Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel: Implizite normative Elemente [1 ed.] 9783428525058, 9783428125050

Dass die praktische Sozialpolitik im Wandel begriffen ist, ist ein Gemeinplatz und hat nicht unbedingt etwas mit einer K

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Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel: Implizite normative Elemente [1 ed.]
 9783428525058, 9783428125050

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Schriften der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V. Band 26

Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel Implizite normative Elemente

Herausgegeben von

Werner Sesselmeier Frank Schulz-Nieswandt

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

SESSELMEIER / SCHULZ-NIESWANDT (Hrsg.)

Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel

Schriften der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V. Band 26

Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel Implizite normative Elemente

Herausgegeben von

Werner Sesselmeier Frank Schulz-Nieswandt

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0435-8287 ISBN 978-3-428-12505-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Frank Schulz-Nieswandt und Werner Sesselmeier Einleitung: Was ist Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel? . . . . . . . . . . . . .

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Werner Eichhorst, Werner Sesselmeier und Aysel Yollu-Tok Die Akzeptanz von Arbeitsmarktreformen am Beispiel von Hartz IV . . . . . . . .

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Michael Gerhardt Sind Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung ein in der Praxis wirksames Instrument zur Durchsetzung des „Fördern und Fordern“-Prinzips des SGB II? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Matthias Möhring-Hesse Keineswegs „anything goes“. Restriktionen sozialpolitischer Konzepte der intergenerationellen Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Ebert Vom Generationenvertrag zur Renditegerechtigkeit. Sind umlagefinanzierte Rentensysteme „generationengerecht“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Torsten Sundmacher Ist Gesundheit ein Grundgut – und welche gesundheitspolitischen Implikationen hätte dies? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Konrad Obermann Öffentliche Beteiligung bei Rationierungsentscheidungen in der Medizin . . . . 121 Monique Zimmermann-Stenzel und Ulrich Mueller Ist die Allokation von Nierentransplantaten optimal? Eine empirische Überprüfung anhand des DALY-Konzeptes auf Datenbasis des United States Renal Data System (USRDS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Gabriele Klever-Deichert Rivalisierende Ansätze menschlichen Verhaltens im Spiegel der Präventionspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Evelyn Plamper Patientenbeteiligung an Entscheidungen über Versorgungsleistungen und an der Qualitätssicherung der Krankenhausversorgung. Die Perspektive der Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss und der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Simone Becker Soziale Ungleichheiten und sportliche Betätigung 50–70-Jähriger. Sportaktivität in Deutschland im 10-Jahres-Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

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Inhaltsverzeichnis

Friedrich Wilhelm Schwartz Zum normativen Gehalt gesundheitspolitischer Beratungsliteratur. Eine historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 F. Paul Pavelka Wirtschaftsethik als Entlastung und Irritation. Zur gesellschaftlichen Funktion wirtschaftsethischer Appelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Karl Ulrich Lippoth Die normativen Volten der Funktionslogik – Von der funktionalistischen Umwertung der Werte. Problemskizze und Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Diedrich Lange Mediale Marktwirtschaft. Die medienphilosophische Gestalt der Marktwirtschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Werner Wilhelm Engelhardt Zum unterschiedlichen „Natur“-Verständnis bei Klassikern der Nationalökonomie und den Auswirkungen der unterschiedlichen Begriffe auf die von ihnen bejahte Lohn- und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Einleitung: Was ist Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel? Frank Schulz-Nieswandt und Werner Sesselmeier Dass die praktische Sozialpolitik im Wandel begriffen ist, ist ein Gemeinplatz. Und das hat nicht einmal unbedingt etwas mit einer Krise der praktischen Sozialpolitik zu tun. Da Sozialpolitik – von ihrer Begründung her genauso wie mit Blick auf ihre Wirkung – sich seit jeher in Wechselwirkung zum sozialen Wandel befindet, stehen Fragen der Sozialreform als permanente Aufgabe an. Sozialreform ist kein einmaliger historischer Akt, sondern eine ständige Gestaltungsaufgabe nicht nur, aber insbesondere des Staates in der auf marktwirtschaftlicher Grundlage funktionierenden Sozialpolitik. Die Rückwirkungen des europäischen Rechts auf die nationale Sozialpolitik der Mitgliedstaaten unter der normativ zwingenden Prämisse, ja rechtlichen Axiomatik der Binnenmarktkompatibilität ist nur eine relativ neue dynamische Entwicklung in diesem Anpassungs- und Entwicklungsbedarf praktischer Sozialpolitik. Wandel ist also ein nicht zu hinterfragender Tatbestand. Aber „Konstruktion von Wandel“ macht deutlich, dass ein Kontroversepotenzial in dem Diskurs verborgen ist, wie sich die Sozialpolitik zu wandeln hat, wohin sie sich zu entwickeln hat, welche Gestalt sie annehmen soll, welcher Logik sie folgen soll. „Wer bekommt was, wie, wo und warum?“ scheint die komparativ-systematische Schlüsselfrage der Analyse der praktischen Sozialpolitik zu sein. Verdeutlichen wir diese Schlüsselfrage an der Krankenversicherung. Wer ist der (Mit)Versichertenkreis? Was steht im Leistungskatalog? Wie werden die Leistungen erstellt und konsumiert (etwa mit Blick auf Angebotssteuerung, Betriebsformenentwicklung und Entwicklung der Versorgungslandschaft)? Wo erhält man die Leistungen (primär im Hospital, in Gesundheitszentren oder zu Hause)? Was sind die normativen Begründungsmuster (soziale Grundrechte als Basis solidarischer Finanzierung und freien Zugangs zu den Dienstleistungsangeboten)? Die sich wandelnde Sozialpolitik muss also konstruiert werden. Man kann dabei einzelne Elemente modifizieren bzw. fortentwickeln (z. B. Selbstbeteiligungsinstrumente) oder man kann die ganze Gestaltlogik des Systems ändern. Immer spielen dabei aber normative Prämissen eine Rolle, die in die Rekonstruktion der Logik sozialer Sicherung und sozialer Dienstleistungserstellung und -inanspruchnahme konstitutiv eingehen. Theoriegeschichtlich ist das zunächst nicht überraschend.

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Die Frage der normativen Dimension in der Wissenschaft und Praxis der Sozialpolitik war von Beginn an eine der den Wandel begleitenden Fragen. Für die Praxis selbst als empirischer Befund ist das alles auch kein Problem. Da menschliches Handeln als soziales Handeln sinnhaft ist und sich in seinem Ablauf am Handeln anderer orientiert, kann es so nicht nur sinnhaft verstanden und dadurch kausal erklärt werden, sondern Helfen als Urtypus menschlichen Handelns ist somit immer über seine Wertfundierung, seine soziale Normierung und seine kulturellen Codes definiert. Gerade dadurch ist eine motivabhängige Habitualisierung bis hin zu einer Professionalisierung sozialen Helfens ja möglich. Die Aufdeckung derartiger Grammatiken praktischer Sozialpolitik war immer schon Teil des wissenschaftlichen Programms der Sozialpolitik, sei es hinsichtlich der Entstehung, sei es hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Sozialpolitik. Und auch die Wirkungen praktischer Sozialpolitik sind nicht ohne normative Bezugssysteme (und seien sie einfachster Art wie etwa das Pareto-Kriterium) zu behandeln. Umstritten war hingegen immer die Rolle der Wissenschaft bei der Begründung und Wahl normativer Bezugssysteme. Am Ursprung vormoderner Sozialpolitik (im Altertum) stand ja nicht eine Wissenschaft der Sozialpolitik; vielmehr waren Fragen sozialer Gerechtigkeit eingebettet in die Entstehung hochkultureller Religionssysteme. Es berührt aber die klassische Kontroverse um das Verhältnis von Mythos und Logos, inwiefern hier nicht frühe Formen anthropologisch-philosophischer Begründung Eingang fanden in die Logik sozialer Politik. Bereits in frühen Hochkulturen bedeutete die religiöse Einbettung sozialer Politik eine Orientierung am Menschenbild als Teil eines weltbild-orientierten kollektiv geteilten Deutungsmusters. Die alttestamentliche Anthropologie zeigt dies ebenso wie die Anthropologie des Neuen Testaments: Fragen des kasuistischen und apodiktischen Sozialrechts, des kultisch-rituellen Teilens und abstrakte diakonische Fragen der universellen Nächstenliebe, der caritativen Sorgearbeit für vulnerable Gruppen. Und auch heute, wenn auch nicht mehr zwingend als theologische Anthropologie, bleiben Menschenbilder und Weltbilder als Bezugssysteme für Konzepte „guter“ sozialer Ordnung unabdingbar. Die Frage scheint eher zu sein, wie explizit diese Bezugnahmen sind oder wie implizit, also krypto-normativ derartige unabdingbare Bezugssysteme gestalterischen Argumentierens sind. Kommunitaristische Konzepte, aber auch neo-konservative Selbstmanagementsideen, feministische Fürsorgeethik-Diskurse, neuere, entweder auf John Rawls oder auf Amartya Sen zurückgreifende Grundrechts- und Kompetenzdiskurse, gar thomistisch-essentialistische Elemente aufnehmende sozialdemokratische Theorien (wie bei Martha Nussbaum) machen deutlich, wie wichtig es ist, praktische Diskurse und die Reform der institutionalistischen Praktiken des Sozialstaats daraufhin zu befragen, in welchem Geist, in welchem normativen Lichte sie gestrickt sind. Der Sozialstaat und seine Sozialreformpraxis ist in der Tat textsemiotisch zu verstehen und zu zerlegen. Auch seine kulturperformative Inszenierung (vgl. etwa die Dramaturgie der Demographisierung

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der Reform), wobei vor allem die Massenmedien als Teil der Agenda-bildenden Politikarena eine besondere Rolle spielen, ist ohne Mitverständnis für die normativen mentalen Modelle, die gestaltbildend wirksam sind, nicht angemessen zu verstehen und zu beurteilen. Schließlich ist auch die Art der wissenschaftlichen Politikberatung Teil der Choreographie des Wandels. Normative Skripte in den handlungsleitenden mentalen Modellen sozialer Akteure sind also für die empirische Wissenschaft ein zwingendes Thema, und wissenschaftstheoretisch an sich kein Problem. Kontroversen gibt es nur methodologischer und methodischer Art. Und natürlich sind normative Skripte nicht mehr so leicht zu klassifizieren wie die Hauptströmungen sozialen Denkens des 19. und großer Teile des 20. Jahrhunderts (Liberalismus, Sozialliberalismus, [Sozial]Konservatismus, Sozialismus, christliche Ordnungsentwürfe auch in querschnittlicher Verschachtelung etc.). Allein die Beobachtung, wie Michel Foucaults „Analytik der Macht“ und seine Genealogie der diskursiven und institutionellen Praktiken als Forschungsparadigma der Gouvernementalität in kritischen, feministischen, postmodernen, aber auch neokonservativ-neoliberalen Kontexten rezipiert wird und wurde, macht deutlich, wie „unübersichtlich“ die Landschaft expliziter und impliziter Menschen- und Weltbilderproduktionen geworden ist. Folgt man allerdings, zum Teil entgegen der bislang der Problemdarlegung zugrunde liegenden de-konstruktiven Logik epistemischer Regime, der vorherrschenden analytischen Wissenschaftstheorie, so kann Wissenschaft keinesfalls Normen wahrheitsfähig begründen. „Es soll“-Aussagen sind nicht wahrheitsfähig, sondern nur geltungsfähig. Hier würde der postmoderne Wissenschaftsdiskurs zustimmen. Empirisch wahrheitsfähig sind nur „Es gibt“-Aussagen. Dies würde die postmoderne Theorie jedoch bezweifeln. Auch empirische Aussagen sind nur geltungsfähig, da sie auf konstruktiven Deutungs- und Verständigungsakten beruhen, nicht machtfrei erzeugt werden und daher immer durch Alternativen in Frage gestellt werden können. Die analytische Wissenschaftstheorie jedenfalls kennt Normen als Gegenstand legitim nur im Kontext empirischer Hypothesen- und Theorientests (klassisch in falsifikatorischer Absicht). Allerdings hat ebenso klassisch Max Weber auf der Basis seiner neu-kantianischen Prägung die erkenntnistheoretischen Grundlagen empirischer Soziologie dahingehend klargelegt, dass empirische Forschungen ohne transzendentalen Wertbezug (Fragen von hoher Kulturbedeutung) nicht möglich sind. Jedoch bleiben diese, die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion überhaupt erst ermöglichende (und insofern transzendentale) Bedeutung kultureller Wertbezüge selbst außerhalb, besser: vorgängig gegenüber der Wissenschaft. Insofern platziert die Wissenschaftslogik des kritischen Rationalismus diese neu-kantianische Axiomatik in den „Entdeckungszusammenhang“ von Theorien und fokussiert die Wissenschaftstheorie und Methodologie weiterhin auf den „Begründungszusammenhang“. Erst der (gesellschaftliche) „Verwertungszusammenhang“ theorieabhängiger empirischer Befunde wirft wieder werturteilshaltige Fragen auf. Immerhin

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macht der Bezug auf Weber deutlich, dass die ganze Werturteilsfreiheitsproblematik nicht ganz so trivial ist, wie manchmal dargelegt wird. Der kulturwissenschaftliche „turn“, insbesondere semiotische sowie neuere performative (auf andere z. B. ikonographische turns soll nicht verwiesen werden) Kehrtwenden lassen – vernachlässigen wir doch einmal die auf die Theorien selbst bezogene Problematik der impliziten Normativität – verstärkten Nachdruck auf die perspektivische Offenheit der wissenschaftlichen Analyse der Theatralität der sozialen Praxis, ihrer Skript-Codierung, ihrer dramatischen Inszenierung, ihrer Ablauf-Choreografie, ihrer oftmaligen Ritualisierung, ihrer symbolischen Ausdrucklogik erkennen. Dabei ist nochmals der säkulare Wandel zu bedenken. Nur noch als eine, allerdings bleibende Dimension ist das klassische Deutungsmuster zu verstehen, wonach Sozialpolitik Arzt am Krankenbett des Kapitalismus sei. Die Probleme sozialer Sicherung, der Psychologie des Wohlfahrtsstaates als personale Erlebnisordnung (als Arzt-Patienten-Beziehung, als Begegnung mit lebenstil-kritischen Präventionsprogrammen, als Erlebnis von Ein-Euro-Jobs und Zielvereinbarungen mit Agenturen etc.), die Organisationsentwicklungs- und Managementaufgaben der Unternehmen in den regulierten Quasi-Märkten des Sozialsektors usw. sind heute differenzierter und anders gelagert als in der Vergangenheit. In diesem Lichte sind in dem vorliegenden Sammelband interessante Analysen zusammengestellt, die einzelnen Dimensionen und Aspekten der neueren Konstruktion sozialpolitischen Wandels nachgehen und analysieren. Verschiedene sozialpolitische Teilfelder (etwa die Arbeitsmarkt- und die Gesundheitspolitik) werden aufgegriffen, neuere Instrumente und Akzentuierungen der Praxisentwicklung werden untersucht. Zum Teil werden komplexe grammatische Neu-Codierungen aufgespürt. Das implizite Denken, dass hinter Reformentwicklungen steckt, wird in einigen Beiträgen versucht zu explizieren. *** So behandelt der Beitrag von Eichhorst, Sesselmeier und Yollu-Tok das Problem der Akzeptanz von pfadbrechenden Reformen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik. Insbesondere wohl die veränderte, zugespitzte Zumutbarkeitskultur im Kontext dieser Reformen bestätigt den Eindruck der Autoren, wie wichtig es ist, Reformen angemessen zu kommunizieren. Diese Kommunikation bezieht sich im Kern auf die Generierung und Vermittlung eines gesellschaftlich akzeptierten normativen Leitbildes. Damit schließt der Beitrag an ein älteres, leider verloren gegangenes Denken in der Sozialpolitikforschung an: nämlich an das der Leitbilder der praktischen Sozialpolitik. Die Notwendigkeit solcher Leitbilder, die kognitiv orientierend, aber auch normativ fundierend und handlungsleitend sind, wird überaus deutlich. Konkrete Instrumente, wie das der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen als Instrument von „Fördern

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und Fordern“, wie im Beitrag von Gerhardt dargelegt, sind in einem solchen größeren Kontext zu lokalisieren. Ein Paradebeispiel normativ aufgeladener Diskurse sind Sozialpolitikreformen unter dem Aspekt der intergenerationellen Gerechtigkeit. Die Beiträge von Möhring-Hesse und von Ebert widmen sich dieser Dimension. Der Beitrag von Möhring-Hesse, lebendig durch seine bewussten Polemisierungen, betrachtet die Semantik des Diskurses durchaus im Lichte impliziter Grammatiken der Generationengerechtigkeit und arbeitet Fragen und Widersprüche heraus. An der Explizierung diverser Verständnislogiken von Generationengerechtigkeit knüpft auch Ebert an. Verschiedene Diskurselemente – sinkende Renditen, aber auch Vertrauen und Solidarität – werden aufgegriffen und am Beispiel der Alterssicherung diskutiert. Mit dem Beitrag von Sundmacher wird das Feld der Gesundheitsdienstleistungen einbezogen. Sundmacher diskutiert die Frage der Gesundheit als Grundgut und fragt nach antwortabhängigen möglichen Implikationen. Er knüpft an die ethisch zu Recht aufgeladene Rationierungsdebatte an und diskutiert rawlsianische Perspektiven. Der Beitrag knüpft an der aktuellen Schnittfläche zwischen ökonomischer Theorie und Rechtsphilosophie an und wirft fachspezifische wohlfahrtstheoretische Perspektiven aus der Public choice-Theorie auf. Die Konkretisierung der Präventionsproblematik im Lichte einer „Fordern und Fördern“-Logik bahnt feldübergreifende Verknüpfungslinien der Diskurse an. Obermann knüpft zum Teil an diese Analyse an, wenn öffentliche Beteiligungen bei medizinischen Rationierungsentscheidungen diskutiert werden. Dabei greift er ebenfalls auf Rawls, aber auch auf Fortführungen bei Norman Daniels zurück und nähert sich Perspektiven der „empirical ethics“ an. Der Beitrag von Zimmermann-Stenzel und Mueller folgt diesem ganzen Diskurskreis mit Blick auf die Allokation von Nierentransplantaten. An Brisanz fehlt es diesem Thema ebenfalls nicht. Mit dem DALY-Konzept kommen klare präferenztheoretische Fundamentalnormen ins Argumentationsspiel; der Beitrag bleibt jedoch sensibel hinsichtlich sozialer Ungleichheit in mehrfacher Perspektive. Ganz explizit diskutiert Klever-Deichert rivalisierende Ansätze menschlicher Verhaltenskonzeptionalisierung in Bezug auf die Präventionsproblematik. Damit hinterfragt sie einige wohlfahrtstheoretische Selbstverständlichkeiten der ökonomischen Analyse bei Sundmacher und deckt Menschenbild-bezogene Deutungsmuster auf, die die gesellschaftliche Umgangsweise mit Handlungsweisen von Menschen codieren und normieren. Plamper diskutiert mit Blick auf die Frage der Patientenbeteiligung die Perspektive der Patientenvertreter im gemeinsamen Bundesausschuss und der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung. Damit ergänzt sie Analysedimensionen, die in bisherigen Beiträgen durchaus bereits zum Thema wurden, nämlich die Frage nach geeigneten institutionellen Arrangements für schwierige Ent-

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scheidungsfindungen und fokussiert legitimationstheoretisch die Funktion derartiger Partizipations- und Repräsentationsfragen mit Blick auf das Spannungsfeld solidarischer und individueller Interessen sowie der Problematik der Priorisierung von Leistungen im wettbewerblichen Gesamtkontext. Der Beitrag von Becker ist primär empirischer Art und deckt einen breit diskutierten Zusammenhang zwischen sportlicher Aktivität und gesundheitsbezogenen Lebensverlauf auf. Damit knüpft der Beitrag an mehrfach bereits angesprochene Themenkreise des Lebensstiles, der Prävention und der wohlfahrtstheoretischen Beurteilung dieser Empirie an. Die Darlegung der sozialen Differenzierungen erinnern aber erneut daran, dass höchst validierte Zusammenhänge gesundheits- und gesellschaftspolitisch nicht trivial aufzugreifen und zu steuern sind. Die Analysen machen den Leser nochmals deutlich kontextsensibel. Der Beitrag von Schwartz tritt mit der Prämisse an, die normativen Grundlagen der Gesundheitspolitik könne man nicht kleinfenstrig und mit Fokus auf einen aktuell-begrenzten Zeitpunkt verstehen; vielmehr bedürfe es eines längeren historischen Blicks. Schwartz setzt hierzu bei der Genese der Gesundheitspolitik in der frühen Neuzeit an und skizziert Kontinuitätslinien, aber auch die großen Veränderungen und vor allem die jeweiligen Abhängigkeiten von den sozialgeschichtlichen Umständen bis zur heutigen Diskurs- und Politiksituation. Die Entwicklung ist weniger Ärzte-getragen als vielmehr geprägt von Ökonomie, Staatslehre und Philosophie, auch zunehmend von naturwissenschaftlichen und wissensmethodischen Konstrukten der Medizin. Hier schließt der Beitrag von Pavelka an, fragt er doch nach der Rolle von Wirtschaftsethik. Kritisch wird nach ihrer Funktion gefragt. Hat sie echte Entlastungsfunktionen, hilft sie, Konflikte zu lösen oder kommt ihr nur symbolische Wirkung zu, ist sie eher Problemsymptom oder systematische Bewältigungspraxis? Pavelkas Aufsatz ist vom Duktus her ebenso engagiert-essayistisch wie der nachfolgende Beitrag von Lippoth. Lippoth wirft das metatheoretisch grundlegende Thema des Verhältnisses von Funktionslogiken und Normativität auf. Wie ist der Befund zu beurteilen, dass der Markt seine eigene Ethik ausbildet? Doch was, wenn man sich außerhalb des Funktionssystems stellt? Lippoth deckt interessante Parallelen zum Denkmodell der dualen Transzendenz-AutonomieKonstruktionen der Soziallehre auf. Und er zeigt die praktische Relevanz dieser Theorieproblematik auf. Lange beginnt seinen Beitrag mit einer wirtschaftsanthropologischen Fragestellung, die den Markttausch als Medium rekonstruiert. Ausgangspunkt ist die Dyade von Ego und Alter Ego und die Frage, wie beide zusammenkommen. Kategorien wie Sprache und Empathie, Tausch und Macht geraten ins Zentrum einer diesbezüglichen Theoriebildung. Dogmengeschichtlich zeigt Lange, wie am liberalen Beginn der Ökonomie der gerechte Tausch, die Einheit von Moral und

