrieden zu sein, so wie ›Okay, jetzt bin ich da‹? L: Ich weiß es nicht. Seitdem ich zu performen begonnen habe, habe ich mich unbewusst durch die Konzepte meiner Performances vom Publikum eher abgeschottet. Es gibt immer einen Moment, der mich in einen anderen, vielleicht auch besonderen Status als Performer versetzt: Der nämlich, nicht ich selbst zu sein bzw. nicht zu offen oder zu persönlich zu sein; und nicht zu verletzlich. Was ich zu erreichen versuche, ist weniger darauf fokussiert zu sein – vielmehr geht es um die Beziehung zum Publikum. Ich spüre da keine Verbindung und ich glaube es ist ein Mangel des Künstlers, sich derart auszuschließen. Denn wenn eine Performance beginnt und es ein Publikum gibt, dann sind alle in einem, im gleichen Raum, was gewissermaßen bereits ein verbindendes Element ist. Ich würde in meiner Arbeit gern einen Schritt weitergehen. Ich glaube, ich möchte gern mutiger sein, was auch heißt offener, empfänglicher und durchaus verletztlicher zu sein. Z: Du würdest es dir interaktiver wünschen? L: Ja. Das ist jedoch nicht notwendigerweise als direkte Interaktion zu verstehen. Ich würde gern mehr Anwesenheit zeigen und weniger wie eine performende Kreatur wirken, die irgendetwas für eine Stunde macht und so stark in einer anderen Sphäre absorbiert

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6 Die SLOW PIECES waren eine Performancereihe, die ich als artist in residence von August bis Dezember 2011 realisierte. Sie hinterfragten die natürlichen Bedürfnisse eines Menschen und kreisten gleichermaßen um die Frage des Wie In-der-Welt-Seins. Das Konzept der SLOW PIECES bestand aus Langsamkeit – ich würde mich für ein Minimum von drei Stunden so langsam wie möglich bewegen. Das Innenleben dieses Konzepts erschloss sich durch die jeweiligen Konnotationen, die ich jedem SLOW PIECE gab. Ich begann in SLOW PIECE N o 1 mit den natürlichen, menschlichen Bedürfnissen: schlafen, essen, trinken, um dann zu Formen des Ausdrucks überzugehen und Möglichkeiten verschiedener Modi von Kulturtechniken und medialer Orchestrierung auszutesten bzw. auszuloten. Von SLOW PIECE N o 1 zu SLOW PIECE N o 5 arbeitete ich mit dem alltäglichen Rhythmus, Tanz, Prozess, Technologie und Rückkehr. Die Reihe kann als experimentelle Metamorphose verstanden werden. Momente der Verschiebung waren wichtiger als Momente des Zeigens und Darstellens. Das Ziel war es, Kulturtechniken genauso wie Gewohnheiten zu benutzen, um Identität und damit verbunden Ausschluss zu kreieren. Dys-Funktionalität, Scheitern, Wandelbarkeit und De-Konstruktion waren die Formen in denen ich – notwendigerweise – operierte.

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ist, dass sie erst nach dem Verbeugen am Ende einer Performance wirklich zugeben bzw. wahrnehmen kann, mit dem Publikum zusammen anwesend gewesen zu sein. Z: Also willst du während der gesamten Performance die Präsenz des Publikums spüren können und sie sollen dich spüren können, nicht nur am Anfang und am Ende? L: Ja und ich glaube, dass es an mir ist, das zu ermöglichen. R: Es gibt immer eine Verbindung zum Publikum. Selbst wenn du deine Bewegungen auf ein Minimum reduzierst oder keine direkte Interaktion stattfindet, denke ich, dass dies einen Vorstellungsraum eröffnet, der wiederum durch die Projektionen des Publikums eine Verbindung schafft. Es erinnert mich an einen Filmemacher, der sagte, dass man, wenn man einen Hollywoodfilm anschaut, völlig im Plot absorbiert ist, wohingegen man, wenn man einen experimentellen Film schaut, all seine Wünsche und Fantasien auf die Bilder projizieren kann. Ich glaube, dass es das gleiche mit deinen Performances ist. Sie eröffnen einen Raum für einen selbst und für Reflexion. L: Das stimmt. Mein Ziel in einer Performance ist es, Mensch­en berühren zu können.Wenn das, was ich tue, etwas in ihnen bewirkt, wenn es etwas mit ihnen macht, wenn sie einen neuen Gedanken hegen, welchen auch immer, wenn ich in irgendeiner Art und Weise an ihnen rühren konnte, dann ist meine Arbeit komplettiert. Z: In den slow pieces hat es weit mehr als eine Minute gedauert, ein Glas Wasser zu trinken. Als ich der Performance zusah – und ich habe hinter der Kamera mehrere Stunden zugeschaut, konnte ich mich nicht auf irgendetwas anderes konzentrieren. Nach einiger Zeit ertappte ich mich dabei, wie ich dieses Bewegungsverhalten aufnahm. Es ist ähnlich zu dem Verhalten von Kindern im Alter von vier bis acht Jahren. In dieser Altersstufe gibt es die so genannte präoperationale kognitive Stufe. Das ist die Phase, in der wir als Kinder durch Beobachtung lernen. Ich habe entdeckt, dass man sich, selbst wenn man schon erwachsen ist und sich Verhaltensweisen und Emotionen bereits gefestigt haben, dieser Phase wieder annähern und Bewegungen wieder erlernen kann, wenn man sie für eine gewisse Zeit beobachtet hat. Es ist nichts rein Kognitives wie: ›Okay, das ist eine gute Bewegung und ich sollte sie auf diese oder jene Weise ausüben.‹ Man nimmt sie einfach auf und führt sie aus. Ich glaube, die Langsamkeit der Performances hat mir ein Körperbewusstsein gegeben, ohne dass ich direkt in die Handlung involviert gewesen bin, sie wohl aber beobachtet habe. Wenn du, Lisa, dich also fragst, wie du eine Verbindung mit dem Publikum etablieren kannst, oder auf deren Feedback wartest …

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L: Ich warte nicht auf ein Feedback. Vielleicht gibt es keinen Weg, der mich dort hinführen kann, aber ich warte wirklich auf diese Geborgenheit [comfort], von der Yvonne Rainer schreibt. Ich würde gern diesem Verständnis der Verbindung nachspüren können. Aber wann immer ich eine Performance mache, brauche ich diesen Abstand. Ich brauche einen sehr konzeptionellen Rahmen, in dem ich mich wohlfühle. Mein Wohlbefinden hängt also – bis jetzt zumindest – von der Exklusion des Publikums ab, aber ich glaube, dass es wertvoller ist, eine Beziehung aufzubauen. Das wäre für mich nicht gleichbedeutend damit, dass ich den konzeptionellen Rahmen verlasse, sondern vielmehr, dass ich ihn auch nutze, um während einer Performance aus ihm heraus zu wachsen. Es gibt ja einen ganz bestimmten Grund, warum eine Performance eine Performance ist: Sie ist einzigartig und vor diesem Hintergrund wäre es schade, in seinem vorgefertigten Rahmen stecken zu bleiben. R: Wenn du das Gefühl hast, dass du deinen Raum des Wohlbefindens oder deine comfort zone nicht verlassen kannst, dann ist es doch eine Herausforderung für dich, genau das auszuprobieren und diese Linie, diese Grenze, für eine Sekunde oder eine Minute zu überschreiten, oder nicht? L: Ja, es ist einen Versuch wert und es trifft genau das Gefühl von Yvonne Rainer, wenn sie schrieb, dass sie Angst davor hatte, nackt auf der Bühne zu sein, weil sie zu viel Privates zur Schau trägt und ich habe bei mir das Gefühl, dass es mit meinem Konzept kommt, das Persönliche versteckt zu halten. Am Ende geht es nämlich auch um Freiheit und ich frage mich, mit welcher Art Freiheit man sich als Künstler auseinandersetzt. Z: Du überlegst, wie frei du dich vor Publikum aussetzen kannst? L: Ja auch. Was einen in der Reflektion schließlich zu der Frage bringt, wie man einen Performer definieren könnte, zu überlegen, ob es möglich ist, eine Definition zu versuchen und auch, ob das überhaupt sinnvoll ist. Z: Es kommt darauf an. Ist das nicht der Grund, warum du performst und nicht beschreibst? Du performst, sonst nichts. Dieser erste Teil der Konversation war wie ein Sich-auf-einander-Einstellen für uns. Ich versuchte, mithilfe des Zitats von Yvonne Rainer, einen Rahmen – meine comfort zone – zu entwickeln und einen Input zu geben. Ich sprach allerdings auch von einer prägenden Präsentation von Annemarie Matzke, Mitbegründerin von She She Pop  7, im März 2013 an der Freien Universität Berlin, um 7 »She She Pop ist ein Performance-Kollektiv, das Ende der 90er Jahre von

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Gegenbeispiele zu meinem Verständnis von Performancekunst zu liefern. Es ging in ihrem Vortrag um die Begriffe Arbeit, Probe und Performance, deren Verständnis und weiterhin um She She Pop selbst. Matzke erläuterte Funktions- und Arbeitsweise ihres Kollektivs.8 Sie sehen sich als Performancegemeinschaft. Unterm Strich jedoch machen She She Pop meiner Meinung nach Theater und die Arbeit von Annemarie Matzke als Performancekünstlerin und Professorin ist ausschließlich an den beiden Enden ihrer eigenen Bandbreite angesiedelt: der kulturellen Institution des Theaters und der akademischen Institution der Universität. Performances hingegen gehören für mich nicht in eine feste Institution, sondern zur freien Kunst, zu kleinen Galerien und auf die Straße. Sie gehören in Umfelder, in denen es erwünscht ist, dass Dinge geschehen und Grenzen ernsthaft verwischt und überschritten werden. Sie gehören an Orte, wo Menschen hingehen, um sich inspirieren zu lassen und nicht, um unterhalten zu werden. Selbst wenn She She Pop Politik oder politische Konzepte infrage stellen, so sind ihre Performances dennoch Unterhaltung – vielleicht intellektuell und anspruchsvoll – das ändert jedoch nichts daran, dass sie in ihrem Kern Unterhaltung sind. Ganz besonders deswegen, weil die Bühne für She She Pop der »Schutzraum des Theaters« ist. Ungeachtet dessen, habe ich in der Arbeit von Matzke sehr spannende Aspekte entdeckt. Sie erklärte die Idee und die Strategie von She She Pop, die als Kollektiv organisiert sind und in dieser sozialen Form in strengem Gegensatz zu den strikten Hierarchien in Theatern und zur antiquierten Künstlerfigur des 18. Jahrhunderts stehen. Sie arbeiten daran, den Prozess einer Performance sichtbar zu machen und zu zeigen, wie eine Performance zu einer Performance wird. Matzke bezeichnete dies in ihrem Vortrag als »staged working situation«. In ihrer Arbeit geht es darüber hinaus vielmehr um die Ehrlichkeit der Performancekünstler als um deren Authentizität. Sehr oft ist (ihre) Arbeit immateriell. Das eigene Leben wird zu einer Arbeitstechnik. Man zeigt sich auf der Bühne als jemand anderes, bleibt aber dennoch man selbst. Absolventinnen des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft gegründet wurde. […] Die Bühne ist für She She Pop ein Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden, an dem Gesprächsweisen und Gesellschaftssysteme ausprobiert, große Gesten und soziale Rituale einstudiert oder verworfen werden. She She Pop sehen ihre Aufgabe in der Suche nach den gesellschaftlichen Grenzen der Kommunikation – und in deren gezielter und kunstvoller Überschreitung im Schutzraum des Theaters.«, www.sheshepop.de/ueber-uns .html (letzter Zugriff: 9.  8 .  2013). 8 Ebd.

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Begriffe und Wortgruppen wie eigenes Leben, Ehrlichkeit, je­ mand anders auf der Bühne sein oder Prozess sind in meiner eigenen Argumentation, in meinem eigenen Denken wichtig. Unweigerlich denke ich auch, dass ein Performancekünstler im Prinzip ein Zwischenhändler ist, denn er setzt sich öffentlich aus, er ist das Mediale einer Performance, er übersetzt und überträgt, sowie er an- und aufnimmt. Er ist wie der phänomenologische, unsichtbare Leib zwischen dem Körper und dem Geist. Ich meine, dass dies der Grund ist, warum es mir unmöglich scheint, sich selbst als Performer bzw. den Performer zu definieren. Hiervon jedoch ausgenommen ist der Begriff Performer selbst. Dadurch, dass sich Romina und ich noch nicht kannten, als die slow pieces aktuell waren, schauten wir uns einige Videos an, die Zeynep gefilmt hatte und kamen langsam wieder ins Gespräch.

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L: Für mich waren die slow pieces eine wunderbare Überein­ kunft. Ich wurde von einem guten Freund und Performancekünstler aus Indien, Nikhil Chopra, der für ein Jahr als Fellow an das internationale Forschungszentrum »Interweaving Performance Cultures« der Freien Universität Berlin kam, eingeladen. Er erzählte mir, dass er ein Studio hat, und lud mich ein, dort zu performen. Der Raum »Grüntaler9« im Berliner Stadtteil Wedding hatte zwei große Schaufenster und nebenan gab es ein kleines Café und eine Bar. Es gab also für das Publikum kein Problem, über einen längeren Zeitraum hinweg zu bleiben, da die slow pieces immer mindestens drei Stunden dauerten und auch Nikhil Chopras Performances überwiegend einer Minimal-Dauer von 24 Stunden unterliegen. So konnte man zwischendurch einen Kaffee trinken gehen und sich mit anderen austauschen und die Performance ebenfalls von außen durch die großen Fenster beobachten. Ich habe mich in dieser Umgebung sehr wohl gefühlt, denn ich hatte keine Erwartungen zu erfüllen, die man möglicherweise zu erfüllen hat, wenn man eine 30-minütige Performance ankündigt. In solch einem Fall kommt das Publikum an, man würde mit seiner Performance beginnen, enden und das Publikum würde applaudieren. Das ist jedoch selten geschehen, was ich als positive Erfahrung empfinde. Es ermöglichte viel Selbsterfahrung und Herausforderung. Und wieder Selbsterfahrung. Z: Dein Körper war auch mit einer Herausforderung konfrontiert. Je mehr du dich in die Performances begabst, umso besser konntest du deinen Körper spüren bzw. wuchs dein Körperbewusstsein. War das der Beweggrund, alles so langsam zu machen? Was war der Ausgangspunkt für dieses Körperkonzept?

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L: Gute Frage. Das Konzept der Langsamkeit entwickelte sich aus der Idee, etwas Körperliches, etwas Physisches tun zu wollen. Bewegung gehört zu meinem Leben wie der morgendliche Kaffee für viele Menschen. Schließlich fand ich, dass Langsamkeit eine gute Idee ist, denn wenn man seinen Körper entschleunigt und diese Entschleunigung als grundlegendes Konzept für eine Performance benutzt, dann kreiert man notwendigerweise für die Performance einen Moment von Dauer. Ich wusste, dass ich meinen Körper an eine Grenze bringen wollte, ihn ausdauern lassen wollte, um ihn letztendlich wirklich zu erfahren. Auf welche Art ich schließlich meinen Körper erfahren würde, das wusste ich vorher nicht und so war es eine große Überraschung. Z: Was für eine Überraschung? L: Eine Überraschung in dem Sinne, dass man plötzlich ganz besondere Momente erlebt. Momente der Erschöpfung, aber auch Momente großer Kraft. Es ist unglaublich schwer, über einen langen Zeitraum richtig langsam zu bleiben. Dazu gehört viel Konzentration und Energie. Schließlich erreicht man einen Punkt, an dem man die Zeit vergisst. In diesen Momenten fühlte ich mich besonders eng mit meinem Körper verbunden, was mir sehr viel Kraft gegeben hat. So konnte ich auch in der Langsamkeit bleiben. Auf einmal war es körperlich nicht mehr so herausfordernd, wie zuvor gedacht. Aber es war auch klar, dass die Erschöpfung nicht lange auf sich warten lassen würde.9 R: So wie eine sechsstündige Meditation? L: Ja, es ist wie Meditation. Das ist es, was ich vom Publikum oft danach gehört habe, dass sie da saßen und den meditativen Moment genossen, in dem sie eigentlich nichts getan haben. R: Was du ihnen gegeben hast, war doch wahrscheinlich die reine Präsenz und das ist schließlich am allerwichtigsten. L: Dem stimme ich zu! Ein Beweggrund, Langsamkeit zu einem zentralen Aspekt meiner Performances zu machen, ist definitiv auch der Tatsache geschuldet, dass unsere Lebensweise immer hektischer und schneller wird und wirkt. Durch mein Studium der Medienwissenschaft begann ich natürlich mich mit Begriffen wie 9 Nach dem Lesen dieser Aussage, fällt mir auf, dass die größte Überraschung war, tatsächlich seinen eigenen Körper zu spüren, ihn ernst zu nehmen, ihn wahrhaftig zu spüren. Das ist, was ich gewonnen habe, seitdem ich Performances mache, das Bewusstsein für meinen Körper. Ich kann ihn nicht mehr ignorieren. Ich merke sehr schnell, ob und wann mir Sachen gefallen oder missfallen und versuche dann die bestmögliche Entscheidung für mich zu treffen. Kann ich meinen Körper ignorieren, weil es gerade andere Sachen gibt, die wichtiger sind, oder sollte ich auf ihn hören und ihm seine Pause, seine Ruhe geben?

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Medien, Technologie und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Die allgemeine Tendenz in der Wahrnehmung und im Austausch mit anderen Studenten ist, dass alles in einem viel zu hohen Tempo geschieht, dass alles in Bewegung ist und man gar nicht mehr weiß, wo man anfangen oder auf‌hören soll. Was ich also ausprobieren wollte, war das Gegenteil. Und ich wollte herausfinden, welchen Effekt dies haben würde. Ich wollte jedoch ganz alltägliche Dinge tun und nichts Außergewöhnliches. Z: Etwas wie essen, auf die Toilette gehen zum Beispiel: Einmal putzte sie ihre Zähne, was unmöglich schien, denn schließlich ist das Putzen eine schnelle Bewegung. Allein die Vorstellung, sich ganz langsam die Zähne zu putzen, man kann ja nicht langsam ausspucken, oder was hast du genau gemacht? L: Ich nahm Wasser vom laufenden Wasserhahn in meine Hände und führte sie zu meinem Gesicht in der Hoffnung noch etwas Wasser übrig zu haben, mit dem ich meinen Mund ausspülen konnte, sobald Mund und Hände sich erreichen würden. Ich ließ dann meinen Kopf kreisen, beugte mich anschließend über das Waschbecken und öffnete meinen Mund um das bisschen Wasser, das ich im Mund hatte, auszuspucken. Es war sehr lustig. Nikhil schaute mir zu, wie ich Zahnpasta auf meine Zahnbürste drücken wollte. Die Zahncreme quoll aus der Tube und drohte herunter zu fallen, bevor ich sie mit meiner Zahnbürste auf‌fangen konnte. Nikhil bekam einen Lachanfall. Da er ein sehr guter Freund und sein Lachen mir demzufolge vertraut ist, musste ich wirklich an mich halten, nicht auch in Gelächter auszubrechen, da Lachen im Gegensatz zum Zähneputzen unweigerlich eine schnelle, affektive Aktion ist. Es geht nicht langsam. Ich zwang mich also dazu, resistent zu bleiben. R: Das ist sehr spannend im Hinblick auf Meditation. Wenn du meditierst, dann kontrollierst du alle Affekte. Wenn es dich juckt, dann ignorierst du es. Du ignorierst all deine Gedanken. Ich glaube, während einer Performance, wenn du dich so langsam bewegst und Dinge so langsam tust, kannst du dem Publikum auch etwas zurückgeben: Zeit nämlich. Mein Großonkel pf‌legte zu sagen: Wenn du eine Teezeremonie beobachtest, dann gibt diese dir Zeit, so wie Zeit schenken oder zurückschenken. Ich glaube daran: Zeit als ein Angebot, als eine Gabe. Z: So gesehen, ist aus Perspektive des Publikums eine Menge zu reflektieren, denn die Leute können dich nicht einfach nur anstarren. Es ist nicht keine Aktion, da es eine Menge Konzentration benötigt, die Neugier aufrechtzuerhalten, dich bei dem, was du tust zu beobachten. Ich vermute, dass es eine Menge Selbstreflexivität vom Publikum erfordert.

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R: Hast du das Publikum gespürt und darauf reagiert? Denn in Bezug auf die Bedeutung der Interaktion finde ich es wichtig, dass du sowohl ein Reflektor als auch ein Kollektor bist, der die inneren Bewegungen wie auch die des Raumes der dich umgibt, aufnimmt und wieder abstrahlt. Es ist ein konstanter Austausch. Beispielsweise sind deine Bewegungen immer auch davon geprägt, in welchem Bezug du zum Publikum stehst. Auf eine gewisse Art und Weise beeinflusst es deinen Körper. Das ist es, was ich vorher gemeint habe. Interaktion ist hier nicht als Unterbrechung zu verstehen und muss nicht bedeuten, wirklich aus der Performance herauszugehen und etwas mit dem Publikum vis-à-vis zu machen. Eher soll sie verstanden werden, als ob ein Windstoß durch den Raum weht, den man fühlen kann, der einen Körper berührt. Oder wenn jemand flüstert. Ich wollte wissen, ob diese Signale deinen Körper erreichen oder nicht. L: Das kommt sehr auf die Performance an, denn wie ich bereits gesagt habe: Bei langen Performances und in Vertiefungszuständen gibt es den Moment der Zeitlosigkeit, in der man nicht mehr realisiert, was um einen herum geschieht. Aber weil die slow pieces eben auch Performances waren, die ohne jeden zusätzlichen Sound ausgekommen sind, erreichten mich natürlich alle äußeren Geschehnisse – aber ich reagierte nicht aktiv oder kommunikativ darauf. Ich blieb meditativ und diszipliniert langsam. Z: Ich würde gerne noch einmal auf das Körperbewusstsein zu­rückkommen. Wenn du über dich selbst nachdenkst: Wie hast du dich die ganze Zeit über gefühlt, nicht nur während der Performances, sondern auch in Bezug auf dein übriges Leben? Und was hat sich bis jetzt im Hinblick auf dein Körperverständnis verändert? Ich weiß, dass du dabei unter anderem den Ansatz Merleau-­ Pontys’ in deine Konzepte mit einbeziehst. L: Da kann ich an Rominas Reflektor-Kollektor-Modell anknüpfen. Als Performer bin ich ein Kollektor und ein Reflektor für das Publikum, und wenn ich diese Information auf mich selbst beziehe, dann ist mein Körper ein Reflektor und ein Kollektor von mir selbst. Das ist eine andere Möglichkeit, die Aussagen von Merleau-Ponty zu deuten. Was also haben die slow pieces bewirkt? Sie gaben mir ein ganz besonderes Bewusstsein in und mit meinem Körper zu sein und was mich sehr fasziniert hat – das mag auf eine Weise banal klingen aber es ist auch ein zentraler Punkt – war, dass ich meinen Körper absichtlich physisch begrenzt habe und währenddessen bemerkte, wie viele Möglichkeiten ich hatte. Beispielsweise, um beim Thema Trinken zu bleiben: Wenn man etwas trinken möchte, würde man einfach eine Flasche Wasser in die Hand nehmen und nicht weiter darüber nachdenken. Wenn man

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dies jedoch extrem langsam macht, dann gibt es mit einem Mal so viel Zeit, dass man darüber nachdenken kann, mit welcher Geste und mit welchem Impetus man die Flasche nimmt, öffnet, trinktm verschließen und wieder abstellt. Es ist nicht wirklich bedeutsam, aber einfach nur zu wissen, dass man die Wahl hat, dass es nicht notwendigerweise immer die gleiche Art sein muss, die Flasche zu greifen, zeigte mir – in einem zweiten Schritt –, dass ich als Mensch immer die Möglichkeit habe zu entscheiden. Das ist etwas, das einem klar werden sollte. Dieses intensive Körperbewusstsein gab mir viel Freiheit. Ich realisierte dadurch, dass alles im Prozess ist, und machte das als Thema letztendlich zu meinem Hauptfokus. Es gibt kein endgültiges Wesen. Zu Beispiel fühlt man sich an einem Tag glücklich und läuft den Weg zur U-Bahn beschwingt und leichtfüßig. An einem anderen Tag ist man möglicherweise müde, wodurch sich der gesamte Ausdruck und die gesamte Haltung verändert und man auf eine andere Art zur U-Bahn geht. Die Entscheidung darüber wird bewusst, aber auch unbewusst getroffen. Ich fand es sehr spannend zu lernen, dass es keine absolute Kontrolle gibt, mit welcher Einschränkung oder striktem Konzept für bzw. gegen einen selbst auch immer. Für mein Leben zeigte es mir, dass wir als Menschen ein immenses Potenzial in uns tragen. Das Wie des Seins ist unerschöpf‌lich. Was du mit deinem Leben anfängst und wie du damit umgehst, ist deine Sache und deine Möglichkeit. Z: Könnte man also sagen, dass du deine Möglichkeiten entdeckt hast? L: Ja. Und so wie ich alles fragmentiert und in Prozessen betrachte, geht es darum zu wissen, dass, was immer man auch macht, man die Dinge durchaus mit Absolution tun sollte, aber keineswegs Absolution erwarten sollte – oder anders: Erwarte nicht 100 % von dem zurück, was du gegeben hast. Beides geschieht. Ich bin in meinen slow pieces auch gescheitert: Einmal musste ich husten und so hustete ich, was aber langsam nicht geht, wie das Lachen. Es ist genauso unmöglich, wie langsam zu atmen oder zu zwinkern. Das ist quasi die andere Seite der Möglichkeiten, nämlich zu wissen, dass man auch versagen kann, was aber nur ein Versagen im eigenen Konzept, jedoch kein eigentliches, menschliches Versagen ist. Dass es in Ordnung ist, Fehler zu machen, genauso wie es in Ordnung gewesen ist, während der Performance zu husten. Niemand hätte gesagt, dass es eine schlechtere Performance gewesen ist, weil ich den Rahmen der Langsamkeit durch mein Husten durchbrochen habe. Zu wissen, dass man eine gewisse Präsenz besitzt und dass allein diese Präsenz sehr stark ist, selbst wenn man sich dessen nicht immer gewahr ist. Das finde ich wichtig.

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Z: Das ist Selbstvertrauen. An der Oberfläche betrachtet sieht es sehr zerbrechlich aus und die Langsamkeit erinnert zunächst an das Gegenteil von Kraft und Stärke. Es funktioniert offensichtlich aber eher aus einer tieferen Perspektive, so wie Meditation, über die du [Romina] vorhin gesprochen hast. R: Ja. In meiner Doktorarbeit beschäftige ich mich mit meditatio und askesis. Das Wort meditatio ist abgeleitet von gymnasai und bedeutet nichts anderes als Übung oder Praxis. Dabei bezieht es sich auf die physische Praxis. Ich finde das sehr spannend. Michel Serres sagte, dass Gymnasten oder Tänzer die Asketen des Denkens seien. Ich schreibe auch über Selbst-Techniken und ich denke, dass deine Performances auf gewisse Weise auch Selbst-Techniken sind. Es ist keine leichte Übung, drei oder sechs Stunden zu performen. Ein wichtiger Aspekt ist, dass es sich auch um eine Art der Meditation handelt und das ist so interessant bei dir, denn in deinen Performances erlangst du Bewusstsein für deinen Körper. Du bist in deinem Körper und mit diesem Bewusstsein kannst du entscheiden, was du in deinem Leben oder auch in diesem Moment tun möchtest. Das liegt daran, dass du eine Präsenz kreiert hast, indem du in deinem Körper präsent bist. Du hast die Stärke, die Welt durch deine eigenen Augen zu sehen und bist nicht ausgeliefert, wie ein Blatt an einem Baum, das sich immer nach der Richtung des Windes richten muss. Für mich ist Tanz oder Performance auch eine Lebenstechnik. Man kann wirklich mit sich selbst arbeiten, und ich glaube, dass es die ganze Zeit nur um Präsenz geht, die physische Präsenz – es geht um einen selbst und darum, dass man im Hier und Jetzt ist. Ich glaube, dass du in deinen Performances die Zeit anhältst. Das ist der Grund, warum ich gesagt habe, dass du dem Publikum Präsenz gibst. Vielleicht auch dir selbst, aber vor allem dem Publikum. Sie können ein anderes Zeitverständnis wahrnehmen. Z: Erinnerst du dich an irgendwelche bedeutsamen Dinge, die während einer Performance geschehen sind? Wie z. B. an einen Moment, in dem du dachtest, dass du dich von etwas berührt fühlst? Ich erinnere mich daran, dass die Anwesenheit bestimmter Menschen oder Freunde von dir wichtige Momente für dich waren. L: Ja, weil sie die Einzigen sind, in deren Augen ich sozusagen tatsächlich menschlich versagen könnte, weil sie mich kennen. Ihre Meinungen sind mir sehr wichtig und somit ist meine Angst oder Aufregung größer, wenn ich weiß, dass der- oder diejenige im Publikum sein wird. Zu unrecht, wie ich feststellen konnte, denn bis jetzt waren all die Gedanken, die sie hervorbrachten, sehr hilfreich. Einmal, während des Month of Performance Art 2012 in Berlin, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Als Teil einer Gruppenaus-

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stellung mit dem Titel »Performing Lines« war vorgesehen, dass ich mit Klebeband an, mit und in einem Raum arbeiten würde. Aus dieser Suggestion heraus entwickelte ich – nicht zuletzt auch aus Trotz – ein Stück, in dem ich mich selbst von den Füßen bis zum Kopf in Klebeband einwickeln würde, um dann zu versuchen, mich aus dieser Struktur wieder zu befreien. Ich verfolgte keine besondere Absicht damit. Ich tat es einfach. Ein guter Freund von mir sah dann in der Performance den gesamten Prozess eines menschlichen Wesens und die Phasen seiner Sozialisation. Ich konnte mich nur bis knapp über die Knie eigenständig eintapen und hatte bereits vor der Performance mit einem Bekannten abgesprochen, den Rest des Eintapens zu übernehmen. Als dann das fremde Eintapen begann – und das war der größere Teil – versinnbildlichte dies für ihn die Mitbestimmung durch Andere und durch äußere Umstände über einen selbst. Das Eingreifen der Anderen, die einen absichtlich oder unbewusst auf eine förderliche oder weniger förderliche Art manipulieren. Es wird somit schwierig, sich selbst zu definieren. Auch als Erwachsener ist es schwer, wirklich zu wissen, wer man ist und nicht einfach nur in einer Welt zu funktionieren, weil man von äußerlichen Eingriffen so sehr beeinflusst wurde und wird. Er erkannte all das in meine Performance und sagte: »[…] und dann hast du versucht, dich von alledem zu befreien, aber du konntest das Klebeband nicht restlos von dir entfernen. Das zeigte, dass du für dich selbst kämpfst, für dein eigenes Leben. Aber das Leben hinterlässt Spuren.« Das war in seiner Gänze ein großes Kompliment, weil es an meine eigene Denkweise anknüpft, den Begriff der Freiheit in einer dialiektischen Beziehung mit dem der Restriktion zu sehen. Das heißt das man in gleicher Weise seinen Möglichkeiten wie seinen Einschränkungen unterliegt, seinen potentiellen Erfolgen, sowie seinem potentiellen Scheitern. Im Leben geschieht immer beides und so verweisen wir im Rückblick auf die Spuren unserer Erfahrnisse. R: Ja, das ist es, was ich vorher meinte. Du musst nicht notwendigerweise direkt interagieren. Er hat all seine Projektionen auf deinen Körper und deine Geschichte appliziert. Und du gabst ihm die Möglichkeit, diese Gedanken während deiner Performance zu denken. Das ist wunderschön! L: Ich war kürzlich auf einem studentischen Performancefestival in Hamburg, wo jeder seine aktuellen, unfertigen Projekte vorstellen konnte. Sie wurden danach diskutiert. Eines Abends entwickelte sich eine Unterhaltung mit dem Tänzer und Choreografen, Martin Nachbar, dem verschiedene Fragen zu Strategien und Herangehensweisen als Künstler während und vor allem auch nach dem Studium gestellt wurden. Es ging um Unterstützungs- und

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Förderungsmöglichkeiten für junge Künstler durch Institutionen und durch Netzwerke. Nachbar antwortete darauf, dass der Auf‌bau eines Netzwerkes Zeit brauche, jahrelange Inkubationszeit. Um damit erneut bei Yvonne Rainer anzuknüpfen, bin ich wohl bei ihrem Zitat angekommen und brauche Zeit, um dies zu für mich realisieren. Vielleicht geht es nur um Zeit. Z: Es geht um ein Gefühl der Zufriedenheit und darum, Zeit zu investieren, den Aufwand wirklich wertzuschätzen. Ich glaube, dass ›das, was gut ist‹, dadurch definiert werden könnte, wie viel Zeit und Aufwand man investiert. Damit meine ich, dass jeder etwas tut und du kannst darin erkennen, wie flach es ist und du kannst flach und gut identifizieren. Damit etwas gut wird, glaube ich, braucht es viel Übung und viel Erfahrung: Man macht etwas und macht es wieder und wieder. Das ist es, warum Menschen im Alter zu ihrer Größe wachsen. Übersetzt aus dem Englischen von Eva Wildhardt

Literatur Lagaay, Alice: Metaphysics of Performance, Berlin: Logos Verlag 2000. Plessner, Helmuth: »Zur Anthropologie des Schauspielers« in: ders., Zwischen Philosophie und Gesellschaft –  Ausgewählte Ab­handlungen und Vorträge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 205–219. Rainer, Yvonne: Feelings Are Facts: A Life, Cambridge: MIT Press 2006, S. 390. She She Pop: www.sheshepop.de/ueber-uns.html (letzter Zugriff: 9.  8.  2013) 49

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Dokumentation

Abb. 1 / 2: S LOW PIECE N o 1, Fotos: Nikhil Chopra, August 2011.

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Abb. 3 / 4: »Performing Lines«, kuratiert von Teena Lange, Month of Performance Art Berlin, Fotos: Melanie Wiener, Mai 2012.

Fabian Goppelsröder Ethik der Performativität Eine Ethik der Performativität zu behaupten ist auf den ersten Blick ein mindestens fragwürdiges Unterfangen. Zu sehr scheint erstere durch die Aushandlung der Dimensionen von Gut und Böse definiert, während letztere an ein sich solchen Kategorien gerade entziehendes reines Ausführungs- und Realisierungsgeschehen gebunden bleibt. Und doch wird dieses Verständnis beider Begriffe der ihnen etymologisch eingewobenen Vielschichtigkeit nicht gerecht. Während ›Ethik‹ von seinen griechischen Wurzeln her mehrere Bedeutungs- und Konnotationsebenen zulässt, eröffnet bei dem von John L. Austin in die Sprachphilosophie eingeführten Neologismus des ›Performativen‹ nicht zuletzt die Aneignung und Verwandlung des Begriffs durch kulturphilosophische Disziplinen wie Anthropologie, Soziologie, Theater- und Kunstwissenschaf‌ten neue Deutungsund Verstehensmöglichkeiten. Nicht zuletzt im Rahmen der grundlegenden Frage nach einer genuinen Kraft und Wirkmächtigkeit von Alterität wird so auch die Frage nach der ethischen Dimension des Performativen wieder relevant – und zeigt sich als irreduzibel mit dem Aisthetischen verbunden.

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Performativität Austins Einführung des Begriffs in der ersten seiner, unter dem Titel How to do things with words versammelten Vorlesungen ist an seine linguistische bzw. sprachphilosophische Fragestellung gebunden: Auf die Entdeckung, dass Sätze nicht notwendig deskriptiv – bzw. in Austins Vokabular ›konstativ‹ – sind, sondern wie das ›Ja‹ im Rahmen der Hochzeitszeremonie, das ›Ich taufe dich auf den Namen xy‹ bei einer Schiffstaufe, die Formulierungen eines Testaments oder das Schließen einer Wette selbst Handlungen vollziehen, führt er die Satzkategorie der ›Performativa‹ ein.1 »Der Name stammt natürlich von ›to perform‹, ›vollziehen‹: man ›vollzieht‹ Handlungen.« 2 Auch die lateinische Wurzel des englischen Worts verweist in der Verbindung des Präfixes ›per‹, ›durch, hindurch‹, mit dem Verb ›formare‹, ›bilden, gestalten‹ auf ein Sich-zur-Formhindurch-Gestalten und legt in gewisser Weise tatsächlich die völlige Durchbildung des Stoffes als eine Art restlose Umsetzung der Idee im Material nahe. Inwiefern Austin das so gedacht hat, sei dahingestellt.3 Entscheidend ist mindestens zu Beginn seiner Ausarbeitung der Theorie der Sprechakte die Entdeckung, dass Sprache Wirklichkeit nicht einfach nur abbildet, sondern mit gestaltet. Kriterien zur Bewertung dieser Gestaltung liefert Austin nicht. Die Sprechakte während der Hochzeitszeremonie, der Schiffstaufe, im Testament oder der Wette zeichnen sich durch ihre Selbstreferentialität und ihre wirklichkeitskonstitutive Kraft aus. Gerade deshalb aber sind sie weder wahr oder falsch, noch gut oder böse. Die Ehe kann geschlossen, das Schiff getauft, das Erbe verteilt und die Wette eingegangen werden – die diese Handlungen einbettenden ethischen Prinzipien sind der Performativität als solcher nicht inhärent. In diesem Sinn ist das Performative per se ethisch 52

1 Austin war nicht der Erste, der Sprache als Handlung zu verstehen suchte (vgl. als nur ein Beispiel Karl Bühlers Überlegungen in seiner Sprachtheorie von 1934). Allerdings ist der Neologismus der ›Performativa‹ sowie die Betonung der wirklichkeitskonstitutiven Kraft, wie er sie zu Beginn seiner Überlegungen insbesondere an den sogenannten ›starken Performativa‹ beschreibt, für uns an dieser Stelle besonders einschlägig. 2 John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, übers. v. Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam 1975, S. 29  f. 3 Sybille Krämer hat darauf hingewiesen, dass Austins eigene Performanz, sein Schreiben durch die Vorlesungen hindurch, die strikte Form seiner Theo­ rie untergräbt und im Hinblick auf eine weitere, kulturphilosophische Sichtweise auf Performativität hin öffnet. Vgl. Sybille Krämer, Marco Stahlhut: »Das ›Performative‹ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie«, in: Paragrana 10 (2001) Heft 1: Theorien des Performativen, S. 35–58.

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neutral.4 Die Frage nach einer Ethik der Performanz könnte damit bereits als erledigt gelten. Obwohl sich Handlungen als gut oder böse bewerten lassen, stammen die Kriterien dieser Bewertung doch nicht aus der Handlung selbst. Sie sind gesellschaftlich gebildet und werden von außen an sie heran getragen. Für Austin spielt daher die in diesem Sinne ethische Bewertung der Sprechakte auch keine Rolle. Ihm geht es vielmehr um die, den ethischen vorgelagerten, Kriterien des Gelingens oder Misslingens von Sprachhandlungen. Entdeckt die Sprechakttheorie Sprechen als Handeln, während sie zugleich an der analytischen Gleichsetzung von Kultur und Text, also an der prinzipiellen Dechiffrierbarkeit dieses Sprachhandelns, festhält, so steht ›Performanz‹ in einer weiteren, kulturphilosophischen Perspektive nicht zuletzt für den nicht-semiotisierbaren Überschuss des Vollzugs gegenüber seiner Theoretisierung. Eine Dimension der Praxis also, die selbst nicht gelesen werden kann, als irreduzibler, konstitutiver Teil der Praxis aber zugleich Bedingung der Lesbarkeit von Welt überhaupt ist. In diesem Sinne ist Performativität Medialität: Bedingung von Wahrnehmung, die sich selbst der Wahrnehmung entzieht.5 Auch für die kulturphilosophische Perspektive ist das ›Gut‹ oder ›Böse‹ nicht primär relevant. Allerdings wird auch keine Liste vorgegebener Gelingensbedingungen erstellt. Das Performative ist hier nicht mehr der schlichte Vollzug einer in ihrer Form und Auswirkung durch den Kontext vorgegebenen Handlung. Austins Beispiele, das ›Ja‹ auf dem Standesamt oder das ›Ich taufe dich auf den Namen xy‹, haben nur dann wirklichkeitskonstituierende Kraft, sind nur dann tatsächliche Beispiele für Performativa, wenn die institutionelle und formale Einbettung, aber auch die mentale und emotionale Attitüde der Beteiligten stimmt. Nur wer sein ›Ja‹ aus Überzeugung spricht wird sich durch diesen Sprechakt verheiraten. Das Performative ist damit vollständig auf seine vollziehende bzw. ausführende Funktion reduziert. Wie der Vollziehungsstrich lediglich der letzte, autorisierende Eingriff des Herrschers in das, vom Schreiber bereits ausgearbeitete Herrscher-Monogramm der mittelalterlichen Urkunden darstellt, so sind Austins Performativa nur der letzte, wenn auch entscheidende Zusatz einer kulturell eta4 Erika Fischer-Lichte beschreibt das folgendermaßen: »Ein Versprechen als solches mag zwar eine Selbstverpflichtung zu einem bestimmten Handeln beinhalten. Dies kann jedoch ebenso ein kriminelles wie ein großherziges Handeln sein – ein Drohen oder ein Verheißen.« Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2012, S. 52. 5 Vgl. den Beitrag von Dieter Mersch hier im Band.

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blierten Szene. Nichts geschieht unvorhergesehen. Die wirklichkeitskonstitutive Kraft dieser Sprechakte ist durch das Ritual kanalisiert und antizipierbar. Die kulturphilosophische Perspektive verschiebt hier das Interesse. Anstatt auf die Erfüllung einer gegebenen Erwartung zu setzen, steht die Unvorhersehbarkeit der Performanz im Zentrum. Judith Butler dekonstruiert die scheinbar gegebene kulturelle Geschlechterzuschreibung in Mann und Frau durch eine Radikalisierung des Performanzbegriffes. Gender – das kulturelle Konzept von Geschlecht im Unterschied zum biologischen, dem ›sex‹ – besteht einzig als Akkumulation endloser, unvermeidlicher performances, die jeder von uns Tag für Tag auf der Arbeit, in der Freizeit, publik oder ›en famille‹ auf‌führt. Diese alltägliche Performanz konstituiert geschlechtliche Selbstwahrnehmung als eine durch Gewohnheit und Routinen träge Realität, die den spontanen Geschlechtswechsel unmöglich macht. Zugleich setzt Butler die Betonung des Performativen dabei aber gegen die Vorstellung einer schlicht gegebenen, essentiellen oder ontologischen Geschlechterzuordnung. Wie sehr sich die Wahrnehmung der kulturellen Rollenzuschreibung als Mann und Frau auch in unser Bewusstsein eingebrannt hat – es ist das unbestimmbare, Überraschungen zulassende, nicht berechenbare Moment der täglichen performances, das einen Wandel des Selbstverständnisses der Geschlechter auf die Dauer möglich macht. Butlers eigene Arbeit kann als theoretischer und agitatorischer Katalysator eines solchen Bewusstseinswandels verstanden werden. In unserem Kontext ist entscheidend, dass das Performative hier nicht mehr als schlichte Umsetzung einer Vorgabe, Realisierung einer Idee gedacht wird. Die wirklichkeitskonstitutive Kraft ist nicht nur das Ausfüllen eines Schemas. Es schafft Realität neu, bringt bestehende Dichotomien durch das Ziehen neuer Grenzen zum Einsturz. Victor Turner hat in seinen ethnologischen Studien der Ndembu im heutigen Sambia eine Analyse der schöpferischen Performanz von Übergangsriten vorgelegt, welche genau diesen Aspekt ins Zentrum des Interesses rückt. Im Übergangsritus löst sich das rituelle Subjekt aus den gewohnten Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen, hält sich für Momente im Zustand des unentschiedenen »betwixt and between«, einem Zustand höchster Potentialität, bevor es sich aus diesem heraus als neues Subjekt in eine neue Welt sedimentiert.6 Diese Liminalität des Rituals kann als die sie bestimmende und in kulturphilosophischer Sicht rele6 Vgl. insbesondere Victor Turner: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, New Brunswick et al.: Aldine Transaction 22009.

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vant machende kreative Dimension von Performativität verstanden werden. Sie wird nun vor allem als creatio – wenn nicht ex nihilo so doch aus einem unentschiedenen Zwischen heraus – interessant. Moralischer Bewertung gegenüber bleiben all diese Varianten indifferent. Die Frage nach Gut und Böse trifft das Performative nicht. Und doch rührt die ihm implizite Kreativität durchaus an ein ethisches Moment.

Ethik Das griechische Wort »Ethos« bezeichnet zunächst den Wohnort, den Stall, den Weideplatz. Auf dieser grundlegenden Ebene verweist es mithin auf nicht mehr als die materielle Grundstruktur menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Erst aus den durch diesen Raum möglich gewordenen alltäglichen Wiederholungen, Gewohnheiten und Routinen ergibt sich dann das weitere Bedeutungsfeld der Sitten, Bräuche und angemessenen Verhaltensweisen. Die heute mit dem Begriff der Ethik vielleicht am stärksten verbundene Vorstellung des sittlichen Bewusstseins, der durch die Sitten und Gebräuche geprägten Einstellung und Haltung, kann so als individuelle Inkorporierung beschrieben werden. Erst auf dieser letzten Ebene stellt sich die Frage nach dem Gut und Böse, nach der Moral als den verbindlichen Normen und Gesetzen des Handelns einer bestimmten Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe. Wenn aber schon die menschliches Zusammenleben ordnende Alltagspraxis Ethos ist, dann kann auch das Konzept der Performativität nicht ethisch neutral sein. Vielmehr treffen Performanz und Ethik in der scheinbar dritten Kategorie des Ästhetischen aufeinander – und fallen in ihr zusammen. A.  Wittgenstein

In Satz 6.421 seines »Tractatus logico-philosophicus« schreibt Ludwig Wittgenstein: »Ethik und Ästhetik sind Eins.« Gerade bei diesem kaum als Anhänger eines moralischen ›anything goes‹ verrufenen Philosophen ist so eine scheinbar relativistische Verschränkung interessant. Wie hat man sich das Zusammenfallen von Ethik und Ästhetik zu denken? Grundlegend für diesen Satz ist eine Unterscheidung, die Wittgensteins gesamten »Tractatus« durchzieht und prägt: die Unterscheidung von Sagen und Zeigen. Mit ihr wird in vielerlei Hinsicht

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bereits die Trennung von Inhalt und Performanz der Sprache vorweggenommen und zugleich schon in eigener Weise pointiert. Es gibt Dimensionen der Wirklichkeit, die positiv gefasst, ausgesagt werden können. Und es gibt solche, die sich dieser Aussagbarkeit entziehen, sich ausschließlich zeigen. Nicht zuletzt die Philosophie hat, so Wittgenstein, diese Dimensionen immer wieder vermischt und sich so zu großen Teilen um Scheinprobleme gedreht. Der letzte Satz des »Tractatus« ist die Auf‌forderung, dies für die Zukunft zu vermeiden: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Insbesondere Ethik und Ästhetik fallen aus dem Bereich des Sagbaren. Über sie lässt sich nicht sinnvoll sprechen. Ihre behauptete Identität scheint somit zunächst eine indirekte zu sein, eine Identität ex negativo. Weil sie positiv nicht zu greifen sind, wird auch die Grenzziehung zwischen beiden Bereichen unmöglich. Tatsächlich aber ist die Verbindung beider bei Wittgenstein grundlegender gedacht. Das Zusammenspiel der Worte ›literarisch‹, ›zeigen‹ und ›ethisch‹ in und um den »Tractatus« macht das deutlich. Sie sind so eng miteinander verwoben, dass sie beinahe synonym erscheinen. Ein Text ist literarisch, wenn er zeigt, was nicht gesagt werden kann und gerade dieses Zeigen markiert die ethische Tat. Was alle drei aneinander bindet, ist die Ästhetik – allerdings nicht im Sinne einer Theorie des Schönen, sondern im Sinne einer veritablen Aisthesis, tatsächlich sinnlicher Wahrnehmung. Dabei kann Wittgensteins Betonung des literarischen Charakters seines Textes als Betonung der performativen Dimension seines Werks verstanden werden. Schon in der Einleitung des »Tractatus« schreibt er: »Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat. – Es ist also kein Lehrbuch. – Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete«.7 Sein Wert liegt damit nicht primär in seinen Argumenten. Stattdessen suggeriert Wittgenstein einen diffusen, an subjektiven Bedingungen des Lesers hängenden Mehrwert, der sich in einem Gefühl, dem Gefühl des Vergnügens manifestiert. Es überrascht kaum, dass ein Leser wie Frege auf solcherlei Einlassungen mit einer gewissen Irritation reagieren musste: »Die Freude beim Lesen Ihres Buches kann also nicht mehr durch den schon bekannten Inhalt, sondern nur durch die Form erregt werden, in der sich etwa die Eigenart des Verfassers ausprägt. Dadurch wird das Buch eher eine künstlerische 7 Ludwig Wittgenstein: »Tractatus logico-philosophicus«, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frank­furt/M.: Suhrkamp 1984, S. 7–85, S. 9.

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als eine wissenschaftliche Leistung; das, was darin gesagt wird, tritt zurück hinter das, wie es gesagt wird.« 8 Frege hatte erkannt, dass Wittgensteins Subjektivierung des Verstehens das Buch von der Logik in die Nähe der Kunst verschob. Eine Verschiebung, die dem Logikprofessor aus Jena nicht gefallen konnte, worauf Wittgenstein Russell gegenüber wiederum abschätzig bemerkte, Frege habe kein Wort seiner Arbeit verstanden.9 Und doch beziehen sich diese Worte weniger auf die Qualifizierung des »Tractatus« als literarisches Werk, denn auf die Wertung dieser Qualität als defizitär. Gegenüber Ludwig von Ficker, dem Herausgeber der Zeitschrift Der Brenner, beschreibt Wittgenstein seinen Text explizit als »streng philosophisch und zugleich literarisch«.10 Das Literarische spielt damit auf einer Ebene mit dem Philosophischen. Es geht nicht um eleganten Stil und schöne Sprache, sondern um einen konstitutiven Teil Wittgenstein’schen Denkens. Was aber kann das heißen? Die Philosophie Wittgensteins ist aus der Beschäftigung mit logischen Problemen heraus entstanden. Letztlich war es die sogenannte Russell’sche Antinomie, die zum Ausgangspunkt seines Denkens werden sollte. Die Frage, wie es sich verhindern ließe, dass eine Funktion sich selbst als Argument enthält, fand Wittgenstein zufolge in Russells Typentheorie keine überzeugende Antwort. An ihre Stelle setzte er die Differenz von ›Sagen und Zeigen‹. Nicht die Bedeutung des Symbolismus, sondern die Materialität seiner Zeichen zeigt die Unsinnigkeit einer sich selbst als Argument enthaltenden Menge. Russells Paradox ist als Scheinproblem enttarnt und erledigt sich so von allein.11 Von hier aus schlägt Wittgenstein die Brücke zur Philosophie im allgemeinen: diese muss insgesamt auf‌hören zu versuchen, das zu sagen, was sich ausschließlich zeigt. Anstatt zu reden, muss sie schweigen. Erst dieses Schweigen lässt sehen. Es setzt sich in seiner Fülle vom leeren Schweigen des logischen Positivismus ab. Es ist nicht das Ende, sondern der Anfang von Philosophie, und die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ihre entscheidende Frage.12 8 Frege an Wittgenstein am 16.  9.  1919, zitiert nach: Ray Monk: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart: Klett Cotta 2000, S. 192. 9 Briefe an Russell vom 19.  8 .  1919, sowie 6.  10.  1919, in: Ludwig Wittgenstein: Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker, Brian McGuinness,  Georg Henrik von Wright (Hg.), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 88, 93. 10 Brief an Ficker von Mitte Oktober 1919, ebd., S. 95. 11 Wittgenstein: »Tractatus«, a. a. O., S. 23 (3.333). 12 Brief an Russell vom 19.  8 .  1919, in: ders.: Briefwechsel, a. a. O., S. 88.

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Dabei wird die zentrale Rolle des ›Zeigens‹ im »Tractatus« nicht zuletzt auch in der dreifachen Differenzierung des Begriffs deutlich: Das propositionale, das transzendentale und das mystische Zeigen. Letzteres öffnet die durch die sagende Sprache definierte Welt, weitet ihre Grenzen auf die Präsenz des »Unaussprechliche[n]« hin.13 Wittgensteins Betonung des literarischen Charakters seines »Tractatus« ist in diesem Gedankenhorizont zu sehen. Es ist ein literarisches Werk, gerade weil er sich nicht auf das Sagbare beschränkt. Dem geschriebenen Teil korrespondiere ein ungeschriebener, wie Wittgenstein es gegenüber Ludwig von Ficker formuliert; dem Gesagten all das, was nicht gesagt werden kann, was sich nur zeigt. Sein Werk ziele somit nicht auf den Verstand, sondern auf das Gefühl des Unaussprechlichen, auf eine Sinnes- bzw. eine aisthetische Erfahrung. Die Erfahrung des Unaussprechlichen aber hängt an der Frage der Ethik als diese bei Wittgenstein nicht die Frage von guten oder bösen Taten ist, sondern die Suche nach dem Sinn von Welt.14 Sie ist die Suche nach einer Bedeutung, die nicht in der Welt sein kann, weil sie die Bedeutung der Welt selbst ist. Eine Metabedeutung könnte man sagen. Da es im Rahmen des »Tractatus« aber keine Metabedeutung geben kann, ist die Ethik zwangsläufig Suche des Unaussprechlichen.15 Sie bezieht sich nicht auf die Tatsachen der Welt, auf ihre innere Struktur, sondern auf das unsagbare Mysterium ihrer Existenz. Wer dieses Ende eigener Souveränität positiv annehmen kann, ist ein glücklicher Mensch. Wer an der Unsagbarkeit des Unaussprechlichen verzweifelt, wird unglücklich bleiben. So wird die Differenz von Glück und Unglück zum Kern Wittgenstein’scher Ethik. Das Gute ist keine Frage des kategorischen Imperativs und keine der Erfüllung vorgegebener Normen. Es ist Folge der Einstellung gegenüber der Welt und ihrem Unsagbaren und also gegenüber dem eigenen Scheitern als eines nach Beherrschung des Wirklichen strebenden Wesens.16

13 Ders.: »Tractatus«, a. a. O., S. 85 (6.522). 14 Vgl. Tagebuchnotizen vom 11. Juni 1916, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frank­­ furt/M.: Suhrkamp 1984, S. 167. 15 Ders.: »Tractatus«, a. a. O., S. 83 (6.421). 16 Wittgensteins Ethikverständnis schließt damit an die Tradition der Glücks­ ethiken seit Aristoteles an und ist in seiner konkreten Ausformung doch grundlegend anders gedacht. Entscheidend an dieser Stelle ist, dass sich im Anschluss an die Überlegungen im Tractatus ein Unterschied zwischen einer normativen Moralphilosophie und einer sich nur konkret-sinnlich und damit aisthetischen, ethischen Erfahrung machen lässt.

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Wie aber ist das ethische als das glückliche Leben zu erreichen? Wie lässt sich die eigene Einstellung gegenüber der Welt beeinflussen? Keine Theorie, kein Argument, keine Moralphilosophie er­reicht die Frage der Ethik wirklich. Auch der 1930 gehaltene ›Vortrag über Ethik‹ soll deshalb keine theoretische Abhandlung sein. Anstatt mit Thesen und Argumenten konfrontiert Wittgenstein seine Zuhörer mit Beispielen. Anstatt zu analysieren, beschreibt er für ihn eindrückliche ethische Fundamentalerfahrungen. In überraschender Parallele zum Vorwort des »Tractatus« spricht Wittgenstein dabei von einer »ganz persönliche[n] Sache, und andere würden andere Beispiele eher frappierend finden. Dieses Erlebnis will ich beschreiben, um sie nach Möglichkeit dazu anzuregen, sich das gleiche oder ähnliche Erlebnisse ins Gedächtnis zu rufen.«17 Nicht das Gesagte an sich ist, was hier zählt. Erst in den durch das Gesagte wieder hervorgerufenen eigenen Erfahrungen des Zuhörers kann sich Wittgensteins eigentlicher philosophischer Punkt zeigen. Das Wissen, dem hier nachgespürt wird, ist keines, das sich als Nachricht verpacken und direkt weitergeben ließe. Es ist ein praktisches, ein performatives Wissen. Der Zuhörer muss es in sich selbst finden. Wittgensteins Beispiele sind keine Illustration des Gesagten. Sie sind Gesten, welche die Aufmerksamkeit auf ein bereits inkorporiertes Wissen lenken. In ihm, als dem Wissen um die Begrenztheit der eigenen Souveränität, als der Konfrontation mit dem Unsagbaren, manifestiert sich die eigene Einstellung gegenüber der Welt – und setzt sich aufs Spiel. In der Erfahrung des sich unsagbar Zeigenden wandelt sie sich zwangsläufig, unplanbar. Tatsächlich hält Wittgenstein damit keinen Vortrag über Ethik, sondern einen ethischen Vortrag. Wie der »Tractatus« als literarisches Werk gerade nicht auf seine Argumente zu reduzieren ist, so liegt auch hier die Pointe nicht in einem gut formulierten Merksatz, sondern in der ständig provozierten, ständig angeregten Aisthesis der Zuhörer. Die aisthetische Erfahrung ist ethische Übung. Im Zusammenhang der Frage nach einer Ethik der Performanz öffnen diese Überlegungen eine neue Perspektive. Ist Performativität in Bezug auf die Beurteilung einzelner Akte nach gesellschaftlichen Standards des Gut und Böse per se ethisch neutral, so ändert sich diese Neutralität nun in eine zwangsläufige, unhintergehbare Ethizität. Performativität als wirklichkeitskonstitutive Kraft ist Ethos, die unausgesetzte Selbsteinrichtung des Menschen 17 Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik und andere kleine Schrif‌ten, Jo­a­chim Schulte (Hg.), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 9–19, S. 14.

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durch Praxis, ist Lebensform. Und zugleich zeigt die Verbindung von Ethik, Aisthesis und Performativität die doppelte Konsequenz aus der Abkehr vom Modell einer normativen Moralphilosophie. Die ethische Einstellung kann nicht mehr durch Umsetzung expliziter Verhaltensvorschrif‌ten erlangt werden. Sie ist Folge praktischer Übung. Anstatt den Verstand reflexive Pirouetten über etwas drehen zu lassen, was sich ihm konstitutiv entzieht, ist der Weg zum – nach Wittgenstein – ethisch validen Glück die Einübung ins Aushalten und Annehmen des sich zeigenden Unsagbaren, der bereichernden Erfahrung an den Grenzen des Cogito, des »Mehr des weniger Ich«, wie es Peter Handke in anderem Zusammenhang und doch treffend genannt hat.18 B. Kleist

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Eine literarische Variante dieser Denkfigur findet sich lange vor Wittgenstein und noch länger vor den Diskussionen um Performativität und Ethik in Heinrich von Kleists »Über das Marionettentheater«. Dieser irritierende kleine Text verbindet Ästhetik und Ethik auf seine Weise. Und doch ist auch für ihn der von Verstandesvorgaben gelöste Vollzug, die eigentliche Performativität entscheidend. Denn die für den Erzähler überraschende Liebe des gefeierten Operntänzers C… für das doch dem ›Pöbel‹ zur billigen Unterhaltung zugedachte Marionettentheater liegt hier begründet: der Gliedermann hat keinen Geist, keinen eigenen Willen, seine Bewegung folgt mechanisch den Gesetzen der Schwerkraft. »Jede Bewegung, sagte er [Herr C., F.  G.], habe einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen, in dem Innern der Figur, zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgend ein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst.« 19 Das Geheimnis ihrer Anmut liegt mithin in der ungestörten Bewegungslinie ihres Schwerpunkts. Der Puppenspieler muss gerade vermeiden, die Arme und Beine, die Finger und Zehen seiner Marionette durch Myriaden an Fäden einzeln zu kontrollieren. Seine Kunst liegt darin, sich möglichst genau auf die Schwerpunktlinie einzuschwingen. Sie muss zum »Weg der Seele des Tänzers« werden,

18 Peter Handke: »Versuch über die Müdigkeit«, in: ders., Die Drei Versuche, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 9–57, S. 75. 19 Heinrich von Kleist: »Über das Marionettentheater«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 555– 563, S. 556.

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der »Maschinist« gewissermaßen selber tanzen.20 Dann ist der seelenlosen Puppe, geführt von einem guten Spieler, eine Anmut möglich, die kein lebendiger Tänzer erreicht. Denn sie hat den entscheidenden Vorteil, »dass sie sich niemals zierte.« 21 Ziererei ist bestimmt als Ungleichgewicht, das sich daraus ergibt, dass die Seele eines Menschen nicht mit dem Schwerpunkt der Bewegung zusammenfällt, die vis motrix, die menschliche Bewegung mit der natürlichen Gravitation konfligiert. Momente dieses Ungleichgewichts sind beim Menschen unvermeidlich, weil er Geist besitzt, einen Willen hat, der seinen Körper zu kontrollieren sucht. So ist der Grat zwischen Anmut und Affektiertheit schmal: »Sehen sie nur die P… an, […] wenn sie die Daphne spielt, und sich, verfolgt vom Apoll, nach ihm umsieht; die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich, als ob sie brechen wollte, wie eine Najade aus der Schule Bernins. Sehen sie den jungen F… an, wenn er, als Paris, unter den drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht: die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen.« 22 Die willentlich herbeigeführte Pose hat keine Anmut. Kleist lässt den Erzähler sich an die Geschichte des Jünglings erinnern, der mit seiner adoleszenten Grazie alle um sich herum bezauberte. Seine natürlich-unbewusste Bewegung wird durch den wörtlich zu nehmenden Einbruch der Reflektion in sein Leben zerstört, als er sich beim Abtrocknen nach dem Bade für einen Moment im Spiegel selbst betrachtet und an den kurz zuvor in Paris bewunderten ›kapitolinischen Dornauszieher‹ erinnert fühlt. Er will die Anmut dieses Moments reproduzieren »und hob den Fuß zum zweitenmal […]; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, missglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst!« 23 Der Jüngling hatte »seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden […]. Eine unsichtbare und unbegreif‌liche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um seine Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, so ergötzt hatte.« 24

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Ebd., S.  557. Ebd., S.  559. Ebd. Ebd., S.  561. Ebd.

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Dem Gliedermann wird der unschuldig-unbewusste Jüngling zum Pendant. Beide haben Anmut. Doch während die Marionette, seelenlos zwischen Schwerkraft und dem sie erhebenden Zug des Maschinisten aufgespannt, keinen Eigensinn, kein sich-Zieren, keine willentliche Abweichung kennt, kann der Jüngling nur solange mit ihr auf der Ebene der Anmut konkurrieren, als er unschuldig, im Stand der Gnade ist, als ihn das Selbstbewusstsein und die an es gebundene Eitelkeit noch nicht ›aus der Bahn‹ geworfen haben. Kleist lässt hier in der Frage der Anmut zwei Aspekte auf interessante Weise zusammenkommen, die im Deutschen weniger klar ersichtlich zusammengehören als im französischen und englischen Begriff der ›grace‹, der in seiner latinisierten Form als Grazie wiederum zum Synonym für Anmut geworden ist. ›Grace‹ fasst sowohl den ästhetischen als auch den theologischen Aspekt, lässt sich als ›Anmut‹, aber auch als ›Gnade‹ übersetzen. Die anmutige Bewegung des Tänzers, so könnte man sagen, manifestiert seine temporäre Rückkehr in den paradie­­sischen Stand der Gnade. Nur wenn er es schafft, den eigenen Willen soweit als möglich auszuschalten, kann er mit dem Gliedermann konkurrieren – als zeitweise in die natürliche Unschuld vor der Vertreibung aus dem Paradies zurückversetzter Mensch. In der ganz in sich selbst aufgehenden, scheinbar willenlosen Bewegung des anmutigen Tänzers vereinen sich somit Ästhetik und Ethik im Sinne des Zustands der Gottgefälligkeit. Wie außergewöhnlich und prekär solche Grazie in einer aus der Erbsünde hervorgegangenen menschlichen Welt ist, zeigt sich auch in der staunenden Bewunderung, der man sich ihr gegenüber nicht enthalten kann. Denn das Verfehlen der Anmut ist »unvermeidlich, seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben.« 25 Die aisthetische Erfahrung der Grazie aber ist der Einbruch eines paradiesisch-­ unschuldigen in den irdischen Zustand der Sünde. In ihr öffnet sich momenthaft die Tür zu jener vorgeschichtlichen Seinsweise, die der Mensch im Tausch seiner adamitischen Autorität über die Schöpfung gegen ihre kontrollierende Beherrschung durch Wissen aufgab und seither zurücksehnt. Die bizarre Geschichte des fechtenden Bären, von dem Herr C … dem Erzähler in »Über das Marionettentheater« berichtet, illustriert diesen Gedanken. Der Bär, der, auf dem Landgut eines livländischen Edelmanns gehalten, im Fechtkampf jeden Stoß eines menschlichen Kontrahenten ohne Mühe pariert, hat seine eigene, dem Tänzer gleichwertige Anmut. Die Ruhe, mit welcher er dem Schlag entgegensieht und sich von keiner Finte irritieren 25 Ebd., S.  559.