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Markt stand (insofern an Pavelka anknüpfend). Dabei legt Lange aristotelische Grundlagen bei Smith frei, ein Versuch, der nicht unstrittig bleiben dürfte. Lange zeichnet dann die technizistisch-produktionstheoretische Transformation der Ökonomie in der nach-klassischen Epoche nach. Aus einer Medientheorie zwischenmenschlicher Beziehungen wird die Ökonomik des homo faber. In diesem Licht würde die Entfremdungstheorie des Kapitalismus bei Marx erst verständlich, deren weitere Verästelungen in Formen von Versachlichungsphänomenen des menschlichen Lebens skizziert werden. Das Problem ist bis heute ungelöst. Damit ist der Übergang zum letzten, ebenfalls dogmengeschichtlichen, aber aktuell relevanten Beitrag von Engelhardt zum Werk von Thünen gebahnt. Modern gesprochen, ähnlich wie bei Lange, geht es um die nicht abgeschlossene kollektive Suche nach Formen geeigneten institutionellen Settings und der kulturellen Einbettung des modernen Kapitalismus. Dass Thünen dazu Denkansätze bietet, hat der Thünenexperte Engelhardt in vielen seiner Schriften darlegen können. *** Nach diesen selektiven und nur aspektenhaft akzentuierten Aufgreifweisen der einzelnen Beiträge wird überaus deutlich, welche Diskrepanz sich auftut zwischen den eingangs skizzierten kulturwissenschaftlich motivierten Blickwinkel auf die Sozialpolitik im Wandel und den hier versammelten Beiträgen. Die Diskrepanz ist bewusst künstlich aufgebaut worden. Die Beiträge sind nicht vor dem Hintergrund explizit vorgegebener forschungsparadigmatischer Konstellationen, wie sie eingangs deutlich wurden, angefragt und eingeholt worden. Die Beiträge sind eine Auswahl von eingereichten Referatsvorschlägen, die im Rahmen der Vortragsplanung der vorletzten Jahrestagung der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt im Oktober 2006 nicht zum Zuge kamen, aber äußert ansprechend waren. Daher wurde der Sammelband geplant, die Beiträge Ende 2006 nachgefragt und im Verlauf von 2007 den Herausgebern eingereicht. Die Beiträge kommen den eingangs formulierten Perspektiven einer Analyse impliziter normativer Modelle unterschiedlich nahe. Ein klassisches Spannungsfeld zwischen Selbstverantwortlichkeit und kollektiven Weisen des Risikomanagements wird dabei überaus deutlich, die partielle Dominanz von Effizienzkriterien prägt die stärker ökonomischen Argumentationsteile, die Kontextspezifität und die so zum Ausdruck kommende Relevanz sozialer Ungleichheit und sozialer Strukturierung werfen aber differenzierte Perspektiven auf das Problem von Lebensstilen und Verantwortlichkeiten bzw. Verantwortbarkeiten. Um tiefere philosophische Reflexionsschichten des sich stellenden Problems der Willensfreiheit schifft ein großer Teil der ökonomischen Wohlfahrts- und Rationalitätstheorie herum. Das wird auch in den hier zum Ausdruck kommenden Analysen tendenziell deutlich. Das ist nicht als bloßstellende Kritik gemeint, sondern bezeichnet eine bleibende Aufgabe in der sich vertiefenden Kommunikation zwi-

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schen Ökonomie und Rechtsphilosophie, philosophischer Anthropologie, aber auch Kognitionswissenschaft. Bei Pareto und Rawls wird die zukünftige Debatte nicht stehen bleiben, auch wenn mittlerweile einiges formal präziser gefasst werden konnte. Die Bezugnahmen auf Sen, Nussbaum u. a. machen deutlich, dass die Reflexionen weiter gehen. Die angesprochenen Fragen der gelingenden Kommunikation von Sozialreformen, die Akzeptanzfrage, aber auch die Nachfrage nach expliziten Leitbildern haben eine Perspektive aufgedeckt, die in anderen Beiträgen ebenfalls zur Geltung kommen, wenn der Mensch als mitwirkender Bürger, aber auch als schutzwürdiger und förderungsfähiger Verbraucher institutionell ins Spiel kommt. Die Dringlichkeiten, Prioritäten unter den Randbedingungen knapper Ressourcen zu definieren, bringen nochmals die Kardinalfrage der ökonomischen Wissenschaft zur Geltung, ruft aber nach nicht-ökonomischen Hilfen, seien sie nun ethischer oder institutionell-prozeduraler Art (was natürlich auch Schnittflächen aufwirft). Das Problem wird, wie in den Beiträgen deutlich wurde, zum Teil eher abstrakt (Public-choice-orientiert) oder konkret-institutionell angedacht. *** Insgesamt wird die Vielfalt der Disziplinen, der Perspektiven, der Kriterien und als relevant eingebrachten Aspekte deutlich, die aber auch benötigt wird, soll die Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel angemessen beleuchtet werden. Das eine gewisse Vielfalt der dukturalen Stile auch produktiv und die Lebendigkeit fördernd einzuschätzen ist, hat nach Auffassung der Herausgeber der Charakter einiger der versammelten Beiträge wohl zeigen können. Als es klassisch hieß, die Sozialpolitik sei ein Kind der Nationalökonomie, so muss erneut in Erinnerung gebracht werden, dass diese Aussage voraussetzte, dass in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die historischethische Richtung der Nationalökonomie und Finanzwissenschaft als Staatswissenschaften dominierte. Damals wurde Ökonomie noch kulturgeschichtlich eingebettet analysiert und im Lichte der sich stellenden herausragenden sittlichen Fragen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft thematisiert. Die Geburtsstunden der empirischen Sozialforschung waren verknüpft mit der moralischen Absicht, die sozialen Fragen einer zivilisierten Lösung zuzuführen. Mit diesem Anspruch auf Zivilisation war der Sozialkonservatismus des 19. Jahrhunderts unendlich weit wesensfern vom Autoritarismus und Faschismus des 20. Jahrhunderts, zu dem die kulturell ungelösten Folgen der Modernisierung die Menschen trieben. Die vorliegend versammelten Beiträge bieten eine Reihe von interessanten Gesichtspunkten und Perspektiven, um sich diesen ungelösten Problemen einer wissenschaftlichen Reflexion der „Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel“ vertiefend zu widmen.

Die Akzeptanz von Arbeitsmarktreformen am Beispiel von Hartz IV Werner Eichhorst, Werner Sesselmeier und Aysel Yollu-Tok

1. Einleitung Sowohl die zunehmende ökonomische und politische Globalisierung als auch die voranschreitende Informatisierung führten und führen noch zu einem starken Wandel der deutschen Gesellschaft, wovon vor allem die traditionelle deutsche Arbeitswelt im Allgemeinen und die Beschäftigungsstruktur im Speziellen betroffen sind. Dies führt konsequenterweise dazu, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat erheblich unter Druck gesetzt wird, denn ausschlaggebend für das Sozialsystem bzw. dessen Sicherung ist die Beschäftigungsstruktur, an der sich die Organisation des Sozialsystems orientiert. Die Veränderung der Beschäftigungsstruktur macht folglich eine Neuausrichtung der Sozialpolitik erforderlich. Innerhalb der passiven Arbeitsmarktpolitik fand die notwendige Neuausrichtung im ,Vierte Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ ihren Namen. Das ,Vierte Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘, auch Hartz IV genannt, brach aber mit der Pfadabhängigkeit, was zu Akzeptanzproblemen führte. Hierzu wird in Abschnitt 2 die Theorie der Pfadabhängigkeit im Zusammenhang mit Institutionen besprochen. Es wird herausgearbeitet, warum gerade Reformen, die mit der Pfadabhängigkeit brechen, zu Akzeptanzproblemen führen. Wie in Abschnitt 3. gezeigt wird, müssen nicht alle Reformen, die vom etablierten Pfad abweichen, zu Akzeptanzproblemen führen. Werden nämlich klare inhaltliche Ziele formuliert und kommuniziert, diese auch wirkungsvoll vermittelt und schließlich auch ökonomisch effektiv ausgestaltet, sind pfadbrechende Reformen mit weniger Akzeptanzverlusten zu bewerkstelligen. Zentral für diese Arbeit ist, dass die vierte Stufe der Hartz-Reformen im Hinblick auf die ökonomische Legitimation, auf die Diskrepanz zwischen der objektiven Einschätzung und subjektiven Wahrnehmung und auf die pfadbrechenden Elemente hin untersucht wird: Hartz IV sollte die Effektivität des deutschen Arbeitsmarktes steigern (4.1), doch der Vergleich der objektiven Einschätzung mit der subjektiven Wahrnehmung dieses Gesetzes zeigt Diskrepanzen (4.2), die auf den Wandel der Pfadabhängigkeit und die daraus entstehenden Akzeptanzprobleme zurückzuführen sind. Hartz IV hat drei grundsätzliche Elemente, die mit der bisherigen Bismarckschen Tradition brechen: Verlust

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des Statuserhalts, Kürzung der Versicherungsleistung und Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung (4.3). Wie in Abschnitt 5 gezeigt wird, müssen auch die flankierenden Bedingungen der Hartz IV Reform untersucht werden. Denn ein Wandel der Pfadabhängigkeit muss nicht unbedingt zu Akzeptanzproblemen führen. Gezeigt wird aber, dass Hartz IV letztendlich durch eine ungenügende Vermittlung, durch ein fehlendes normatives Leitbild und schließlich durch eine ineffiziente Ausgestaltung geprägt ist, was schließlich das – durch den Bruch mit der Pfadabhängigkeit ausgelöste – Akzeptanzproblem verschärft.

2. Pfadabhängigkeit als Voraussetzung zur Akzeptanz von Reformen Die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung in Deutschland ist von fehlender pragmatischer Ausrichtung gekennzeichnet. Anstatt „. . . realitätsfernen Modellvorstellungen der Volkswirtschaftslehre (sollte der) . . . etablierte institutionelle Status Quo und die sich daraus ableitbaren Interessenlagen als Ausgangsbasis für Reformüberlegungen ernstgenommen werden“ (Eichhorst/Wintermann 2003: 170). Gerade die in der ökonomischen Institutionenanalyse verankerte Theorie der Pfadabhängigkeit zeigt, wie wichtig die Betrachtung eines Systems innerhalb ihres institutionellen Geflechts ist, denn bricht ein Reformvorhaben mit der Pfadabhängigkeit, so kann es zu Akzeptanzproblemen kommen. Im Gegensatz zur neoklassischen Gleichgewichtstheorie, geht die Theorie der Pfadabhängigkeit nicht nur von einem, sondern von mehreren Gleichgewichtszuständen aus. Das Pfadabhängigkeitstheorem begründet durch die Annahme mehrerer Gleichgewichtszustände die Historizität von Institutionen, d. h. die in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen wirken in die Gegenwart hinein (Beyer 2006). Die Begründer der Theorie der Pfadabhängigkeit sind zum einen der Ökonom und Wirtschaftsmathematiker W. Brian Arthur (1989, 1994) und zum anderen der Wirtschaftshistoriker Paul A. David (1985, 2000). Arthur und David haben sich mit der Pfadabhängigkeit von Technologien beschäftigt. Erst Douglass North (1990) verbindet die Theorie der Pfadabhängigkeit mit der Institutionenökonomik und erklärt so den Wandel von Institutionen. Warum die Gegenwart nicht losgelöst von der Vergangenheit betrachtet werden kann, wird durch „increasing returns“ bzw. positive Rückkopplungen erklärt. Ackermann (2001) unterscheidet in Anlehnung an North drei Typen positiver Rückkopplungen bei Institutionen: a) Koordinationseffekte, b) Komplementaritätseffekte und c) Wechselwirkungen zwischen Regel- und Handlungsebene. Positive Rückkopplungen des Typs 1, d.h. die Koordinationseffekte „. . . hängen mit der häufig festgestellten Funktion von Institutionen zusammen, bei Interaktionen Unsicherheit zu vermindern und Erwartungen zu stabilisieren“

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(Ackermann 2001: 92). Demnach löst Typ 1 sich selbst verstärkende Effekte aus, weil Akteure sich in ihrem strategischen Verhalten an den bereits existierenden institutionellen Regelungen orientieren, um Reibungsverluste zu vermeiden. Der Komplementaritätseffekt, also Rückkopplungen des Typs 2, beschreibt, dass Institutionen nicht unabhängig voneinander sind: „Dem Systemgedanken zufolge wird die Befolgung einer Regel mit zunehmender Verbreitung nun dadurch attraktiver, dass sie mit andern Regeln kompatibel ist“ (Ackermann 2001: 122). Die Wechselbeziehungen zwischen den Institutionen führen somit zu „increasing returns“. Der Mechanismus des Typs 3 beschreibt, dass positive Rückkopplungen auch durch kognitive Grenzen ausgelöst werden. Denn erst wenn das strikte Bild des Homo Oeconomicus innerhalb der Neoklassik – unter der Annahme von Transaktionskosten und begrenzter Rationalität – verlassen wird, tritt die Verhaltensanpassung der Akteure an die bereits bestehenden Institutionen zum Vorschein (Ackermann 2001: 135 ff.). Durch positive Rückkopplungen und die Stabilisierung von Verhalten bildet sich ein bestimmter Pfad aus. Dies führt zu einem so genannten „lock-in“. Der Zustand des Lock-in, d.h. der Pfadabhängigkeit, bleibt auch dann bestehen, wenn die Erträge auf dem gleichen Niveau bleiben, oder sogar sinken. Wird aber der ineffiziente Pfad als solcher erkannt, kommen Reformendiskussionen zur Vermeidung der hohen Effizienzverluste auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene auf. Das Abweichen vom eingeschlagenen Pfad ist aber sehr schwierig, was überwiegend in den Phasenübergängen bzw. im „de-locking“ begründet ist. Nach Liebowitz und Margolis (1995) besteht das Problem eines Pfadwechsels darin, dass diese mit Unsicherheiten verbunden sind. Die Unsicherheiten bestehen, weil Individuen ex ante nicht feststellen können, welcher Nutzen sich durch den Pfadwechsel für sie ergeben wird, während in der Regel die Kosten des de-locking im Voraus bekannt sind. Beispielsweise ist die Akzeptanz von Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtsstaatsreformen grundsätzlich problematisch, wenn sie mit sichtbaren Einschnitten und signifikanten Veränderungen gegenüber dem Ausgangszustand verbunden sind, worauf auch die internationale vergleichende Forschung eindrücklich hingewiesen hat (Pierson 1994). In der Wahlbevölkerung stark vertretene oder in Parteien und Verbänden gut organisierte Gruppen können sich besonders effektiv im politischen Entscheidungsprozess artikulieren. Deshalb sind massive Veränderungen und Kürzungen im Sozialstaat eher die Ausnahme, während marginale Reformen dominieren, die im Wesentlichen dem Prinzip der „Pfadabhängigkeit“ folgen (Pierson 2000). Dies spiegelt die strukturierende und stabilisierende Wirkung etablierter institutioneller Regelungen wider, an die sich die Akteure in ihren Erwartungen und ihrem Verhalten angepasst haben. Höhere Akzeptanz haben unter sonst gleichen Bedingungen also Reformen, welche an den etablierten institutionellen Status Quo anschließen und nur zu geringen Abweichungen führen. Dies gilt umso mehr, je eher stärkere Eingriffe zu massiven und kurzfristig sichtbaren Verlus-

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ten bei wichtigen gesellschaftlichen Gruppen führen würden. Demnach sind Reformen, die sich im Rahmen der Pfadabhängigkeit bewegen, leichter zu realisieren, weil sie politisch weniger gravierende Konflikte aufwerfen, aber auch im Hinblick auf institutionelle Wechselwirkungen einfacher zu gestalten sind als weiterreichende Veränderungen.

3. Anforderungen an Reformen, die mit der Pfadabhängigkeit brechen Abweichungen vom etablierten Pfad sind schwierig, aber grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Im Folgenden soll dargestellt werden, dass Reformen, die mit der Pfadabhängigkeit brechen sollen oder aus Sicht der Adressaten zu solch einem Bruch führen, mit besonders hohen Anforderungen konfrontiert sind: Inhaltliche Ziele müssen klar formuliert und kommuniziert werden. Eine wirkungsvolle Vermittlung ist nötig, um die institutionell bedingten Komplementaritätseffekte zu durchbrechen. Schließlich ist eine ökonomische effektive Ausgestaltung der Reform anzustreben.

3.1 Klare inhaltliche Erklärung und Kommunikation des Pfadbruchs

Sinn und Zweck einer erfolgreichen Reformvermittlung ist es, für eine ausreichende politische und gesellschaftliche Unterstützung der Vorhaben zu sorgen. Ein Ansatzpunkt ist dabei der Verweis auf akute oder in Zukunft auftretende Funktionsdefizite der vorhandenen institutionellen Regelungen. Je überzeugender die fiskalischen oder gesellschaftlichen Kosten des Status Quo identifiziert werden können, umso leichter lässt sich eine Korrektur durch geeignete Reformen begründen. Dies gilt umso mehr, je klarer auch die konkreten Kosten und der zu erwartende Nutzen einer (Nicht)Veränderung gegenüber dem Status Quo für den einzelnen Bürger herausgestellt werden kann. Hierbei kommt wissenschaftlicher Politikberatung und glaubwürdiger, unabhängiger Expertise eine wichtige Rolle zu. Sie können zur Legitimation von Veränderungen beitragen, indem sie auf gegenwärtige oder künftige Problemlagen aufmerksam machen (Eichhorst/Wintermann 2003). Unabhängige Expertise kann auch helfen, geeignete Problemlösungen zu definieren und im politischen Prozess zu legitimieren. Dabei kommt es insbesondere darauf an, die prinzipiell ungewissen positiven Effekte von Reformen zu präzisieren und damit die Orientierung am vermeintlich „sicheren“ und bekannten Status Quo aufzulockern. Je klarer der Nutzen von Veränderungen aufgezeigt werden kann, umso leichter sind auch kurzfristige Einbußen zu akzeptieren. Der politischen Kommunikation kommt dabei eine zentrale Funktion zu. Sie muss Kosten und Nutzen

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des Status Quo im Vergleich zum erwarteten Zustand nach den Reformen nachvollziehbar und glaubwürdig darstellen können, wobei die jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen mit jeweils geeigneten Kommunikationsmitteln angesprochen werden sollten. Unterstützend wirkt hierbei ein Bezug auf normative Prinzipien (Cox 2001): Werden sozial- und arbeitsmarktpolitische Reformvorhaben von einem übergeordneten Leitbild abgeleitet, das gesellschaftlich akzeptiert ist, über das also ein weitreichender, wenn auch nicht vollständiger Konsens besteht, so sind diese Reformen plausibler. Problematisch bleibt die Akzeptanz von Reformen, wenn kein ausreichender gesellschaftlicher Konsens über Ziele und Maßnahmen erreicht werden kann. Umfassendere und grundsätzlichere Veränderungen bedürfen eines neuen oder wenigstens reformulierten normativen Leitbilds, um hiervon entsprechende Reformen ableiten zu können. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass die Formulierung eines neuen Leitbildes selbst strittig sein wird. Zentral ist dabei die Rolle der Akteure, welche als „politische Unternehmer“ bestimmte Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen vorantreiben. Dies ist im Kern immer die Regierung bzw. die sie tragenden Parteien. Deren Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die Argumente, mit denen Reformvorhaben begründet werden, ist von essentieller Bedeutung. Je mehr sich hier ein stabiles und überzeugendes normatives Konzept erkennen lässt, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch Reformen mit partiell restriktivem Charakter akzeptiert werden können. Weniger glaubwürdig sind Reformen, die ad hoc angekündigt werden und nicht in Übereinstimmung stehen mit früheren Reformansätzen (Glaab/ Sesselmeier 2005). 3.2 Wirkungsvolle Vermittlung eines Pfadwechsels

Die spezielle Form institutioneller Geflechte, das durch eine Reform aufgebrochen wird, muss erkannt und ausreichend berücksichtigt werden. Werden Reformen in den europäischen Wohlfahrtsstaaten angestrebt, die mit der Pfadabhängigkeit brechen, ist in vielen Politikbereichen die Rolle der Tarifparteien bzw. Sozialpartner von zentraler Bedeutung, so in der Selbstverwaltung etwa in der Sozialversicherung oder der Arbeitsmarktpolitik sowie bei den Verhandlungen über Löhne, Arbeitszeiten und anderen Arbeitsbedingungen. Grund dafür ist, dass sich durch bestehende Komplementaritätseffekte zwischen den Sozialpartnern historisch gewachsene Entscheidungsstrukturen entwickelt haben. Diese Entscheidungsstrukturen werden nur selten in Frage gestellt, so dass weitgehend auf Veränderungen verzichtet wird, wodurch das inflexible System in einem Lock-in Zustand beharrt. De-locking ist in solch einem Fall nur durch einen Konsens der Interessenvertreter oder deren institutionelle Schwächung möglich. Demnach kann die Akzeptanz von Reformen gesteigert werden, wenn wichtige gesellschaftliche Gruppen – im Falle von Arbeitsmarkt- und Wohl-

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fahrtsstaatsreformen sind diese insbesondere die Sozialpartner – diese Reform mittragen. Erfolgreiche Reformprozesse sind demnach vor allem auch auf gelungene Aushandlungsprozesse zwischen Regierungen, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften zurückzuführen, wobei jedoch den Regierungen eine wichtige treibende Funktion zukommt (Ebbinghaus/Hassel 2000). 3.3 Effektive Ausgestaltung der pfadbrechenden Reformen

Kompensationen sind nicht nur zwischen Regierung und Sozialpartnern nötig. Eine Regierung muss auch im Design von Reformen selbst kompensatorische Elemente anlegen, um potenzielle Akzeptanzdefizite auszuräumen. Die kompensatorischen Elemente können auf der makro- oder mikroökonomischen Ebene angelegt sein und entweder in der Sequenz von Reformschritten oder der Bündelung verschiedener Einzelreformen zu einem umfassenderen Paket liegen. Kompensation meint jedoch nicht die Neutralisierung oder „Verwässerung“ einer Reform, sondern die Gestaltung eines politisch und ökonomisch sinnvollen Bündels von Reformschritten. Auf der Makroebene zeichnet sich solch ein kompensatorisches Element dadurch aus, den ökonomisch richtigen Zeitpunkt für einen Pfadwechsel zu erkennen (Herrmann-Pillath 2002). Ferner sind komplementäre Reformen auch auf der mikroökonomischen Ebene wichtig (Coe/ Snower 1997). Die Existenz von Komplementaritätseffekten hat gezeigt, dass die Wechselwirkungen zwischen den Institutionen zu positiven Rückkopplungen und somit zu Pfadabhängigkeit führen. Die durch einen Pfadbruch ausgelösten Akzeptanzprobleme könnten aufgefangen werden, wenn die Regierung die angestrebte Reform nicht isoliert behandelt, sondern das institutionelle Gefüge erkennt, in der die Veränderung eingebettet ist und mit flankierenden Reformen entsprechend ausgleichend reagiert. Zur Durchbrechung der durch kognitive Grenzen ausgelösten Pfadabhängigkeit, muss die Regierung kompensatorische Elemente einführen, die eine „gerechte“ Verteilung von Einschnitten über verschiedene Gruppen hinweg gewährleistet, um für ein höheres Maß an „Fairness“ – und folglich auch Akzeptanz – zu sorgen. Dies weist auf die Rolle komplementärer Reformen in benachbarten Politikbereichen oder innerhalb eines konkreten Reformvorhabens hin. Hierbei ist an die gleichzeitige Entscheidung und Umsetzung von Kompensationen oder an die Ankündigung solcher Schritte innerhalb eines überschaubaren Zeitraums zu denken. Schließlich hat die Implementationsforschung darauf aufmerksam gemacht, dass für eine effektive Umsetzung auch die Akzeptanz durch die mit der Implementation beauftragten Akteure von großer Bedeutung ist (Mayntz 1980). Neben die Politikformulierung tritt die Durchführung von politischen Programmen durch staatliche und private Akteure. Ein „Bürokratieversagen“ kann entstehen, wenn die mit der Umsetzung der Gesetze betrauten Akteure aufgrund von kog-