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lässt, zeigt eine ungebrochene, mit sich selbst in Einklang stehende Präsenz, die einer tänzerischen Grazie in ihrer willenlosen Ökonomie durchaus gleicht. Kein Verstand, der in seinen Antizipationen zu täuschen wäre, keine Bewegung zu viel. »Aug in Auge«, berichtet Herr C…, »als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernst gemeint waren, so rührte er sich nicht.« 26 Das für den Menschen so schwer erreichbare Zusammenstimmen von Seele und Bewegungsschwerpunkt ist dem geschichtslosen Tier kein Problem. Sein nur eingeschränktes Bewusstsein reicht nicht für den Bruch zwischen Ich und Körper, der die Schwierigkeit des sich-Zierens wie die Möglichkeit strategischer Irreführung erst schafft. So ist seine eigene Bewegung stimmig und der Bär zugleich immun gegenüber der List des Kontrahenten. »Wir sehen, dass in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender hervortritt.«27 Die Abschattung des Verstandes ist ihre – wenn nicht hinreichende, so doch notwendige – Bedingung. Erkenntnis und Wissen stehen dem reinen Vollzug, der reinen Performanz entgegen. Gerade das lässt sich am Beispiel des Bären wie der Marionette lernen. Das Bewusstsein muss aufgehoben sein – oder aber allumfassend werden, »so, dass sie [die Anmut, F.  G.], zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann oder in dem Gott.« Im ästhetisch-ethischen Phänomen der Grazie greifen »die beiden Enden der ringförmigen Welt in einander«.28

Schluss So schnell Performativität als reiner Vollzug unter dem Gesichtspunkt des guten oder bösen Handelns ethisch neutral erklärt werden kann, so komplex gestalten sich die Zusammenhänge, nimmt man die Vielschichtigkeit beider Begriffe mit in die Überlegung hinein. Performativität ist nicht einfach Umsetzung einer Idee. Sie ist wirklichkeitskonstitutiv nicht nur im Sinne der Erfüllung einer Erwartung, sie bringt neue, unvorhersehbare Realitäten hervor. Diese creatio muss nicht im Sinne eines einmalig-plötzlichen, das Neue ›auf einen Schlag‹ in die Welt setzenden Akts verstanden wer26 Ebd., S.  562. 27 Ebd., S.  563. 28 Ebd., S.  560.

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den. Es geht vielmehr um die Akkumulation alltäglicher, scheinbar unbedeutender Handlungen zu Routinen, die eine gesellschaftliche Wirklichkeit, eine anerkannte ›Sicht der Dinge‹, eine Meinung bilden. Die kleinen, an sich unmerklichen performances unseres Lebens konstituieren in der Summe jene Differenzen, welche die Realität unserer Weltwahrnehmung bestimmen. Performativität ist hier weniger die Umsetzung einer Idee als die Bedingung der Möglichkeit, eines verstandesgemäßen, intelligiblen Zugriffs auf Wirklichkeit. Diese Umkehrung der ursprünglichen Hierarchie modifiziert auch das Problem einer Ethik der Performativität. Denn selbst wenn die Fragen einer systematischen Moralphilosophie weiterhin unberührt bleiben, ist der Raum der Performativität doch ein genuin ethischer: im Sinne der Frage von ›Gut und Böse‹ vorgelagerten Bedeutungsebene der ›Gewohnheit‹. Die Schwierigkeit, sich dieser nicht-normativen ethischen Dimension der Performativität anzunähern, lässt sich entlang der (nicht mit ethischen und nicht mit Alltagsphänomenen befassten) Studien Victor Turners gut fassen: er beschreibt den Raum, aus dem heraus eine neue, durch das Ritual geschaffene Realität entsteht als das ›betwixt and between‹ zwischen den kulturell etablierten und verstehbaren Formen. In diesem symbolisch nicht fassbaren Raum liegt die performative Kraft des Rituals. Damit wird ein Aspekt der kulturphilosophischen Volte in der Performativitätstheorie deutlich, die leicht übersehen werden kann: das Performative ist konstitutiv unsagbar. Es zeigt sich als das sich dem Symbolischen Entziehende. Mit Wittgenstein lässt sich dieser Aspekt in der Unterscheidung des Sagbaren und des Sich-Zeigenden systematisieren – und in einer weiteren Wendung an die Frage der Ethik binden. Denn wenn das Performative als das Aisthetische gerade in seiner Unsagbarkeit ethisch genannt werden muss, dann stellt sich die Frage, inwiefern sich in unserem Leben überhaupt noch über Ethik sprechen läßt. Wittgensteins implizite Antwort auf dieses Problem ist eine Perspektivverschiebung, in der Ethos nicht als Fakt der Gewohnheit, sondern als Erfahrung auf‌tritt. Wir sind in der Lage, die unsagbare Grundlage der kontingenten Ordnung unserer Welt zu erfahren – und zu akzeptieren. Anstatt sie zu hinterfragen, erklären oder auf‌klären zu wollen, muss man sich auf praktischer, auf Lebensformebene mit ihr ins Verhältnis setzen. Das Sich-Einlassen auf die irreduzibel performative Dimension unserer Wirklichkeit heißt zugleich, sich mit seiner eigenen Bedingtheit produktiv auszusöhnen. Es ist genuin ethisch, denn es geht um das Verhältnis sich selbst und der Welt gegenüber. Anstatt dieses Verhältnis aber verstandesgesteuert den expliziten Regeln einer normativen Moral folgend zu gestalten, ist es Konsequenz einer aisthetischen Erfahrung des Unsagbaren.29

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Die Ethik der Performativität ist damit Widerfahrnis und Arbeit an einem selbst. Sie ist weder kontrolliert noch zufällig. Sie erfasst den, dem es gelingt, sich in den reinen Vollzug einzustimmen, alles Wünschen und Wollen in Einklang mit der Bewegungslinie des eigenen Körperschwerpunktes und sich mithin in den anmutigen Zustand der Unschuld zu bringen. Das wäre Kleists Antwort. Ein ästhetisches Phänomen als Symptom einer temporären Rückkehr ins Paradies, in die ursprüngliche Gottgefälligkeit. So pastoral diese Überlegungen aber klingen mögen, so eindeutig ist doch der säkulare Charakter des ihnen zugrunde liegenden Denkens. Gottgefälligkeit ist keine Folge gerechten Handelns und noch weniger eine des Verstandes. Sie ist physikalisch bzw. physiologisch bestimmt und nur aisthetisch zu beurteilen. In dieser Volte liegt die eigentliche, weitreichende Konsequenz der Frage nach einer Ethik der Performativität.

Literatur Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, übers. v. Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam 1975. Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2012. Handke, Peter: »Versuch über die Müdigkeit«, in: Die Drei Versuche, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. Kleist, Heinrich von: »Über das Marionettentheater«, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990. Krämer, Sybille, Marco Stahlhut (Hg.): »Das ›Performative‹ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie«, in: Paragrana 10, (2001) Heft 1: Theorien des Performativen, S. 35–58. Monk, Ray: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Stuttgart: Klett Cotta 2000. TURNER, Victor: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure. New Brunswick et al.: Aldine Transaction 22009.

29 Ohne den Unterschied zwischen Wittgensteins ›Arbeit an einem selbst‹ und einer konkreter politisch orientierten Philosophie der Performativität à la Butler einfach wegwischen zu wollen, will ich ihn an dieser Stelle nicht weiter verfolgen. Wichtig ist die letztlich bei beiden zu findende Auf‌fassung des Ethischen nicht als Verhalten nach einer Norm, sondern als Effekt alltäglicher performance.

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WITTGENSTEIN, Ludwig: Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980. — »Tractatus logico-philosophicus«, in:Werkausgabe, Bd. 1, Frank­­ furt/M.: Suhrkamp 1984. — Vortrag über Ethik und andere kleine Schrif‌ten, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991.

Dieter Mersch Performativität und Gewalt. Überlegungen zur ethischen Dimension des Performativen Orte der Gewalt Den Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen bildet eine bekannte Figur, die Ronald D. Laing in seiner Phänomenologie der Erfahrung von 1967 verwendete, um das Problem der Dissoziation von sozialen Beziehungen zu erläutern: In einem Gespräch kann es gehen, dass einem sein Gegenüber als unangemessen zudringlich vorkommt, während das Gegenüber glaubt, man weiche aus irrationalen Gründen zurück. Beide glauben, der jeweils andere verletze die Regel und untergrabe jede Möglichkeit von Kommunikation.1 »Hier haben wir das […] potenziell tragische Paradoxon« vermerkt Laing in seinem früheren Buch Das geteilte Selbst. Eine existenzielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, »dass unser In-Beziehung-Sein zu anderen ein so wesentlicher Aspekt unseres Seins ist wie unser Getrenntsein […].« 2 Offenbar ist der Prozess der Interpersonalität, worin sich wechselseitig Verständigung konstituiert, gleichermaßen ein Ort der Mißverständigung wie von subtiler Gewalt. Beide korrespondieren miteinander: Gewalt ist bereits eine Beziehung, wie jede Beziehung, sei sie fordernd, 1 Ronald  D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 26. 2 Ders.: Das geteilte Selbst, Reinbek/H.: Rowohlt 1980, S. 22.

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eindringend oder ignorant, Formen von Gewaltsamkeit nährt. Zwar war Laing vor allem an jenen Aporien dieser Interdependenz interessiert, die es vermögen, eine Spannung zu erzeugen, die die Strukturen der Persönlichkeit schließlich auf‌lösen – wohingegen wir uns im Folgenden auf das konzentrieren, was wir als ›Szene des Performativen‹ bezeichnen möchten, um daraus einige Bedingungen abzuleiten, die Gewalt als jene Kraft beschreibbar machen, die dieser Szene immer schon innewohnt. Wenn wir dabei von ›Szene‹ sprechen, meinen wir jene Zäsur oder jenen Schnitt durch das Gewebe des Sozialen, welche den Kontext definiert, worin das Performative allererst erscheinen kann. Das Szenische unterteilt und ermöglicht auf diese Weise, den performativen Akt zu situieren. Die Gewalt, das ist die Ausgangsthese, entstammt intrinsisch deren Komplexität und nicht einer wie immer rekonstruierbaren Absicht der beteiligten Personen. Demgegenüber ist man gewöhnlich versucht, die Gewalt, sei sie als eine physische oder psychische Gewalt aufgefasst, einer Handlung zuzuschreiben, die sie verursacht, sodass sie die Gestalt einer actio annimmt, die ausgeübt oder erlitten wird und damit die Szene in Täter und Opfer auf‌teilt. Sämtliche Gewaltdefinitionen der Jurisprudenz handeln tatsächlich davon: Sie sanktionieren eine Gewalt gegen Personen und Sachen, die absichtsvoll begangen wurde und ein Motiv hatte; alle anderen Konsequenzen, die eine mehr oder weniger gewaltförmige Wirkung entfachen, gehören zu den im wesentlichen nicht sanktionierbaren Nebenfolgen oder Kollateralschäden. Weit davon entfernt, die ethische Notwendigkeit eines Täter/ Opfer-Modells für viele Formen direkter Gewalt in Abrede zu stellen, auch wenn es sich in den offensichtlichsten Fällen zumeist komplizierter darstellt als es den Anschein hat und Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Tiefenschichten erforderlich sind, die sowohl das Schicksal des Täters und seine biographischen Erniedrigungen als auch die Kontingenz der Umstände oder die des Opfers einschließt, kommt es uns stattdessen auf eine Mikroanalyse dessen an, was wir eine ›subtile Gewalt‹ nennen wollen und den alltäglichsten Situationen entstammt. Offensichtlich lassen sie keine dieser Unterscheidungen mehr zu, vielmehr erweisen sie sich derart in die Szene des Performativen verwoben, dass man geneigt ist, diese selber als monströs zu identifizieren und weniger das, was sie gebiert. Ausdrücklich sei hinzugesetzt, dass diese Monstrosität nicht erschöpfend analysiert und bestenfalls nur in Dimensionen zerlegt werden kann – dass es also immer nur darum gehen kann, Facetten dieser ›subtilen Gewalt‹ den Szenen oder Situationen zu entringen und sie nicht in allen ihren Aspekten vorzuführen. Auch kann es nicht darum gehen, die Fragen der Darstellung oder Dar-

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stellbarkeit zu behandeln – die vielfältigen Inszenierungsformen der Gewalt und ihre mediale Repräsentation beispielsweise, etwa bei Kriegsberichterstattungen und Bildern des Schreckens oder der Folter, die fast ubiquitär geworden sind und die ihre Ambiguität schon darin bekunden, dass ihre Präsenz einerseits eine Anteilnahme anzeigt, wie sie andererseits als Darstellung selber Gewalt ausüben und den Blick ebenso eintrüben wie attackieren – zu sehen vor allem im postklassischen Hollywood-Kino, worin sie als Appeal und Schockeffekt spätestens seit den 1980er Jahren dominant geworden ist und ihre Dosen, wie bei einem Süchtigen, mal um mal steigern müssen. Dass dies ein Element sein kann, das zu dem zählt, welches anhand der ›Szene des Performativen‹ rekonstruiert werden kann, scheint klar: Die ostentative physische Gewalt schrumpft in den Bildern, die dem Medialen selbst ein Gewaltmerkmal einschreiben,3 das gleichzeitig dessen Einebnung zuarbeitet. Für die Performativität interpersoneller Bezüge, und sei es nur die Situation einer einfachen Unterhaltung oder eines Gesprächs, die alltäglichen Rohheiten gegenseitiger Übertrumpfung oder Erniedrigung, aus denen sich der Stand gesellschaftlicher Kommunikation ablesen lässt, gilt dies gleichermaßen – doch jenseits der verschiedenen Modi der Darstellung oder Praxis und ihrer latenten Gewaltförmigkeit beschränken wir uns dagegen aus Gründen einer Heuristik ausschließlich auf die situative Topik der Szene selbst, ihre Konstellation, ihr Setting, mithin jenen Konditionen und ihren Kontingenzen, die gleichsam die Anfangsbedingungen beschreiben, wenn wir in eine »Situation« geraten oder eine Szene betreten, die der frühe Jean-Paul Sartre mit Bezug auf Martin Heidegger als existenzielle »Geworfenheit« kennzeichnete 4 und auf deren wesentliche Passivität dann alle weiteren Fragen, die Medien und das Soziale betreffend, noch aufruhen. Das trifft auch für das zu, was man treffend seit den 1960er und 70er Jahren und geschuldet des spezifischen historischen Augenblicks der Revolte als »strukturelle Gewalt« bezeichnet hat 5 – jene objektiven Formationen, die sich an die Struktur gesellschaftlicher Relationen und ihrer politischen Verhältnisse hef‌ten, die sich nirgends wirklich dingfest machen lassen, sondern gleichsam in Anordnun3 Vgl. insb. Bernhard  J. Dotzler, »Programmierte Gewalt. Zum Gegenstand von Medienwissenschaft«, in: Dieter Mersch, Joachim Paech (Hg.), Programm(e), Zürich/Berlin: diaphanes 2014, S. 379–400. 4 Wir erinnern mit dem Begriff der »Situation« an die politische Theorie JeanPaul Sartres. Ders.: Kritik der dialektischen Vernunft, Bd. 1: Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek/H.: Rowohlt 1986. 5 Vgl. etwa Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek/H.: Rowohlt 1988.

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gen bestehen, deren Präsenz gerade durch ihre absentia bezeugt ist und die die institutionellen Praktiken wie eine anonyme Spur durchziehen, ohne dass von expliziten Akteuren und somit auch von einer Schuld oder Verantwortung ausgegangen werden kann. Ihre doppelte Gewaltsamkeit besteht insbesondere darin, dass sie ebenso sehr die Beteiligten einbindet und unterwirft – und auf diese Weise gleichsam selber zu Agenten oder Komplizen macht –, wie sie ihren Ursprung anonymisiert und sich damit der Verantwortung entzieht. Dem entspricht die nicht auszurottende, fast fatalistische Rede, die Verhältnisse seien schließlich so: Der Satz hat sich bereits die Gewalt, deren Unausweichlichkeit er beklagt, selbst zueigen gemacht, um sie zu reproduzieren. Auch diese »strukturelle Gewalt« muss der Begrenztheit des Rahmens geopfert werden; stattdessen wird es im folgenden allein um die Gewalt als Effekt einer Situation gehen, die gleichsam aus ihrer Mitte hervorbricht, und zwar als Wirkung einer Sequenz oder Folge von Taten, die selbst nicht unbedingt das Attribut der »Gewaltsamkeit« oder »Gewalttätigkeit« tragen müssen, die vielmehr, wie das Eingangsbeispiel lehrt, an sich gewöhnlich oder harmlos erscheinen und dabei eine Szene erzeugen, in der die Potentialität der Gewalt, die an jeder Stelle und in jedem Moment manifest werden kann, wie in einen »Knoten« eingewickelt scheint.6 Es geht also um einen Begriff von Gewalt außerhalb ihres moralischen Sinns – eine Gewalt, die dem Performativen inhärent ist und gleichsam im Innern der performativen Szenen zirkuliert, ohne einen genauen Ort oder Adressaten zu besitzen. Die Sichtweise erfordert insbesondere die Erforschung gleichsam des inneren Systems der Szenen und die sich aus den Szenen, ihrem eigentlichen Kern entladenden oder induzierenden Gewalt, die sich bündiger Unterscheidungen zwischen gewaltförmigen und nichtgewaltförmigen Handlungen oder Verhältnissen widersetzt. Vor allem aber werden wir der Idee der nicht gewaltsamen Handlung widersprechen – jener Utopie oder regulativen Idee, die die Gewalt als Gewalt erst adressierbar zu machen scheint; denn nicht vergessen werden darf, dass psychologischen, sozialwissenschaftlichen, juridischen oder philosophischen Diskurse über Gewalt gleichzeitig immer von einer Sehnsucht, einem Zustand des Ausgleichs sprechen, der ein Entkommen aus der Gewaltsamkeit verspricht – als ob sie vermeidbar, ausräumbar oder heilbar wäre wie eine Krankheit, die die menschlichen Verhältnisse befallen hätte. 6 Knoten lautete denn auch ein kleines Buch, in dem Ronald D. Laing solche Strukturen, Einwicklungen, Verwicklungen zu beschreiben versuchte. Ders.: Knoten, Reinbek/H.: Rowohlt 1987.

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Dagegen werden wir von der immanenten Gewaltsamkeit des Performativen selber und damit von ihrer Unentrinnbarkeit sprechen, d. h. von einer Gewalt als permanenter Schatten der performativen Szenen, ohne diese sogleich unter einen ethischen Vorbehalt oder dem moralischen Gesetz ihrer Negation oder Untersagung stellen zu wollen.

Die Szene des Performativen Der Begriff des Performativen, der seit geraumer Zeit unterschiedliche Konjunkturen feiert, weist eine Reihe von Besonderheiten auf, die ihn für eine Beschreibung sozialer Szenen prädestinieren. Es handelt sich in der Tat um eine komplexe Kategorie, deren Bedeutung sich nicht nur auf den Vollzug individueller Handlungen beschränkt – vielmehr bezieht der Begriff seine Brisanz gerade aus seiner Verwobenheit mit Dimensionen der »Ko-Präsenz«,7 der Leiblichkeit, der Macht, der Materialität, der Nichtintentionalität wie auch der Responsivität. Es ist diese Konstellation von Begriffen, die ihn m. E. für eine Erforschung des Phänomens der Gewalt besonders interessant machen. Jenseits im engeren Sinne einer Gewalt als Resultat individueller Handlungen wird es deshalb im folgenden um deren Einbettung in den allgemeinen Rahmen ›performativer Szenen‹ gehen, d. h. als etwas, das ›Situationen‹ kon­ stitutionell begleitet. Die Folge wird sein, dass Gewalt als unmittelbar zur conditio humana gehörig erscheint und nur im Bereich des Menschlichen anzutreffen ist, mithin so elementar zur sozialen Praxis gehört, dass im Grunde jede Artikulation des Menschen, jede symbolische Form, ja jeder Begriff, den wir der Welt des Menschen und dem, was seine Menschlichkeit ausmacht, zuschreiben, mit dem Kainsmal und der Erfahrung von Gewalt durchsetzt ist – sogar der Begriff der Vernunft, den Jürgen Habermas ausdrücklich in Opposition zu ihr rückte: »Mein Bedürfnis ist zu zeigen«, heißt es etwa in einem Diskussionsbeitrag, »dass der Diskurs nicht einer Willkür anheimgestellt ist, sondern dass wir uns in einer Lebensform bewegen, die eigentlich nur zwei Mechanismen der Lösung

7 »Ko-Präsenz« spielt in den Theatralitätsmodellen des Performativen eine entscheidende Rolle; vgl. vor allem Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. In unserem Kontext meint Ko-Präsenz das charakteristische Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure in sozialen Interaktionen, zu denen auch Dinge, oder andere nichtmenschliche Akteure gerechnet werden können.

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von Handlungskonflikten zulässt: Gewalt oder Verständigung.« 8 Dem ist entgegenzuhalten, dass auch der rationale Diskurs, die Beschränkung auf die philosophische Argumentation oder einer Verständigung im emphatischen Sinne, soweit sie sich in performativen Szenen realisiert, intrinsisch mit Gewalt verwoben ist, und zwar nicht nur wegen jener Superiorität, die dem vermeintlich »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« zugeschrieben wird,9 sondern gerade durch die Geste der Einschränkung, der Exklusion, mit der das Element des Diskursiven vor allen anderen Äußerungsformen ausgezeichnet und in einen unbedingten Vorrang gestellt wird. Auf solche Gesten der Ausschließung und Differenzsetzung zu achten, bedeutet schon, eine Dimension des Performativen zu thematisieren, die hier, durch die Setzung der Rationalität als das einzig legitime Mittel der Konfliktlösung, ihre eigene immanente Gewaltförmigkeit verrät – eine Gewalt, die sich abermals dadurch dupliziert, dass sie im gleichen Maße sanktioniert, wie sie sich als Gewalt verleugnet. Um dies mit größerer Allgemeinheit zu zeigen, seien kurz die wesentlichen Charakteristika dessen genannt, was zunächst heuristisch als ›Szene des Performativen‹ exponiert wurde. Zunächst gehört die Dimension des Performativen, neben denen des Medialen, des Symbolischen, der Materialität und ähnliches, zu jenem unverzichtbaren Ensemble von Begriffen, die die menschliche und im Besonderen die soziale bzw. kulturelle Situation im Ganzen kennzeichnen. Sie kann, wie diese, als primordinal angesehen werden. Der Dimension des Performativen ist also weder zu entgehen noch ist sie überschreibbar: Sie erweist sich – wie das »Dass«, die »Existenz« selbst – als nicht negierbar, da zur jeder Praxis notwendig deren Vollzug gehört, um überhaupt stattfinden und sich im Materiellen situieren zu können. Das Praktische ist darum nicht nur symbolisch, sondern auch immer Teil der Welt und folglich mit der »Erde« im Heidegger’schen Sinne,10 d. h. mit Existenzialität und Materialität vermengt. An den Akt einer Handlung 8 Jürgen Habermas: »Diskussionsbeitrag«, in: Willi Oelmüller (Hg.), Transzendentalphilosophische Normenbegründungen, Paderborn et al: Schöningh 1978, S. 114. 9 Ders.: »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz«, in: ders., Niklas Luhmann (Hg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 101–141, hier: S. 137. 10 Erinnert sei hier vor allem an die chiastische Struktur des »Streits«, der Verwicklung von »Erde« und »Welt« in Heideggers Beschreibung der Kunst, die freilich weit über den Rahmen des Ästhetischen hinausgeht: beide, so Heidegger erfordern einander, fordern sich gegenseitig heraus und tragen »(j)ede(r) das Andere über sich hinaus«: »Die Welt gründet sich auf die Erde, und Erde

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gebunden, insofern er das Moment seiner Auf‌führung und Ausführung, seiner aktuellen Realisation oder Exekution und Exhibition beschreibt, bleibt der Begriff des Performativen jedoch dunkel und schwer zu fassen, weil er von diesen, wie ebenfalls vom Symbolischen, nicht getrennt werden kann. So hatte schon Jacques Derrida in Limited Inc betont, dass, obgleich der Ausdruck – ebenso wie der des Aktes – für John Austin wie für John Searle basal erscheint, von diesen ebenso wenig einer eigenen Untersuchung unterzogen worden sei, wie die Aspekte des Stattfindens oder des Ereignisses.11 So finden wir kaum eine genauere Analyse, die herausstellte, was es bedeutet, eine Handlung zu vollziehen, sieht man einmal von den analytischen Handlungstheorien von Henrik van Wright bis Donald Davidson ab,12 die diese jedoch einseitig unter Kategorien des Intentionalen und Teleologischen diskutieren – als ob zum Akt immer schon die Absicht, der Wille und zu seiner Ausführung eine gewisse Zielstrebigkeit oder Gerichtetheit gehöre. Die gesamte Sprechakttheorie, auch ihre abkünftigen Sozialtheorien wie die Ulrich Oevermanns, Karl-Otto Apels und von Habermas ist diesem Urteil gefolgt, und es ist gerade diese Engführung, die die sprachanalytischen Bestimmungen des Performativen an die großen, traditionellen Ströme des juridischen Denkens anschließen, die für jede Handlung ein Motiv und für jedes Motiv eine Verantwortung reklamieren. Allein Shoshana Felman und Judith Butler haben dem Akt seine Körperlichkeit und damit Singularität und Irreversibilität zurückerstattet und so angedeutet, auf welche Weise er im Realen verankert und dadurch immer schon mit der Möglichkeit seiner Gewaltsamkeit wie umgekehrt der Verletzlichkeit des Leibes durchfurcht erscheint.13 Man kann daher sagen, dass sowohl Austin als auch Searle, die den Begriff prominent gemacht haben, das eigentlich Performative des Performativs gerade nicht berücksichtigt haben: Die Sprechakttheorie formuliert nirgends wirklich eine Theorie des Performatidurchragt die Welt«. Martin Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: ders., Holzwege, Frankfurt/M.: Klostermann 51972, S. 7–68, hier: S. 37, 38 passim. 11 Jacques Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, in: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen Verlag 21999, S. 325–351, bes. S. 333  ff., sowie ders.: »Limited Inc a b c …«, in: Limited Inc., Wien: Passagen Verlag 2001, bes. S. 78  ff. 12 Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008, S. 27ff, 122  ff. sowie Donald Davidson: Handlung und Ereignis, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. 13 Shoshana Felman: The Scandal of the Speaking Body: Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages, Stanford: Stanford University Press 2003; Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, übers. v. Katharina Menke und Markus Krist, Berlin: Berlin Verlag 1998.

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ven, vielmehr bleibt sie in einer pragmatischen Bedeutungstheorie stecken, die das Frege-Husserlsche Modus-Problem der Semantik auf die Seite des Performativen verschieben, um es auf diese Weise mit Blick auf die verschiedenen Modalitäten des »Verwenden-als« zu rekonstruieren.14 Lässt sich ein und derselbe Satz in unterschiedlichen Hinsichten äußern und dadurch mit verschiedenen Bedeutungen versehen, werden auf diese Weise die unterschiedlichen Modi des Bedeutens an eine Kette von performativen Verben gebunden, die eine Aussage als Behauptung, als Drohung, als Bitte oder als Versprechen und dergleichen mehr hervorbringen. Dann zeichnet das Performativ verantwortlich für das stets praktisch erzeugte ›Als‹, dem zugleich eine Reihe von Geltungsansprüchen innewohnen sollen, die sie kritisierbar macht. Auf diese Weise blieben die Analysen vollständig in den Regimen des Intentionalen stecken, denn die Modalität des Aktes ist Folge einer bestimmten Beabsichtigung, die den Akt erst als diesen subjektiv beglaubigt. Eine der universalen Regeln von Habermas lautet denn auch: »Aufrichtigkeit« – der Begriff macht nur Sinn im Horizont einer Subjekttheorie, die die Authentizität einer Äußerung überprüf‌bar macht. Entsprechend betonte auch Searle in seiner Kritik an Derrida: »There is no getting away from intentionality, because a meaningful sentence is just a standing possibility of the corresponding (intentional) speech act«.15 Der illokutionäre Modus meint genau dies: Etwas sagen und etwas tun sind dasselbe, aber so, dass etwas sagen schon etwas tun meint – dem Akt der Behauptung korreliert entsprechend das »Prinzip der Ausdrückbarkeit« 16 der gemeinten Behauptung wie sich gleichermaßen Inhalt und Handlung entsprechen. Zwischen beiden besteht eine Identität. Folglich gibt es keine Dissonanz, kein Auseinanderklaffen und damit auch keine Behauptung, die ein Angriff wäre, die ihren Adressaten demontierte, ihn bloßstellte oder die sich von sich distanzierte – die, wie in unserem Eingangsbeispiel, sich merkwürdig entzöge und gerade dadurch eine Zweideutigkeit bzw. eine Situation der Unsicherheit und des Zweifels schaff‌te. Ebenso wenig kommen solche Behauptungen in Betracht, die dazu angelegt sind, den Anderen zu tref14 Vgl. Dieter Mersch: »Performativität und Ereignis. Überlegungen zur Revision des Performanz-Konzeptes der Sprache«, in: Jürgen Fohrmann (Hg.), Rhetorik. Figuration und Performanz, Schriftreihe Germanistische Symposien, Bd. 25, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 502–535. 15 John R. Searle: »Reiterating the Differences. A Reply to Derrida«, in: Samuel Weber (Hg.), Glyph 1. John Hopkins textual studies, Baltimore: John Hopkins Uni­versity Press 1977, S. 202. 16 John R.  Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S.  34  ff.

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fen oder zu demaskieren und daraus eine Geringschätzung oder eine Aggression abzuleiten: Kaum eine politische Debatte unter Kontrahenten kommt ohne diese Manöver aus, doch was vielleicht noch viel wichtiger erscheint, ist, dass derartige Verwicklungen ohne Absicht geschehen oder buchstäblich ›passieren‹, und zwar nicht aufgrund von Verzerrungen oder Überempfindlichkeiten der Beteiligten, sondern durch jene Verwandlung, die den sprachlichen Akten am Ort ihrer Szene gleichsam wider Willen widerfahren. Es ist aufschlussreich, dass die Sprechakttheorie solche sequenziellen Verwicklungen stets abgetan und entweder aus ihren Untersuchungen zum Zwecke der Vereinfachung gestrichen oder aber dem Bereich des Perlokutionären als einem anderen, nicht zur Sprachhandlung gehörenden Effekt der Rede zugeschoben hat – jenem Bereich also, den wir im Gegenzug als nicht trennbar vom Illokutionären erachten und der den maßgeblichen Kern der Performativität als Medialität ausmacht.17 Denn der Aspekt des Performativen meint ja, dass durch einen Akt eine ›Welt‹ geschaffen werde – am Anfang des Sozialen steht die Tat, die zugleich eine Tatsache ›setzt‹; doch ist entscheidend, dass das ›Durch‹ gleichzeitig eine Mediation anzeigt, die die Begriffe des Mediums und des Performativs zusammenschließt. Searle verhält sich demgegenüber eindeutig: Er ignoriert oder löscht den Gesichtspunkt der Faktizität des Aktes ebenso sehr aus wie die konstitutionelle Unbestimmtheit der Differenz dessen, was als Handlung und seine Folge bezeichnet werden kann. Denn wenn eine Tat eine Tatsache ›setzt‹, erscheint es indifferent, ob die Setzung die Folge der Tat oder die Folge der Folgen dieser Handlung ist, weil die Handlung als Handlung erst aufgrund seiner Konsequenzen analysierbar wird. Hingegen ist das diskursive Manöver Searles klar: Wenn der Ausgangspunkt das Intentionale, das »Prinzip der Ausdrückbarkeit« sowie die wesentliche Konventionalität bzw. Regelgeleitetheit von Handlungen ist, dann steht jeder Sprecher oder Täter für das, was er sagt oder tut ein und kann damit umgekehrt, wie im Falle böswilliger Behauptungen, ehrenrühriger Äußerungen oder verletzter Versprechen, zur Rechenschaft gezogen werden. Ersichtlich setzen Searle – und auch Austin wie ebenso nachfolgend Apel und Habermas – den Glauben an die Stabilität eines auktorialen Subjekts fort, das auf diese Weise die Grundlage der Sozialtheorie bildet, wohin17 Vgl. bereits Dieter Mersch: »Kommunikative Identitäten und performative Differenzen. Einige Bemerkungen zu Habermas’ Theorie der kommunikativen Rationalität«, in: Preproceedings of the 20th International Wittgenstein-Symposium, Kirchberg. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1997, S. 621–628.

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gegen hier jene Effekte oder Konsequenzen interessieren, die nicht nur gelegentlich als Koinzidenzen oder beiläufige Nebenwirkungen im kommunikativen Geschehen auf‌treten, etwa wenn uns ein dialogisches Missgeschick ereilt – das, was Austin unter den Begriff der Verunglückung diskutierte 18 –, oder wenn ein Gespräch entgleitet, weil an ihm mehrere, unkontrollierbare Intentionen beteiligt sind, sondern die den Kern der Mediation von Sprache ausmachen und ereignishaft ihrer systematischen Indetermination und Unverfügbarkeit entspringen. Vor allem jedoch interessieren die Augenblicke, da beide – Intentionalität wie Nichtintentionalität – ineinander verschwimmen und Frakturen oder Widersprüche ausbilden, wo die Risse und Überlagerungen in den Prozessen der Verständigung derart proliferieren, dass sich Wahrheit und Lüge, Versprechen und Täuschung oder Gewalt und Anerkennung ununterscheidbar miteinander verschmelzen.

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Keineswegs aber frisst die Lüge parasitär von der Wahrheit wie die Heimtücke von der ›Ethik‹ des Versprechens – das hieße, in der Reihe der Begriffe jeweils die Wahrheit oder Ethizität von Sätzen als normativ gegenüber den jeweils anderen, davon abgeleiteten, den Vorzug zu erteilen. Wir haben dann schon die gesamte Geschichte der klassischen Metaphysik anerkannt, gegen die vor allem Friedrich Nietzsche mit der Kraft der Ironie, der Karikatur oder auch der Boshaftigkeit Sturm gelaufen ist.19 Dagegen kann – okkasionell und szenisch gebunden – die Wahrheit selbst zur Lüge werden oder sich die Lüge, wie Günter Anders pointiert hat, »sich wahrlügen«, weil nicht sämtliche Tatsachen im Satz, der mit ihnen in Korrespondenz steht, repräsentiert werden kann: Alles an einer Aussage stimmt, aber wichtige Details sind entfallen, werden verschwiegen oder sind durch ihre bloße Anordnung oder Reihenfolge entstellt. Die Analyse des Performativen hat bei dieser chronischen Instabilität anzusetzen, eben weil sie nicht den Satz als Akt behandelt, sondern von der Situation ausgeht, die ihn einhüllt – deshalb das Eingangsbeispiel von Laing, neben Gregory Bateson und Paul Watzlawik einer der raren Meister des Parado18 John Langshaw Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), übers. v. Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam 21979, S.  91  ff. 19 Vgl. vor allem Friedrich Nietzsche: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, in: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, München: dtv 1999, S. 873–890.

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xen, der double binds in der Kommunikation, welche auf diese Weise zu Prüfsteinen und Grundfiguren der ›performativen Szenen‹ avancieren. Die Behauptung lautet dann, dass diese und ähnliche Grundfiguren sich über die, im engeren Sinne, Ortschaf‌ten von Sprache und Kommunikation hinaus verallgemeinern lassen. Sie betreffen nicht nur Verständigungen in Gesprächssituationen, nicht nur soziale Interaktionen, sondern überhaupt die generelle Struktur der Szene gesellschaftlicher Beziehungen und ihrer Situierung. Ihr Charakter – und das wäre der zweite grundlegende Ansatz – gleicht dabei weit eher dem Moment des Perlokutionären statt der Illokution, wie sie Searle und mit ihm Habermas und andere in den Vordergrund rückte, weil das ›Per‹ der ›Perlokution‹ weit eher dem ›Per‹ der ›Performation‹ entspricht und das eigentlich Mediale der Handlung ausdrückt. Hatte Austin Illokution und Perlokution dadurch unterschieden, dass der illokutive Akt die Bedeutung »in saying« (indem) konstituiert, während die Perlokution »by saying« (dadurch dass) geschieht,20 erweist letzteres sich analog zu der Formulierung ›by means of‹, die die Mediation gleichsam als eine diesseitsbezogene Figur beschreibt. Wechselt man das Lager der Sprachen und geht zum Lateinischen und Griechischen über, übersetzt sich ›durch‹ – ›by means of‹– mit ›per‹ bzw. ›dia‹, deren Komposita wie Dialogoi (Herauslesen), Diaphane (Durch-Scheinung), Diheiresis (Durch-Trennung), Diagramma (Durch-Zeichnung) und andere dort, wo das ›dia‹ aktivisch verstanden wird, lauter mediale Prozesse anzeigen. Das Performative und das Mediale hängen so unmittelbar zusammen 21 – und sich vermittels der Sprache oder einer Handlung eine Mediation vollzieht, sind wir auf den Begriff des Performativen verwiesen, der im Prozess der ›Lokution‹ zur ›Per-Lokution‹ wird. Ihr kommt folglich, ganz im Gegensatz zu seiner behavioristischen Auszeichnung bei Joshua Grice, der sie erneut lediglich für eine Bedeutungstheorie dienstbar zu machen versuchte, nunmehr eine dominante Rolle zu. Perlokutionen – und das macht ihre Analyse so brisant – verweisen jedoch auf eine immanente Spaltung. Darin enthüllt sich gleichzeitig ihre spezifische Medialität – oder um es schärfer zu fassen: die sich im Perlokutionären ausdrückende Medialität performativer Szenen partizipiert – statt an einer Identitätslogik – an einer Differenzlogik, wobei hier, das sei ausdrücklich hinzugefügt, der für Sprechakte reservierte Ausdruck an dieser Stelle metapho20 Austin: Zur Theorie der Sprechakte, a. a. O., S. 135  f. 21 Vgl. Dieter Mersch: »Meta / Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Heft 2/ 2010, Hamburg: Felix Meiner 2010, S. 185–208.

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risch verwendet und auf alle Arten des szenischen Handelns ausgeweitet wird. Während also Illokutionen sind, was sie sagen und damit Identitätsfiguren aufrufen – die Behauptung als Inhalt entspricht der Behauptung als Handlung, das Versprechen als Satz ist zugleich die Gesetzgebung eines Versprechens als Tat – implizieren Perlokutionen Differenzvollzüge, die eine soziale Situation von Innen her ebenso sehr mediatisiert wie dissoziiert: man denke an eine Behauptung, die als faktischer Abbruch eines Gesprächs fungiert, an ein freundliches Angebot, das eine Perfidie inkludiert oder an eine Beschwichtigung oder Tröstung, die eine Herablassung darstellt wie gleichermaßen ein Schweigen sich als eine Gebärde des Mitgefühls und des Mitleids oder als Arroganz entpuppen kann. Man kann die Liste der Beispiele um weitere Schichtungen fortsetzen, etwa indem man auf die Geste einer Bescheidung als spezifische Herablassung aufmerksam macht, die eine Verunsicherung verdeckt und gerade dadurch ihre eigene Inferiorität enthüllt, oder auf die Verwandlung einer bereitwillig ausgesprochenen Wahrheit in offene Brutalität oder des Aktes einer Zuvorkommenheit in eine Demütigung, die beide in einer weiteren Wendung auf den Handelnden selbst zurückweisen und ihn demaskieren. Verwandtes wäre, in einem ganz anderen Bereich, von der Schönheit zu sagen, die das Begehren anzustacheln sucht, die aber aufgrund ihrer umgekehrten Ikonisierung zur Verdichtung einer Gewalt wird, sofern das eigene Gesicht und der eigene Körper gar nicht mehr anders kann als sich unter den fortwährenden Verdacht eines Mangels zu stellen. Tatsächlich ist die Dissoziation oder Differenz in allen diesen Beispielen nicht etwas, was zusätzlich zur Identität hinzukommt, sondern bezeichnet gerade das, was die Sprache oder Handlung im Sozialen im eigentlichen Sinne tut oder bedeutet. Die Andeutungen mögen genügen, um deutlich zu machen, dass die in Rede stehende Differenz nicht vorderhand das Produkt einer intentionalen Zwecksetzung darstellt – als ob wir alle Mittel unseres Ausdrucks in den Händen hielten –, sowenig wie wir aus Sprache oder Bildern Werkzeuge machen können; vielmehr enthüllt die Spaltung allererst die Möglichkeit wie Grenze kommunikativer Praxis. Anders ausgedrückt: Die Kluft oder Differenz bildet das Konstituens von Kommunikation, nicht deren Erschütterung. Darum wird sie dem Medialen zugeschrieben: Das Paradigma des Perlokutionären als zugrunde liegendes Modell des Performativen und damit der sozialen Praxis offenbart ein konstitutionelles Paradox – oder, wie man vorsichtiger oder abgemilderter sagen könnte – ein praktisches différance-Prinzip, durch das sich das Soziale selbst hervorbringt. Das lässt sich auch so fassen: Keine

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Behauptung ist zugleich nur eine Behauptung, kein Versprechen lediglich ein Versprechen, vielmehr immer noch etwas Anderes. Wie die Zuwendung eine versteckte Abweisung oder die Partizipation an einem fiktional Ästhetischen eine Anästhetisierung des eigenen Selbst bedeuten kann, das ist hier die These, erzeugt die spezifische Strukturalität der performativen Szenen ununterbrochen ihr eigenes Negativ, ihre Verschiebung und ›Ver-Setzung‹, setzen sie fort, ›ent-falten‹ sie im buchstäblichen Sinne in ständig neuen Faltungen um und bilden dabei auf ihre je spezifische Weise Formen der Gewalt aus. Die Begegnung, die soziale Beziehung, mithin auch die Kommunikation sind das Ereignis dieser unablässigen Differenzierung und Entfaltung. Die différance, das Paradox spielen mit ihnen ein unablässiges Spiel der Beziehung, der Sprache oder wechselseitigen Interaktionen, die nichts von Wechselseitigkeit, vom Ideal der Reziprozität besitzen und die als Spiele gleichzeitig jene performativen Szenen generiert, worin das Soziale wie auch seine Unterbrechung und Verwerfung geschieht. Die Exekution einer Handlung bedeutet folglich den Austrag wie auch Ereignung dieser Differenz oder besser: ihrer nicht stillzustellenden Differierung, die jederzeit geeignet ist, aus einem Versprechen eine Finte, eine unannehmbare Liebesbezeugung, eine Gebärde der Unterwerfung oder gewaltsame Vereinnahmung und dergleichen zu machen – und zwar nicht, weil sie so gemeint sind, sondern weil sie durch die Szenen des Performativen immer schon ›gewendet‹, mithin auch der Herrschaft des Handelnden ›ent-wendet‹ bzw. entzogen worden sind. Sagen, Handeln bedeutet damit, stets etwas anderes sagen oder tun – etwas anderes, weil sie von Anfang an durch die Bedingungen des Szenischen und des Handelns in Szenen ›ver-wandelt‹ wurden. Jeder performative Vollzug einer Handlung oder jede Verwendung eines Ausdrucks ›unter-zieht‹ sich in diesem Sinne ihrer ununterbrochenen ›Wendung‹ wie sie gleichzeitig szenisch einer Alterität unterliegen, die weniger die Alterität der beteiligten Anderen meint, als vielmehr jener ›Ent-Wendung‹ oder ›Ver-Anderung‹, die gleichzeitig eine ›Ent-Fremdung‹ genannt werden muss, welche darin besteht, dass wir nirgends darüber verfügen, worin eine Handlung oder ein Gesagtes sich je schon gewandelt, verschoben oder verfremdet haben wird. Worauf wir mit diesen Überlegungen aufmerksam machen möchten ist somit, dass dieses immer schon ›Ent-Wendet-‹ oder ›Verandert-sein‹ das Indiz einer genuinen Entmächtigung des Sozialen und der menschlichen Situation liefert. Anders formuliert: Jeder Szene des Performativen wie jedem Akt sozialer Performanz liegt eine existenzielle Tragödie nahe – wie sich umgekehrt sagen lässt, dass die griechische Tragödie, ihre rituelle Auf‌führung die exem-

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plarische Darstellung sozialer Paradoxien – oder um es präziser auszudrücken: der performativen différance als Bedingung der menschlichen Beziehung – bedeutete, wobei abermals der Ausdruck »différance« als Metapher für den nicht aufzuhaltenden Prozess einer Haltlosigkeit fungiert. Ergänzt sei, dass das Tragische nicht per se als ein negativer Begriff verstanden werden darf, vielmehr zeigt er nichts anderes als die unauf‌hebbare Paradoxie im Sozialen. Keine menschliche Verrichtung, keine Beziehung oder Interaktion ist vor ihr gefeit: auch das versuchte die Eingangs­szene systematischer Verfehlung deutlich zu machen: Kommunikation ist eine Serie sich verselbständigender double binds, die gelegentlich – man weiß nicht wie – ein Einvernehmen erzielt. Das wird vor allem dort ersichtlich, wo die praktische différance, die sich im Rücken der Akteure ereignet, ihre Handlungen stört, verwirrt oder zum Scheitern bringt. Nichts anderes drücken die alten Vorstellungen des diabolé oder diábolos, wörtlich des ›Durcheinanderwerfens‹ als Gegenbegriff zum symbolon, dem Symbolischen oder ›Zusammenwerfens‹ aus, worin der Sinn sich zu manifestieren sucht. Seine verhängnisvolle Kraft bezeugt das diábolon jedoch vor allem im Moment des Umschlags in Gewalt. Wir sind mit dem Realen in seiner machtvollen Präsenz, mit der Fragilität und Instabilität des Sozialen im Maße solcher Verwerfungen konfrontiert, wenn gleichsam wider Willen ein Anderes auf‌taucht, das unheimlich oder unbotmäßig ›dazwischentritt‹ und seine ›spektrale‹ Kraft entfaltet, indem es die Schleier möglichen Handelns, seine vermeintliche Souveränität wie auch die Entscheidungsfähigkeit des sogenannten ›freien Willens‹ zerreißt – und zwar so sehr, dass die antiken Religionen wie auch ihrer manichäistischen und christlichen Nachfolger nicht zögerten, darin das Werk eines diabolischen Prinzips zu erblicken. Die Ethik der Antike, deren eigentlicher Ort die Tragödie war, hat sich daran eingeübt: an der Tatsache, dass es keinen stabilen, nichtparadoxen Bezug gibt, auf den sich als fester Boden oder Grund berufen lässt und worin eine wie immer geartete ›Wahrheit‹ wurzelte. Schwankend sind wir, in Kontingenz und Zerwürfnis (katastrophé) gestellt: Zu den Bedingungen der Existenz gehört das Paradox, wie es keine kulturelle Formation ohne selbstwidersprüchliche Strukturierung gibt. Darum duldet die Ethik auch kein übergreifendes oder universelles Prinzip, sondern allein nur den Fall, die Singularität – und dies gilt insbesondere für sämtliche, im sozialen Kontext relevanten ethischen Kategorien, die die Praxis der menschlichen Beziehung betreffen, wie Vertrauen, Treue, Glaube, die jeder Gesetzgebung und normativen Sanktionierung noch vorhergehen.

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Strukturmerkmale des Performativen Um diesem rätselvollen, gegenfinalen Wirken genauer auf die Spur zu kommen, seien einige der Strukturelemente dessen entschält, was wir die ›Szene des Performativen‹ genannt haben. Dabei soll deutlich werden, dass wir es stets mit einer Überschneidung, einem Chiasmus zwischen dem Intentionalen und Nichtintentionalen bzw. der Offenheit und Schließung oder Aktivität und Passivität zu tun haben.Wenn wir im Performativen das Paradigma des Perlokutionären privilegiert haben, dann nicht, um die Szenen gänzlich von den Momenten der acto oder intentio abzuschneiden und wie ein unheilvolles Geschick ausschließlich in einen Gewaltzusammenhang zu stellen, vielmehr geht es darum, in der Theorie des Sozialen das Ereignishaf‌te und Gegenfinale zu einem stärkeren Recht zu verhelfen. Dazu gehört auch, das Performative nicht voluntaristisch, sondern von seinem ›Setzungscharakter‹ her zu verstehen.22 Der Ausdruck ›Setzung‹ betont dabei bereits die Duplizität von Setzen und Gesetztsein, d. h. ebenso sehr das Moment der Hervorbringung wie Ereignung – im Unterschied zu jenem idealistischen Verständnis, wie es Johann Gottlieb Fichte als »erste Setzung«, der Setzung des Nicht-Ich im Ich inaugurierte, die stets noch die Freiheit des Willens und damit den Vorrang der Subjektivität postulierte.23 Stattdessen schließt die performative ›Setzung‹ in Bezug auf den Akt des Handelns ein Dreifaches ein: Erstens die ›Ein-Setzung‹ im Sinne des Anfangens oder der Instantiierung einer Handlung, sowie zweitens die ›Aus-Setzung‹ im Sinne einer Selbstausstellung oder Exposition des Handelnden im Akt wie gleichfalls seine Auslieferung an Andere, denn was immer ich tue, wie immer ich mich zu etwas verhalte, zeige ich mich im Handeln mit, exponiere mich, setze mich und damit meine Leiblichkeit der Szene des Performativen aus, mache mich angreif‌bar. Hinzu kommt schließlich drittens die ›Ent-Setzung‹ oder Transposition, denn jeder Akt greift auch in eine Szene ein, irritiert oder verschiebt sie, und zwar auf eine zugleich irreversible Weise, wie er gleichermaßen auch durch die Handlungen der Anderen »ent-setzt« oder verschoben wird, indem diese seinen Sinn, sein Begehren und seine Richtung unterbrechen und, wie wir zuvor bereits erwähnten, auf der Szene 22 Vgl. Dieter Mersch: »Das Ereignis der Setzung«, in: Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Matthias Warstat (Hg.), Performativität und Ereignis, Reihe: Theatralität, Bd. 4, Tübingen/ Basel: Francke 2003, S. 41–56. 23 Vgl. ders.: »Ereignis und Respons. Elemente einer Theorie des Performativen«, in: Jens Kertscher, Dieter Mersch (Hg.), Performativität und Praxis, München: Wilhelm Fink 2003, S. 69–94.

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buchstäblich ›ent-wenden‹. Wir haben damit drei Richtungen, die als Leitmotive dienen können und vermöge derer sich m. E. eine Strukturanalyse der ›Szene des Performativen‹ durchführen lässt. Sie seien nacheinander genauer inspiziert. Erstens: Begonnen sei mit dem Setzungscharakter als solchem, der Einsetzung oder Instantiierung des Aktes. Sie bedeutet nicht schon eine creatio ex nihilo; vielmehr reagiert sie auf eine komplexe Situation, ein Angefangenhaben und markiert dazu zugleich eine ›Beginnlosigkeit‹. Wir sagten zudem, dass sich das Performative auf Handlungen als deren Vollzugscharakter bezieht und haben daran die Tatsache festgemacht, dass Handlungen ausgeführt und aufgeführt werden, bzw. in der Welt stattfinden und sich im Materiellen situieren müssen. Performativa haben also weniger etwas mit der Repräsentation eines Motivs oder der Erfüllung einer subjektiven Absicht zu tun, als vielmehr mit dem Ereignis ihrer Realisation, das wiederum mannigfachen Dispositionen unterliegt. Performative Akte sind in diesem Sinne Teil von Kontexten, Regeln und Konventionen – dies war der ursprüngliche Austinsche und Searlesche Gedanke –; sie haf‌ten an materiellen Gegebenheiten, an den Bedingungen der Beteiligten, an kulturellen Standards und vieles mehr. Man könnte sagen: Zu einem gewissen Grade schaut ihnen eine ganze Wirklichkeit zu. Gleichzeitig gefährden sie diese aber auch, indem jede Setzung partiell die Kontexte oder Regeln außer Kraft setzt, ihren Rahmen sprengt und damit gleichermaßen aufs Spiel setzt, was sie ermöglicht und konstituiert. Der Umstand weist insbesondere über den Austin-Searleschen Ansatz einer performativen Bedeutungstheorie hinaus: Das Symbolische, das die Performativa austragen, wird im selben Augenblick durch das Diabolische getrennt und aufgerieben. Performationen besitzen insofern – darauf hat besonders Derrida abgehoben – die Kraft zum Umsturz, zur Veränderung: Sie teilen und modifizieren die Szene, der sie entstammen. Deswegen gehören Setzung und ›Ent-Setzung‹ zusammen: Jedem Akt ist die prinzipielle Fähigkeit zur Krisis zueigen, mithin zur Destabilisierung wie zur Transformation einer Situation, denn Verwendung schließt ›Wendung‹ prinzipiell ein. Der einfachste Fall einer solchen Transformation ist dabei das Zitat, das als Zitat provokativ, frivol oder entlarvend wirken kann.24 Es irritiert, gerade wo es sich eine Ironie verkehrt oder eine Absurdität explizit zu machen vermag, die Ordnung des Sozialen, auf die es reagiert. Es gibt allerdings auch drastischere Beispiele: Eine übertriebene Höf‌lichkeit kann Verachtung für den Adressierten enthüllen, ein unschickliches Wort eine Institution erschüttern, 24 Vgl. Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, a. a. O., S. 333  f.

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wie ebenfalls die Hetze, die Hate-Speech nach Judith Butler durch ihre Wiederaneignung und Entwendung, die nichts anderes tut, als sie zu wiederholen, neutralisiert werden kann.25 Die Möglichkeiten der Sprache sind unbegrenzt; auf jede Strategie folgt, mit denselben Mitteln, eine Gegenstrategie, die die Szene weiter verknotet, um sie womöglich mit einem einzigen Ausruf umstürzen zu lassen. Gleichfalls gestattet sie, aus einem einvernehmlichen Dialog ein Desaster zu machen, einfach durch die Tatsache, dass er weiter geschieht, sich fort spricht, um gerade dadurch dem Anderen sein eingeklagtes Recht auf einen Streit zu rauben. Wir haben es dabei nicht mit einer besonderen Fähigkeit der Sprache zu tun, einer ›Begabung‹, vielmehr zeugen die Prozesse von deren Medialität und ihrer spezifischen potentia. Das Mediale gibt nicht Aufschluss über eine Struktur, sondern – kraft des ›Dia‹, des ›Per‹ – über die Unendlichkeit der ›Wendung‹: der Trope nicht nur im rhetorischen Sinne, sondern als einer Praxis. Der Performation eignet in diesem Sinne eine genuine Exzentrizität, d. h. der Öffnung von Situationen wie auch umgekehrt ihrer Schließung oder der unabweisbaren Unmöglichkeit einer Fortsetzung. Man muss immer anschließen, hatte Niklas Luhmann vermutet – das Gegenteil ist ebenfalls der Fall: In jedem Anschluss liegt, und zwar wegen seiner performativen Dimension, die Möglichkeit der Unterbrechung, eines Verrats oder der Verwerfung und damit des Untergangs jeder sinnvollen Anschließbarkeit. Zweitens: Selbstverständlich können alle diese ›Wendungen‹, Umkehrungen und Umschläge auch das Ergebnis einer Intrige oder Inszenierung sein, wie sie ebenso gewiss auch passieren können, ohne von irgend jemand bewusst lanciert zu sein, eben weil sich stets eine unübersichtliche Anzahl von Akteuren im Spiel befinden – gegenstrebige Interessen, längst vergangene Handlungen, die wie ein Echo auf die aktuellen Szenen zurückwirken, psychische Verstellungen oder Tabus wie auch Hierarchien oder materielle Strukturen, die sich tief ins Gewebe sozialer Beziehungen eingegraben haben. Jenseits des Setzungscharakters findet sich dann noch ein anderes Strukturmerkmal des Performativen, das der Verschränkung von Öffnung-Schließung gleichsam entgegenwirkt und ein nichtintentionales Moment preisgibt. Stets bleibt nämlich das Performative auf einen Hintergrund bezogen, worin es sich platziert. Es kann als Analogon zu jener FigurGrund-Vexierung gelesen werden, die für ikonische Prozesse leitend erscheinen. Sie ereignet das, was wir zuvor schon als praktisches différance-Prinzip ausbuchstabiert haben und in Bezug auf 25 Butler: »Hass spricht«, a. a. O., S. 25  f., 79  ff. u. ö.

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das Performative immer neue ›Falten‹ schlägt. Die Performativität der Szene ist darin eingelagert. Das besagt auch, dass jeder Szene, die es hervorruft, eine andere Szene vorausgegangen sein wird, die ihre Optionen gleichermaßen definiert wie einschnürt und zwingt, auf sie zu antworten. Performativität und Responsivität gehören in­soweit zusammen; und sofern wir nie wissen können, worauf wir im Antworten antworten, noch, was unser Antworten bedingt oder auslöst, entgleitet uns im selben Maße die Struktur unseres Handelns wie dieses sich in Gestalt von Setzungen behauptet. Wir betreten hier den Raum des Nichtverfügbaren, der mit den gegenfinalen Effekten des Handelns eng verquickt ist. Denn jede Handlung verbindet uns mit Anderem und Anderen, weshalb gleichfalls Performativität und Alterität miteinander korrespondieren: Wir sind mit ihnen auf der Szene verwickelt, wir berühren sie, wie wir, ähnlich der Dialektik des Taktilen, im gleichen Augenblick durch sie, zuweilen auf unbotmäßige Weise, berührt werden. Anders gewendet: Sich in performativen Szenen auf‌halten, ›im Performativen sein‹, existieren, bedeutet stets auf eine ebenso verletzbare wie fragile Weise ausgesetzt zu sein. Wenn also die Begriffe ›Performativität‹ und ›Aussetzung‹ in der Bedeutung von Exposition zusammen gedacht werden, dann in dieser doppelten Hinsicht, der die Potentialität von Gewalt immer schon eingeschrieben scheint: Handeln heißt, im aktiv-passiven Sinne sich exponieren zu müssen, heißt sich vorzuführen, auszustellen, zugleich aber auch, sich selbst aufzudrängen und durch seine schiere Präsenz Macht ausüben – wie gleichermaßen Sich-Aussetzen meint, sich prinzipiell des Übergriffs und der Willkür anderer zu überlassen, sich an sie auszuliefern. Drittens: Unvermeidbar erweist sich so die Szene des Performativen von Gewalt durchdrungen: Jeder Exponierung öffentlichen Handelns ist die Möglichkeit einer prinzipiellen Asymmetrie, einer Nichtwechselseitigkeit oder Non-Reziprozität inhärent. Sie verlangt umgekehrt ihre fortgesetzte Bannung, Eingrenzung oder Hemmung, wie sie sich in der Vielzahl sozialer Rahmenbedingungen, Gesetzen, Konventionen, Normen oder Etiketten verkörpern, die ihrerseits immer dazu tendieren, ins Repressive umzuschlagen – und deren kompakte Massierung am Ort der Szene selbst schon ein Indiz dafür ist, wie viele Barrieren und Grenzziehungen erforderlich sind, um die latente Gewalt des Performativen in Schach zu halten, während umgekehrt ihr Fehlen, zumindest ihre zeitweise Lockerung und Enthemmung der Grund dafür zu sein scheint, weshalb im Sozialen plötzlich Formen einer Barbarei auszubrechen vermögen, mit denen vorher niemand gerechnet, die auch niemand herbeigerufen oder provoziert hätte – man denke

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an den rüden Ton in Internet-Foren, die Gehässigkeit, die sich durch eine Art sozialdarwinistischem Recht des Stärkeren legitimiert: Medien bieten in dieser Hinsicht eine Reihe von Optionen, sich vom Druck der Regularien zu entlasten, um dabei beständig neue Gewaltformen zu gebären. Wir berühren hier u. a. die Produktivität des Dispositiv-Begriffs, verstanden als ein unübersichtliches Ensemble von Kräf‌ten, die sich überschneiden, einander widersetzen oder überholen und gleichzeitig die Szene zu beherrschen suchen.26 Statt jedoch solche »Mikrophysiken der Macht« (Foucault) zu beschreiben und an dieser Stelle die Spekulationen weiterzutreiben, seien viel eher die Momente der Passivität und Unverfügbarkeit hervorgehoben, die die performativen Kräfte zugleich schneiden und zerteilen. Über die »Aus-Setzung« hinaus lässt sich nämlich ein ganzes Arsenal nichtintentionaler Strukturmerkmale anführen, die für die Erfahrung des Performativen auf der Szene konstitutiv zeichnen – z. B. das stets nahe liegende Risiko einer Versagung oder Verfehlung, im schlimmsten Fall der Zusammenbruch. Es geht hier nicht um die Missgeschicke Austins, die die Performativa an ihrem Gelingen hindern, sondern das Risiko besteht vielmehr darin, wie Hillary Putnam betont hat, »auf welche Weise« ein Akt vollzogen wird bzw. sich szenisch manifestiert.27 Kontinuierung und Diskontinuität sind daran gekoppelt. Zwar ist wie man handeln sollte oder wie es schicklich erscheint im hohen Maße normativ sanktioniert, doch ist das Einhalten solcher Normen immer problematisch wie umgekehrt ein Bruch mit den Regeln allererst die Voraussetzung einer Verschiebung oder Öffnung der Szene bildet. Entsprechend wird ihre Stabilität jederzeit sowohl durch die permanente Instabilität des Aktes als auch der Tatsache seiner andauernden Gefährdung oder Unkontrollierbarkeit durchlöchert. Hinzu kommt das, was man die »Unfüglichkeiten« des Leibes nennen könnte – die Tatsache, dass dem Handelnden seine eigene Leiblichkeit nie ganz zur Verfügung steht, dass der Körper immer schon ›dazwischentritt‹, sich dekontrolliert und aus dem Bild oder Rahmen fällt – wie überhaupt der Materialität des Aktes ein eigenes Gewicht, geradezu eine eigensinnige Gravitation zukommt, die auf keine Weise das Produkt eines Wollens oder einer Beabsichtigung darstellen kann, und die konsequenterweise in den klassischen Handlungsanalysen der Unbestimmt26 Vgl. Gilles Deleuze: »Was ist ein Dispositiv?«, in: François Ewald, Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 153–162. 27 Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 41990, S.  48  f.

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heit kontextueller Randbedingungen zugeschrieben werden.28 Sie konfrontieren uns ebenso sehr mit einer Widerständigkeit wie mit einem Überschuss, einer Exzedenz, die sich der angemessenen Theoretisierbarkeit entzieht. Als Setzungen in der Welt erweisen sich die Performationen daher als buchstäblich von der Welt durchtränkt; sie induzieren ihre nichtantizipierbaren Konsequenzen, weil sie realiter in etwas eingreifen, was nicht von ihnen regiert werden kann. Das performative Element verweist somit auf eine Teilnahme und Teilhabe am Realen, und die Handlungen werden Wirklichkeit durch die selbst nichtverfügbare Wirklichkeit des Handelns. Wir haben es folglich mit einer Nichttotalisierbarkeit zu tun, die erneut auf eine doppelte Weise zu verorten wäre, einmal soweit der Kreis performativer Szenen in ihrer Nicht-Intentionalität und Unkontrollierbarkeit niemals zur Gänze abstreckbar sind, zum anderen aber weil die Szenen als solche selber nicht eingrenzbar sind: Wo die Szene beginnt, wo sie auf‌hört, wie sie sich mit anderen überschneidet oder von ihnen gesättigt wird, verweigert sich angemessener Bestimmung. Überall regiert eine Indifferenz. Wir wissen – per definitionem – nichts über das, was sich unserer Zugangsweise sperrt: Es tritt – im Wortsinne – aus der Reihe.

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Neben diesen drei Strukturmerkmalen wäre indessen noch auf ein weiteres Moment hinzuweisen, das uns unmittelbar zum Thema der Gewalt zurückbringt. Denn jedem Akt und jeder Handlung eignet sich eine Besonderheit oder Einmaligkeit, die ihn singulär, ja wegen seiner spezifischen Einbettung in Situationen unwiederholbar macht. Und doch erweisen sich die Singularität des Aktes einerseits, die die Präsenz seiner Präsentation konstituiert, sowie andererseits die Möglichkeit seiner Anfälligkeit für das Unvorhersehbare und Prekäre als gleichursprünglich. Die griechische Tragödie bezeichnete nichts anderes als deren Reflexion. Sie eröffnete exemplarische Szenen ihres Dramas im wörtlichen Sinne einer Handlung. In ihnen spielt die Gewalt eine ausgezeichnete Rolle: der Bruch mit der Ordnung, der Übertritt und Übergriff, der plötzlich 28 Der Begriff des Kontextes innerhalb der Theorie des Sozialen bezeichnet eigentlich ein Ärgernis, denn auf den Kontext beruft man sich, wo man die Verschiebung von Bedeutungen gerade nicht mehr versteht, indem man ihn zum Ort einer Verschiebung erklärt, der jedes Mal dann hervortritt, wo die Bedingungen unklar sind oder die Bezüge relativiert werden müssen, wo sie verwischen. Der Kontext deckt ab, was unbestimmt bleibt, was keine klare Kontur besitzt.

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und unerwartet auf‌taucht und das Netz der menschlichen Beziehungen zerreißt, oder auch die Unmäßigkeit des Begehrens, die dem Gesetz entgegengestellt ist und das Gleichgewicht, die harmonia als Modell des Sozialen auf‌löst. Jede Handlung bleibt in ihrem Kern unkalkulierbar – nicht nur in Ansehung ihrer Folgen und Wirkungen, sondern auch in Ansehung des Momentes der Gewalt, weil sie auf eine erschreckende Weise an ihre Irreversibilität gekettet erscheint. Zwar kann in einem bestimmten Sinne grundsätzlich jeder performative Akt revidiert werden wie er gleichzeitig, auch schon aufgrund seiner Singularität, unrevidierbar bleibt; doch bedingt seine Revision gleichzeitig seine Verschiebung oder Modifikation auf der Szene, seine, wie man sagen könnte, notorische Dekontrollierung, die ihm seine eigene Richtung und Entropie auferlegt. Die sozialen Systeme haben dafür mannigfache moralische wie juridische Regularien oder Konventionen entwickelt, von den Praktiken der Sühne bis zur Reue oder Entschuldigung.29 Dennoch enthalten auch diese einen paradoxen Kern. Denn wollte ich für eine Tat um Verzeihung bitten, ein Unheil oder ein Missgeschick wiedergutmachen, wollte ich eine Kränkung oder einen ungerechten Angriff heilen, bedeutete ihre Wiedergutmachung und Übernahme der Schuld nur ihre Verdopplung und damit ihre Aufrechterhaltung. Man kann sich in diesem Sinne, in Abwandlung eines Wortes von Franz Kafka, zurückhalten und nicht zu handeln versuchen – doch vielleicht induziert gerade diese Flucht und das Schweigen, das sie verlangt, eine viel weitreichendere Form der Gewalt als die, die sie vermeiden möchte. Wollte man daher die Resultate dieser Studie versuchsweise zusammenfassen, wäre wohl der folgende Schluss maßgeblich: Ausschlaggebend für die Szene des Performativen sind die Momente der Setzung, der Offenheit-Geschlossenheit, der Materialität und Körperlichkeit, der Ereignishaftigkeit sowie das spezifische Verhältnis zwischen Intentionalität und Nichtintentionalität mit den Aspekten der Unbestimmtheit, Unverfügbarkeit und Irreversibilität. Einen Akt ausführen oder eine Handlung begehen, eine Schwelle überschreiten oder eine Ordnung in Frage stellen heißt bereits, in eine Unumkehrbarkeit einzutreten, die mit dem einfachen »Dass« der Setzung vorgenommen ist. Das impliziert auch: Vom Standpunkt des Performativen aus sind wir je schon ins Ethische gestellt. Wir sind so unbedingt ins Ethische gestellt, dass es schlechterdings keine Ausnahme, keine Unterbrechung und keinen Freiraum gibt. 29 Vgl. dazu u. a. John Langshaw Austin: »Plädoyer für Entschuldigungen«, in: Günther Grewendorf, Georg Meggle (Hg.), Linguistik und Philosophie, Frankfurt/M.: Athenäum 1974, S. 32–64.

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Das Faktum der Existenz duldet keine Verneinung, sowenig wie eine Umdeutung oder Überschreibung. Deshalb hatte Walter Benjamin notiert, dass die »höchste Kategorie der Weltgeschichte […] die Schuld« sei: 30 Bei allem, was getan wird oder gemacht werden kann, betritt der Mensch den Kreis der Gewalt wie er ebenso sehr den Kreis des Gesetzes betritt, der diese zu bändigen sucht. Im Gesetz ist die Gewalt in ihrer Potenz nur zum Schein gebändigt: Sie ist durch eine andere Gewalt sanktioniert. Umgekehrt gibt es keinen Eingriff, keine revolutionäre Tat, die in ihrer Gesetzlosigkeit nicht schon eine Form von Gewaltsamkeit wäre, woran sich zugleich ihre ethische Brisanz entzündete. Gewiss kann man weder etwas verändern noch erwirken ohne zu überschreiten oder das Gewesene hinter sich zu lassen; doch gleichzeitig gibt es auch keine Transformation ohne Deformation, keine Verwandlung ohne Entstellung. Sie zeugen von einer Unheimlichkeit, die sich in die Arbeit der Selbstentwicklung einschreibt und sich ihrer Reflexion und Absicht entgegenstellt. Ihnen haftet jenes genuin tragische Moment an, das ausdrückt, dass jedes Projekt, jeder Vorwurf einer actio oder einer Handlung eine Ungerechtigkeit einschließt. Die menschliche Situation existiert nur aufgrund dieser adikia, dieser Ungerechtigkeit, der die Gerechtigkeit erst nachfolgt, um ihr auf selbst ungerechte Weise Einhalt zu gebieten. Deshalb wurde zu Beginn gesagt, dass die Gewalt ein menschliches Thema ist, das nur im Bereich des Menschlichen vorkommt und allein dort Sinn hat. Man könnte sagen: Wie sich das Humane in einer tiefen Verschränkung mit dem Inhumanen gründet, so findet die Verschränkung ihren Ort im Performativen, die die Gewalt unhintergehbar macht. Das bedeutet gleichzeitig: Mit dem Gesichtspunkt des Performativen wird die Dimension der Gewalt ubiquitär, und zwar sowohl als Element der actio, ihrer irreversiblen Setzung im Realen, als auch als Element der passio, der Verletzbarkeit und noch mehr: der Widerfahrung des Ereignisses im Situativen, das sich nie zur Gänze erschließen oder kontrollieren lässt. Das klingt, als ob wir, angesichts der Nichtsuspendierbarkeit der Gewalt, überhaupt davor zurückschrecken müssten, irgendetwas zu tun und uns auf die Welt und andere zu beziehen. Gerade dieser Schluss wäre jedoch fatal. Stattdessen kommt es darauf an, die Orte der Gewalt zwischen actio und passio als Unausweichlichkeit und »ursprüngliche Tragödie« anzuerkennen. Das bedeutet auch: Das Tragische in der Bedeutung des praktisch Paradoxen erweist sich als Grund30 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, 2 Bde., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 92.

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bedingung der conditio humana. Und das meint: Das Tragische bezeichnet dasjenige griechische Wort, das die Grundform der menschlichen Existenz und seiner elementaren ethischen Bedingung beschreibt. Umgekehrt bezeugt sich in ihm die Aufrichtigkeit der griechischen Tragödie als ebenso mythische wie rituelle Form. Sie bezog aus ihr ihren Impuls wie ihr Thema aus der Kennzeichnung der menschlichen Situation im Lichte einer »existenziellen Ethik«, nämlich der beständigen »Ent-Faltung« und »Um-Faltung« der performativen Szene, die an jeder Stelle zugleich die Kräfte der Destruktion zulässt. Mit anderen Worten: die Szene des Performativen ist charakterisiert durch ein Feld von Differenzen, die sich chiastisch überschneiden und vervielfältigen, um sich in Gestalt von lauter Paradoxa fortzupflanzen. Wir haben sie, aus Gründen der Verständlichmachung, metaphorisch als »performatives différance-Prinzip« entziffert. Die Gewalt entsteht insbesondere durch dessen Leugnung oder Nichtachtung, etwa durch die Produktion von Souveränität und Homogenität, aber auch durch Formen der Grenzziehung, Bannung oder Kontrolle, die selbst gewaltförmig verfahren. Nicht die Auf‌lösung des Paradoxen – z. B. durch die Politik der Einschränkung – verspricht eine Katharsis, eine Versöhnung innerhalb des Menschlichen; sie bildet vielmehr erst ihr Problem.

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DIETER MERSCH

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Vom Anderen her

Lenore Hipper Ethik des Bedeutens nach Emmanuel Levinas

1.  Zeichen und Repräsentation Emmanuel Levinas bearbeitet in seinen Texten die Frage der Alte‌rität 1, die Frage nach dem Status des Anderen. Dabei diagnostiziert er für das klassische abendländische Denken, in das er die Philosophie Heideggers einschließt, eine Unfähigkeit zur Verantwortung und Annahme gegenüber dem Anderen und seiner Andersheit – stattdessen werde der Andere vom »Denken des Selben«, wie Levinas eine der Hegel’schen Konstitution des Selbstbewusstseins verwandte Figur benennt, identifiziert und vereinnahmt. Dies geschieht nicht zuletzt durch das Denken der Repräsentation, der Vorstellung, in dem das Andere im Bewusstsein erfasst und zu einem Gegenstand gemacht wird – und in diesem Sinne dann auch in der Sprache der Repräsentation, der Thematisierung, vergegenwärtigt und vergegenständlicht wird. Dem entgegen formuliert Levinas sowohl in seinen theoretisch-philosophischen Texten als 1 Stephan Strasser nennt »Alterität« als einen der »Grundbegriffe« bei Levi­nas, ein »Denkinstrument«, mit dem er die Mauern der Reflexionsphilosophie, der Bewusstseinsphilosophie und des Idealismus zu untergraben hoffe. Vgl. Strasser: »Emmanuel Levinas – Ethik als erste Philosophie«, in: Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, S. 218–265, hier S. 224.

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auch in seinen Schriften zum Talmud ein Verständnis von Schrift und Sprache, eine Theorie der Bedeutsamkeit und damit auch des Zeichens, die nicht die Weitergabe von Informationen privilegiert, kein Denken des Codes oder der Bedeutung entwirft, sondern Schrift und Sprache aus einer Figur der Stellvertretung und Verantwortung entwickelt. Der komplexe 2 Begriff der Stellvertretung wurde – für das Levinas’sche Werk nicht untypisch – häufig unter moralisch-religiösen Aspekten untersucht. Levinas jedoch gibt dieser Figur noch einen anderen Stellenwert, indem er sie im Zentrum des Bedeutungsprozesses situiert und ein nicht-repräsentierendes Modell des Zeichens als »der-Eine-für-den-Anderen« 3 entwickelt. »Aliquid stat pro aliquo« – so lautete die klassische Bestimmung des Zeichens. Ein Anwesendes steht für ein Abwesendes, etwas verweist auf ein anderes, eines wird durch ein anderes ersetzt: Verweisung, Repräsentation, Substitution. Damit einher geht die Annahme eines Äußeren, einer Gewissheit, einer Unmittelbarkeit, durch die diese Relationen geregelt und bestimmt werden. Der Verlust dieser Gewissheit in der Moderne bringt den Zeichenbegriff in eine Krise, auf die ab dem 19. Jahrhundert verschiedene Theorien reagieren, die ihn um ein drittes Element erweitern, welches in je unterschiedlicher Weise den Modus der Bezugnahme, die Funktion der Bezeichnung, den Vorgang der Interpretation berücksichtigt. Es entstehen so Theorien, deren unterschiedliche Zeichenbegriffe sich als entweder funktional, pragmatisch oder struktural charakterisieren lassen.4 Zwischen aliquid und aliquo wird insbesondere die formale Funktion des pro zum Thema. Es wird gefragt, wie der Gebrauch des Zeichens sich vollzieht, wie diese Beziehung stattfindet, inwiefern es möglich ist, dass etwas für etwas anderes steht. So entstehen beispielsweise im strukturalistischen Verständnis Bedeutungen als Effekt im Verweis der einzelnen Elemente der Struktur aufeinander. Jedoch geht es auch hier – und selbst

2 Vgl. hierzu Robert Bernasconi, »What is the question to which ›substitution‹ is the answer«, in: Simon Critchley, Robert Bernasconi (Hg.), The Cambridge Companion to Levinas, Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 234– 251. Bernasconi beantwortet sich selbst teils im Scherz die Frage, auf welche Frage »Stellvertretung/substitution« die Antwort sei, mit »is it not what is the most obscure concept of the twentieth century?« Ebd., 238. 3 Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder Anders als Sein geschieht (1992), Freiburg/München: Karl Alber 42011, S. 56. 4 Hierzu Dieter Mersch, »Einführung«, in: ders. (Hg.), Zeichen über Zeichen, Texte zur Semiotik von Peirce bis Eco und Derrida, München: dtv 1998, S. 9–36, sowie ders.: Posthermeneutik, Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 140.

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wenn wie in der Dekonstruktion die Referenz ausgestrichen und das reine Spiel der Zeichen betont wird – stets um die An- oder Abwesenheit einer Bedeutung, die als Bestimmung, als antwortend auf die Frage »was« gekennzeichnet werden kann. Auch wenn aufgrund der Uneindeutigkeit der Zuordnungen im System keine eindeutigen Botschaf‌ten benannt werden können, ist es dennoch stets entscheidend, dass in der Kommunikation ein »etwas« übermittelt wird, dass »etwas« vom Einen zum Anderen geht – selbst wenn dieses »etwas« letztlich nicht zu bestimmen ist. Stets geht es um die Übersetzung und Weitergabe eines Inhalts, eines Ausgesagten. Begriffe wie Information und Code beschreiben das Prinzip dieser Strukturen. Immer liegt der Fokus auf der Bedeutung, auf dem Sinn – darauf, was ein Zeichen jeweils besagen will, wie es zu interpretieren ist und nicht darauf, was die Zeichenfunktion selbst als etwas für etwas jenseits der Repräsentation, als reines Sichzeigen oder Bezeugen einer Struktur des »Stehen für« besagen könnte.5 Das Besondere der Philosophie Levinas’ ist nun, dass seine Frage nach der Repräsentation sich genau dieser Frage nach dem »Stehen für« stellt und diese mit dem Begriff der Stellvertretung [frz. substitution] ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. Wenn Levinas von »der-Eine-für-den-Anderen« 6, vom »Zeichen geben bis man Zeichen [wird]« 7, ja vom »Zeichen der Zeichengabe« 8 spricht, nimmt er damit eine subtile Verschiebung im Repräsentationsbegriff vor, die sämtliche Zeichentheorien, von der klassischen bis zur semiologischen Zeichentheorie, ins Ethische umwendet. Es zeigt sich somit, dass den oben vorgestellten Zeichenbegriffen ein weiterer hinzuzufügen ist, der diesen vorausgeht: ein ethischer Zeichenbegriff, der davon ausgeht, dass der Funktion des Zeichens die Verantwortlichkeit, die Hingabe, das Sterben des Einen für den Anderen zugrunde liegt. Levinas entnimmt semiotischen oder strukturalen Theorien die Figur des Zeichens, um sie ganz ihrer formalen Aspekte zu entkleiden, oder vielmehr, um ihren formalen Aspekt – das der-Einefür-den-Anderen – jeglicher Formalität zu entwinden und diesen ganz und gar ethisch zu verstehen. Und dieses Verständnis dann primär für jede Zeichenhaftigkeit zu diagnostizieren, als deren

5 Hierzu ebd., sowie zuerst und paradigmatisch ders.: Was sich zeigt, München: Wilhelm Fink 2002. 6 Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 56. 7 Emmanuel Levinas: »Gott und die Ontotheologie«, in: ders., Gott, der Tod und die Zeit, Wien: Passagen 1996, S. 133–236, hier S. 204. 8 Ebd.

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beginnlosen Beginn. Es kann so von einer ethischen Genese jedes Bedeutungsprozesses gesprochen werden. Die ethische Beziehung als »Rückseite« allen Bedeutens, in der sich das Geben selbst gibt.

2.  Repräsentation und Stellvertretung

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Der Begriff der Stellvertretung referiert in der klassischen Zeichentheorie auf die re-praesentatio, in der ein Abwesendes durch ein Anwesendes vorgestellt, ersetzt, handhabbar gemacht, in die Gegenwart gebracht bzw. sichtbar gemacht wird.9 Zugleich wird dem Repräsentierten dessen Andersheit genommen, denn es wird etwas anderem gleich gesetzt. Es wird in den Verfügungsbereich gestellt. Man kann mit ihm umgehen, auf es zeigen, es auseinandersetzen, besprechen, abmalen. Man kann damit etwas tun. Die Welt wird verfügbar. In Bezug auf das Denken bedeutet Repräsentation die Art und Weise, in der das Bewusstsein sich die Welt vorstellt, aber auch die Art und Weise, in der Vergangenes und Zukünftiges in der Gegenwart synchronisiert werden. Levinas jedoch entwindet den Begriff der Stellvertretung der Kategorie der Repräsentation. Er begreift ihn stattdessen wörtlich als das Einspringen des Einen für den Anderen, als die immer zugleich unmögliche Stellvertretung für den Anderen. An Stelle der klassisch-metaphysischen Figur der Bestimmung von tritt so die Figur der Stellvertretung für im Sinne der ethischen Zeugenschaft, d. h. durch denjenigen, der sein Einspringen für den Anderen bezeugt, indem er sich »selbst zum Zeichen macht« 10‌‌. Dabei ist vor allem die Struktur der beiden Partikel »von« und »für« von Bedeutung. Bei der Bestimmung »von« handelt es sich stets um eine formale Relation, eine Funktion, eine Beziehung mit einem bestimmten Vektor. Etwas wird an Stelle von etwas anderem gesetzt – selbst wenn, wie in Strukturalismus und Dekonstruktion, von einer netzartigen Struktur oder Matrix zu sprechen ist. Bei der Stellvertretung »für« ist dagegen von einer Bewegung der Einbindung und Hingabe anstelle einer Relation zu sprechen. Eine Bewegung der Öffnung einer Öffnung. So ist auch zu verstehen, dass Levinas diese ethische Wendung wiederum als Begründung der Möglichkeit der Repräsentation versteht. Aber wie ist das gemeint? Was bedeutet diese Wendung des Begriffs der Stellvertretung? 9 Hierzu Emmanuel Levinas: »Diachronie und Repräsentation« in: ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München: Hanser 1995, S. 194–217, hier S. 208. 10 Ders.: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 313.

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Wie wendet Levinas dessen formales Kriterium der Ersetzung um in das ethische des Einspringens für den Anderen? Und wie kann andererseits die Figur der Stellvertretung dann wieder als Grund der Repräsentation erscheinen? Wichtig ist dabei vor allem folgende Grundfigur: Die Bewegung der Bedeutsamkeit geschieht zunächst vom Anderen her. Dies unterscheidet Levinas’ Ansatz radikal von allen intentionalen Ansätzen.11 Die Sinngabe durch den Anderen erfordert jedoch mein Einstehen für ihn. Im Für-den-Anderen-Einstehen begründet sich meine Menschlichkeit, mein Sinn. Es ist damit die Verantwortung für den Anderen, die mich allererst konstituiert. Ich empfange meinen Sinn, meine Bedeutung durch den Anderen. Die Verantwortung für den Anderen versetzt damit für Levinas das »Gravitationszentrum eines Seienden außerhalb dieses Seienden« 12‌‌. »Der Eine steht für den Anderen« heißt dann: Ich stehe ein für den, der mich allererst konstituiert, denn in diesem Einstehen erst konstituiert sich mein »ich«, konstituiert sich jede Bedeutsamkeit. Damit es überhaupt Bedeutung geben kann, bedarf es so meines rückhaltlosen Einstehens für, bedarf es des primordialen ethischen Moments. Sinn gibt sich allerest von einer Ethik der Alterität her. So bin ich selbst ohne Grund, also »an-ar­chisch« 13, wie Levinas es ausdrückt. Mein Grund ist der Andere, der meiner Bedeutsamkeit, meinem Sinn vorgängig ist. Ich, in meiner Bedeutung, meinem Sinn, wäre nicht ohne den Anderen; es gibt 11 Das »von« der Bestimmung ist zugleich als »Bewusstsein von« Kennzeichen der Intentionalität – das Levinas’sche Denken dagegen versucht hier einen Bruch mit der Intentionalität. Vgl. Dieter Mersch: Posthermeneutik, a. a. O., S. 300: Für Levinas entzieht die »Begegnung mit Anderem […] jeder Form der Intention, des Verstehens wie des Sinns überhaupt den Boden, weil diese ihrer allererst bedarf.« Sowie ebd., S. 304: »Es gibt nicht lediglich eine Richtung von Beziehung, die gemäß der Logik der Intentionalität von A nach B verläuft, sondern diese Richtung, dieses Sich-Richten-auf hat ›ursächlich‹ seinen Grund im Anderen, bedarf mithin seiner Möglichkeit nach noch der Stiftung durch ein Fremdes.« Jean-François Lyotard beschreibt dies als die Vertreibung des Ich aus der Sender-Instanz, einer Vertreibung in die Verpflichtung, deren Unmittelbarkeit er mit der des performativen Satzes vergleicht. Jean-François Lyotard: Der Widerstreit (1987), München: Wilhelm Fink 21989, S. 190: »Ein ich, das seiner Illusion, Sender von Sätzen zu sein, beraubt ist und – auf unerklärliche Weise – in der Empfänger-Instanz erfasst wird. Die Verpflichtung ist unmittelbar und geht jeder Einsichtsfähigkeit voraus, sie wohnt im ›Empfang des Fremden‹, im Ruf an mich, der mehr tut, als eine vorgegebene Beziehung umzustürzen: der ein neues Universum errichtet.« 12 Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München: Karl Alber 1993, S. 266. 13 Ders.: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 40.

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keine Bedeutungen ohne den Anderen. Fraglos muss ich für ihn einstehen, denn ohne mein Einstehen wäre ich nicht. Für meinen Bezug zur Welt ist Alterität, ist der Andere somit konstitutiv. Eine beständige Bewegung, die sich vom Anderen auf mich zu bewegt, um von mir aufgenommen sich dem Anderen wiederum ganz zuzuwenden, ganz zu geben. Diesem schwierigen Gedanken nähert sich Levinas mit immer wieder verschiedenen Wendungen: Nähe, Genuss, Sinnlichkeit. Besessenheit, Verfolgung, Vorladung. Einstehen, Inspiration.14 Jeweils ist jedoch entscheidend, dass Bedeutsamkeit erst vom Anderen her geschieht, dass mein Einstehen, meine Hingabe für den Anderen der Bedeutsamkeit vorgehen muss und so mein Leben – mein Sinn – vom Anderen her gegeben wird. In dieser Bewegung steckt von sich her bereits eine Vorrangigkeit des Ethischen. Bedeutung ist damit nicht Repräsentation, sondern immer schon von der Ethik der Gabe durchtränkt. Sie kann nicht aus meinem Bezug zur Welt, also von der Intentionalität her entwickelt werden, sondern nur vom Anderen her. Zur Darstellung der Nähe beschreibt Levinas zunächst ein rein genießendes Ich der »Unmittelbarkeit« 15‌. »Erst ein essendes

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14 Levinas entfaltet in seinem Text vielfältig dieses Bedeuten durch wiederholtes Durchspielen von »nichtbegreifenden Begriffen« (hierzu Levi­nas: »Gott und die Ontotheologie«, a. a. O., S. 152), von »Begriffen gegen den Willen des Begriffs« (ders.: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 306), durch Figurationen eines philosophischen Erzählens, das oft einen scheinbar »schwachen« oder »anderen« Begriff von Rationalität durchscheinen lässt, oder damit eine Rationalität vor der Rationalität. Er lässt den Leser selbst durch wiederholte Lektüren ein vorbewusstes Verstehen erleben, bevor der Text sich – analog Texten in der Tradition der jüdischen Hermeneutik – schließlich aufzudecken scheint. Als schicke Levinas den Leser ins Exil. Wiederholtes Lesen evoziert dann ein Verstehen – das jedoch wieder fremd gemacht werden muss, da die Begriffe in ihrem eigenen Klang gehört werden müssen – nicht in ihrer Erklärung, die ich mir davon machen könnte. Vielleicht wäre es möglich, den Grundgedanken der Levinas’schen Philosophie in wenigen Sätzen auszudrücken – zugleich jedoch benötigt der Gang des Denkens die Performanz des Textes, das Angezogen- und Abgestoßen-Werden durch den Text, das Spüren der Auf‌forderung an mich selbst, das Unverständnis, das scheinbare Verstehen, das Vage, das »Vielleicht«. In diesem Sinne scheinen mir auch die Levinas’schen Texte selbst Zeugnis ihrer Stellvertretung zu sein. Ihre Begriffe sind befreit von Herrschaft eindeutiger Wahrheit um der Wahrheit willen. Vielmehr suchen sie immer eine Übersetzung des ethischen Anspruchs unendlicher Stellvertretung in die suchende Sprache abendländischer Philosophie. Dazu Levinas beständiger Hinweis auf ein »in eben diesem Moment«, in seinen Texten – sowie dazu Jacques Derrida: »Eben in diesem Moment in diesem Werk findest Du mich«, in: Michael Mayer, Markus Hentschel (Hg.), Levinas – zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, Gießen: Parabel 1990, S. 42–83.

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Subjekt kann Für-den-Anderen-sein oder bedeuten.« 16 Über das Motiv des »Stillens« ruft Levinas die Doppeldeutigkeit der Nähe auf – »Genießen und Verletzen« 17‌. Aber wie entwickelt Levinas aus einem zunächst sinnlichen und genießenden Verhältnis der Nähe das der Stellvertretung, das der Verantwortung für den Anderen? Es ist dies keine moralische Forderung, nichts was ein selbstbewusstes, moralisch denkendes Ich von sich verlangen könnte oder sollte, denn es gibt keine Wahl, es gibt das wählende Bewusstsein in diesem Denkansatz nicht. Durch den Anderen, den Nächsten, wird vielmehr ein nicht-bewusstes Ich des reinen Genusses aus der Lust herausgerissen und in den Schmerz, in den Verlust, die Verfolgung getrieben. Auch all dies geschieht in einer Zeit oder einem Modus vor jedem Bewusstsein/außerhalb jeden Bewusstseins. Aus dem Genießen, aus meiner Ruhe, stößt mich der Andere durch einen Anspruch an mich, der ebenfalls durch die Nähe formuliert ist, hinaus. »Ist mein Dasein in seiner Seelenruhe und dem guten Gewissen seines conatus nicht gleichbedeutend damit, den anderen Menschen sterben zu lassen?« 18 Es ist dieser Anspruch an mich, der den Menschen ausmacht. Levinas spricht von Entfremdung – einer Entfremdung vor der Identität, denn das Ich »ist« ja noch nicht, es wäre also entfremdet, bevor es ist. Levinas nennt diese Entfremdung die Besessenheit des Einen durch den Anderen. Er geht hier sehr weit. Immer wieder betont er die Asymmetrie der Beziehung: es ist der Eine, der alles für den Anderen zu geben hat, bis zum eigenen Leben. Diese Rückhaltlosigkeit ist notwendig, da es ja der Andere ist, der mir allererst Leben – Sinn gibt.19 Der Eine wird zum genau Einen dadurch, dass er durch den Anderen besessen ist, dass er durch den Anderen gefordert ist, herausgefordert, alles zu geben. Denn »sein alles« geben – das kann nur er, nur dieser eine Mensch. Nur er ist an diesem Ort mit seinem Körper, seinem Geist, seinen Fähigkeiten, seiner Kraft, seiner Zärtlichkeit gemeint als derjenige, der sein »sich«, sein ich bin dem Anderen geben kann. Der eine Mensch wird in diesem Geben-Können

15 Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 148. 16 Ebd., S. 168. Zum Begriff der »Unmittelbarkeit« vgl. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, a. a. O., S. 65, »Das Unmittelbare ist der Anruf, und wenn man so sagen kann, der Imperativ der Sprache.« 17 Ebd., S. 145. 18 Emmanuel Levinas: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz (1985), Freiburg/München: Karl Alber 31999, S. 216. 19 So entsteht in der Entfremdung, was Levinas die Beseelung – und damit Sinn – nennt: »Die Seele ist der Andere in mir.« Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 157.

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kenntlich.20 Das Verlangen des Anderen nach dem Brot, das ich esse, nach meinem Für-Ihn-Einstehen, ist es, was das Ich ins Ich ruft, was das Geschöpf entstehen lässt. Nähe kann damit als ein Gegenbegriff zur Repräsentation gelesen werden. In der Nähe gibt es keine Vorstellung von etwas, es wird sich kein Bild oder Begriff von etwas gemacht, es geschieht keine Verdopplung im Denken, kein Hinüberziehen des Geschehens in die Gegenwart. Eine Nähe, die sich nicht auf räumliche Kategorien bezieht. Bernhard Waldenfels spricht vom »›Nicht-Ort‹ (nonlieu)«.21 Levinas geht davon aus, dass der Mensch, bevor überhaupt von einem Bewusstsein, einem Denken, einer Fähigkeit zur Symbolisierung, zur Vergegenwärtigung etc. die Rede sein kann, bevor es ihn also als Bewusstsein »gibt«, mit dem Anderen bereits in dem Verhältnis der Nähe verbunden ist. Andererseits ist dieses »vor« nicht zeitlich zu verstehen, sondern geschieht jederzeit, vor oder jenseits – als andere Seite jedes Moments. Damit scheint für eine Beschreibung der Nähe jedes Wort bereits falsch, da Worte wie »Beziehung« »verbunden sein«, »Verhältnis« bereits von einer gewissen Bestimmtheit geprägt sind – während für das Verhältnis der Nähe entscheidend ist, dass es vor/jenseits jeder Bestimmung, vor jedem Wort, vor jedem Bezeichnen »geschieht« – dass wir also auch nicht davon wissen können, darüber nicht entscheiden können, sondern diesem Verhältnis ausgeliefert sind. Wir können uns nicht dagegen wehren, es auch nicht gutheißen – es ist jenseits jeder Reflexion, jedem Denken oder Erkennen »einfach da«. Alles was wir davon erfahren können, wäre dann dessen Spur im für der ethischen Beziehung.22 Der Andere »erscheint« damit nicht dem Bewusstsein, das es in dieser Zeit außerhalb der Repräsentation nicht gibt. Er wird nicht vom Bewusstsein vorgestellt (re-präsentiert), sondern er 102

20 Zu dieser besonderen »Singularität« des »ich« bei Levinas siehe auch Michael Mayer: Humanismus im Widerstreit. Versuch über Passibilität, München: Wilhelm Fink 2012, S. 43  f. 21 Bernhard Waldenfels: »Antwort der Verantwortung«, in: ders., Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 322–345, hier S. 336. Auch Lyotard beschreibt das »ethische Gebiet«: »Kein Gebiet, sondern ein Modus der ich/du-Situation, die unvorhersehbare, gleichsam als Störung des Satz-Universums, in dem ich ich ist, geschieht.« Lyotard: Widerstreit, a. a. O., S.  190   f. 22 Levinas’ Vokabular erzählt hier auch die Geschichte der Verfolgung, des Gehetztseins, der Angst. Er spricht von der »Geiselhaft« durch den Anderen, der Vorladung, die vom Anderen, der »stört« (es »ist nichts störender als der Nächste«), an mich ergeht. An die Stelle des Genusses der Nähe als Sensibilität tritt damit auch sogleich der Schmerz: »[…] ein Sich-Winden in den Angstdi-

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wird befohlen, in einem Befehl, in dem der Gehorsam vor dem Verständnis liegt: ein Befehl, der »mir den Nächsten anbefiehlt« und »heimlich wie ein Dieb in mich eindringt« 23‌. Der Kontakt zum Anderen geschieht durch eine Gefangennahme, eine Entfremdung durch den Anderen vor und jenseits des Bewusstseins. Dies ist der Beginn der Stellvertretung für den Nächsten: Das »Für-den-Anderen, das dem Nächsten antwortet, in der Nähe des Nächsten« 24‌.‌ Aus einer vorbewussten Nähe oder Besessenheit ohne Frage, ohne Nachdenken, ohne Entscheidung in die Verantwortung für den Nächsten gedrängt oder gezogen. Levinas beschreibt dieses Verhältnis radikaler Passivität gegenüber dem Anderen unermüdlich mit den unterschiedlichsten Bildern: Neben dem Befehl, der befolgt wird, bevor er gehört wurde, beschreibt er das »Echo vor dem Klang« 25, die »Anklage vor der Schuld« 26 – und, im Kontext seiner talmudischen Texte, das »Geheimnis der Engel« 27: Die Israeliten »führen aus, was sie noch nicht gehört hatten« 28‌.‌ In diesem Sinne stünde die Stellvertretung ganz im Gegensatz zur Repräsentation. Sie fände in einer Vorzeit statt, die niemals in die Erinnerung genommen werden kann – die niemals repräsentiert werden kann, denn der Zugang, den das Zeichen in seiner Funktion als Repräsentation bieten würde, kann nicht bis in diese »Vorzeit« genannte Zeit reichen. mensionen des Schmerzes« (Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 171). Ursache für den Schmerz ist dabei immer der Andere, denn es ist der Andere, dessen Nähe vom Einen verlangt, »das Brot zu geben, das er gerade verzehrt, oder seine Haut zu geben.« (Ebd., S. 175) Auf‌fallend ist die Prosa, mit der Levinas dies beschreibt. Insbesondere fällt die Vokabel der »Dringlichkeit« auf, denn sie allein scheint zu verhindern, dass das Bewusstsein den Nächsten identifizieren kann. Es bleibt dem Bewusstsein »keine Zeit«, den Anderen zu identifizieren und ihn vom Leib zu halten, um anstelle der maßlosen Nähe einen »gesunden Abstand« zu wahren. Diese Art von Dringlichkeit steht – wie an anderer Stelle die Wahl einer Modalität wie »vielleicht« – auch für ein besonderes Potential des Levinas’schen Textes. Etwas, was auf den ersten Blick wie eine Schwäche scheint, die keine »starken«, objektiven Argumente hat, sondern in einer Modalität des Unbestimmten zu verbleiben vermag, indem sie ihre Figuren der Argumentation einem Drama der Verfolgung entnimmt. 23 Emmanuel Levinas: »Gott und die Philosophie«, in: Bernhard Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, München/Freiburg: Karl Alber 1981, S. 81–123, hier S. 119. 24 Levinas: Zwischen uns, a. a. O., S. 203. 25 Vgl. Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 245. 26 Vgl. ebd., S. 250. 27 Emmanuel Levinas: »Die Versuchung der Versuchung«, in: ders., Vier Tal­ mud-­­­Lesungen, Frankfurt/M.: Neue Kritik 1993, S. 75–95. hier S. 85. 28 Ebd.

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3.  Ethisches Bedeuten und »Es gibt« Verpflichtung Die Stellvertretung, das Der-Eine-für-den-Anderen nennt Levinas zu­gleich die Bedeutung. Es ist hier ein ethisches Verständnis der Bedeutung, die vorgängige Bedingung jeden Bedeutens im ethischen Bezug, im »für den Anderen« gemeint. Levinas unterscheidet die Bedeutung von Begriffen in einem System, in dem der eine Begriff durch Auschluss den anderen bestimmt, von einer Bedeutsamkeit, die durch das »der-Eine-für-den-Anderen« »beseelt« ist: Beseelung ist keine Metapher, vielmehr, wenn man so sagen kann, eine Bezeichnung für das irreduzible Paradox der Verstehbarkeit: das Paradox des Anderen im Selben, der Trope des ›Für-den-Anderen‹ in ihrer vorgängigen ›Wendung‹. Bedeutung in ihrer eigentlichen Bedeutsamkeit, außerhalb jeglichen Systems, früher als alle Korrelation […].29

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Das Besondere der Argumentation ist jedoch, dies auch im Begriff des Zeichens auszudrücken und somit auch die Sprache in dieser Bedeutsamkeit zu fundieren: »Das Zeichen wird nicht um seiner selbst willen gesetzt.« 30 Auch dem Zeichen käme dann eine Bedeutung über den Tod hinaus zu – ohne jedoch wieder ein transzendentales Signifikat einzuführen, sondern durch eine Wendung der Struktur des Bedeutens. Es handelt sich nicht um leere Verweise, die auf Verweise verweisen, sondern die Struktur der Verweisung bedeutet eben gerade, dass ich für Dich bis in den Tod. Das Zeichen, wie es Levinas begreift, setzt in seinem »für« ein Element des Sagens in die Welt des Gesagten herüber.31 Die Verantwortung für den Anderen, soweit bis dahin, sein Leben für den Anderen zu geben, wäre die Bedeutung des Zeichens – und diese Bedeutung würde dann durch das Zeichen auch in das System der Sprache, das vernünftige Reden und Denken hinübergetragen werden: »[…] im System […] tritt der Eine mit dem Anderen auf, so als bedeutet der Eine den Anderen – der Eine als Zeichen für den Anderen – der Eine als derjenige, der auf seine ›Gestalt‹ verzichtet, um ›für den Anderen dahinzugehen‹. Dieses der-Eine-für-den-Anderen kon­stituiert die Bedeutung oder die Verstehbarkeit.« 32 29 Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 160. 30 Ebd., S.  335. 31 Sagen im Levinas’schen Sinne eines grundlegenden Geschehens des Bezogenseins vor jedem Wort, einer Zuwendung, einem Bezogensein – vgl. auch weiter unten. 32 Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 359. Wie auch der Mensch die Anordnung hat, nicht um seiner selbst willen zu leben, sondern für den Anderen. In

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Während somit nachvollziehbar wird, wie Levinas dem Zeichen eine ethische Fundierung verleiht, merkt Bernhard Waldenfels an, Levinas wähle »für seine Ethik des Anderen eine semiologische Absprungbasis, ohne allerdings die Klärungsangebote der neueren Semiotik hinreichend zu nutzen« 33‌.‌‌ Waldenfels übersetzt in seinen Überlegungen zum Levinas’schen Zeichenbegriff 34 mit Wittgenstein das Zeichen in einen »Prozeß des Zeigens und Sichzeigens« 35‌.‌ Dieser entspräche nicht einer Ordnung, sondern dem »Geschehen des ›es gibt Ordnung‹«36 im Zusammenhang mit einer »ursprünglichen Zeichenhaftigkeit der Dinge« 37‌.‌‌ Diese scheint ähnlich der, wie sie bei Benjamin in der Sprache der Dinge oder bei Heidegger in der »Sage« 38 angesprochen wird. Jedoch scheint Waldenfels zumindest an dieser Stelle zu übersehen, dass es bei Levinas um eine weitere Verschiebung, nämlich um die von der Existenzaussage zur Gabe, geht. Müsste nicht – übersetzt in das Denken Levinas’ – von einer »Sprache des Menschen« gesprochen werden, deren Sichzeigen allerdings nicht das Geschehen von »es gibt Ordnung« wäre, sondern das Geschehen von »es gibt ›für den Anderen‹«, »es gibt das Sein ›zu‹«, »es gibt Stellvertretung«? Das Zeichen, wie es Levinas begreift, entspräche in seinem »für den Anderen« einem solchen Geschehen der »Weisung zu«. Der Einsatz dieses »für den Anderen« kehrt das Prinzip der Repräsentation um. Es wird nicht mehr ein Anderes uns vergegenwärtigt, sondern wir sind selbst das »für den Anderen«: »die Inversion des Seins zum Zeichen« 39‌‌. Während »Sein« hier für Levinas ein selbstgenügsames, in den eigenen Interessen versunkenes Sich-die-Welt-Vergegenwärtigen meint, wäre dessen »Inversion« ein Verständnis des Menschen, das diesen zunächst als »für den Anderen« begreift. Jede Zuwendung zeugt dann davon, dass der Eine dem Anderen verschrieben ist: zum Anderen, für den Anderen: »das zum Anderen verurteilte, das dem Anderen ergeder Begriff‌lichkeit der »Stellvertretung« spricht Levinas von der »Inversion des Seins zum Zeichen« (ders.: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 335). Dieser Zeichenbegriff wird durch Levinas jedoch in das System, die Sprache des Bewusstseins hinübergetragen. Die Bedeutsamkeit, wie sie Levinas versteht, das Bedeuten füreinander als Zeichen, in der Art, dass »der eine für den Anderen dahingeht« – bleibt im »System« erhalten – als dessen andere Seite. 33 Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 545. 34 Ebd., III. Teil, »Dimensionen der Antwort«, Kap. 11, »Einschreibung in die Spur des Anderen«, S. 538–557. 35 Ebd., S.  553. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Vgl. ebd. 39 Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 335.

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bene Selbe« 40‌‌. Waldenfels spricht hier vom Gerundivum, das eine Zukunft »öffnet […], die meinen Möglichkeitsraum sprengt und einen ›Übergang zur Zeit des Anderen‹ bedeutet«.41 Sinn ist hier dann auch immer als ein Richtungssinn, auf den Anderen zu, von ihm her, zu verstehen. In der Zuwendung zum Anderen zeigt der Mensch sein »ich bin für dich«. Diese grundlegende Zuwendung als Sichzeigen in der Stellvertretung beschreibt Levinas als Sagen und dieses Sagen der Verantwortung zugleich als Zeugnis. Dabei ist dieses »Zeugnis« mehrfach zu verstehen: So bezeugt das Einstehen für den Anderen zugleich dessen Andersheit, die Tatsache, dass er meinem Bewusstsein nicht zugänglich ist, sondern anderswo, außerhalb meiner Reichweite steht und die einzige Möglichkeit des Verhältnisses ihm gegenüber/zu ihm nicht die Repräsentation sein kann, sondern die Stellvertretung, das sich für ihn zum Zeichen machen. Ich bin für Dich, Du bist mir nicht gleichgültig, aber ich verfüge nicht über Dich, identifiziere dich nicht, spiegele Dich nicht, lasse Dich als Anderen, in deiner Andersheit, mache dich nicht zum Objekt, sondern bin rückhaltlos für Dich. Levinas spricht von In-Indifferenz. Zugleich ist die Stellvertretung Zeugnis der Annahme meiner Menschlichkeit, meines »für den Anderen« (der Weisung des »für den Anderen«), und somit Zeugnis dessen, dass ich ein »für den Anderen« bin. Indem diese Weisung befolgt wird, wird der Mensch selbst zum Zeichen. Das »Ich« – sich – ausgesetzt, reine Passivität, Verantwortung für den Anderen, in sich im Exil und entfremdet, so aber gerade einzig – diese »Auslieferung«, diese Passivität bedeuten, was Levinas die Bedeutung nennt. Dies ist dann aber wiederum Zeugnis der Weisung, Zeugnis des Unendlichen, das dieses »füreinander« geboten hat, gegen die Naturgesetzlichkeit des Jeder-für-sich. Wer sich dem Anderen gibt, gibt ein Zeichen des Gebots, und somit ein Zeichen des Anderen. Zeugnis des Zeugnisses, das zum Zeugnis des Unendlichen wird – denn die Möglichkeit des Zeugnisses, des Einstehens für den Anderen, ist nur möglich durch die Fähigkeit des Menschen, sein Leben für das Leben eines Anderen zu geben, gegen seine eigenen Interessen zu handeln. »Zeugnis« hat hier jedoch nicht unbedingt mit Sprache zu tun. Das Sagen, von dem Levinas spricht, und dass er vom Gesagten zugleich trennt wie als untrennbar setzt 42, dieses Sagen ist zunächst ein Sagen vor dem Sagen, vor dem Wort, ohne Worte, 40 Ders.: Wenn Gott ins Denken einfällt, a. a. O., S. 217. 41 Waldenfels: »Antwort und Verantwortung«, a. a. O., S. 329. 42 Siehe hierzu Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 144.

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es entspricht zunächst vielmehr einer Zuwendung – dem Geben. Fast könnte man sagen, dass, wie Derrida aus dem Zeichen die Referenz herausstreicht und nur noch Signifikanten aufeinander verweisen lässt, so Levinas »aliquid« und »aliquo« aus dem Zeichenbegriff streicht und nur noch das »für« kennt, nur noch das Geben, die Relation, die aber keine formale Relation, sondern ein ethischer Bezug ist.43

4.  »Geschiehst Du?« An dieser Stelle, wo fast etwas wie eine Pointe aufscheint, hätte der Text enden können. Aber was bedeutet das Geschilderte eigentlich? Und warum habe ich es erzählt? Im Fokus der Untersuchung steht die Frage nach der Möglichkeit einer »nicht-ontologischen« Zeichenhaftigkeit, nach Schrift und Sprache, die den Anderen nicht identifiziert, ihn nicht dem Selben gleichmacht, ihn nicht vereinnahmt – die aber dennoch mit einer Stimme spricht, sagt, hörbar ist. Schrift und Sprache als eine Widerfahrnis 44, Klang und Fleisch der Stimme, in der Singularität und Alterität des Anderen, Schrift, die erklingt vom Anderen her, die vom Anderen her spricht, einen spürbaren Einsatz hat – und nicht, wie es wiederum dem Schriftbegriff der Dekonstruktion vorgeworfen werden könnte, eine Schrift, die kein Außerhalb der formalen Relation der Markierungen kennt. Levinas bejaht die Möglichkeit einer solchen »ganz anderen« Konzeption des Zeichens, indem er über seine »ethische Sprache« 45 hinaus ein Konzept unlesbarer oder »unaussprechliche[r] Schrift« 46 bejaht – ein »Ja zur Gabe der unentzifferbaren Botschaft« 47, wie es Lyotard im Widerstreit in seiner Diskussion Levinas’schen Denkens 48 formuliert. Aber was bedeutet unaussprechlich und unentzifferbar? Und wie verhalten sich diese Beschreibungen zum für des Einen für den Anderen, aber auch zum Einsatz des Satzes in der Stimme, zu einer Widerfahrnis der Schrift? Die Analyse des Zeichenbegriffs, den Levinas zugrundelegt und auch selbst thematisiert, ergab, dass hier zunächst ein geradezu leeres Zeichen gegeben wird – ein Zeichen vom Zeichenge43 Vgl. hierzu Levinas: »Gott und die Philosophie«, a. a. O., S. 117. 44 Siehe Mersch: Posthermeneutik, a. a. O., S. 74. 45 Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 268. 46 Ebd., S.  395. 47 Lyotard: Der Widerstreit, a. a. O., S. 192. 48 Ebd.: »Die Verpflichtung«, Exkurs Levinas, S. 188–195.

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ben. Gesprochen werden kann von einer Umdeutung des Zeichens zur Gabe. Zugleich hat dieses reine, zeichenlose Zeichen, das die reine Gabe, das Zuwenden bedeutet, jedoch einen Text, und dieser lautet: »Ich bin für dich«, oder »Hier bin ich – sende mich«, wie Levinas an zahlreichen Stellen die Heilige Schrift zitiert, um die Figur des Antwortens, des Einspringens für den Anderen in der Stellvertretung, des Sich-zum-Zeichen-Machens anzuzeigen.49 Ein Sagen, das die Mitteilung ausschließt, das vielmehr Zeichen von sich selbst gibt, von seiner Zeichenhaftigkeit. Eine Konzeption von Sagen, die Gabe des Gebens wäre, Offenheit des Offenen, die reiner Sog des Anderen wäre, reines Sich-zur-Verfügung-Stellen, Seine-Verantwortung-Bezeugen. Dieses Sagen jedoch, dass zuerst »gleichsam Schweigen« ist, »Sagen ohne Worte, aber nicht mit leeren Händen« 50, spricht sich allerdings in jedem Wort mit, indem das Wort die Struktur des Zeichens als Stellvertretung mitsagt: und so ist auch das Sagen eines Gesagten »insofern es ein Dem-Anderen-Näherkommen ist – Verantwortlichkeit für ihn« 51‌‌. Levinas schließt also die gesprochene Sprache, das Gesagte, wie auch das Geschriebene, nicht aus seiner Konzeption des Sagens, des Zeichens als Gabe aus, sondern ermöglicht das Gesagte im Sagen. Das ist wichtig, denn es bedeutet, dass es eine Möglichkeit gibt, les- und hörbare Schrift und Sprache als Verantwortlichkeit, als Zeichengabe, als »Hier bin ich« im Sinne der Stellvertretung zu beschreiben – die Schrift als Anspruch zu formulieren, auch in ihrer konkreten Ausformung im Wort – und nicht jede Schrift entweder als Repräsentation, als identifizierendes, den Anderen dem Selben einverleibendes Denken zu begreifen oder ausschließlich eine Vorgängigkeit der Schrift im reinen Spiel der Zeichen, wie es in Bezug auf Derrida formuliert werden könnte, zu behaupten.52

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49 Zum Beispiel Levinas: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 320 sowie Anmerkung 11 oder auch S. 253 sowie hier Anmerkung j. Es handelt sich dabei um die Übersetzung des hebräischen Ausdruckes »hinneni« – »Hier bin ich« – z. B. antworten so Abraham, Jacob, Moses jeweils auf das Angerufensein durch Gott. Levinas referiert außerdem auf die Stelle Jesaja 6,8, wo es zusätzlich heißt: »Hier bin ich – sende mich«. Die Setzung, der Einsatz des Anderen, ist hier zu finden. – Hierzu auch Derrida: »Eben in diesem Moment in diesem Werk findest Du mich«, a. a. O. 50 Levinas: »Gott und die Philosophie«, a. a. O., S. 116. 51 Ebd., S. 117. 52 Wie verhält sich diese Zeichengabe gegenüber den »unmöglichen Bedingungen«, wie sie eine Ethik der Dekonstruktion gegenüber der Unerfüllbarkeit der Gabe erheben würde? Zeichengabe ist hier ein Sich-Geben im Prozess der Stellvertretung. Sie ist unentgeltlich und kann nicht zurückgegeben werden – denn das ich selbst hat sich ja fortgeschenkt. Sie wird auch nicht vom Ich selbst auf- oder angerechnet, denn das Ich hat sich im Geben entkernt. Hier

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Zugleich ist mit dem Zeichen als Gabe aber auch die Gebung im Sinne des »Geschieht es?« 53 angesprochen, wie sie Lyotard in Bezug auf die Kunst Barnett Newmans entwickelt. Aber wie ist das möglich? Spricht nicht das Lyotard’sche »Geschieht es« gerade von einer Unmittelbarkeit jenseits oder vor jeder Zeichenhaftigkeit? »Die Botschaft (das Bild) ist der Bote, es ›sagt‹: Hier bin ich, das heißt: Ich bin Dein, oder: Sei mein,« 54 schreibt Lyotard in Bezug auf die Bilder Newmans. Da Lyotard jedoch Sprache nicht vom Strukturalismus auf der Basis Saussures her denkt, sondern sich an der Sprachphilosophie Wittgensteins orientiert 55, begreift er auch den Satz nicht vom Bedeuten sich gegenseitig ausschließender Markierungen her, sondern er fasst den Satz – wie das Bild – selbst als »Ereignis« 56 : »Ein Satz ›geschieht‹«.57 Somit kann er auch die Sprache, den Satz als »Vorkommnis« 58 fassen, als »Augenblick, der unvorhersehbar ›fällt‹ oder ›geschieht‹ […] vorausgesetzt er ‌. wird mehr nach seinem quod als nach seinem quid erfasst« 59 Sowohl das Kapitel in Lyotards »Der Augenblick, Newman«, dem diese Zitate entstammen, wie auch das Kapitel im Widerstreit, das einen ausführlichen Exkurs zu Levinas enthält, tragen den Titel »Die Verpflichtung«.60 Dort formuliert Lyotard den ethischen Satz im Kontrast zum spekulativen Satz: »Daß du niemals ich bist, daß ich niemals du bin.« 61 Dieser ethische Satz verflüchtige sich laut Lyotard im Schriftlichen – verflüchtige sich, aber werde dennoch (missverständlich) kommentiert 62, was genau das »Handeln, bevor man vernimmt«, mit dem Levinas die Stellvertretung charakterisiert hatte, ermöglicht.63 Dies jedoch korrespondiert der unlesbaren Schrift, der unentzifferbaren Botschaft, die eben das offene Verwerde im Zeichen ich geschenkt, hier schenkt das Zeichen mich, in einem Schenken, das von mir nicht mehr intentional übernommen werden kann, da meine Identität allein dieses Geben, das »für den Anderen« ist. 53 Jean-François Lyotard: Das Inhumane, Wien: Passagen 1989, S. 161. 54 Ebd., S.  145. 55 Lyotard: Widerstreit, a. a. O., S. 12, vlg. Mersch: Posthermeneutik, a. a. O., S. 78. 56 Mersch: Posthermeneutik, a. a. O., S. 78. 57 Lyotard: Widerstreit, a. a. O., S. 10. 58 Ebd., S. 196. 59 Lyotard: Das Inhumane, a. a. O., S. 147. 60 Lyotard: Widerstreit, a. a. O., S. 183, Lyotard: Das Inhumane, a. a. O., S. 144. 61 Lyotard: Widerstreit, a. a. O., S. 194. 62 Vgl. hierzu ebd., S. 194: »Der ethische Satz verflüchtigt sich mit seiner schriftlichen Fassung: […] [Der Kommentar] kommentiert ihn als ein Mißverstandenes, und auf diese Weise bewahrt er in sich selbst den Anspruch des Unverstandenen, den er selbst erhebt.« 63 Lyotard: Widerstreit, a. a. O., S. 194.

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hältnis zum Unbestimmten sucht – die spricht, ohne zu identifizieren. Schrift, in deren Lektüre ich mich dem Anderen öffne, mich ihm aussetze, »mein bin für dich« sage: Das Zeichen als »außerordentliches Ereignis der Exposition zum Anderen hin« 64‌‌. Ethisches Sprechen nach Lyotard wäre ein Satz, in dem der Sprecher zum Du wird, in dem vom Anderen her gesprochen wird. In Levinas’ ethischem Schreiben 65, seinem ethischen Satz, dessen Kern der erarbeitete Zeichenbegriff der Zeichengabe ist, lässt sich in der Zeichengabe das »Geschieht es« zum »Geschiehst Du« umdeuten.66 Die oben im Anschluss an Waldenfels aus dem Wittgenstein’schen »Zeigen« vorgenommene Analyse der Sprache des Menschen als »es gibt ein für den Anderen« korrespondiert der Analyse Lyotards, die das Levinas’sche Sprachdenken der Präskription‌, als »die ganz einfache Vorschrift, dass es Vorschrift gibt«67 charakterisiert. Dabei fragt Lyotard, inwieweit das von ihm z. B. in Bezug auf die Kunst, aber auch in Bezug auf das »Sein, das Vorkommnis« 68 oder »das Sein (oder die Sprache, die ›Sage‹…)« 69 – das »dass« – aufgerufene »Geschieht es« mit dem Levinas’schen »Geschiehst Du« 70 in Verbindung zu bringen ist. Erfordere nicht beides »eine Öffnung, eine Bereitschaft zum Vorkommnis in seiner Fremdheit? […] Sagt Heidegger nicht dasselbe wie Levinas, was immer der letztere auch sagen mag?« 71 Lyotard bejaht die Verwandtschaft: Beides wäre als Ereignis zu begreifen.72 Beide »Figuren« sind in jedem Falle zuallererst als verwandt, gleichrangig aufzurufen, bevor differenziert werden muss. »Wie das Geschieht es?, aber auf unterschiedliche Weise, ist das Du sollst ein Satz, in

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64 Emmanuel Levinas: »Ganz Anders – Jacques Derrida«, in: ders., Eigennamen: Meditationen über Sprache und Literatur, München 1988, S. 67–76, hier S. 75. 65 Hierzu Lyotard: Widerstreit, a. a. O., S. 193. 66 So beschreibt Lyotard ebd. Levinas’ Schreiben als »die Bezeugung der Spaltung, die Öffnung zu jenem anderen […]. Es würde sich nicht darum handeln, ›in der zweiten Person‹ zu schreiben, im Regelsystem des Du, sondern auf den anderen hin zu schreiben, unter dessen Gesetz.« Ebd.: »Das Schreiben […] ist Zeuge des Spalts im Ich, seiner Bereitschaft, auf einen Ruf zu hören.« 67 Lyotard: Widerstreit, a. a. O., S. 189. 68 Ebd., S.  196. 69 Ebd., S.  197. 70 Ebd., S. 196. 71 Ebd., S. 197. 72 Lyotard behauptet diese Nähe, auch wenn Levinas das »Geschiehst Du«, in seinem Vokabular jenseits des Erscheinens, jenseits des Seins ansiedeln würde, da Levinas »Sein«, »Erscheinen«, »Ereignen« einerseits mit Heidegger, von dem er sich abgrenzt, liest und andererseits immer im Zusammenhang mit einer Thematisierung begreift und deshalb das »Anders als Sein« vom Erscheinen ausschließt.

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dem das Vorkommnis vor seiner Abblendung durch eine Verkettungsregel bewahrt wird.«73 Allerdings sieht sich Lyotard gezwungen zu differenzieren. »Es gibt Verpflichtung« richtet sich direkt an den Menschen, an ihn als Antwortenden, Verpflichteten, an den, der durch den Anruf vom Ich zum Du wird und diese Position auch nicht mehr zu tauschen vermag, sondern als Du zum Einsatz verpflichtet ist, während das »es geschieht« der Heidegger’schen Lichtung oder des Lyotard’schen/Newman’schen Erhabenen zwar auch im Modus des Empfangens rezipiert wird – allerdings ohne den Charakter der Verpflichtung: »Eine Verwechslung wäre nur möglich, wenn man annähme, […] dass das Sein (oder die Sprache, die «Sage») des Menschen bedürf‌te. Du aber bist nichts als seine Ankunft. Er wartete nicht auf dich. […] Das Vorkommnis ist nicht der Herr.« 74 »Es geschieht« ist Annahme, »Du geschiehst« ist Verpflichtung. Inwieweit Lyotard in dieser Differenzierung so zuzustimmen ist, kann an dieser Stelle nur gefragt werden. Tatsächlich wäre darüber nachzudenken, inwieweit nicht gerade auch aus einer Ökologie der Dinge, der Materialität – und auch im Sinne der Levinas’schen Verantwortung – nicht nur »der Andere«, sondern auch »das Andere« bejaht werden muss – und nicht nur im Sinne des Ereignens, sondern der Verpflichtung. Ob wir nicht auch gegenüber jeder Andersheit zu sagen haben: »Hier bin ich«. Ob nicht das »es gibt Verantwortung«, gedeutet als Kennzeichen der Sprache des Menschen, auch Verantwortung gegenüber allem »dass« – letztlich dem Ding und der Natur – gebietet. Ich möchte jedenfalls – in Bezug auf die hier interessierenden Modi des Sprechens und des Zeichens – die gemeinsame Basis betonen, und die Lyotard’sche »Gebung« und die Levinas’sche Umschreibung des Zeichens zur Gabe bei allen Differenzen in Zusammenhang bringen – in gemeinsamer Abgrenzung zu einem Denken des Zeichens aus dem Paradigma der Bedeutung heraus. Gebung und Zeichengabe unterscheiden sich – haben aber eine gemeinsame Basis, die mit der Formulierung des Zeichens als »es gibt Verpflichtung«, d. h. »es gibt Gabe« bei Levinas zusammenhängt und erlaubt, die Ereignishaftigkeit der Levinas’schen Zeichengabe als Einsatz des ethischen Satzes herauszustreichen: das Verständnis des Zeichens als das »dass« des »Du geschiehst« – die Bedeutung des »ich bin für dich« oder »es gibt Weisung«. 73 Hierzu Lyotard: Widerstreit, a. a. O., S. 212. »Du sollst« und »Geschiehst Du« sollen hier als im Levinas’schen Denken vergleichbar gelesen werden, denn das Auf‌tauchen des Anderen bedeutet ja gerade die Verpflichtung des Einen: »Du sollst«. (»Du sollst« = »Geschiehst Du« im Paradigma der Verpflichtung) 74 Ebd., S. 197.

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5.  »Ganz anders«

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Es bleibt, das Levinas’sche Schriftdenken von einem anderen nicht-identifizierenden Konzept der Schrift jenseits der Repräsentation, dem Denken der Schrift als Vorgängigkeit bei Derrida, abzugrenzen. Denn zunächst scheint es Verwandtschaft zu geben: »Eine Vergangenheit, die nie gegenwärtig war« – sowohl bei Derrida als auch bei Levinas kann so ein Satz gelesen werden. Dennoch können die gravierenden Unterschiede der beiden Philosophien – so spricht Levinas selbst vom »Ganz Anders« 75 – genau an dieser Stelle markiert werden. Denn anstelle eines Netzes von Beziehungen, die jede Anwesenheit im Sinne einer Anwesenheit von Bedeutung ausschließen und jedes Element lediglich negativ bestimmen, deutete Levinas das Zeichen als Gabe, als, in der Interpretation von Lyotard, Anwesenheit oder Ereignis des »Geschiehst Du«. Der späte Derrida hat Levinas’ Denken der Gabe und des Anderen aufgegriffen, die différance durch die Gabe erweitert 76 oder in gewisser Weise deren Funktion durch diese ›ersetzt‹ 77‌‌. Allerdings ist für Derrida »Gabe« das, was die Schrift, das Zeichen, nicht ist. Für Levinas jedoch ist das Zeichen Gabe. Dies führt in Bezug auf Derrida zu der Paradoxie, dass die Gabe sich niemals zeigen kann, dass sie, sobald Kunde von ihr kommt, nicht mehr Gabe ist. Auch die Levinas’sche Gabe zeigt sich nicht im Sinne der Manifestation von »etwas«. Aber die Struktur des Zeichens, seine Bewegung des »für« deutet Levinas als Zeichengebung, als Geschehen der Gabe. So wird verständlich, dass noch im späten Text Eine gewisse mögliche Unmöglichkeit vom Ereignis zu sprechen Derrida das Konzept der Stellvertretung, der Substitution, mit Bezug auf Levinas als Ersetzung begreift: »Die Substitution ersetzt das Unersetzliche«. Derrida kann die »Ankunft des Ankömmlings« 78 nur als Wiederkehr und »Spuk« 79 denken – nicht, wie Levinas, die Andersheit des Anderen als Nähe. Die Verbindung zu Levinas ist offensichtlich und wird auch ausgesprochen – dennoch scheinen für Derrida noch immer die Voraussetzungen der Dekonstruktion aus der Saussure’schen Zeichentheorie bestimmend 80: das formale Verständnis des Zeichens als Marke, das Supplement, die formale 75 Levinas: »Ganz Anders – Jacques Derrida«, a. a. O. 76 Bzw., wie Hans-Dieter Gondek anmerkt, »in ihrer Komplexität zurückgenommen«, Hans-Dieter Gondek: »Zeit und Gabe«, in: ders., Bernhard Walden­fels (Hg.), Einsätze des Denkens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 183–225, hier S. 225. 77 Ebd. 78 Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003, S. 36. 79 Ebd.

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Austauschbarkeit der Markierungen untereinander – wenn auch (denn dieser Vorwurf an Derrida trifft nicht zu) niemals einander gleichgültig oder beliebig, da stets von einer bestimmten Perspektivität bestimmt. Die vorliegende Analyse hat dagegen gezeigt, dass »Ersetzung« nicht das entscheidende Merkmal der Stellvertretung ist, sondern dass es das Einspringen für den Anderen, das Verschriebensein, das Sich-Geben-Für ist, was die Stellvertretung kennzeichnet. Kein Supplement, weder ursprünglich noch nachträglich, sondern Nähe. In dieser Nähe geschieht das Ereignis des »Du geschiehst«, das als Einsatz eines Satzes im Lyotard’schen Verständnis des »dass« geschieht: eine Präsenz jenseits des bestimmenden Bewusstseins; ein Erscheinen »dass« und »für« jenseits des Erscheinens »als«.81 Stellvertretung würde so im Sinne einer Widerfahrnis als unleugbare Vorgängigkeit in jedem Sprechen anwesend sein. Diese Widerfahrnis ist es, die in Derridas Denken der Verspätung, der Nachträglichkeit, der Abwesenheit als »Unmöglichkeit«, als Paradoxie aufscheint: »Es blitzt in der aporetischen Struktur auf, ohne sich zu zeigen.« 82 So erwächst Sprache bei Levinas aus einem vorbegriff‌lichen, »vorzeitlichen« Kontakt zum Anderen in der Stellvertretung für den Anderen: in der Stimme, die in ihrem »Fleisch« insbesondere für die körperliche Aussetzung und für den nicht zu tilgenden Überschuss der Alterität zeugt. Es gibt dann zweierlei am Zeichen, das nicht Zeichen ist: einerseits seine Materialität, das »dass« seines Erscheinens im Sinne Lyotards und Merschs 83 – das »Geschieht es« der Ereignishaftigkeit, das sich jederzeit unfüglich in die Symbolisierungen einschreibt, diese stört und verwirrt.84 Und andererseits, davon nicht zu trennen, im »Geschiehst Du«, das »für« des Zeichens, seine ethische Richtung, sein »Sinn«, auch im Sinne eines Richtungssinn, eines Zugs und Bezugs. Das Gesagte und Geschriebene ist somit grundiert und ermöglicht in der nicht-formalen Relation des Sagens, des »für«. Levinas selbst formuliert diese Differenzen zu Derrida im Essay »Ganz Anders – Jacques Derrida«. Hier beschreibt Levinas, inwiefern sich Derridas und sein Denken zwar in einem Chias80 Siehe hierzu auch Mersch: Posthermeneutik, a. a. O., S. 63. 81 Die Struktur der Sprache, des Wortzeichens, hat sich bei Levinas aus der Nähe, aus der Relation des »für« entspringend als ein Zeichen der Zeichenhaftigkeit, als ein Zeichen des Gebots, der Gabe des Gebens gezeigt. Die Sprache, ihr Sagen, zeugt von der Andersheit des Anderen. Ein Begriff des Zeichens aus dem »für« der Stellvertretung lässt jedes Sprechen zum Zeichen der Stellvertretung werden. 82 Mersch, Posthermeneutik, a. a. O., S. 77. 83 Ebd., S. 140. 84 Vgl. hierzu Ebd., a. a. O., S. 103.