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nitiven Grenzen oder auch aufgrund von Akzeptanzproblemen nicht hinter diesen Gesetzen stehen, sie aus normativen Gründen ablehnen oder institutionenpolitisch anders auslegen als angestrebt. Aufgrund der für ein Principal-AgentVerhältnis typischen Probleme asymmetrischer Informationen und unvollständiger Kontrolle ist es für die Politik unmöglich vorherzusehen, wie die Bürokratie bzw. wesentliche Teile von ihr auf die Reformen reagieren würde. Es gilt, unerwarteten Entwicklungen entgegenzusteuern, die sich aufgrund institutionell gegebener Anreizstrukturen oder normativer Inkongruenzen zwischen den Zielen der Politikformulierung und den Überzeugungen der mit der Implementation beauftragen Akteure ergeben. 4. Der Wandel des deutschen Pfades der Arbeitsmarktpolitik durch das ,Vierte Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ In diesem Abschnitt werden die theoretisch dargestellten Akzeptanzkriterien von pfadbrechenden Reformen auf das konkrete Beispiel Hartz IV angewendet. Zunächst wird aber die ökonomische Notwendigkeit dieser Reform – was einen eigenständigen Druck in Richtung de-locking ausübte – dargestellt. Umfrageergebnisse zeigen aber, dass trotz der ökonomisch richtigen Erwägung Hartz IV nicht nur bei den unmittelbar betroffenen Gruppen Misstrauen ausgelöst hat. Es wird gezeigt, dass diese subjektiven Wahrnehmungen mit der objektiven Einschätzung einiger Untersuchungen nicht übereinstimmen. Schließlich werden einige Bestandteile von Hartz IV dargestellt und deren pfadbrechende Elemente herausgearbeitet. 4.1 Die ökonomische Legitimation der Hartz IV-Reform

Die vergleichende Analyse von Wohlfahrtsstaaten zeigt, dass gerade die konservativen Wohlfahrtsstaaten Kontinentaleuropas, zu denen auch Deutschland zählt, besonders große Defizite bei der Integration der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Arbeitsmarkt aufweisen. Frauen, Ältere und Geringqualifizierte sind dort weniger gut in den Arbeitsmarkt integriert als in liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten (Esping-Andersen 1996, Dingeldey/Gottschall 2001). Auch fällt dort der Anteil der Langzeitarbeitslosen höher aus. Diese Beschäftigungsdefizite lassen sich auf institutionelle Regelungen von Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat zurückführen, etwa die vergleichsweise strikte Regulierung des Arbeitsmarktes, eine über Transferleistungen und tarifliche oder gesetzliche Mindestlöhne begrenzte Lohnflexibilität, eine hohe Belastung mit Steuern und Abgaben sowie eine traditionell passiv ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik, welche vergleichsweise großzügige, an das frühere Arbeitsentgelt geknüpfte Transferleistungen gewährt und nicht primär auf rasche Reintegration in den Arbeits-

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markt ausgerichtete aktive Maßnahmen umfasst (Manow/Seils 2000, Eichhorst/ Grienberger-Zingerle/Konle-Seidl 2006). Um diesen Defiziten entgegenzuwirken, verabschiedete der Bundestag zwischen den Jahren 2002 und 2004 insgesamt vier ,Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘. Mit diesen Gesetzen wurde in kürzester Zeit ein arbeitsmarktpolitisches Reformprogramm eröffnet, welches zu tiefen Strukturveränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt führte. Mit dem ,Vierten Gesetz über Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ (Hartz IV) wurde der letzte Reformschritt innerhalb der Reformkette vollzogen. Während mit einer ergänzenden Reform im Rahmen der „Agenda 2010“ die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I insbesondere für ältere Erwerbspersonen verkürzt wurde, lief „Hartz IV“ auf die Abschaffung der statusorientierten Leistung der Arbeitslosenhilfe und deren Ersetzung durch eine pauschalierte Leistung, das Arbeitslosengeld II, hinaus. Die Kommission für ,Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ versprach sich durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe „. . . für alle arbeitsuchenden Menschen die erforderlichen Beratungs-, Vermittlungs- und Arbeitsförderungsleistungen sowie die Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts im Rahmen eines ,one-stop-center‘“ (Hartz u. a. 2002: 16) zur Verfügung zu stellen. Neben diesen verwaltungs- und dienstleistungsorganisatorischen Vorteilen versprach man sich auch eine finanzielle Entlastung der Kommunen, da „. . . das gegenwärtige Nebeneinander zweier staatlicher Fürsorgesysteme – der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe für Erwerbsfähige – ineffizient, intransparent und wenig bürgerfreundlich“ (Bundestag-Drs. 15/1516 (2003): 1) ist. Letztlich sollte Hartz IV auch auf der arbeitsmarktökonomischen Ebene mehr Effizienz schaffen. Untersuchungen haben nämlich festgestellt, dass es einen klar negativen Zusammenhang zwischen der Dauer der Arbeitslosenunterstützung auf der einen Seite und der Intensität der Stellensuchbemühungen und der Wahrscheinlichkeit, aus dem Transferbezug auszuscheiden, auf der anderen Seite gibt (Konle-Seidl 2005, Rabe 2004, Eichhorst/Thode/Winter 2004). Je länger Arbeitslosigkeit andauert, umso stärker werden auch einmal erworbene Qualifikationen und Berufserfahrungen entwertet, so dass das frühere Entlohnungsniveau nur noch schwer erreicht werden kann. Deshalb ist es durchaus konsequent, bei längerer Arbeitslosigkeit eine niedrigere Transferleistung zu gewähren und durch strenge Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für eine stärkere Aktivierung und eine höhere Suchintensität zu sorgen (Koch/Walwei 2005a, 2005b). 4.2 Subjektive Wahrnehmung versus objektive Einschätzung

Die ökonomisch richtige Erwägung traf jedoch bei den betroffenen Gruppen auf wenig Akzeptanz und löste deren Widerstand aus (Rucht/Yang 2004): Be-

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vor Hartz IV eingeführt wurde, zeigten erste Umfragen (ZDF Politbarometer; August 2004), dass 67% aller Befragten in Deutschland nicht daran glaubten, dass Hartz IV zu mehr Jobs führen würde, dies wurde nur von 29% erwartet. Kurz nach Einführung stieg sogar diese kritische Einschätzung: 76% der Befragten einer Studie von Infratest-dimap (ARD DeutschlandTrend vom Januar 2005) gaben an, dass Hartz IV die Situation auf dem Arbeitsmarkt wohl nicht verbessern würde; nur 21% gaben eine positive Einschätzung ab. Krömmelbein und Nüchter (2006: 2) untersuchten die Akzeptanz der sozialpolitischen Veränderungsprozessen in der Bevölkerung und stellten dabei fest, dass 80% der Befragten (im Jahre 2005) der Ansicht sind, dass es in Deutschland zu große Einkommensunterschiede und analog dazu ein hohes Konfliktpotenzial zwischen den armen und reichen Bevölkerungsgruppen gibt. Demnach herrscht verbreitet die Auffassung vor, dass das Ausmaß sozialer Gerechtigkeit1 in Deutschland geschwunden ist. Vor allem hat das Vertrauen in die einzelnen Institutionen abgenommen, die bei Arbeitslosigkeit aktiviert werden: Mehr als 50% der Bürger vertrauen nicht der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe. Das Vertrauen in die Grundsicherung liegt sogar unter 30% (Krömmelbein/Nüchter 2006: 2). Hierbei dürfte allerdings zu berücksichtigen sein, dass sich die Grundsicherung für Arbeitsuchende, also Hartz IV, zum Zeitpunkt der Befragung in der Einführungsphase befand. Die kritische Einstellung blieb jedoch auch ein Jahr nach der Einführung bestehen: In einer Umfrage von Infratest-dimap für den ARD DeutschlandTrend vom Januar 2006 gaben 90% der Ostdeutschen und 80% der Westdeutschen an, dass sich durch Hartz IV die Schere zwischen arm und reich geöffnet habe. 79% der Ost- und 73% der Westdeutschen waren der Ansicht, Hartz IV habe Deutschland nicht vorangebracht. Die empirischen Daten, die bisher in Bezug auf die Effekte von Hartz IV erhoben worden sind, zeigen aber, dass die Wirkung dieser Reform insgesamt kritischer zu beurteilen ist. Die Auswirkungen von Hartz IV unterscheiden sich beispielsweise je nach Haushaltszusammensetzung: Die Studien des IAB (Blos/ Rudolph 2005) und auch eine Arbeit im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung belegen, dass nur ein Teil der früheren Arbeitslosenhilfebezieher Kürzungen bei den Transferzahlungen oder einen Verlust des Transferanspruchs zu verzeichnen hatte (Becker/Hauser 2006). Blos und Rudolph weisen beispielsweise unter den 83% weiterhin anspruchsberechtigten früheren Arbeitslosenhilfe-Beziehern 57% Verlierer und immerhin 43% Gewinner aus. Becker und Hauser bestätigen diesen Befund im Wesentlichen und sprechen in Bezug auf das Einkommen von Arbeitslosenhilfe-Beziehern von 60% Verlierern und 40% Gewinnern.

1 Wobei unter soziale Gerechtigkeit die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit und nicht die individualistische Verteilungsgerechtigkeit gemeint ist (vgl. Krömmelbein/Nüchter 2006: 2).

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Zu den Gewinnern zählen Personen mit geringer Arbeitslosenhilfe, die keine ergänzende Sozialhilfe in Anspruch genommen hatten, darunter zahlreiche Alleinerziehende. Hartz IV erhöht das Haushaltseinkommen solcher Personen um ungefähr 18 bis 30% (Becker/Hauser 2006). Das höhere Haushaltseinkommen spiegelt sich auch in der höheren Verbleibsrate wider: Gerade für Alleinerziehende verläuft der Ausstieg aus der Hilfebedürftigkeit sehr langsam. Die Verbleibsrate (Bezug der Grundsicherung durchgehend über zwölf Monate) im Fürsorgestatus lag bei Alleinerziehenden im Jahre 2005 bei 70% (Graf/Rudolph 2006), wobei die Verbleibrate von 70% auch auf die fehlenden Betreuungsmöglichkeiten zurückgeführt werden kann, die Alleinerziehende in Anspruch nehmen könnten, um selbst wieder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Kürzungen erleben vor allem Personen mit einem vergleichsweise hohen Arbeitslosenhilfeanspruch, insbesondere wenn beide Partner in einem Haushalt substanzielle eigenständige Arbeitslosenhilfeansprüche hatten. Die Kürzungen treten aufgrund der stärkeren Anrechnung von Partnereinkommen auf. Diese Konstellationen finden sich vor allem bei älteren ehemaligen Arbeitslosenhilfebeziehern in Ostdeutschland. Die Leistungsempfänger, die einen in Vollzeit erwerbstätigen Partner haben, erleiden durch Hartz IV eine Einkommenseinbuße von ca. 80 bis 90 % (Becker/Hauser 2006). Die Verbleibsrate bei Paaren ist aufgrund der Einkommenseinbußen deutlich geringer als bei Alleinerziehenden und liegt bei Paaren mit Kindern bei 54 bzw. 56% (Graf/Rudolph 2006). Die Tatsache, dass Kürzungen vor allem Haushalte mit recht hohen Arbeitslosenhilfeansprüchen, Paarhaushalte ohne Kinder sowie Haushalte mit zusätzlichen Einkünften aus Erwerbstätigkeit oder anderen Quellen wie Renten trafen, relativiert auch die Befürchtung, Hartz IV würde zu einer massiven Verschärfung des Armutsproblems führen. Nach Hauser und Becker (2006) steigt nach Hartz IV die Armutsquote lediglich um 0,5 bis 1,0 Prozentpunkte und die relative Armut der betroffenen Gruppen von etwa 50 auf 65 % an. Vor allem hat sich Situation der ehemaligen Sozialhilfeempfänger durch Hartz IV verbessert. Dass sich entgegen den Behauptungen die Schere zwischen arm und reich bislang nicht vergrößert hat, zeigt die Entwicklung der Einkommensverteilung, was durch den Gini-Koeffizienten2 berechnet wird: Für Westdeutschland ergibt sich für 2003 ein Gini-Koeffizient bei Vollzeitbeschäftigten von 0,270. Der Wert hat sich demnach zu 1998 (0,257) kaum verändert. Für Gesamtdeutschland liegt der Gini-Koeffizient 2003 mit 0,283 etwas höher, aber immer noch unter 0,3, was im internationalen Vergleich ein sehr unterdurchschnittlicher Wert ist (Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005). Beachtet man die Tatsache, dass 2 Mrd. Euro der Mehrausgabe des Bundes für das Ar2 Dieser liefert uns Aussagen über die Gleichverteilung der Einkommen. Bei einem Wert von 0 wären die Einkommen vollkommen gleichverteilt, während ein Wert von 1 für eine vollkommene Ungleichverteilung steht.

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beitslosengeld II auf die durchschnittliche Ausgabenerhöhung je Bedarfsgemeinschaft (mit mehr als 550 Euro) zurückzuführen sind (Sachverständigenrat 2006), kann davon ausgegangen werden, dass der Gini-Koeffizient auch nach 2003 nicht gestiegen ist, wenngleich neuere Daten hierzu fehlen. Weiterhin hat Hartz IV entgegen manchen Befürchtungen nicht zu einer massiven Absenkung der aus dem Sozialleistungssystem ableitbaren Anspruchslöhne geführt. Vergleichsrechnungen zwischen Arbeitslosengeld II und vergleichbaren Nettolöhnen aus Erwerbstätigkeit zeigen, dass das Arbeitslosengeld II nach wie vor einen effektiven impliziten Mindestlohn von substanzieller Höhe darstellt (Boss/Christensen/Schrader 2005, Cichorek/Koch/Walwei 2005, Brenke 2006, Bender/Koch/Messmann/Walwei 2007). Relativ hoch liegt der Bruttolohn, welcher erzielt werden müsste, um das Transferniveau (ohne aufstockenden Leistungsbezug) zu erreichen bzw. zu überschreiten, nach wie vor bei größeren Bedarfsgemeinschaften. Er fällt höher aus, wenn ergänzende Leistungen zum Arbeitslosengeld II wie der befristete Zuschlag beim Übergang aus dem Arbeitslosengeld I, der Zusatzverdienst aus einem „Ein-Euro-Job“ oder der nicht angerechnete Hinzuverdienst aus eigener Erwerbstätigkeit mit berücksichtigt werden. Bezieher von Arbeitslosengeld II werden auch bislang keineswegs gezwungen, unterhalb des Niveaus dieser Sozialleistungen in Vollzeit erwerbstätig zu sein. Wer ein niedriges Entgelt erzielt, erreicht in jedem Fall eine Aufstockung durch die Ergänzung des Arbeitslosengeldes II. Im Januar 2006 wurde bei über 500.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten das Arbeitseinkommen aufgestockt; hinzu kommt eine ähnlich große Gruppe, die Arbeitslosengeld II mit einem Minijob bis 400 Euro kombiniert (Wagner 2006, BA 2007). Die Aufstockung des Einkommens in Kombination von Teilzeitbeschäftigung und Zuschuss in Form von Arbeitslosengeld II setzt gerade falsche Anreize, die dazu führen, dass Langzeitarbeitslose im prekären Beschäftigungsverhältnis verweilen und keine vollständigere Integration in den Arbeitsmarkt erreichen, aber gleichzeitig auch niedrige Stundenlöhne in Kauf nehmen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Hartz IV entgegen den weit verbreiteten Befürchtungen weder zu massiven Kürzungen bei den Transferleistungen geführt, noch das Armutsproblem verschärft hat. Darüber hinaus wird die Aufnahme gering entlohnter Arbeit nur in sehr begrenztem Maße in der Praxis eingefordert. Demnach gibt es eine Diskrepanz zwischen der subjektiven Wahrnehmung der durch Hartz IV veränderten individuellen Lebenssituation und den objektiven Maßstäben zur Bewertung der sozialen Lage. Diese Fehlbewertung resultiert daraus, dass die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die Verkürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I und die Schärfung von Zumutbarkeitsvorschriften, das bisherige Arrangement in Frage stellt, an das sich die potenziellen und tatsächlichen Leistungsbezieher innerhalb des lock-in gewöhnt und in ihren Erwartungen und Verhalten daran angepasst hatten. In diesem Sinne

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werden im Folgenden einzelne Bestandteile der Hartz IV-Reform auf ihre delocking Elemente hin diskutiert. 4.3 Analyse der pfadbrechenden Hartz IV-Elemente

Hartz IV hat die „Versicherungsillusion“ einer dauerhaften und stabil am früheren Arbeitsentgelt orientierten Transferleistung bei Arbeitslosigkeit beendet. Die Abschaffung des Prinzips der Statussicherung, die Verkürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I sowie die Ankündigung, die Grundsicherungsleistung mit einer stärker aktivierenden Arbeitsmarktpolitik zu verbinden, stellt das bisherige pfadabhängige Bismarcksche System wie folgt in Frage (Eichhorst/ Grienberger-Zingerle/Konle-Seidl 2006). 4.3.1 Der implizierte Statusverlust In konservativen Wohlfahrtsstaaten setzt eine effektive „aktivierende“ Arbeitsmarktpolitik größere Veränderungen voraus als etwa in skandinavischen oder liberalen Wohlfahrtsstaaten (Eichhorst/Konle-Seidl 2007, Giddens 2006). Eine stärkere Aktivierung von Langzeitarbeitslosen, welche in vielen Ländern im Mittelpunkt der Arbeitsmarktpolitik steht, bedeutet in passiven Wohlfahrtsstaaten mit statussichernden Transferleistungen einen Bruch mit dem bisherigen Arrangement eines Bismarckschen Sozialmodells und damit Reformen, die über den engen lock-in Spielraum, der von institutioneller Pfadabhängigkeit definiert wird, hinausgehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn statusorientierte Leistungen für Langzeitarbeitslose zur Disposition gestellt und auch niedrigere Löhne als Einstiegsoption in den Arbeitsmarkt akzeptiert werden sollen (Giesecke/ Groß 2005). So stellt die Ersetzung der bedürftigkeitsgeprüften und steuerfinanzierten, aber dennoch einkommensbezogenen Arbeitslosenhilfe durch eine Leistung, die Grundsicherungscharakter hat, einen „de-locking“-Prozess dar. Für das etablierte institutionelle Arrangement war gerade die Bestimmung von Lohnersatzleistungen in Anlehnung an das frühere Arbeitsentgelt typisch. Die Abkehr von der Statussicherung ist ein impliziter Wandel gegenüber der „routineartigen“ Bewältigung von Arbeitsmarktproblemen in Deutschland durch die Verminderung des Arbeitsangebots zu vergleichsweise großzügigen Konditionen, wie diese seit den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland, nach 1990 auch in Ostdeutschland praktiziert worden war (Manow/Seils 2000). Aus dem Arbeitsmarkt ausgegliederte Personen konnten sich dank eines ausgebauten Instrumentariums an Frühverrentungsmaßnahmen, einer nicht primär auf Wiedereingliederung ausgerichteten aktiven Arbeitsmarktpolitik und einer im internationalen Vergleich durchaus großzügigen Arbeitslosenunterstützung durch Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe darauf verlassen, auf Dauer aus dem Arbeitsmarkt

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ausscheiden zu können, ohne für eine Vermittlung auf neue Stellen verfügbar bleiben und evtl. auch gering entlohnte Tätigkeiten aufnehmen zu müssen. Diese Strategie wurde implizit auch auf Langzeitarbeitslose in Ostdeutschland angewandt. Sie konnten nach der Wiedervereinigung auf ein dergestalt großzügiges und stabiles Transfersystem vertrauen (Engler 2005). Diese teilweise Abkehr vom kontinentaleuropäisch-konservativen Wohlfahrtsstaat in Deutschland (Dingeldey/Gottschall 2001) mit seinen segmentierten Arbeitsmärkten und statuserhaltenden Regeln kann historisch gewachsene und institutionell stabilisierte Gerechtigkeitsvorstellungen verletzen und die Akzeptanz solcher Reformen schmälern. Entsprechend erklärungsbedürftig und problematisch ist diese Reform. Sie traf folglich vor allem bei jenen auf Widerstand, die dank früherer Erwerbstätigkeit vergleichsweise hohe Arbeitslosenhilfe bezogen und die aufgrund einer stärkeren Erwerbsintegration der Frauen über zwei eigenständige Ansprüche auf substantielle Arbeitslosenhilfe im Paarhaushalt verfügten. Dies war typischerweise bei älteren, eher höher qualifizierten Paaren in Ostdeutschland der Fall (Rucht/Yang 2004). Die Abkehr von der Statussicherung bei Langzeitarbeitslosigkeit bedeutete für diese Gruppe am wahrscheinlichsten einen Nettoeinkommensentzug, soweit diese nicht erwarteten bzw. erwarten konnten, auf dem Arbeitsmarkt eine Beschäftigung zu finden. Aber auch die Mittelschicht fühlt sich als eine, nicht von den Kürzungen betroffene Gruppe, durch die Hartz IV Reform bedroht: Durch Hartz IV wird die Systemlogik der ,ausgeglichenen Reziprozität‘ (Stahlins 1974) bzw. der ,Erwartungsreziprozität‘ (Ullrich 1999) verlassen, bei dem die Gleichwertigkeit der Versicherungsbeiträge und der Versicherungsleistungen, d.h. dem Status entsprechende Transferleistungen, erwartet wird. Der Arbeitslose ist aber in der neuen Politik der Bundesagentur, die sich durch strenge Bedürftigkeit und soziale Aktivierung auszeichnet, ,Kunde‘ und kein ,Hilfesuchender‘. Erhält der ,Kunde‘ soziale Unterstützung, so muss er verstärkte Anstrengungen zur eigenen Einkommenssicherung aufweisen. Demnach findet durch ,Fordern und Fördern‘ reziprok ein Tausch zwischen den Leistungsgebern und Leistungsnehmern der Arbeitsmarktpolitik statt. Es handelt sich hierbei um die ,in die Pflicht nehmende Reziprozität‘ (Mau 2002), d.h. soziale Unterstützung wird erst dann gewährt, wenn Transferempfänger belegbare Anstrengungen zum Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt unternehmen. Die Reziprozitätsbeziehung definiert sich so nicht durch die Gewährung von materiellen gleichberechtigten Gegenleistungen, sondern durch „. . . kooperative und normkonforme Haltung“ (Falk 2001: 15 ff.). Wie auch Mau (2002) darlegte, geht die ,in die Pflicht nehmende Reziprozität‘ mit einer Stigmatisierungs- bzw. Exklusiongefahr der Leistungsempfänger einher. Der Bruch der Pfadabhängigkeit der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung fordert demnach von den Akteuren der Arbeitsmarktpolitik, ihr Verhalten nicht mehr dem Prinzip des Statuserhalts anzupassen, sondern dem der Exklusions-

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vermeidung. Bei der Exklusion geht es immer um „. . . entweder/oder-Entscheidungen hinsichtlich Zugehörigkeit und hinsichtlich Berechtigungen und nicht um die unendlich feinen Gradationen, wie sie das Geldeinkommen als Grund der Schichtungslogik der modernen Gesellschaft erlaubt“ (Stichweh 2002: 5). In diesem Zusammenhang ist auch die Studie von Becker (2006) interessant, die auf die Dunkelziffer der Armut hinweist: Etwa 10 Mio. Bürger hätten einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld und die Zahl der bedürftigen Bedarfsgemeinschaften übersteigt die registrierten Bedarfsgemeinschaften (bei Bezugnahme auf 2005) um 1,2 Mio. Einheiten. Demnach sind für die meisten Milieus der „. . . moralische Schmerzpunkt (. . .) nicht erst dann erreicht, wenn ein absolutes materielles Miniumum unterschritten wird, . . . (sondern) wenn die gewohnte respektable Lebensweise und die Vorstellungen einer gerechten sozialen Ordnung in Frage gestellt werden“ (Vester 2006). Auch Blos (2006) stellt auf der Grundlage einer simulierten SGB II Anspruchsprüfung anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe fest, dass ca. 730 Tsd. Haushalte, die vor Hartz IV keinen Anspruch auf Arbeitslosen- und Sozialhilfe hatten, nach SGB II anspruchsberechtigt sind. Jedoch muss angemerkt werden, dass bei ca. 40% der Anspruchsberechtigten die Anspruchsbeträge unter 100 Euro betragen, so dass hier der Anreiz zu gering ist um den Anspruch tatsächlich wahrzunehmen (Blos 2006: 41). Es kann zusammengefasst werden, dass durch Hartz IV das, die deutsche Sozialstaatlichkeit prägende, Arbeitsbürgerrecht mit seinen statusorientierten Leistungen verlassen wurde, die der materiellen Exklusionsvermeidung dienen. Die kritische Beurteilung von Hartz IV resultiert somit vor allem aus dem „. . . – erlebten oder antizipierten – Statusverlust auf noch relativ hohem Wohlstandsniveau“ (Böhnke 2006: 119). Die Befürchtungen, die Voraussetzungen für den Anspruch auf statussichernde Versorgungsleistungen zu verlieren, löst vor allem in der gesellschaftlichen Mitte eine Verunsicherungswelle aus. Damit fühlt sich gerade die tatsächlich nicht betroffene Gruppe durch die Hartz IV Reform bedroht. Die Verunsicherung der Mittelschicht kann somit nicht auf die Ausgrenzung, sondern auf das (vermeintliche) Zerbröckeln des Normalarbeitsverhältnisses und größere Abstiegsrisiken zurückgeführt werden. Hier zeigt sich eine mit der Pfadabweichung weitere Begriffsumdeutung, die zu Akzeptanzproblemen führt. Der in Deutschland zwar wenig gebräuchliche und bis vor kurzem auch kaum diskutierte Begriff der Inklusion betonte bis dato vor allem die passive, also materielle Absicherung. Im Gegensatz dazu zielt die gegenwärtig aus den angelsächsischen und skandinavischen Ländern kommende Deutung des Begriffs bei der Aktivierung, also der Inklusion über Arbeit an, ohne dabei im Extrem nach der Qualität dieser Arbeit zu fragen. Im angelsächsischen Gebrauch ist eine nicht an vormalige Erwerbstätigkeit geknüpfte Sozialleistung als Grundsicherung das Rückgrat des Sozialstaates – wie sich dies nun auch mit dem Arbeitslosengeld II als genereller Mindestsicherung für alle Erwerbsfähi-

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gen in Deutschland darstellt. Im alten Regime hatte die Arbeitslosenhilfe noch frühere Erwerbstätigkeit vorausgesetzt, während die Sozialhilfe ein davon getrenntes letztes Auffangnetz für bedürftige Personen darstellte. Insofern hat sich der Charakter des sozialrechtlichen Anspruches von einem abgestuften, im Kern „arbeitnehmerzentrierten“ hin zu einem generellen staatsbürgerlichen Recht verändert. 4.3.2 Verkürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I Verstärkt wird der Effekt einer Schwächung des Prinzips der Statussicherung zusätzlich durch die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I insbesondere für Ältere. Diese können nun nicht mehr zu einem frühen Zeitpunkt in den längerfristigen Bezug einer Versicherungsleistung wechseln, ohne ihr Vermögen antasten zu müssen. Sie werden nach Ablauf des Vertrauensschutzes bezüglich der alten Regelung seit Februar 2006 bereits nach maximal 18 Monaten statt wie bislang 32 Monaten auf das bedürftigkeitsgeprüfte Arbeitslosengeld II verwiesen, was diese Form des Transferbezugs und des vorgezogenen Übergangs in den Ruhestand deutlich weniger attraktiv macht (Eichhorst 2006a). Damit wurde die Arbeitslosenversicherung wieder stärker auf die Funktion einer Risikoabsicherung analog einer Risikolebensversicherung zurückgeführt, bei der die Dauer der Leistung nur noch in geringem Maße von der Dauer der Beitragszahlung abhängt. Die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitslose seit den 1980er Jahren war nicht nur Teil eines Systems der Förderung frühzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt über Transferleistungen, sondern hatte auch der Arbeitslosenversicherung in der Wahrnehmung der Versicherten bzw. der Leistungsbezieher teilweise den Charakter einer Kapitallebensversicherung gegeben, bei der die Höhe der Auszahlung von der Höhe der über die Jahre geleisteten Beitragszahlungen abhängt (Karl/Ullrich/Hamann 2002). 4.3.3 Die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien Bezieher hoher Arbeitslosenhilfe haben nicht nur mit Einkommensverlusten, sondern auch mit stärkeren Zumutungen im Sinne der Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt und Zugeständnissen bei der Entlohnung zu rechnen. Letzteres war insofern eine neue Entwicklung, als dass bereits früher bestehende Gegenleistungspflichten in der Sozial- und Arbeitslosenhilfe in der Praxis nicht systematisch umgesetzt worden waren (Eichhorst/Grienberger-Zingerle/Konle-Seidl 2006). Bereits in § 18 des Bundessozialhilfegesetzes war vorgesehen gewesen, dass jeder Hilfesuchende „seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts“ einsetzen musste und dass darauf hinzuwirken sei, dass „der Hilfesuchende sich um Arbeit bemüht und Arbeit findet“. Dies hatte auch die Pflicht

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zur Annahme von zumutbaren öffentlichen Arbeitsgelegenheiten umfasst. Während „aktivierende“ Ansätze in der kommunalen Beschäftigungspolitik auf erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger angewandt worden waren, blieben Arbeitslosenhilfebezieher und vor allem ältere (Langzeit)Arbeitslose hiervon weitgehend „verschont“.3 Das neue SGB II formuliert in § 2 den Grundsatz des Forderns, der sich durchaus in Kontinuität zum Bundessozialhilfegesetz befindet, wenn postuliert wird, dass „erwerbsfähige Hilfebedürftige und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen . . . alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verminderung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen“ müssen. Dies umfasst insbesondere den Einsatz der eigenen Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts. Damit war implizit auch die Erwartung bzw. Befürchtung verbunden, dass langzeitarbeitslose Transferbezieher zumutbare Stellen auch in der Praxis tatsächlich annehmen sollten, wobei das SGB II in § 10 grundsätzlich jeden Arbeitsplatz als zumutbar ansieht, auch wenn dieser nicht der früheren beruflichen Tätigkeit oder Ausbildung entspricht bzw. als geringwertiger einzuschätzen ist. Dies bedeutet für die Bezieher von Arbeitslosengeld II, dass höhere Anspruchslöhne aufgrund erworbener formaler Qualifikationen und Berufserfahrung nicht mehr berücksichtigt werden. Damit einher geht die Erwartung, dass Langzeitarbeitslose nur zu einem geringeren Lohn den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt schaffen können und auch bei vorhandenen formalen Qualifikationen und praktischen Erfahrungen wieder „unten“ anfangen müssen. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Lohnungleichheit bzw. ein größerer Niedriglohnsektor mit dem Bestreben einer stärkeren Aktivierung von Langzeitarbeitslosen verbunden. Beschäftigung zu niedrigen Löhnen ist jedoch in Deutschland politisch höchst umstritten (Glaab/ Sesselmeier 2005), wie frühere und gegenwärtige Diskussionen um Anspruchslöhne, die angemessene Höhe der sozialen Grundsicherung und verschiedene Varianten der Ausgestaltung von Kombilohn- oder Mindestlohn-Modellen zeigen. Gleichwohl bestünde bei einer Beschäftigung auch nur knapp oberhalb des impliziten Mindestlohnes von Arbeitslosengeld II eine Möglichkeit, das individuelle Einkommen durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu verbessern. Das individuelle Nettoeinkommen kann durch Ausweitung von Erwerbstätigkeit 3 Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass für ältere Arbeitslose auch nach der Reform noch immer § 428 SGB III Anwendung findet, welcher besagt, dass Ältere Arbeitslosengeld I oder auch Arbeitslosengeld II unter erleichterten Bedingungen beziehen können, d.h. ohne dem Arbeitsmarkt und der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen zu müssen, sofern sie zum nächstmöglichen Zeitpunkt in eine ungeminderte Rente übergehen. Diese Regelung sollte ursprünglich Ende 2005 auslaufen, ist jedoch bis Ende 2007 verlängert worden. Sie vermindert nach wie vor die aktivierende Wirkung der Veränderungen im Transfersystem für ältere Arbeitslose.

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und Übergänge in höhere Entlohnung dynamischer verlaufen als es der statische Vergleich des Transfereinkommens vor und nach der Reform nahe legt. „Unten“ in den Niedriglohnsektor einzusteigen bzw. einstellen zu sollen und müssen, ist jedoch eine Perspektive, die einen Bruch mit der Wahrnehmung des deutschen Sozialstaates als statussichernd darstellt, da früher eher ein Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt gefördert (und gefordert) worden ist als die Aufnahme einer gering entlohnten Tätigkeit – mit Hartz IV wurde dies auf der programmatischen Ebene umgekehrt. Dies wurde aber bisher nicht akzeptiert, was auch die jüngste IAB-Befragung zur ,Lebenssituation und sozialen Sicherung‘ belegt: Hartz IV konnte bisher die Bereitschaft zu Lohnzugeständnissen bei Arbeitslosengeld II-Empfängern nicht erhöhen, dementsprechend ist der Anspruchslohn weiterhin unabhängig vom gegenwärtigen Erwerbsstatus und abhängig vom Lohn, den der Leistungsempfänger vor Arbeitslosigkeit erhalten hat (Bender/ Koch/Messmann/Walwei 2007). Insbesondere der aus ökonomischer Sicht plausible Zusammenhang zwischen niedrigeren Einstiegslöhnen als ein Weg zur Erhöhung der Beschäftigung von Erwerbspersonen mit geringer oder durch Arbeitslosigkeit entwerteter Qualifikation trifft in Deutschland nicht auf mehrheitliche Zustimmung. Darin schlagen sich grundsätzliche Vorbehalte gegen das Funktionieren des Arbeitsmarktes über Anreize und eine starke Zuweisung von Verantwortung für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit an den Staat nieder (Glaab/Sesselmeier 2005; Krömmelbein/Nüchter 2006). 5. Hartz IV: Ein Systembruch flankiert durch mangelhafte Vermittlung, unzureichendes normatives Leitbild und ineffiziente Ausgestaltung Wie bereits dargestellt, müssen Reformen, die mit dem traditionellen Pfad brechen, nicht zwangsläufig zu Akzeptanzproblemen bei den Akteuren führen. Abweichungen vom etablierten Pfad sind unter bestimmten Voraussetzungen möglich: Es müssen klare inhaltliche Ziele formuliert und kommuniziert werden. Eine effektive Vermittlung muss stattfinden, eine ökonomische wirkungsvolle Ausgestaltung der Reform erreicht werden. Im nächsten Schritt soll die inhaltliche Formulierung, die Vermittlung und die Ausgestaltung der Hartz IVReform genauer untersucht werden, um genau die Schwachstellen aufzudecken, die dem Akzeptanzproblem nicht entgegenwirken konnten. 5.1 Vermittlung von Hartz IV im Zustand mangelnder parteipolitischer Übereinstimmung und sozialpolitischer Kongruenz

Sinn und Zweck einer guten politischen und öffentlichen Reformvermittlung ist es, für eine ausreichende politische und gesellschaftliche Unterstützung zu sorgen. Wichtig für die politische und öffentliche Reformvermittlung ist die Glaubwürdigkeit der Regierung in Bezug auf das Reformvorhaben.

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Der Bruch mit der bisherigen sozialstaatlichen Tradition, was durch Hartz IV verursacht wurde, führte nicht nur zu einer Konfrontation zwischen der Regierung und den betroffenen Gruppen von Transferbeziehern, sondern legte auch einen Gegensatz innerhalb der SPD bloß, worunter die Glaubwürdigkeit der Regierung litt. Die SPD teilte sich in zwei Lager: auf der einen Seite die „Modernisierer“, insbesondere im Kanzleramt und im ab 2002 von Wolfgang Clement geführten Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, auf der anderen Seite eher „traditionell“ ausgerichtete, d.h. am bestehenden arbeitsmarktund sozialpolitischen Arrangement festhaltende Strömungen der SPD und der Gewerkschaften. Entsprechend kritisch fielen die Stellungnahmen aus der SPD selbst, aber auch aus den Gewerkschaften nach der Ankündigung der Agenda 2010 aus (Jantz 2004). Die heftigen Proteste in Ostdeutschland („Montagsdemonstrationen“) gingen so über Widerstände gegen die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hinaus und stellten die grundsätzliche Ausrichtung der rot-grünen Reformpolitik in Frage, welche aus Sicht der Gegner zu stark auf Marktmechanismen setzte, soziale Erwägungen vernachlässigte und ein verstärktes Risiko von Armut und gering entlohnter Arbeitstätigkeit in Kauf nahm. Dieser Widerspruch zwischen regierender SPD und Teilen der Basis sowie der Mandatsträger auf Länder- und Bundesebene, aber auch die Distanzierung zwischen rot-grüner Bundesregierung und Gewerkschaften führte letztlich zum massiven Schwund an politischer Unterstützung für die Regierung von Gerhard Schröder und zu den vorgezogenen Neuwahlen im Herbst 2005, welche mit dem Verlust des Kanzleramtes für die SPD endeten. Die Gegnerschaft gegen Hartz IV resultierte in der Konstituierung der „Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) im Juli 2004 als Verein und im Januar 2005 als Partei und zu deren Aufstieg, welcher im Einzug in den Bundestag gemeinsam mit der PDS/Linkspartei als Fraktion „Die Linke“ gipfelte. Langzeitarbeitslose sind keine Gruppe, die üblicherweise leicht politisch zu mobilisieren ist. Für die für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Intensität der politischen Mobilisierung war letztlich entscheidend, dass Hartz IV nur Teil einer Reihe von sich kumulierenden Provokationen aus Sicht einer „traditionell“ sozialstaatlichen Position in SPD und Gewerkschaften war, welche die Regierung Schröder im Kontext der Hartz-Reformen und der „Agenda 2010“ angekündigt oder vollzogen hatte. Dies hatte bereits vor Hartz IV zu einer schleichenden Entfremdung zwischen regierender SPD und Gewerkschaften bzw. Teilen der SPD-Basis geführt, aber auch intensive Debatten innerhalb der SPD ausgelöst (vgl. etwa hierzu FES 2005). Insofern wurde Hartz IV zum Kristallisationspunkt für ein grundsätzliches Unbehagen gegenüber dem Reformkurs der Regierung Schröder. Die Opposition gegen Hartz IV wurde vom linken Flügel der SPD und Teilen der Ge-

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werkschaften, jedoch auch von der PDS mobilisiert. Ältere Langzeitarbeitslose mit grundsätzlicher Skepsis gegenüber dem marktwirtschaftlichen System und Sympathien für die Positionen der PDS waren unter den gegen Hartz IV Demonstrierenden prominent vertreten (Rucht/Yang 2004). Die PDS ihrerseits konnte Hartz IV als Thema für sich reklamieren, um so ihre Stellung als dezidiert linke und „sozial“ ausgerichtete Partei Ostdeutschlands zu festigen. Über die Verschmelzung mit der westdeutschen WASG zur Linkspartei konnte sie schließlich auch ihre regionale Begrenzung auf die neuen Bundesländer überwinden. Eine unterstützende Rolle kam in der Hochphase der Proteste im Sommer 2004 auch den Massenmedien zu. Wie bereits dargestellt, haben nur Reformprozesse Erfolg, die auf gelungene Aushandlungsprozesse zwischen Regierungen, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften beruhen. Hierbei kommt vor allem der Regierung eine wichtige Funktion zu, denn ein bestehender lock-in kann mit Hilfe starker Reformkräfte, die in eine gemeinsame Richtung wirken, durchbrochen werden. Im Falle von Hartz IV gab es aber eine mangelnde parteipolitische Übereinstimmung, was die Regierung, verbunden mit einem gewissen Risiko, nötigte selbst zu handeln. Diese fehlende Einigung über die einzuschlagende Reformrichtung hat den Pfadwechsel erschwert. 5.2 Unzureichende Formulierung und Kommunikation der Reform

Die Zweiteilung der SPD schlug sich dann auch als grundsätzliches Dilemma der SPD nieder, da sie über kein breit akzeptiertes normatives Leitbild einer „modernen“ sozialdemokratischen Reformpolitik verfügte, wie es etwa die „Neue Mitte“ in Anlehnung an das britische Vorbild hatte erwarten lassen (Giddens 1997, Hombach 1999, Dingeldey 2006). Damit aber Reformen mit partiell restriktivem Charakter akzeptiert werden, bedarf es eines stabilen und überzeugenden normativen Leitbildes. Die Idee eines „aktivierenden Staates“ oder eines „dritten Weges“ war nicht hinreichend ausformuliert und innerhalb der SPD verankert, um als tragfähiges Gesamtkonzept genutzt werden zu können. Eine „moderne“ Sozialpolitik mit stärkerer Betonung von Eigenverantwortung und einer Verbindung von sozialstaatlichen Leistungen mit Gegenleistungen, wie sie von „New Labour“ Ende der neunziger Jahre umgesetzt wurde, konnte so nicht prägend werden. Zwar griff der Bundeskanzler bei der „Agenda 2010“ auf Elemente des Schröder/Blair-Papiers von 1999 zurück, konnte dafür jedoch weder die gesamte SPD noch die breite Öffentlichkeit gewinnen. Vielmehr schränkte der Rückgriff auf Ideen dieses bereits in der Vergangenheit kritisierten Konzeptes die Akzeptanz der Ankündigung des Bundeskanzlers ein. Dies war gegenüber früheren Phasen der rot-grünen Regierung und auch gegenüber dem breit akzeptierten, aber noch nicht konkretisierten Hartz-Konzept eine programmatische Abweichung. Sie war nicht

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konsistent mit früheren Ankündigungen eines Verzichts auf „soziale Grausamkeiten“. Die im Zeitablauf schwankende Haltung der Bundesregierung und auch des Bundeskanzlers im Hinblick auf die Notwendigkeit von Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen und deren konkrete Ausgestaltung verminderte die Glaubwürdigkeit der Begründung und hemmte so die Akzeptanz dieses Schrittes. Die Akzeptanz von Hartz IV und den damit verbundenen ergänzenden Reformen hätte gleichwohl gesteigert werden können, wenn die Bundesregierung in der kritischen Phase zwischen Frühjahr 2003, der Ankündigung der Agenda 2010, und dem Frühjahr 2005, also den ersten Monaten nach Inkrafttreten der Reform, eine andere Kommunikationspolitik praktiziert hätte. Beispielsweise hätte die Regierung durch die bewusst strategische Anwendung des ,FramingEffektes‘ eine effektivere Kommunikation der Reform erreichen können, doch im Falle von Hartz IV wurde nicht mit dem, sondern gegen den ,Darstellungseffekt‘ gehandelt. Der ,Framing-Effekt‘ bzw. der Darstellungseffekt ist eine ,Verhaltensanomalie‘, die zeigt, dass die Art und Weise der Präsentation einer Handlungsalternative die Entscheidungsfindung der Akeure beeinflusst. So kann „. . . bereits eine sprachliche Umformulierung bei logischer Äquivalenz der Frage zu einer anderen Antwort führen“ (Kirchgässner 2000: 207). Beispielsweise wurde im Gutachten des Sachverständigenrates von 2004 darauf aufmerksam gemacht, dass die Proteste einzelner Gruppierungen gegen die vierte Stufe der Hartz-Reformen möglicherweise an der Namensgebung ,Arbeitslosengeld II‘ liegen könnte. Der Name ,Arbeitslosengeld II‘ könnte analog zum bisherige Arbeitslosengeld verstanden werden, welches sich aus Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung finanziert und eine Lebensstandard sichernde Versicherungsleistung ist (Sachverständigenrat 2004, Ziffer 272). Auch Hohendanner u. a. (2007) stellten fest, dass die „Ein-Euro-Jobs“ de facto dasselbe sind wie die früheren Formen geförderter Arbeitsgelegenheiten (wie die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Maßnahmen des Programms „Hilfe zur Arbeit“). So kann die Kritik gegenüber den „Ein-Euro-Jobs“ auf die Namensgebung zurückgeführt werden, die primär als restriktive Kürzung wahrgenommen wurde. Aber auch eine nüchterne Darstellung der Ziele und Instrumente sowie der Chancen gegenüber einem unveränderten institutionellen Status Quo hätten helfen können, wenngleich ein normatives Leitbild nicht breit akzeptiert war. Der Bundesregierung gelang es aber 2004 nicht, auch unter Betonung der „akzeptablen“ und positiven, teilweise durchaus sozialpolitisch expansiven Elemente von Hartz IV die Öffentlichkeit, die Wähler und die Parteibasis von der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Reform zu überzeugen, etwa durch die Betonung der verbesserten Betreuung von Langzeitarbeitslosen, von der eine raschere Integration in den Arbeitsmarkt zu erwarten ist. Hier hätten auch inländische und ausländische „gute Praktiken“ als Illustration dienen können.