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mus kreuzen – insofern, als auch Levinas »die Kritik des Seins und seiner ewigen Präsenz in der Idealität« 85 begrüßt. Levinas unterstützt das Denken der Nicht-Präsenz, da es ihm – und ab diesem Punkt der Kreuzung aus würde, so sagt er, Derrida nicht mitgehen – ein »Denken der Kreatur«, ermögliche. Damit ist gemeint, dass Levinas, wie er auch in Jenseits des Seins betont 86, ein Denken, das das Subjekt zunächst allein als Effekt des Sprechens denkt, schätzt, da es ihm ermöglicht, das Subjekt dann, aus dem »›Weniger-Sein‹ der Kreatur« 87 heraus, als »Sub-jektion«, als die Unterwerfung unter den Anderen zu denken. Das Denken der Unterwerfung des Subjekts, die im Strukturalismus eine formale war – das Subjekt wird gesprochen, ist Effekt des Sprechens – wird bei Levinas zu einer realen Unterwerfung unter den Anderen (in der Nähe). Zugleich erfährt dadurch das Subjekt erst seine Subjektivierung als Kreatur, als Schöpfung – ohne »einen Bericht über einen göttlichen Eingriff zu Hilfe zu nehmen« 88, wird zum Punkt der Einzigartigkeit und Singularität in seinem Einsatz für den Anderen, in der Stellvertretung. An dieses Denken durch den Begriff »Kreatur« 89 anschließend formuliert Levinas in »Ganz Anders – Jacques Derrida« das Zeichen als Ereignis, in dem das, was die Dekon­struktion als »Fehlen«, also als Mangel, als Abwesenheit von Anwesenheit deutet, nun als ein »Besser« 90, im »Ethische[n], das dem Sein vorausgeht« begegnet, in der Unterwerfung unter den Anderen, der Subjektion: »Das Zeichen, wie auch das Sagen ist – gegenläufig

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85 Levinas: »Ganz Anders – Jacques Derrida«, a. a. O., S. 73. 86 Etwa ders.: Jenseits des Seins, a. a. O., S. 250. 87 Ders.: »Ganz Anders – Jacques Derrida«, a. a. O., S. 74. 88 Ebd. 89 Kreatur im Sinne eines Denkens der Passivität, und auch der Ursprungslosigkeit. 90 Dabei ist wichtig, dass dieses »Besser« nicht als Anwesenheit oder »Sein« im Levinas’schen Sinne zu denken ist. Levinas beharrt auf der Abwesenheit, ja wirft Derrida sogar vor, die Nicht-Präsenz in der différance in eine Anwesenheit der Abwesenheit umzudeuten. Levinas formuliert eine Abwehr gegen Präsenz und Anwesenheit, da er diese immer in Zusammenhang mit dem Bewusstsein, wie er es als Denken des Seins in Bezug auf Heidegger begreift, versteht. Die Unmittelbarkeit, die jenseits des Bezeugens, aber dennoch als negative Präsenz formuliert werden kann, ist für Levinas so nicht denkbar – oder nicht a-präsent genug. Dennoch formuliert er einen Begriff des Ereignisses. Zu den Fragen von Anwesenheit und Abwesenheit bei Derrida und auch Lyotard: Willem von Reijen, Dick Veerman: »Die Auf‌k lärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik. Gespräch mit Jean François Lyotard«, in: Walter Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung, Hamburg: Junius 1995, S. 121–165 besonders S. 135, sowie Mersch: Posthermeneutik, a. a. O., »Von der ›Praesentia in absentia‹ zur ›Absentia in praesentia‹«, S. 97  ff.

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zur Präsenz – das außerordentliche Ereignis der Exposition zum Anderen hin, der Sub-jektion unter den Anderen, d. h. das Ereignis der Sub-jektivität. Es ist ein Eins-für-den-Anderen.« 91 Es zeigt sich auch hier wieder die Umdeutung bzw. Anders-Deutung (denn von einer Umdeutung zu sprechen würde ja bereits wieder voraussetzen, eines würde dem anderen vorausgehen) einer formalen Relation zu einer ethischen Beziehung. Entgegen der Waldenfels’schen Annahme einer Vernachlässigung der Semiotik kann dieses »Anders-Deuten« (auch) semiotisch fassbarer Kategorien als zentral für das Levinas’sche Denken gedacht werden. Wir haben nun drei solcher Anders-Deutungen semiotischer »Formalitäten« bzw., im Ereignen des »Geschiehst Du«, nicht-semiotischer Denkfiguren festgestellt: 1. die »Stellvertretung für« (anstelle der »Repräsentation von«) 2. das »Geschiehst du«, anstelle des »Geschieht es« 3. die Subjektion im Sinne des Ich-Werdens in der Unterwerfung anstelle des Subjekts als Effekt der Sprache Alle drei erinnern jedoch an die erste Umdeutung, die wir im Anschluss an Waldenfels’ Wittgenstein-Deutung von »es gibt ›Ordnung‹« zum »es gibt ›für den Anderen‹« entwickelt hatten.92 Bedeutung heißt dann, dass wir in der Welt des Anderen stehen. Der Andere ist immer schon da. Nicht wir sind es, kraft unserer Souveränität, die der Welt Bedeutung verleihen, sondern »ich«, in seiner ganzen Bedeutsamkeit gibt es nur kraft unverfügbarer Alterität, die uns konstituiert.

91 Levinas: »Ganz Anders – Jacques Derrida«, a. a. O., S. 75. Bzw. ermöglicht das Verständnis des Zeichens als Gabe ein Denken der Kreatur. 92 Eine weitere »Umdeutung« bietet Levinas im Kontext seiner theologischen Schrif‌ten an: Wie Derrida fragt er dort nach der Vorgängigkeit einer Schrift gegenüber der Sprache. Allerdings begründet er dies nicht in der Verweisungsstruktur der Markierungen etc. sondern darin, dass dem Mensch sein eigenes Sprechen als von anderswo, als ihm selbst fremd, zukommt, dass er es als prophetische Offenbarung verstehen muss, dass er als der Sprecher sogleich interpretieren müsse – selbst nicht verstehe, sondern es zuerst deuten müsse – als sei es eine Schrift: »Sprache ist immer Vorschrift, Ethik, göttliches Wort, das mir gebietet und mich dem Anderen weiht, heilige Schrift, noch bevor sie geheiligter Text wird. […] Ist dieses Innewohnen der Verantwortlichkeit im […] ›Sagen‹ des Bibelverses, das sich in der Sprache herausbildet, als wäre ich beim Sprechen nicht alleiniger Sprechender und als gehorchte ich darin bereits, die Ur-Schrift, den den ins Denken einfallenden Gott im ›Gesagten‹ nennt?«, ders.: Jenseits des Buchstabens, Frankfurt/M.: Neue Kritik 1996, S. 10.

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Literatur

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Bernasconi, Robert: »What is the question to which ›substitution‹ is the answer«, in: Simon Critchley, Robert Bernasconi (Hg.), The Cambridge Companion to Levinas, Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 234–251. Derrida, Jacques: »Eben in diesem Moment in diesem Werk findest Du mich«, in: Michael Mayer, Markus Hentschel (Hg.), Levinas – zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, Gießen: Parabel 1990, S. 42–83. — Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003. Gondek, Hans-Dieter: »Zeit und Gabe«, in: ders./Bernhard Waldenfels, Einsätze des Denkens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 183–225. Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder Anders als Sein ge­ schieht (1992), Freiburg/München: Karl Alber 42011. — »Gott und die Ontotheologie«, in: ders., Gott, der Tod und die Zeit, Wien: Passagen 1996, S. 133–236. — »Diachronie und Repräsentation«, in: ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München: Hanser 1995, S. 194–217. — Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München: Karl Alber 1993. — Jenseits des Buchstabens, Frankfurt/M.: Neue Kritik 1996. — Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz (1985), Freiburg/München: Karl Alber 31999. — »Gott und die Philosophie«, in: Bernhard Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge (1985), Freiburg/München: Karl Alber 1981, S. 81–123. — »Die Versuchung der Versuchung«, in: ders., Vier Talmud-Lesungen, Frankfurt/M.: Neue Kritik 1993, S. 75–95. — »Ganz Anders – Jacques Derrida«, in: ders., Eigennamen: Medi­ tationen über Sprache und Literatur, München: Hanser 1988, S. 67–76. Lyotard, Jean-François: Das Inhumane, Wien: Passagen 1989. — Der Widerstreit, München: Wilhelm Fink 1987, 21989. Mayer, Michael: Humanismus im Widerstreit. Versuch über Passibilität, München: Wilhelm Fink 2012. Mersch, Dieter: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Zeichen über Zeichen, Texte zur Semiotik von Peirce bis Eco und Derrida, München: dtv 1989, S. 9–36. — Posthermeneutik, Berlin: Akademie Verlag 2010. — Was sich zeigt, München: Wilhelm Fink 2002.

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Reijen, Willem von, Dick Veerman: »Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik. Gespärch mit Jean François Lyotard«, in: Walter Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung, Hamburg: Junius 1995, S. 121–165. Strasser, Stephan: »Emmanuel Levinas – Ethik als erste Philosophie«, in: Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, S. 218–265. Waldenfels, Bernhard: »Antwort der Verantwortung«, in: ders., Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 322–345. — Antwortregister, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007.

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Anna Sabeth Kerkhoff Das Be-Deuten des Anderen In einem Moment heißt es: Ivan und ich. In einem anderen Moment: wir. Dann gleich wieder: du und ich. Zwei Wesen sind es, die nichts miteinander vorhaben, nicht die Koexis­ tenz wollen, keinen Auf‌bruch woanders hin und in ein anderes Leben, nicht Abbruch, keine Vereinbarung auf eine vorherrschende Sprache. Ingeborg Bachmann (Malina 1971)

1. Emmanuel Levinas wird häufig mit folgender Aussage eingeleitet: Einem Menschen zu begegnen, heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden. Die Rätselhaftigkeit des Gegenüber, die Unmöglichkeit der »Besitzbarmachung« und darin die vereitelte Hierarchisierung zwischen Subjekt und Objekt ist das Fundament der Levinas­’schen Philosophie. In ihr kommt Levinas über die komplette Umwertung der Bezugs-Verhältnisse zur Notwendigkeit einer ethisch verstandenen Sprache für den Anderen. Kein souveränes, selbstbezogenes Subjekt greift länger auf die stumme, vorhandene Welt zu, sondern das Subjekt sieht sicher allererst als ausgezeichnet, indem es in einem Gefüge der Verantwortung zum anderen Menschen – und zu dessen Verletzlich- und Sterblichkeit – steht. Levinas’ Frage nach einer ethischen Sprache, die ein verändertes Weltund Ich-Verhältnis zu spiegeln vermag, führt zur Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten der Kunst. Das Bedeuten, das die herkömmliche Sprache mit sich bringt, die Sicherheit, die es sugge-

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riert, wird in der Vorstellung Levinas’ zu Gunsten einer anderen Sprache und eines anderen Bedeutens suspendiert. Wie findet sich diese veränderte Form des Bedeutens – eines Bedeutens, das nicht zurück deutet auf etwas, das sich darin als fixiert erweist – in der Kunst wieder? Kunst und insbesondere Literatur werden im Folgenden ge­dacht als besondere Form des Bedeutens und als besondere Weise der Erkenntnis – nämlich als eine, die nicht fest-stellt. Literatur besitzt die Fähigkeit, trotz der Worte, der Nennung, die Fremdheit und Andersheit zu bewahren. Paul Celan spricht von einer Gegenwart, die sich in der Kunst ereignet, jedoch keine Gleichzeitigkeit darstellt, sondern die besondere Form der Präsenz des Anderen wahrt. »[I]n diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit.« 1 Für Celan besitzt die Dichtung zwei Seiten: Er nennt sie das Vermögen, das den Sterblichen erlaube, Worte um Worte aneinanderzureihen; darin sei die Kunst ein marionettenhaftes, jambisch-fünf‌füßiges, kinderloses Wesen.2 »Die Dichtung […]: diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst!« 3 In dieser Betrachtung kommt sie der sprachlichen Fixierung gleich, dass die Sprache, als Instrumentarium gefasst, ein welt- und menschenumspannendes Netz bildet, das der Thematisierung, Konkretisierung und Fixierung dient. Die Sprache, allein als Technik gesehen, verliert ihre Poetik und ihren Zauber, der aus der Schwebesituation zwischen der immer wieder vollzogenen Konservierung von Erfahrungen, Dingen und Situationen in Worten, und der Nichtfassbarkeit unserer Existenz entsteht. Sprache als Methode, die weder uns noch das Sagen transformiert, wäre eine Sprache, die die Verzweif‌lung verneint. Darin wäre sie letztlich das, was Celan die »Unendlichsprechung von Nichtigkeiten« nennt. Jedoch schafft das Gedicht für Celan mehr als das: Es vermag aus dem Menschlichen hinauszutreten – in einen vollkommen unbekannten Bereich. »Vielleicht – ich frage nur –, vielleicht geht die Dichtung, wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu jenem Unheimlichen und Fremden, und setzt sich – doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? – wieder frei?« 4 Für Celan wird das Ich, das sich diesem Weg in ein Unheimliches aussetzt, als befremdetes Ich wieder frei. Als ein Ich gleichsam, das 1 Paul Celan: Der Meridian – Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-­ Preises 1960, Frankfurt/M.: S. Fischer 1961, S. 18. 2 Vgl. ebd., S. 5. 3 Ebd., S. 21. 4 Ebd., S.  12  f.

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das unassimilierbare Fremde bereits in sich selbst hat. Das Widerständige, das Uneinholbare zu vernichten, würde bedeuten, einen Teil seiner selbst zu vernichten. Ein Gegenüber wird ein Ineinander. Auch Jacques Derrida wendet sich in seinem Text »Der ununterbrochene Dialog« 5 dem besonderen Vermögen des Gedichts zu. »Wenn es überhaupt eine Initiative behält, die scheinbar souverän ist, unvorhersehbar, unübersetzbar, fast unleserlich, dann liegt das auch daran, dass eine verlassene Spur zurück bleibt, die plötzlich unabhängig wird von dem, was der Unterzeichner bewußt und eigentlich sagen wollte […]«.6 So besitzt das Gedicht eine Eigen­ dynamik über den Dichter hinaus, und eröffnet darin die Möglichkeit der unendlichen Entzifferung, ohne einen Sinn. In seinem Bedeuten als Spur ist das Gedicht der Erscheinungsweise des Anderen bei Levinas nahe. »Dieses Verlassensein […], diese unmittelbare Unlesbarkeit ist dann auch die Quelle, die es dem Gedicht erlaubt, einen Segen zu erteilen, (vielleicht, nur vielleicht) zu geben, zu denken zu geben, seine Tragweite abzuschätzen, zu lesen zu geben, zu sprechen (vielleicht, nur vielleicht).« 7 Die Kunst schafft eine Gegenwart, in der das Fremde nicht aufgeht; ihr gelingt eine Ansprache, in der ein unendliches Gespräch beginnt, abseits des Wissens. Dieses Gespräch kommt einem Weg gleich wie Celan formuliert: »[…] Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnungen, Wege, Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst … Eine Art Heimkehr.« 8 Doch zu welcher »Heimkehr« kann man hier gelangen? Mit Levinas wäre der Vorstellung der Heimkehr als Ankommen an einem Ort zu widersprechen. Diese Bewegung würde die Seinsweise des Werks negieren und auf das Ich, auf die Selbstheit zurückfallen. So ist die Frage: Wohin führt uns das Gedicht? Die Frage nach einer Richtung, nach einem Ort ist auch immer die Frage nach einer Finalität oder Offenheit, nach Wahrheit und Sinn. Für Maurice Blanchot nimmt die poetische Sprache eine ganz bestimmte Bewegung auf, welche jegliche Erkenntnis – und darin jegliches sich-Einrichten – vereitelt. »Das literarische Werk bringt uns den Tod nahe, weil der Tod jenes unablässige Rauschen des Seins ist, das vom Werk zu Gehör gebracht wird. Im Tod 5 Jacques Derrida und Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. Der Text ist dem verstorbenen Freund und Kollegen Hans-Georg Gadamer gewidmet. In ihm geht es um das Denken eines Dialogs über den Tod hinaus. 6 Ebd., S. 24. 7 Ebd., S. 25. 8 Celan: Der Meridian, a. a. O., S. 22.

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kehrt sich, wie auch im Werk, die reguläre Ordnung um, denn das Vermögen führt hier zu dem, was es sich nicht aneignen kann.« 9 »Literatur wirft uns damit an ein Ufer, an dem kein Gedanke landen kann, sie mündet im Undenkbaren.« 10 In der Nähe von Literatur und Tod tritt die Diskrepanz zwischen der Fixierung der Worte und der Unverfügbarkeit des Todes als Äußerstes zu Tage. Das, wohin das Werk führt, gleicht damit keiner Wahrheit und keinem finalen Sinn mehr. »Bei Blanchot enthüllt das Werk, durch eine Entdeckung, die keine Wahrheit ist, eine Dunkelheit.« 11 Diese Dunkelheit ist gleichsam das Nicht-Wahre. »Und dennoch liegt in diesem Nicht-Wahren, zu dem die Literatur führt, und nicht in der Seinswahrheit, Authentizität.« 12 Sinnsuche und Wahrheitssuche zeigen sich abgelöst durch eine andere Qualität, eine andere Geste des Begehrens. Nicht die Wahrheit als eine geoffenbarte steht im Mittelpunkt, sondern die Frage nach Authentizität. Ebenso wie beim Denken der Verwirrung oder der Unruhe gilt es sie zu schützen. »Eine richtige Antwort ist fest mit der Frage verbunden. Sie lebt von der Frage. Die allgemeine Auf‌fassung ist, dass sie sie auf‌hebt. […] Die authentische Antwort ist immer Leben der Frage.« 13 Wichtig für die Dichtung und die Literatur ist, dass »die Sprache aus ihrem Dienst gegenüber den Strukturen des Sagens« entlassen wird, dass »ein Sinn über den Hegelschen Diskurs hinaus frei gesetzt wird, dass ein Sinn im Vergessen der Prämissen zur Fabel wird.« 14 Der Anruf an sich gewinnt Vorzug vor einem Logos, vor dem Verstehen. Ein Sinn soll zur Fabel werden. Fabel, die immer schon die Verschlungenheit einer Welt ist, die Weiterführung einer Narration, die, fantastisch und realistisch zugleich, einen Ausdruck schafft, der mehr als das Gesagte bedeutet. In dieser Nicht-Aussage ist Kommunikation allererst wieder Nähe zum Nächsten. Man könnte sagen: je mehr sich die Welt als Zukunft und als heller Tag der Wahrheit bestätigt, wo alles Wert haben, Sinn tragen, und wo das Ganze unter der Herrschaft des Menschen zu einem Nutzen vollendet sein wird, um so sehr muss anscheinend die Kunst zu jenem Punkt hinabsteigen, wo noch nichts Sinn hat, um so mehr ist es wichtig, dass die Bewegung, die Unsicherheit 9 Emmanuel Levinas: Eigennamen – Meditationen über Sprache und Literatur, Freiburg/B.: Karl Alber 1988, S. 32. 10 Ebd., S.  34. 11 Ebd., S. 37. 12 Ebd., S. 35. 13 Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare – Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, München/Wien: Hanser 1991, S. 31. 14 Levinas: Eigennamen, a. a. O., S. 45.

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und das Unglück dessen bewahrt, was sich jedem Zugriff, jedem Zweck entzieht.15 Es muss sich dafür ein struktureller Wandel im Sprechen und Schreiben vollziehen, der die Fixierungen und Grammatiken verschiebt, um etwas Neues zu eröffnen. »Die Dichtung soll Worte, die Indizien des Ganzen, Momente einer Totalität sind, in befreite Zeichen verwandeln, die die Mauern der Immanenz durchstoßen und die Ordnung auf‌lösen.« 16

2. Lässt sich dies nicht in Brüchen eines Dialoges, wie in Leerstellen eines Textes, erkennen? Wie, um ein Beispiel anzuführen, in Ingeborg Bachmanns Roman Malina (1971) die Figuren Ivan und die namenlos bleibende Ich-Erzählerin während ihrer Liebesbeziehung in der Wiener Ungargasse Grammatiken neu erfinden, ihre Dialoge sich bruchstückhaft zusammenfügen, wie ein Warten und ein Üben die beide verbindet? »Was von uns erwartet wird, ist ein redire, ein Wiedersagen im Sinne Levinas’, ein Sagen also, das sich selbst unterbricht, das Raum lässt für anderes Sagen und für das Sagen Anderer.« 17 Vielmehr als Reinheitsformen gilt es, die Zwischenerfahrungen zu betrachten. Oder die Annäherungen an Extreme, seien es, auf der Seite des Gesagten, die Ausbildung von Stereotypen und Automatismen, oder, auf der Seite des Sagens, die Erfindung von Noch-nicht-Gesagtem oder Regelabweichungen. In diesem Sinne kann Kunst etwas leisten, das einem dritten Weg gleich kommt. »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.« 18 Bachmanns Roman geht diesen Weg. In einer poetischen, fantasievollen, lückenhaf‌ten und leidenschaftlichen Erzählung liegt eine Sprache, die an etwas rührt, ohne es mir zu zeigen. Mehr noch als in jeder Sprache der Analyse erfahre ich hier – während des Lesens, gleichsam in den Kontext des Werkes hineingestellt, – etwas über meinen Weltbezug, ohne dass mich die Bilder und Worte zu einer Sicherheit führen. Vielmehr verwirren sie und lassen eine Dramatik zu Tage treten, der ich mich nicht entziehen kann. Die Vieldeutigkeit, die den Roman durchzieht, das Andeutungshaf‌te und Nichtgreif‌bare werden des Weiteren besonders 15 Ebd., S. 35. 16 Ebd., S.  51. 17 Bernhard Waldenfels: Idiome des Denkens: Deutsch-französische Gedankengänge II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 223. 18 Celan: Der Meridian, a. a. O., S. 15.

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deutlich an der Figur Malinas. Er erscheint schon zu Beginn des Romans nicht als einfacher Freund oder Gegenspieler der Ich-Erzählerin, sondern bietet einen erweiterten Einblick in die Komplexität des Ichs, in dessen Uneinheitlichkeit und Konflikt. Es soll hier darum gehen, den Gedanken der nicht assimilierbaren Verwirrung, der Unruhe, die bereits im Selben beginnt, in Ansätzen nachzuzeichnen. »Die Abgründe, die sich im eigenen Selbst auf‌tun, […] schaffen Raum für eine Bewegung, die vom Anderen auf mich zukommt.« 19 In der Spaltung im Inneren kann das Ich keine Egologie sein, keine Selbstgefälligkeit, sondern schlägt einen anderen Weg ein. So kann Malina als nicht zu gering schätzender Teil der Ich-Erzähler-Konstruktion gelesen werden, der das neuartige Wesen des Ichs und dessen Verhältnis zum Anderen, zu Ivan maßgeblich mitbestimmt. Malina, der als Mitbewohner der weiblichen Hauptfigur vorgestellt wird, zeigt sich im Laufe des Romans immer stärker mit diesem Ich verwoben. Sie sei nicht nur Ivans, sondern auch Malinas Geschöpf, sagt die Ich-Erzählerin an einer Stelle.20 Sie sei von Anfang an unter ihn gestellt gewesen.21 Doch wer wirklich zuerst existierte, bleibt im Roman weitgehend unklar bzw. wird fortwährend revidiert. So schwankt auch die Ich-Erzählerin in den Beschreibungen Malinas und ihrer Selbst zwischen den Angaben. Einmal ist sie aus seiner Rippe gemacht, ein anderes Mal ist Malina überhaupt erst nach ihr denkbar.22 Obwohl Malina derjenige ist, der ihr beim Durchleben und Durchleiden der Albträume zur Seite steht, ihr zuspricht, scheint die Beziehung von einer Spannung erfüllt zu sein. Ihre eigene Zerrissenheit, die Haftung, die ihr in der Welt zu fehlen scheint, wird nicht durch Malina gelindert, sondern er ist ein Teil dieser Zerrissenheit. In der Konstellation der Charaktere trifft Männliches auf Weibliches, Rationales auf Leidenschaftliches, Verstand auf Gefühl und Produktivität auf Selbstzerstörung 23 Malina wirkt, im Gegensatz zur Ich-Erzählerin, unbewegt, distanziert und unberührt – unberührbar? Er erscheint wie ihr eigener männlicher, rationaler Teil, der dem leidenschaftlichen und leidenden, weiblichen entgegensetzt ist. Ebenso »vorgeschichtlich« wie Ivan, verkörpert Malina das Fremde in ihr selbst. Das Subjekt, das Selbe, ist nicht nur äußerlich – in der Nähe – in Unruhe versetzt, sondern zeichnet sich innerlich durch einen Riss aus. So ist sie gleichsam das, was sie 19 20 21 22 23

Waldenfels: Idiome des Denkens, a. a. O., S. 174. Ingeborg Bachmann: Malina, Frankfurt/M.: Suhrkamp 242012, S. 105. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S.  260. Vgl. ebd., S. 261.

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als »dunkle Geschichte« bezeichnet. Malina hingegen steht für die »klare Geschichte«.24 Diese Verteilung der Ruhe und Unruhe zwischen ihr und Malina beginnt bereits, als er in ihr Leben tritt. Es ist während einer Kulturwissenschaftsvorlesung an der Universität: »Dass ich mich weder an die Kunst noch an die Technik noch an dieses Zeitalter halten wollte, mich mit keinem der öffentlich abgehandelten Zusammenhänge, Themen, Probleme je beschäftigen würde, wurde mir spätestens an diesem Abend klar, und gewiß war mir, daß ich Malina wollte und daß alles, was ich wissen wollte, von ihm kommen mußte.« 25 Die Anziehung, eine Vertrautheit seit jeher, die im Roman zwischen Malina und der Ich-Erzählerin beschrieben wird, findet sich kontrastiert durch das Gefühl einer Unruhe. Zwar finden sich die beiden verknüpft in einer Innerlichkeit, diese birgt jedoch bereits eine Trennung, die ihr Brandmal sein soll. So wird Malina in vielen Auslegungen der Figuren als Alter Ego der Ich-Erzählerin gedeutet, wie z. B. in der gleichnamigen Verfilmung von 1991 unter der Regie von Werner Schroeter, in welcher Malina offensichtlich nicht körperlich anwesend ist, sondern als anderes Ich der weiblichen Hauptfigur eingeführt wird. Es stellt sich jedoch die Frage, ob sich in und durch Malina nicht mehr ausdrückt als nur ein Schatten des Ichs? Ist die Analyse des Alter Ego ausreichend, um das Wesen der Erzählerin zu bestimmen? Oder verweist die Figur Malina in ihrer Eigenwilligkeit nicht auf eine Negativität, eine Uneinholbarkeit im Mensch-Sein, die über die einfache Definition des anderen Ichs weit hinaus zu gehen vermag? Malina ist der Teil des Ichs, der zeitlos zu sein scheint, eine Unerreichbarkeit, die nicht von dieser Welt ist. Das Ich er­schrickt manchmal, denn sein Blick auf Menschen scheint von größtem, umfassendem Wissen zu sein, »das man nirgends und zu keiner Zeit seines Lebens erwirbt und das man auch an andere nicht weitergeben kann.« 26 Und doch durchschaut Malina die Menschen nicht. »Malina erschaut sie, und das ist etwas ganz anderes, die Menschen werden nicht kleiner, sondern größer davon, unheimlicher, und mein Einbildungsvermögen, das er belächelt, ist wahrscheinlich eine sehr niedere Abart von seinem Vermögen, mit dem er alles ausbildet, auszeichnet, auf‌füllt, vollendet.« 27 Letztlich weiß das Roman-Ich, dass sie und Malina sich nie verstehen werden: Sie sind wie Tag und Nacht.28 Doch geht es nicht um viel mehr als um 24 25 26 27 28

Vgl. ebd., S. 171. Ebd., S. 15. Ebd., S.  263. Ebd., S.  263. Ebd., S.  336.

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eine Übereinstimmung? Nichts fügt sich mehr zum Ganzen, zu keinem Subjekt. Während die Ich-Erzählerin redet und schreibt, um Worte kämpft und das Sprechen erst wieder lernen muss, ist Malina bereits ganz woanders. »Malina verschweigt nichts, denn er hat, im besten Sinne, nichts zu sagen. Er webt nicht an dem großen Text mit, an der Textur des Verbreitbaren, das ganze Wiener Gewebe hat ein paar kleine Löcher, die nur durch Malina entstanden sind.« 29 Können diese Löcher nicht ein Bild dafür sein, was trotz – oder gerade wegen – seiner Abwesenheit Präsenz besitzt und mich angeht? Ist Malina in dem Sinne vielleicht bereits der Anzeiger von dem, was Levinas die radikale Unrichtigkeit nennt? Denn Malina führt im Roman zu einer nichtreduzierbaren Verwirrung. Existiert er oder existiert er nicht? Wie ist sein Wesen zu begreifen? Heißt: Wie bedeutet er, oder worauf deutet er? Er kann als Figur gelten, die anzeigt, dass es in der Beziehung zwischen Bedeuten und Bedeutung keine Korrelation gibt. Der Wert der Wahrheit als Richtigkeit, als Finalität, letztlich als Totalität, verliert seine Machtstellung und wandelt sich hier in Begegnung und Nähe, die niemals ein Korrelat des Verstandes und damit unrichtig ist. Dieses Denken einer Nicht-Wahrheit, einer Negativität, die sich entzieht und deren Präsenz mich dennoch betrifft, zeigt sich im Denken der Sprache. Sprache als das selbst-verständliche Werkzeug der Verständigung. Doch das Selbst begegnet in einer so verstandenen Sprache auch nur sich selbst. Es versteht sich. Und verstanden werden kann nur ein Sinn, nicht aber eine Anwesenheit. Das Konstrukt des Verstehens kommt einem Vor-verstehen des Eigenen und des Fremden gleich. Im Aufzeigen einer ethischen Sprache lässt sich ein anderes Be-deuten, ein anderer Sinn vorstellen. Doch stellt sich zunächst die Frage, mit welcher Sprache und mit welcher Form des Be-deutens wir »normalerweise« konfrontiert sind: Sprache ist Zugriff auf die Welt und darin auf das Engste mit ihr verbunden. Unser in-der-Welt-sein und unser in-der-Sprache-sein sind voneinander untrennbar. Innerhalb bekannter Dialogschemata sind Gesprächspartner als unabhängige Informationssender und -empfänger frei zu antworten, »im eigenen Namen, mit eigener Stimme« 30 und gleichzeitig können Gründe vorgebracht werden, welche sich »auf eine gemeinsame Vernunft«31 beziehen. Die Kommunikation gleicht darin einem Geben und Nehmen des Logos. Das Ich in diesem kohärenten Dialog ist nicht aus-gesetzt, sondern wiegt sich in Sicherheit. Das Entstehen einer Nähe ist die Suggestion der Informationsgabe. 29 Ebd., S.  315. 30 Waldenfels: Idiome des Denkens, a. a. O., S. 219.

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3. Mit Levinas wird dagegen die Alterität des anderen Menschen in den Mittelpunkt gerückt. Demzufolge beginnt das Sprechen außerhalb des Selben: Ich bin nicht länger herrliches, wortschöpfendes Subjekt, sondern ausgesetztes, in meinem Wesen verantwortliches Individuum, da der Anspruch des Anderen und die Antwort nie synthetisierbar sind. Vielmehr bilden sie ein Doppelereignis, das die Trennung beinhaltet. Somit geht es um die Frage nach der Art der Hinwendung. Für Martin Heidegger stellt die Frage eine Form der Hinwendung dar, die auf eine Vollendung zielt. Es ist, als seien, so Levinas, »[…] die Einrichtung und der Gebrauch verbaler Zeichen getragen von einer erzählerischen und thematisierenden Intentionalität, die zu den Seienden gelangt. Daher wird die Sprache als das Erscheinen der Wahrheit gedeutet, als Weg, den das Sein nimmt um zu erscheinen.« 32 So ist das Erscheinen des Seins Sinn, aber das Verstehen von etwas als etwas versteht eben nie den Gegenstand, sondern immer nur den Sinn, als das Abstrakte des Sinnlichen. »Die Sprache ist sowohl im Guten wie im Bösen die Möglichkeit einer rätselhaf‌ten Zweideutigkeit, die die Menschen missbrauchen.« 33 Denn mit der Sprache, mit dem Logos der Rede, der sich im Logos der Vernunft betrachtet und spiegelt, machen wir die Welt und den anderen Menschen zum Objekt und zerstören jegliche Transzendenz. In der Sprache verkünden wir jenes als solches, schaffen wir Identität, Ähnlichkeit, Einheit und Gleichzeitigkeit. Im Namen der Erkenntnis fordern wir zu Universalität und Idealität auf. Die Beziehung wird gleichermaßen Wissen und Informationsgabe. Denken und Sprache stehen unter dem Diktat der Logik. »[N]umerische Identität ist Sache des Denkens und entfaltet sich wie eine Verkündung in der Dimension der Sprache, der das Denken angehört.« 34 Mit Levinas stellt sich die vehemente Frage nach einem entgegengesetzten Denken und Sprechen. Ein Denken, das sich abseits des Wissens bewegt. Eine Sprache, die mehr sagt als sie spricht. Welche Botschaft auch immer in der Rede übermittelt wird, das Reden ist nach Levinas allererst Berührung. »Man muß also zugestehen, daß in der Rede eine Beziehung zu einer Singularität stattfindet, die außerhalb des Themas der Rede steht und nicht in der 31 Ebd., S.  219. 32 Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen – Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/B.: Karl Alber 62012, S. 262. 33 Ebd., S.  245. 34 Ebd., S.  269.

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Rede thematisiert wird, der man sich aber nähert.« 35 Somit ist die Forderung nach einer ethischen Sprache eine Notwendigkeit, um die Spur nicht Zeichen werden zu lassen, um die Nähe vor der Thematisierung zu bewahren. »Nur die ethische Sprache ist dem Paradox, in das sich die Phänomenologie plötzlich geworfen sieht, gewachsen.« 36 Diese Sprache soll es sein, die sich der Verquickung von Visualität und Verität in der abendländischen Tradition entgegenstellt: Sehen, das heißt vielleicht, vergessen zu sprechen, und Sprechen, das heißt, am Grunde des Sprechens das Vergessene schöpfen, das das Unausschöpf‌liche ist. Ich füge hinzu, daß wir nicht auf irgendeine Sprache warten, sondern auf die, in der der »Irrtum« spricht: das Sprechen des Umwegs. Ein beunruhigendes Sprechen. Ein anderes Sprechen, das hierhin und dorthin trägt und selbst anders ist als Sprechen.37

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Wenden wir uns von der kerygmatischen Sprache ab, hin zu einem ethischen Sprechen, einer Sprache vor der Sprache, einer »Zeichengabe« durch die Nähe über die Nähe, die dem System der Evidenzen äußerlich bleibt: Sprache als Beziehung und als Bedeutung wird dann gedacht als Berührung, Brüderlichkeit und Verantwortung für die Fremdheit. »Die Sprache ist Brüderlichkeit und insofern Verantwortung für den Anderen und daher Verantwortung für das, was ich nicht begangen habe, – für den Schmerz und den Fehler der Anderen.« 38 In einer Passage des Romans Malina, in der die Protagonistin über den Fall des Postzustellers Kranewitzer nachdenkt, geht es um eben diese Verantwortung, die mit Sprache verbunden ist: Kranewitzer hat die Post nicht mehr ausgetragen, sondern sie ungeöffnet in Stapeln in seiner Wohnung gelagert und übernimmt damit in einem höheren Sinne Verantwortung. Ihm sei, wie die Ich-Erzählerin schreibt, nach dreißigjährigem Dienst das »Problem der Post« und damit »die ganze Tragweite seines Unterfanges« aufgegangen.39 Die Post ist hier als Austragen von Botschaf‌ten – die Sendung und Schickung an die Menschen – ein Bild der Verantwortung. Ähnlich Jacques Derridas Die Postkarte, die die Post in einen Zusammenhang zum Geschickhaf‌ten des Seins stellt. Dabei 35 36 37 38 39

Ebd., S.  274. Ebd., S.  291. Blanchot: Das Unzerstörbare, a. a. O., S. 89. Levinas: Die Spur des Anderen, a.  a.  O., S.  288  f. Bachmann: Malina, a. a. O., S. 253.

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gewinnt das Nachdenken über das Postwesen Kontur im Nachdenken über technische Mittel, Adressierung und Schickung : Und schicken, das heißt senden, expandieren, abgehen oder zukommen machen usw. Wenn das Sein sich denkt, ausgehend von der Gabe des es gibt […], so gibt die Gabe selbst sich ausgehend von »etwas«, das nichts ist, das nicht etwas ist; das wäre, hm, wie eine »Sendung«, die Schickung, die Geschicklichkeit, Vergebung, einer Sendung, die, natürlich, nicht dies oder jenes sendet, die nichts sendet, das sei, nicht, das ein »Seiendes« sei, ein »Präsent«.40 Post ist hier daher auch der Kontext, in dem eine Konstellation, eine Hinwendung, ein Anruf gedacht werden. In ihm stellt sich die Frage, wie sich ein Anspruch, eine Alterität, ein Du und eine Entsprechung im Denken finden lassen. Sprechen wird an Stellen wie dieser unabhängig gedacht von Wissen, Wahrheit, Zusammenhang und Information. »Dieser Umschwung vom Gegebenen zum Nächsten, von der Vorstellung zum Kontakt, vom Wissen zur Ethik, ist Antlitz und menschliche Haut.« 41 So wird das Ereignis der Kommunikation immer schon ethisch gedacht. Die Tatsache der Zeichengabe überhaupt ist Brüderlichkeit. Sie ist das Einzige, das sich der Brutalität der Welt, der Brutalität auch meiner selbst entgegen stellen kann. Verschließen wir das Sagen weiterhin in der Aussage, im Gesagten, geben wir den Anderen der Totalität preis. Der Sinn ist der Sinn nur für eine Identität, für meine Selbstbestätigung. Das Gesagte gilt letztlich nur mir. Doch wie wäre eben diese mediale Umkehrung zu denken, auch wenn ein reines Sagen ohne Gesagtes unmöglich ist? »Denn indem das Sagen sich sagt, bricht es jeden Augenblick die Definition dessen, was es sagt, entzwei und sprengt die Totalität, die es umfaßt.« 42 Das Sagen steht somit für etwas, was den gegebenen Wortzeichen, die es verbindet, vorangeht und gleichzeitig von ihnen verdeckt wird. »Doch das Sprechen, das Zeichen gibt, ohne sich in der Ewigkeit der bezeichnenden Ideen einzurichten – das diskontinuierliche Sprechen – wird von der Dienerin Wort umgarnt, die ihm auf Schritt und Tritt folgt und nicht zu sprechen abläßt.« 43 Das Sagen zeigt sich im Gesagten an, überschrei40 Vgl. Jacques Derrida: Die Postkarte – von Sokrates bis an Freud und jenseits/ 1. Lieferung, Berlin: Brinkmann & Bose 1982, S. 81. 41 Levinas: Die Spur des Anderen, a.  a.  O., S.  292  f. 42 Ebd., S.  294. 43 Levinas: Eigennamen, a. a. O., S. 53.

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tet dieses gleichzeitig und wird im selben Atemzug absorbiert.44 Die Schwierigkeit besteht einerseits in der Verflechtung von Sprechen und Gesprochenem und andererseits in den Techniken und Praktiken des Sprechens, die uns unbemerkt transformieren. Und obwohl das Sagen sich hier vom Gesagten abhebt, kann es kein reines Sagen und auch kein reines Gesagtes geben. Vielmehr ist das Sagen immer schon Atem und darin auch Hinwendung. Das Sagen ist folglich keine Größe, die in einer unbewegten Bewegung, in seiner Wesenheit das Sein ersetzt. Für Levinas bedeutet Sagen viel mehr als Haltung, als Geste: »[Es] bedeutet zum Anderen sprechen, bevor man etwas sagt, und dies über alles Gesagte hinaus. Dieses Sprechen schließt ein Geben, Anbieten und Antworten ein, und zwar als ein Sprechen nicht nur zum Anderen, sondern auch für den Anderen.« 45 Für das Sagen, das sich zurückzieht im Gesagten, in der Technik, der Methode des Sprechens, gibt es eine besondere Stätte der Wahrung: die Kunst. Sie ist es, die den sich neu erhebenden Sinn, den der »Brüderlichkeit«, beinhalten kann, ohne dass dieser zwanghaft in der Bedeutung aufgeht. Wie der Tod, ist die Sprache hier Frage. Frage entgegen des Sinns, entgegen der Offenbarkeit des Seins. So geht es um das Vorstellen von Schwellensituationen, von Zwischenräumen des Erscheinens und Bedeutens, wie sie sich in der Poesie auf‌tun: Poesie einer Philosophie, in der Sprechen nicht mehr entschleiert, sondern auf‌bricht, um den Beschränktheiten des »ordentlichen« Diskurses zu entkommen. Poesie, die eine Offen­heit bedeutet, ohne sie je zu erschließen.

Literatur

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BACHMANN, Ingeborg: Malina, Frankfurt/M.: Suhrkamp 242012. BLANCHOT, Maurice: Das Unzerstörbare – Ein unendliches Ge­spräch über Sprache, Literatur und Existenz, München/Wien: Hanser 1991. CELAN, Paul: Der Meridian – Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1960, Frankfurt/M.: S. Fischer 1961. DERRIDA, Jacques: Die Postkarte – von Sokrates bis an Freud und jenseits / 1. Lieferung, Berlin: Brinkmann & Bose 1982. — und Hans-Georg GADAMER: Der ununterbrochene Dialog, Mar­tin Gessmann (Hg.), Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004.

44 Vgl. ders.: Die Spur des Anderen, a. a. O., S. 210. 45 Waldenfels: Idiome des Denkens, a. a. O., S. 213.

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LEVINAS, Emmanuel: Die Spur des Anderen – Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/B.: Karl Alber 62012. — Eigennamen – Meditationen über Sprache und Literatur, München: Hanser 1988. WALDENFELS, Bernhard: Idiome des Denkens: Deutsch-französische Gedankengänge II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.

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Michael Mayer Kraft der Toten oder die Melan­cholie nach Freud Für Annette In Erinnerung Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe. // So zertheilte mich die Liebe und der Schmerz. Franz Schubert

1. Am 12.  April 1929 schrieb Sigmund Freud an Ludwig Binswanger: Man weiß, dass die akute Trauer nach einem solchen Verlust ablaufen wird, aber man wird ungetröstet bleiben, nie einen Ersatz finden. Alles, was an die Stelle rückt, und wenn es sie auch ganz ausfüllen sollte, bleibt doch etwas anderes. Und ei­gen­tlich ist es recht so. Es ist die einzige Art, die Liebe fortzusetzen, die man ja nicht aufgeben will.1 Datierung wie Inhalt des Briefes bilden ein kompliziertes Geflecht, in dem das Schicksal der Psychoanalyse mit dem ihres Begründers auf nahezu unentwirrbare Weise versponnen ist. Freud schrieb Binswanger, mit dem ihn bekanntlich eine langjährige Freund1 Sigmund Freud, Ludwig Binswanger: Briefwechsel 1908–1938, Frankfurt/M.: S. Fischer 1992, S. 222  f. Den Hinweis auf diese Briefstelle verdanke ich Marie-­ Kristin Meisner.

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schaft verband, nicht nur anlässlich des Ablebens von Binswangers ältestem Sohn. Das Datum verrät insgeheim noch einen zweiten Adressaten: Freud selbst. Der 12. April war der Geburtstag seiner Tochter Sophie, die neun Jahre zuvor, am 25. Januar 1920, im Alter von 27 Jahren an der Spanischen Grippe verstorben war.2 Noch drei Jahre vor ihrem Tod veröffentlichte er seine Studie »Trauer und Melancholie« (1917), deren Tenor in eine bemerkenswerte Spannung zu seinem Kondolenzschreiben zu treten scheint.3 Im Licht des Briefes jedenfalls wirkt sie befremdlich. Steht und fällt sie doch mit einer Grenzziehung, deren Rigorosität ebenso brüsk anmutet wie die Argumentation, sie zu rechtfertigen, riskant; steht und fällt sie doch mit der Einsetzung, Stabilisierung und Sicherung einer Opposition, die das »und« im Titel seines Essays stillschweigend zu dessen eigentlicher Autorität erhebt. Man hat es oft schon bemerkt, bestätigt, hinterfragt: Die Demarkation zwischen Trauer und Melancholie, deren gemeinsamer Grund in der Verlusterfahrung eines libidinös besetzten Objekts besteht,4 ist strikt analog zu der von »gesund« und »krank«. Und das damit einhergehende Versprechen, das man mitnichten gering schätzen sollte, ist das der Genesung. In Freuds Worten: Der Ersatzbildung eines neuen für das verlorengegangene Liebesobjekt. Als wäre alles vorab eine Frage der Zeit, ihrer Ökonomie und ihres Maßes, ihres Quantums: Trotz aller Affinitäten in Ätiologie und Symptomatik von Trauer und Melancholie betrachten wir die Trauer, so Freud, obwohl sie »schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten mit sich« bringe, ausdrücklich nicht als krankhaft, da sie »nach einem gewissen Zeitraum überwunden sein wird«.5

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2 Die Bedeutung von Sophies Tod für Freuds Leben und Denken ist kaum zu unterschätzen; seine späte intensive Beschäftigung mit dem Tod, besonders dem »Todestrieb« stehen offensichtlich damit in einem engen Zusammenhang. Vgl. Peter Gay: »Tod: Erfahrung und Theorie«, in: ders. (Hg.), Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, übers. v. Joachim A. Frank, Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 1989, S. 439–454, bes. S. 441  ff., Hans-Martin Lohmann, Joachim Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metz­ ler 2006, S. 159. 3 Vgl. Sibylle Ohr: »Zum Verständnis von Trauer und Melancholie. Frühe Konzepte und Weiterentwicklung«, in: Franz Wellendorf, Thomas Wesle (Hg.), Über die (Un)Möglichkeit zu trauern, Stuttgart: Klett-Cotta 2009, S. 72–88. 4 Freud bezieht sich hierbei ausdrücklich auch auf die 1912 erschienene Studie von Karl Abraham: »Beiträge zur Psychogenese der Melancholie«, in: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung und andere Schriften, eingel. v. Johannes Cremerius, Frankfurt/M.: S. Fischer 1969, S. 143–151. 5 Sigmund Freud: »Trauer und Melancholie«, in: ders., Alexander Mitscherlich (Hg.), Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe, Bd. III., Frankfurt/M.: S. Fischer 2000, S. 194–212, hier: S. 197  f.

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Melancholisches Leiden ist strukturell chronisch; Trauer indes akut, mithin ein Zustand, der nach Durchlaufen bestimmter Phasen 6 der Trauerarbeit vorübergeht. Wobei Freud besagte »Trauerarbeit« als Kunstbegriff hier erstmals einführt: die kontraintuitive Vorstellung, dass Trauer kein passives Erleiden, sondern ein aktiver seelischer Vorgang sei. Indessen aber war (und ist) nicht nur der Chiasmus von Trauer und Arbeit mitnichten selbstverständlich, sondern ebenso die Verknüpfung des Begriffs der Arbeit mit der Vorstellung ihrer Finalität. Tatsächlich, so Freud, »wird das Ich nach der Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt«.7 Die Vorstellung der Vollendbarkeit der »gesunden« Trauerarbeit, ihr Erfolg, der sich nicht nur negativ als Abzug der Libido vom verlorengegangenen Objekt, sondern auch positiv in deren »Verschiebung auf ein neues« 8 realisiert, ist dabei eng mit der ihrer Vollständigkeit verknüpft, anders gesagt: mit dem Paradigma der Identitätslogik.9 Nachdem »alle Libido aus ihren Verknüpfungen« 10 mit dem geliebten Objekt abgezogen und die Trauerarbeit abgeschlossen wurde, ist das Ich nicht nur »frei und ungehemmt«, sondern es ist »wieder frei und ungehemmt«.11 Es ist mithin wieder das, was es war und was es ist, dasselbe Ich selbst. Zur Differenz im Zeittakt 12 6 Unbenommen aller Abwandlungen hat sich das Phasenmodell der Trauer in der psychotherapeutischen Theoriebildung weitgehend durchgesetzt. Vgl. John Bowlby: Bindung und Verlust, Bd. 3: Verlust. Trauer und Depression, München: Reinhardt 2006. Verena Kast: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, Stuttgart: Kreuz 1982, Neuausgabe unter dem Titel: Zeit der Trauer, Stuttgart: Kreuz 2006. 7 Freud: »Trauer und Melancholie«, a. a. O., S. 199. 8 Ebd., S.  202  f. 9 »Trauerarbeit […] besteht darin, dass die Identität des trauernden Ich mit Vollendung dieses Prozesses wiederhergestellt – reproduziert – ist. Dann war die Arbeit erfolgreich, und dann wird von Vollendung gesprochen. Sonst besteht die Gefahr, in pathologische Melancholie abzudriften. Das heißt: Trauerarbeit wird gemäß dem Identitätsgesetz vollendet«. Ulrike Dünkelsbühler: Kritik der Rahmen-Vernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida, München: Wilhelm Fink 1991. Darin: 3.2 Übersetzungsarbeit als Trauerarbeit, S. 89–110, hier: S. 94. 10 Freud: »Trauer und Melancholie«, a. a. O., S. 198, Herv. M.  M. 11 Ebd., S. 199, Herv. M.  M. 12 Wie sehr die Frage »gesunder« Trauer nach wie vor als eine Frage der Zeit, ihrer Dauer, verstanden wird, sieht man beispielsweise an der Neufassung des Krankheitskatalogs der American Psychiatric Association, der bereits eine Trauerphase von mehr als zwei Wochen als potentiell krankhaft einstuft. Zuvor waren als Limit noch zwei Monate genannt worden. Vgl. Adelheid Müller-Lissner: »Eine Krankheit namens Diagnose. Ärzte diskutieren, wo künftig die Grenze zwischen gesund und behandlungsbedürftig verlaufen soll«, in: Die Zeit vom 28.  3.  2012.

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treten zwar noch zwei weitere Unterscheidungs­ merk­ male zwischen akuter Trauerarbeit und chronischer Melancholie: zum einen eine bei normalem Trauerverlauf nicht beobachtbare »Störung des Selbstwertgefühls«; 13 zum anderen eine nur für die me­lancholische Verstimmung charakteristische Unbewusstheit ihres Anlasses (der Melancholiker wisse zwar, so Freuds bedenkenswerte Einlassung, dass er einen geliebten Menschen verlor, er wisse aber nicht, was er an ihm hatte).14 Doch bündeln sich alle drei Motive in dem einen wesentlichen Punkt: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.« 15 Der Schaden, den das melancholische Ich nimmt, ist allemal substantiell. Es ist eben nicht mehr das, was es vor seinem Verlust gewesen war. Es ist nicht mehr dasselbe. Das melancholische ist ein anderes, verändertes, ein verandertes Ich. Den psychischen Mechanismus seiner Konstitution erkennt Freud in dem der narzisstischen Regression: Statt seine Libido abzuziehen und auf ein neues Objekt zu verschieben, zieht sich das Ich in sich zurück, inkorporiert das verlorene Objekt und identifiziert sich mit ihm. Die Gefühlsambivalenz, das Zugleich von Liebe und Hass im Verhältnis zu ihm, verlagert sich in das Ich selbst, das in Form von Selbstvorwürfen die aggressiven Impulse, die unbewusst dem Liebesobjekt gegolten haben, aber nie Ausdruck fanden, gegen sich selbst wendet und sich erniedrigt.16 »Der Schatten des Objekts fällt auf das Ich und verdunkelt es.« 17 Die Armut und die Leere dieses Ichs, die Freud aufgrund seiner kategorischen wie kategorialen Opposition als pathogene Defizienz fassen muss, verweisen dergestalt auf eine innere Ausgesetztheit des Ich-in-sich, das sich nicht mehr in sich mit sich zur Einheit seiner selbst zusammenzuschließen vermag. Eine Art Schwäche hat von ihm Besitz ergriffen. Die psychische Störung des Selbstwertgefühls erscheint so wie ein manifestes Symptom, unter dessen Oberfläche sich die 136

13 Freud: »Trauer und Melancholie«, a. a. O., S. 200  ff. 14 Ebd., S. 199. 15 Ebd., S. 200. 16 Ebd., S. 204  f. Zur Gefühlsambivalenz und dem damit einhergehenden Ambivalenzkonflikt, der in Freuds Theoriebildung eine zunehmende Bedeutung erlangen und zu einem der Grundcharakteristika seelischer Prozesse überhaupt avancieren sollte. Vgl. Sigmund Freud: »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, in: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, StA Bd. IX., Frankfurt/M.: S. Fischer 2000, S. 33–60, hier: S. 53  f., 58  f. et passim. Ders.: »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, in: ebd., S. 286–363, hier: S. 350  ff. 17 So Freud in einem Brief an Sándor Ferenczi vom 7. Februar 1915: Sigmund Freud, Sándor Ferenczi: Briefwechsel, Bd. II/1, Wien: Böhlau 1996, S. 107.

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Latenz einer transzendentalen Störung der Identität des Ichs als Ich überhaupt ankündigen könnte, das in der Tat nicht mehr »Herr« wäre »in seinem eigenen Haus«.18 Behalten wir das im Auge. Tatsächlich reguliert, beherrscht und diszipliniert die von Be­ ginn an gesetzte Polarität zwischen »gesund« und »krank« sämtliche begriff‌lichen Operationen Freuds, indem sie die melancholische Verstimmung nicht nur aus dem Vergleich mit der Trauer herleitet.19 Dem Modus Vivendi seiner Deduktion impliziert eine konzeptionelle Hierarchie: Auf der Basis einer strukturell intakten Subjektivität – hier: eines zur Trauerarbeit überhaupt fähigen Subjekts – konturieren sich davon abweichende Muster ihres Defekts, die pharmakologischer, psychotherapeutischer oder psychoanaly­ tischer Behandlung prinzipiell zugänglich sind. Sie sind grundsätzlich reparabel, mögliche Ausnahmen kontingenter Natur. Ein normativ geladener Begriff von Gesundheit gerät zum Maßstab, kraft dessen die Anormalität des Kranken identifiziert und korrigiert werden soll. Das Kranke entspringt aus dem Gesunden, nicht umgekehrt. Das theologische Phantasma eines ursprünglichen status integritatis, dem schon Augustinus mit seiner Sündenlehre, seiner Idee eines irreduziblen status corruptionis der menschlichen Natur den Garaus machte (und Luther sollte ihm bekanntlich darin folgen und das Drama der Neuzeit damit auf seine Weise initiieren), scheint ausgerechnet bei Freud im Inkognito psychoanalytischer Theoriebildung Urständ zu feiern. Ausgerechnet bei Freud, möchte man sagen, scheint er doch alle Ingredienzien einer negativistischen Anthropologie 20 versammelt zu haben, derzufolge 18 Sigmund Freud: »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke in achtzehn Bänden mit einem Nachtragsband, Bd. 12, Frankfurt/M.: S. Fischer 1999, S. 3–12, hier: S. 11. 19 »Den Ausgangspunkt von Freuds Überlegungen bildet der heuristische Vergleich von Trauer und Melancholie, demzufolge sich erst aus dem Wesen der Trauer der Begriff der Melancholie ergibt.« Achim Geisenhanslüke: Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift, Bielefeld: transcript 2008, S. 103. 20 Einer negativistischen, nicht einer »negativen Anthropologie« im Sinne Ulrich Sonnemanns. Auch wenn wir uns dem zu unrecht fast in Vergessenheit geratenen, großen Versuch Sonnemanns nahe wähnen, beharren wir auf der dialektischen Finesse einer »negativistischen Anthropologie« in der Nachfolge Michael Theunissens. Vgl. Ulrich Sonnemann: Negative Anthropologie. Spontaneität und Verfügung. Sabotage des Schicksals. Schriften, Bd. 3, Springe: zu Klampen 2011. Zum Begriff des Negativismus: Vgl. Michael Theunissen: »Können wir in der Zeit glücklich sein?«, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 37–86. Hier: S. 55  f. et passim. Ders.: Das Selbst auf dem Grunde der Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode, Frankfurt/M.: Hain Verlag 1991, S. 17  f., 31–34 et passim.

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sich die Bedingungsmöglichkeiten gelingenden Menschseins nur im Durchgang durch Weisen seines Scheiterns werden frei­le­gen lassen, mithin durch die kons­ titutionelle Im­ perfektibilität des Hu­ma­nen schlechthin. Schon an dieser Stelle wird also jene oft bemerkte tiefe Ambivalenz des gesamten Freudschen Vorhabens fühlbar, dieses unablässige Schwanken zwischen einander entge­ gengesetzten Tendenzen,21 zwischen restaurativer Attitüde und einem grundstürzenden Furor, der sie unentwegt Lügen straft. Ebenso revolutionär wie restaurativ, hat man manchmal den Eindruck, als wolle Freuds Denken unter dem Ansturm dieses sehr speziellen Ambivalenzkonflikts bersten, der sich immer wieder an Status und Stellung des Ich im allgemeinen Haushalt der psychoanalytischen Theoriebildung entzünden sollte.22 Der normalen Trauer soll also gelingen, was der pathologischen verwehrt zu sein scheint: Die restitutio ad integrum eines Subjekts, das Verlust- und Todeserfahrung unbeschadet zu überstehen vermag. Als wäre es immer schon von jenseits des Acheron zurückgekehrt ohne Gram und ohne ein Bedauern. Seine Stärke, sein Recht und seine Rechtfertigung bestehen in nichts anderem als in diesem Trotz, in seiner Resistenz und Renitenz gegen den Verlust des Anderen, seinen symbolischen oder buchstäblichen Tod, den Tod selbst. Das Ungetröstete indes, dem Freud in seinem Beileidsschreiben an Binswanger das Wort redet, stört die kategoriale Ordnung seines Essays empfindlich. Denn dieses Ungetröstete ist die Störung, die sich nicht beheben und auf‌heben lässt, die bleibt. Dass man »nie einen Ersatz« finden werde; dass »alles, was an die Stelle« rücke, »und wenn es sie ganz ausfüllen« sollte, doch »etwas anderes« bleibe, ist mit dessen Setting unvereinbar. Als ob Freud im Moment seiner Trauer anders von Trauer zu sprechen begänne, ihr Begriff ein anderer würde. Als ob Trauer eine Leidenschaft sei und ein Leiden, eine Passion und eine Passibilität, die unter dem Blick des Anthropos Theoretikos ihr Geheimnis doch nie verrät. Hat sie das schon jemals getan? Das Ungetröstete, das Freuds Brief ja nicht nur konzediert, wird zur Fürsprache einer Liebe, die den Tod gewiss nicht besiegt (das hat noch keine Liebe je vermocht), 21 Vgl. Jean Laplanche: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, übers. v. Udo Hock, Gießen: S. Fischer 2005. 22 »Diese Spannung und dieser Konflikt zwischen De-Zentrierung und Re-­ Homogenisierung des Ich zieht sich in Freuds Werk von den frühen Briefen an Wilhelm Fließ bis zu den späten Arbeiten.« Rainer Gross: »Das Bild des Psychoanalytikers – Das Bild der Psychoanalyse«, in: Sylvia Zwettler-Otte (Hg.), »… durch 1000 Kanäle und Poren…«. Die Verbreitung der Psychoanalyse von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt/M.: Peter Lang Verlag 2009, S. 61–74, hier: S. 67.

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aber dem teuren Toten doch die Treue hält: »Und eigentlich ist es recht so.« Dass ich aber nicht nur untröstlich bin angesichts des Todes des Anderen, sondern ungetröstet bleiben will, rehabilitiert einen Schmerz, der Freud in »Trauer und Melancholie« trieb­ ökonomisch rätselhaft blieb.23 Eine Liebe aber »fortzusetzen, die man ja nicht aufgeben will«, heißt das nicht, diesen Schmerz selbst zu wollen? Heißt das nicht, diesen Schmerz festhalten zu wollen? Ein Schmerz, der eine Beziehung des Entzugs, die Anwesenheit eines Abwesens zeigt, ja ist, die ununterbrochene Präsenz eines ununterbrochenen Mangels der Präsenz? Schmerz oder die ganze Innigkeit einer Beziehung-des-Entzugs, die herzzerreißende Intimität einer Trennung-Beziehung als solche? Schuberts »Winterreise« beispielsweise (aber was für ein Beispiel wäre das!), die mit höchster Intensität das Protokoll eines Verlusts zeichnet, der nicht »verarbeitet« werden kann noch will, kontrapunktierte Freuds Rätsel mit ganz besonderer Note. Nicht, dass er es löste noch hätte lösen wollen. Er gab ihm seine Frage, seine Musik: Soll denn kein Angedenken / Ich nehmen mit von hier? / Wenn meine Schmerzen schweigen, / Wer sagt mir dann von ihr? […] Mein Herz ist wie erfroren, / Kalt starrt ihr Bild darin; / Schmilzt je das Herz mir wieder, / Fließt auch ihr Bild dahin! 24 Hätte Freud hierfür ein Ohr? Die »offene«,25 die »schmerzhaf‌te Wunde« 26 des melancholischen Komplexes ist ihm ein unbedingt Negatives, zu dem kein Laut je dringt und das kein Laut je löst – und sei’s auch nur ein einziges Mal! Nicht nur Baudelaire, dessen Spleen bekanntlich das poetologische Pseudonym melancholischer Intentionalität abgab, machte sich auf die Suche nach dem Wort, das die Wunde nicht schließt, sondern die Wunde wird, die es zum 23 Dem Gebot der Realitätsprüfung, »alle Libido« (S. 198) aus ihren Verknüpfungen mit dem als inexistent erkannten Objekt abzuziehen, kann nur sukzessive Tribut gezollt werden. »Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.« Und Freud fährt mit sichtlicher Verwunderung fort: »Warum diese Kompromissleistung der Einzeldurchführung des Realitätsgebots so außerordentlich schmerzhaft ist, lässt sich in ökonomischer Begründung gar nicht leicht angeben. Es ist merkwürdig, dass uns diese Schmerzunlust selbstverständlich erscheint.« Freud: »Trauer und Melancholie«, a. a. O., S. 199. 24 Franz Schubert: »Winterreise«, gesungen v. Dietrich Fischer-Dieskau, Decca 2013, Track 4: Erstarrung. 25 Freud: »Trauer und Melancholie«, a. a. O., S. 206. 26 Ebd., S.  211.

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Ausdruck bringt. In einer Anmerkung zur letzten Strophe von Baudelaires Gedicht »Le Cygne« (dt. »Der Schwan«) registriert Jean Starobinski in seinem feinfühligen Kommentar sehr genau jene seltsame Metamorphose der melancholischen Schwermut, wo die Bedrückung sich in die »Fülle des Atems« verkehre: »Zweifellos haben wir das Reich der Melancholie nicht verlassen, aber die unheilvolle Schwere ist ersetzt durch klangvolles Fließen«.27 Die Verwandlung, von der Starobinski hier spricht, ist aber von ganz besonderer Natur, verrückt die Dinge nur an Ort und Stelle und macht die Schwere um kein Jota leichter. Und doch ist alles ganz anders: »Damit rühren wir an den Bereich der zur Musik gewordenen Melancholie, wo der Kummer nicht mehr tödlich ist, wo die Trauer nicht mehr an das Stummsein gebunden ist, wo die Wonne sich, auf vielleicht perverse Weise, mit dem Schmerz vermischt hat«.28

2. Hätte Freud hierfür ein Ohr? 29 Wir wissen es nicht. Die »Schmerz­ unlust«,30 von der er spricht, scheint schon als bloßes Wortkompositum, scheint sich schon gegen die »perverse« Durchmischung von Wonne und Schmerz sperren zu wollen, gegen eine Art Schmerzlust, die mit dem landläufigen Motiv der Perversion indes nicht zu verwechseln ist. Weshalb wir mit einer »gewisse[n] Verwunderung« nicht nur eine »bemerkenswerte Unveränderlichkeit der melancholischen Kon­stellation« 31 in Freuds Essay notieren. Mag, so Agamben, die Verschiebung der Libido ins Ich auch unterschwellige Verbindungen zum Symptomkreis mittelalterlicher Acedia und Tristitia sowie antiker und neuzeitlicher Melancholie verraten,32 so nimmt doch schon die Wahl des Terminus 140

27 Jean Starobinski: Melancholie im Spiegel. Baudelaire-Lektüren, übers. v. Horst Günther, München/ Wien: Hanser 1992, S. 80. 28 Ebd. 29 Zur Kritik an Freuds schroffer Opposition von Trauer und Melancholie und davon ausgehend zum Versuch, eine »dritte Trauer« jenseits von normal und krankhaft einzuführen. Vgl. Burkhard Liebsch: »Das Selbst im Zeichen des Abschieds vom Anderen. Jenseits normaler und pathologischer Trauer«, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 58, 2004, S. 953–979. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Matthias Korn. 30 Freud: »Trauer und Melancholie«, a. a. O., S. 199. 31 Giorgio Agamben: Stanzen. Wort und Phantasma in der abendländischen Kultur, übers. v. Eva Zwischenbrugger, Zürich/Berlin: diaphanes 2005, S. 37. 32 Vgl. ebd.

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selbst wunder. Zwar orientiert sich Freud hierbei an der Vorgabe Karl Abrahams 33 und anderer. Doch bereits 1899 hatte Emil Kraepelin den Begriff des »manisch-depressiven Irreseins« 34 eingeführt – dessen Bipolarität ebenso Freuds analoge Verschränkung von Melancholie und Manie spiegelt 35 –, der rasch zum Substitut der Melancholie aufrückte. Was heute Depression heißt und sich längst, schenkt man dem statistischen Material Glauben,36 zur globalen Pandemie der technokapitalistischen Weltverkehrsgesellschaft mauserte, ist mehr oder weniger der klinische Name für Melancholie. Freuds Symptomatologie gescheiterter Trauerarbeit hätte in diesem Kontext zweifellos ihren Ort; den Niedergang der Melancholie als ambivalentes Merkmal des genialen Menschen zu einer bloßen Ausprägung geistig-seelischer Zerrüttung bringt er auf seine Weise zum Abschluss.37 Ihre Demission wäre konsequent. Natürlich setzt sich Freuds Psychoanalyse von rein mechanistisch-biologischen Erklärungsversuchen seelischer Erkrankungen ausdrücklich ab, wie sie in der naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychiatrie seiner Zeit längst en vogue geworden waren und bis in die Gegenwart hinein bestimmend geblieben sind.38 Und doch tritt Freud hierzu erklärtermaßen in Konkurrenz. Sein »Wi­derspruch zur biologischen Wissenschaft ist nicht wirklich antagonistisch«,39 sein Wissenschaftsethos steht außer Zweifel. Freuds Weigerung, sich dem allgemeinen Trend zur Ersetzung der Melancholie durch 33 Karl Abraham: »Beiträge zur Psychogenese der Melancholie«, in: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung und andere Schriften, eingel. v. Johannes Cremerius, Frankfurt/M.: S. Fischer 1969. 34 Vgl. Emil Kraepelin: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig: Barth 1899. 35 Vgl. Freud: »Trauer und Melancholie«, a. a. O., S. 207–212. 36 Vgl. Elisabeth Summer: Macht die Gesellschaft depressiv? Alain Ehrenbergs Theorie des »erschöpften Selbst« im Licht sozialwissenschaftlicher Befunde, Bielefeld: transcript 2008, S. 13  f. et passim. 37 »Wenn die Melancholie eine Eigentümlichkeit des außergewöhnlichen Menschen war, dann ist die Depression Ausdruck einer Popularisierung des Außergewöhnlichen.« Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, übers. v. Manuela Lenzen, Frankfurt/M.: Campus 2004, S.  261  f. 38 So spricht beispielsweise der britische Psychiater David Healy von einem Neo-Kraepelinismus in der heutigen US-amerikanischen Psychiatrie: Vlg. David Healy: The Antidepressant Era, Harvard: Harvard University Press 1999, S. 37. 39 Charlotte Jurk: Der niedergeschlagene Mensch. Depression. Eine sozialwissenschaftliche Studie zu Geschichte und gesellschaftlicher Bedeutung einer Diagnose, Dissertationsschrift. Justus-Liebig-Universität Gießen 2005, S. 56. http:// geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2006/2711/pdf/JurkCharlotte-2006–02w13. pdf (letzter Zugriff: 12.  12.  2012).

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Depression anzuschließen, ist aber nicht nur argumentationsstrategisch unvorteilhaft. Sie ist vor allem deshalb be­fremdlich, weil seinem terminologischen Konservatismus keinerlei Bezug auf die Begriffs-, Symptom- und Kulturgeschichte der Melancholie entspricht. Er erwähnt sie mit keinem Wort. Dass er zumindest rudimentär mit ihr vertraut gewesen sein mag, steht bei Freud, dem Wiener Bildungsbürger der viktorianischen Epoche, zu vermuten. Den Begriff Melancholie indessen verwendet er unter expliziter Ausblendung seiner Herkunft, seiner Genese und seines tradierten Gehalts. Warum? Die Antwort fällt nicht leicht. Freud schweigt sich aus. Wenn wir nun seine Bestimmung der Melancholie versuchsweise in eben jenen Zusammenhang zu rücken trachten, den er geflissentlich ignoriert, geht es mitnichten um die bloße Rekonstruktion eines verlorengegangenen Traditions­zusammenhangs, sondern um die Konstruktion einer Diskonjunktion,40 die den melancholischen Komplex als Ganzen neu zu denken aufgeben könnte – mit Konsequenzen, die sich allenfalls in ersten Umrissen zu erkennen geben. Mit diesen beispielsweise: In der 1923 aus dem Umkreis der Warburg-Schule erstmals erschienenen Studie »Dürers Melencolia I«41 machen Erwin Panofsky und Fritz Saxl auf einen ideengeschichtlich bemerkenswerten Umstand aufmerksam: Galt noch in der mittelalterlichen Temperamentenlehre die Melancholie, die »schwarze Galle«, als krankhaf‌te Störung des Gemüts, erfuhr die Diagnose mit dem Auf‌kommen der Renaissance eine grundlegende Revision. Vorbereitet durch Dante und Petrarca und unter Rückgriff auf eine pseudoaristotelische, dem Aristotelesschüler Theophrastos von Eresos zugeschriebene Abhandlung, die im großen Corpus Aristotelicum als eine der Problemata Physica verzeichnet ist,42 attestiert der Florentiner Philosoph Marsilio Ficino 43 dem Melancholiker nun neben seinem Hang zur dumpfen Trauer zugleich eine einzig142

40 Zum Begriff der Diskonjunktion: Vgl. Michael Mayer: Tarkowskijs Gehirn. Über das Kino als Ort der Konversion, Bielefeld: transcript 2012, Einleitung S. 7–12 et passim. 41 Erwn Panofsky, Fritz Saxl (Hg.): Dürers Melencolia I. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig/Berlin: Teubner 1923. Wesentliche Ergebnisse dieser Studie bildeten die Grundlage der 1964 publizierten, nach wie vor maßgeblichen, obschon längst nicht mehr unumstrittenen Untersuchung: Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl (Hg.), Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übers. v. Christa Buschendorf, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990. 42 Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 19: Problemata Physica, be­gr. v. Ernst Grumach, übers. v. Hellmut Flashar, Berlin: Wissen­ schaft­ liche Buchgesellschaft 1991, Problema XXX, S. 250–261.

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artige Gabe – die der Inspiration. Zuvor noch mit der Todsünde der acedia, der geistigen wie körperlichen Trägheit eng verklammert, wird der unterm Geleit des Saturns stehende Melancholiker nunmehr auf der Schwelle zwischen den Extremen des Trübsinns und der göttlichen Kontemplation situiert. Denn, so Panofsky/Saxl, »dieselbe schwarze Galle, die, richtig dosiert und temperiert, den Menschengeist zu seinen größten Leistungen befähigt, verwandelt sich sowohl durch übernormale Vermehrung als durch übernormale Erkältung oder Erhitzung in ein furchtbares Gift«.44 Die Wiedergeburt der antiken Melancholie aus dem Geist der Renaissance ist vorab wortwörtlich zu nehmen: Zwar ordnete das Corpus Hippocraticum 45 das melancholische Naturell noch als durch­weg krankhaft ein. Doch beginnt Theophrasts Problema mit einer Frage, die schlagartig die gesamte Szenerie verwandeln sollte: »Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?« 46 Verblüffend sind nicht nur Frage und Fragestil; 47 verblüffend ist, was die Frage als solche stillschweigend voraussetzt. Theophrast fragt ja nicht, ob »Überragende« (perittoí ) Melancholiker sein könnten und warum. Er konzediert, dass sie es sind und dass alle »Überragenden« es sind und fragt erst hiervon ausgehend nach dem Warum. Mit einer Inkubationszeit von knapp zweitausend Jahren verwandelten sich seine perittoí in die ingeniosi der Renaissance und arbeiteten so jenem Geniebegriff wie dem Chiasmus zwischen Genie und Wahnsinn vor, der die moderne Vorstellung des schöpferischen Menschen dominieren sollte. Wobei 43 Vgl. Marsilio Ficino: De vita libri tres / Drei Bücher über das Leben, übers. u. eingel. v. Michaela Boenke, München: Wilhelm Fink 2012, S. 54–117 et pas­sim, hier: Erstes Buch, Kap. IV–XXVI. 44 Panofsky, Saxl: Dürers Melencolia I, a. a. O., S. 17. 45 Hierbei handelt es sich um eine maßgebliche Sammlung antiker Texte zur medizinischen Heilkunst verschiedener, meist unbekannter Autoren, entstanden zwischen dem 5. Jhr. v. Chr. und dem 1. Jhr. n. Chr., die durch spätere redaktionelle Bearbeitung zu ihrem alsdann geläufigen Namen Corpus Hippocraticum kam. Vgl. Carolin M. Oser-Grote: Aristoteles und das Corpus Hippocraticum. Die Anatomie und Physiologie des Menschen, Stuttgart: Steiner 2004, S. 19  f. 46 Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 19: Problemata Physica, a. a. O., S. 250. 47 In seinem Kommentar zu den Problemata Physica weist Hellmut Flashar ausdrücklich auf den Umstand hin, dass Problema XXX im Gegensatz zu allen anderen Abhandlungen der Problemata Physica die »sonst übliche Problemform […] nur sehr locker« wahre, die Frageform selbst bereits »die entscheidende Behauptung« enthalte und überdies die Antwortformel fehle: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 19: Problemata Physica, a. a. O., Anmerkungen zu Buch XXX, S. 711–727, hier: S. 711.

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Michael Theunissen in einem bewunderungswürdigen Kommentar 48 nicht nur herausgestellt hat, dass auch Theophrast die Melancholie in der Tradition des Corpus Hippocraticum als Krankheit begreift, was ihrer Verbindung mit den perittoí allererst jene dialektische Brisanz verleiht, auf die Benjamin in seinem Trauerspielbuch 49 im großen Stile abheben sollte. Vor allem weist Theunissen darauf hin, dass Theophrast neben der krankhaf‌ten eine natürliche Melancholie 50 einführte, die alsbald nicht nur eines der vier Temperamente in der antiken Seelenlehre stellen sollte, sondern als dieser Typus melancholicus von Anfang an den engen Horizont einer bloßen Typenlehre zu überschreiten und »zu einem in jedem Menschen vorhandenen Element« 51 zu avancieren begann. Sie er­ fasste die Anthropologie als Ganze. Vom Menschen zu sprechen, bedeutete von nun an, von der Melancholie zu sprechen als von einem Leiden und einer Gabe; mithin von jenem Negativen, das als »Ermöglichungsgrund des Positiven« 52 auf eine Moderne vorausdeutet, die im Verlust jedweder positiv ausweisbaren Wesenheit des Menschen, des Seins, Gottes nicht nur ihren kleinsten gemeinsamen Nenner hat. Er ist ihre Bestimmung. Im Begriff des Nihilismus erkannte Nietzsche dessen epochale Signatur. Die in der Renaissance einsetzende und zumal von der neupla­ tonischen Schule des Marsilio Ficino verantwortete Rehabilitation des melancholischen Naturells legte somit jene Ambivalenz wieder frei, die zweitausend Jahre zuvor Theophrast erstmals an ihm erkannte und ihm damit jenes protomoderne Gepräge verlieh, das seine anhaltende Konjunktur in bildender Kunst und Poesie, in Literatur, Philosophie, den Wissenschaf‌ten vom Menschen und alltagstauglicher Seelenkunde befeuerte. Doch bestand die Aufgabe, die dem Florentiner Philosophenkreis im 14. Jahrhundert vor Augen war, keineswegs in der bloßen Restauration des Begriffs. Was den antiken Melancholiker von dem der Renaissance trennte, war doch ein Unterschied ums Ganze. Der »Mittagsdämon«, jene anfallartig einsetze grundlose Traurigkeit, die alle Lebensgeister lähmen und allen Tatdrang hemmen sollte und bereits unter den frühchristlichen Mönchen unter dem Namen der acedia 53 in 48 Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters, Berlin/New York: de Gruyter 1996. 49 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Gesammelte Schriften. Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 203–430. 50 Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters,  a.  a.  O., S.  6  f. 51 Ebd., S. 11. 52 Ebd., S.  9. 53 Die Verklammerung des Mittagsdämons, dessen Motiv bereits in der Sep-

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zuweilen epidemischem Ausmaß zu grassieren begann, war den mittelalterlichen Theologen, insonders Thomas von Aquin,54 nicht nur ein Leiden. Sie wurde zur Sünde,55 zur schweren, endlich zur schwersten, zur Todsünde wider das göttlich Gute, dem sich der Freudlose widerwillig verschloss. Weshalb sie nicht in medizinischen, sondern erschöpfend nur in theologischen Kategorien zu beschreiben war. Als Sünde nämlich ist sie selbstverschuldet und setzt jene Freiheit voraus, ohne die keine Sündenlehre je Sinn machte. Vor allem aber ist sie Sünde wider den Geist des Christentums überhaupt. Wer post christum natum in tiefe Traurigkeit fällt, ist offensichtlich taub für jene Botschaft, die als frohe jedwedem Trübsinn doch den Garaus zu machen versprach. Der latent antijudaistische Ton, der dem Schwermütigen entgegenschlug, war unüberhörbar, machte er ihn doch jener »Verstocktheit« verdächtig, die »die Juden« seit je davon abhielt, das Evangelium anzuerkennen, dass dieser Jesus der Christus sei. So sind Melancholie und Acedia zwar zweierlei, verdanken sich unterschiedlichen kultur-, begriffs- und ideengeschichtlichen Konjunkturen, doch symptomatologisch referieren sie auf einen so auf‌f ällig verwandten Erfahrungszusammenhang, dass dem mittelalterlichen Menschen das Duo alsbald als Konstellation erscheinen mochte, alsbald als unheilvolles Doppelgestirn, das aus seinem Blickwinkel endlich zu einem einzigen verschmolz.56 Ficinos Intervention lockerte zwar den Konnex, indem er die melancholische Befindlichkeit nicht mehr im Licht der mittelalterlichen Süntuaginta wie im antikmittelalterlichen Volksglauben bezeugt ist, mit dem Merk­mal der Acedia, der »Sorglosigkeit«, sprich: der Gleichgültigkeit und Trägheit, die später auch mit dem Phänomen der Langeweile identifiziert werden sollte, ist eng mit dem Aufkommen des christlichen Mönchtums verschränkt und findet sich erstmalig in Schriften des Mönchs Euagrios Pontikos, der sie als eines von acht Hauptlastern charakterisierte und damit der Entwicklung der christlichen Sündenlehre vorarbeitete. Vgl. Dietrich Grau: Das Mittagsge­ spen­st (daemonium meridianum): Untersuchungen über seine Herkunft, Verbreitung und seine Erforschung in der europäischen Volkskunde, Siegburg: F. Schmitt 1966. Friedhelm Decher: Besuch vom Mittagsdämon. Philosophie der Lange­ weile, Springe: zu Klampen 2003. 54 Vgl. Thomas von Aquin: »De acedia (Der Überdruss)«, in: Summa theologica II/2, Quaestio 35. Lateinisch-deutsch, übers. u. komment. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreich, Bd. 17B, Heidelberg: Gemeinschaftsverlag F. H. Kerle 1966, S. 20–35. 55 Vgl. Roland Lambrecht: Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung phi­lo­sophischer Reflexion, München: Wilhelm Fink 1996, S. 37 et passim. Jean Starobinski: Geschichte der Melancholiebehandlung. Von den Anfängen bis 1900, Basel: Geigy Verlag 1960, S. 56 et passim. 56 Vgl. Agamben: Stanzen, a. a. O., S. 31.

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denlehre ausgedeutet wissen wollte, um so erst deren positive Ressourcen beleihen zu können. Doch ist ihr Zusammenhang seitdem unhintergehbar, zumal in der Moderne: Die Regel ist, dass die beiden Phänomene [Acedia und Melancholie; M.  M.], wo sie in der nachhegelschen Philosophie auf produktive Weise neu gedacht werden, zusammen auf‌treten. Für ihre Beziehung zur Moderne oder vielmehr die Beziehung der Moderne zu ihnen ist dies ein aufschlussreicher Befund. Offenbar versucht sich ›die‹ Moderne über eine Konstruktion des Zusammenhangs der beiden Phänomene zu definieren.57

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So erhält die Dialektik, die zwischen lähmender Schwermut und vitaler Inspiration, zwischen Lebensekel und Lebensfreude, mithin zwischen Leid und Glück am Werke ist, erst durch die Verschränkung antiker Melancholie und mittelalterlicher Acedia jene existentielle Schärfe, die Kierkegaard im Begriff der Verzweif‌lung, Benjamin in dem der Trauer oder Heidegger in dem der Langeweile auf die Spitze trieben, um damit einer spezifischen Gestalt der Moderne ihr unhintergehbares Gepräge zu verleihen. Freuds rückhaltlose Repathologisierung der Melancholie vor dem Hintergrund einer ödipal ausgehärteten Subjektivität fällt hinter all das spektakulär zurück. Die Bedrückung des Melancho­ likers, heutzutage des Manisch-Depressiven, in dessen Stimmungs­ schwan­kungen jene Dialektik im Inkognito einer positivistisch verkürzten Psychologie nachzittert, erscheint ihm nurmehr als krankhaf‌te Störung des Gemüts. Dem chronisch Trauernden gilt seine Sympathie spürbar nicht, allenfalls die professionelle Solidarität des Mediziners, der »hysterisches Elend in gemeines Unglück« 58 zu verwandeln trachtet. Auch wenn man dem Therapieziel die Anerkennung nicht verweigern mag, erinnert sein Begriff der Melancholie an das Schicksal der mittelalterlichen Acedia im Spie­ gel des scholastischen Sündenkanons, deren (moralisches) Unheil wie jenes (medizinische) Unheil fungiert, dem Freud das Ideal eines Heilen, Gesunden hart kontrastierend entgegenhielt. Doch selbst die Acedia, fest im Klammergriff der Todsündenlehre, ent­ behre nicht, so Agamben, der »dialektischen Hefe, die den Mangel in Besitz umzukehren vermag.« 59 Die Umkehrung hätte dabei fol57 Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters, a. a. O., S. 39. 58 Sigmund Freud: »Studien über Hysterie«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1. Leipzig/Wien/Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1925, S. 1–238, hier: S. 238.

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gende Gestalt: »Da ihr Verlangen fest auf das gerichtet bleibt, was sich unerreichbar gemacht hat, ist die Acedia nicht nur eine Flucht vor […], sondern auch eine Flucht nach […], die mit ihrem Objekt in der Form der Negation und des Mangels kommuniziert.«60 Das Argument ist alles andere als selbstverständlich. Schon die schiere Möglichkeit einer solchen kontrafaktischen, ja kontralogisch­en Kommunikation wird nicht nur die strukturelle Ordnung der vorherrschenden Psychopathologie labilisieren. Agambens In­tui­ tion der dialektischen Natur der Acedia auf den Melancholi­ker Freudschen Typs zu übertragen, verzerrt dessen Statur allerdings zur Kenntlichkeit. Scheint doch nun der Verlusterfahrung, vor die er gestellt ist, insgeheim eine Art Gewinn implizit, der mit den landläufigen Kategorien triebökonomischer Provenienz so wenig wie mit denen einer allgemeinen Ökonomie bilanziert werden kann. Die Trennung, unter der er leidet und die er nicht zu verarbeiten, nicht zu akzeptieren vermag, realisiert sich als eine Bindung, deren ausgezeichnete Qualität mit den Mitteln einer zweiwertigen Logik nicht mehr zu beschreiben ist. Sie ist diskonjunktiv. Also stünde der acidiosus ganz im Bann des abwesenden Gottes; der Melancholiker jedoch in dem des abwesenden Anderen? Also fänden sie im Zeichen des kreuzweise ausgestrichenen Gottes,61 des Menschensohns, erst zu ihrer stets prekären Einheit? Des toten-Gottes-am-Kreuz, Jesus, Messias, des Menschensohns, des anderen Toten?

3. Und dennoch: Freuds Psychopathologie gescheiterter Trauerarbeit markiert den folgenschwersten Einschnitt in der Geschichte der Melancholie seit Theophrasts Problema XXX und Ficinos De vita libri tres. Sichtbar indes wird das erst in deren Kontrast. Entpuppte sich das Leiden, von dem der Melancholiker geschlagen sein soll seit Hippokrates’ Tagen, schließlich als Leiden an der Vanitas, der leeren, ereignislos verstreichenden Zeit, mithin als Leiden an der Endlichkeit als solcher, so verwandelt es sich unter dem Blick des Wiener Analytikers in ein Leiden an der Endlichkeit des Anderen. 59 Agamben: Stanzen, a. a. O., S. 26. 60 Ebd. Zu dieser paradoxen Figur einer negativen Bezugnahme, d. h. einer Beziehung, die sich im Medium ihrer Negation realisiert, vgl. ebd., S. 52, 66, 83 et passim. 61 Vgl. Jean-Luc Marion: Gott ohne Sein, übers. v. Alwin Letzkus. Paderborn et al.: Schöningh 2013.

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Zu Tode betrübt ist er nicht mehr über das Todverfallene, todge­ weihte, todlangweilige Leben im Allgemeinen, sondern über diesen einen Tod, den er überlebt und überleben muss und nicht kann; den zu überleben ihm wie ein Verrat anmuten mag, wie eine Schuld ohne Maß und ohne Sühne. Die Scham, die nun in seinem Inneren brennt, die Tristesse, die seine Tage tränkt, sind von ganz besonderer Natur. In dem Moment, in dem Freud die Melancholie im Ausgang der Trauer, Trauer jedoch als Reaktion auf den Entzug eines libidinös besetzten Objekts fasst, verschiebt sich die Trauer­ intention, genauer: die Trauerpassibilität, um eine entscheidende Nuance: Der Melancholiker, der Chroniker, krankt an einer Endlichkeit, die anders ist als seine eigene, an einer anderen Endlichkeit, die ihm einen Verlust beibringt, für den er keine Kompensation mehr weiß noch wissen will. Ihn hält er fest. (Oder ist es umgekehrt?)

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Abb. 1: Dürer: »Melencolia I«, 1514.

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Vor diesem Hintergrund mag ein Detail in Albrecht Dürers »Melencolia I« ein ganz eigenes Gewicht gewinnen. Dass sein 1514 entstandener Stich auf die in der Renaissance einsetzende Neubewertung der Melancholie expressis verbis reagierte, gehört zu den gesicherten Erkenntnissen kunstgeschichtlicher Forschung. Im Gegensatz aber zum humanistischen Optimismus Ficinos, der noch die Hoffnung hegte, durch eine ausgeklügelte Diätetik der negativen Momente der Melancholie Herr werden zu können, um so den positiven allein Geltung zu verschaffen, bleiben bei Dürer die Dinge in der Schwebe.62 Im Zeichen des Saturns, des Gottes der Schwermut und der Kontemplation, wird die Welt zu einer zweideutigen, zwielichtigen. Unentschieden ist, in welche Richtung das Pendel ausschlägt. Noch Peter-Klaus Schusters voluminöse Studie, die im Dürer’schen Stich jenes humanistische Ethos ausmachen zu können glaubt,63 das in der italienischen Frührenaissance seinen vorzüglichen Ausdruck fand, erliegt der nämlichen Illusion wie weiland die Florentiner Neuplatoniker, die nicht wahrhaben wollten, dass die intellektuelle Produktivkraft »Kreativität« nur um den Preis einer inkompensablen Schwäche zu haben sein wird, einer Anfälligkeit, die in der Conditio humana schlechthin wurzelt. Genau darauf antwortet Dürers Stich. Ambivalenz, operatives Leitwort im Vokabularium der Freudschen Psychoanalyse, ist sein Milieu. »Melencolia I« ist von skandalöser Mehrdeutigkeit, deren Bildkomposition, einem Traum-, einem Wahnbild ähnlich, irreduzibel widersprüchlich. Eine Hermeneutik, auch die bildtheoretisch raffinierte, kann an dessen Auslegung nur scheitern. Ist sie klug, gesteht sie sich das nicht nur ein, sondern macht es eigens zum Gegenstand einer Deutung, die auf jedwede Vereindeutigung, Vereinheitlichung und Reduktion des ikonischen auf einen propositionalen Gehalt vorab Verzicht leistet. Die Überdetermination des Ikonischen 64 ist kein surplus, kein Rest oder Abfall, der als quantité négligeable vom Tagewerk semantischer Sinnkonversion übrig62 So auch der Tenor der Studie Dürers Melencolia I von Panofsky und Saxl, die gerade aus diesem Grund für Benjamins geschichtsphilosophische Spekula­ tion zum Motiv der Trauer interessant war. 63 Vgl. Peter-Klaus Schuster: Melencolia I: Dürers Denkbild, 2 Bde., Berlin: Gbr. Mann Verlag 1991. 64 In seiner Warburg-Studie, die sich nicht nur gegen das Warburgbild Erwin Panofskys und Ernst H. Gombrichs wendet, sondern auch gegen deren dahinterstehendes Modell der Kunstgeschichte als Wissenschaft überhaupt, spricht Georges Didi-Huberman von der »irrsinnige(n) Überdeterminiertheit der Bilder«. Womit er vorderhand ein Grundcharakteristikum des Bildlichen überhaupt meint. Doch liegt die Pointe hier auf dem Adjektiv. Es ist wortwörtlich zu nehmen: Georges Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschich-

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bliebe, sondern der glühendheiße nucleus des Ikonischen selbst, sein Wesen. Die Ambivalenzen der Bildstruktur verlängern sich so in den Ambivalenzen ihrer Interpretationen und reflektieren so und nur so die der Sache.65

Abb. 2: Dürer: »Melencolia I«, Auszug.

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Welche Sache das sei? Überfrachtet mit Dingen und Gerätschaf‌ten, mit Fabelwesen und Hund und Putto, fremdelnd fremd vor unwirklicher Szenerie und unter einem zeichenhaft verhangenen Himmel, nimmt den Blick ein Blick gefangen, der ihn ins Nichts und ins Nirgendwo mitreißt. Das geflügelte Wesen, das den Bild­ raum dominiert, Dämon oder Engel, männlich oder weiblich, von muskulöser Statur, leicht vornübergebeugt sitzend, einen Zirkel in der einen, den Kopf gestützt auf die andere Hand, ganz teilnahmslos und doch in gespannter Haltung, scheint auf etwas fixiert und zugleich auf eigenartige Weise absent zu sein. Als wäre diese Gestalt gebannt von einer Fülle und einer Leere, hineingehalten und zugleich losgelassen von einer Abwesenheit, die sie fesselt, zieht und fortzieht. Man hat das schon anderweitig bemerkt: Entstehungsjahr des Meisterstichs und das Todesjahr der Mutter koinzidieren nicht nur äußerlich. Das magische Quadrat in der oberen Bildrechten verzeichnet in der untersten horizontalen Reihe mittig das Datum 1514. Die ersten beiden Zahlen der linken vertikalen Reihe, 16 und 5, vermerken zudem den Todestag der Mutter: 16.  5.   Wobei die 5, seit alters her zahlenmystisches Symbol des Lebens, auf dem Kopf steht 66 (wie vielleicht das ganze Leben nach dem te und Phantomzeit nach Aby Warburg, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, S. 48 et passim. 65 Vgl. Hartmut Böhme: Albrecht Dürer: Melencolia I. Im Labyrinth der Deutungen, Frankfurt/M.: S. Fischer 1989, S. 60–73. 66 Vgl. Jürgen Flachsmeyer: »Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I. Zur Aktualität eines Denkbildes vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart«, 2006. www.math-inf.uni-greifswald.de/sonstiges/flachsmeyer/duerer.pdf, S. 14. (letz­ ter Zugriff: 12.  12.   2012)

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Verlust eines geliebten Menschen). Nur wenige Monate vor ihrem Tod porträtierte Dürer seine Mutter, Barbara Dürer, die 63 Jahre alt werden sollte und deren elenden Todeskampf er begleitete. Es ist ein Bild von überwältigender Integrität und Genauigkeit, das nicht nur ungemildert eine alte, ausgemergelte, kranke Frau ohne Retusche und Idealisierung zeigt, wie das in der Geschichte der bildenden Kunst bislang so noch nicht der Fall gewesen sei. Vor allem macht sein Realismus den Blick des Sohnes auf seine Mutter fühlbar, deren Sterben er bis zuletzt beiwohnte. Als ob die Melancholie, die hier ihren künstlerisch avanciertesten Ausdruck findet, vor allem anderen dem Tod seiner Mutter geschuldet sei und einer Trauer, die einmal nicht der Vergänglichkeit alles Irdischen gilt, sondern der des Menschen, den er liebte – und liebt. Als hätte sich vierhundert Jahre vor Freud in Dürers grandiosem Bildnis bereits jene ethische Umformatierung des Typus Melancholicus angekündigt, wie sie sich nach Freud zumal im modernen Kino, der Foto­grafie und Literatur und nicht zuletzt im Denken Emmanuel Levinas’ und Jacques Derridas anzukündigen beginnt.

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Abb. 3: Dürer: »Barbara Dürer, Bildnis der Mutter«, 42,1  ×  30,3 cm, 1514.

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So ist die Spur, die der Andere hinterlässt im Sand, im Bild und in der Seele, alles, was bleibt, wenn er verschwindet. So ist die Spur, das, was bleibt, wenn nichts mehr bleibt. Spur und Zeichen einer Zukunft, die niemals mehr Gegenwart gewesen sein wird. Die Spur des Anderen – die Spur, die Narbe, die offene Wunde – hat keine Substanz, noch gründet sie auf einer, noch verweist sie darauf. Sie ist nicht der Repräsentant eines Referenten, sondern die ganz unmögliche, unerträgliche, maßlose Präsenz seiner Abwesenheit. Das melancholische, endlich ethische Martyrium, das sich hier abzeichnet, gibt nichts und nichts zu deuten. Jenes »Positive« auf dem Grund des Negativen erhebt sich nicht wie der Phönix aus der Asche. Als transzendentaler Horizont des Positiven ist und bleibt das Negative negativ; ist und bleibt das Positive ineins dessen transzendentaler Horizont, der Ermöglichungsgrund dieses Negativen, dem es entsprang. Beide Pole verschränken sich bis zur schieren Ununterscheidbarkeit, bis zu dem Punkt und Nullpunkt, bis zu jenem Quellpunkt aller Menschlichkeit, wo die Trennung die Beziehung ist, deren Negation sie nach landläufiger Vorstellung doch sein soll, und wo der Mangel die Gestalt einer Fülle hat, die nichts enthält und hält. Und wenn wir dem Verschwinden des Anderen die Form einer Erscheinung geben, ist das, was hier erscheint und scheint, nichts als dieses Verschwinden selbst. Und dieser Schein ist alles. Um ihn geht es. Er ist nicht nichts. Die Dialektik mithin, die hier am Werke sein soll, ist von eigentümlicher Art. Die Auf‌hebung, die ihr natürlicherweise eigen zu sein scheint, der Umschlag des Einen ins Andere seiner selbst, das Werden zu sich, wird von einer Zusammengehörigkeit substituiert, wie sie nur einer dialektischen Arbeit eigen ist, die nicht zum Abschluss kommt, die keine Entwicklungsstufen durchläuft und keine Richtung nimmt und die wechselseitig zündet. Eine schwache Dialektik, die die tiefe Ambivalenz der melancholischen Passion einmal mehr in der Schwebe lässt. Sie ist zerrissen zwischen dem ganzen Guten einer Passibilität des Anderen, seiner Absenz, und dem tödlichen Risiko, das sie darstellt. Die Treue, die der Melancholiker wahrt, der Verlust, den er realisiert, sein Begehren, das sich auf einen Körper richtet, der Asche wurde und Staub und Erde, kosten Kraft und manchmal seine ganze. Das aber hat er nicht nur zu ertragen. Er hat den Anderen ja inkorporiert, muss ihn tragen von Stund an, in sich tragen, leibhaftig als Anderen.67 Die Eucharistie der Trauer ist eine Feier und ein Fest in einsamster Stunde entre nous. 67 Zur Trag- und Bedeutungsweite dieses Tragens, siehe Derridas Auslegung des Celan-Verses »Die Welt ist fort, ich muss doch tragen.«: Jacques Derrida:

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Doch macht seine Schwäche ihn nicht nur kränkeln. Mag sein Geschick von fundamentalanthropologischer Tragweite sein, so ist ihm stets etwas spürbar Dämonisches eigen, maskenhaft Versteinertes, Verschlossenes, nachgerade Unmenschliches, das sein modernes Erscheinungsbild prägt und die anhaltende Virulenz einer acedia verrät, die nicht in der antiken Polarität von gesund und krank, sondern in der christlichen von gut und böse ihren Fluchtpunkt hat. In embryonaler Monstrosität zeichnet sich so am negativen Horizont der Epoche rätselhaft eine Gestalt ab, die ihr zum Schicksal gereichen könnte. Der Ausgang ist offen. In der Tiefenschicht der melancholischen Veranlagung ist ein seelischer Mechanismus in Gang gekommen, der nicht mehr angehalten wer­den kann und sie mit einer psychischen Energie lädt, die ihr bislang fremd war: Wut.68  Auf‌brausend wie der fürs Auf‌brausen prädestinierte Choleriker ist dieser Typus Melancholicus mitnichten. Seine Wut nämlich verraucht nicht.69 Sie keimt in ihm, gärt, arbeitet, wird kraft melancholischer Hemmung aber an jedweder Triebabfuhr gehindert – fürs erste jedenfalls. Das triebenergetische Niveau, das aus diesem innerpsychischen double bind resultiert, mag man sich im stillen Kämmerlein nicht einmal ausmalen. Vorerst genügt, die Augen offen zu halten. Was sich aber von Mal zu Mal jählings doch Bahn zu brechen vermag, ist eine Gewalt, an der sich die Frage nach Gut und nach Böse nicht schon entscheidet, sondern allererst stellt.Von Melancholie zu sprechen, bedeutet nach Freud deshalb immer auch, von einer Veranlagung zu sprechen, die nicht nur riskant ist, sondern notorisch gefährlich. Dem ethischen Taumel des Melancholikers ist eine Gewalt inhärent, ja wesentlich, tückisch und tödlich zugleich, zuweilen sogar mörderisch.70

»Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht«, übers. v. Martin Gressmann, Christine Ott, Felix Wiesler, in: ders., Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 7–50, hier: S. 44–48 et passim. 68 Vgl. Michael Mayer: »Mutanten. Filmphilosophische Anmerkung zur Krise des Subjekts«, in: Claudia Wirsing (Hg.), Auf Nietzsches Balkon II. Philosophische Beiträge aus der Villa Silberblick, Weimar: Verlag Bauhaus-Universität Weimar 2012, S. 220–231. 69 Vgl. Nick Cave: »Ich bin ein Marketing-Albtraum«, Interview von Thomas Winkler, in: taz vom 29.  2 .  2008. 70 Zu diesem virtuell mörderischen Aspekt des Melancholikers, der aktiv den Verlust, der ihm zum Besitz des begehrten Objekts ausschlägt, herbeizuführen versucht sein könnte. Vgl. Slavoj Žižek: »Melancholy and the Act«, in: Critical Inquiry, Chicago: University of Chicago Press 2000, S. 657–681.

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Ästhetik des Alteritären

Ulrich Richtmeyer Was tun die Experten der Praxis? Zum politischen Status der Kunstrezeption nach Benjamin, Habermas und Seel 1.  Eingrenzung des Themas Der zentrale thematische Bezugspunkt dieses Beitrags lässt sich durch einen utopisch vagen und im Ursprungstext eher marginal platzierten Satz von Jürgen Habermas bezeichnen. Er lautet: »Vielleicht lässt sich am Beispiel der Kunstrezeption ein Ausweg aus den Aporien der Moderne wenigstens andeuten.« 1 Ich möchte mich im Folgenden eingehender mit den Bedingungen seiner Bestätigung beschäftigen und hierzu neben Arbeiten von Habermas, Seel und Benjamin diskutieren. Das Zitat entstammt einem Essay aus dem Jahre 1980. Darin beschäftigt sich Habermas primär mit der Verteidigung der kulturellen Moderne aber auch mit kommunikations- und öffentlichkeitstheoretischen Motiven sowie dem politischen Programm einer nachhaltigen Sicherung funktionierender demokratischer Strukturen in modernen Industriegesellschaf‌ ten. Im Kontext dieser Motive findet die zitierte Aporiendiagnose ihre besondere Bestimmung. Sie ist, unabhängig davon wie man sich zu der Frage nach ihrem tatsächlichen Zutreffen oder den Bedingungen ihrer

1 Jürgen Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, in: ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Leipzig: Reclam 3 1994, S. 32–55, hier S. 49.

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Exemplifikation im Rahmen der Kunst verhalten mag, an der Benennung des folgenden Dilemmas interessiert: Der Erfahrungsund Erkenntnisgewinn, der sich in der kulturellen Moderne innerhalb von Expertenproduktionen einstellt, scheint nicht mehr in den Erfahrungs- und Erkenntnishorizont des unspezialisierten Lebensalltags integrierbar zu sein. Der angekündigte Ausweg aus den Aporien der Moderne sucht daher, pragmatisch reformuliert, nach einer produktiven Interaktion zwischen lebensweltlich komplexen Perspektiven und dem institutionalisierten und spezialisierten Fachwissen von Experten.2 Man kann die gesuchte Interaktion also auch als eine Vermittlungstätigkeit auf‌fassen, die bei Habermas nun auf zwei weitergehende Präzisierungen angewiesen ist. Da erstens die entzweiende Entwicklung im Anschluss an Max Weber als eine maßgeblich von der Modernisierung selbst hervorgerufene betrachtet wird, die kulturelle Moderne aber zugleich verteidigt und bewahrt werden soll, hat die auswegweisende Interaktion die Bedingung einer doppelten Rücksichtnahme zu erfüllen. Denn der ausgleichende Kontakt zwischen den Experten und den Laien soll auf beiden Seiten schadlos verlaufen. Beide Positionen dürfen ihre Spezifik nicht verlieren, da sowohl die Autonomie der Expertensphären fortschrittsoptimistisch bejaht wird als auch die alltagskulturelle Erfahrungswelt in ihrer Komplexität bewahrt werden soll. Das heißt, die angesprochene Spezifik der zu vermittelnden Positionen muss im gesuchten Modell einer Vermittlung berücksichtigt werden. Zweitens wird eine nur private Version dieser Tätigkeit im Sinne einer individuellen Abarbeitung an kulturellen Antinomien von Habermas nicht angestrebt, gleichwohl jede Vermittlungstätigkeit letztlich doch erst in diesem privaten Kontext aufgeht. Stattdessen betrachtet er sie nur dort, wo sie entweder selbst ein öffentlicher oder doch ein veröffentlichbarer Vorgang ist, also dort, wo eine kollektive Ausführung möglich erscheint. Dieser Aspekt ist auch dem Wunsch nach gesellschaftlicher Verallgemeinerbarkeit unter politisch demokratischen Bedingungen verpflichtet, da sich sagen lässt, dass die angestrebte Vermittlung zwischen Experten und Laien nur dort von einer politischen Gemeinschaft als Lösung ergriffen und dauerhaft etabliert werden kann, wo eine öffentliche Praktizierbarkeit dem Modell der Vermittlung selbst schon zukommt. 2 Wenn im folgenden von »Lebenswelt« die Rede ist, so wird damit nur jene Habermas’sche Konzeption wiedergegeben, die annimmt, dass in der »Alltags­ praxis« jene »Sprachfunktionen und Geltungsaspekte noch ineinandergreifen«, die in den wissenschaftlichen Expertensphären expliziert werden, s. u. Anm. 11 und 12.

WAS TUN DIE EXPERTEN DER PRAXIS ?

Da ich mich der durch den eingangs zitierten Satz ausgesprochenen Fragestellung verpflichtet fühle, möchte ich nun im Folgenden versuchen, die Möglichkeiten durchzugehen, unter denen man ihr einen positiven Sinn abgewinnen kann. Eingedenk der beiden genannten Prämissen lässt sich der thematische Rahmen daher wie folgt reformulieren: Gesucht wird ein exemplarisch tragfähiges Modell für die konstruktive Überwindung der Experten-Laien-Dichotomie. Es soll modernespezif‌isch sein, im Bereich öffentlicher Kunstrezeption nachgewiesen werden und zumindest hypothetisch verallgemeinerbar sein. In der weiteren Beschäftigung mit thematisch verwandten Habermas-Texten bin ich zu der Ansicht gelangt, dass sich ein solch komplex positiver Sinn dem zitierten Satz innerhalb des Habermas’schen Denkgebäudes nur ausgesprochen schwer abgewinnen lässt (Kap. 2). Daher habe ich Texte anderer Autoren einbezogen, mit denen man den Sinn des Zitats detaillierter begründen kann. Hier war beispielsweise die Rückbesinnung auf Benjamins Kunstwerkaufsatz fruchtbar, umso mehr deshalb, weil Habermas diesen Text ebenfalls intensiv diskutiert hat (s. u.). Werden die Überlegungen beider Autoren miteinander konfrontiert, lässt sich die gesuchte Lösung, trotz Differenzen in Einzelaspekten, klarer konturieren (Kap. 4). Als ein aufschlussreicher dritter Autor bot sich Martin Seel an, da sich auf seine Verdienste im Bereich einer Systematisierung der Kunstkritik und somit einer Charakterisierung der hier relevanten Expertensphäre orientierend Bezug nehmen lässt (Kap. 3). Dort, wo die Expertenposition nicht mehr institutionell, soziologisch oder personell bestimmt werden kann, lässt sie sich somit als Berücksichtigung geltungstheoretischer Verbindlichkeiten im argumentierenden Werten begreifen. Rückwirkend sollte wiederum Seels Theorie ästhetischer Rationalität dazugewinnen, insofern die in ihr nicht weiter problematisierten Bedingungen einer pragmatischen Verwendung ästhetischer Argumente und ihrer artikulativen Vorstufen in der Gesprächspraxis thematisiert werden können.

2.  Zwei auswegweisende Beispiele a.) Habermas exemplifiziert seine Vermutung, die Kunstrezeption könne einen Ausweg aus den Aporien der Moderne aufzeigen, im bereits zitierten Text an zwei Stellen, die im folgenden Beispiele genannt werden. Beide demonstrieren, obwohl als einander zugehörige besprochen, im Detail doch grundverschiedene Rezeptionstypen. Das erste lautet:

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Die Rezeption durch den Laien, oder vielmehr durch den Experten des Alltags, gewinnt eine andere Richtung als die des professionellen, auf die kunstinterne Entwicklung blickenden Kritikers. Albrecht Wellmer hat mich darauf aufmerksam gemacht, wie eine ästhetische Erfahrung, die nicht primär in Geschmacksurteile umgesetzt wird, ihren Stellenwert ändert. Sobald sie explorativ für die Auf‌hellung einer lebensgeschichtlichen Situation genutzt, auf Lebensprobleme bezogen wird, tritt sie in ein Sprachspiel ein, das nicht mehr das der ästhetischen Kritik ist. Die ästhetische Erfahrung erneuert dann nicht nur die Interpretationen der Bedürfnisse, in deren Licht wir die Welt wahrnehmen; sie greift gleichzeitig in die kognitiven Deutungen und die normativen Erwartungen ein und verändert die Art, wie alle diese Momente aufeinander verweisen.3

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Der ausweghaf‌ te Rezeptionstyp besteht demnach darin, dass künstlerisch spezialisierte Artefakte, die in der Moderne auf die Vermittlungskompetenzen einer institutionalisierten Kunstkritik angewiesen sind, auch in Lebenssituationen rezipiert werden können, in denen die spezif‌isch kunstkritisch erschließende Vermittlung weder kontextuell vorliegt, noch von den Rezipienten selbst ergriffen wird. Stattdessen beschäftigen sich diese mit Kunst dann, wenn ihre »ästhetische Erfahrung nicht in Geschmacksurteile umgesetzt wird« so, dass sie diese illustrativ, motivierend, etikettierend etc. mit verschiedensten Lebenssituationen assoziieren. Dieser Rezeptionstyp lässt sich auch unter den Bedingungen der kulturellen Moderne als konstant unproblematischer bezeichnen, da er so selbstverständlich ist, dass er von ihr lebensweltlich kaum behindert werden kann. Problematisch wird er erst dort, wo man seinen Status aus der wertenden Perspektive der etablierten Kunstkritik beschreibt und aus ihrer Position nach seiner Angemessenheit zum Prozedere der konventionalisierten Kunstrezeption fragt. Aber das ist keine Frage nach seiner faktischen Wirksamkeit, sondern nach seiner Bewertung. Ungeachtet der Tatsache, dass ein weiterführend assoziativer Gebrauch symbolgebender Artefakte grundsätzlich immer und ohne thematische Einschränkungen möglich ist, möchte Habermas mit seinem Beispiel allerdings spezifische Züge einer die Expertensphäre aneignend erschließenden Lebenswelt belegen. Anders ausgedrückt, lässt sich von einer anderen Richtung, die Laien in der Bewertung künstlerischer Artefakte gegenüber kunstkritischen Experten einschlagen, erst dann sprechen, wenn beide bereits 3 Ebd., S. 50.

WAS TUN DIE EXPERTEN DER PRAXIS ?

einen gemeinsamen Standpunkt bezogen haben. Dieser muss, der Aporien auf‌hebenden Qualifikation des Beispiels zufolge, ein expertenkultureller sein. Habermas weist in diesem Sinne auf die »lebensorientierende Kraft« der Kunst hin und nicht auf die lebensorientierende Kraft beliebiger Gegenstände, an denen ja gleichfalls ästhetische Erfahrungen gemacht werden können. Also ist es vorerst die Präsenz künstlerischer Werke, worauf sich Laien und Experten gemeinsam beziehen und worin sich die Verschiedenheit ihrer Perspektiven begegnet. Die Tatsache, dass das Spektrum laienhafter Bezugnahmen auf Werke im Gegensatz zum spezialisiert Kunstkritischen unbegrenzt aufgefächert werden kann, macht eine weitere Einschränkung erforderlich. Nicht jeder assoziative Bezug auf künstlerische Symbolik und nicht jede psychologische Wirkungsproduktion kommen hier in Frage, auch wenn beide als Resultate ästhetischer Erfahrung durchaus wünschenswert sein mögen. Die Perspektive, aus der heraus sich die Laien mit den Werken konfrontieren, braucht vielleicht nicht mit der etabliert kunstkritischen übereinzustimmen, sie muss aber doch irgendwie eine kunstspezifische sein, damit das Beispiel seinen Auf‌trag erfüllen kann. Denn wenn der Kontakt zu den künstlerischen Werken diese genauso behandelt wie aus lebensweltlicher Perspektive generell auch alle anderen Arten von Objekten aufgesucht werden, dann referiert das Beispiel genaugenommen keinen Ausweg, sondern bloß die interne Verfahrensweise der Lebenswelt jenseits der Berücksichtigung eines expertenhaf‌ten Eigensinns der Objekte. Diesem Einwand geht es keineswegs schon um die Forderung nach Anerkennung eines interpretatorisch erschließbaren Eigensinns der Werke, wie ihn die Expertensphäre selbst reklamiert, sondern nur um die allgemeinste Form einer ästhetisch spezifischen Zuwendung im Unterschied etwa zu einer existentiellen Ingebrauchnahme. Was ein spezif‌isch ästhetischer Bezug ist, wird also noch zu klären sein, da die bloße Präsenz von Kunstwerken ihre ästhetische Lesart, also einen Typ kunstrezeptiver Handlung noch nicht bedingt. b.) Das zweite Beispiel ist in dieser Hinsicht leider wenig aussagekräftig: Die Rezeptionsweise, die ich meine, wird in einer bestimmten Variante noch genauer getroffen durch den heroischen Aneignungsprozess, den derselbe Autor [Peter Weiss] im ersten Band seiner »Ästhetik des Widerstandes« an einer Gruppe politisch motivierter, lernbegieriger Arbeiter, im Berlin des Jahres 1937, darstellt, an jungen Leuten, die auf einem Abendgymnasium

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die Mittel erwerben, um in die Geschichte, auch Sozialgeschichte der europäischen Malerei einzudringen. Sie hauen aus dem zähen Gestein dieses objektiven Geistes die Splitter heraus, die sie assimilieren, in den Erfahrungshorizont ihres von der Bildungstradition wie vom bestehenden Regime gleich weit entfernten Milieu einholen und so lange hin und her wenden, bis sie zu leuchten beginnen.4

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Das zweite Beispiel beschreibt, im Gegensatz zum ersten, die lebensweltliche Aneignung des kunstspezifischen Expertenwissens bar allen Kontakts zu künstlerischen Werken. Hier steht nun nur noch ein eigenartiger Bildungsprozess zur Debatte, der das kunstrelevante Expertenwissen vor dem Hintergrund lebensweltlicher Erfahrungen einzuholen gedenkt. Er zielt auf das »bildungsmäßig Hinzugewußte«, wie Panofsky das Fundament einer ikonographischen Bildauslegung genannt hatte und nicht auf die Qualitäten, die Bildern und Kunstwerken sonst noch zukommen können. Das von Habermas angesprochene Beispiel einer in den 1920er Jahren von jungen Arbeitern vorgenommenen Aneignung kunst­ historischen Wissens, das unvermeidlich aus deren lebensweltlichem Erfahrungskontext erfolgte, wird in den wissenssoziologischen Betrachtungen prominenter Zeitzeugen durchaus kritisiert. Ihrer Einschätzung zufolge kann eine nachholende, deutlich kompensatorisch motivierte Beschäftigung mit der kulturellen Tradi­tion der bürgerlichen Gesellschaft gerade nicht als Exempel einer gelingenden, d. h. das Expertenwissen unter lebensweltlichen Aspekten produktiv modifizierenden Aneignung verstanden werden. So hat beispielsweise Siegfried Kracauer in seinem romanhaf‌ten Epochenporträt »Die Angestellten« treibende Motive der kleinbürgerlichen und sozialdemokratischen Bildungsbewegung jener Zeit als nur noch statusorientierte Kompensationsleistungen reformuliert. Kracauer verwies mit seiner literarischen Diagnose also darauf, dass sich ein kollektives Interesse am institutionell vermittelbaren Wissen der Expertenkulturen nicht schon indifferent zum utopisch gehaltvollen Exempel lebensweltlicher Aneignungsleistungen umstilisieren lässt. Im Gegenteil, dass »der Andrang zu den höheren Schulen größer ist als die Liebe zur Erkenntnis«,5 4 Ebd., S.  50  f. 5 »Da aber den oberen Mächten der Berechtigungsschein als ein Talisman gilt, jagen ihm alle nach, die es materiell können, und suchen seinen Monopolwert möglichst zu steigern. Der Andrang zu den höheren Schulen ist größer als die Liebe zur Erkenntnis […].« Siegfried Kracauer: Die Angestellten, Leipzig/ Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1981, S. 18.

WAS TUN DIE EXPERTEN DER PRAXIS ?

bezeugt ja nicht nur das Fehlen besonderer persönlicher Bildungsabsichten der Aneignenden, sondern auch eine massive Fremdbestimmung ihrer Interessen. Deshalb können so gerade jene geltenden gesellschaftlichen Ordnungen reproduziert werden, die die Abgrenzung der Experten durch zertifizierte Beglaubigungen zumindest formal dauerhaft zu fixieren wünschen. Dass die Abarbeitung am Expertenwissen in institutionellen Kontexten geschieht, die sich gesellschaftlicher Legitimation sicher sein können (auch wenn sie sich, wie aktualisierend einzufügen wäre, auf deren andauernde Unterstützung nicht verlassen dürfen), müsste als leitender Hinweis in die Analyse des Aneignungsprozesses eingehen. Denn in dieser Hinsicht steht sich der utopisch verklärte Bildungserwerb institutionell selbst im Wege. Der konstatierte Schaden des beobachteten Bildungsbooms wird von Kracauer für schwerwiegender befunden als die durchaus positiven Resultate, die in solchen Aneignungsleistungen produziert werden können, weil statt individuell produktiven offenbar gesellschaftlich reproduktive Momente überwiegen. Das von Habermas angeführte Beispiel muss, will es die herausgestellte Interaktion zwischen Lebenswelt und Expertenkultur als Modell einer auswegweisenden Synthese offerieren, den zweckrationalen, sozialstrategischen Bildungserwerb mit Sicherheit ausschließen können. Und zwar deshalb, weil sich die zur utopischen Überwindung freigegebene Struktur institutionalisierter Separation zwischen Laien und Experten in bestimmten Formen ihrer zeitweiligen und partiellen Auf‌hebung (durch Schüler) erst dauerhaft reproduziert. Anders ausgedrückt liefert ein Modell, welches bloß beschreibt, wie sich aus bislang benachteiligten sozialen Schichten neue Kunsthistoriker rekrutieren ließen, nur ein Beispiel für die soziologische oder personelle Neubesetzung der Expertenposition, spricht sich aber keineswegs über den erwünschten Vermittlungsvorgang selbst anders als im Modus einer Bildungsmaßnahme aus. Das Anlernen von Expertennachwuchs ist jedoch gerade nicht jene hoffnungsvolle Vermittlung, die kulturelle Dichotomien überwindet, sondern eine personell notwendige Reproduktionsmaßnahme, mit der Institutionen die für ihren Selbsterhalt erforderlichen Schranken erst gesellschaftlich dauerhaft etablieren. c.) Genauer trifft Habermas mit dem zweiten Beispiel also nicht das erste, sondern jene Konvergenzen zwischen bildungs- und kulturtheoretischen Betrachtungen, die sich schon seinen frühen Texten entnehmen lassen. In ihnen war eine reformhaf‌te Verbreitung des Wissens spezialisierter Geltungssphären ebenso

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wie ein basisdemokratisches Engagement immer an den institutionellen Kontext verwiesen worden, wie Habermas später selbst resümierte,6 und explizit als Bildungsmaßnahme konzipiert.7 Für nonkonformistische Verweigerungshaltungen in Kunstproduktion und -rezeption der 1960 er Jahre ergab sich aus dieser Position die Konsequenz, dass Habermas deren plakativ vorgetragene Auf‌hebungsparolen der ästhetischen Expertensphäre (Kultur) nur noch als subjektivistische Diskursverweigerung begreifen konnte.8 Personengruppen, die sich dem um öffentliche Mitteilungsfähigkeit bemühten, institutionalisierten Diskurs der Kunstkritik im underground-Gestus entzogen, warf Habermas deshalb einen Subjektivismus vor, der mit der Geschichtslosigkeit des wissenschaftlichen Positivismus auf‌fallend konvergiere.9 Wahrscheinlich auch im Hinblick auf diese subjektivistische Alternative hat Habermas sein frühes, bildungstheoretisch strukturiertes und institutionell kontextualisiertes Vermittlungsmodell nie korrigiert, sondern allenfalls modifiziert. In Erwiderung einer Seel’schen Kritik 10 hob er hervor, ihm ginge es wesentlich um die »interne Sicht« einer Vermittlung des Expertenwissens an die Lebenswelt aus der Perspektive der Experten 11 und nicht aus der der Laien (die als die empirische Ebene der Betrachtung

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6 »Ich war der konventionellen Auf‌fassung, dass dieser Prozess [einer demokratischen Willensbildung] in den Verbands- und parteiinternen Öffentlichkeiten einsetzen müsse.« Nachgetragene Fußnote in: Jürgen Habermas: »Protestbewegung und Hochschulreform«, in: ders. (Hg.), Kleine politische Schrif‌ten (I–IV), Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1981, S. 265–302, hier S. 297. 7 Vgl. ders.: »Demokratisierung der Hochschule – Politisierung der Wissenschaft?« (1969), in: ebd., a. a. O., S. 186–196. 8 »Die Reizkulturen verhalten sich gegenüber Weltbildern und erst recht gegenüber politischen Deutungen, die globale Sinnzusammenhänge herstellen, resistent […]«. Ders.: »Protestbewegung und Hochschulreform«, a. a. O., S. 287. 9 »Vielleicht wird das Protestpotential dann in die unpolitische Arbeitsteilung einbezogen, die sich zwischen den beiden Statthaltern des antihistorischen Bewusstseins einspielt: zwischen wissenschaftlichem Positivismus und den jüngsten Richtungen der experimentellen Kunst, soweit sie sich als »underground« verstehen.« Ebd., S. 297. 10 Martin Seel: »Die zwei Bedeutungen kommunikativer Rationalität. Bemerkungen zu Habermas’ Kritik der pluralen Vernunft«, in: Axel Honneth, Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 32002, S. 53–73. 11 Habermas bezeichnet dort seine Position durch die Frage, »[…] wie das Expertenwissen in die diffusen Selbstverständigungsprozesse des Alltags rück­übersetzt werden kann. […] Aus der gleichen internen Sicht stellen sich die Probleme einer Vermittlung zwischen Expertenkulturen und Lebenswelt als Fragen nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, Moral und Sittlichkeit, Kunst und Leben.« Jürgen Habermas: »Entgegnung«, in: ebd., a. a. O., S. 327– 406, hier S. 341.

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bezeichnet wird). Auch in anderen Texten mit vergleichbarer Problematik hat Habermas zusätzlich die Aufgabe der Philosophie mit der der Kunstkritik analogisiert und beiden die Vermittlungsrolle des jeweiligen Expertenwissens an die Lebenswelt zugesprochen.12 Die Kunstkritik macht sich diesem Verständnis zufolge für das Publikum als eine didaktische Instanz unersetzbar: »Sie holt den Erfahrungsgehalt des Kunstwerkes in die normale Sprache ein; nur auf diesem mäeutischen Wege kann das Innovationspotential von Kunst und Literatur für Lebensformen und Lebensgeschichten, die sich übers kommunikative Alltagshandeln reproduzieren, entbunden werden.« 13 Habermas zieht das Modell einer mit kunstkritischen Stütz­ rädern versehenen ästhetischen Erfahrung der andernfalls drohenden Alternative eines »neuen Subjektivismus der Freizeitkulturen« vor, in dem ihm »Wochenendhippies« mit dem »Funktionalismus des gesellschaftlichen Apparats« eine besorgniserregend komplementäre Allianz einzugehen scheinen.14 Aber auch für die intellektuellen und gesellschaftspolitischen Potentiale der Kunstrezeption könnte der reizkulturelle Gemeinplatz: no risk no fun, gelten. Und eine Kunstkritik, die wie die Habermas’sche eine »Übersetzungsleistung eigener Art« 15 zu vollbringen hat, ist als notgedrungen pädagogisch verfahrendes und institutionell kontextualisiertes Expertenprojekt mit teuren Einschränkungen erkauft. Die Frage, ob das oder auch ein anderes »Innovationspotential der Kunst« unter Umständen jenseits expertenkultureller Vermittlungsleistungen erschließbar ist, entzieht sich ihrem Vorstellungs- und De­skriptionsvermögen. Das zweite Beispiel sagt also tatsächlich ›genauer‹, was Habermas’ Position ist, indem es die Andeutung einer unangeleiteten Selbstmächtigkeit der Laien, die das erste ja noch macht, zurücknimmt und korrigiert. Während das erste Beispiel auf die immanente Komplexität rationaler Geltungssphären in der Lebenswelt vertraut, reagiert das zweite bereits auf die Ambivalenz einer 12 »Beide sind mit einer ähnlich paradoxen Aufgabe konfrontiert. Sie sollen die Gehalte von Expertenkulturen, in denen jeweils unter einzelnen Geltungsaspekten Wissen akkumuliert wird, einer Alltagspraxis zuführen, in der alle Sprachfunktionen und Geltungsaspekte noch ineinandergreifen und ein Syndrom bilden.« Jürgen Habermas: »Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur«, in: ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1985, S. 219–248, hier S. 245. 13 Ebd., S. 244, Herv. U. R. 14 Habermas: »Protestbewegung und Hochschulreform«, a. a. O., S. 288. 15 Ders.: »Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur«, a. a. O., S. 244.

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solchen Freiheit und überführt die Laien in die expertenkulturelle Obhut, indem es sie auf das kunsthistorische oder -kritische Expertenwissen verpflichtet. Da Kunstrezeption meiner Ansicht nach nicht ohne den direkten Kontakt zu künstlerischen Werken möglich ist und diese im zweiten Beispiel allenfalls indirekt als Illustrationen berücksichtigt werden, möchte ich mich im folgenden Text nun nach einem alternativen Rezeptionsmodell umsehen, das sich stärker am ersten Beispiel orientiert.

3.  Experten- und Trivialrezeption

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a.) Die Besprechung des ersten Beispiels endete mit der Feststellung, dass der gesuchte laienhaf‌te Umgang mit künstlerischen Expertenproduktionen die thematische Spezifik von Expertenangelegenheiten auch dann erfüllen muss, wenn deren diskursive Verfahrensweise von ihm nicht übernommen werden kann. Dieser laienhaf‌te Umgang sollte zudem kein privater, sondern ein öffentlich artikulierter sein. Im Bereich öffentlicher Artikulationen verfehlt er laut Habermas aber das »Sprachspiel der ästhetischen Kritik« und damit wird wiederum seine thematische Angemessenheit fragwürdig. Diese Konstellation ist vor allem aus sprachanalytischer Perspektive sehr heikel, zugleich aber auch aufschlussreich, weil so die noch unklare Spezifik der ästhetischen Expertenposition argumentationstheoretisch erklärt werden kann. Martin Seel hat die sprachanalytische Position vertreten, dass ästhetische Erfahrungen, die sich nicht im Sprachspiel der ästhetischen Kritik verorten lassen, auch nicht als legitime Formen einer angemessen artikulierten Beschäftigung mit Kunst angesehen werden dürfen.16 Denn die expertenkulturelle Anerkennung des ästhetischen Eigensinns künstlerischer Werke im Rahmen ihrer diskursiven Erschließung ist auf das Sprachspiel der ästhetischen Kritik nicht nur geltungstheoretisch, sondern eben auch thematisch angewiesen. Geltungstheoretische und thematische Angemessenheitsfragen sind hier analogisiert. Da nun das erste Beispiel mehr zeigen will, als dass individuelle und private Zugangsweisen zu künstlerischen Expertenproduktionen irgendwie möglich sind, stellt diese Position einen relevanten Einwand dar. Denn gesucht wird eine Form öffentlich artikulierter Kunstrezeption die nicht expertenhaft betrieben wird und doch thematisch adäquat ist. 16 Vgl. Martin Seel: »Was ist ein ästhetisches Argument?«, in: Philosophisches Jahrbuch 94, Freiburg/B.: Karl Alber 1987, S. 42–63.