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So aber verstärkte die Ankündigung der Bundesregierung, mit Hartz IV tatsächlich eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik einleiten zu wollen, den Eindruck, diese Reform liefe in erster Linie auf generelle Kürzungen bei den Transferleistungen und die Erhöhung des Drucks auf Arbeitslose hinaus. Die fördernden Elemente traten dem gegenüber in den Hintergrund, ebenso die Verbesserung der Transfers für bestimmte Gruppen. Insgesamt dürfte dies in einer Situation hoher Arbeitslosigkeit und geringen Wirtschaftswachstums zur Verbreitung von „Abstiegsängsten“ in der Bevölkerung beigetragen haben. Dies galt nicht nur für Transferbezieher oder Personen, die von (Langzeit)Arbeitslosigkeit unmittelbar bedroht waren, sondern auch für mittlere Einkommensgruppen in durchaus gesicherten Verhältnissen (Heitmeyer 2005). Die subjektive Wahrnehmung veränderte sich dahingehend, dass das Risiko, bereits nach zwölf oder 18 Monaten Arbeitslosigkeit in den Bezug von Arbeitslosengeld II „abzurutschen“, das Vermögen aufzehren und nahezu jede Arbeit annehmen zu müssen, zunehmen würde. Dieser Eindruck spitzte sich umso mehr zu, als Anfang 2005 aufgrund der erstmaligen Erfassung von erwerbsfähigen Hilfebeziehern als „arbeitslos“ die Zahl der registrierten Arbeitslosen in der monatlichen Berichterstattung der BA erstmals über fünf Millionen anstieg. Der auf die statistische Umstellung zurückzuführende Einmaleffekt lag bei rund 320.000 bis 380.000 neu registrierten Arbeitslosen und bedeutete keinen tatsächlichen Anstieg der Unterbeschäftigung, da diese Personen auch zuvor nicht erwerbstätig gewesen waren. Sie wurden nun lediglich zum ersten Mal in der Statistik geführt. In der Öffentlichkeit war dieser Zusammenhang jedoch kaum zu vermitteln. Zwar hatte der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit bereits im Herbst 2004 auf diesen zu erwartenden, allein statistisch bedingten Anstieg der Arbeitslosenzahl hingewiesen, doch blieb in der breiten Öffentlichkeit der Eindruck zurück, die Umsetzung von Hartz IV führe zu mehr Arbeitslosigkeit anstatt zu einer besseren Integration in den Arbeitsmarkt. Dieser Effekt war einer der Hauptgründe für den Verlust der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 durch die SPD und für die Ankündigung von Neuwahlen auf Bundesebene. 5.3 Die unzureichende Ausgestaltung von Hartz IV

Hartz IV wurde in einer Phase schwachen Wirtschaftswachstums mit hoher Arbeitslosigkeit eingeleitet. Das Bruttoinlandsprodukt stieg im Jahr 2005 um nur 0,8% (im Jahre 2004 waren es noch 1,6%). Gleichzeitig wurde mit einem Haushaltdefizit von 3,5% des nominalen Bruttoinlandsprodukt der Referenzwert der Maastricht-Kriterien überschritten. Hartz IV wurde demnach zu einem ungünstigen Zeitpunkt eingeführt, wodurch die politische Durchsetzbarkeit und die gewünschten ökonomische Effekte schwierig zu realisieren waren. Neben den schlechten makroökonomischen Bedingungen bei der Einführung von Hartz

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IV, waren komplementäre Reformen auf der mikroökonomischen Ebene ebenfalls schwer zu realisieren. Zwar ist der institutionelle Reformbedarf in Deutschland im Hinblick auf eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik – wie skizziert – besonders groß, doch gleichzeitig sind die Kapazitäten für die Formulierung größerer Reformbündel begrenzt (Zohlnhöfer 2003, Eichhorst/Thode/Winter 2004). Dies hat zwei Gründe. Zum einen ist die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung im föderalistischen System mit einer starken Stellung des Bundesrates, einer ausgeprägten Tarifautonomie und einem hohen Grad an Verrechtlichung der Sozialpolitik begrenzt. Zum anderen kann in Deutschland auch nicht auf eine ausgebaute Infrastruktur für dreiseitige Vereinbarungen zwischen der Regierung und den Sozialpartnern zurückgegriffen werden. Beide Faktoren erschweren bereits einzelne Reformen, wirken aber auch der Verwirklichung von Bündeln zueinander komplementärer Reformen entgegen. Zum arbeitsmarktpolitischen Erfolg gehören die vollständige Durchführung von Reformen und deren komplementären Teile. Beispielsweise wird momentan innerhalb der Arbeitsmarktpolitik die Diskussion zur Festlegung von Mindestlöhnen und die Einführung zusätzlicher Kombilöhne geführt. Innerhalb dieser Diskussion weist Eichhorst (2006b) auf verschiedene Handlungsalternativen hin, die jeweils in sich stimmig sind: Bei unverändertem Mindestsicherungsniveau in Gestalt von Arbeitslosengeld II schafft ein großzügiger Kombilohn jedoch erhebliche Anreize zu aufstockendem Transferbezug, was mit erheblichen Kosten und nur geringen Arbeitsmarkteffenten verbunden wäre. Ein großzügiges Kombilohnmodell kann nur deutlich niedrigerer Grundsicherung funktionieren, und auch nur in einem solchen Kontext ist ein moderater Mindestlohn vertretbar. Diese Zusammenhänge belegen, dass eine isolierte Reform nicht wirksam werden kann, wenn in benachbarten Politikbereichen keine komplementären Veränderungen realisiert werden. Dies erhöht den Bedarf an institutionellem de-locking. Soll das Niveau der Grundsicherung also konstant gehalten werden, so scheidet ein größeres Kombilohn-Modell aus. Gleichzeitig ist jedoch für eine Verminderung der Anreize zum Hinzuverdienst zu sorgen. Neben den fehlenden flankierenden Reformelementen kommt es auch bei der Implementation von Hartz IV zu Problemen. Sowohl beim Fördern, als auch beim Fordern ist mittlerweile eine vergleichsweise große Zurückhaltung bei den mit der Implementation beauftragten Akteuren erkennbar (Kaltenborn/Knerr/ Schiwarov 2006). Insofern hat sich bislang in der Praxis gegenüber dem eher „permissiven“ System vor der Reform weniger geändert als zunächst zu erwarten gewesen war. Beim Fördern geht die Zurückhaltung vor allem auf die Umsetzungs- und Steuerungsprobleme in den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen zurück (Bundesrechnungshof 2006, Ombudsrat 2006). Die Umsetzungs- und Steuerungsprobleme sind auf die Reform-Verhandlungen der SPD mit der CDU/CSU zurückzuführen: Das Resultat des Gegensatzes

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zwischen der rot-grünen Bundesregierung sowie der Bundestagsmehrheit einerseits und dem von der Union dominierten Bundesrat andererseits war und ist eine (über)komplexe Steuerungsstruktur im Bereich des SGB II. Während die SPD eine einheitliche Zuständigkeit der BA befürwortet hatte, favorisierte die Union eine Kompetenzzuweisung an die Kommunen, da diese besser in der Lage seien, Langzeitarbeitslose zu betreuen, wie sich dies bereits in der Vergangenheit erwiesen hätte. Der resultierende Kompromiss sah vor, dass die Verantwortung für die Implementation in der Regel gemeinsamen Einrichtungen von BA und Kommunen (Arbeitsgemeinschaften) übertragen werden sollte. Diese sollten die jeweiligen Kompetenzen bündeln und nach lokalen Gegebenheiten eine effektive Infrastruktur aufbauen. In 69 Kreisen bzw. kreisfreien Städten wurde optional für einen begrenzten Zeitraum von sechs Jahren eine alleinige Trägerschaft von Kreisen bzw. Kommunen zugelassen (Optionskommunen). Diese komplexe Kompromisslösung hat jedoch die effektive Durchführung in der Anfangsphase deutlich behindert. Zum anderen besteht bei der Implementierung ein institutionell bedingtes Anreizproblem, das auf die Trennung der Finanzierung von Arbeitsmarktpolitik für Bezieher von Arbeitslosengeld I durch die BA über Beiträge und Arbeitsmarktpolitik für Arbeitslosengeld II-Empfänger über Steuern zurückgeht. Denn es besteht innerhalb der jetzigen Struktur von SGB III und SGB II für die BA als Träger des Arbeitslosengeldes I, d.h. der beitragsfinanzierten Versicherungsleistung, wenig Anreiz, bereits in einem frühen Stadium der Arbeitslosigkeit auch den potenziell Langzeitarbeitslosen bedarfsgerechte, im Einzelfall auch aufwendigere Fördermaßnahmen zu bewilligen. Zwar ist anhand des Profiling zu Beginn der Arbeitslosigkeit vergleichsweise leicht zu erkennen, wer das Risiko läuft, langzeitarbeitslos zu werden – doch die BA hat innerhalb des Zeitraums, für den Anspruch auf Arbeitslosengeld I besteht, d.h. 12 bis 18 Monate, aus fiskalischen Gründen keinen Anreiz, aufwändigere und längere Fördermaßnahmen durchzuführen, deren Ertrag im Sinne von Einsparungen bei den Transferleistungen erst nach Ablauf des Anspruchs auf Arbeitslosengeld I anfallen dürfte, also den Trägern der steuerfinanzierten Grundsicherung Arbeitslosengeld II zufiele. Dies hat zur Folge, dass potenziell Langzeitarbeitlose in den ersten 12 bis 18 Monaten kaum gefördert (und gefordert) werden, sondern gleichsam an die Träger des SGB II „durchgereicht“ werden. Entsprechende Erkenntnisse hat auch der Bundesrechnungshof (2006) gewonnen, der auf geringe Vermittlungs- und Integrationsanstrengungen der zuständigen Akteure hinweist. Daran ändert auch der Aussteuerungsbetrag von rund 10.000 EUR nichts, den die BA für jeden Arbeitslosen, der ins Arbeitslosengeld II übergeht, an den Bund erstatten muss. So wird Langzeitarbeitslosigkeit zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Die fördernden Elemente treten damit deutlich in den Hintergrund. Dies gilt insbesondere auch für die besonders stark von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen älteren Erwerbspersonen, die von der BA während der ersten Phase

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der Arbeitslosigkeit kaum gefördert werden – allerdings ist hier auch das fordernde Element aufgrund der Regelung des § 428 SGB III wenig ausgeprägt (Eichhorst 2006a). Was das „Fordern“ insgesamt angeht, so ist auch dort in der Praxis eine merkliche Zurückhaltung festzustellen. Die Gewährung von Leistungen teilweise ohne genaue Prüfung der Leistungsvoraussetzungen hat nach Erkenntnissen des Bundesrechnungshofes gegenüber dem Abschluss von Integrationsvereinbarungen und deren Umsetzung in der Praxis (Bundesrechnungshof 2006). So werden etwa die Zusatzjobs mit Mehraufwandsentschädigung („Ein-EuroJobs“) nicht zur Prüfung der Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt eingesetzt, sondern auf primär freiwilliger Basis als Gelegenheit zur Aufstockung der Transferleistung gehandhabt. Damit geht tendenziell nicht eine Erhöhung der Suchintensität, sondern eine Verminderung der Bemühungen um Arbeit im regulären Arbeitsmarkt einher. Ähnlich moderat fallen auch andere Elemente des Forderns in der praktischen Anwendung aus. Die Gründe hierfür können unterschiedlich gelagert sein. Auf der einen Seite spricht Einzelfallevidenz aus den Arbeitsgemeinschaften und der BA dafür, dass auf der Ebene der für die Implementation zuständigen Bearbeiter tendenziell die Überzeugung vorherrscht, angesichts hoher Arbeitslosigkeit bestünde keine Möglichkeit, Langzeitarbeitslose auch durch eine stringente Prüfung der Verfügbarkeit und der Stellensuchbemühungen sowie ggf. Sanktionen zu intensiverer Suche nach Arbeit zu bewegen und hierüber eine Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Die Organisationskultur der BA – mehr noch als die der Kommunen – spiegelt nach wie vor den traditionell auch sozialpolitisch motivierten Auftrag der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland wider, der in erster Linie im Fördern bestand, nicht im Fordern. Entsprechend begrenzt ist deshalb die Akzeptanz der Vorgaben des SGB II auf der dezentralen Ebene. Gleichzeitig ist es so, dass die Fallmanager im Bereich des SGB II keine Anreize haben, gegenüber Transferbeziehern besonders fordernd aufzutreten. Insbesondere besteht das Risiko, dass im „verrechtlichten“ deutschen Sozialstaat bestimmte Anforderungen an Transferbezieher und Sanktionen im Leistungsbezug von den zuständigen Gerichten verworfen werden. Zur Frage der Leistungshöhe, der Anrechnung von Einkommen und Vermögen, der Existenz einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, der Zumutbarkeit, aber auch zur Handhabung von Ein-Euro-Jobs und Sanktionen gibt es mittlerweile ca. 70.000 Klagen (2005) vor den Sozialgerichten und eine Reihe von Gerichtsurteilen mit unterschiedlichen Aussagen, so dass viele in der Praxis zentrale Fragen nicht eindeutig geklärt sind. Die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende ist zwar nach einem Urteil des Berliner Sozialgerichts vom 2.8.2005 verfassungskonform und stellt die Gewährung des soziokulturellen Existenzminimums sicher. Auch die Absenkung individueller Transferansprüche nach Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ist damit zulässig. Löhne etwa 30% unterhalb des Tariflohnniveaus sind in verschiedenen Gerichtsurteilen für zumut-

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bar erklärt worden (Bundesgerichtshof, 27.4.1997). Hingegen haben die Gerichte die Vermutung eheähnlicher Gemeinschaften eher restriktiv ausgelegt (Sozialgericht Düsseldorf, 22.4.2005, Saarbrücken, 4.4.2005) und Sanktionen nur nach Belehrung für zulässig erklärt (Sozialgericht Gelsenkirchen 8.3.2005, Hamburg, 21.4.2005). Sanktionen aufgrund von Eingliederungsvereinbarungen sind nur zulässig, wenn ohne diese Vereinbarung die Eingliederung in den Arbeitsmarkt nachweisbar erschwert würde (Sozialgericht Berlin, 31.8.2005). Langzeitarbeitslose müssen einen Zusatzjob nur annehmen, wenn er sinnvoll ist sowie eine Vereinbarung mit der Behörde konkret Inhalt und Umfang regelt (Sozialgericht Berlin, 8.8.2005). Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit eines Absenkungsbescheides wegen der Weigerung, eine Arbeitsgelegenheit aufzunehmen, ist u. a., dass das Arbeitsangebot hinsichtlich Art der Tätigkeit, zeitlichen Umfangs und zeitlicher Verteilung hinreichend bestimmt war (Landessozialgericht Hamburg, 11.07.2005). Andererseits darf ein Teilnehmer einer Bildungsmaßnahme diese nicht mit Verweis auf deren vermeintliche Sinnlosigkeit und das Gefühl der Unterforderung abbrechen (Sozialgericht Koblenz, 30.11.2005). Tendenziell wurde über die Rechtsprechung jedoch die Stellung der Transferbezieher gestärkt und der Spielraum des „Forderns“ beschränkt. Im Zweifelsfall entschieden die Gerichte zugunsten des Leistungsbeziehers. Dies erhöht jedoch gleichzeitig die Rechtsunsicherheit in der Implementation. Je größer aber die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Anforderungen an Transferleistungsempfänger vor Gericht keinen Bestand haben, umso zurückhaltender werden die mit der Implementation dieser Instrumente befassten Akteure in der Praxis sein. Diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass es für die Akzeptanz von Reformen nicht nur wichtig ist, auf der Ebene der Politikformulierung für eine ausreichende Unterstützung zu sorgen, sondern dass auch die Ebene der Implementation für die praktische Wirksamkeit entscheidend ist. 6. Abschließende Betrachtung: Die Weiterentwicklung von Hartz IV Gezeigt wurde, dass Reformen, die mit der Pfadabhängigkeit brechen, Unsicherheiten auslösen, wodurch es zu Akzeptanzproblemen kommt. Gezeigt wurde aber auch, dass unter bestimmten Voraussetzungen diese Unsicherheiten behoben werden können: Wenn Reformen inhaltlich klar erklärt werden, d.h. wenn die Kosten und Nutzen des Status Quo im Vergleich zum erwarteten Zustand nach den Reformen nachvollziehbar und glaubwürdig dargestellt werden, können Akzeptanzdefizite abgebaut werden. Kombiniert werden muss die Kosten-Nutzen-Darstellung aber mit geeigneten Kommunikationsmitteln. Wichtig ist hierbei vor allem, dass ein gesellschaftlich akzeptiertes normatives Leitbild kommuniziert wird, mit dem die angestrebte Reform einen Rahmen bekommt. Hartz IV

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konnte diese Bedingung nicht erfüllen. Sowohl durch mangelnde Übereinstimmung innerhalb und zwischen den Parteien als auch durch fehlende sozialpolitische Kongruenz gab es keine Einigung über die einzuschlagende Reformrichtung und somit auch über ein normatives Leitbild. Zusätzlich fehlte auch eine einfache und klare Darstellung der Ziele und Instrumente von Hartz IV sowie ihrer Chancen gegenüber einem unveränderten institutionellen Status Quo einer passiven Arbeitsmarktpolitik. Ein weiterer Erfolgsfaktor von Reformprozessen, die zu einem De-locking führen, ist ein gelungener Aushandlungsprozess zwischen Regierungen, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Doch die vierte Stufe der Hartz-Reformen löste sowohl Spannungen zwischen der Regierung und den betroffenen Gruppen als auch innerhalb der SPD aus, die nicht überwunden werden konnten. Schließlich begünstigte die fehlende sozialpolitische Kongruenz das Akzeptanzproblem. Kompensationen sind aber nicht nur zwischen Regierung und Sozialpartnern nötig. Eine Regierung muss neben der Reform selbst auch kompensatorische Elemente einbauen, um potenzielle Akzeptanzdefizite auszuräumen. Mit kompensatorischen Elementen sind sowohl makroökonomische Gegebenheiten, als auch flankierende Reformen gemeint. Hartz IV wurde aber zu einem konjunkturell schlechten Zeitpunkt eingeführt. Das wirtschaftliche Umfeld war von schwachem Wachstum geprägt und wurde von hoher Arbeitslosigkeit begleitet. Darüber hinaus blieben auch nötige flankierende Reformelemente aus. Schließlich wurde auch gezeigt, dass bei einer Reform, die zu einem Bruch mit der Pfadabhängigkeit führt, gerade den Akteuren, die mit der Implementation beauftragt sind, eine entscheidende Rolle zukommt. Auch in diesem Punkt zeigt die Hartz IV Reform große Defizite. Die effektive Umsetzung der Reform durch die mit der Implementation beauftragten Akteure wurde nicht realisiert. Die gegenwärtige gesamtwirtschaftliche Situation sollte jedoch helfen sowohl den Wirkungsgrad von Hartz IV als auch der noch notwendigen Restrukturierungen zu erhöhen und somit auch zu einer besseren Akzeptanz führen.

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Sind Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung ein in der Praxis wirksames Instrument zur Durchsetzung des „Fördern und Fordern“-Prinzips des SGB II?* Michael Gerhardt

1. Problemlage Die Arbeitsgelegenheiten („1 Euro Jobs“) mit Mehraufwandsentschädigung nach § 16 Abs. 3 SGB II sind eins der am kontroversesten diskutierten Arbeitsmarktinstrumente. Mit Inkrafttreten des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) ab Januar 2005 erfolgte ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik. Für die bisherigen Arbeitslosenhilfeempfänger und erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger wird nunmehr ein einheitliches Leistungsangebot unter der Maxime des „Forderns und Förderns“ umgesetzt. Das mit Abstand wichtigste Instrument aktiver Arbeitsmarktförderung im Rechtskreis des SGB II sind mit bundesweit über 262.000 Teilnehmern (Oktober 2007) die öffentlich geförderten Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung.1 Arbeitsgelegenheiten gab es bereits vor Verabschiedung des SGB II seit langem für Sozialhilfeempfänger nach dem damaligen BSHG. Bisher sind Arbeitsgelegenheiten hinsichtlich der Wirksamkeit des „Fordern“-Aspektes nur rudimentär erforscht. Es gibt hierzu beispielsweise zwei grundlegende Veröffentlichungen der Bundesagentur für Arbeit2 bzw. des Instituts für Arbeitsmarktforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB).3 Um eine Forschungslücke

* Der Autor gibt in dem Aufsatz ausschließlich seine persönliche Meinung wieder. Der Aufsatz wurde in wesentlichen Teilen bereits Ende 2006 erstellt. 1 Vgl. Statistik Arbeitsgelegenheiten, Stand November 2007, Statistik der Bundesagentur für Arbeit, http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/detail/f.html. Hinweis wenn in dem Aufsatz von Arbeitsgelegenheiten geschrieben wird sind damit solche mit Mehraufwandsentschädigung gemeint. 2 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Bericht der Statistik der BA, Leistungen zur Eingliederung an erwerbsfähige Hilfebedürftige: Einsatz von Arbeitsgelegenheiten 2005, Nürnberg 2006. 3 Vgl. u. a. IAB Forschungsbericht, Ergebnisse aus der Projektarbeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nr. 10/2006 „Förderung von arbeitslosen Personen im Rechtskreis des SGB II durch Arbeitsgelegenheiten: Bislang wenig zielgruppenorientiert, IAB Forschungsbericht Nr. 3/2006, Nürnberg 2006.