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b.) Im Kontext verschiedener Artikulationen ästhetischer und anderer Erfahrungen hat sich Seel bekanntermaßen gründlich umgesehen (s. o.). Sein Fazit: wir dürfen nur ästhetische Argumente als adäquate Artikulationen ästhetischer Phänomene verstehen und müssen idiosynkratische Urteile der Vorliebe oder praktische Werturteile aus dem Katalog ästhetischer Artikulationen aussortieren. Dieser Vorschlag legt nahe, dass die expertenkulturelle Position nicht institutionalisierend oder personifizierend zu bestimmen sei, sondern als die Befolgung einer spezifischen Argumentationsweise verstanden werden muss, die den Eigenheiten künstlerischer Werke mit einem angemessenen Sprachspiel gerecht zu werden versucht. Über die bloße Präsenz der Werke hinaus wird somit die expertenkulturelle Position durch einen spezifischen Diskurstyp bestimmt, der im Austausch ästhetischer Argumente besteht und der da, wo zutreffend von Kunstrezeption gesprochen werden soll, praktiziert werden muss. Dieses argumentationstheoretische Verständnis der Expertenposition macht auch eine Revision der Experten-Laien-Dichotomie erforderlich. Der sprachanalytische Standpunkt birgt nämlich folgende Implikation: Die Befürchtung, Rezipienten könnten bei fehlender Expertenvermittlung in ein bloß hedonistisches Genießen verfallen, stellt sich nun als Konsequenz eines indifferenten Begriffs von Kunstkritik dar. Da schon artikulierte Rezeptionshandlungen, die die argumentativen Bedingungen ästhetischer Angemessenheit erfüllen, auch thematisch angebracht sind, braucht fehlende Vermittlung nicht in Hedonismus zu resultieren. Denn für die kunstkritische Tätigkeit muss man fortan nicht mehr kunsthistorisch qualifiziert sein (d. h., die Gehalte der Expertenkultur vermittelt bekommen haben), obwohl kunsthistorische Kenntnisse selbstverständlich immer hilfreich sind. Die kunstkritische Kompetenz nimmt zwar wie jede andere auch mit einschlägigen Erfahrungen zu und operiert mit besonderen Kenntnissen; Kenntnisse und Erfahrungen sind aber nicht hinreichende Bedingungen für kunstkritische Argumentationen und dürfen deshalb nicht als thematische Zulassungsvoraussetzung zum Expertendiskurs missverstanden werden.17 Mit dem Hinweis darauf, dass Laien – wenn auch auf niedrigerem Kenntnisstand – kunstkritisch argumentieren können, solange sie sich nur an die thematisch relevanten Angemessenheitsbedin17 Auf den Umstand, dass das Habermas’sche Verständnis der Kunstkritik als Vermittlungsinstanz nicht (wie z. B. bei Seel) den Unterschied zwischen kunstkritischen und kunsthistorischen Verfahrensweisen berücksichtigt, kann hier leider nicht ausführlicher eingegangen werden.

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gungen halten, erübrigt sich aber die für unumgänglich befundene »Übersetzerfunktion« der Experten in der Kunstrezeption (und verlagert sich allenfalls auf den Bereich kunsthistorischer Belehrung). Die Unterscheidung zwischen kunsthistorischen und -kritischen Vorgehensweisen ermöglicht nun also Präzisierung und ›Säkularisierung‹ der Expertenposition, sagt aber noch nicht, wie und ob sich Laien auf künstlerische Expertenproduktionen auch laienhaft thematisch adäquat beziehen können.

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c.) Habermas hat nun im ersten Beispiel eine Rezeptionsform b­e­schrieben, die sich deutlich dem ästhetischen Sprachspiel entzieht. Deshalb möchte ich mich ebenfalls auf die Möglichkeit von Artikulationen konzentrieren, die selbst noch keine kunstkritischen Argumente sind, aber unter Umständen doch als thematisch adäquate bezeichnet werden könnten. Gleichzeitig war Habermas aber, wie sich seiner Kritik an der Subkultur der 1960 er Jahre entnehmen lässt, nicht an einem subjektivistischen, diskursverweigernden Rezeptionsverhalten gelegen. In Seels Texten findet sich nun diese polarisierte Konstellation als eine sprachtheoretische Differenz wieder. Einerseits schließt er nicht aus, dass man ohne oder vor adäquaten Artikulationen in Form kunstkritischer Argumente ästhetische Erfahrungen machen und artikulieren kann. Andererseits klassifiziert er Aussagen, die sich dem Sprachspiel der ästhetischen Kritik entziehen und private Gefallenszustände reklamieren, als idiosynkratische Urteile der Vorliebe. Im Bereich von kunstbezogenen Artikulationen, die sich noch nicht auf dem Niveau begründend verfahrender ästhetischer Argumente entfalten, kommen also zwei qualitativ unterscheidbare Mitteilungsformen vor. Erstens Äußerungen, die ästhetische Erfahrungen mitteilen und an eine kunstkritische Auseinandersetzung adressiert sind, ohne schon in entsprechend verfahrende Begründungstätigkeiten involviert zu sein (die also sowohl die thematische Spezifik der Expertenposition – wenn auch in unterschiedlichem Maße – einnehmen, als auch deren diskursive Strategien noch nicht ausgeführt haben). Und zweitens Äußerungen, die angesichts ästhetischer Artefakte private Wirkungs- oder Verwertbarkeitsbezüge wiedergeben. Der erste Typ lässt sich affektive, der zweite assoziative Trivialrezeption nennen. Für die Theorie ergibt sich nun das Problem einer möglichen Verwechselbarkeit zwischen beiden Aussagetypen, denn offenbar fehlt hier ein Unterscheidbarkeitskriterium. In Seels Urteilstheorie können jedoch Artikulationen, die noch nicht ästhetische Argumente sind, dann ästhetisch relevant, also thematisch angemessen genannt werden, wenn sie potentiell Gegenstand einer ästhe-

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tischen Argumentation werden könnten. Er nennt entsprechende Artikulationen »Äußerungen der Konfrontation«,18 »ästhetische Werturteile«,19 »kunstkritische Wahrnehmung«,20 »spontane Wertungen« 21 oder testende Deutungsversuche. Ihre thematische Eignung wird erst retrospektiv evident, sobald sich ein Sprachspiel der ästhetischen Kritik argumentierend auf sie bezieht.22 Die Frage ist nun, ob sich diese implizite Eignung auch anders als argumentationstheoretisch explizieren lässt. Im Bereich der affektiven Trivialrezeption möchte ich deshalb die Vermittlungspotentiale der Laien untersuchen und zeigen, dass sie thematisch angemessene Artikulationen machen können, auch ohne die argumentationstheoretisch exakte Verfahrensweise der Kunstkritik zu praktizieren. Solche Äußerungen sind dann nicht subjektivistisch oder diskursverweigernd, wenn sie für kollektive oder öffentliche Rezeptionsverläufe einen thematisch sinn- und gehaltvollen Beitrag leisten. Aufschlussreiche Überlegungen zu diesem Phänomen hat unter Bedingungen der kulturellen Moderne Walter Benjamin formuliert.

4. Benjamins Kunsttheorie zwischen Propaganda, Rausch und Politik Walter Benjamin hat in seinen Texten etwa ab 1927 23 bis zur ersten Publikation des Kunstwerkaufsatzes 1936 kontinuierlich die Differenzen zwischen Autor und Publikum thematisiert und über reale Versionen ihrer Auf‌hebung nachgedacht. Da dieses Verhältnis für die Kunst die Experten-Laien-Dichotomie darstellt, wäre somit also eine erste thematische Gemeinsamkeit mit Habermas benannt. Wo dieser von den »Experten des Alltags« (s. o.) sprach, nämlich in der Kunstrezeption, hat Benjamin das synonyme Mo­ dell der »halben Fachmänner« konzipiert und vehement vertreten. Spätestens im Kunstwerkaufsatz vertrat er dann das utopische Modell für die Auf‌ hebung der Experten-Laien-Dichotomie in Form eines öffentlichen und politisch bedeutsamen Vorgangs der ›Selbstorganisation‹: die simultane Kollektivrezeption. 18 Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S.  236  ff. 19 Ders.: »Was ist ein ästhetisches Argument?«, a. a. O., S. 44. 20 Ebd., S.  45. 21 Ebd., S.  61. 22 »Auch im Kontext der ästhetischen Kritik geht es um die Begründung einer Aussage – nämlich des ästhetischen Werturteils.« Ebd., S. 44. 23 Walter Benjamin: »Zur Lage der russischen Filmkunst«, in: ders., Gesammelte Schrif ‌ten, Bd. 2.2, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1977  ff., S. 747–751.

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a.) Habermas hat Benjamins Kunstwerkaufsatz gründlich gelesen und mit großem Geschick die dort angesprochenen Motive auf sprach- und erfahrungstheoretische Momente sowie ideologiekritische Absichten im Benjaminschen Gesamtwerk zurückgeführt. Er hat nahegelegt, dass Benjamins messianischer Erfahrungsbegriff auch für das massenkulturelle Rezeptionsmodell des Kunstwerkaufsatzes leitbildhaft gewesen sein muss. »Benjamin hat […] die mystische Erleuchtung nur mehr als profane, d. h. verallgemeinerbare, exoterische Erfahrung akzeptiert.« 24 Dieser Erfahrungsbegriff, der deshalb profan zu nennen ist, weil er »exoterisch« ist 25 und weil er, anders als es sich noch Adorno vorstellte, Kunstrezeption nicht als Expertentätigkeit konzipiert, sollte in Benjamins Theorie die expertenkulturelle Hermetik aufsprengen und Kunst lebensweltlich sozialisieren. »Benjamins Intention zielt auf einen Zustand, in dem die esoterischen Erfahrungen des Glücks öffentlich und allgemein geworden sind.« 26 Eine der zentralen Thesen des Kunstwerkaufsatzes, nämlich die von Benjamin proklamierte »Fundierung« moderner Massenkunst »auf Politik«,27 beurteilt Habermas allerdings ausgesprochen skeptisch und spricht zu anderer Gelegenheit von »Benjamins experimentellen Überlegungen«.28 Weder mit Benjamins messianischem Erfahrungsbegriff noch mit seinem eigenwillig sprachphilosophisch fundierten Semantikkonzept könne die Erfüllung des ideologiekritisch auf‌ tretenden Anspruchs gelingen. Jeder revolutionäre Gestus der Benjaminschen Kunsttheorie sei deshalb überzogen, weil »die Erfahrung des Schocks keine Handlung [ist], und die profane Erleuchtung keine revolutionäre Tat.« 29 Das faktische Phänomen einer modernen Kunstrezeption nicht auratischer Werke durch Publikumsmassen könne daher nur eine »[…] höchst vermittelte Stellung zur politischen Praxis haben«, denn sie erzeuge kein politisches Handeln, »[…] das auf die Entbindung der in den Institutionen eingelassenen strukturel-

24 Jürgen Habermas: »Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität W. Benjamins«, in: ders., Politik, Kunst, Religion, Stuttgart: Reclam 1989, S. 48– 96, hier S. 80. 25 »Profan ist diese Erfahrung, weil sie exoterisch ist.« Ebd., S. 70. 26 Ebd., S.  69. 27 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (3. Fassung), in: ders., Gesammelte Schrif ‌ten, Bd. 1.2, a. a. O., S. 471– 508, hier S. 482. 28 Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, a. a. O., S. 51. 29 Ders.: »Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität W. Benjamins«, a. a. O., S. 83.

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len Gewalt abzielen würde«. Diese apolitischen Konsequenzen der Benjamin’schen Kunsttheorie hat Habermas in zwei Richtungen detaillierter begründet. Einerseits sei Benjamins Modell rettender Kritik durch seine Ausrichtung am exoterischen Erfahrungsbegriff zwar in der Lage gewesen, die semantischen Potentiale einer hermeneutisch erschließbaren Alltagstradition vor ihrer modernistischen Destruktion zu bewahren, andererseits habe Benjamin aber auch eine Verlegenheit darüber empfunden, »[…] dass aus der rettenden Kritik keineswegs […] eine immanente Beziehung zur politischen Praxis zu gewinnen ist.« 31 Auf diesen Mangel habe er nun mit dem Hinweis auf die propagandistische Verwertbarkeit der Kunst kompensatorisch reagiert und deshalb seine »[…] Zustimmung zur instrumentellen Politisierung der Kunst erteilt.« 32 Damit hätte Benjamin seiner Kunsttheorie zwar den Anschein einer politischen Wirksamkeit gegeben, allerdings nur deshalb, weil eine solche von ihr faktisch nicht erbracht werden könne. Diese zweckrationale Ingebrauchnahme von Kunst ist tatsächlich nur als vermittelt politische denkbar, insofern sie nicht in den kollektiven Rezeptionshandlungen Motive aufzeigt, die für die politische Praxis modellhaf‌ten Charakter haben könnten, weil sie selbst exemplarische Formen einer solchen Praxis wären. Einen zweiten Aspekt fehlgehender »Fundierung auf Politik« entdeckt Habermas weniger in der Instrumentalisierung der ästhetischen Erfahrung, sondern direkt in der Konzeption des Erfahrungsbegriffs selbst. Obwohl dieser »verallgemeinerbare, profane« und – anders als der expertenkulturelle Autonomiebegriff der Kunst noch nahelegte – »exoterische« Dimensionen für die moderne Kunstrezeption erschließt, ist seine semantische Tiefenstruktur ausdrücklich nicht als »Reflexion eines Bildungsprozesses, sondern als Identifikation und Wiederholen von emphatischen Erfahrungen und utopischen Gehalten« 33 konzipiert. Einer Kunstrezeption, die sich theoretisch an solch einem Erfahrungsbegriff orientiert, spricht Habermas grundsätzlich eine »immanente Beziehung zu politischer Praxis« 34 ab. In diesem Kritikpunkt rekurriert Habermas auf die Konvergenz bildungs- und kulturtheo­ retischer Momente, für die das zweite Beispiel des Modernetexts (s. o.) eine positive Version formulieren sollte.

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Ebd., S.  81. Ebd. Ebd., S.  80. Ebd., S.  76. Ebd., S.  83.

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b.) Benjamin konzentrierte sich in seinen rezeptionsästhetischen Betrachtungen nach eigener Auskunft primär auf die »technische und formale Seite« 35 der neuen künstlerischen Medien und nicht auf die offenen oder verborgenen politischen Ziele ihrer Produzenten. Eben deshalb sind seine Überlegungen »deskriptiv« 36 zu nennen, wie Habermas zutreffend festgestellt hat. Von dieser technisch formalen Seite erwartete er eine kulturell tiefgreifende Auf‌ lösung der Experten-Laien-Dichotomie (Publikum-Autor), wes­halb die inhaltlichen Einwände gegen seine Theorie – die Verwendung politischen Vokabulars deute auf propagandistische Instrumentalisierungsabsichten hin – unzutreffend sind. Auch der zweite, nicht nur Habermas’sche Einwand, im expertenkulturell unangeleiteten Rezeptionsverhalten des Massenpublikums ließen sich allenfalls die Rausch- und Reizphänomene einer Konsumentenmentalität identifizieren, keineswegs aber politische Verhaltensweisen,37 ist unter Hinweis auf die anfangs genannte Prämisse zurückzuweisen. Der modernerelevante Begriff ästhetischer Erfahrung ist bei Benjamin ausdrücklich nicht als »Reflexion eines Bildungsprozesses« konzipiert, weil diese ihm zufolge immer schon mit illusionären Reizmomenten durchsetzt sei. Stattdessen möchte er da, wo die obsolete, bürgerliche Kunstrezeption auf der Basis des ästhetischen Scheins die »Bildung der Kenntnisse« betrieb, nun vielmehr die »Schulung der Urteile« stattfinden lassen.38 Der ästhetische Schein des klassischen Kontemplationsmodells wird bei Benjamin nicht nur als politisch wirkungsloser beschrieben, er versucht auch zu zeigen, inwiefern der technologische Wandel künstlerischer Produktionsmethoden in der Moderne ihn dauerhaft und bereits jenseits politischer Proklamationen destruieren musste. Das fortschrittliche epische Theater arbeitet demzu-

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35 »Diese technische und formale Seite ist es demnach, an der allein das Sachverständnis der Hörer sich schulen und dem Barbarentum [der »Konsumentenmentalität«] entwachsen könnte.« Walter Benjamin: »Reflexionen zum Rundfunk« (1930), in: ders., Gesammelte Schrif ‌ten, Bd. 2.3, a. a. O., S. 1506  f., hier S. 1507. 36 Im Gegensatz zu Adorno (Vgl. dessen Brief an Benjamin vom 18.  3.  1936 in: Benjamin: Gesammelte Schrif ‌ten, a. a. O., Bd. 1.3, S. 1000–1006.), der mit seinem Festhalten am massenunzugänglichen, formalisierten und autonomen Kunstwerk (z. B. Schönberg) auf die technologischen Entwicklungen der Moderne »defensiv« reagiert habe, verführe Benjamin in der Darstellung eines vielfach veränderten und aktualisierten Kunstbegriffs primär »deskriptiv«. Vgl. Habermas: »Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität W. Benjamins«, a. a. O., S. 66 u. 54. 37 Laut Habermas führt Benjamins Kunsttheorie »zu einer Identifizierung von Rausch und Politik«, Vgl. ebd., S. 84.

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folge mit Unterbrechungen und der tendenziellen »Verschüttung der Orchestra« 39. Der Film zerstört kontemplative Versenkungsmomente durch seinen technischen Montagecharakter und die Schockwirkung seiner Bilderfolgen, progressive Schriftsteller und Literaten arbeiten mit interdisziplinären Grenzüberschreitungen, die den vom bürgerlichen Kulturbetrieb definierten Expertenprofilen widersprechen40. Der Rundfunk deckt auf, dass das Gros der in ihm zu Wort kommenden seiner medialen Beschaffenheit gemäß nicht artifiziell »Darbietende«, sondern Vertreter aus den Reihen des potentiellen Publikums sind,41 während die Zeitung Leserbriefe in das breitgefächerte Spektrum ihrer Themen integriert.42 In all diesen technisch evozierten Entwicklungen ist das Publikum Benjamin zufolge längst zum Mitwirkenden geworden, hat teilweise Sachverständnis der Expertenproduktionen erworben und hiervon, nicht von der Weitergabe weltanschaulicher Programme, verspricht sich Benjamin pauschal einen positiven politischen Effekt. Anders als Adornos kulturpessimistische Haltung, die der kulturindustriellen Dominanz in der modernen Kunstproduktion eine Deformation der Urteilskompetenzen des Publikums zutraut, setzt Benjamin auf dessen unbeschadete, aber gleichwohl massenkulturell modifizierte »Selbstmächtigkeit«. Anders als Habermas, der den Kulturpessimismus Adornos bildungsoptimistisch auf‌fängt und in der institutionalisierten Vermittlungstätigkeit von Philosophen und Kunstkritikern lebensweltlichen Laien das Expertenwissen didaktisch näher bringen möchte, setzt Benjamin auf ein den technischen Bedingtheiten der Werke adäquates Rezeptionsverhalten, welches der Selbstvermittlungskompetenz des Massenpublikums entspricht. Den modernen technischen Medien traut Benjamin daher eine »pädagogische Funktion« zu, sieht diese aber nicht aus einer externen Vermittlung hervorgehen, sondern durch die Organisationsweise des rezipierenden Massenpublikums selbst bedingt. Habermas hat diesen eminent wichtigen Aspekt der Benjamin’­ schen Kunsttheorie offensichtlich missverstanden, wenn er meint, 38 Vgl. Walter Benjamin: »Reflexionen zum Rundfunk« (1930), in: ders., Gesammelte Schrif ‌ten, Bd. 2.3, a. a. O., S. 1506  f. u. ders.: »Theater und Rundfunk« (1932), in: ebd., Bd. 2.2, S. 773–776. 39 Ders.: »Was ist das epische Theater?« (1939), in: ders., Gesammelte Schrif ‌ten, Bd. 2.2, a. a. O., S. 532–539, hier S. 539. 40 Ders.: »Der Autor als Produzent« (1934), in: ebd., S. 683–701, hier S. 693. 41 Ders.: »Reflexionen zum Rundfunk« (1930), a. a. O., S. 1506. 42 Ders.: »Die Zeitung« (1934), in: ders., Gesammelte Schrif ‌ten, Bd. 2.2, a. a. O., S.  628  f., hier S.  629.

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dieser habe »[…] das Verhältnis von Kunst und politischer Praxis dann vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der organisatorischen und propagandistischen Verwertbarkeit der Kunst für den Klassenkampf gesehen.« 43 Zwar ist für Benjamin der Begriff der »organisierenden Funktion« der Werke in den Reflexionen über Theater und Rundfunk zentral und wird deshalb auch als ein einkalkulierbares Prinzip für propagandistische Intentionen attraktiv. Da sich Benjamin aber auf die modernespezifischen Rezeptionsphänomene konzentriert, die durch die technischen Innovationen angeregt werden, kann das weltanschauliche Selbstverständnis künstlerischer Produzenten oder Auf‌traggeber für die politische Wirkung der Werke auch für ihn nur noch sekundär sein.

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c.) Diese modernespezifischen Rezeptionsphänomene haben – wie sich zeigen lässt – mit jenen öffentlichen Artikulationen zu tun, die ich im letzten Kapitel darzustellen versucht hatte. Sie sind (noch) keine kunstkritischen Argumente eines ästhetischen Sprachspiels, aber doch auf eine Weise thematisch relevant, die im Rezeptionsvorgang intersubjektiv evident wird, und sie erfüllen die Bedingung einer laienhaft erschlossenen Öffentlichkeit: Im bürgerlichen Theater, dem »abendlichen Amüsierbetrieb«,44 das Benjamin gleichermaßen zwischen Konsumentenmentalität und Bildungsanspruch lokalisiert, aber auch in der kollektiven Rezeption von Malerei musste die spontane Mitwirkung des Publikums regelmäßig zum Eklat führen. »Mit anderen Worten: die offenkundige Manifestierung seines Urteils hätte einen Skandal gebildet«.45 Anders verhält es sich dort, wo der »[…] Apparat umso besser ist, je mehr er Konsumenten der Produktion zuführt, kurz aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwirkende zu machen imstande ist.« 46 Dass die technische Beschaffenheit verschiedener künstlerischer Medien spontane, affektive Artikulationen des Publikums provoziert und ebenfalls angemessen erscheinen lässt (niemand wundert sich, wenn im Kino eine rasante Kamerafahrt dem Publikum Schreie entlockt, eine andere Sequenz Gelächter produziert), ist die »organisierende Funktion« der Werke. Der progressiv sein wollende Theaterregisseur (Brecht) musste zwar erst dramaturgisch stilisieren, was dem Medium Film ganz selbstverständlich 43 Habermas: »Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität W. Benjamins«, a. a. O., S. 83. 44 Walter Benjamin: »Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht.« (1931), in: ders., Gesammelte Schrif ‌ten, Bd. 2.2, a. a. O., S. 519–531, hier S. 524. 45 Ders.: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1. Fassung, 1935), in: ders., Gesammelte Schrif ‌ten, Bd. 1.2, a. a. O., S. 431–469, hier S. 460.

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zukommt, aber mit Propaganda hat das nicht viel zu tun. Denn ob nun kalkuliert oder technisch selbstverständlich: die artikulierten Affekte des Publikums erfüllen die organisierende Funktion technologisch moderner Kunstwerke, weil das Publikum in ihnen eine unmittelbare öffentliche »Stellungnahme zum Vorgang« 47 praktiziert. In den verschiedenen Fassungen des Kunstwerkaufsatzes hat Benjamin diesen Aspekt dann im kollektiven und performativen Kontext des Kinopublikums reflektiert. Der für politische Handlungen entscheidende Rezeptionstyp ist demzufolge der einer »simultanen Kollektivrezeption«. Er zeichnet sich dadurch aus, dass das »Publikum im Rezipieren [von Kinofilmen] sich selbst organisiert und kontrolliert«.48 Ein solches Publikum betreibt im thematischen Rahmen der Kunstrezeption offenbar doch eine »Entbindung struktureller Gewalt«, insofern es die Leitlinienkompetenz der institutionalisierten Kunstkritik umgeht und Formen einer kunstrezeptiven Praxis ausübt, die expertenhaf‌te Teilnahmebedingungen an öffentlichen Diskursen ignoriert, ohne zugleich thematische Teilnahmebedingungen zu missachten. Denn Benjamin hat mit seinen Überlegungen zum Rezeptionsverhalten des Massenpublikums und mit dem Hinweis auf dessen affektive Artikulationen ein Unterscheidbarkeitskriterium trivialrezeptiver Artikulationen impliziert. Die thematische Angemessenheit spontaner Gefallenskundgaben lässt sich aus deren Einbindung in kollektive Rezeptionsvorgänge zwar noch nicht beziehen, wird in ihnen jedoch evident.49 Wo Seel in Argumentationen für »spontane Deutungsversuche« zugleich deren thematisch legitimierende Instanz erblickt, wird nun die spontan verifizierbare Relationalität zum Werk ausschlaggebend. Es gilt also auch weiterhin, dass assoziative und affektive Trivialrezeption unterscheidbar sind. Aber das Unterscheidbarkeitskriterium wird, statt in einer argumentativen Explikation vollzogen zu werden, vom Publikum intuitiv verstanden, während es eine künstlerische Arbeit simultan rezipiert. 46 Ders.: »Der Autor als Produzent«, a. a. O., S. 696. 47 Ebd. S. 698 u. ders.: »Theater und Rundfunk«, a. a. O., S. 775. 48 Ders.: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1. Fassung, 1935), a. a. O., S. 460. 49 Das gilt schon für die interjektiven oder gestischen Vorstufen von Gefallenskundgaben. Wenn beispielsweise meine Kino-Sitznachbarin angesichts einer brutalen Filmszene die Hände vors Gesicht schlägt, so ist dies unmittelbar als ästhetisch relevante Reaktion zu verstehen, das popcornschmatzende Kaugeräusch eines Hintermannes oder die flüsternde Begrüßung zu spät Kommender dagegen nicht.

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Der Einwand, dass durch diese affektive Beteiligung am Rezeptionsverlauf ästhetisch irrelevante, beliebige Faktoren der Kunstrezeption implementiert werden, lässt sich also widerlegen. Die simultane Kollektivrezeption bezieht sich nur dort auf Film und spontane Äußerungen zugleich, wo diese als relative, d. h. auf den Film bezogene auch spontan verifiziert werden können. Andere Äußerungen disqualifizieren sich selbst und werden deshalb unmittelbar als Störungen des ästhetischen Erlebnisses ausgemacht. Das Publikum weiß hier intuitiv immer schon, welche seiner Reaktionen für die Rezeption relevant sind, weil es einerseits über das simultane Filmerlebnis die Relationalität der Äußerungen zum Werk wie ein Kriterium ihrer Angemessenheit miterlebt und weil es andererseits die rezeptive Orientierungseignung spontaner Gefallenskundgaben dann versteht, wenn sich private Wertungen in ihrem Kontext positionieren lassen.50 Die Gefahr einer Diskursverweigerung durch einen hermetisch abgeschlossenen Subjektivismus privatistischer Kunstrezeption ist also keine unabwendbare Konsequenz fehlender Vermittlungsarbeit. Obwohl das Publikum keinen kunstkritisch explikativen Diskurs praktiziert, liefert es doch thematisch relevantes Material für einen solchen. Nicht nur in der Seel’schen Theorie sind die artikulierten »Antriebe der ästhetischen Lust« 51 eine notwendige Bedingung kunstkritischer Debatten. Auch jede geschickte Kunstkritik beruft sich für ihre argumentativen Zwecke auf das registrierte Publikumsverhalten und versucht, es in eigener Absicht zum Zeugen zu erheben. Diesen legitimationsstrategisch instrumentalisierten Rekurs auf die Publikumsreaktion hat Benjamin direkt in das kollektive Rezeptionsverhalten selbst integriert. Dass das Erlebnis des Kinofilms simultan zu einem reflexiven Bezug auf die Pluralität des Publikums geschieht, gibt den Artikulationen einen implizit politischen Status. Es geht bei der Benjamin’schen »Stellungnahme zum Vorgang« um eine affektive Beteiligung, die öffentlich im Kontext anderer affektiver Beteiligungen geschieht und dadurch tendenziell auf eine politisch mögliche Organisation der modernen, ›zerstreuten‹ und ›schockierten‹ Erlebnisgemeinschaft hinweist. Der (von der Theorie geforderte) verbindliche Rahmen ist dabei die Angemessenheit der Reaktionen auf das ästhetische Ereignis. 50 Dass ich in der retrospektiven Nachbesprechung eines Kinobesuchs häufiger sage: »warum an dieser Stelle alle lachen mussten, leuchtet mir überhaupt nicht ein«, zeigt doch, dass ich dieses Lachen im Moment des Erlebens als thematisch relevante, ästhetische Wertäußerung registriert habe, weil sie für die Ausdifferenzierung meines persönlichen Erlebens im pluralen Publikumskontext relevant ist.

WAS TUN DIE EXPERTEN DER PRAXIS ?

5. Ausblick Kann die von Benjamin beschriebene Kunstrezeption einen ›Ausweg aus den Aporien der Moderne wenigstens andeuten‹? Stellt sie ein Modell bereit, das auch in anderen Geltungssphären und jenseits der Kunst praktikabel ist? Um eine solche Übertragbarkeit zu prüfen, fehlt hier der Platz. Geklärt werden sollte nur, von wo die Suche ausgehen könnte, welches Modell der Kunstrezeption ihr entspräche. Es ist eine Benjamin’sche Erkenntnis, dass wir uns auf der Basis eines trivialen Gebrauchs mit Expertenprodukten auch thematisch angemessen befassen können. Sie korrigiert ein Missverständnis, das darin besteht, das Experten-Laien-Verhältnis in der kulturellen Moderne ausschließlich über ein defizitär verlaufendes Wissensgefälle zu definieren. Denn obwohl dieses Gefälle faktisch vorliegt, wird das in Frage stehende Verhältnis zusätzlich und mindestens ebenso deutlich durch eine Vielzahl eigenmächtiger, trivialer Ingebrauchnahmen von Expertenprodukten (Auto, Computer, Waschmaschine, Fotoapparat, Smartphone etc.) bestimmt und erweist sich ausgerechnet in ihnen als nicht mehr dichotomisches. Nur dort, wo eine beidseitige Bestimmung dieses Verhältnisses reduziert gedacht wird oder reduziert auf‌tritt, etwa wenn die wissens­ fixierte Einseitigkeit auch institutionell etabliert ist, ergeben sich die Aporien, sowie jene Momente strukturalisierter Gewalt, die es laut Habermas politisch zu entbinden gilt. Entbunden werden solche Gewaltmomente aber selbstverständ­ lich nicht schon dadurch, dass die andere modernespezifische Be­ stimmung des Verhältnisses, der triviale Gebrauch expertenhafter Produkte, der ja auch ein bloß konsumtiver Verbrauch sein kann, praktiziert wird, sondern dadurch, dass auf der Basis des Gebrauchs der selbstvermittelnde Kontakt zum Expertenwissen aufgenommen wird. Dies ist der Ort einer ästhetischen Performativität. Die strukturalisierte Gewalt der Institutionen, die sich unter Hinweis auf ihr Wissensmonopol legitimiert, wird durch eine praktizierte Selbstvermittlung der Laien also dort partiell aufgehoben, wo sie sachlich längst enden müsste. Nämlich im praktischen Gebrauch »zerstreuter Examinatoren«, ihrer »taktilen« und »simultanen Kol­ lek­tivrezeptionen«, denen das Potential einer selbstvermittelnden Verständigung zukommt. Da der konsumtiv genießende Verbrauch idiosynkratischer Art ist und die Ingebrauchnahme von Expertentechnologie zuerst und letztendlich nur private Anwendungserfahrungen ermöglicht, sind 51 Seel: »Was ist ein ästhetisches Argument?«, a. a. O., S. 57.

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Konsum-, Hedonismus- und Subjektivismuskritik an der »Selbstmächtigkeit« der Laien nicht unangebracht. Das Beispiel der Kunstrezeption zeigt aber, dass es für die Zulassung zu den Expertendiskursen gleichwohl keine andere Bedingung geben sollte, als die der thematischen Angemessenheit. Für sie sind die institutionellen Qualifikationen der Sprecher aber irrelevant, weil nur der Sachgehalt ihrer Rede und ihrer öffentlich präsenten Reaktionen entscheidend ist. Deshalb führt die von Habermas vertretene bildungstheoretische Option, die eigentlich eine expertengemäße Nachwuchsförderung, wenn auch mit Personalwechsel, meint, ebenso in die »strukturelle Gewalt der Institutionen« wie das als diskursive Teilnahmebedingung formalisierte Selbstmissverständnis der Experten. Die Alternative besteht darin, die Ambivalenz jener Freiheit, die sich in der kulturellen Moderne über Säkularisierung und Liberalismus allenthalben durchgesetzt hat, als kulturelle Voraussetzung unserer Diskurse anzuerkennen. Dass solche öffentlichen Prozesse wie beispielsweise die in der kollektiven Kunstrezeption artikulierten »Stellungnahmen zum Vorgang« nicht auf einem expertenspezifischen (kunstkritischen) Organisationsniveau verlaufen, kann ihnen genauso zum Verhängnis werden, wie es die Voraussetzung eines Erfolges ist, den etablierte Expertendiskurse strukturell nicht mehr erreichen können. Diese Ambivalenz lässt sich freilich nicht in Garantien überführen. Trotzdem stellt der konstatierte Mangel ebenfalls eine Chance bereit: soziale Interaktion mit Diskursen, die thematisch relevant werden können, die noch nicht in der Hermetik der Expertensphäre kontextualisiert sind und deshalb einige ihrer politischen Nebenwirkungen (formalisierte Mitspracherechte) rechtmäßig und sinnvoll unterwandern. Das ist der politisch emanzipative Aspekt am vermeintlichen Subjektivismus unangeleiteter Laien, der, man muss es so deutlich sagen, auch in der expertenhaf‌ten Kunstrezeption nicht verwirklicht ist. Es handelt sich gleichermaßen um ein Potential der Kunst als auch um ein Fundament des Politischen, wie es sich von der bloßen Anwesenheit der Körper auf den Straßen der Polis herschreibt.

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Literatur Benjamin, Walter: »Zur Lage der russischen Filmkunst« (1927), in: ders., Gesammelte Schrif‌ten, Bd. 2.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff ., S.  747–751. — »Erwiderung an Oskar A. H. Schmitz« (1927), in: ders., Gesammel­te Schrif‌ten, Bd. 2.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff., S. 751– 755. — »Reflexionen zum Rundfunk« (1930), in: ders., Gesammelte Schrif‌ten, Bd. 2.3, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff., S. 1506  f . — »Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht.« (1931), in: ders., Gesammelte Schrif‌ten, Bd. 2.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff., S.  519–531. — »Theater und Rundfunk« (1932), in: ders., Gesammelte Schrif‌ten, Bd. 2.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff., S. 773–776. — »Die Zeitung« (1934), in: ders., Gesammelte Schrif‌ten, Bd. 2.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff., S.  628  f . — »Der Autor als Produzent« (1934), in: ders., Gesammelte Schrif‌ten, Bd. 2.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff., S. 683–701. — »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1. Fassung, 1935), in: ders., Gesammelte Schrif‌ten, Bd. 1.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff., S. 431–469. — »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (3. Fassung, 1939), in: ders., Gesammelte Schrif‌ten, Bd. 1.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff., S. 471–508. — »Was ist das epische Theater?« (1939), in: ders., Gesammelte Schrif­‌ten, Bd. 2.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977  ff., S. 532–539. Habermas, Jürgen: »Protestbewegung und Hochschulreform« (1969), in: ders. (Hg.), Kleine politische Schrif‌ten (I–IV), Berlin: Suhrkamp 1981, S. 265–302. — »Demokratisierung der Hochschule – Politisierung der Wissenschaft?« (1969), in: ders. (Hg.), Kleine politische Schrif‌ten (I–IV), Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1981, S. 186–196. — »Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität W. Ben­ ­jamins« (1972), in: ders., Politik, Kunst, Religion, Stuttgart: Re-­ clam 1989, S. 48–96. — »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« (1980), in: ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Leipzig: Reclam 3 1994, S. 32–55. — »Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik« (1982), in: ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Leipzig: Reclam 3 1994, S. 75–105.

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— »Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur« (1985), in: ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 219–248. — »Entgegnung« (1986), in: Axel Honneth, Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, Frankfurt/M.: Suhrkamp 3 2002, S. 327– 406. Kracauer, Siegfried: Die Angestellten, Leipzig/Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1981. Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. — »Die zwei Bedeutungen kommunikativer Rationalität. Bemerkungen zu Habermas’ Kritik der pluralen Vernunft« (1986), in: Axel Honneth, Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 3 2002, S. 53–73. — »Was ist ein ästhetisches Argument?«, in: Philosophisches Jahrbuch 94, Freiburg/B.: Karl Alber 1987, S. 42–63.

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Jörg Sternagel Pathos des Schauspielers. Dreimal Chaplin Seine wichtigste Eigenschaft als Filmschauspieler ist der Takt. Er zeigt mehr, als er spielt. Ein Augen­zwinkern, eine Bewegung des Knies ge­nügen ihm fast immer, um uns sofort ver­stehen zu lassen, worum es geht. […] Men­sch­lichkeit und Realität sind die Worte, die das Werk und die Person Chaplins charakterisieren. Philippe Soupault (»Charlie Chaplin«)

Wir kennen nur einen kleinen Ausschnitt des Lebens, und wir kennen nur diesen. Paraphrasieren wir Philippe Soupault, nehmen wir ihn beim Wort und nähern uns mit ihm vom Surrealismus her diesem kleinen Ausschnitt, einem Ausschnitt, von dem das Kino uns erlaubt, etwas mehr kennenzulernen. Verlagern wir unsere Aufmerksamkeit daher zu Beginn mit Soupault auf die Kunst von Charles Chaplin (1889–1977), dessen Werk und Person Soupault mit Worten wie »Menschlichkeit« und »Realität« charakterisiert: Chaplin ist auch Filmschauspieler und steht als solcher im Studio, am Set, unter den Scheinwerfern der Projektoren, im Lichte und Sucher der Apparaturen, die seine Bewegungen mitdrehen. »Alles, was er macht, wird minutiös aufgezeichnet. Er darf sich keine Ausrutscher, keinen Schnitzer erlauben.«1 Dabei ist seine wichtigste Eigenschaft als Filmschauspieler der Takt. Chaplin zeigt mehr, als er spielt. Ein Augenaufschlag, minimale Bewegungen der Gliedmaßen und geringe Veränderun-

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gen in der Haltung reichen ihm aus, um uns »sofort verstehen zu lassen, worum es geht.« 2 Das Detail des plötzlichen Lidschlags, die Nuance im langsamen Anwinkeln des Knies und das vorsichtige Neigen des Kopfes sind entscheidend und zeigen genau, was es in diesem Moment, an diesem Ort, im Studio, am Set, in dieser Moment-Aufnahme zu zeigen gibt. Im Hier und Jetzt kennt Chaplin keine überflüssigen Gesten, Raffinesse und Konzentration zeichnen ihn aus. »Bald ist es seine Art zu gehen, bald die, mit seinem Stöckchen zu spielen, bald die, seinen Hut zu lüf‌ten, die uns seine Stimmung anzeigt.« 3

Vorbemerkungen Chaplin ver-führt uns zu der Frage: Was machen Schauspieler mit uns, was machen wir mit ihnen? 4 Wir sehen nicht nur etwas, wir sehen das Gesehene zugleich als Ausdruck eines Sehens. Jedes Fuchteln mit dem Stock und Ziehen des Hutes, das von Chaplin auf der Leinwand vorgenommen wird, ist die Transkription einer Handlung, ist selbst Geste. »Was die Komposition eines Films angeht, so muß man sie nach dem Rhythmus und nicht nach der erreichten Wirkung beurteilen.« 5 Die Aktion des Schauspielers vor der Kamera, die Inszenierung von Handlung, die im Bild gezeigt wird, verleiht der Darstellungsfläche des Bildes selbst »die Körperlichkeit, die Temporalität und ikonische Dichte einer konkreten Situation«, von der jeder Betrachter berührt wird.6 In bild- und tongebender Praxis eröffnet sich ein Handlungspotential und setzt dieses ins Bild, auf die Tonspur: Auch leibliche Erfahrungen und erspielte Aktionen des Schauspielers in alltäglichen, außergewöhnlichen und grotesken Situationen und Bewegungen zeigen sich piktorial, werden im Off gehört.7 Im Widerfahrnis, pathos (πάθος) 186 1 Philippe Soupault: »Charlie Chaplin«, übers. v. Dorothee Kimmich, in: Dorothee Kimmich (Hg.) Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 167. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 In Anlehnung an Gertrud Koch: »Was machen Filme mit uns, was machen wir mit ihnen? – Oder was lassen wir die Dinge mit uns machen?«, in: Ludger Schwarte (Hg.), Bild-Performanz, München: Wilhelm Fink 2011, S. 233  f. 5 Soupault: »Charlie Chaplin«, a. a. O., S. 178. 6 Ludger Schwarte: »Einleitung: Die Kraft des Visuellen«, in: ders. (Hg.) Bild-­ Performanz, München: Wilhelm Fink 2011, S. 14–15. 7 Leibliche Erfahrungen und erspielte Aktionen changieren zwischen Aktivi-

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des Schauspielers ereignen sie sich mit Blick auf sinngebende Setzungen im Bildlichen und auf der Tonspur und nehmen teil an der transformativen Kraft visueller und auditiver Präsenz.8 Als Widerfahrnis, zustoßendes Ereignis, verstehen wir pathos demnach in seiner konstitutiven Bedeutung, im Sinne eines Anstoßes und Auslösers, vom Schauspieler ausgehend, angehend, auf‌fordernd.9 Stimme, Bewegung, Mimik und Gestik beanspruchen und rücken, in einem Vorverständnis der Rolle, vor einer intellektuellen Konstruktion oder Identifikation, in das Zentrum der Wahrnehmung.10 Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen entfalten sich in ihrer Folge entlang medialer Inszenierungen von Handlungen, die im Bild sichtbar gemacht werden, als eine Weise des Bildzugangs: Chaplin eröffnet einen unbestimmten Phänomenbereich affektiver Art, setzt die Wahrnehmung in Szene, wird Ereignis des Wahrnehmbaren, gibt Impulse und fungiert als Wegbereiter des Ästhetischen. Der Schauspieler setzt sich ins Verhältnis zwischen Darstellen und Darzustellendem, zeigt sich, auch in unwiderstehlicher Komik, ist kreatives Geschehen, Aisthesis, bietet Orientierung und erweitert ästhetische Erfahrungen um ethische Motive, indem er Fragen nach der Art und Weise unseres Lebens und den auf uns wartenden Ansprüchen stellt. Chaplins Präzision des Anzeigens konzentriert Erscheinungen des Lebens, fasst sie in andauernder Anstrengung zusammen und offenbart damit nach Soupault den eigentlichen Sinn des Kinos, diese Erscheinungen in Ausschnitten zu erfassen. Im Zeigen in der Welt des Alltags und am Drehort sowie auf der Leinwand ist Chaplin Antwortender, hypokrites (ὑποκριτής), und führt uns in ein responsives Zwischengeschehen, in dem Mimesis und Alterität die Hauptrollen spielen: Als Schauspieler antwortet

tät und Passivität. Handeln impliziert auch ein Nicht-Handeln, Tun ein NichtTun, Tätig-Werden ein Untätig-Werden. 8 Vgl. einführend zur Sinnentstehung im Kino: Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 287–298. 9 Wir folgen hier den Überlegungen von Kathrin Busch und Iris Därmann zu Fragen nach der Entstehung von Performativen. Vgl. Kathrin Busch und Iris Därmann: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Begriffs, Bielefeld: transcript 2007, S. 7–31, speziell S. 20–24. 10 Vgl. weiterführend zur leiblichen Aktion im Film und zum Bild-Akt des Films die Einleitung von Lesley Stern und George Kouvaros: »Introduction: Descriptive Acts«, in: dies. (Hg.), Falling for You. Essays on Cinema and Performance, Sydney: Power 1999, S. 2, 3.

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er auf seine Mitspieler am Set, im Bild und für die Zuschauer im Kinosaal und vor dem Bildschirm, in der Lebenswelt.11 Chaplin ist nicht nur Akteur, sondern auch Patient, der sich in wechselseitigen Momenten der Überraschung und des Zuvorkommens wiederfindet. »Was sich ereignet, kann unter bestimmten Bedingungen als Handlung verstanden werden, es ist aber mehr und anderes als das.« 12 Chaplin geschieht, was ihm die Situation im Studio oder in der Lebenswelt abverlangt. Auch entäußert er sich und gibt sich selbst preis. Mit Chaplin, durch ihn, erfolgen in diesem Sinn Entdeckungen im performativen Chiasmus von Ereignis, Pathos und Responsivität, die auch in mimetischen Prozessen einen Zugang zu anderen Menschen eröffnen und Offenheiten sichtbar machen, die uns über den Reichtum leiblicher Erfahrung und die Andersartigkeit der Anderen versichern. Verschieben wir unsere Aufmerksamkeit von diesen Vorbemerkungen zu drei Beispielen der Auseinander-Setzung mit Chaplin und seiner Kunst, zu Erscheinungen von Menschlichkeit und Realität, Sein und Existenz. Dreimal Chaplin heißt, Chaplin zusammen mit Theodor W. Adorno und Emmanuel Levinas, die beide von ihm berührt worden sind, zu begegnen: beim ersten Mal mit Adorno, leibhaftig, auf einer Feier am Strand von Malibu, nahe am Grauen; beim zweiten Mal mit Levinas, im und vor dem Bild, in Lichtern der Großstadt, in unerbittlicher Anwesenheit des Seins; beim dritten Mal wieder mit Adorno, nicht mehr leibhaftig erfahren, aber in Reflexionen über Existenz und Schauspielkunst beschrieben, prophezeit von Sören Kierkegaard, als gehend Kommender: 13

188 11 Wir gehen etymologisch an dieser Stelle zurück auf die antike Bedeutung des Schauspielers als Antwortender, in der Schauspieler wie Thespis (6. Jahrhundert v. Chr.) auf den Chor antworten, mit ihm in Dialog stehen. Die weiteren Bedeutungen des Schauspielers als Mensch, der eine Rolle mimt, eine Figur erspielt, für einen Typus einsteht, re-präsentiert, schließen sich daran an. 12 Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, a. a. O., S. 274–275. 13 Die folgenden Überlegungen zu Levinas und Adorno basieren in Teilen auf unserem Vortrag »Sichtbarkeiten des Seins« im Panel »Kraft der Bilder« auf der von Iris Därmann organisierten Tagung »Kraft der Dinge« der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung an der Humboldt-Universität zu Berlin vom 30.  9.  2011.

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Chaplin ( 1 ) – Nahe am Grauen Theodor W. Adorno hat Charles Chaplin persönlich getroffen (Emmanuel Levinas unseres Wissens nach nicht) und ist während dieses Treffens, im Anschluss an eine Verabschiedung des Schauspielers Harold Russell (1914–2002), von Chaplin nachgeahmt worden, ein Erlebnis, von dem er in der Neuen Rundschau in Frankfurt/M. 1964 folgendermaßen berichtet: Wir waren, mit vielen anderen zusammen, in einer Villa in Malibu, am Strande außerhalb von Los Angeles, eingeladen. Einer der Gäste verabschiedete sich früher, während Chaplin neben mir stand. Ich reichte jenem, anders als Chaplin, ein wenig geistesabwesend die Hand und zuckte fast zugleich heftig zurück. Der Abschiednehmende war einer der Hauptdarsteller aus dem kurz nach dem Krieg berühmt gewordenen Film The Best Years of Our Life [William Wyler, 1946, Ergänzung J.  S.]; er hatte im Krieg die Hand verloren und trug an deren Statt aus Eisen gefertigte, aber praktikable Klauen. Als ich die Rechte schüttelte, und sie auch noch den Druck erwiderte, erschrak ich aufs äußerste, spürte aber sofort, daß ich das dem Verletzten um keinen Preis zeigen dürf‌te, und verwandelte mein Schreckgesicht im Bruchteil einer Sekunde in eine verbindliche Grimasse, die weit schrecklicher gewesen sein muß. Kaum hatte der Schauspieler sich entfernt, als Chaplin bereits die Szene nachspielte. So nah am Grauen ist alles Lachen, das er bereitet und das einzig in solcher Nähe seine Legitimation gewinnt und sein Rettendes. Meine Erinnerung daran, und der Dank, sollte mein Glückwunsch zum fünfundsiebzigsten Geburtstag sein.14 Der Exilant lässt in seinem inoffiziellen Glückwunschschreiben an Chaplin ein Begreifen der Kunst Chaplins erkennen, das Überlegungen zum Berührt-Werden durch diesen, aber auch andere Schauspieler anregt. Der »empirische Chaplin«, wie Adorno den realen, ihm persönlich begegnenden Künstler an anderer Stelle in dem zitierten Artikel auch nennt, vermag mit seiner Nachahmung Adornos in der besagten Szene einen Sinn zu erspielen, einen Sinn, der im Ausdruck Chaplins deutlich wird, der sich auf seinem 14 Theodor W. Adorno: »In Malibu«, Neue Rundschau, 75. Jahrgang, 3. Heft, 1964, wieder abgedruckt in: Gesammelte Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen, Ohne Leitbild, Bd: 10.1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 365–366.

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Gesicht, mit seiner Mimik, in seinen Gesten und Bewegungen zeigt. Chaplin wiederholt für Adorno mit seinem mimetischen Spiel, was dieser vorher erlebt hat, Chaplin erschafft mit seinen leiblichen Ausdrucksmöglichkeiten eine Situation, die Adorno anrührt, berührt, eine Situation, die sich der vorherigen bemächtigt und die Verabschiedung Harold Russells noch einmal aufnimmt, sie sichtbar und erfahrbar macht und Adornos Lachen vorbereitet – dieses Lachen freisetzt, das ihm im Halse stecken bleibt, denn es erweist sich als ein Lachen nahe am Grauen, in Gewahrung der Kriegsverletzung, infolgedessen Adorno seine eigene Scham noch einmal vorgeführt oder besser: aufgeführt bekommt, von der er im Druck mit der künstlichen Hand Russells erfasst wurde und die er selbst in der Folge überspielte. Das Lachen, das Chaplin ermöglicht, ist aufgrund seiner Nähe zum Grauen ein legitimes, denn es lässt die Situation noch einmal auf‌leben, sie nachvollziehbar machen; das Lachen ist daher auch zugleich ein rettendes, denn es mindert den Schrecken der Situation, es erleichtert, obwohl es gewahrt, und Adorno begreift die mimischen Fähigkeiten Chaplins als geistesgegenwärtig, als allgegenwärtig. Sie vermögen in letzter, utopischer und alles verwandelnder Konsequenz von der Last des Man-selbstSeins zu befreien. »Es ist, als bildete er das erwachsene, zweckvolle Leben, das Rationalitätsprinzip selbst zurück in mimetische Verhaltensweisen, und versöhnte es dadurch.« 15 Adorno nähert sich mithilfe von Chaplin und der am eigenen Leib erfahrenen Situation seinem Denken der Mimesis zwischen Konstruktion und Rationalität an, in dem die Mimesis in der Genese des Menschen im Zivilisationsprozess einen sinnlichen Zugang zum Gegenüber schafft. »Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert.« 16 Adorno versteht Mimesis als eine Bewegung nach außen, in ihr wird eine Brücke vom Subjekt zum Außen geschlagen, auf der sich die Grenze zwischen Subjekt und Objekt verflüssigt.17 Die mimetische Bewegung wird damit prozesshaft aufgefasst und stellt einen Bezug zum Anderen her, der nicht einverleibt wird, sondern dem sich angeglichen werden muss: Der Eigenwert des Gegenüber rückt 15 Ders.: »Zweimal Chaplin«, a. a. O., S. 365. 16 Ders.: »Goldprobe« (1952), in: ders. (Hg.), Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, wieder abgedruckt in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 176. 17 Vgl. ders.: »Dialektische Epilegomena. Zu Subjekt und Objekt«, unveröffentlicht, abgedruckt in: Kulturkritik und Gesellschaft II, Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 741–758, speziell S. 742–743.

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in den Mittelpunkt. Um diesem gerecht zu werden, »muß das Subjekt sich von Formen des Besser-wissen-Wollens, von Halbbildung freimachen und sich für das Nicht-Subsumierbare, Nicht-Identische öffnen.« 18 Genau diese Erfahrungen werden in Augenblicken wie auf der Feier am Strand von Malibu sichtbar gemacht, in ihnen verdichtet sich Vielfältiges und Heterogenes, erfolgt eine Außersich-Setzung der Vernunft selbst, in der Adorno als Subjekt entmächtigt wird und sein Denken sich über seine Grenzen hinaus öffnen muss.19 Adornos Zurückschrecken in der Erwiderung der Verabschiedung Russells und das Nachspielen der Szene Chaplins sind leibhaftiges Geschehen, haben somatische Seiten, in der Chaplins Mimesis als Korrektiv fungiert, er sich als Schauspieler dazwischen drängt und sein Gegenüber beansprucht. Adornos Schutz durch Schrecken und Chaplins Nähe zum Grauen gehen Hand in Hand. Adornos nicht aktives Innehalten, seine passive Moment-Aufnahme charakterisieren in einer Bewegung seinen mimetischen Impuls. Adornos unmittelbare Regung, seine ins Körperliche gehende Reaktion und Chaplins direkt anschließendes Verhalten, seine präzise Gabe von Gesten stehen in einem Spannungsverhältnis, das sich zwischen idiosynkratischer Reaktion und nachträglicher Reflexion verorten lässt, jedoch mit dem Anliegen, die Situation selbst genauer in den Blick zu nehmen, um die Materialität der menschlichen Existenz, die Leiblichkeit in ihrer Verflechtung zwischen Konstituierendem und Konstituiertem zu integrieren, ihren asymmetrischen Charakter herausarbeiten zu können: 20 Im Händedruck offenbaren sich manuelle Relationen und leibliche Erlebnisstufen, die verschiedene Verhaltensweisen veranschaulichen und unterschiedliche Bezugsebenen herstellen, die nicht ohne den Anspruch des Anderen, Russell, zu denken sind. Der Austausch mit dem Anderen findet nicht auf einer Ebene statt, 18 Gunter Gebauer und Christoph Wulf: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek/H.: Rowohlt 21998, S. 396. 19 Der Leib, insbesondere der leidende Leib, findet bei Adorno in diesen Kontexten durchaus Beachtung. Es unterbleibt bei ihm jedoch eine eigene Thematisierung, denn auch seine Dissertation über Husserl hebt vor allem auf die Rolle des Bewusstseins ab. Vgl. dazu einführend Käte Meyer-Drawe: »Leib, Körper«, in: Christian Bermes, Ulrich Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg: Meiner 2010, S. 208. 20 Vgl. Christian Grüny: »Theodor W. Adorno – Soma und Sensorium«, in: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck UTB 2012, S. 256–258.

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da der Andere Adornos Erwartungen und Vorstellungen zuvorkommt: Das Geben seiner Hand bedeutet bereits, dass er gibt, was nicht allein zu ihm gehört.21 Es ist schon durch den Anderen in Anspruch genommen worden und er kann nur im Antworten zu ihm Stellung beziehen.22 Hierbei überkommt ihn die Fremdheit des Anderen, auch die Chaplins, sie überrascht ihn, stört seine Intentionen und Eigenheitssphäre, bevor er sie auf eine bestimmte Weise versteht.23 Wir bewegen uns von hier an mit unseren Protagonisten zwischen Mimesis und Alterität, in einem responsiven Zwischengeschehen.

Chaplin (2) – Die unerbittliche Anwesenheit des Seins In seiner Frühschrift De l’évasion von 1935 schärft Emmanuel Levinas mithilfe eines Beispiels aus der Kinogeschichte, mithilfe Charles Chaplins und seinem Spiel mit einem Ding, einer Requisite unseren Blick auf das Sein, um sukzessive nach einer »Ausflucht« zu suchen, einem »Ausweg aus dem Sein«.24 Levinas thema­tisiert auf seinem Weg Sichtbarkeiten des Seins, die er kraft der Filmbilder, im Zusammenspiel zwischen Fotografie, Bewegung, Projektion und Ton, kraft des Spiels mit einem Gegenstand, einer Tril-

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21 Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 466–477: Sprachkörper, Körpersprache und leiblicher Ausdruck. Siehe dazu auch unsere einführenden Versuche »Bernhard Waldenfels – Responsivität des Leibes«, in: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck UTB 2012, S. 123–125. 22 Andere Annäherungen an die Situation in Malibu bietet Jürgen Habermas. Er entscheidet sich für einen metaphorischen Zugang, in dem die »metallene Klaue der Unterarmprothese« Russells, die »Kälte des Metalls« der Prothese und die »sprachlose Mimesis des großen Clowns« Chaplin Motive für die Sprache Adornos und für »seine beschwörenden Analysen« bieten. Vgl. Habermas: »Theodor W. Adorno. Urgeschichte der Subjektivität und verwilderte Selbstbehauptung«, in: ders. (Hg.), Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 167–179, wieder abgedruckt in: ders., Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen, Stuttgart: Reclam 1986, S. 33  f. 23 Inspiriert von Habermas verlagert Gunzelin Schmid Noerr, Student Adornos, den Schwerpunkt auf den Händedruck als eine »Art Brücke zwischen verschiedenen Bereichen kommunikativen Handelns«. Vgl. Schmid Noerr: »Adornos Erschaudern. Variationen über den Händedruck«, in: Willem van Reijen, Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Vierzig Jahre Flaschenpost: ›Dialektik der Aufklärung‹ 1947–1987, Frankfurt/M.: Fischer 1987, S. 236–238. 24 Wie der Titel der deutschen Übersetzung Alexander Chucholowskis von 2005 vorschlägt.

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lerpfeife, genauer, einer Tröte durch den Filmschauspieler, erfährt. Durch das, was Chaplin vor ihm in dem Film City Lights sichtbar und hörbar macht, durch das, was Chaplin in diesem Film von 1931, in dem er selbst Regie geführt hat, in seiner Rolle als Charlot erspielt. Levinas bietet mit seiner ausgewählten Szene aus »Lichter der Großstadt«, so der deutsche Titel des Films, Überlegungen zum Schauspieler im Bild, dessen Spiel mit einer Requisite, geradezu aus dem Bild heraus, unseren Blick auf das Sein schärft und damit die Existenz ins Blickfeld rückt, im Rückgang auf leibliche Erfahrungen, im Rückgang deshalb, weil das Sein in seiner Faktizität selbst durchdacht wird und in der Erfahrung dieses Seins daher nur die »Entdeckung der Unwiderruf‌barkeit unserer Präsenz« zählt.25 Bereits in der Frühschrift Ausweg aus dem Sein gerät der Leib in den Fokus der Aufmerksamkeit und mit dem Leib die Selbsterfahrung, in der das Bei-Sich-Sein auf eine »Unerbittlichkeit der Existenz« (la brutalité de l'existence) verweist,26 in der die Anwesenheit des Ich bei sich selbst »kostet und lastet«.27 Das Ich ist damit kein sich selbst genügendes, es ist vielmehr ein nicht absolut setzbares, ein möglicherweise in sich zerrissenes, ein sicher uneinheitliches, ein auf seine eigenen Möglichkeiten und Realitäten oftmals zurückgeworfenes, das sich eines »inneren Friedens« in der Welt, in der Welt mit Anderen nicht sicher sein kann. Mit anderen Worten: Die westliche Philosophie, wie Levinas vermerkt, Idealismus (Jean-Jacques Rousseau) und Bewusstseinsphilosophie (Edmund Husserl), gehen über die »Vorstellung des Seins« (l'image de l'être), wie es uns die »Gegenstände darbieten«, nicht hinaus; diese sind und das Sein behauptet sich als ein sich absolut selbst genügendes, »ohne sich auf etwas anderes zu beziehen«.28 Mehr noch: Das Bewusst-Sein, das alles nur aus sich heraus begreift, als Akte, als Denken und Handeln seiner selbst, findet sich mit sich selbst ab und stößt so an Grenzen, die weder die eigene Existenz mit ihren auch passiven leiblichen Erfahrungen noch die Andere oder den Anderen mit ihren jeweils ihnen eigenen Erfahrungen berücksichtigen. Levinas argumentiert gegen ein Primat des Subjekts, gegen das Vergessen der Andersheit.29 Levinas plädiert für ein Denken von den Anderen her, für ein (An-)Erkennen intersubjektiver 25 Vgl. Emmanuel Levinas: Ausweg aus dem Sein (1935), übers. v. Alexander Chucholowski, Hamburg: Meiner 2005. 26 Ebd., S.  55. 27 Ebd., S.  9. 28 Ebd., S.  7. 29 Vgl. Thomas Bedorf: »Emmanuel Levinas – Der Leib des Anderen«, in: Em-

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Beziehungen und leiblicher Erfahrungen, auch solchen, die sich über Akte und Handlungen nicht beschreiben lassen, wie unter anderem die affektiven, eher passiven Erfahrungen des Ekels und der Scham, der Scham, die »immer in den Augenblicken« auf‌tritt, »in denen es uns nicht gelingt, unsere Nacktheit zu vergessen«.30 Die Nacktheit ist an dieser Stelle zunächst eine körperliche Nacktheit: Ich bin unbekleidet und meine Scham resultiert aus dem Blick des Anderen, jedoch nicht nur, denn sie erweist sich auch als Scham vor mir selbst, als »ungemein persönliche Angelegenheit«, als das vorhin bereits erwähnte Bei-Sich-Sein, mit dem die Nacktheit auch als eine Nacktheit der Existenz, als eine Nacktheit der unerbittlichen Existenz gedacht wird. Nach Levinas hängt daher die Scham vom Wesen unseres Seins selbst ab, von seiner Unfähigkeit mit sich selbst zu brechen. Überlegungen wie diese verknüpft Levinas immer wieder mit Beispielen künstlerischen Schaffens und es ist in diesen Passagen der Schrift vor allem Charles Chaplin, der dieses Sein nach Levinas sichtbar und hörbar macht, wie in der von Levinas vermeinten Szene einer weiteren Feier:

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Abb. 1: C IT Y L IGHTS (Charles Chaplin, 1931, United Artists)

manuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck UTB 2012, S.  68  f. 30 Levinas: Ausweg aus dem Sein, a. a. O., S. 39.

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Abb. 2: C IT Y L IGHTS (Charles Chaplin, 1931, United Artists)

Emmanuel Levinas, De l’évasion (Ausweg aus dem Sein): »Die Pfeife, die Charlie Chaplin in ›Lichter der Großstadt‹ verschluckt, macht den Skandal der unerbittlichen Anwesenheit seines Seins offenkundig; wie beim Aufnahmegerät, das es ermöglicht, die unmerklichen Äußerungen einer Anwesenheit herauszuhören, die der legendäre Anzug von Charlot im übrigen kaum zu verbergen vermag« (S. 43).

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Abb. 3: C IT Y L IGHTS (Charles Chaplin, 1931, United Artists)

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Abb. 4: C IT Y L IGHTS (Charles Chaplin, 1931, United Artists)

Mithilfe der Pfeife, der Tröte erspielt Chaplin in dieser Szene das, was Levinas mit beschämender Nacktheit meint: es stellt sich im Verlautbaren der Pfeife die Scham ein, weil Chaplin nicht mehr verbergen kann, was er verbergen möchte; es äußert sich die Scham, weil es ihm unmöglich ist, vor sich zu fliehen, um vor sich selbst zu verbergen, dass er an sich selbst gekettet ist, dass sein Ich der Anwesenheit seiner selbst gnadenlos ausgesetzt ist. Wir haben es hier mit einer Bloßstellung seines Seins zu tun, seiner »tiefsten Intimität«, seiner »unerbittlichsten Äußerung«, in der selbst der Anzug nicht mehr verbergen kann, was er verdecken soll, die Armut, die letztlich durch die Pfeife doch die Nacktheit einer Existenz durchscheinen lässt, die unfähig ist, sich zu verbergen.31 Es ist 196

31 Auch Siegfried Kracauer thematisiert diese Szene und fragt: »Aber was kann er tun gegen das zwangsläufige innere Pfeifchen? Wie er, mitten im Pfeifen, durch ein bedauerndes Achselzucken oder gar durch betonte Beifallsbezeugungen auszudrücken sich bemüht, daß nicht eigentlich er, sondern nur das Pfeifchen die Schuld an der Störung trägt: das ist von einer schlechterdings unwiderstehlichen Komik. Die Reihe der Episoden, die allesamt das Mißverhältnis zwischen dem Vagabunden betreffen, der ein Mensch ist, und der Welt, die oft unmenschlich ist, könnte noch lange fortgesetzt werden«. Vgl. Siegfried Kracauer: »Charlie Chaplin: Lichter der Großstadt« (1931), in: Dorothee Kimmich (Hg.), Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 127. Ebenso ließe sich die Reihe der Künstler und Philosophen, die über Chaplin schreiben, lange fortsetzen. Sie reicht von den hier diskutierten über Hannah Arendt, Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Franz Kafka bis zu Sergej Eisenstein und Jan Mukarovsky. Vgl. auch den von Dorothee Kimmich herausgegebenen Sammelband.

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sicherlich auch die Visualisierung der Sorge um eine verbergende Kleidung, die Levinas an der Szene, an diesem Film berührt, denn diese Sorge diskutiert er in Vorbereitung auf die zitierte Passage zu Chaplin als eine, die alle Äußerungen unseres Lebens, unserer Handlungen und unserer Gedanken betrifft und um die es im Film auch durchgängig geht: Denn Chaplin erspielt hier die unwiderruf‌liche Existenz der von ihm in unzähligen Filmen geprägten Figur des verarmten Tramps, er macht sichtbar und lässt hören, im narrativen Kontext von City Lights, dass dieser dort, auf der Feier im Haus des Millionärs nicht hingehört, dass er nie dorthin gehört hat, auch wenn ihn der Millionär zu sich eingeladen hat, eine Geste, die sich im Laufe des Films wiederholt, denn sie wird immer nur am Abend, im Dunkeln, in einem nicht nüchternen Zustand ausgesprochen und am Morgen, im Hellen, umgehend zurückgenommen. Chaplin erspielt die unerbittliche Anwesenheit des Seins kraft einer Requisite, der Pfeife, und macht mit ihr die Anwesenheit hörbar, ohne dass sein Kostüm, der Anzug, der sonst immer zusammen mit Hut und Stock getragen wird, diese verbergen kann. Er entdeckt so für uns im Spiel mit seinen Antagonisten, in der Abfolge Gäste, Taxifahrer, Hunde, Gäste, die Unwiderruf‌barkeit seiner Präsenz, die für uns eine Anwesenheit ohne Gegenwart ist, denn, anders als Adorno, begegnen weder Levinas noch wir Chaplin persönlich, sondern nehmen ihn dort oben auf der Leinwand wahr, wie er mit uns, für uns, im Hier und Jetzt, im Spiel mit einer Requisite, unseren Blick auf das Sein schärft: Ein Sein, für das Chaplin einen Ausweg zeigt, einen Ausweg aus dem Sein, wie ihn Levinas auch versucht. Dieser Ausweg kann die Lust sein, die Chaplin von seiner unerbittlichen Existenz abbringt, sie ermöglicht ein Herausgehen aus dem Sein, wird vom Anderen her gedacht (hier beispielhaft der Anderen, der blinden Blumenverkäuferin, gespielt von Virginia Cherrill), ist Prozess, Affektivität: 32 Unter Berücksichtigung der Kamera, des Drehortes, der Beleuchtung und des Tons, konstituiert Chaplin Qualitäten des Seins. Er trägt und generiert Affekte; er schafft eine ästhetische Wirkung und partizipiert kraft seines Körpers, kraft seines Ausdrucks, kraft der Dinge am nackten Sein: »Es ist das Sein, welches sich entdeckt, das die Scham aufdeckt, enthüllt«.33

32 Vgl. Levinas: Ausweg aus dem Sein, a. a. O., S. 35. Vgl. auch unseren phänomenologischen Versuch über das Antlitz: »›Look at Me!‹ A Phenomenology of Heath Ledger in TH E D AR K K N IGHT «, in: Aaron Taylor (Hg.), Theorizing Film Acting, New York/London: Routledge 2012, S. 93–106. 33 Ebd., S.  43.

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Das Bild mit Chaplin ermöglicht einen Zugang zum nackten Sein. Schauspieler und Zuschauer nehmen am Sein durch das Bild teil. Die künstlerische Praxis macht das Erfassen des Seins möglich und nimmt an der ontologischen Ordnung teil.34 Betonen wir: Der Künstler ist wie der Zuschauer oder der Betrachter dem Sein ausgesetzt. Das Bild verweist auf das Sein. Es ist daher bei Levinas kein Ausdruck des Künstlers.35 Zwar führt das Bild das Ich, auch das Ich des Künstlers, aus sich heraus, jedoch nicht »jenseits der Welt zum Anderen hin, sondern diesseits der Welt zum Sein, woher es kommt.« 36 In einer Skepsis gegenüber dem Bild, in der das Sein in der Welt aufgeht, sich der Andere dagegen entzieht, vom Anderen her gedacht: »Das Ich angesichts des Anderen ist unendlich verantwortlich. Der Andere, der diese ethische Bewegung im Bewußtsein hervorruft, der das gute Gewissen aus der Übereinstimmung des Selben mit sich selbst hinauswirft, dieser Andere enthält eine Steigerung, die über das Maß der Intentionalität hinausgeht.« 37

Chaplin (3) – Ein gehend Kommender

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Wir erinnern uns: Adorno begreift im Anschluss an sein Treffen mit Chaplin dessen mimische Fähigkeiten als geistesgegenwärtig, als allgegenwärtig, die in letzter, utopischer und alles verwandelnder Konsequenz von der Last des Man-selbst-Seins befreien können. Dieses Vermögen Chaplins berührt Adorno bereits Jahrzehnte vorher und er thematisiert es entsprechend in der Frank­ furter Zeitung im Mai 1930 unter dem Titel »Prophezeit von Kierkegaard« 38, indem er sich auf eine frühe Schrift des dänischen Philosophen bezieht, in der Sören Kierkegaard über den Komiker Friedrich Beckmann (1803–1866) aus dem Königstädter Theater in Berlin im Jahr 1841 schreibt: 34 Vgl. Levinas: »Die Bedeutung und der Sinn«, in: ders. (Hg.), Humanismus des anderen Menschen, übers. v. Ludwig Wenzler, Hamburg: Meiner 1989, S. 20–21. 35 Vgl. ders.: »Die Wirklichkeit und ihr Schatten« (1948), übers. v. Alwin Letzkus, in: Emmanuel Alloa (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie, München: Wilhelm Fink 2011, S. 74–75. 36 Pascal Delhom: »Emmanuel Levinas«, in: Kathrin Busch, Iris Därmann (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich. Ein Handbuch, München: Wilhelm Fink 2011, S. 208. 37 Levinas: »Die Bedeutung und der Sinn«, a. a. O., S. 43. 38 Theodor W. Adorno: »Prophezeit von Kierkegaard«, Frankfurter Zeitung, 22. Mai 1930, wieder abgedruckt in: Gesammelte Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen, Ohne Leitbild, Bd. 10.1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 362–363.

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Er kann nicht bloß gehen, sondern er kann gehend kommen. Das ist etwas ganz anderes, gehend zu kommen, und durch diese Genialität improvisiert er zugleich die ganze szenische Umgebung und kann nicht bloß einen wandernden Handwerksburschen vorstellen, sondern er kann wie ein solcher gehend kommen, und zwar so, daß man alles erlebt, daß man vom Staub der Landstraße aus das freundliche Dorf erblickt und seinen stillen Lärm hört, den Fußweg selber, der dort unten am Dorfteich geht, wenn man beim Schmied abbiegt – wo man Beckmann kommen sieht mit einem kleinen Bündel auf dem Rücken, seinen Stock in der Hand, sorglos und unverdrossen.39 Kierkegaard thematisiert Beckmann in Rekurs auf Possen, im Spiel der Übertreibungen, Verwechslungen und Typisierungen, in dem sich der Zuschauer verhalten muss, selbst tätig wird: In handgreif‌licher Wirklichkeit wird der Schauspieler im abstrakten Überhaupt, in der Weite der Abstraktionen zur zufälligen Konkretion eines »Handwerksburschen« oder eines »Clowns« überhaupt.40 Die Selbsttätigkeit des Zuschauers besteht darin, diese Verstellung des Schauspielers zu ergründen, von eigenen Grundsätzen, Interessen und Erlebnissen ausgehend, imaginierend. Es geht darum, die Frage zu beantworten, was der »Clown« sagen will, was es bedeuten würde, wenn man angesichts seiner Possen wehmütig gestimmt oder vor Lachen außer sich sein soll. Jede allgemeine ästhetische Bestimmung scheitert nach Kierkegaard in diesem Geschehen, weil die Wirkung auf der Selbsttätigkeit des Zuschauers, auf seiner Produktivität, auf seiner ethischen Urteilskraft beruht. In der Wiederholung des Theaterbesuchs sättigt sich der Zuschauer, bestätigt sein Selbst im erneuten Urteil. Ästhetisches im Menschen ist nach Kierkegaard das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist. Ethisches ist das, wodurch er wird, was er wird. Ästhetisches Leben wird von Kierkegaard im Gegensatz zum ethischen verstanden: Einem Sich-gehen-lassen im stimmungshaf‌ten Schwebezustand, in genussvoller Selbstbeobachtung steht die Selbsttätigkeit, die Selbstwahl gegenüber, im Ergreifen der Wirklichkeit, in Selbstgebundenheit und Konstitution der Freiheit, geleitet von dem Problem der Existenz:

39 Sören Kierkegaard, zitiert nach Adorno: »Prophezeit von Kierkegaard«, a. a. O., S. 362. 40 Vgl. ders.: Die Wiederholung, Hamburg: Meiner 2000, S. 32–38.

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Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Land man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt das: die Welt? Was bedeutet dieses Wort? Wer hat mich durch seine Tricks in die ganze Sache hereingezogen und läßt mich nun damit allein? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum wurde ich nicht gefragt, warum nicht mit Sitten und Gebräuchen bekanntgemacht, sondern in Reih’ und Glied gesteckt, als wäre ich von einem Seelenverkäufer gekauft? Wie wurde ich Teilhaber an dem großen Unternehmen, das man die Wirklichkeit nennt? Warum soll ich Teilhaber sein? […].41

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In seiner Lehre von der Existenz zeigt sich so im Ergreifen der Wirklichkeit bereits am Beispiel von Beckmann das Entweder – Oder Kierkegaards als Sprung vom ästhetischen zum ethischen Stadium.42 Prophezeit von Kierkegaard, ist nach Adorno damit auch Chaplin ein »gehend Kommender«, der die ganze szenische Umgebung zugleich mit improvisiert, nicht bloß einen Clown vorstellt, sondern wie ein solcher gehend kommt, der gleich »einem Meteor die Welt streift, auch wo er zu ruhen scheint, und die imaginäre Landschaft, die er mit sich bringt, ist dessen Aura, die hier im stillen Lärm des Dorfes zum durchsichtigen Frieden sich sammelt, während er mit Stock und Hut, die ihm gut stehen, weiter wandelt.« 43 Chaplin gibt sich in einer Moment-Aufnahme, die bereits ein Vorher, etwas Vergangenes einschließt und schon ein Voraus, etwas Zukünftiges mitdenkt. Er ist mit Kierkegaard ein Existierender, der momentweise denkt, im Vorher, Jetzt und Voraus. Im Spiel der Partizipialkonstruktionen geht er damit nicht nur durch die Landschaft, sondern zeigt sich zugleich als ein Gehend Kommender und ein Gegangen Kommender.44 Der sich vor den Augen Adornos im Bild bewegende Chaplin stellt mimetische Impulse dar und animiert den Zuschauer Adorno, 41 Ebd., S. 69. Vgl. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (1962), wieder abgedruckt in: ders. (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 24–25. 42 Vgl. Kierkegaard: Entweder – Oder, Teil II, übers. v. Heinrich Fauteck, München: dtv 92007, S. 704–914. Als drittes Stadium kommt das religiöse hinzu. In einer Rangordnung werden das ästhetische Stadium als Unmittelbarkeit, das ethische als Vermittlung in der Selbsttätigkeit definiert. Das Religiöse, Christliche verbindet beide im Glauben an Gott. 43 Adorno: »Prophezeit von Kierekgaard«, a. a. O., S. 362. 44 Vgl. Kierkegaard: Die Wiederholung, a. a. O., S. 36. In der Neu-Übersetzung von Hans Rochol heißt es entsprechend über Beckmann: »Er kann nicht nur gehen, sondern er kann gegangen kommen«.

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sich mitzubewegen.45 Subjektive Erfahrungsformen, Chaplins und seine eigene, verortet Adorno zwischen Natur, Kunst und Künstler, die sich in aktiv-passiver Angleichung zueinander verhalten, wobei die Mimesis Verbindungen herstellt und der Künstler Dinge sichtbar macht, in auch subjektiver Erfahrungsform, vor-prädikativ und ontogenetisch, noch nicht bezeichnend, nicht identifizierend, in der Herstellung von Ähnlichkeiten. Sein subjektives Zeigen von Verhaltensweisen geht Symbolbildungen voraus. Chaplin verdichtet Momente und bringt das Ich Adornos, seine Fundamente in ästhetischer Erschütterung zum Beben. Chaplin ist hier filmisch.46 Adornos Ergriffen-Sein in der Moment-Aufnahme Chaplins ist leibliches Spüren, hat somatische Seiten, in der Chaplins Mimesis als Korrektiv fungiert, er sich als Schauspieler dazwischen drängt und sein Gegenüber beansprucht. Dabei ist auch für Adorno seine wichtigste Eigenschaft als Filmschauspieler der Takt. Chaplin zeigt mehr, als er spielt. Ein Augenaufschlag, minimale Bewegungen der Gliedmaßen und geringe Veränderungen in der Haltung reichen ihm aus, um auch Adorno sofort verstehen zu lassen, worum es geht. Adornos unmittelbare Regung, seine auch hier ins Körperliche gehende Reaktion und Chaplins im Bild gezeigtes Verhalten, seine präzise Gabe von Gesten stehen in einem Spannungsverhältnis, das sich zwischen idiosynkratischer Reaktion und nachträglicher Reflexion verorten lässt, jedoch mit dem Anliegen, die Situation selbst genauer in den Blick zu nehmen, um die Materialität der menschlichen, ins Bild gesetzten Existenz, die Leiblichkeit im Bild in ihrer Verflechtung zwischen Darstellen und Darzustellendem zu integrieren, ihren asymmetrischen Charakter herausarbeiten zu können.

Ausblick Im Pathos des Filmschauspielers sind wir einem Anspruch ausgesetzt, der sich unserer Kontrolle entzieht, der unsere Möglichkeiten übersteigen kann. Wir antworten nicht auf etwas, sondern erst im Antworten tritt das, was uns trifft, als solches zutage. Wir und der Andere, das Eigene und das Fremde gehen aus diesem Zwischen45 Vgl. Adorno: »Filmtransparente«, teilweise erschienen in Die Zeit, 18.  11.  1966, wieder abgedruckt in: dems (Hg.), Gesammelte Schriften. Kultur­ kritik und Gesellschaft I. Prismen, Ohne Leitbild, Bd. 10.1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 358. 46 Ebd., S.  355.

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geschehen hervor; ein Geschehen, das weder in einem Schema von Reiz und Reaktion noch mit der Auffassung von Ursache und Wirkung begriffen wird, denn die Wirkung geht der Ursache voraus und verweist auf einen Spalt des Unmöglichen, sobald sie die eigenen Möglichkeiten übersteigt. Bernhard Waldenfels umschreibt diesen Prozess mit dem Ausdruck »Diastase«, der wörtlich ein Auseinanderstehen, ein Auseinandertreten meint und auf einen Differenzierungsprozess verweist, in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht.47 Die Erfahrung ist gegenüber sich selbst verschoben »in Form einer Vorgängigkeit dessen, was uns affiziert, und einer Nachträglichkeit dessen, was wir darauf antworten.« 48 Die Mimesis nimmt als mimetische Differenz in diesem Prozess die Form einer Diastase an. Auch dem Schauspieler geschieht etwas. Es drängen pathische, nicht mimetische Impulse in den Vordergrund. Der Schauspieler ist nicht nur Akteur, sondern auch Patient. Jede seiner Handlungen trägt Züge einer Fremdhandlung. Sie beginnt anderswo, bei dem, was ihn anzieht oder abstößt, sein Handeln in Gang setzt. Der Schauspieler ist Antwortender, hypokrites (ὑποκριτής). »Die mimetische Differenz zwischen dem Darzustellenden und dem Darstellenden ruht also nicht in sich selbst, sie weist über sich hinaus. Was zur Darstellung drängt und nicht schon einem Darstellungsrepertoire angehört, ist auf gewisse Weise undarstellbar.« 49 Undarstellbares ist im Darstellbaren. Undarstellbares ist das, wovon der Darstellende getroffen ist und worauf er mit seiner Darstellungskunst antwortet. In dieser Zerdehnung mimetischer Differenz, in der Diastase tritt das Pathos als das, was uns widerfährt, und die Response, als das, was von uns selbst ausgeht, auseinander. Auch in und mit optischen und akustischen Phänomenen sind Gesehenes und Gehörtes nicht einfach in der Welt, sondern besitzen eine Ereignishaftigkeit und entstehen im Sichtbarwerden und Hörbarwerden, die Erfahrungen (mit-) organisieren. Auch hier rührt die Fremdheit an den Sinnen, wird der Spielraum der eigenen Möglichkeiten beansprucht, von außerhalb der Eigenheitssphäre, tritt ein Anderer auf und fordert eine Antwort. Im Pathos des Schauspielers stehen wir mit ihm und durch ihn in Abweichungen vom Erwarteten, in denen uns etwas zustößt oder zufällt, uns etwas ergreift oder erschaudern lässt, uns etwas angetan wird. Von hier aus entfalten sich aisthetische und ethische 47 Vgl. den Beitrag von Annika Haas in diesem Band. 48 Vgl. Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 10, 14  f. 49 Ders.: Sinne und Künste im Wechselspiel, a. a. O., S. 275.

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Dimensionen des Performativen bereits auf Ebenen des Sehens, Hörens und Tastens, auf Ebenen der Sinne, die erste Fragen nach der Art und Weise unseres Lebens und nach den auf uns wartenden Ansprüchen und deren Konsequenzen stellen: in Ausschnitten des Lebens mit Charles Chaplin auf einer Feier am Strand von Malibu oder vom Kinosessel aus mit ihm auf einer anderen Feier im Bild in Lichtern der Großstadt oder mit Friedrich Beckmann auf und vor der Bühne im Königstädter Theater am Berliner Alexanderplatz.

Literatur Adorno, Theodor W.: »Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen« (1962), wieder abgedruckt in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998. — »Goldprobe«, in: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1952), wieder abgedruckt in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 173–177. — »Filmtransparente«, teilweise erschienen in Die Zeit, 18.  11.  1966, wieder abgedruckt in: Gesammelte Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen, Ohne Leitbild, Bd. 10.1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 353–361. — »Zweimal Chaplin«, (I, »Prophezeit von Kierkegaard«, Frankfurter Zeitung, 22.  5.  1930; II, »In Malibu«, Neue Rundschau, 75. Jahrgang, 3. Heft 1964), in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica (1967), wieder abgedruckt in: Gesammelte Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen, Ohne Leitbild, Bd. 10.1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 362–366. — »Dialektische Epilegomena. Zu Subjekt und Objekt«, unveröffentlicht, abgedruckt in: Kulturkritik und Gesellschaft II, Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 741–758. Bedorf, Thomas: »Emmanuel Levinas – Der Leib des Anderen«, in: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck UTB 2012, S. 68–80. Därmann, Iris und Kathrin Busch: »Einleitung«, in: dies. (Hg.) »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Begriffs, Bielefeld: transcript 2007, S. 51–73. Delhom, Pascal: »Emmanuel Levinas«, in: Kathrin Busch, Iris Därmann (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich. Ein Handbuch, München: Wilhelm Fink 2011, S. 205–215.

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Gebauer, Gunter, Christoph Wulf: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek/H.: Rowohlt 21998. Grüny, Christian: »Theodor W. Adorno – Soma und Sensorium«, in: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck UTB 2012, S. 245–259. Habermas, Jürgen: »Urgeschichte der Subjektivität und verwil­ der­te Selbstbehauptung« (1969), in: ders. (Hg.), Philosophisch-­ politische Profile, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 167–179. wieder abgedruckt in: ders. Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen, Stuttgart: Reclam 1986, S. 33–47. Kierkegaard, Sören: Entweder – Oder, Teil II (1843), übers. v. Heinrich Fauteck, München: dtv 92007. — Die Wiederholung (1843), übers. v. Hans Rochol, Hamburg: Meiner 2000. Koch, Gertrud: »Was machen Filme mit uns, was machen wir mit ihnen? – Oder was lassen wir die Dinge mit uns machen?«, in: Ludger Schwarte (Hg.), Bild-Performanz, München: Wilhelm Fink 2011, S. 231–245. Kracauer, Siegfried: »Charlie Chaplin: Lichter der Großstadt« (1931), in: Doro­thee Kimmich (Hg.), Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 125–128. Levinas, Emmanuel: »Die Bedeutung und der Sinn« (1964), in: ders., Humanismus des anderen Menschen, übers. v. Ludwig Wenzler, Hamburg: Meiner 1989, S. 9–59. — Ausweg aus dem Sein (1935), übers. v. Alexander Chucholowski, Hamburg: Meiner 2005. — »Die Wirklichkeit und ihr Schatten« (1948), übers. v. Alwin Letz­kus, in: Emmanuel Alloa (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie, München: Wilhelm Fink 2011, S. 65–85. Meyer-Drawe, Käte: »Leib, Körper«, in: Christian Bermes, Ulrich Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg: Meiner 2010, S. 207–219. Schmid Noerr, Gunzelin: »Adornos Erschaudern. Variationen über den Händedruck«, in: Willem van Reijen, Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Vierzig Jahre Flaschenpost: ›Dialektik der Auf­ klärung‹ 1947–1987, Frankfurt/M.: Fischer 1987, S. 233–241. Schwarte, Ludger: »Einleitung: Die Kraft des Visuellen«, in: ders. (Hg.), Bild-Performanz, München: Wilhelm Fink 2011, S. 11–31. Soupault, Philippe: »Charlie Chaplin« (1928), übers. v. Dorothee Kimmich, in: Dorothee Kimmich (Hg.), Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 159–183.

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Stern, Lesley, George Kouvaros: »Introduction: Descriptive Acts«, in: dies. (Hg.), Falling for You. Essays on Cinema and Performance, Sydney: Power 1999, S. 1–35. Sternagel, Jörg: »Bernhard Waldenfels – Responsivität des Leibes«, in: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck UTB 2012, S. 116–129. — »›Look at Me!‹ A Phenomenology of Heath Ledger in The Dark Knight«, in: Aaron Taylor (Hg.), Theorizing Film Acting, New York/London: Routledge, S. 93–106. Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. — Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phä­ no­menotechnik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. — Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp 2010.

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Annika Haas Hören, Berühren, Bewegen …zur Berührung? 1 Maurice Merleau-Ponty macht aufmerksam auf etwas Naheliegendes und zugleich Merkwürdiges: Meine Hände können Dinge berühren und sind zugleich berührbar. So ist es möglich, dass eine Hand die andere berührt, welche wiederum auf einer Fläche entlangstreicht: »[…] ein wahrhaftiges Berühren des Berührens […] wodurch das ›berührende Subjekt‹ zum berührten wird und sich unter die Dinge begibt«.2 Zwischen der einen und der anderen Hand besteht keine Deckungsgleichheit, sondern es geschieht »etwas ›Verwackeltes‹«, es gibt einen »›Abstand‹«, einen »Hiatus« und das in ähnlicher Weise wie zwischen meiner Stimme, die ich in meinem Kopf höre und dem, was andere als meine Stimme vernehmen und jenen wiederum, die ich als deren Stimmen höre.3 Das Nicht-Deckungsgleiche, Unstimmige, Verschobene, das zu­gleich bedingt, dass und wie Leib und Welt »wechselseitig anei-

1 Titel des Klang-Objekts, das als ein Teil der Abschlussarbeit »Im Wechselspiel. Eine Installation zur Berührung« an der Universität Potsdam und Fachhochschule Potsdam 2012 entstand. Besonderer Dank gilt Dirk Haas, Stefan Trampert und Markus Wutzlhofer für die Unterstützung bei der Realisation; Mathias Fuchs und Dieter Mersch für die Betreuung der Arbeit sowie Hans Kannewitz für Kritik und Lektorat. 2 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964), Claude Lefort (Hg.), übers. v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München: Wilhelm Fink 1994, S. 176. 3 Vgl. ebd., S. 194.

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nander haften« 4 und das die Wahrnehmung durchzieht, habe ich in dem künstlerischen Projekt …zur Berührung 5 mit einem Klangobjekt 6 auszuloten versucht. Ausgehend von den damit verbundenen Erfahrungen sollen im Folgenden besonders die wechselseitigen Verschränkungen zwischen Hören und Berühren durchdacht werden. Die leibliche wie gedankliche Annäherung beginnt mit der Berührung meiner Hände und geht über in jene des Klangobjekts: Ich empfinde, wie meine Hände und Arme Kontakt aufnehmen und begehren, die glatten wie widerständigen Strukturen zu begreifen. Gefühle von Flüchtigkeit, Selbstfremdheit und das sich andeutende Wechselspiel von Objekt und Körper, von (Zu)hören und (Be)rühren kündigen sich an und werden meinen Versuch durchziehen. Das Hören rückt dabei als unausweichliche Inanspruchnahme des Leibes durch Fremdes in den Mittelpunkt, um mit Bernhard Waldenfels zu sprechen.7 Jean-Luc Nancy hingegen schreibt vom exponierten Körper, der sich nie selbst gehört.8 Die Lektüre beider Autoren und reflektierende Passagen zu meinem Klang-Objekt sollen auf‌fächern, wie Hören und Berühren wechselseitig in Bewegung und womöglich in ein Wechselspiel geraten.

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4 Vgl. ebd., S. 195. 5 Siehe auch Videodokumentation einer Performance: http://vimeo.com/ ahaas/klangobjekt (letzter Zugriff: 31.  3.  2014) 6 Eine Erläuterung zu diesem Begriff erfolgt im zweiten Abschnitt. 7 Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 164  f. 8 Jean-Luc Nancy: Corpus, übers. v. Nils Hodyas und Timo Obergöker, Zürich/ Berlin: diaphanes 2007, S. 34  f.

HÖREN, BERÜHREN, BEWEGEN

Wenn vorausgesetzt werden kann, dass wir sinnlich empfinden, wahrnehmen und die Dinge als etwas erfahren 9, situiert sich dieser Text im Vorraum des Bedeutens und unternimmt den Versuch einer Fokussierung auf Momente sinnlicher Widerfahrnis sowie leibkörperlicher Bewegung, noch bevor diese zur Sprache gebracht werden können.

Berührend Hören Im Raum des Vorsprachlichen nimmt auch das Musizieren und insbesondere das Improvisieren einen bedeutenden Platz ein. Erste Erfahrungen damit sammelte ich im Elektroakustik-Ensemble EMW-Orchester unter der Leitung von Simon Vincent, wobei besonders die experimentelle Erkundung von Instrumenten bzw. Klangkörpern in weitestem Sinne im Mittelpunkt des Arbeitsprozesses stand. Dort stieß ich beim Spiel mit der Djembé-Trommel auf die Frage, wie mit einer Art selbst zu entwickelndem Instrument Hören und Berühren in einen betonten Zusammenhang treten könnten. Nicht nur mit perkussiven Schlägen der Hand, sondern auch durch das Spiel meiner Nägel und Fingerkuppen sowie in Reibungen zwischen Hautflächen und der Trommel-Membran wurden Klänge generiert und gelangten im Korpus des Instruments zur Resonanz. Zwischen Haut und Material entstanden Klänge auf eine für mich wenig kalkulierbare und besonders variationsreiche Art und Weise und zeigte sich: Keine Berührung ohne Klang und kein Klang ohne Berührung. Diese Beobachtung wurde für mich zum paradigmatischen Ausgangspunkt für das Wechselspiel von Hören und Berühren und lässt sich bereits nachvollziehen, indem man mit der Hand über eine Oberfläche streicht oder darauf achtet, dass selbst beim leisen Summen der Körper in Bewegung ist. In den Blick rückten somit Möglichkeiten, die sich deutlich unterscheiden von der Klangproduktion mit Laptop, Mischpult oder MIDI-Controller, die einen maßgeblich funktionalen, die Geräte bedienenden Einsatz der Hände an Reglern, Knöpfen und Touchpads erfordern. Die Arbeit war somit auch davon motiviert, eine Alternative dazu zu entwickeln. Die Bezeichnung Klang-Objekt mag den Anschein erwecken, dass ich mich dabei auf Pierre Schaeffers Begriff des objet sonore beziehe. Klangobjekte  10 verortet dieser in einer akusmatischen Hörsituation, gekennzeichnet durch 9 Vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 70  f. 10 Übers. n. Pierre Schaeffer: Musique concrète: von den Pariser Anfängen um

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eine dem Auge hinter einem Vorhang oder in einem Lautsprecher verborgenen Klangquelle. Schaeffer transformiert und wiederholt diese zusätzlich, sodass das Gehörte, nicht jedoch dessen kulturelle Bedeutung oder technologische Entstehung, im Mittelpunkt einer Beschreibung der Form steht. Mir geht es jedoch nicht um die Analyse und Identifikation von Klangobjekten, die in einem solchen »reduzierten Hören« (écoute reduite)11 statt haben.12 Vielmehr interessieren mich Objekte im Sinne materieller Dinge und wie durch und mit diesen singuläre Klänge entstehen. John Cage, der Musik als etwas Allgegenwärtiges auf‌fasst und betont, dass diese selbst von unbewegten Gegenständen wie einem Tisch ausginge, auch wenn dieser nicht bewegt werde,13 beschreibt, wie er diese Klänge überall und andauernd erkundete: »[…] I never stopped touching things, making them sound and resound, to discover what sounds they could produce. Wherever I went, I always listened to objects.«14 Cage, der mit zahlreichen Kompositionen Aufmerksamkeit erweckt für das bereits in der Welt vorhandene Musikalische, zeigt zudem wie ein jeder Klang eines Dings im Zeitalter der Elektroakustik zugänglich gemacht werden kann: »[…] everything we do is music or can become music through the use of microphones«.15 Eine ähnliche Erfahrung machte ich bei der Interpretation des Stücks MIKROPHONIE I (1964) von Karlheinz Stockhausen mit dem EMW-Orchester.16 Mikrofone nahmen dabei die Rolle von Musikinstrumenten ein17 und gestalteten kraft der akustischen Verstärkung die spielerische Handhabung von Alltagsgegenständen zur musikalischen Improvisation. Die Objekte

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1948 bis zur elektroakustischen Musik heute, bearb. v. Michel Chion, übers. v. Josef Häusler, Stuttgart: Klett 1974, S. 35  f. 11 Übers. n. ebd., S. 38. 12 Vgl. Pierre Schaeffer: »Acousmatics«, übers. v. Daniel W. Smith, in: Christoph Cox, Daniel Warner (Hg.), Audio Culture: Readings in Modern Music, New York: Continuum 2004, S. 76–79. 13 Vgl. John Cage zit. n. Douglas Kahn: Noise, Water, Meat. A History of Sound in the Arts, Cambridge MA: MIT Press 2001, S. 196: »Cage completed the ubiquitous figure of musical sound when he extended amplification to the silence of objects and matter […]. Technology would […] render music ›a revelation of sound even where we don’t expect that it exists.‹« 14 Ders. zit. n.: ebd., S. 197. 15 Ders. zit. n.: Kahn: Noise, Water, Meat, a. a. O., S. 194. 16 EMW-Orchester: Mikrophonie I.I, Potsdam/Berlin 2011, siehe Videodokumentation: http://incom.org/projekt/2841 (letzter Zugriff: 31.  3.  2014). 17 Demnach lautet auch der Untertitel der Komposition: »MIKROPHONIE I für Tamtam, 2 Mikrophone, 2 Filter und Regler (6 Spieler)«, in Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik 1963–1979, Bd. 3, Köln: DuMont Schauberg 1971, S. 384 (Werkverzeichnis).

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wurden somit zu klingenden, im Sinne von sounding objects.18 Eine weitere Abgrenzung kann geschehen zur Bezeichnung Klangskulptur.19 Zwar erweckt der Holzkorpus einen skulpturalen Eindruck, ich möchte jedoch dessen technische Struktur und das Konzept, damit Klänge der Berührung hervorzubringen, nicht ausschließ‌ lich an diesen gebunden sehen.20 In diesem Sinne würde ich die Arbeit … zur Berührung als Klang-Objekt bezeichnen. Deren technischer Auf‌bau lässt sich wie folgt skizzieren:

Auf dem Holzkorpus sind Kontaktmikrofone angebracht, die nur den sogenannten Körperschall des Objekts abnehmen, nicht jedoch die Geräusche des umgebenden Luftschalls. Derart entstehen bei Berührung oder Erschütterungen Frequenzen, die in einen analogen Vorverstärker übertragen, in digitale Audiosignale umgewandelt, in einer Software mit Audio-Effekten verändert, schließlich analog rückgewandelt und über Lautsprecher als Resonanzen in den Raum gegeben werden. Diese Signalverarbeitungskette bewirkt in erster Linie, dass das Geräusch der sich bewegenden Hände auf der Holzoberfläche verstärkt wird, also überhaupt erst Aufmerk18 Diese Abwandlung der englischen Übersetzung sound object für das objet sonore von Schaeffer soll mein Anliegen, den Klang der Dinge hervorzukehren, anstatt diesen analytisch festzustellen, verdeutlichen. 19 Alan Licht grenzt diese von Musikinstrumenten als »[…] sculpture that is made with an inherent sound-producing facility in mind or a machine made for the same purpose« ab, in Alan Licht: Sound Art. Beyond Music. Between Categories, New York: Rizzoli 2007, S. 199. 20 Eine Weiterentwicklung dieses Konzepts f‌indet sich in: John Bowers, Annika Haas: »Hybrid Resonant Assemblages. Rethinking Instruments, Touch and Performance in New Interfaces for Musical Expression.«, in: Baptiste Caramiaux, Koray Tahiroğlu, Rebecca Fiebrink et al. (Hg.), Proceedings of the International Conference on New Interfaces for Musical Expression (NIME 2014), London: Goldsmiths/University of London 2014, S. 7–12.

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samkeit bekommt. Die Klänge werden stellenweise durch zusätzlichen Reverb (Hall) und Granularsynthese transformiert und durch Delay-Effekte erfahren sie eine zeitliche Verzögerung, die betont, dass Klang und Objekt immer in einer Trennung begriffen sind. Das gilt auch für die Wahrnehmung während der Performance: Es entsteht ein unbekannter, die gewöhnliche Hörbarkeit von Berührung überschreitender, Klang, der zwar von mir in Gang gesetzt scheint, aber nicht zu mir gehört, sondern mir widerfahrend entgegenkommt. In die Resonanzen zwischen berührender/berührter Haut und dem Holz des Klangobjekts schreiben sich verfremdend leibkörperliche und werkstoff‌liche Materialität ein: Nägel scheuern, der Handrücken schabt über die Holzfläche, Finger kreisen in einem ausgehöhlten Astloch. Vom Zögern bis zum abwehrenden oder vermeintlich beherrschenden Schlagen gestaltet sich das Spiel mit dem Holzkorpus. So wird zu Gehör gebracht, was sich klanglich im Berühren vollzieht, was als Klang zwischen Körper und Klangobjekt schon da ist, aber ohne akustische Verstärkung kaum zu vernehmen wäre und dessen Anders-Werden durch den Einschub zeitlicher Trennungen in Erfahrung tritt. Eine flüchtige Klanggestalt entsteht, mit der ich mich bewege und mich so ihrem Klang zuwende und sie dabei wiederum verändere.

Hören als Bewegungssinn

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Ein erster Bezug zu diesen Erfahrungen in der Performance mit dem Klang-Objekt findet sich bei Waldenfels, der das Hören als Bewegung des Leibes mit dem Schall auf‌fasst.21 Schließlich ist der Leib kein rezeptiver ›Empfänger‹, »[…] kein bloßes Registriergerät, sondern ein mitschwingender Resonanzkörper.« 22 Der Leib verhält sich darin in einem responsiven Sinne antwortend zur Welt, wobei ihn akustische Reize unweigerlich ereilen.23 Dabei ist er aber nicht nur einer Inanspruchnahme eines vermeintlichen ›Außen‹ ausgesetzt, sondern setzt sich in einer Bewegung der Selbstver21 Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 70–74. 22 Ders.: Sinne und Künste im Wechselspiel, a. a. O., S. 170. 23 Waldenfels konzipiert die Responsivität des Leibes nicht als Reaktion, sondern als ein Antworten auf etwas Fremdes, von dem der Leib unweigerlich schon in Anspruch genommen wird. Für das Hören bedeutet das: Nicht im Sinne einer answer antworten wir darauf, was wir hör(t)en, sondern indem wir hören, antworten wir bereits. Vgl. ders.: Antwortregister, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 250 u. 490.

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dopplung auch in Bezug zu sich selbst und wird sich darin fremd. Etwa, wenn wir nicht ganz ›bei uns selbst‹ sind, hörend »Fremdklänge« hervorbringen und somit »Züge eines Fremdkörpers« annehmen, der sich uns entzieht, wenn wir etwa von der Brüchigkeit unserer Stimme oder einem Rauschen im Ohr überrascht sind und diesem wie einer ›externen Klangquelle‹ zuhören.24 Ob wir selbst Klänge erzeugten oder diese unseren Leib ereilten, immer trügen diese Klänge Fremdklänge mit sich, so Waldenfels.25 Schon dieser materielle Aspekt zeuge von einem generellen und unausweichlichen Fremdbezug des (stets) hörenden Leibes, mit dem eine responsive Bewegung einhergehe, der immer ein ›pathisches‹ Moment zwischen »neutralem Erleiden und schmerzlichem Leid« inne liege.26 Das zeigt sich, wenn auch ›unhörbare‹ Frequenzen leiblich spürbar werden 27 oder bei besonders lauten, hohen oder als unangenehm empfundenen Klängen. Das Hören ist somit eher von Passivität als von Voraussicht gekennzeichnet. Wenn etwas ›dort‹ zu hören ist, ereilt uns ein zu erleidender Klang scheinbar schon ›hier‹. Erst in einem der Widerfahrnis nachträglichen Antworten auf das, was unserer Erfahrung vorgängig war, tritt »das, was uns trifft als solches zutage«: Die somit implizierte zeitliche Verschiebung zwischen Hörendem und Gehörten, die beide einen Klang erst zu Gehör bringen,28 fasst Waldenfels unter dem auch allgemeiner anwendbaren Begriff der ›Diastase‹ als einen »Differenzierungsprozess, in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht«.29 Bezogen auf den gesamten Wahrnehmungsprozess, geht es dabei also nie um die Unterscheidung von etwas, das schon da ist, sondern um ein Zwischen-Geschehen, in dem Welt erst entsteht.30 Der hörende Leib ist dabei der besonderen Flüchtigkeit und Unausweichlichkeit akustischer Reize ausgesetzt, mit denen er sich bewegt. Diese Bewegung nimmt unterschiedliche Züge an. Sie reicht von der ›Gespanntheit‹ des Ohrs bis zu sichtlichen Körperbewegungen beim Tanzen oder Musizieren. 24 Im Verlauf des Texts wird noch deutlicher zu bemerken sein wie insbesondere das Hören das Konzept eines Innen und Außen des Körpers durchkreuzt bzw. im wörtlichen Sinne aus-setzt. 25 Vgl. Waldenfels: Sinnesschwellen, a. a. O., S. 70–74. 26 Ebd., S.  61. 27 Ein Beispiel dafür sind Frequenzen, die außerhalb des hörbaren Spektrums liegen, aber als unangenehm empfunden werden und u. a. für sogenannte Sonic Weapons zum Einsatz kommen. 28 Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, a. a. O., S. 165. 29 Ders.: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 59 u. 174. 30 Vgl. ders.: Sinnesschwellen, a. a. O., S. 51.

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Zusammenspiel der Sinne

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Für die Frage danach, in welche Beziehung Hören und Berühren treten können, ist neben detaillierten Betrachtungen auch relevant, welche Annahmen zur sinnlichen Wahrnehmung diesen zugrunde liegen. Waldenfels geht davon aus, dass wir synästhetisch ein Zusammenspiel der Sinne erleben und demgemäß die Sinnhaftigkeit einer Wahrnehmung durch wechselnd dominante Sinne und Intensitäten entsteht.31 Hören und Berühren werden demnach nicht als vereinzelte ›Modi‹ der Wahrnehmung aufgefasst, gleichzeitig soll die Rede vom ›Zusammenspiel‹ auch nicht suggerieren, dass die Vielheit der Sinne jemals in einer Ganzheit aufginge. Vielmehr kann ausgehend vom Begriff der Synästhesie von einer Mitwahrnehmung zahlreicher, aber nicht zählbarer Sinneseindrücke des Leibes gesprochen werden. Im Gegensatz zur geläufigen Auf‌ fassung der Synästhesie als neurologischem Sonderfall, sei diese »vielmehr die Regel«, so Merleau-Ponty.32 Waldenfels fügt hinzu: »Wir erfahren intersensorielle Gegenstände vor dem Hintergrund einer intersensoriellen Welt, weil die Sinne miteinander kommunizieren.« 33 Es handelt sich also um eine Art intermodales Zusammenspiel, geradezu ein Übergreifen der Sinne ineinander, in dem Welt mit und aus den Sinnen erst jeweils entsteht: »[…] vor meinen Augen, vor meinen Ohren und unter meinen Händen« gewinne etwas an Gestalt.34 So, wie die Welt also nichts Gegebenes ist, ergeben sich stets andere Gewichtungen verschiedener sinnlicher Eindrücke und durchfurche »eine Differenz das Wahrnehmungsfeld«, welches im Anschluss an Husserls Begriff des Sinns als ›Verweisung-Auf‹ schließlich als ein Komplex von Verweisen beschrieben werden kann.35 Beispielsweise kann während eines Konzerts etwas ›unüberhörbar‹ sein und aus der ›Geräuschkulisse‹ hervorstechen, während gleichzeitig auch andere Sinne am Werk sind. Waldenfels argumentiert diesbezüglich aufgrund der Unzählbarkeit der sinnlichen Reize in der Welt gegen die Auf‌fassung von den ›fünf Sinnen‹ und plädiert für die Einbeziehung sinnlicher Qualitäten wie Helligkeit, Intensität oder Temperatur, die allesamt »[quer] durch die Sinnessphären hindurchgehen«.36 Wie bereits für das Hören gezeigt wurde, sind nach Waldenfels Wahrneh31 32 33 34 35 36

Vgl., ebd. S.  62  ff. Merleau-Ponty zit. n. Waldenfels: Sinnesschwellen, a. a. O., S. 60. Ebd., S.  58  f. Vgl. ders.: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 292. Ebd., S.  68–92. Ders.: Sinnesschwellen, a.  a.  O., S.  57  f.

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mung und leibliche Bewegung nicht voneinander zu trennen: Sie verschränken sich zur Kinästhese – begriffen als ein »sich bewegendes Empfinden und ein sich empfindendes Bewegen«, wobei der Leib in seiner Realisierung und Materialisierung dabei nicht nur seinen eigenen Rhythmen folge, sondern sinnliche Ansprüche unterschiedliche Bewegungen hervorbrächten.37 Das Zusammenspiel der Sinne ist demnach auch charakterisiert durch verschiedene mouvements, die sich »mannigfach verstärken, abschwächen, überlagern, ergänzen«.38 Sowohl die leibliche Mitbewegung als auch die Differenzierung der Sinne in der Syn-ästhesie sind dabei charakterisiert durch ein Mit, das ein »wechsel- oder allseitiges ›Zusammen‹« beschreibt.39 Auch Jean-Luc Nancys Frage, »Warum ein oder mehrere Unterschied(e) der ›Sinne‹ überhaupt und zwischen den sinnlichen Sinnen und dem sinnhaf‌ten Sinn?« 40, erinnert daran, dass, während sie im Zuge der Wahrnehmung nicht nacheinander betrachtet werden können, ›die‹ Sinne wohl nur in einem Text als zählbar erscheinen und einzeln thematisiert werden können. Gleichzeitig wendet sich der Blick somit von den Sinnen hin zum Sinn. In seinem Text Zum Gehör ist Nancy auf der Suche nach einem klingenden Sinn, dem gelauscht und zugehört werden muss, der nicht vernommen werden kann. Denn wenn letzteres heißt, »den Sinn verstehen«, (z. B. den eines Signals, einer Rede oder einer Klangquelle) »dann ist zuhören: gespannt sein hin zu einem möglichen Sinn, der folglich nicht unmittelbar zugänglich ist.« 41 Besonders bei Musik sei das der Fall, wenn der Sinn sich »direkt am Klang« darbiete und anders als etwa während einer Rede der Klang nicht hinter dem Sinn verschwinde, sondern der »Sinn tendenziell Klang« werde.42 Arno Böhler schlussfolgert daraus, dass Zuhören und Lauschen einhergehen mit der »Bereitschaft, sich den Sinn des Gehörten nicht einfach vor[zu]stellen, sondern […] von außen her rezeptiv vorgeben zu lassen«.43 Jedoch geht es dabei nicht in einem konstruktivistischen Sinne um das Bedeuten eines akustischen Rei-

37 Vgl. Waldenfels bezugnehmend auf Erwin Straus: ebd., S. 68–75. 38 Ebd., S.  75. 39 Ebd., S.  55. 40 Jean-Luc Nancy: Zum Gehör, übers. v. Esther von der Osten, Zürich/Berlin: diaphanes 2010, S. 10. 41 Ebd., S. 13. 42 Ebd. 43 Arno Böhler: »Das Timbre des Denkens. Was heißt uns hören, wenn wir denken?«, in: Lukas Haselbröck (Hg.), Klangperspektiven, Hofheim: Wolke-Verlag 2011, S. 11–26, hier: S. 18.

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zes, sondern um das Ereignen einer Klangpräsenz 44: Zum einen, wenn ein Klang resonant den Raum und auch die darin befindlichen (Klang)körper bespielt, indem er sich ausdehnt, widerhallt und vergeht.45 Zum anderen, indem sens und son, Sinn und Klang »im ‌ anderen und durch den anderen« widerklingen 46, also vielmehr die »geläufigen Hörregister […] in größtmögliche Empfangsbereitschaft« versetzt werden, um zu lauschen, »ohne ad hoc verstanden zu werden.« 47 Für diese Beziehung zwischen Klang und Sinn sowie das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst bzw. außer-sich wird von Nancy die Bewegung der Resonanz ins Spiel gebracht: Das Subjekt hört sich selbst und darin entfernt und nähert es sich von sich selbst. Es widerhallt in diesem Sinne »in/an sich« sowie »in einer Welt und im anderen« und indessen spürt es sich.48 In seiner Resonanz verweist so der hörende (Klang)körper auf sich selbst. Er erklingt im Widerhall seiner selbst und setzt sich schwingend gleichzeitig außer-sich.49 Was Nancy auch »ein Sich-Spüren-Spüren [se-sentir-sentir]« und – in einem Zug – »Berühren« nennt, wird somit zum »Grundton« für alle Sinnesregister.50 So berühre spürend jeder Sinn sich und rühre gleichzeitig an die anderen Sinne. Indem die Sinne sich berühren, unterscheiden sie sich voneinander und sind in dieser Art und Weise in einem Zusammenspiel.51 Die reflexive Bewegung des Berührens als jenes »Sich-Spüren-Spüren« zieht sich also durch alle Sinne. Besonders jedoch im Fall des Berührens dringen dabei laut Nancy das Empfindende und das Zu-Empfindende inein­ander, sodass in ähnlicher Weise wie beim Zuhören weniger die Rede davon sein kann, was berührt wird, als vielmehr das Berühren ›gespannt‹ ist auf die Präsenz eines möglichen Sinn.

216 44 Vgl. ebd., S. 11. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. Nancy: Zum Gehör, a. a. O., S. 14. 47 Böhler: »Das Timbre des Denkens«, a. a. O., S. 19. 48 Nancy: Zum Gehör, a. a. O., S. 16. 49 Nancy führt weiter aus, dass darin die »sinnliche Bedingung im Allgemeinen« liege: »Jeder Sinn ist ein Fall und ein Abstand von einem solchen ›(sich) schwingen‹, und alle Sinne schwingen untereinander, die einen gegen die anderen und von den einen zu den anderen, inbegriffen der sinnhaften Sinne.«, in: ebd., S.  15  f. 50 Ebd., S. 16. 51 Ebd.

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Resonanz Wie wenig greif‌bar dieser Sinn bleibt, ruft sich immer wieder in Erinnerung, wenn Nancy Resonanz als unendlich ereignendes Ankommen und Vergehen beschreibt – eine Bewegung, die im Klanglichen wie auch im Berühren zu finden ist und maßgeblich dazu beiträgt, Hören und Berühren als in einem Wechselspiel befindlich denken zu können. Daher soll nun die Bewegung der Resonanz im Klang und im davon widerhallenden (Klang)körper weiter beschrieben werden, was für Nancy heißt, sich immer wieder in die Bewegung des Hörens zu versetzen: »Ganz Ohr sein, lauschen […]«.52 Mein Ohr ist gespannt hin zum Schall und in dieser Spannung bin ich auf Empfang, wobei der exponierte Körper keine Wahl, kein Innen und Außen hat, sondern im Außer-SichSein immer schon besetzt und durch-setzt wird von Klängen, die auch in ihm widerhallen. Darin findet sich wiederum die Bewegung der Resonanz, die nun nicht nur als jene von Klang und Sinn, Subjekt und Selbst oder Körper(n) und Raum, sondern nun auch als jene des Hörens betrachtet werden soll: »[…] gleichzeitig draußen und drinnen sein, von außen und von innen offen sein, vom einen zum anderen also, und vom einen im anderen […].« 53 Diese Verweisstruktur beschreibt bereits im Ansatz, wie Schall, hörender und zugleich tönender Körper einander bewegen in einem Hin und Her ohne je hier oder dort zu sein. Die Präsenz des Klangs vollzieht sich als »Voran, Durchdringung, Insistenz, Obsession oder Besessenheit« sowie im »Rückhall«. Diese Bewegungen der Resonanz sind nicht nur dem Schall inhärent, sondern auch dem Hören. Denn laut Nancy könne man nur von einem hörenden Subjekt sprechen, wenn es ein ›Ort der Resonanz‹ sei: »[…] ihrer unendlichen Spannung und ihres unendlichen Rückhalls, die Weite der Klangentfaltung und die Schmalheit seiner gleichzeitigen Wiedereinfaltung«.54 Ein Klang, der sich im Raum ausbreitet und »[…] zugleich ›in mir‹ widerhallt« versetzt so den hörenden Körper in Schwingung, begründet seine Exposition und seinen Selbst-Bezug. Er ist ein Klangkörper und darin zugleich hörend und (davon) erklingend.55 Es ließe sich somit sagen, die Identität von Hörendem und Gehörtem ist also durch die Bewegung mit, 52 Ebd., S.  23. 53 Ebd. 54 Ebd., S.  31. 55 Vgl.: »Erklingen ist bereits ein Wieder-Erklingen, Resonanz, wenn es nichts anderes ist als: sich auf sich zu beziehen. Klingen, das ist in sich oder von selbst schwingen: Es bedeutet für den Klangkörper nicht allein, einen Klang auszusenden, sondern sich zu erstrecken, sich zu tragen und sich in Schwingungen

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in, durch die Resonanz gegeben. Nancy findet dafür das Bild des griechischen Tympanons, einer Tamburin-Trommel für kultische Zwecke. Die eingangs beschriebene Beobachtung mit der Djembé-Trommel, der zufolge mit der Trommelmembran ein resonantes Material berührend zum Schwingen gebracht wird, das bereits wechselseitig entgegen schwingt und leiblich gehört wird, ruft sich wieder in Erinnerung: Die Bewegungen meiner Hände gingen nahezu blind aus einem hörenden Spielen hervor, ich konnte nicht auf diskrete Klangereignisse reagieren, da sie als einzelne nicht erkennbar sind. Mit jeder Bewegung ging ein Klang einher. Hören erscheint im Rückbezug auf diese Situation als eine Bewegung der Spannung auf die entstehenden Klänge und im Nachhall von diesen, die den Körper zugleich be- und außer-sich setzen. Diese Beobachtung lässt sich bei Nancy wiederfinden, wenn er den Körper nochmals als Klangkörper beschreibt: […] [E]ine solche hohle Säule, über die eine Haut gespannt ist, deren Resonanz aber auch von der Öffnung eines Mundes aufgenommen und erneut ausgesendet werden kann. […] Schlag von draußen, Krakeel [clameur] von drinnen, dieser beschallte Klangkörper schickt sich an, zugleich ein ›Selbst‹ und eine ›Welt‹ zu hören, die miteinander in Resonanz sind.56

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Der hörende Körper ist in diesem Sinne also nicht nur vom Schall besetzt, sondern er ist durch und durch berührt. Sein eigener Widerhall faltet das Außen in ihn ein, während sein Selbst sich nach außen schwingend ausdehnt. Resonanz bedeutet demnach nicht nur in ein Schwingen versetzt zu werden – sondern von dem bewegt werden und sich mit dem zu bewegen, dem der Körper in seiner Offenheit und Gespanntheit zur und in dieser Welt ausgesetzt ist. Dass er sich damit in ähnlicher Weise in einer Bewegung des Berührens befindet, wird im Folgenden zu zeigen versucht.

Die Bewegung des Berührens Wurden bis hierhin die Reflexivität des Berührens und die Nähe von Bewegen und Bewegt-Werden betont, soll ›Berührung‹ als eine Bewegung der Differenz im Folgenden ausführlicher beschrieben werden, auch um den performativen Umgang mit dem Klang-Obaufzulösen, die ihn zugleich auf sich selbst beziehen und ihn außer sich setzen.«, in: ebd., S. 15. 56 Ebd., S.  56.

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jekt und damit einhergehende Alteritätserfahrungen zu unterstreichen. Denn gleich, ob man sich einem belebten oder unbelebten Körper annähert, so Nancy, immer gehe damit ein Bewegen des Anderen, aber eben auch Zurückhalten durch den Anderen, einher.57 Als eher affektives Verhalten unterscheidet es sich damit deutlich vom (Er-)Tasten, im Sinne des Erkundens der Beschaffenheit einer Oberfläche als kognitive Handlung.58 Dem Berühren entzieht sich ein solcher Zugriff. Im Abstand und im GetrenntSein begründet, eröffnet es stattdessen die Möglichkeit eines Kontakts, der erschüttere und in Bewegung versetze.59 In einer »sich durchkreuzenden« Bewegung von Motion und Emotion,60 werden Trennung und Identität der Beteiligten nicht aufgehoben, denn auch »›das Nächste‹« soll in einer »infinitesimalen Distanz« bleiben, »um das zu sein, was es ist«.61 Das gilt gleichermaßen für die Berührung von Dingen, wie auch für die Berührung des anderen. So wird die eine Hand zur Geste der sie berührenden Hand: »Ich bewege mich zur mich aufnehmenden Haut, meine Haut gewährt das Kommen, in welchem für das Selbst die Aufnahme des Anderen liegt.« Auch »Begehren und Lust, einer Hauthülle so nah wie möglich zu kommen«, charakterisieren laut Nancy das Berühren.62 Darin finden sich die Bewegungen des Erleidens und der Wechselseitigkeit, die sich als konstitutiv für das Sein und die Differenz von Eigenem und Fremden erweisen: Jedes ›ich‹ ist und ist nur der Akt seiner Beziehung in seiner Spannung zur Welt – gegen das, was man ›die Andere/den Anderen‹ nennt, und dessen Anderssein sich in der Berührung (touche) oder als Berührung enthüllt.« 63 Dies geschehe in einem »beweglichen, vibratorischen, plötzlichen Akt« 64, der auf der Trennung von Subjekten beruhe, wie Nancy am Beispiel der eintretenden Unterscheidung von Eigenem und Fremdem bei der Geburt verdeutlicht. Denn in Bezug auf den Fötus 57 Jean-Luc Nancy: »Rühren, Berühren, Aufruhr« (Vortrag), in: http://tqw. at/sites/default/files/Ruehren%20Beruehren%20Aufruhr.pdf (letzter Zugriff: 15.  6 .  2013), übers.  v. Valérie Baumann, Wien: Tanzquartier 2011. 58 Vgl. ebd., S. 6. 59 Vgl. ebd.: »Der Kontakt gilt […] als Erschütterung des Empfindens, nämlich dessen, worin das Vermögen des Aufnehmens und Berührt-werdens besteht.« 60 Ebd., S.  5  f. 61 Ebd., S.  6. 62 Ebd. 63 Ebd., S.  7. 64 Ebd., S.  8.

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im Mutterleib könne noch nicht von einem trennenden Be-rühren aber schon von einem Rühren 65 gesprochen werden. Besonders deutlich wird das am Beispiel des Hörens in der Fruchtblase, die den Fötus als »flüssigen Resonator« umgibt.66 Darin brechen sich die Schallwellen, die ausgehen von seinem Körper, dem Körper der Mutter und der Welt ›außerhalb‹. Sie rühren zugleich an den Sinnen dieses Körpers, dessen aufgeweichte Haut in Flüssigkeit keine rechte Trennung von Innen und Außen finden will. Diese stellt sich mit dem ersten Schrei ein. Wenn das Kind geboren wird, wird es selbst zur »Ausdehnung eines Hallraums […], einer Halle, in welcher zugleich das widerhallt, was es trennt, und das, was es ruft 67. In diesem Sinne sei jedes weitere Rufen, Sprechen, Singen ‌ […]« usw. immer wieder das Ausrufen seiner selbst und ein Sich-Vernehmen – wie der erste Schrei. Damit einher geht auch die eine Öffnung für den Widerhall und die Besetzung des Fremden dieses ausgedehnten Körpers, der nun »in einem Element […], in einer Welt, in welcher alles sich auf alles bezieht«, existiere. Diese Öffnung des Körpers »auf die Beziehung« hin bedeutet die Unterscheidung von anderen Körpern und kündigt darin wiederum den Kontakt an: »Mein ganzes Wesen ist Kontakt. Mein ganzes Wesen ist berührt/berührend. […] [E]s ist dem Außen aufgetan, offen zugänglich durch all seine Öffnungen […].« 68 Darin zeigt sich Nancys Theorie der Exposition,69 wonach der Körper immer in Ausdehnung begriffen ist und dieses »Ausdrücken selbst die Intimität und die Zurückgezogenheit« sei, in der er sich »von sich, zu sich« in Abstand bringt. Damit wird also nicht im Sinne einer Übersetzung, ein ›Inneres‹ nach außen gekehrt, sondern befindet sich der Körper »immer im Auf‌bruch, kurz vor einer Bewegung« und exponiert somit nicht sich, sondern das »fort-von-sich«.70 Daraus erwachsen Bewegungen zwischen Annähern und Zurückwei220

65 »Ruhr: Das auf das dt. und niederl. Sprachgebiet beschränkte Substantiv […] ist eine Bildung zu dem unter rühren behandelten Verb und bedeutete in den älteren Sprachzuständen zunächst ›[heftige] Bewegung; Unruhe‹. Diese Bedeutung bewahrt noch die Zusammensetzung Aufruhr […]« Vgl. Duden-­ Herkunftswörterbuch: Stichwort »Ruhr«, in: Duden-Bibliothek v 5.2, Berlin: Bib­ liografisches Institut GmbH 2013. 66 Nancy: »Rühren, Berühren, Aufruhr«, a. a. O., S. 2. 67 Ders.: Zum Gehör, a. a. O., S. 27. 68 Ders.: »Rühren, Berühren, Aufruhr«, a. a. O. S. 4. 69 Vgl. Kathrin Busch: »Jean-Luc Nancy – Exposition und Berührung«, in: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, S. 305–319, hier: S. 313  f. 70 Vgl. Nancy: Corpus, a.a.O, S. 33.

HÖREN, BERÜHREN, BEWEGEN

chen, die den Abstand und die Trennung zwischen Berührendem und Berührten (also auch zu mir ›selbst‹) aufrecht erhalten: Ein Pulsieren vielmehr als ein Pendeln, »Ziehen und Anziehen, sowie zugleich ununterbrochene Variation, Fluktuation. […] Vibration zuckende Erregung des einen an den anderen […]«.71 Es sind Momente der Zurückhaltung und des Nicht-Berührens, die zeigen, dass Berührung auf Differenz beruht, welche auch für Jacques Derrida, die »Bedingung jeder Berührung« ist: »Diesen Abstand könnte man als den Takt bezeichnen: Ein Berühren ohne Berührung, man berührt, ohne zu berühren.« 72

Nicht-Berühren Das Gefühl der Zurückhaltung ist wohl auch die für mich denkwürdigste Erfahrung mit dem Klang-Objekt, dessen Titel …zur Berührung somit vielmehr die Frage stellt, wie und ob zu berühren sei, anstatt aufzufordern, die geläufigen Zweifel, ein Objekt im Kunstraum anzufassen, einmal beiseite zu lassen. Stattdessen stellt sich zum Ende dieser Reflexion die Frage, wie die Negativität des Berührens zugleich dessen Anziehung ausmacht. Eine emphatische Vertiefung erfährt diese Frage in Nancys Betrachtung des Noli me tangere-Motivs in der biblischen Darstellung und abendländischen Kunst. Dies geschieht u. a. durch eine Analyse der Übersetzung des altgriechischen Originals ›Mè mou haptou‹ (›Berühre mich nicht‹ oder ›Halte mich nicht fest‹ 73) in das lateinische ›noli me tangere‹ 74, die er als unscharfe und tendenziöse Übertragung kritisiert. Denn sie schwächt ab, was im Moment der Begegnung von Jesus und Maria an dessen Grab seine Auferstehung erst gewahr werden lässt. Jesus, der als Körper, als Mensch auf Erden für alle berührbar war, entzieht sich nun dem Kontakt. Weil er nicht mehr festzuhalten ist (haptéin), gelangt er, der weder tot noch leben71 Ders.: »Rühren, Berühren, Aufruhr«, a. a. O. S. 6. 72 Jacques Derrida: »Denken, nicht zu sehen« (2002), in: Emmanuel Alloa (Hg.): Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie, München: Wilhelm Fink 2011, S. 323–346, hier: S. 341. 73 Diese Übersetzungen sind in der deutschen Einheitsübersetzung der Bibel (›Halte mich nicht fest‹) bzw. in der Lutherbibel (›Rühre mich nicht an‹) zu finden. Vgl. A. d. Ü. in: Jean-Luc Nancy: Noli me tangere, übers. v. Christoph Dittrich, Zürich/Berlin: diaphanes 2008, S. 29. 74 Die lateinische Übersetzung ›noli me tangere‹ von Hieronymus interpretiert laut Nancy die eigentliche wortwörtliche Übersetzung ›non me tange‹ (›Berühre mich nicht‹) aus dem Altgriechischen im Sinne eines ›Du mögest mich nicht berühren‹, ohne dies kenntlich zu machen. Vgl. ebd., S. 49.

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dig scheint, zu seiner Präsenz, welche in seinem unvermeidlichen Fortgehen besteht.75 So widersprüchlich dies scheinen mag, so sehr bedingen »Distanzierung und Zärtlichkeit« diese Szene und übersetzt Nancy diese Aufgespanntheit als: »Berühre mich nicht, denn ich berühre dich, und diese Berührung ist derart, dass sie dich auf Abstand hält.« 76 Nancy zieht aus der Auferstehungsszene einen nicht-religiösen Sinn,77 der darin liegt, dass das Wesen der Gegenwärtigkeit in ihrem Entzug liegt. Entsprechend formuliert er Jesus’ Noli me tangere weiter aus: »[…] versuche nicht, zu berühren oder zurückzuhalten, was sich wesentlich entfernt und dich, indem es sich entfernt, in seiner Distanz selbst berührt«.78 Nancys These »Der Sinn der Berührung gebietet es, nicht zu berühren« 79 erscheint somit nicht im Lichte eines Gebots, sondern schließt den Sinn des Berührens weiter auf. Er liegt im Entfernen und im Entzug, die erst die Erfahrung ermöglichen, an das Berühren zu rühren. Wenn nun laut Nancy, wie im vierten Abschnitt eingeführt, das Berühren (als ein Sich-Spüren-Spüren) alle Sinne durchzieht,80 so gestaltet sich Wahrnehmung in nicht feststellbaren Bewegungen des Entzugs. Eine Paradoxie, die auch Nancy etwa für das Hören herausfordert: »Es geht tatsächlich darum zu hören: unser eigenes Ohr eben dies lauschen zu hören […]«.81 Ein Sinn, der sich also nur im Ereignen der Wahrnehmung singulär öffnet und sich zugleich »ekliptisch ausblendet«.82

Annähern und Entfernen

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Wenn ich folglich inmitten der Performance mit dem Klang-Objekt mich plötzlich zurückhalte, weil mir unbekannte Klänge widerfahren und sich mir zugleich entzieht, woher und wohin diese streben, erlebe ich Zweifel, Unsicherheit und Zaghaftigkeit, obwohl ich dies doch ›selbst‹ mit meinen Berührungen angefacht zu haben meine. So zeigt sich wie nah Annäherung und Entfernung zeitlich und als Empfindung beieinander liegen und wie sehr damit die Verunsicherung einer Selbstgewissheit durch die sich ästhetisch ereignende Fremde verbunden ist. In dieser andauernden Bewe75 76 77 78 79 80 81 82

Ebd., S.  22. Ebd., S.  49. Vgl. ebd., S.  22  f. Ebd., S.  23. Ebd., S.  49. Vgl. Nancy: Zum Gehör, a. a. O., S. 16. Ders.: Noli me tangere, a. a. O., S. 15. Ebd., S.  14  f.