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Michael Gerhardt

zu Fragen der Umsetzungspraxis zu schließen, wurde in Hamburg bereits 2006 eine Untersuchung erstellt, welche auf einer umfangreichen aussagekräftigen Datenbasis von mehr als 60.000 Datensätzen beruht.4 Untersucht wurde insbesondere die Frage nach der Effektivität (den erreichten Wirkungen) und der Effizienz (dem erforderlichen Aufwand) von Arbeitsgelegenheiten. Der vorliegende Beitrag beruht im wesentlichen auf dieser Untersuchung.5 2. Zuweisungsverfahren und Durchsetzung des „Fordern“-Aspektes Die Hamburger Daten lassen insgesamt erkennen, dass in 2005 ein geregeltes Zuweisungsverfahren von Arbeitslosen in Arbeitsgelegenheiten nicht existierte. Um rund 14.000 bewilligte Arbeitsgelegenheiten besetzen zu können, wurden im Jahresverlauf 2005 von den Job-Centern insgesamt 62.000 Teilnehmer zugewiesen – das entsprach ungefähr dem Gesamtbestand an registrierten Arbeitslosen im Rechtskreis des SGB II. Von den rund 39.000 Arbeitslosen, die zugewiesen, aber nicht eingestellt wurden, haben sich 18.000 nicht gemeldet, 12.000 die Tätigkeit in einer Arbeitsgelegenheit abgelehnt und bei 9.000 zugewiesenen Arbeitslosen wurde eine Einstellung vom Träger abgelehnt. Knapp jeder zweite in eine Arbeitsgelegenheit zugewiesene Arbeitslose hat sich also entweder überhaupt nicht beim Träger gemeldet oder eine Tätigkeit abgelehnt. Mit Hilfe einer Stichprobenanalyse für das 3. Quartal 2005 wurde versucht, Erklärungs- und Lösungsansätze dafür zu finden, warum Personen eine Arbeitsgelegenheit nach § 16 (3) SGB II ablehnen oder sich nicht bei dem Projektträger meldeten. Erfasst wurden 3.629 Datensätze, von denen 2.994 ausgewertet werden konnten. Erhoben wurden folgende Variablen:

4 Die Auswertungsbasis der Studie bilden knapp 60.000 Datensätze von Maßnahmeteilnehmern öffentlich geförderter Arbeitsgelegenheiten für den Auswertungszeitraum des Jahres 2005. Von den Trägern wurden darüber hinaus Zwischenberichte zur Umsetzung der Arbeitsgelegenheiten im zweiten Halbjahr 2005 gefertigt, in denen neben soziodemografischen Angaben und Angaben zu den Tätigkeitsfeldern der Teilnehmer auch die erreichten Integrationen in Beschäftigung erfasst wurden. Darüber hinaus wurden die Daten analysiert, die die Träger vierteljährlich über die bei ihnen erfolgten Zuweisungen von Arbeitslosen durch die Job-Center lieferten. Jeder Datensatz wurde unter Zuhilfenahme der Fachanwendungen der Bundesagentur für Arbeit „CoArb“ (Computerunterstütze Arbeitsvermittlung) und „A2LL“ (Leistungsbezugsprogramm ALG II) analysiert. 5 Vgl. Gallenstein, Jürgen/Gerhardt, Michael, Umsetzung und Ergebnisse der öffentlich geförderten Arbeitsgelegenheiten nach § 16 (3) SGB II im Jahre 2005, Hamburg Juni 2006.

Das „Fördern und Fordern‘‘-Prinzip des SGB II

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– Soziodemografische Merkmale, – Grund der Nichtmeldung beim vorgesehenen Träger, – Status im 3. Quartal, – Leistungsbezug SGB II im 3. Quartal (ja/nein), – Langzeitarbeitslosigkeit (ja/nein), – Anzahl bereits absolvierter Maßnahmen, – Eingliederungsvereinbarung (ja/nein), – Profiling (ja/nein), – Geförderte/ungeförderte Integration innerhalb der letzten 2 Jahre.

Bewerber hat sich nicht gemeldet: 30%

nicht eingestellt: Bewerbergründe 20%

eingestellt: 37%

nicht eingestellt: Arbeitgebergründe 13%

Quelle: Gallenstein, Jürgen/Gerhardt, Michael, Umsetzung und Ergebnisse der öffentlich geförderten Arbeitsgelegenheiten nach § 16 (3) SGB II im Jahre 2005, Hamburg Juni 2006, S. 14.

Abbildung 1: Verbleib der Zuweisungen in Arbeitsgelegenheiten

Für die Nichtmeldung des Arbeitslosen6 nach einer Zuweisung in eine Arbeitsgelegenheit wurden – geordnet nach Häufigkeit – folgende Gründe ermittelt:

6 Hinweis: Um den sprachlichen Lesefluss zu erleichtern wird in dem Aufsatz von „Arbeitslosen“ gesprochen. Damit sind Leistungsempfänger nach dem SGB II genannt.

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Michael Gerhardt Tabelle 1 Gründe der Nichtmeldung (Stichprobe III. Quartal 2005)

Nr.

Gründe der Nichtmeldung

Fälle (N=2994)

in v. H.

1 2

Maßnahmeverweigerung gesundheitliche Einschränkungen

591 507

19,7 16,9

3 4

Maßnahme bei anderem Träger Nebenverdienst

372 193

12,3 6,5

5 6

Zuweisung erfolgreich Berufstätigkeit

181 145

6,1 4,9

7 8

Unbekannt Postzustellschwierigkeiten

121 115

4,0 3,8

9 10

Bewerberakte abgemeldet multiple Vermittlungshemmnisse

110 105

3,7 3,5

11 12

keine passende Maßnahme Praktikum/Weiterbildung/Ausbildung

74 69

2,5 2,3

13 14

diverse anerkannte wichtige Gründe Anhörung wegen Nichterscheinens

65 60

2,2 2,0

15 16

Vorrang 1. Arbeitsmarkt Deutschkurs

57 46

1,9 1,5

17 18

Stelle besetzt Existenzgründung

44 39

1,5 1,3

19 20

Schwangerschaft/Mutterschutz/Elternzeit Anbahnung Arbeitsaufnahme

32 18

1,1 0,6

21 23

Erwerbsunfähigkeit Ausland/Urlaub/Kur

14 14

0,5 0,5

24

Tod

7

0,2

2.994

100,0

Summe

Erläuterungen: 1 Maßnahmeverweigerung = Es liegt ein Weigerungsakt vor. Entweder wird dem Vermittlungsvorschlag oder der darauf folgenden Anhörung nicht gefolgt (passiv). Oder der/die Zugewiesene lehnt die Maßnahme mündlich ab (aktiv). 2 gesundheitliche Einschränkung = Für den Zeitraum der Zuweisung wurde ein Attest vorgelegt. 3 Maßnahme bei anderem Träger = Die Person ist bereits in einer Maßnahme beschäftigt. 4 Nebenverdienst = Zum Zeitpunkt der Zuweisung lag bereits eine Beschäftigung (Teilzeit, Minijob) vor, die Person bezieht jedoch weiterhin aufgestockt Transferleistungen. 5 erfolgreiche Zuweisung = Die Person hat verspätet eine Arbeitsgelegenheit bei dem Träger aufgenommen. 6 Berufstätigkeit = Es liegt eine Vollzeitbeschäftigung + Aufstockung durch ALG 2 vor (Niedriglohnsektor). 9 Bewa abgemeldet = Die Person bezieht kein ALG II mehr. 10 Multiple Vermittlungshemmnisse = Beispiel: Jemand hat sich von seinem Partner getrennt, ist auf Wohnungssuche und muss die Kinderbetreuung neu organisieren.

Das „Fördern und Fordern‘‘-Prinzip des SGB II

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Die Tabelle 1 zeigt, dass knapp 20% der Teilnehmer, die einer Zuweisung nicht gefolgt sind, als „harte Verweigerer“ gelten müssen. Auffällig ist darüber hinaus der sehr hohe Anteil von zugewiesenen Hilfebedürftigen, die gesundheitliche Einschränkungen als Grund ihres Nichterscheinens beim Träger geltend machten. Zu vermuten ist, dass in einem nicht valide bezifferbaren Umfang auch in dieser Gruppe Verweigerer vorhanden sind. Untersucht wurde auch, in welchem Umfang „Nichtmelder“ im Anschluss an ihr Nichterscheinen bei dem Träger eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt aufnahmen und/oder aus Alg II-Bezug ausschieden. Das Ergebnis ist bemerkenswert: 7,8% der „Nichtmelder“ scheiden vollständig aus dem Arbeitslosengeld II-Bezug aus und 12,1% der Arbeitslosen, die einer Zuweisung in eine Arbeitsgelegenheit nicht gefolgt sind, haben eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefunden. Die Gründe für den Verbleib der „Nichtmelder“ sind schwer zu verorten. Fest steht, dass ein Teil der zugewiesenen Arbeitslosen die Aufnahme einer Beschäftigung im allgemeinen Arbeitsmarkt der Tätigkeit in einer Arbeitsgelegenheit vorgezogen hat. Damit haben diese Zuweisungen in Arbeitsgelegenheiten den Zweck des Instruments – so wie im SGB II angedacht – auch erfüllt. Von den insgesamt 591 zugewiesenen Teilnehmern, die im dritten Quartal 2005 eine Tätigkeit in einer Arbeitsgelegenheit verweigerten („harte Verweigerer“), wurden 402 durch Kürzungen des Alg II-Bezugs sanktioniert. Das entspricht einer Sanktionsquote von 68%. Im gesamten Rechtskreis SGB II ist demgegenüber im dritten Quartal 2005 nur eine Sanktionsquote von 9,1% (7,8% für das gesamte Jahr 2005) zu verzeichnen. Dies zeigt, dass die Vorgabe des Förderns und Forderns in besonderem Maße bereits bei dem SGB II-Instrument der Arbeitsgelegenheiten in 2005 durchgesetzt wurde. Eine genaue Analyse der Gründe, warum sich zugewiesene Arbeitslose nicht beim Träger einer Arbeitsgelegenheit gemeldet haben, zeigt auch, dass in 46% der Fälle die Nichtmeldung plausible Gründe hatte. Dazu zählen Berufstätigkeit, Nebenverdienst, Maßnahme bei einem anderen Träger, Mutterschutz, Wehr-

11 keine passende Maßnahme = Der Arbeitslose fällt beispielsweise in die 58er Regelung und muss dem Arbeitsmarkt daher nicht mehr zur Verfügung stehen. 13 diverse anerkannte wichtige Gründe = Beispiele: Termin beim Träger mit Entschuldigung verpasst, Prüfung Erwerbsfähigkeit, Gerichtstermin, Sinn der Zuweisung nicht verstanden etc. 14 Anhörung wegen Nichterscheinens = Ein Weigerungsakt liegt vor. Die Person hat die Möglichkeit, schriftlich oder durch persönliches Vorsprechen Stellung zu nehmen. 15 Vorrang 1. Arbeitsmarkt = Aufgrund hoher Qualifikation, nachgefragtem Ausbildungsberuf oder viel Eigeninitiative wird versucht, die Person direkt auf den 1. Arbeitsmarkt zu vermitteln. 20 Anbahnung Arbeitsaufnahme = Die Person hat bereits ein konkretes Arbeitsangebot. 21 Erwerbsunfähigkeit = Die Person ist aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht in der Lage, länger als drei Stunden am Tag zu arbeiten. Quelle: Gallenstein, Jürgen/Gerhardt, Michael, Umsetzung und Ergebnisse der öffentlich geförderten Arbeitsgelegenheiten nach § 16 (3) SGB II im Jahre 2005, Hamburg Juni 2006, S. 15.

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Michael Gerhardt

dienst, Haft, Anbahnung eines Beschäftigungsverhältnisses auf dem ersten Arbeitsmarkt und Ähnliches (vgl. Tab. 1). Die mangelhafte Umsetzung der Zuweisungen in Arbeitsgelegenheiten ist damit auch einer nachlässigen Zuweisungspraxis der Job-Center als geschuldet. 3. Zuweisung und Aktivierung Nach der Hamburger Untersuchung sind im Jahresverlauf 2005 insgesamt 23.000 erwerbsfähige Hilfebedürftige in Arbeitsgelegenheiten eingetreten, 12.600 haben ihre Maßnahme in 2005 beendet, davon allein 8.900 im zweiten Halbjahr. Bezogen auf die Zahl der im Rechtskreis des SGB II in Hamburg registrierten Arbeitslosen (63.100 im Jahresdurchschnitt) hat damit rechnerisch jeder dritte SGB II Arbeitslose in 2005 an einer Arbeitsgelegenheit teilgenommen. Für alle 12.600 im Jahresverlauf 2005 registrierten Austritte von Teilnehmern wurde jeweils die individuelle Dauer der Tätigkeit in einer Arbeitsgelegenheit berechnet, um festzustellen, in welchem Umfang die in Hamburg mögliche Höchstförderdauer von zehn Monaten überhaupt ausgenutzt wurde. Es zeigt sich folgendes Bild:

> 10 Monate 14,0%

< 1 Monat 9,1%

1 bis unter 3 Monate 19,0% 6 bis 10 Monate 39,4%

3 bis unter 6 Monate 18,5%

Quelle: Gallenstein, Jürgen/Gerhardt, Michael, Umsetzung und Ergebnisse der öffentlich geförderten Arbeitsgelegenheiten nach § 16 (3) SGB II im Jahre 2005, Hamburg Juni 2006, S. 19.

Abbildung 2: Austritte aus Arbeitsgelegenheiten nach Dauer der Teilnahme

Das „Fördern und Fordern‘‘-Prinzip des SGB II

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28,1% der Teilnehmer waren weniger als drei Monate in einer Arbeitsgelegenheit tätig, weitere 18,5% nur drei bis sechs Monate. Knapp 40% der Teilnehmer wurden zwischen sechs und zehn Monaten gefördert; dabei bezifferte sich der Anteil der Teilnehmer, die die Höchstförderdauer vollständig ausgeschöpft haben, an allen Austritten auf nur 26,7%, also ein gutes Viertel. 14% der Teilnehmer wurden sogar länger als zehn Monate gefördert. Dabei handelt es sich um ehemalige Sozialhilfeempfänger, die in Maßnahmen nach § 19 BSHG gefördert wurden, deren Dauer bis zu drei Jahren betragen konnte. Die zum Jahresende 2004 laufenden BSHG 19-Maßnahmen wurden 2005 in Arbeitsgelegenheiten umgewandelt; die dort geförderten Teilnehmer konnten dann noch zehn Monate gefördert werden, was den hohen Anteil von Langfristförderungen erklärt. Um die Gruppe der ehemaligen Sozialhilfeempfänger bereinigt, ist das Ergebnis der Untersuchung eindeutig: Knapp ein Drittel der Teilnehmer (32,7%) war weniger als drei Monate in einer Arbeitsgelegenheit tätig, ein weiteres Fünftel (21,5%) nur drei bis sechs Monate. Das heißt, über die Hälfte der Teilnehmer hat eine Arbeitsgelegenheit nach spätestens sechs Monaten abgebrochen. Nur zu einem geringen Teil war der Abbruch einer Arbeitsgelegenheit der Beschäftigungsaufnahme auf dem ersten Arbeitsmarkt geschuldet.

4. Gewerke und mögliche Verdrängungseffekte In den Hamburger Arbeitsgelegenheiten werden eine Vielzahl von Tätigkeitsfeldern in den unterschiedlichsten Bereichen für erwerbsfähige Hilfebedürftige angeboten. Das breite Spektrum der Einsatzfelder gewährleistet, dass in Hamburg prinzipiell für jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen eine Arbeitsgelegenheit zur Verfügung steht, die seinem individuellen Profil weitestgehend entspricht und sein Entwicklungspotenzial ausschöpft. Betrachtet man das Verhältnis der Anzahl der Teilnehmer in Arbeitsgelegenheiten auf 1.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in den verschiedenen Branchen, so ist festzustellen, dass im Handwerksbereich lediglich 26 Arbeitsgelegenheiten auf 1.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte zu verzeichnen sind, im Bereich Pflege und Betreuung 27 Arbeitsgelegenheiten auf 1.000 Beschäftigte und im Einsatzbereich Verwaltung und Büro sogar nur 6 Arbeitsgelegenheiten auf 1.000 Beschäftigte entfallen. Dieser Befund lässt sich durch die relative Beschäftigungsgröße der genannten Sektoren in Hamburg erklären. Den höchsten Anteil an Arbeitsgelegenheiten verzeichnen die Branchen Sicherheit und Ordnung mit einem Verhältnis von 63 zu 1000 Beschäftigten, sowie die Branchen des Reinigungsgewerbes mit 44 zu 1000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigen und der Pädagogischen Dienstleistungen mit 32 zu 1000 Beschäftigten.

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Michael Gerhardt Tabelle 2 Gegenüberstellung „Beschäftigte in Arbeitsgelegenheiten/ sozialversicherungspflichtig Beschäftigte“

Tätigkeitsbereiche

Beschäftigte in Sozialvers. in Teilnehmer in AGH in AGH v. H. Beschäftigte v. H. auf 1000 Beschäftigte

Sicherheit & Ordnung Sauberkeit

945 1.098

8,2 9,6

15.091 24.768

2,0 3,3

63 44

Pädagogische DL Pflege & Betreuung

1.192 1.337

10,4 11,6

37.201 49.272

5,0 6,6

32 27

Handwerk Kunst & Kultur

2.996 409

26,1 3,6

114.054 16.801

15,3 2,3

26 24

Technische DL Verwaltung & Büro

248 1.294

2,2 11,3

28.458 213.442

3,8 28,6

9 6

sonstige

1.967

17,1

246.913

33,1

8

Gesamt

11.486

100,0

746.000 100,0

15

Quelle: Gallenstein, Jürgen/Gerhardt, Michael, Umsetzung und Ergebnisse der öffentlich geförderten Arbeitsgelegenheiten nach § 16 (3) SGB II im Jahre 2005, Hamburg Juni 2006, S. 28.

5. Einfluss von Mehrfachförderung und Profiling Auf Grundlage der Hamburger Daten ist festzustellen, dass die Chancen eines Arbeitslosen, einen regulären Arbeitsplatz zu finden, mit der Anzahl der von ihm absolvierten Fördermaßnahmen eher sinken. Knapp 18% der Teilnehmer, für die eine Arbeitsgelegenheit die erste Beschäftigung fördernde Maßnahme war, haben im Anschluss einen Arbeitsplatz gefunden. Mit steigender Zahl absolvierter arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen sinkt dagegen der Integrationserfolg. Er ist bei Teilnehmer, die bereits an mehr als fünf Maßnahmen teilgenommen haben, mit 9% am niedrigsten. Im Rahmen eines so genannten Profilings sollen mit dem Arbeitslosen gemeinsam die für eine Vermittlung in ein reguläres Arbeitsverhältnis relevanten individuellen beruflichen und persönlichen Kompetenzen sowie Entwicklungsbedarfe ermittelt und schriftlich festgehalten werden. Bestandteile sind u. a. vorhandene Qualifikationen und Berufserfahrung, Berufs-/Tätigkeitswunsch, Qualifikationsbedarfe und -wünsche, Sprachkenntnisse, EDV-Kenntnisse, Mobilität, Verdiensterwartung sowie eine Einschätzung des Unterstützungsbedarfes. Der ausgefüllte Profiling-Bogen ist als Grundlage für eine erfolgreiche Unterstützung und Vermittlung hilfreich.

Das „Fördern und Fordern‘‘-Prinzip des SGB II

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Im Rahmen der Hamburger Untersuchung konnte in nur 38% der Fälle festgestellt werden, dass mit dem Teilnehmer überhaupt ein Profiling durchgeführt wurde. Von den Personen, die an einem Profiling teilnahmen, haben 16,5% einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden, also deutlich mehr als im Durchschnitt aller Teilnehmer. Offensichtlich wirkt sich die Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Entwicklungsbedarfen positiv auf die Arbeitsmarktchancen aus. Es ist vorgesehen, dass mit allen Arbeitslosen ein Profiling durchgeführt wird. 6. Vergabe durch Interessenbekundungsverfahren Leistungen nach § 16 (3) SGB II werden in Hamburg im Rahmen eines vorgeschalteten Interessenbekundungsverfahrens vergeben, wobei von Trägern Projektvorschläge zur Durchführung von Arbeitsgelegenheiten eingereicht werden. Das Interessenbekundungsverfahren hat zum Ziel, den „Markt“ für Arbeitsgelegenheiten zu erkunden, also Zahl und Herkunft der potenziellen Anbieter für die Durchführung von Arbeitsgelegenheiten, Konzeption und Struktur der geplanten Maßnahmen und die zu erwartenden Kosten der Durchführung zu erkunden. Hamburg hat in einem Interessenbekundungsverfahren (Förderzeitraum 1. Juli 2006 bis 30. Juli 2007) erstmalig die Integrationsquoten der Träger als Bewertungskriterium herangezogen.7 Da bei der Bewertung der Projektvorschläge die Kategorien ,Integrationsquote‘ und ,Preis‘ zu jeweils 40% gewichtet werden, wurde die Durchführung von Arbeitsgelegenheiten in Hamburg in 2006 in weit stärkerem Umfang von Effektivitäts- und Effizienzkriterien abhängig gemacht. Damit ist eine wichtige Etappe in der wirtschaftlicheren Ausgestaltung der Umsetzung Hamburger Arbeitsmarktpolitik erreicht. Es werden die berechtigten Interessen der Arbeitslosen in den Mittelpunkt gestellt und den gesetzlichen Anforderungen des SGB II Genüge getan. Die Vergabe von Zuwendungen wird transparent ausgewiesen und beruht zu 80% auf harten Daten. Gleichzeitig können auf diese Weise möglichst viele Arbeitslose unterstützt und aktiviert werden. Bundesweit zählt die Hamburger ARGE mit der gewählten Methode der Interessenbekundung zu den wenigen ARGEn, die Arbeitsgelegenheiten in einem transparenten Verfahren vergeben. Nach einer deutschlandweiten Befragung von ARGEn durch die bremer arbeit gmbH8 wählen zur Vergabe von Arbeitsgelegenheiten 91% der ARGEn ein Antragsverfahren und 24% Verfahren die frei7 Daneben gab es ein gesondertes Verfahren für neue Anbieter um eine weitere Marktöffnung zu gewährleisten. 8 Vgl. bremer arbeit, Tagungsdokumentation der bundesweiten Fachtagung über „Zusatzjobs“ am 14. Oktober 2005, Internetauftritt der bremer arbeit gmbH unter , Stand 24.02.2006, S. 9.