HÖREN, BERÜHREN, BEWEGEN

gung sind Hören und Berühren gewiss nicht als einzelne und auch kaum in einer getrennten Beziehung zu betrachten. Es ist die distanzierte, nachträgliche Reflexion über ein sich dem Körper längst entfremdetes Erleben in Form einer Suche nach Resonanz in der Theorie für Erinnerungen und Ideen, die auch vor dem Hintergrund ästhetischer Erfahrung zustande gekommen sind. So kann als ein Aspekt ihrer sprachlichen Formulierung wohl genannt werden, dass hörender und berührender Sinn eher als eine Bewegung und in Bewegung seiende Sinne beschrieben werden können. Dass und wie Klang und Berührung widerfahren, macht ihren Reiz aus, der zwischen erschütternder Nähe und schmerzlicher Distanz changiert und das Begehren, den anderen und sich sowie die Bewegungen des Wahrnehmens darin zu spüren, aufrecht erhält.

Literatur Böhler, Arno: »Das Timbre des Denkens. Was heißt uns hören, wenn wir denken?«, in: Lukas Haselbröck (Hg.), Klangperspektiven, Hof‌heim: Wolke Verlag 2011, S. 11–26. Bowers, John, Annika Haas: »Hybrid Resonant Assemblages. Rethinking Instruments, Touch and Performance in New Interfaces for Musical Expression.«, in: Baptiste Caramiaux, Koray Tahiroğlu, Rebecca Fiebrink et al. (Hg.), Proceedings of the International Conference on New Interfaces for Musical Expression (NIME 2014), London: Goldsmiths/University of London 2014, S. 7–12.

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Busch, Kathrin: »Jean-Luc Nancy – Exposition und Berührung«, in: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, S. 305–319. Derrida, Jacques: »Denken, nicht zu sehen« (2002), in: Emmanuel Alloa (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie, München: Wilhelm Fink 2011, S. 323–346. DUDEN Herkunftswörterbuch, in: Duden-Bibliothek v  5.2, Berlin: Bibliografisches Institut GmbH 2013. Kahn, Douglas: Noise, Water, Meat. A History of Sound in the Arts. Cambridge (Massachusetts): MIT Press 2001. Licht, Alan: Sound Art. Beyond Music. Between Categories. New York: Rizzoli 2007. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. (1964), Claude Lefort (Hg.), übers. v. Regula Giuliani, Bernhard Waldenfels, München: Wilhelm Fink 1994. Nancy, Jean-Luc: Corpus, übers. v. Nils Hodyas, Timo Obergöker, Zürich/Berlin: diaphanes 2007. — Noli me tangere, übers. v. Christoph Dittrich, Zürich/Berlin: diaphanes 2008. — Zum Gehör, übers. v. Esther von der Osten, Zürich/Berlin: diaphanes 2010. — »Rühren, Berühren, Aufruhr« (Vortrag), übers. v. Valérie Baumann, in: http://tqw.at/sites/default/files/Ruehren%20Beruehre n%20Aufruhr.pdf (letzter Zu­­griff: 15.  6.  2013), Wien: Tanzquartier 2011. Schaeffer, Pierre: Musique concrète: von den Pariser Anfängen um 1948 bis zur elektroakustischen Musik heute, bearb. v. Michel Chion, übers. v. Josef Häusler, Stuttgart: Klett 1974. — »Acousmatics«, übers. v. Daniel W. Smith in: Christoph Cox, Daniel Warner (Hg.), Audio Culture: Readings in Modern Music, New York: Continuum 2004, S. 76–79. Stockhausen, Karlheinz: Texte zur Musik 1963–1979. Bd. 3, Dieter Schnebel (Hg.), Köln: DuMont Schauberg 1971. Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomeno­ logie des Fremden 3, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. — Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. — Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phä­­no­menotechnik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. — Antwortregister, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. — Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp 2010.

HÖREN, BERÜHREN, BEWEGEN

Videodokumentationen Haas, Annika: »… zur Berührung«, in: https://vimeo.com/ahaas/ per­formance (letzter Zugriff: 13.  8.  2013). Meyer, Philipp: »MIKROPHONIE I.I« (2011), in: http://incom.org/ projekt/2841 (letzter Zugriff: 13.  8.  2013).

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Katerina Krtilova Anderes Erkennen. Zur Greif‌barkeit und Undurchdringlichkeit medialer Praktiken Medien / Kultur / Techniken : theoretische und praktische Unterscheidungen Gegenüber der Betonung der Materialität der Kommunikation 1 oder »Materialität des Symbolischen« 2 und der historisch orientierten Untersuchung von Kulturtechniken ist an Medienphilosophie eine dreifache Verschiebung auf‌f ällig: vom ›ersten medientheoretischen Axiom‹, das Medien im »substanziellen und historisch stabilen Sinn« 3 zurückweist, über das Verschwinden des Mediums im 4 bis zur »negativen Medientheorie« 5. Einerseits sollen Gebrauch ‌ ›die Medien‹ nicht als Gegenstand und Gegenstandsbereich behandelt werden – Medialität lässt sich nicht in Form eines ›etwas‹ grei-

1 Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988. 2 Bernhard Siegert: »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1/2010, S. 151–169. 3 Lorenz Engell, Joseph Vogl: »Vorwort«, in: Claus Pias et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart: DVA, 1999, S. 10. 4 Sybille Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren«, in: Stefan Münker, Alexander Roesler, Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt/M.: Fischer 2003, S. 81. 5 Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2006, S. 219  ff.

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fen, sondern nur relational 6 oder als ein Medien-Werden 7 –, andererseits sind Medien das einzige, was nach Auf‌lösung der Ideen ›Geist‹, ›Kultur‹, ›Mensch‹ oder ›Geschichte‹ greif‌bar bleibt und begriffen werden soll. Nicht den Geist gilt es zu erforschen, wie es Friedrich Kittler forderte, sondern Kulturtechniken – nicht die Bewegung des Begriffs, sondern das konkret materielle Begreifen und Bewegen von Objekten, Maschinen und Personen. ›Medien‹ scheinen also ebenso greif‌bar wie ungreif‌bar, zugleich vor- oder nicht-begriff‌liche Operationen sowie bewegliche Begriffe zu sein. In scholastischen Termini gefasst, könnte die Kulturtechnikforschung die nominalistische Position vertreten, »Kulturtechniken – wie Schreiben, Lesen, Malen, Rechnen, Musizieren – sind stets älter als die Begriffe, die aus ihnen generiert werden. Geschrieben wurde lange vor jedem Begriff der Schrift […]«,8 während Medienphilosophie auf der Seite des Realismus verortet werden kann: »Wir können also die Welt nicht kategorial sortieren in Dinge, die Medien sind, und solche, die es nicht sind. […] Ein essentialistischer Medienbegriff ist also zu vermeiden.« 9 Zugespitzt formuliert: was Medien sind, ändert sich mit dem jeweiligen Medienbegriff.10 Wie holzschnittartig diese Unterscheidung sein mag, die aktuelle Problematik des Medien-Denkens ist auch in dieser Hinsicht tief in der Tradition des abendländischen Denkens verankert – den Differenzen zwischen Allgemeinem und Einzelnen, intellectus und res, Subjekt und Objekt, Begriff und Sache, Theorie und Praxis, des Symbolischen und des Materiellen. Die Frage der Medien ist allerdings nicht nur eine Sache des Denkens, sondern gleichzeitig eine Sache der Technik – denn »Zwischenspeicherung und Berechnung beliebig abgetasteter Daten machen auch das Unvorhersehbare vorhersehbar, das Reale im Wortsinn Lacans zum manipulierbaren Code.« 11 Die Unterscheidung des Geistigen 228

6 Dieter Mersch: »Meta / Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2/2010 (2010), S. 187  ff. 7 Joseph Vogl: »Medien-Werden: Galileis Fernrohr«, in: Mediale Historiogra­ phien, Archiv für Mediengeschichte 1/2001, S. 115–123. 8 Thomas Macho: »Zeit und Zahl. Kalender- und Zeitrechnung als Kulturtechniken«, in: Sybille Krämer, Horst Bredekamp (Hg.), Bild – Schrift – Zahl, München: Wilhelm Fink 2003, S. 179. 9 Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?«, a. a. O., S. 82. 10 Vgl. Stefan Münker, Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008; Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München: Wilhelm Fink 2003; Lorenz Engell: »Medien waren: möglich. Eine Polemik«, in: Claus Pias (Hg.), Was waren Medien?, Zürich/Berlin: diaphanes 2011 u.a. 11 Friedrich Kittler: »Fiktion und Simulation«, in: ARS ELECTRONICA (Hg.), Philosophien der neuen Technologie, Berlin: Merve 1989, S. 71.

ANDERES ERKENNEN

und Realen, die in der abendländischen Kultur überhaupt möglich machen, irgendetwas zu bedenken, können von Maschinen prozessiert werden. Das ist eine weitreichende Provokation Kittlers, die radikal die Grundlagen der Erkenntnis in Frage stellt, inklusive des Erkenntnisproblems: Dass es seit Mandelbrots Fraktalen »technogene Wolken und Uferlinien« 12 gibt, die weder von der Rechenmaschine noch dem Theoretiker im herkömmlichen Sinne (der Philosophie, Naturwissenschaf‌ten oder Ästhetik) ›erkannt‹, d. h. als Dinge mit bestimmten Formen und Qualitäten oder als Phänomene, die auf eine bestimmte Weise entstehen, beschrieben, d. h. als etwas klassifizierbar werden können, sofern sie sich auch als etwas ander(e)s erweisen können. Die mathematische-technogene ›Erklärung‹ gehorcht nicht mehr dem adaequatio intellectus et rei Prinzip, das Kittler ebenso ›negativ‹ wie technisch-positiv aus den Angeln hebt. Der Erkenntnisgewinn liegt, sprachlich naiv formuliert, in Algorithmen, die Gebilde, Verhältnisse, Prozesse oder Strukturen berechenbar machen, die zuvor nicht berechenbar waren und natürlich – unabhängig von den Wolkenformationen (und sogar Informatikern) – weitere Berechnungen und eine Steigerung der Leistungsfähigkeit der Rechenmaschinen erlauben. Insofern Technik aber weiterhin Kultur beinhaltet, Unterscheidungen, Operationen oder Praktiken, die im Symbolischen und Diskursiven entwickelt werden ebenso wie im Materiellen und Technischen (was ›Kulturtechniken‹ von Techniken unterscheiden würde), bleibt die Frage nach der Erkenntnis weiter virulent – allerdings anders gestellt. Diese Frage kann aus der Perspektive eines ›Realismus‹, der die entgegengesetzte Richtung zu den neuen objekt-orientierten Realismen 13 einschlägt, formuliert werden. Sie muss keineswegs von einem Subjekt-Objekt Dualismus ausgehen 14 und die Privilegierung des Menschen als souveränes Subjekt durchsetzen. Eine anders formulierte Frage des Erkennens, Wissens, Denkens bildet vielmehr die andere, nicht objektive Seite eines techno-wissenschaftlichen, theoretischen und praktischen, symbolischen und materiellen Wandels, dessen Herausforderung auf beiden Seiten in den konkreten Operationen und Praktiken zu liegen scheint, die Trennungen von Subjekt und Objekt, Denken und Sein, symbolisch und materiell, Theorie und Praxis, Natur 12 Ebd., S. 67. 13 Levi Bryant, Nick Srnicek, Graham Harman (Hg.): The Speculative Turn. Victoria: re-press 2011; Graham Harman: Tool-Being: Heidegger and the Metaphysics of Objects, Peru/IL: Open Court 2002, u. a. 14 In Bezug auf die Medientheorie vgl. Stefan Weber: Non-dualistische Medientheorie. Eine philosophische Grundlegung, Konstanz: UVK 2005.

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und Kultur, Menschlichem und Nicht-Menschlichem durchkreuzen. Die Frage richtet sich damit auf Erkennen als einer kulturellen Praxis – und zwar auch in Form der Theorie. Gegenüber objekt-­ orientierten Ansätzen steht hier die Performativität des Erkennens im Fokus und damit immer auch eine Politik und Ethik der ›Erkenntnis‹ – in metaphysischer Begriff‌lichkeit ausgedrückt –, des ›Wissens‹ im nachmetaphysischen Sinne.‌15 Aus dieser Perspektive lassen sich die Rede von medialen Praktiken und Operationen unterscheiden: wenn Knut Ebeling in seiner »Archäologie der Operatoren« 16 Jacques Derridas différance heranzieht, um Operationen mit nicht-phonetischen Schriftzeichen wie den Anführungszeichen als Beispiel für (prinzipiell) maschinell-symbolisches Operatieren heranzuziehen, sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die ›Operation‹ der Dekonstruktion nicht mit der Operativität von Schriftzeichen bzw. des ›alphanumerischen‹ 17 Codes in eins fällt. Wie Ebeling im Einklang mit Kittler betont, liegt in der »Flachheit eines Rechenzeichens« 18 oder der »Dummheit« 19 der Operationen gleichzeitig ihre Kraft: »Denn wenn auch der operatio etwas verloren geht, wird hier etwas gewonnen: die Flachheit reiner Funktion.« 20 Das dürf‌te nicht für die Dekonstruktion gelten. Wenn Jacques Derrida Paul de Mans performative Arbeit mit, in und gegen den Text beschreibt, hebt er hervor: »The performativity of the de Manian text prohibits one from reducing it to an operation of pure knowledge […]. This grammar of the law is a machine of the letter ( gramma), a letter machine, a writing machine, a typewriter.« 21

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15 Bruno Latours »Dingpolitik« plädiert nicht minder für eine andere Erkenntnispolitik, vgl. ders., Von der Realpolitik zur Dingpolitik, übers. v. Gustav Roßler, Berlin: Merve 2005 u.a. 16 Knut Ebeling: »quote/unquote«. Kleine Archäologie der Operatoren, International Flusser Lectures, UdK, Köln: Walther König 2014. 17 Vgl. Vilém Flusser: »Alphanumerische Gesellschaft«, in: ders., Medienkultur, Frankfurt/M.: Fischer 1999, S. 41–60. Flusser differenziert die Verbindung von Schrift und Zahl und von Schrift und Bild. 18 Ebeling: »quote/unquote«, a. a. O., S. 21. 19 Ebd. 20 Ebd.: »Die Wirklichkeit ist hier nichts, was dichterisch neu geschaffen wird […]. Hier endet nicht die Welt der genuinen Hervorbringungen, hier emergiert etwas: und zwar jene effektiven Praktiken und Funktionen […]«; genauer, ebd., S. 19, 20: »Die Welt ist alles, was der operative Fall oder der Fall von Operationen ist.« 21 Jacques Derrida: »Typewriter Ribbon: Limited Ink (2)«, übers. v. Peggy Kamuf, in: Tom Cohen, Barbara Cohen, J. Hillis Miller, Andrzej Warminski (Hg.), Material Events. Paul de Man and the Afterlife of Theory, Minneapolis: University of Minnesota 2000, S. 351–352.

ANDERES ERKENNEN

De Mans Dekonstruktion schließe eine »machine-like dis-figura­ tion«22 ein – und doch geht es bei de Mans Verwendung von Buch­ staben, Worten und Sätzen gerade nicht um flache Operationen, die Maschinen übernehmen können.23 Die Reflexivität von medialen Praktiken lässt sich also nicht mit der Rekursivität von Operation in eins setzen, so die Annahme, obgleich von der Sache her Praktiken und Operationen auf denselben Bereich kultureller oder kultur-technischer Praxis verweisen. Die Untersuchung von Kulturtechniken kann quer zur philosophischen Erkenntnisproblematik die grundlegenden Unterscheidungen von Natur und Kultur, Symbolischem und Materiellem, »innen/außen, heilig/profan oder Sprache/Sprachlosigkeit« 24 als zugleich ›praktische‹ und ›theoretische‹ nachvollziehen lassen: Unterscheidungen, die überhaupt erst etwas als etwas erkennen lassen, aber nicht nur im Bezug aus Sprache (der Benennung von etwas als etwas), sondern in unterschiedlichen praktischen Modalitäten wie trennen, einen Abstand einnehmen, manipulieren, beobachten, ordnen, wiederholen usw. Erhard Schüttpelz beschreibt in diesem Sinne z. B. Gehen, Schlafen oder Geburtshilfe als Kulturtechniken, insofern sie »arbiträre Möglichkeiten der Variation« 25 bieten und so soziale Gruppen unterscheiden können und in symbolische Ordnungen eingehen. »Die Medialität der Körpertechniken – dass sie eine symbolische Unterscheidung vermitteln, dass sie Abgrenzungen und Eigensinnigkeiten symbolisieren und stilisieren können – beginnt hier.« 26 Gehen oder Schlafen werden dann kulturell und technisch, wenn sie veränderlich, formbar, deutbar, unterscheidbar werden – gleichzeitig theoretisch unterschieden werden können und praktisch durch elementare Unterscheidungen nicht nur soziale Gruppen differenzieren können, sondern reflexiv werden – ob in Form von religiösen Praktiken der Meditation oder Pilgerreise, ästhetischen Praktiken, die Körperbewegungen variieren oder technischer Praktiken der Entwicklung von Schuhen u. a.

22 Ebd., S.  355. 23 Ebd., S. 352: »It is not said that the machine is a grammar of the text. Nor that the grammar of the text is a machine.« 24 Bernhard Siegert: »Was sind Kulturtechniken?«, zit. nach Erhard Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken«, in: Archiv für Mediengeschichte 6/2006, S. 89. 25 Erhard Schüttpelz: »Körpertechniken«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1/2010, S. 113. 26 Ebd.

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Schüttpelz hinterfragt die Medialität der Körpertechniken (als Kulturtechniken) 27: Medien werden […] dann als Kulturtechniken beschreibbar, wenn die Praktiken rekonstruiert werden, in die sie eingebunden sind, die sie konfigurieren oder die sie konstitutiv hervorbringen. Diese Praktiken reichen von Kulthandlungen und religiösen Zeremonien bis zu den Methoden der Erzeugung und Repräsentation von ›objektiven‹ Daten in den Wissenschaf‌ten, von den Methoden der Pädagogik bis zu den politischen, administrativen, anthropologischen und biologischen ›Menschenfassungen‹.28 Dabei führt diese Betonung des ›Praxis-Aspekts‹ und seiner Medialisierung »unausweichlich in die wahren Untiefen des Begriffs der Kulturtechniken.« 29 – denn die Medialität der Körpertechniken lässt sich auf kein gegenständliches Medium zurückführen. Gehen kann auf einen bestimmten Körperbau zurückgeführt werden und benötigt zwei Beine, aber beide können nicht als Medium verstanden werden, die das Gehen ›prozessieren‹ 30, also die Unterscheidung hervorbringen, die das Gehen zu einer kultur-technischen Praktik macht. Schüttpelz bestimmt schließlich die Medialität von Kulturtechniken durch Rekursivität: ›Rekursivität‹ durchaus im Einklang mit ihrer ursprünglichen (fregeschen) Definition verstanden als Möglichkeit, ›dieselbe Operation auf Resultate einer Operation anzuwenden‹, verlangt kein begriff‌liches und oft auch kein begriffenes Tun, sondern nur die Orientierung an den jeweiligen Wendemarken der operativen Zyklen, sei es im Zählen, Schreiben, Malen, Musizieren oder Tanzen (oder im Schaben, Kratzen, Schaufeln und Sägen).31 232 27 Darauf weist bereits der Titel des im folgenden zitierten Textes hin: »Die medienanthropologische Kehre [Herv. K. K] der Kulturtechniken«. 28 Erhard Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken«, in: Archiv für Mediengeschichte 6/2006, S. 87. 29 Ebd., S.  87–88. 30 Vgl. Siegerts Verwendung des Begriffs in: »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«, a. a. O., S. 152; zur Diskussion des Begriffs vgl. Hartmut Winkler: »Prozessieren. Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion«, http://homepages. uni-paderborn.de/winkler/proc_d.pdf (letzter Zugriff: 25.  7.  2014) 31 Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken«, a. a. O., S. 89.

ANDERES ERKENNEN

Diese Antwort kann die Untiefen des Kulturtechnikbegriffs aber nicht verflachen. Wie wir bei Kittlers ›technogenen Wolken‹ gesehen haben: Rekursivität ermöglicht in Rechenmaschinen eine Erkenntnis a priori, insofern die formal-logischen Unterscheidungen, die im Computer prozessiert werden, formal-logisch analysiert werden können (in ihren Bedingungen der Möglichkeit). Der »Medienapriorismus« 32 scheint zwar unabhängig von der jeweiligen Technik zu gelten, doch er könnte auch von einer ganz bestimmten Art Technik, und zwar aller auf mathematisch-logischen Operationen basierenden Technologien prozessiert werden – als eine bestimmte Art von Erkenntnis, die in einer Rekursivität aufgeht, die ihre Dynamik nicht mehr aus der Trennung von intellectus und res schöpft, sondern der Rekursion in operativen Zyklen, also der Wiederholung derselben Operation – im Materiellen und Symbolischen. Impliziert das Medienapriori damit nicht immer ein formal-logisches Apriori (gegenüber der Betonung der Materialität und historisch veränderlicher Formen)? 33 Die Untiefen des Begriffs der Kulturtechniken, die Schüttpelz auf den Punkt bzw. Körper bringt, verunsichern jedoch den Standpunkt selbst, von dem aus der »(historische und/oder praktische) Vorrang der unbegriffenen vor der begriffenen, der begriffenen vor der begriff‌lichen Operation, des Verbs vor dem Substantiv« durch »ein vorausgesetztes und/oder vertief‌tes Auseinandertreten von ›Wissen-dass‹ und ›Wissen-wie‹« 34 behauptet werden kann – aber verschließt ein ›Wissen dass‹ nicht immer schon den Weg zum ›wie‹ des Wissens, bestimmt ein ›Wissen dass‹ nicht das ›Wissen wie‹ und nicht umgekehrt?

Einstellungswechsel Edmund Husserls Phänomenologie als »apriorische Wissenschaft« 35, die die Grundlage aller Wissenschaften bilden soll, lässt sich als philosophischer Gegenpol der Untersuchung von Kulturtechniken verstehen: Die Begründung der Erkenntnis in der apodiktischen Evidenz der transzendentalen Subjektivität ist genau 32 Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?«, a. a. O., S. 79. 33 Vgl. Dieter Mersch: Ordo ab chao – Order from Noise, Zürich/Berlin: diaphanes 2013. 34 Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken«, a. a. O., S. 89. 35 Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie, Husserliana, Bd. IX, Den Haag: Nijhoff 1962, S. 277.

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das, was eine (an Kittler orientierte) Medienwissenschaft nicht macht. Trotzdem, oder gerade deswegen lohnt der Blick auf die ›andere Seite‹ – in Husserls späte Krisis-Schrift, in der seine eigene Methode Risse bekommt.36 Im Vollzug der grundlegenden ›Operation‹ der phänomenologischen Reflexion, der Epoché – d. h. der Ausklammerung des »ständigen Geltungsvollzugs der vorgegebenen Welt« 37 – stehen wir offenbar immer noch auf dem »Boden von Selbstverständlichkeiten« 38, der die ›objektive Philosophie‹ trägt. Dieser Boden ist nun »reduziert auf die vorwissenschaftlich uns geltende Lebenswelt« 39, die nicht ›ausgeklammert‹ werden kann, um in der Reflexion evident zu werden – womit das ›Wie‹ des methodischen Zugangs selbst fragwürdig wird. Husserls Ziel ist eine Präzisierung der phänomenologischen Methode, nicht ihre Infragestellung, sowie nach wie vor die »methodische Reform aller Wissenschaften« 40 – und dennoch zeichnet sich in seiner Schrift sozusagen performativ die Krise der phänomenologischen als einer wissenschaftlichen, apriorischen Methode ab. Auch das methodische Zurücktreten von der Welt ist ein Verhalten in der Welt – d. h. die Kritik an der Wissenschaft muss weitergehen als bis zu den Vorurteilen des ›objektiven‹ Wissens (die voraussetzen, was entdeckt werden soll) bis zum »Sich-Wissen in der Lebenswelt« 41, das jeglichem ›Wissen von‹ zugrunde liegt. Husserl macht am Wissenschaftler Albert Einstein (das Beispiel scheint nicht ganz willkürlich gewählt zu sein) deutlich, dass subjektiv-relative Bezüge auch abstrakteste objektiv-logische Leistungen begleiten: »Aktivitäten und Erzeugnissen in der gemeinsamen Lebenswelt« 42 bilden eine Voraussetzung für alle »objektiv-wissenschaftlichen Fragestellungen, Vorhaben, Leistungen Einsteins. Es ist natürlich die eine, allgemeinsame Erfahrungswelt, in der auch Einstein und jeder Forscher sich als Mensch, und auch während seines forschenden Tuns, weiß.« 43 Dieses ›Wissen‹ kann aber gerade nicht durch eine 234

36 Im Kontext der Medienphilosophie vgl. Erich Hörl: »Die technologische Sinnverschiebung. Über die Metamorphose des Sinns und die große Transformation der Maschine«, in: Lorenz Engell, Jiri Bystricky, Katerina Krtilova (Hg.), Medien denken, Bielefeld: transcript 2010, S. 17–36. 37 Husserl, Phänomenologische Psychologie, a. a. O., S. 151. 38 Ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Gesammelte Schriften, Bd. 8 (Text nach Husserliana, Bd. VI), Hamburg: Meiner, 1992, S. 185. 39 Ebd., S. 150. 40 Ders.: Phänomenologische Psychologie, a. a. O., S. 277. 41 Ders.: Die Krisis, a. a. O., S. 143. 42 Ebd., S.  128. 43 Ebd.

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objektive Betrachtung der beschriebenen Aktivitäten und Erzeugnisse erschlossen werden – Husserls Anspruch einer »wissenschaftliche[n] Erschließung der Lebenswelt« 44 ist damit paradox: 45 das »Wie der Vorgegebenheit der Welt, also von dem, was ihr universales Bodensein für jedwede Objektivität ausmacht« 46 wird nur »subjektiv-relativ« zugänglich, Objektivität wird gerade durch die Unterscheidung von der subjektiv-relativ gegebenen Welt erreicht. Das ›Wie‹ des Selbstverständlichen (der Lebenswelt) verständlich im Sinne von wissenschaftlich greif‌bar zu machen, kann nicht gelingen. Die Evidenz objektiv-logischer Leistungen wird objektiv-logisch evident – die transzendentale Reflexion beruht auf objektiv-logischen Operationen, die gewissermaßen ›über‹ der wissenschaftlichen Objektivität stehen, da sie die logischen Operationen nochmals als logische Operationen logisch reflektieren.47 In der Krisis stellt aber Husserl auch fest: die anfangende Philosophie […] hat keine geprägte Logik und Methodologie im Voraus und kann ihrer Methode und selbst den echten Sinn ihrer Leistungen nur durch immer neue Selbstbestimmungen gewinnen. Ihr Schicksal (freilich hinterher wird es als ein Wesensnotwendiges verstehbar) ist ein immer wieder neues Hineingeraten in Paradoxien, die von unbefragt, ja unbemerkt gebliebenen Horizonten herstammen und als mitfungierende sich zunächst in Unverständlichkeiten melden.48 An diesen Satz schließt direkt die Überschrift »Die Auflösung der Paradoxie« 49 an: Die Phänomenologie führt nicht in den Abgrund des Bodenlosen, sondern schafft einen (neuen) Boden. Trotzdem kommt hier in der phänomenologischen Reflexion eine »ganz 44 Ebd., S.  131. 45 Ebd.: »Es muss völlig aufgeklärt, also zur letzten Evidenz gebracht werden, wie alle Evidenz objektiv-logischer Leistungen, in welcher die objektive Theorie (so die mathematische, naturwissenschaftliche) nach Form und Inhalt begründet ist, ihre verborgenen Begründungsquellen in dem letztlich leistenden Leben hat, in welchem ständig die evidente Gegebenheit der Lebenswelt ihren vorwissenschaftlichen Seinssinn hat, gewonnen hat und neu gewinnt.« 46 Ebd., S.  149. 47 Selbst im geschlossen System der Rekursivität bleibt keine Operation dieselbe, so Niklas Luhmann: »Die Form garantiert Geschlossenheit, ›perfect continence‹, […] aber sie verdankt dies einer zunächst verdeckten, dann offenzulegenden Paradoxie, die darin besteht, dass die in sich wieder eintretende Unterscheidung dieselbe und nicht dieselbe ist«, in: Luhmann: Beobachtungen der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992, S. 88–89. 48 Husserl: Die Krisis, a. a. O., S. 185. 49 Ebd.

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andersartige Wissenschaftlichkeit« 50 zum Einsatz, die die Möglichkeit eines Erkennens jenseits des objektiv-wissenschaftlichen öffnet. Diese Möglichkeit erwächst aber gerade aus der Paradoxie, die Husserl aufzulösen versucht – und an dieser Stelle schlägt Husserls Schüler Martin Heidegger einen anderen Weg vor: im Denken den Boden der Wissenschaft zu verlassen. Wenn sich die objektiv-logischen Leistungen selbst als in der Lebenswelt verankerte Praxis zeigen, als ein bestimmtes »theoretischen Verhalten[s]« 51, dann gerade nicht dank einer Reflexion der Reflexion (wir könnten auch sagen: Rekursion der logisch-objektiven Operationen), sondern einer anderen Art der ›Reflexion‹, die Heidegger eher als ›Brechung‹ 52 versteht und gegenüber der methodischen (Selbst-)Reflexion abgrenzt. In Sein und Zeit scheint sich noch der »Umschlag[s] vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken« 53 das Paradox des Einstellungswechsels – von einer natürlichen zur transzendentalen Einstellung 54 – zu wiederholen: das Hantieren mit Zeug könnte mit Knut Ebeling im Sinne ›flacher‹ Operationen verstanden werden (»[…] jene effektiven Praktiken und Funktionen, denen Heidegger an anderer Stelle durch das ›Zeug‹ Ausdruck verliehen hat: Das Zeug operiert, es reflektiert nicht.« 55), wobei Heidegger bekanntlich nur mit Werkzeugen wie einem Hammer operiert, die den Umschlag in ein theoretisches Entdecken nachvollziehen lassen: der Hammer wird zu einem Vorhandenen, wenn wir ihn »›neu‹ angesehen, als Vorhandenes.« 56 Die Betrachtung der Änderung der Hinsicht setzt einen theo­ retischen Blick voraus, der den Umschlag in die Theorie selbst betrachten kann – was nur theoretisch geht, nicht im Rahmen eines umsichtigen Besorgens. Das Zuhandene kann so immer nur als vorhanden betrachtet werden, qua theoretischer Betrachtung. Nach Sein und Zeit revidiert oder radikalisiert Heidegger aber den ›Umschlag‹ mit seinem Denken des Sprungs, Denken als Sprung, die »[…] Verwandlung in einen ursprünglicheren Stand des Fragens.« 57 Nach diesem Sprung aus der wissenschaftlichen-theoretischen Einstellung charakterisiert Heidegger Theorie 50 Ebd., S. 127. 51 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006, S. 357. 52 Ders.: »[…] sich an etwas brechen, von da zurückstrahlen, d. h. von etwas her im Widerschein sich zeigen«, in: ders., Die Grundprobleme der Phäno­menologie, Gesamtausgabe, Bd. 24, Frankfurt/M.: Klostermann 1997, S. 226–227. 53 Ebd., S.  360. 54 Husserl: Die Krisis, a. a. O., S. 152  ff. 55 Ebeling: »quote/unquote«, a. a. O., S. 21. 56 Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., S. 361.

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als ›Be-trachten‹, als »[…] das nachstellende und sicherstellende Bearbeiten des Wirklichen.« 58 Gegenüber dem vergegenständlichenden Vor-stellen, das im Voraus festlegt, was wie erkannt werden kann – um dies zu ›entdecken‹ ereignet sich Denken, um eben dies zu ›entdecken‹: »Vollends kann nun aber das Ereignis nicht wie eine ›Begebenheit‹ und ›Neuigkeit‹ vor-gestellt werden. Seine Wahrheit, d. h. die Wahrheit selbst, west nur in der Bergung als Kunst, Denken, Dichten, Tat und fordert deshalb die Inständigkeit des Da-seins, das alle Scheinunmittelbarkeit des bloßen Vor-stellens verwirft.« 59 Während Husserls phänomenologische Methode eine »Vollzugsenthaltung« 60 erfordert und damit die klare Trennung der ›trans­ zendentalen‹ Einstellung vom Geltungsvollzug der gegebenen Welt (wie sie die wissenschaftliche ›objektive‹ Erkenntnis erfordert), ist Heideggers Denken wesentlich ein Vollzug. Theorie ist daher gerade nicht gleichzusetzen mit Denken. Denken heißt nicht, in ein vor-theoretisches, ›ursprünglicheres‹ oder ›dummes‹ Da-sein zu springen, sondern vielmehr ein nach-theoretisches »inständliche[s] Wissen« 61, ein Denken des Seyns.

Techniken des Erkennens Die Herausforderung der Lebenswelt bleibt: Das theoretische Verhalten selbst in der Welt zu verankern. Ein paradoxes Unterfangen, wenn die Theorie doch gerade die Trennung von der Praxis erfordert – doch dieses Paradox erlaubt auch, aus der Theorie ›herauszuspringen‹. In Sein und Zeit skizziert Heidegger die »Genesis des theoretischen Verhaltens« 62 bis zum »mathematischen Entwurf der Natur selbst« 63, der der späteren Technowissenschaft wie auch der Heidegger’schen Kritik des Gestells zugrunde liegt. Dieser Ent237 57 Ders.: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt/M.: Klostermann 2003, S. 278. 58 Ders.: »Wissenschaft und Bedingung«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 51–52. 59 Ders.: Vom Ereignis, a. a. O., S. 256. 60 Husserl: Die Krisis, a. a. O., S. 153. 61 Heidegger: Vom Ereignis, a. a. O., S. 7. 62 Ders.: Sein und Zeit, a. a. O., S. 361. 63 Ebd., S. 362: »Das entscheidende für ihre Ausbildung liegt weder in der höheren Schätzung der Beobachtung der ›Tatsachen‹, noch in der ›Anwendung‹ von Mathematik in der Bestimmung der Naturvorgänge – sondern im mathematischen Entwurf der Natur selbst.«

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wurf entdeckt ein ständig Vorhandenes (Materie) und behandelt diese in Hinblick auf seine quantitativ bestimmbaren konstitutiven Momente (Be­wegung, Kraft, Ort und Zeit) […]. Die Begründung der ›Tatsachenwissenschaft‹ wurde nur dadurch möglich, dass die Forscher verstanden: es gibt grundsätzlich keine ›bloßen Tatsachen‹. Am mathematischen Entwurf der Natur ist wiederum nicht primär das Mathematische als solches entscheidend, sondern dass er ein Apriori erschließt.64

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Das Seiende wird mithin »im vorgängigen Entwurf seiner Seinsverfassung« 65 entdeckt. Es gibt technogene Wolken und Uferlinien. Doch diese Einsicht bringt auch ein anderes Erkennen hervor, das diese Art der Erkenntnis als eine mögliche re-flektiert. Alle Erkenntnis, so Heidegger, leitet sich in der Tradition der Metaphysik aus der Idee der Anschauung ab, die aus der »Übersicht über das Zeugganze der jeweiligen Zeugwelt« 66 hervorgeht, »dem Vorrang des ›Sehens‹« 67 (also der Möglichkeit, den Bewandniszusammenhang ›übersichtlich‹ zu gestalten – alles ›als das und das‹ zu sehen). Es könnte den Anschein haben, das »pure Hinsehen auf das Seiende entsteht dadurch, dass sich das Besorgen jeglicher Hantierung enthält. Das Entscheidende der ›Entstehung‹ des theoretischen Verhaltens läge dann im Verschwinden der Praxis.« 68 Doch diese Trennung von der Praxis nachzuvollziehen (wie es die Wissenschaft als Theorie tut) heißt, den Vollzug des theoretischen Verhaltens aus dem Blick zu verlieren. Bereits in Sein und Zeit weist Heidegger darauf hin: »Und wie der Praxis ihre spezifische ›Sicht‹ (›Theorie‹) eignet, so ist die theoretische Forschung nicht ohne ihre eigene Praxis.« 69 Die Beispiele sind hier noch weitaus näher an Kulturtechniken als das (spätere) Beispiel Einsteins in Husserls Krisis-Schrift: das Ablesen der Messzahlen, das den Auf‌bau einer Versuchsanordnung erfordert; das Beobachten im Mikroskop, das auf die Herstellung von ›Präparaten‹ angewiesen ist; die archäologische Ausgrabung. »Aber auch die ›abstrakteste‹ Ausarbeitung von Problemen und Fixierung des Gewonnenen hantiert zum Beispiel mit Schreibzeug.« 70 Doch worauf es ankommt, 64 65 66 67 68 69 70

Ebd. Ebd. Ebd., S.  359. Ebd., S.  358. Ebd., S.  357. Ebd., S.  358. Ebd.

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ist nicht die objektive Betrachtung des jeweiligen Zeugs, sondern, dass keineswegs klar ist, »wo denn nun eigentlich die ontologische Grenze zwischen dem ›theoretischen‹ Verhalten und dem ›atheoretischen‹ verläuft!« 71 Genau dann vollzieht sich Denken zwischen dem Theoretischen und A-theoretischen, an der Grenze des Theoretischen und Praktischen – gar Denken als Grenze, als Unterscheidung (im Sinne des Verbs) des Praktischen und Theoretischen. Das theoretische Weltverhältnis ist demnach nicht einfach gegeben: einen Abstand von der Welt zu gewinnen, ist nicht allein ein theoretischer Akt, sondern potenziell technisch, wie Hans Blumenberg betont: »Und Formalisierung […] ist eben auch potentiell schon Technisierung, denn was formalisiert werden kann – das heißt: was seine Anwendbarkeit unabhängig von der Einsichtigkeit des Vollzuges gewinnt –, das ist auch im Grunde schon mechanisiert […]« 72 Doch der theoretische Blick (»Übersicht« 73) verstellt die Verbindung von Theorie und Praxis – Technik ist in diesem Sinne »primär nicht ein Reich bestimmter, aus menschlicher Aktivität hervorgegangener Gegenstände; sie ist in ihrer Ursprünglichkeit ein Zustand des menschlichen Weltverhältnisses selbst.« 74 Beim Denken geht es gerade nicht darum, von einer Sphäre des besorgenden-praktischen Umgangs in eine andere Sphäre der Theo­rie zu wechseln, sondern diese Trennung zu ›entsetzen‹ – nicht vom Standpunkt der Theorie aus ein ›ursprünglicheres‹ Erkennen betrachtend oder anstrebend, sondern Erkennen selbst ändernd. Die Welt ist nicht zunächst als ›natürliche‹ (Lebenswelt) zugänglich, die dann ggf. theoretisch reflektiert werden könnte, sondern Welt erschließt sich durch da-sein, d. h. im In-der-Weltsein, im Umgehen mit Worten ebenso wie Dingen, im Schreiben, Malen, Bauen, Gehen. Christoph Hubig interpretiert Husserls Lebenswelt in diesem Sinne als praktisch-technische Verankerung des Erkennens nicht im Boden des Selbstverständlichen, sondern eher aus der Unsicherheit des In-der-Welt-Seins: Vielmehr handelt es sich um den Effekt einer – neben den Selbstverständlichkeiten – bereits in der Lebenswelt angelegten konstitutiven Unsicherheit: Denn bereits hier finden sich, wie Husserl in den Logischen Untersuchungen herausgestellt hat, ›Anschauungslücken‹, zu deren Überbrückung der vorstel71 Ebd. 72 Hans Blumenberg: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart: Re­ clam 2012, S. 41–42. 73 Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., S. 359. 74 Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, a. a. O., S. 32.

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lende Verstand auf Formalisierungen zurückgreifen muss. […] Weil die ›natürliche Einstellung‹ aufgrund der Lückenhaftigkeit der Anschauungen bereits die Möglichkeit der Enttäuschbarkeit birgt, muss sie formieren.75

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Wir sind quasi gezwungen, »eine Modellierung der Welt vorzunehmen, wenn wir unsere Weltbezüge gelingend gestalten wollen« 76 Doch gleichzeitig ist diese Gestaltung der Welt nicht durch die theoretische Willkür des »Machen[s] und Hantieren[s]« 77 geleitet, der Machbarkeit des mathematischen Entwurfs der Natur. Jedes Erkennen vollzieht sich in einem begrenzten, nicht relativen Horizont (1) des Da-seins, dessen Geltung nicht beliebig sistiert werden kann, und in einem »offene[n], strömende[n], endlose[n] Horizont (2) unterschiedlicher Perspektiveinnahme[n] […] sind [beide] vereinbar, wenn man unter […] Horizont (2) die Mannigfaltigkeit der Weltverhältnisse, die wir in diesem Rahmen einnehmen können, [versteht], also eine reflexionsbegriff‌liche Kennzeichnung der endlosen Fortsetzbarkeit der Aktualisierung solcher Verhältnisse in theoretischer oder praktischer Absicht.«78 Zum einen ist das Erkennen selbst in einer Lebenswelt verankert (Horizont 1), ein Teil der Welt, »im Weltwesen von diesem angesprochen, innerhalb seiner ihm antworte(t)[end]« 79, verankert in der Leiblichkeit, dem Mit-Sein mit Anderen, der Materialität als Horizont, der nicht ›als etwas‹ angesprochen werden kann 80. Zum anderen ist Erkennen immer ein Vollzug, der nicht von der Praxis trennt, sondern sie vielmehr für Theorie öffnet: Dasein erschließt sich, insofern es möglich ist; Geltungsvollzüge sind nicht nur ›vorgegeben‹, sondern sie können vollzogen werden. »Das Sein des faktischen Lebens ist darin ausgezeichnet, dass es ist im Wie des Seins des Möglichseins seiner selbst.« 81 Gehen, Schlafen oder Geburtshilfe werden zu Körpertechniken, wenn auch ein anderes Gehen, Schlafen, Weisen der Geburtshilfe möglich oder voneinander unterschieden werden können. »Als konstitutiv, und zwar 75 Ebd. 76 Christoph Hubig: »Technik und Lebenswelt«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2/2013, S. 258. 77 Heidegger: »Die Frage der Technik«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Klostermann 2004, S. 17. 78 Hubig: »Technik und Lebenswelt«, a. a. O., S. 259. 79 Heidegger: »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Klostermann 2004, S. 174. 80 Vgl. Dieter Mersch: Posthermenutik, Berlin: Akademie Verlag 2010. 81 Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Gesamtausgabe, Bd. 63, Frankfurt/M.: Klostermann 1995, S. 16.

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entscheidend, der Auslegung, die selbst das da sein mit ist, teilt sie dessen Seinscharakter: Möglichsein.« 82 Das Möglichsein der Auslegung heißt aber nicht, dass es dabei um eine willkürliche Setzung geht, um die Reflexion als »Willensentschluss« 83, der eine freie Variierung der Perspektiven ermöglicht, sondern: »Dieses Möglichsein ist ein umgrenztes, faktisch veränderlich von der Lage her, auf die zu je das hermeneutische Fragen geht; Vorhabe ist also nicht beliebig willkürlich.« 84 Der Bruch mit der theoretischen wissenschaftlichen Einstellung ermöglicht nicht die Wirklichkeit der Operationen, das, »was der operative Fall oder der Fall von Operationen« 85 ist, als gegeben zu betrachten, sondern als Teil einer theoretisch geformten Wirklichkeit – einer ›theoretischen‹ Kultur, die Wirklichkeit theoretisch überblickt und durch entsprechende Techniken symbolisch zu formalisieren und materiell-technisch zu modellieren erlaubt. Rekursive technische Operationen sind jenseits der Trennung von Theorie und Praxis nicht völlig losgelöst von allem ›Geistigen‹, Diskursiven oder der Sinnstiftung – gerade das zeigt die historische Perspektive einer Mediengeschichte oder -›archäologie‹, die nicht teleologisch ausgerichtet ist und daher nicht das Selbe, sondern das Andere an den Tag bringt 86 – und eben die kulturelle Seite der Techniken zeigt. Ebenso ist das theoretische Verhalten nicht bloß ein ›Gedankenkonstrukt‹, sondern lässt die Abstraktion oder Formalisierung zur technisch-materiellen Wirklichkeit werden. Die Macht des diskursiven Wissens ist nicht zu unterschätzen.87 Wie Rechenmaschinen funktionieren, lässt sich sicher besser mit ›rekursiv‹ als mit ›reflexiv‹ beschreiben, doch diese Rekursivität selbst lässt sich sehr wohl re-flektieren im Sinne einer ›Brechung‹ des Erkennens selbst: Erkennen muss nicht erst und nur 82 Ebd. 83 Husserl: Die Krisis, a. a. O., S. 147–148: »[…] dieser totalen Interessenswendung, durchgeführt in einer neuen, durch einen besonderen Willensentschluss gestifteten Konsequenz […]« 84 Heidegger: Ontologie, a. a. O., S. 16. 85 Ebeling: »quote/unquote«, a. a. O., S. 20. 86 Ebd., S.  57. 87 Vgl. Marc Rölli, in Diskussion von Ansätzen der Actor Network Theory: »[…] und man kann sich fragen, ob damit dem Vorrang der Praxis nicht wie schon zuvor bei Marx der ›gesellschaftliche Lebensstrom‹ allzu konkretistisch gefasst wird, als eine ›misplaced concreteness‹, die die Macht des diskursiven Wissens ein wenig unterschätzt«, in: ders., »Dinge im Kollektiv. Zur Differenz phänomenologischer und ANTistischer Denkansätze«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2/2012, S. 149.

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an dem Punkt einsetzen, wenn ihre Gründe a priori einsehbar werden. Wenn der Medienbegriff offen lässt, was, wann, wie oder warum etwas zum Medium wird, kann Medialität als ›operativer‹ Begriff der Beschreibung von Kulturtechniken verwendet werden, im Sinne von Schüttpelz’ ›Untiefen‹: der Offenheit des Erkennens von etwas als etwas, des Unterscheidens, Be/deutens, das gerade nicht im Voraus festgelegt ist. Reflexivität führt gegenüber Rekursivität immer in Untiefen, immer verankert in ›etwas‹, was sich nicht greifen lässt, auch nicht als ›Subjekt‹ oder ›Mensch‹, denn Reflexion als Denken (d. h. nicht als Selbst-Reflexion) ist nie ganz ›außen‹. Die Brechung ist nicht als Wendepunkt eines operativen Zyklus feststellbar, sondern bleibt immer sozusagen als blinder Fleck. Sichtbar werden ganz konkrete Praktiken. Mehr noch als ein gelingendes Gestalten der Welt geben Praktiken zu denken, die nicht gelingen, nicht funktionieren, ja verunsichern, unsinnig, widersinnig oder unnütz sein können – wie künstlerische oder religiöse Praktiken (und alle möglichen Praktiken, die nicht in einen Bereich eingeteilt werden können). Jenseits einer Theorie, die praxis mit operari kurzschließt,88 können viele Praktiken ins Erkennen eingehen – im Sinne von ›erkannt werden‹ ebenso wie ›zu Erkenntnispraktiken (Praktiken des Wissens oder Denkwerkzeugen) werden‹,89 d. h. alles, was zu denken gibt, ganz konkrete Praktiken, die in ihrer Reflexivität immer undurchdringlich bleiben.

Literatur

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Autorinnen und Autoren Romina achatz  studierte Theater-, Film- und Medienwissen­ schaft und Philosophie in Wien und Rom. Sie diplomierte über »Die Körper des Politischen im Werk von Pier Paolo Pasolini«. Zudem Studium des Films an der Prag Filmschool und an der unabhängigen Filmschule von Friedl Kubelka in Wien. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt in Chiba und Tokyo erhielt sie von 2012–2015 ein Stipendium im Rahmen des PhD-Forschungsteams »Künstlerische Selbsttechniken« an der Kunstuniversität Linz. Sie erforscht verschiedene Selbsttechniken im Bereich der performativen Kunst, vorwiegend in der japanischen Performance-Kunst Butoh und arbeitet als freie Radioredakteurin. Zeynep akbal  hat 2008 ihr Studium der Kommunikationswissenschaf‌ten an der Universität Istanbul mit einem Bachelor absolviert. Zwischen 2010 und 2014 studierte sie im Master Studiengang Europäische Medienwissenschaft an der Universität Potsdam und der Fachhochschule Potsdam. 2010 bis 2012 unterrichtete sie in der Workshopsreihe »Cineastische Kultur im Deutschunterricht« in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Yaounde, Bafoussam und Douala in Kamerun. Seit 2014 ist Akbal Doktorandin an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam mit ihrem Forschungsprojekt zum Thema »Die Selbstentfremdung des Individuums im Bezug auf neue, technologische Entwicklungen und die politischen Prozesse«. Sie beschäftigt sich mit Videokunst, Performance-Theorie, Wahrnehmung und Phänomenologie.

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KRAFT DER ALTERITÄT

Fabian Goppelsröder  studierte Philosophie und Geschichte in Berlin und Paris und promovierte am Comparative Literature Department der Stanford University über Kalendergeschichte and fait divers. The poetics of circumscribed space. Aktuell ist er Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Er ist Autor des 2007 im transcript-Verlag erschienenen Buches Zwischen Sagen und Zeigen. Wittgensteins Weg von der literarischen zur dichtenden Philosophie und Herausgeber der Bände Wittgensteinkunst. Annäherungen an eine Philosophie und ihr Unsagbares (Zürich/Berlin: diaphanes 2006), Sichtbarkeiten 1: Erscheinen (mit Mira Fliescher und Dieter Mersch, Zürich/Berlin: diaphanes 2013), Sichtbarkeiten 2: Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache (mit Martin Beck, Zürich/Berlin: diaphanes 2014) und Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst (mit Ulrich Richtmeyer und Toni Hildebrandt, Bielefeld: transcript 2014).

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Barbara Gronau  ist Professorin für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste Berlin. Sie arbeitete zuvor als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, als Gastprofessorin und Gastdozentin an der Universität der Künste sowie als Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft an der Heinrich-Heine-­ Universität Düsseldorf. Sie promovierte 2006 mit einer Dissertation über die Schnittstellen von Theater und bildender Kunst am DFG-Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin. Seit 2002 ist sie zudem als Dramaturgin und Kuratorin an deutschsprachigen Theatern in Berlin, Zürich und Wien tätig. Für die Monographie Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov (München: Wilhelm Fink 2010) erhielt sie im vergangenen Jahr den von der Stiftung Museum Schloss Moyland erstmals vergebenen »Joseph Beuys Preis für Forschung«. Gegenwärtig arbeitet sie an ihrer Habilitation zur Ästhetik des Unterlassens. Neben zahlreichen Aufsätzen hat sie sechs Schrif‌ten herausgegeben, darunter mit Erika Fischer-Lichte und Christel Weiler Global Ibsen. Performing Multiple Modernities (New York/London: Routledge 2011) und Szenarien der Energie. Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen (Bielefeld: transcript 2013). annika Haas  studierte Europäische Medienwissenschaft und erhielt 2012 den Preis für die beste Abschlussarbeit. Im Anschluss daran organisierte sie fortlaufend interdisziplinäre Workshops als Gründerin der AG ›Kunst und Wissenschaft‹ (Ev. Studienwerk e. V.

AUTORINNEN UND AUTOREN

Villigst), sowie die Tagung »Performative Philosophie. Denken im Modus der Kunst« in Berlin. 2013 war sie Gastforscher­in im ›Culture Lab‹ der Newcastle University. Seit 2014 studiert sie ›Kunst und Medien‹ an der Universität der Künste Berlin und arbeitet theoretisch und künstlerisch an den Schnittstellen von Kunst, Philosophie und Technik. Lenore Hipper  Studium der Theater-, Film- und Fernsehwis­ senschaft sowie Allge­meine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, danach Schauspielausbildung und Arbeit als Schauspielerin in Film und Theater (u. a. Volksbühne und Berliner Ensemble). 2006 bis 2011 Studium der Europäischen Medienwissenschaft mit einem Schwerpunkt in Medienphilosophie. Abschluss mit einer Arbeit zu den Bezügen von Dekonstruktion und Jüdischer Hermeneutik (in Anlehnung an Emmanuel Levinas: Ethische Hermeneutik). Preis des Studiengangs für die beste Abschlussarbeit. Seit 2011 Akademische Mitarbeiterin an der Universität Potsdam. Arbeitet als Doktorandin an einer medienphilosophischen Analyse konsonantischer Schrift unter besonderer Berücksichtigung althebräischen Schriftdenkens. Koordinatorin des Graduiertenkollegs »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride For­men des Bildwissens« an der Universität Potsdam. Gemeinsam mit Jörg Sternagel und Jan-Henrik Möller Herausgabe von Paradoxalität des Medialen (München 2013: Wilhelm Fink).   Anna Sabeth Kerkhoff  studiert im Master Europäische Medienwissenschaft an der Universität Potsdam und der Fachhochschule Potsdam, wo sie auch ihren Bachelor absolvierte, mit einer als beste des Jahrgangs 2014 ausgezeichneten Arbeit über »Ethik, Sprache, Alterität« zum Werk des Philosophen Emmanuel Levinas und Ingeborg Bachmans Roman Malina. Während des Studiums entwickelte sich ein besonderes Interesse für das Betrachten von medialen Zwischenräumen, die sowohl Bilder für ein Verweilen als auch für eine andere Form des Bedeutens sind. Daraus entstanden Arbeiten »Zur Zeit- und Gegenwartsanalyse bei Byung Chul Han« und »Der Schleier als Medium und Provokation – der Schleier in der Kunst von Christo, Jeanne Claude und Gerhard Richter«. Sie arbeitet im Basisprojekt »Gender und Gestaltung« im Interdisziplinären Labor »Bild Wissen Gestaltung« an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie am Lehrstuhl Medientheorie/Medienwissenschaf‌ten an der Universität Potsdam und ist Koordinatorin der englischsprachigen, interdisziplinären Spring School »Etymologies of Jazz«, einem Kooperationsprojekt zwischen der Universität Potsdam und der Universität Haifa im Frühjahr 2015.

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KRAFT DER ALTERITÄT

Katerina Krtilova  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kom­petenzzentrum Medien­­an­thropologie an der Bauhaus-Universität Weimar. 2013/2014 Koordinatorin des DFG geförderten Projektes »Positionen und Perspektiven der deutschen und tschechischen Medienphilosophie« am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie. Studium der Medienwissenschaft, Philosophie und Humanities in Prag und Regensburg, danach wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Elektronische Kultur und Semiotik, Karls-Universität Prag. Publikationen u. a.: »Gesten des Denkens. Vilém Flussers ›Theorie des Gesten‹ als Medienphilosophie«, in: Toni Hildebrandt, Fabian Goppelsröder, Ulrich Richtmeyer (Hg.), Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst (Bielefeld: transcript 2014); Medien denken (Hg. mit Lorenz Engell und Jiri Bystricky, Bielefeld: transcript 2010); Za filosofii nové doby / ­Für eine Philosophie der neuen Zeit (Hg., Praha: Tiskárna a vydavatelství 2007).

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Alice Lagaay  arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Bremen. Von 2001 bis 2010 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin und promovierte 2007 mit der Dissertation Towards a Philosophy of Voice. Reflections on the Sound – and Silence – of Human Language. Seitdem forscht sie zu den Themen Schweigen, Stille, Seinlassen sowie zum Zusammenhang von Philosophie und Performance. Mitgründerin des Forschungsnetzwerkes performancephilosophy.ning.com, Alice Lagaay ist auch Herausgeberin (zusammen mit Laura Cull und Freddie Rokem) der Buchreihe ›Performance Philosophy‹ bei Palgrave Macmiillan. Ihre Publikationen umfassen neben zahlreichen Aufsätzen die Monographie Metaphysics of Performance. Performance, Performativity and the Relationship between Theater and Philosophy (Berlin: Logos 2001) sowie fünf Anthologien, darunter Medientheorien. Eine philosophische Einführung (Hg., mit David Lauer, Frankfurt/New York: Campus 2004), Nicht(s) Sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert (Hg., mit Emmanuel Alloa, Bielefeld: transcript 2008), Destruction in the Performative (Hg. mit Michael Lorber, New York/Amsterdam: Rodopi 2012) und Encounters in Performance Philosophy (Hg., mit Laura Cull, Basingstoke/New York: Pal­ grave Macmillan 2014). Michael Mayer  Dr. habil., lehrt Medienwissenschaft an der Universität Potsdam. Studium der Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Religionswissenschaft/Theologie in Freiburg

AUTORINNEN UND AUTOREN

im Breisgau und Berlin. Diplom in Pädagogik mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung. Promotion in Philosophie mit einer Arbeit über Emmanuel Lévinas und Martin Heidegger an der Universität Freiburg im Breisgau. Habilitation mit einer Arbeit über den Begriff der Passibilität an der Universität Potsdam. Autor für u. a. die Neue Zürcher Zeitung und das Magazin artnet.de. Forschungsschwerpunkte: medienphilosophische Reflexionen auf die Krise des modernen Subjekts; Medienethik der Toten; bildphilosophische Konsequenzen des Figurativen für die Praxis diskursiven Ausdrucks. Jüngste Publikationen: Humanismus im Widerstreit. Versuch über Passibilität, (München/Paderborn: Wilhelm Fink 2012); Tarkowskijs Gehirn. Essay zur Aktualität des Kinos, Passibilität 2, (Bielefeld: transcript 2012). Dieter Mersch  studierte Mathematik und Philosophie in Köln, Bochum, Darmstadt und Berlin. Seit September 2013 ist er Direktor des Instituts für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste. Zwischen 2004 und 2013 Professor für Medientheorie und Medienwissenschaften an der Universität Potsdam und bis 2014 Sprecher des dortigen DFG-Graduiertenkollegs 1539 »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens«. Zahlreiche Gastprofessuren u.a. an den Universitäten Chicago, Budapest, Wien, São Paulo und Fellow am IKKM Weimar. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medienphilosophie, Ästhetik und Kunsttheo­ rie, Semiotik, Hermeneutik, Poststrukturalismus und Philosophie der Sprache. Veröffentlichungen, in Auswahl: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis (München: Wilhelm Fink 2002), Ereignis und Aura. Untersuchungen zur einer Ästhetik des Performativen (Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002), Die Medien der Künste. Beiträge zur Theo­rie des Darstellens (Hg., München: Wilhelm Fink 2003), Performativität und Praxis (Hg., mit Jens Kertscher, München: Wilhelm Fink 2003), Medientheorien zur Einführung (Hamburg: Junius 2007), Kunst und Wissenschaft (Hg., mit Michaela Ott, München: Wilhelm Fink 2007), Logik des Bildlichen: Zur Kritik der ikonischen Vernunft (Hg., mit Martina Heßler, Bielefeld: transcript 2009), Posthermeneutik (Berlin: Akademie Verlag 2010), Ordo ab chao – Order from Noise (Zürich/Berlin: diaphanes 2013), Epistemologien des Ästhetischen (Zürich/Berlin: diaphanes 2015). Ulrich Richtmeyer  hat Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar (Diplom 1998) und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Dort 2006 Promotion in Philosophie mit der Arbeit Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie (2009). Von 2007 bis 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni-

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KRAFT DER ALTERITÄT

versität Potsdam am Lehrstuhl von Dieter Mersch, Institut für Künste und Medien (Projektstelle »Wittgensteins Bilddenken. Epistemik und Theorie der Bildlichkeit«), 2010 Forschungsmitarbeiter des NFS Eikones in Basel im Modul »Entwurf«, 2011 bis 2012 Research-Fellow am IKKM Weimar im Rahmen des Programms »Werkzeuge des Entwerfens«. Er vertrat von WS 2013/14 bis WS 2014/15 die Professur für Visuelles Denken und Wahrnehmen an der Universität Potsdam, Europäische Medienwissenschaf‌ ten. Forschungsschwerpunkte in Philosophie, Bildtheorie, Ästhetik, Medien­wissenschaf‌ten und Entwurfsforschung. Aktuelle Publikationen: Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst (Hg., mit Fabian Goppelsröder und Toni Hildebrandt, Bielefeld: transcript 2014) und: PhantomGesichter. Zur Sicherheit und Unsicherheit im biometrischen Überwachungsbild (Hg., München: Wilhelm Fink 2014). Jörg Sternagel  ist Akademischer Mitarbeiter im Studiengang Europäische Medienwissenschaft, einem Kooperationsprojekt der Universität Potsdam und der Fachhochschule Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorien der Alterität und des Performativen, Bildlichkeit und Medialität, Philosophie der Responsivität, Schauspielkunst im Film. Er schreibt an zwei Bänden, einer Phänomenologie des Films und einer Phänomenologie künstlerischer Praxis, für die Reihe ›Denkt Kunst‹ im Verlag diaphanes, wobei letzterer in die Monographie Ethik der Ekstasis mündet. Jüngste Buchpublikationen: Paradoxalität des Medialen (Hg., mit Jan-Henrik Möller und Lenore Hipper, München/­Paderborn: Wilhelm Fink 2013), Acting and Performance in Moving Image Culture. Bodies, Screens, Renderings. With a Foreword by Lesley Stern (Hg., mit Deborah Levitt und Dieter Mersch, Bielefeld: transcript 2012). 250

Lisa Stertz  ist aktuell MA-Studentin der Medienwissenschaft in Potsdam und MFA-Studentin am School of the Art Institute of Chicago. Seit 2011 ist sie aktiv als Künstlerin tätig. Performances (in Auswahl): SLOW PIECES (Performanceserie, Berlin, 2011), WHERE THE DIAMOND SLEEPS – Butoh-Sound-Improvisation mit Yuko Kaseki, Valentin Tszin u. a. (Berlin, 2013), response:resonance mit Annika Haas (Berlin, 2013), LEFT OUT (Chicago, 2014), Your Movement Sounds Like My Body mit Keijaun Thomas und Troy Schafer (Chicago, 2014), SUR VIVANT (Berlin, 2014).

Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Hans Arnold Das Magische des Films Ein Beitrag zur Frage der Wirksamkeit magischer Einflüsse in der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Films Februar 2015, 294 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3003-9

Jan Distelmeyer, Lisa Andergassen, Nora Johanna Werdich (Hg.) Raumdeutung Zur Wiederkehr des 3D-Films 2012, 178 Seiten, kart., zahlr. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1815-0

Arthur Engelbert Global Images Eine Studie zur Praxis der Bilder. Mit einem Glossar zu Bildbegriffen 2011, 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1687-3

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Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Gertrud Lehnert (Hg.) Raum und Gefühl Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung 2011, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1404-6

Michael Mayer Tarkowskijs Gehirn Über das Kino als Ort der Konversion 2012, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2070-2

Jan-H. Möller Mediale Reflexivität Beiträge zu einer negativen Medienthorie 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2804-3

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Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Ein Riss geht durch den Autor Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss

Martina Heßler, Dieter Mersch (Hg.) Logik des Bildlichen Zur Kritik der ikonischen Vernunft

2009, 240 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1156-4

2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1051-2

Judith Coffey »The Power of Love« Heteronormativität und Bürgerlichkeit in der modernen Liebesgeschichte

Brigitte Krüger, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Mythos und Kulturtransfer Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien

2013, 270 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2395-6

2013, 372 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2530-1

Stefanie Diekmann, Winfried Gerling (Hg.) Freeze Frames Zum Verhältnis von Fotografie und Film

Dagmar Venohr medium macht mode Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift

2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1363-6

Jan Distelmeyer, Christine Hanke, Dieter Mersch (Hg.) Game over!? Perspektiven des Computerspiels 2008, 164 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-790-5

2010, 310 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1451-0

Ulrich Ziemons Aufzeichnungen eines Storm Squatters George Kuchars »Weather Diaries« 2014, 224 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2685-8

Mira Fliescher Signaturen der Alterität Zur medialen Reflexivität der Kunst Yasumasa Morimuras 2013, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2345-1

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