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Michael Gerhardt

händige Vergabe oder die Direktbeauftragung der Träger. Nur 7% entscheiden sich für einen Wettbewerbsaufruf. 7. Fazit Die Hamburger Untersuchung zeigt, dass das Instrument der Arbeitsgelegenheiten stark genutzt wird. Als Maßnahme zur Aktivierung für Menschen, die lange nicht am Erwerbsleben teilgenommen haben, sind die Arbeitsgelegenheiten ein sinnvolles Instrument. Problematisch ist das bisherige Zuweisungsverfahren in Arbeitsgelegenheiten. Hier besteht Nachbesserungsbedarf. Bei Nichterscheinen muss konsequenter „nachgeharkt“ und das „Fordern“-Prinzip umgesetzt werden. Dementsprechende Maßnahmen zur Optimierung sind in Hamburg bereits vor langer Zeit eingeleitet worden. In Hamburg wurde ein neues System zur Belegung, Steuerung und Abrechnung von Arbeitsgelegenheiten eingeführt. Nunmehr wird dieses Instrument effektiv im Sinne der Idee des „Förderns und Forderns“ verwaltet. Im Mittelpunkt steht ein öffentliches Unternehmen der Freien und Hansestadt Hamburg, welches die Belegung der Arbeitsgelegenheiten übernommen hat. In einem webbasierten System werden alle Jobs transparent erfasst, dies unterstützt die Aktivierungsanstrengungen der örtlichen ARGE. Auch wird auf eine rechtssichere Zuweisung geachtete. Die Zuweisung auf eine Arbeitsgelegenheit erfolgt passgenau im Sinne einer optimalen Förderung, das Terminvereinbarungs- und Abrechnungssystem schafft Transparenz. Bei Nichterscheinen erfolgen Hausbesuche. Als Maßnahme zur langfristigen Integration von Arbeitslosengeld II-Empfängern in den ersten Arbeitsmarkt haben sich die Arbeitsgelegenheiten hingegen bisher nur begrenzt bewährt. In wesentlichen Punkten wurden bei der Hamburger Untersuchung bereits vorliegend wissenschaftlichen Untersuchungen zu ähnlichen Instrumenten, wie z. B. zu ABM im Rahmen der „Hartz“-Evaluation, bestätigt. Auch sollte die Maßnahmedauer tendenziell eher verkürzt als verlängert und vor allem „Maßnahmenketten“ vermieden werden. (Spürbare) Verdrängungseffekte gegenüber der regulären Wirtschaft sind nach den vorliegenden Daten nicht nachzuweisen. Die Quote derjenigen, die durch Arbeitsaufnahme aus dem Leistungsbezug ausscheiden, ist bei Arbeitsgelegenheiten niedriger als die eigentliche Integrationsquote. Das bedeutet, die Zahl der Menschen, die zusätzlich zu ihrem Einkommen aus Erwerbstätigkeit noch ALG II beziehen ist ungewöhnlich hoch. Dies kann insofern positiv interpretiert werden, als das Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit auf die Grundsicherung angerechnet und der ALG II-Bezug

Das „Fördern und Fordern‘‘-Prinzip des SGB II

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hierdurch gesenkt wird. Andererseits gibt es zu denken, dass die Erwerbseinkommen in diesen Fällen augenscheinlich so gering sind, dass die betroffenen Menschen ihren Lebensunterhalt mit diesem Einkommen allein nicht decken können. Bewährt hat sich in Hamburg das Instrument des Interessenbekundungsverfahrens. Die dadurch entstandene Trägervielfalt führt durch die Senkung der Kosten zu Effizienzgewinnen. Auch ist damit Transparenz sichergestellt Dies geht nicht zu Lasten der Zielgruppenorientierung und führt zu höheren Integrationsquoten. Eine bundesweite Übertragung des Hamburger Ansatzes brächte die Chance den „Markt“ der Arbeitsgelegenheiten wirksamer und transparenter zu steuern. Seltsamerweise wird, trotz Kosten von über einer Milliarde Euro, eine solche Vorgehensweise überhaupt nicht diskutiert. Fazit: Arbeitsgelegenheiten sind ein wirksames Instrument zur Durchsetzung des „Fördern und Fordern“-Prinzips. In der praktischen Umsetzung sind jedoch noch einige „Hausarbeiten“ zu erledigen. Arbeitsgelegenheiten sind – als sehr teures Arbeitsmarktinstrument – künftig stärker mit Augenmaß, beschränkt auf Zielgruppen und mit intensiver Beratung sowie Prüfung im Einzelfall anzuwenden. Es wäre daher geradezu kontraproduktiv in der jetzigen Umsetzungsphase weitere neue Förderprogramme aufzulegen. Um Langzeitarbeitslosigkeit wirksam zu senken sind selbstverständlich „größere Bausstellen“ – wie sozialpolitische Reformen – anzugehen. Leider bewegen sich die derzeitigen politischen Aktivitäten, paradoxerweise trotz eintretender Erfolge am Arbeitsmarkt, in eine andere Richtung. Literaturverzeichnis Bundesagentur für Arbeit (2006a): Bericht der Statistik der BA, Leistungen zur Eingliederung an erwerbsfähige Hilfebedürftige: Einsatz von Arbeitsgelegenheiten 2005. Nürnberg. – (2006b): Statistik Arbeitsgelegenheiten, Stand November 2006, Statistik der Bundesagentur für Arbeit. www.arbeitsagentur.de. Gallenstein, J./Gerhardt, M. (2006): Umsetzung und Ergebnisse der öffentlich geförderten Arbeitsgelegenheiten nach § 16 (3) SGB II im Jahre 2005. Hamburg. IAB Forschungsbericht (2006): Ergebnisse aus der Projektarbeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nr.10/2006 „Förderung von arbeitslosen Personen im Rechtskreis des SGB II durch Arbeitsgelegenheiten: Bislang wenig zielgruppenorientiert, IAB Forschungsbericht, Nr. 3/2006. Nürnberg.

Keineswegs „anything goes“ Restriktionen sozialpolitischer Konzepte der intergenerationellen Gerechtigkeit Matthias Möhring-Hesse „Keine Generation darf der nachfolgenden mehr zumuten, als sie selbst bereit ist, zu tragen“, schrieben die Volksparteien in ihre schwarz-rote Koalitionsvereinbarung. Es bedürfe „Solidarität . . . nicht nur innerhalb der einzelnen Generationen, sondern auch zwischen den Generationen“ (CDU/CSU/SPD 2005). Wie zuvor die rot-grüne machte auch die gegenwärtige Bundesregierung „Generationengerechtigkeit“ zur Grundlage ihres Regierungshandelns, – versprach zumindest, dies zu tun. Dachte man bei diesem Begriff vor einigen Jahren noch an die eher grünen Themen, so geht es heutzutage vor allem um die Staatsfinanzen und sozialstaatlichen Sicherungssysteme. Doch nicht nur die Bundesregierung und die sie tragende Große Koalition haben sich „Generationengerechtigkeit“ zur Orientierung, vor allem aber zur Legitimation ihrer Sozialpolitik vorgenommen. Kaum ein sozialpolitischer Akteur kommt heutzutage ohne den zumindest kursorischen Bezug auf dieses Konzept aus.1 Die sozialpolitische Karriere der ,Generationengerechtigkeit‘ mag man als Mode der politischen Semantik mit ihren Konjunkturen großer Worte abtun. Dass aber ,Generationengerechtigkeit‘ gerade jetzt in Mode gekommen ist, wird mit einer stärkeren Zukunftsorientierung der Sozialpolitik zu tun haben. Die Moderne hat, so sagen zumindest deren Analysisten, mit den großen Erzählungen ihre lichte Zukunft verloren, von der her alle Probleme in der Gegenwart gelöst und alle Zumutungen gerechtfertigt werden konnten. So aber ist den Lebenden nicht nur ihre Gegenwart, sondern auch deren Zukunft fraglicher geworden. Sie suchen – hartnäckig beraten durch Miegel, Rürup & Co. – ihre sichere Zukunft „abzusichern“ und drängen auf Verlässlichkeit und Stabilität, heute sagt man gern: Nachhaltigkeit (vgl. etwa Rürup 2004) derjenigen sozialstaatlichen Instrumente, die zur Absicherung sozialer Risiken geschaffen wurden. Seit

1 Bei einfachen Anführungszeichen (,Generationengerechtigkeit‘) geht es um den Begriff, bei doppelten („Generationengerechtigkeit“) um politische Konzepte intergenerationeller Rechte und Pflichten; ohne Anführungszeichen wird die in solchen Konzepten mit dem Begriff ,Generationengerechtigkeit‘ beanspruchte Qualität der behaupteten intergenerationellen Rechte und Pflichten bezeichnet.

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Matthias Möhring-Hesse

Blüms seeligen Zeiten wurde die Soziale Sicherung zunehmend reflexiv, so dass zunehmend weniger die Sicherheit von Menschen, als die Sicherheit der zu ihrer Sicherung geschaffenen Institutionen und Verfahren auf der sozialpolitischen Agenda steht (vgl. Kaufmann 2003, 102 f.). Zudem werden – durch ein seltsames Gemisch aus Ökobewusstsein und Wachstumseuphorie – die aus der Zukunft her begründeten Ansprüche nachwachsender Generationen ernster genommen – und den aus der Vergangenheit her begründeten Ansprüchen der älteren Generation vorgezogen. Doch längst nicht allen bereitet die Karriere der ,Generationengerechtigkeit‘ Freude. Wie das bekannte Dorf unbeugsamer Gallier der römischen Besatzung, widersetzen sich einige dem scheinbar übermächtigen Begriff. Zu recht weisen sie darauf hin, dass Politiken, die gestern noch zur verbesserten Wettbewerbsfähigkeit und für mehr Freiheit und Eigenverantwortung notwendig waren, heute als Interesse der Jungen, gar der noch nicht geborenen Menschen ausgegeben werden. ,Generationengerechtigkeit‘ wird so als ein „Kampfbegriff“ (von Lucke 2003) längst bekannter Politiken enttarnt. Zudem wird das Konzept als vormodern zurückgewiesen: Das politisch-normative Denken über Generationen ist modernen Sozialverhältnissen, ist den Beziehungen zwischen sozialen Gruppen und ihren wechselseitigen Verpflichtungen gänzlich unangemessen. Mögen diese und ähnliche Kritiken berechtigt sein, eine grundsätzliche Abwehr der Generationengerechtigkeit rechtfertigen sie jedoch nicht. Denn erstens werden auch unter Bedingungen moderner Gesellschaften Generationen konstruiert, deren Verpflichtungen untereinander auch unter der Maßgabe ihrer Gerechtigkeit beurteilt werden können. So „arbeitet“ der bundesdeutsche Sozialstaat gerade wegen seiner „modernen“ Ausrichtung auf Erwerbsarbeit mit Generationen, soll heißen: er „schafft“ Generationen und weist ihnen intergenerationelle Rechte und Pflichten zu (vgl. etwa Kaufmann 1997). Das Konzept der Generationengerechtigkeit ist zu deren Ordnung – und zur Kritik dieser Ordnung politisch notwendig. Und zweitens stehen, um die gewachsene Zukunftsorientierung der Sozialpolitik öffentlich erörtern zu können, (noch) keine alternativen Begriffe zur Verfügung, wenn man von dem wenig belastbaren Begriff der Nachhaltigkeit mal absieht. Deswegen würden (sozial-)politische Akteure mit dem Begriff der Generationengerechtigkeit zugleich die Möglichkeit aus der Hand geben, die Zukunftsorientierung ihrer Politik zu rationalisieren. ,Generationengerechtigkeit‘ ist für die Orientierung und Legitimation von Sozialpolitik ähnlich unverzichtbar wie der Begriff ,Verteilungsgerechtigkeit‘. Allerdings wird man den Kritikern der „Generationengerechtigkeit“ wohl darin zustimmen müssen, dass dieses Konzept gegenwärtig inflationär benutzt, dabei häufig auf eine allzu leichte Schulter genommen und manchmal ohne „Sinn und Verstand“ gebraucht wird. Man mag sich an Paul Feyerabends Plädo-

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yer für eine vom Methodenzwang befreite Wissenschaft, an sein „anything goes“ erinnern, sucht man die gegenwärtige Inflation der „Generationengerechtigkeit“ zu beschreiben. Doch das „anything goes“ darf für die Konzepte der Generationengerechtigkeit gerade nicht gelten, zumindest wenn man auf die pragmatische Intention derer reflektiert, die sie politisch einsetzen: Mit „Generationengerechtigkeit“ machen sozialpolitische Akteure Politik; sie behaupten intergenerationelle Rechte und Pflichten und suchen darüber Berechtigungen und Verpflichtungen gesellschaftlich durchzusetzen. Diese Intention können sie aber nur dann realisieren, wenn ihre Behauptungen, also das Mittel ihrer Politik, verständlich sind und mithin mindestens die logischen Voraussetzungen der behaupteten Rechte und Pflichten erfüllen. Zwar ist auch mit ,Generationengerechtigkeit‘ vieles möglich, aber keineswegs „anything“. Dass der sinnvolle Einsatz dieses Begriffs durch logische Voraussetzungen restringiert wird, kann durch eine Art Grammatik der Generationengerechtigkeit aufgeklärt werden. Im Vergleich zu politischen und theoretischen Gerechtigkeitskonzepten bewegt sich deren Rekonstruktion auf einer vorgelagerten Theorieebene, zielt also nicht selbst auf ein Konzept und dessen argumentative Rechtfertigung, sondern auf die grammatikalischen Vorgaben solcher Konzepte.

1. Grammatik der Generationengerechtigkeit Dass in Konzepten der Generationengerechtigkeit nicht einfach alles möglich ist, lässt sich an einem abstrusen Beispiel zeigen. ,Generationengerechtigkeit‘ kommt politisch häufig zum Einsatz, um Verpflichtungen zwischen lebenden und noch nicht lebenden Menschen zu behaupten, wobei beide Gruppen als jeweils eine Generation angesprochen und einander als Generationen gegenüber gestellt werden. Entgegen der üblichen Verwendung wird zu Versuchszwecken die Generation der zukünftig lebenden Menschen verpflichtet, für die natürlichen Lebensgrundlagen der gegenwärtig Lebenden zu sorgen. Zwar ist es nicht prinzipiell ausgeschlossen, eine zukünftige Generation im Interesse der gegenwärtig lebenden Menschen zu etwas zu verpflichten. Allerdings wird sie ihren Verpflichtungen erst in der Zukunft nachkommen können, so dass diese bestenfalls über entsprechende Erwartungen der gegenwärtig Lebenden in die Gegenwart hinein vorwirken können. Zumindest beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens ist es jedoch unmöglich, für Wasser, Luft und andere natürlichen Lebensgrundlagen rückwirkend zu sorgen. Entsprechende Leistungen oder Unterlassungen wirken „vorwärts“ – und begünstigen oder schaden Nachgeborene. Ein Konzept der Generationengerechtigkeit, das dennoch eine gegenteilige Verpflichtung der zukünftigen Generation zugunsten von gegenwärtig Lebenden behauptet, ist sinnlos – und kann von keinem seiner Adressaten verstanden werden. Weil aber illokutionär ohne jeden Erfolg, können Akteure mit diesem sinnlosen Konzept auch politisch nicht erfolgreich sein, können zumindest nicht

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durch dessen Behauptung und Rechtfertigung die behaupteten Berechtigungen und Verpflichtungen durchsetzen.2 Das Verstehensproblem, das dieses abstruse Konzept seinen Adressaten bereitet, kann gelöst werden, indem entweder die behaupteten Rechte und Pflichten anderen Generationen, oder indem den angesprochenen Generationen die Rechte und Pflichten in der entgegengesetzten Richtung zugewiesen werden. So kann die Verpflichtung zum haushälterischen Umgang mit natürlichen Lebensgrundlagen an die Generation der Lebenden adressiert werden – mit dem Ziel, dass die ihr gegenüberstehende Generation zukünftig lebender Menschen natürliche Lebensgrundlagen vorfinden werden, wenn denn deren Angehörige ins Leben treten werden. Da nach dieser einfachen Modifikation das Konzept der Generationengerechtigkeit zumindest verständlich ist, beruhte das Verstehensproblem auf einer fehlerhaften Konzeption der „Generationengerechtigkeit“, entstand nämlich dadurch, dass eine intergenerationelle Verpflichtung in einer Weise konzipiert wurde, die für zeitlich aufeinander folgenden Generationen prinzipiell ausgeschlossen ist. Diese und ähnliche Restriktionen für einen sinnvollen, d.h. für die jeweiligen Adressaten verständlichen Einsatz der ,Generationengerechtigkeit‘ sind im vortheoretischen Wissen von einigermaßen sprachkompetenten Akteuren einer Sprachgemeinschaft gespeichert. In dem Beispiel wird dieses intuitive Wissen absichtlich verletzt – und auf diesem Wege zu einem kleinen Teil manifest. Auf dem Wege rationaler Rekonstruktion (vgl. dazu Habermas 1983; Habermas 1984) lässt sich dieses Wissen umfassend erheben. Durch den rekonstruktiven Schluss entweder von offenkundig unverständlichen Konzepten auf verletzte Regeln oder aber von allgemein als verständlich akzeptierten Konzepten auf die in ihnen erfüllten Regeln werden eben diese Regeln aufgeklärt. Dieser Weg ist unvermeidlich zirkulär: Einerseits wird vorausgesetzt, dass sinnvolle Konzepte der Generationengerechtigkeit logische Vorgaben erfüllen und von sinnlosen Konzepten genau dadurch unterschieden werden, dass sie diese Vorgaben im Gegensatz zu diesen erfüllen. Andererseits werden auf Grundlage dieser Voraussetzung in Konzepten der Generationengerechtigkeit Regeln (im Modus der Verletzung oder der Erfüllung) „entdeckt“, indem von dem in diesen Konzepten 2 Zwar können politische Akteure auch mit unverständlichen Konzepten politisch erfolgreich sein; zudem können ihre Erfolge damit zu tun haben, dass sie politisch mit einem oder gar mit einem unverständlichen Konzept der Generationengerechtigkeit aufgetreten sind. Jedoch lassen sich diese Erfolge dann nicht auf deren Behauptung und den illokutionären Erfolgen des Behauptens zurückführen. Es wären politische Erfolge trotz illokutionärem Scheitern. Entsprechende Fälle sind in alltagssprachlichen Situationen wohl vertraut, sind aber so wenig der Normalfall des alltäglichen Sprachgebrauchs, wie sie der Normalfall von Politik sind, die – wie auch immer – an Prozessen der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung und darüber an einen verständigungsorientierten Sprachgebrauch rückgebunden ist, wenn nicht maßgeblich über derartige Prozesse läuft.

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realisierten Wissen auf dessen implizite Vorgaben geschlossen wird. Zu einer allgemeinen Theorie gelangt man auf diesem Wege gleichwohl – nämlich dann, wenn erstens das in diesen Konzepten aufgedeckte implizite Wissen als Inhalt oder Voraussetzung von allen zumindest verständlichen Konzepten der Generationengerechtigkeit plausibel gemacht werden kann und zweitens entsprechende Regeln systematisch auf einander bezogen und so in einem Regelsystem, in einer Grammatik integriert werden können.3 In Analogie zur modernen Linguistik (vgl. Ulrich 2002, 98 f.) erweist es sich als hilfreich, beim Einsatz von ,Generationengerechtigkeit‘ zwei unterschiedliche Beziehungen in den damit bezeichneten Konzepten zu unterscheiden. So wie jeder Teil eines Satzes in einer Kette mit den anderen Satzteilen an einer bestimmten Position steht, an der statt seiner auch andere sprachliche Ausdrücke stehen könnten, mit denen er deswegen in einer paradigmatischen Relation steht, so bestehen Konzepte der Generationengerechtigkeit aus verschiedenen Teilen, die unterschiedlich gefüllt werden können. Ähnlich wie die Satzteile untereinander in einer syntagmatischen Relation stehen, so bestehen in Konzepten der Generationengerechtigkeit zwischen deren Teilen Beziehungen wechselseitiger Restriktionen. Um ein sinnvolles Konzept der Generationengerechtigkeit bilden zu können, sind daher Akteure erstens darin restringiert, wie sie die verschiedenen Teile ihres Konzepts ansprechen. Sie können diese Teile zwar unterschiedlich festlegen, sind aber bei der Auswahl durch Vorgaben eingeschränkt. Außerdem und zweitens sind sie bei der Kombination der von ihnen gewählten Teile restringiert. Sie können also die verschiedenen Teile ihres Konzepts nicht beliebig kombinieren, so dass die Wahl eines Teils die Wahl der anderen und umgekehrt beschränkt. Unter dem Begriff der Generationengerechtigkeit geht es (a), wie das Suffix ,-gerechtigkeit‘ anzeigt, um Sachverhalte des Sollens, genauer: um Rechte und Ansprüche auf der einen sowie Pflichten und Belastungen auf der anderen Seite, die (b), wie das Präfix ,Generationen-‘ anzeigt, kollektiviert, also nicht auf einzelne, sondern auf Gruppen mehr oder weniger gleichaltriger Menschen bezogen werden und (c), wie wiederum ,-gerechtigkeit‘ anzeigt, mit hinreichend guten Gründen ausgestattet werden und i. d. S. gerechtfertigt werden können. Um gegenüber anderen Rechte und Pflichten zwischen Generationen so behaupten zu können, dass diese ihre Behauptung zumindest verstehen können, und um diese Behauptung ihnen gegenüber auch rechtfertigen zu können, müssen Akteure verschiedene Dimensionen intergenerationeller Rechte und Pflichten ansprechen, die deswegen die Teile ihrer Gerechtigkeitskonzepte ausmachen:

3 Gelangt man so zwar zu einer belastbaren Theorie, hat diese allerdings hypothetischen Status – und kann nur solange und daher unter Vorbehalt behauptet werden, bis die rekonstruierte Grammatik an einem abweichend konstruierten und gleichwohl verständlichen Konzept ganz oder teilweise scheitert.

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Von ihren jeweiligen Adressaten können diese Konzepte nur dann verstanden werden, wenn darin (1) einander gegenübergestellten Generationen angesprochen, dazu Generationen durch die Angabe von Merkmalen und die dadurch angeleitete Zuweisung von Angehörigen konstruiert und in Verhältnis gesetzt, wenn zugleich (2) mindestens einer Generation Rechte zugesprochen und zugleich mindestens einer anderen entsprechende Pflichten zugewiesen, wenn zugleich (3) diese intergenerationellen Verbindlichkeiten auf die Angehörigen der angesprochenen Generationen „aufgeteilt“ und so in intragenerationelle Rechte und Pflichten übersetzt, und wenn zugleich (4) die Zeiten und deren Dauer aufgeklärt werden, in denen die behaupteten inter- und intragenerationellen Verbindlichkeiten gelten sollen. Konzepte der Generationengerechtigkeit bestehen aber nicht nur aus diesen vier Teilen, sondern bestehen, wenn sie sinnvoll sind, immer aus allen vier Teilen. Wird nur eine der aufgeführten Dimensionen nicht angesprochen, bleibt den Adressaten unbekannt, wer was und wann zu tun oder zu lassen hat bzw. wer wann zu was berechtigt ist, sollte das an sie adressierte Konzept gelten, – und können in Folge dieser Unkenntnis die Behauptung intergenerationeller Rechte und Pflichten nicht verstehen und deren Rechtfertigung nicht „verarbeiten“. Verstehensprobleme stellen sich also immer dann ein, wenn Gerechtigkeitskonzepte unvollständig eingesetzt werden, mithin eine oder mehrere der vier Dimensionen ausgeschlossen oder auch nur ignoriert wird bzw. werden. Dabei ist es gleichgültig, ob die Akteure beim Einsatz der Generationengerechtigkeit deren Unvollständigkeit selbst verursachen und folglich Unsinn treiben, oder ob ihre Adressaten die intendierten Verbindlichkeiten unvollständig rezipieren und deshalb die Akteure nicht verstehen. Gelöst werden können derartige Verstehensprobleme dadurch, dass die jeweils übergangenen Dimensionen nachgetragen werden, entweder ausdrücklich durch Korrektur der bislang unvollständigen Behauptung oder aber stillschweigend durch intuitive Ergänzungen seitens der diese Behauptung verstehenden Adressaten. Bei einem sinnvollen Einsatz des Konzepts der Generationengerechtigkeit jedenfalls sind immer alle vier Dimensionen der Generationengerechtigkeit im Spiel – und zwar auf beiden Seiten des Verstehens. Wie sie die vier Dimensionen der Generationengerechtigkeit bestimmen, liegt in der theoretischen Kreativität der sie behauptenden Akteure. Ihre unterschiedlichen Konzepte unterscheiden sich gerade darin, wie sie die vier Dimensionen „füllen“ und deren „Füllungen“ kombinieren. Allerdings ergeben sich aus der allgemeinen Intention ihrer Konzepte, über die freiwillige Zustimmung ihrer Adressaten intergenerationelle Verbindlichkeiten zu schaffen und auf diesem Wege Handlungssituationen zu verändern, einige Restriktionen – und zwar sowohl bei der „Wahl“, wie die jeweiligen Dimensionen angesprochen werden, als auch bei der Kombination der so bestimmten Dimensionen.

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(a) Damit Generationen als Träger von intergenerationellen Rechten und Pflichten angesprochen werden können, müssen sie eindeutig bestimmt werden. Dazu muss neben dem Alter oder Geburtsjahr mindestens ein weiteres allgemeines und d.h. von den einzelnen absehendes Merkmal angegeben werden, über das sich einzelne aus einer angegebenen Grundgesamtheit mindestens zwei einander gegenübergestellten Generationen zuordnen lassen. Dabei muss angezeigt werden, ob die Generationen in synchroner oder aber in diachroner Perspektive zu betrachten sind. Die Konstruktionen der einander gegenüber gestellten Generationen sind rechenschaftspflichtig. Mit der Behauptung intergenerationeller Rechte muss deswegen zugleich behauptet werden, dass die Konstruktion der Generationen und ihres Generationenverhältnisses gerechtfertigt werden kann. (b) Um den angesprochenen Generationen intergenerationelle Rechte und Pflichten zuordnen zu können, müssen allgemeine Wertungen oder Normen für die besonderen Bedingungen von Generationenverhältnissen angewandt und in situationsangemessene und eindeutige Rechte und Pflichten übersetzt werden. Die von allgemeinen normativen Prämissen abgeleiteten Rechte und Pflichten sind grundsätzlich auf asymmetrische Verhältnisse zwischen Generationen mit einseitigen Begünstigungen bzw. Belastungen festgelegt. Mit der Behauptung intergenerationeller Rechte und Pflichten muss zugleich behauptet werden, dass erstens die in Anspruch genommenen allgemeinen Wertungen oder Normen gerechtfertigt, und dass zweitens die jeweiligen Generationenverhältnisse mit überzeugenden Gründen als eine mögliche Situation zur Anwendung dieser Wertungen oder Normen und die intergenerationellen Rechte und Pflichten als deren situationsangemessene, eindeutige und korrekte Anwendungen erwiesen werden können. (c) Bei der notwendigen „Aufteilung“ der intergenerationellen Verbindlichkeiten auf die Angehörigen müssen intragenerationelle Rechte und Pflichten so zugewiesen werden, dass in deren Wahrnehmung die Rechte bzw. in deren Erfüllung die Pflichten der jeweils angesprochenen Generationen erfüllt werden können. Gleichgültig, ob sie einer berechtigten oder einer verpflichteten Generation angehören, müssen den Angehörigen im Verhältnis zu den jeweils anderen Angehörigen zugleich Rechte und Pflichten, und diese über allgemeine Regeln zugewiesen werden. Bei der „Aufteilung“ intergenerationeller Rechte und Pflichten muss ein Prima-facie-Egalitarismus anerkannt und zumindest grundsätzlich die Gleichberechtigung und -verpflichtung der Angehörigen verfolgt werden. Mit der Behauptung intragenerationeller Rechte und Pflichten muss zugleich behauptet werden, dass sie gerechtfertigt werden können. (d) Dem jeweils referierten Generationenverhältnis muss entweder eine zyklisch oder eine historisch konzipierte Zeit zugrundegelegt werden, wobei beide Zeitkonzeptionen kombiniert werden können. Nur diejenigen Rechte und Pflichten dürfen den Generationen zugewiesen werden, die in ihre Zeit hinein passen.

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Weil sie „auf Dauer“ bestehen, muss die ihnen zugewiesenen intergenerationellen Rechte und Pflichten ausreichend Zukunft gegeben, allerdings der notwendige Ausgriff auf die Zukunft auf höchstens die Zukunft beschränkt werden, in der die jeweils nachfolgende Generation bestehen wird. Zugleich muss auch die Gegenwart gehalten – und mit der Behauptung intergenerationeller Rechte und Pflichten geklärt werden, wer in der Gegenwart zu welchen Handlungen oder Unterlassungen berechtigt oder verpflichtet wird, und zugleich behauptet werden, dass man willens und in der Lage ist, die Behauptung gegenwärtig zu rechtfertigen. Dass diese Grammatik der Generationengerechtigkeit an der ein oder anderen Stelle banal ist, hat zumindest Methode: Die grammatikalischen Vorgaben wurden auf dem Wege der Rekonstruktion vortheoretischen Wissens erhoben und explizieren daher zumindest intuitiv Bekanntes. Sofern Akteure mit ihren Konzepten von anderen verstanden werden, eröffnet ihnen die vorgelegte Grammatik keine Restriktionen, die sie bei der Behauptung und Rechtfertigung von interund intragenerationellen Rechten und Pflichten nicht schon eingehalten haben. Konzepte der Generationengerechtigkeit können jedoch auch gegen eine oder gar mehrere Regeln der vorgelegten Grammatik verstoßen. Derartige Regelverstöße können die Grammatik falsifizieren – dann nämlich, wenn die betreffenden Konzepte von ihren Adressaten trotzdem verstanden werden, dann aber die erhobenen Regeln keine Bedingungen ihrer Verständlichkeit setzen können. In solchen Fällen müsste die vorgestellte Grammatik mindestens revidiert werden. Sofern und solange deren Regeln aber überzeugen können, hat sie gegenüber fehlerhaften Konzepten eine kritische Funktion: Verstoßen Akteure mit ihrer „Generationengerechtigkeit“ gegen deren grammatikalischen Vorgaben, erzeugen sie bei ihren Adressaten Verstehensprobleme, da diese auf Grund der Regelverstöße nicht verstehen können, wer oder was oder in welchen Situationen zu tun berechtigt bzw. verpflichtet ist. Dadurch aber, dass andere die an sie adressierten Konzepte nicht verstehen können, können die Akteure ihr Ziel nicht erreichen, über deren Behauptung Verbindlichkeiten zu erzeugen und auf diesem Weg ihre Handlungssituationen zu verändern. In diesem Sinne sind ihre Konzepte fehlerhaft, wobei die Fehler nicht eigentlich in den Regelverstößen liegen, sondern in den Verstehensproblemen, die über die Regelverstöße identifiziert und erklärt werden. Die Grammatik, also das Set der erhobenen grammatikalischen Regeln, erklärt mithin, warum Konzepte, die gegen diese Regeln verstoßen, von ihren Adressaten nicht verstanden werden können, – und sie weist den Autoren Wege, ihre „Generationengerechtigkeit“ durch Korrekturen verständlich zu machen. Wie Verstöße gegen die Grammatik von Sätzen wird nicht jede Verletzung der grammatikalischen Vorgaben von den Adressaten fehlerhafter Konzepte, geschweige denn von deren Autoren bemerkt. Bevor derartige Verstöße in politi-

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schen Auseinandersetzungen oder wissenschaftlichen Diskursen manifest werden, werden sie von den Adressaten zumeist intuitiv bereinigt oder aber, wenn sie denn überhaupt erahnt oder gar bemerkt werden, „ertragen“. Bei Sätzen können Verstöße gegen deren Grammatik allerdings derart schwer wiegen, dass sie von ihren Adressaten nicht mehr als Sätze und damit auch nicht als Träger von Bedeutungen akzeptiert werden. Analog zu dieser Situation können auch Konzepte der Generationengerechtigkeit die ihnen vorgegebene Grammatik derart verletzen, dass sie ganz oder zumindest teilweise ohne Bedeutung bleiben, ohne dass ihre Adressaten diese Bedeutungsdefizite intuitiv ausgleichen oder aber ertragen können. Dass Konzepte der Generationengerechtigkeit – im Gegensatz zu grammatikalisch fehlerhaften Sätzen – zumeist selbst dann nicht zurückgewiesen werden, liegt darin begründet, dass sie sprachlich in komplexe Aussagesysteme gekleidet sind. Die durch ihre Fehler verursachten Verstehensprobleme bleiben, wie bei einem endlos langen und komplizierten, dabei aber sinnlosen Bandwurmsatz, hinter deren Komplexität verborgen. Nicht dass gegen die grammatikalischen Vorgaben verstoßen wurde, sondern die Komplexität der behaupteten inter- und intragenerationellen Rechte und Pflichten erscheint Autoren und/oder Adressaten als Grund dafür, dass die Behauptungen nicht verstanden werden. Statt entsprechende Konzepte wegen ihrer Bedeutungsdefizite zurückzuweisen, treten deren Adressaten mit den Autoren in einen potentiell sinnlosen Streit über scheinbar komplexe, tatsächlich aber mehr oder weniger sinnlose Behauptungen. 2. Fehler in der Generationengerechtigkeit In den sozialpolitischen Debatten der Gegenwart sind – bis in die Gutachten der zur Politikberatung hinzugezogenen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler hinein – Verstöße gegen die Grammatik der Generationengerechtigkeit gang und gäbe. Exemplarisch werden zwei typische Verstöße dieser Art diskutiert, dass (2.1) zwei unterschiedliche Verhältnisse zwischen jeweils zwei Generationen – etwa im Sinne eines Drei-Generationenvertrags – gleichzeitig normiert werden, und dass (2.2) der für intragenerationelle Verhältnisse konstitutive Egalitarismus auf die intergenerationellen und prinzipiell asymmetrischen Verhältnisse verschoben wird. Dabei wird weniger die Absicht verfolgt, die kritische Funktion der vorgestellten Grammatik zu demonstrieren, geschweige denn: bestimmte Gerechtigkeitskonzeptionen „vorzuführen“. Vielmehr sollen an zwei typischen Beispielen Restriktionen der Generationengerechtigkeit genauer vorgestellt und auf „negativem“ Weg, also über die Verstehensprobleme in der Folge ihrer Nichtbeachtung plausibilisiert werden.

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Matthias Möhring-Hesse 2.1 Doppelte Verpflichtung der „mittleren“ Generation

Unter den Bedingungen der Bundesrepublik oder vergleichbarer Gesellschaften fallen unter den gleichzeitig lebenden Menschen zwei Gruppen auf, die wegen ihrer altersbedingten Lage ähnliche Probleme haben, wegen der unterschiedlichen Ursachen ihrer ähnlichen Probleme und wegen ihres unterschiedlichen Alters aber unterschiedlichen Generationen zugeordnet werden können: Auf der einen stehen die Jungen, die, weil ohne selbständiges Einkommen, auf die Unterstützung anderer angewiesen sind, auf der anderen Seite all’ die älteren Menschen, die in Folge ihres Alters ohne selbständige Einkommen sind, weil sie in Folge ihres Alters ihr Arbeitsvermögen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr anbieten können und müssen, ihnen deswegen aber Erwerbsarbeit als Einnahmequelle verstellt ist. Nach dem Vorbild der genealogischen Familie werden diese beiden Generationen einer „mittleren“ Generation gegenübergestellt, deren Angehörige über selbständige Einkommen verfügen, so in der Lage sind, die Angehörigen der beiden anderen Generationen zu unterstützen, und deswegen gemeinsam zu entsprechenden Unterstützungsleistungen verpflichtet werden. Zur Rechtfertigung dieser Verpflichtung wird nicht nur auf die Bedarfe der jüngeren und der älteren Generation hingewiesen. Vielmehr wird die Unterstützungspflicht zugunsten der älteren Generation auf deren Unterstützung in der Vergangenheit zurückgeführt, so dass die mittlere Generation die in der Vergangenheit bezogene Unterstützung „zurückzahlt“. Die Unterstützungspflicht zugunsten der jüngeren Generation wird dagegen mit Blick auf deren Unterstützung in der Zukunft angemahnt, so dass die mittlere Generation durch ihre Leistungen in der Gegenwart Ansprüche auf Unterstützung in der Zukunft erwirbt. Insofern die mittlere Generation gleichermaßen gegenüber der jüngeren und älteren Generationen verpflichtet wird, „entsteht“ ein Verteilungskonflikt – zumal dann, wenn es bei der geforderten Unterstützung um distributive Güter, allen voran um Geld geht: Jede Leistung der mittleren Generation zugunsten der einen verbraucht – unter Bedingungen der Knappheit – Ressourcen, die deshalb nicht mehr zur Unterstützung der anderen zur Verfügung stehen, und geht infolgedessen zu Lasten der anderen (vgl. Merk 2002; Quest 1998; Renschler 2002; Sinn 2003a, 87; ders. 2003b, 389 ff.). Grammatikalisch korrekt ist es, dass mehr als zwei Generationen in ein Verhältnis gestellt und dieses durch Rechte und Pflichten „zwischen“ den Generationen bestimmt wird. Ebenso korrekt ist es, dass deren Generationenverhältnis über mehrere Epochen hinweg durch Verkettung der intergenerationellen Rechte und Pflichten in den aufeinander folgenden Epochen „verfolgt“ wird und dabei Unterstützungspflichten in der einen zur Begründung von Unterstützungsrechten in der anderen Epoche herangezogen werden. Wie bei der Konstruktion eines Generationenverhältnisses von zwei Generationen müssen allerdings auch bei einem komplexeren Verhältnis von drei (und mehr) Generationen diese „zur sel-

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ben Zeit“ und d.h. über die selben Merkmale geschaffen werden: Aus einer Grundgesamtheit müssen einzelne auf Grund unterschiedlicher Ausprägungen der selben Merkmale unterschiedlichen Altersgruppen zugewiesen werden; bei Verkettung der Generationenverhältnisses über einander folgenden Epochen hinweg sind die Merkmale konstant zu halten, so dass einzig die Änderung der Merksmalsausprägungen bei den einzelnen dazu führen, dass sie ihre Generationen von der einen zur anderen Epoche wechseln. Diese Vorgabe wird bei der oben ausgeführten Drei-Generationen-Konstruktion verletzt, indem die jüngere, die ältere und die mittlere Generation nicht über die selben Merkmale gebildet werden, deswegen keine Generation in der Mitte zwischen einer jüngeren und einer älteren entsteht. Welche Merkmale neben dem Alter auch immer eingesetzt werden, um eine Generation von Kindern und Jugendlichen zu schaffen und mit Unterstützungsrechten auszustatten, ihr wird eine Generation erwachsener Menschen gegenübergestellt, nicht aber eine mittlere Generation mit „eingebauter“ Abgrenzung zur Generation älterer Erwachsener. Dagegen wird der Generation der älteren und in Folge ihres Alters unterstützungsbedürftigen Menschen eine Generation unterstützungsfähiger, deshalb auch -pflichtiger Menschen gegenübergestellt, zu der Kinder und Jugendlichen wegen mangelnder Unterstützungsfähigkeit nicht zugerechnet werden. Allerdings sind diese aus dem Generationenverhältnis der unterstützungsbedürftigen und der unterstützungspflichtigen Generation so ausgeschlossen, dass auch in diesem Fall die zweite Generation nicht als eine „mittlere“ Generation ausgewiesen werden kann. Das erste Verhältnis zwischen der Generation der Kinder und Jugendlichen und der der Erwachsenen und das zweite Verhältnis zwischen der Generation der Älteren und der der nicht alten Erwachsenen entstehen also in unterschiedlichen Konstruktionsvorgängen auf Grund unterschiedlicher Merkmale. Deswegen führen sie nicht zu deckungsgleichen Generationen, insbesondere nicht zu einer „mittleren“ Generation, auf die sich die Unterstützungspflichten aus beiden Generationenverhältnissen konzentriert. Je nachdem wie die Merkmale bestimmt werden, besteht bei den jeweils unterstützungspflichtigen Generationen zwar eine mehr oder weniger große Schnittmenge; aber es ist dennoch nicht die selbe Generation, die in beiden Generationenverhältnissen „zur selben Zeit“ zu Unterstützungsleistungen gegenüber der jungen und der älteren Generation verpflichtet ist und deshalb „in der Mitte“ zwischen diesen beiden steht. Fehlerhaft ist zudem, dass der Wechsel von der einen zur anderen Generation nicht allein durch die Verschiebung der Merkmalsausprägung begründet ist, sondern einen klammheimlichen Wechsel bei den die Generationen konstituierenden Merkmalen notwendig macht. Dass Kinder zu Erwachsenen werden und damit aus der Berechtigung in die Verpflichtung gegenüber der Generation, der sie zuvor selbst angehörten, hinein wachsen, lässt sich über das selbe Merkmal identifizieren. Dafür aber, dass sie dabei zugleich gegenüber einer Generation

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verpflichtet werden, der sie dann in der übernächsten Epoche angehören werden, braucht es eines weiteren Merkmals, auf Grund dessen sie als nicht alte Erwachsene in ein Gegenüber zu den altersbedingt erwerbslosen Alten gebracht werden.4 Weil die Konstruktionen der „mittleren“ Generation auf zwei Generationenverhältnissen mit unterschiedlichen Merkmalen aufliegen, können Angehörige nicht, wie behauptet, von der ersten über die „mittlere“ in die dritte Generation hinein wechseln. Dadurch, dass sie bei der Konstruktion ihrer Generationenverhältnisse deren Restriktionen verletzen, bereiten Konzepte einer drei Generationen umspannenden Gerechtigkeit ihren Adressaten prinzipielle Verstehensprobleme. Unabhängig davon, ob sie diesen Konzepten und den darin behaupteten Berechtigungen und Verpflichtungen zustimmen können, können sie nicht wissen, wer und weshalb der „mittleren“, zugleich Jung und Alt gegenüber gestellten Generation zugerechnet wird und zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und zugleich zur Unterstützung älterer Menschen verpflichtet werden soll (vgl. Möhring-Hesse 2005). Der Unsinn entsprechender Gerechtigkeitskonzepte wird öffentlich allerdings kaum auffällig. Ihre Verstehensprobleme werden allgemein „ertragen“, vermutlich weil die fehlerhafte Konstruktion eines Drei-Generationenverhältnisses analog zum Modell der genealogischen Familie gebaut ist, deswegen die Verstehensprobleme intuitiv über das ganz andere Generationenverhältnis von Kinder, Eltern und Großeltern ausgeglichen werden. Möglicherweise werden entsprechende Gerechtigkeitskonzeptionen aber auch deshalb „ertragen“, weil sie in der sozialpolitischen Öffentlichkeit verbreitet sind und so Bedeutung versprechen, die sie gleichwohl nicht haben können.5 4 Zumindest wenn das zweite Generationenverhältnis nach den Vorgaben der Gesetzlichen Rentenversicherung bestimmt wird, werden zudem nicht alle Kinder und Jugendlichen mit dem Wechsel zum Erwachsenenalter mit den Verpflichtungen des zweiten Generationenverhältnisses belastet. Denn allein die, die in der folgenden Epoche erwerbstätig sind, werden in die Verantwortung gerufen, so dass dann zwar alle ehemaligen Kinder und Jugendlichen gegenüber den dann Jungen, aber nur ein Teil von ihnen gegenüber den dann Alten zu Unterstützungsleistungen verpflichtet werden. 5 Das Modell der Drei-Generationensolidarität hatte bekanntlich Oswald von NellBreuning SJ in kritischer Auseinandersetzung mit Wilfried Schreibers Entwurf eines doppelten „Solidar-Vertrag zwischen [jeweils] . . . zwei Generationen“ (Schreiber 1955, 28 – Einf. eingefügt) vorgeschlagen (vgl. etwa von Nell-Breuning 1960; ders. 1981). Im Unterschied zu dem diskutierten Gerechtigkeitskonzept ist Nell-Breunings Modell grammatikalisch fehlerfrei – und deshalb verständlich. Seine drei Generationen erstellte er über eine Merkmalszuschreibung und über die Epochen hinweg gleichbleibend, nämlich über das Merkmal der Erwerbstätigkeit. Er unterschied die Generation der jungen Noch-Nicht-Erwerbstätigen und die der alten Nicht-Mehr-Erwerbstätigen im Gegenüber zur Generation der Erwerbstätigen. Diese Generation steht durch die Erwerbstätigkeit ihrer Angehörigen „in der Mitte“ zwischen Noch-Nicht- und NichtMehr-Erwerbstätigkeit. Weil die beiden anderen Generationen wegen ausbleibenden Erwerbseinkommens der Unterstützung bedürftig sind und die Generation der Erwerbstätigen über ihr Erwerbseinkommen zu dieser Unterstützung fähig ist, wies von Nell-Breuning SJ ihr die Pflicht zu, die beiden anderen Generationen an ihrem Er-

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2.2 Gleichheit zwischen den Generationen

Dass Gerechtigkeit notwendig mit Gleichheit zu tun hat, wird in den philosophischen Diskursen ebenso bestritten wie in den politischen Debatten. Geht es um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen, besteht jedoch ein Gegentrend: Zum Teil von den selben philosophischen und politischen „Schulen“, die Gerechtigkeit anti-egalitaristisch zu fassen suchen, wird Gleichheit als Prinzip der Generationengerechtigkeit genommen. Typisch ist diese egalitaristische Deutung intergenerationeller Verbindlichkeiten im Kontext sogenannter Generationenbilanzen: Die Renditen auf geleistete Steuern und Versicherungsbeiträge werden sich in Folge des demographischen Wandels von Generation zu Generation wahrscheinlich verringern, wobei die Generationen zu Rechen- und Prognosezwecken als Jahrgangskohorten gefasst werden.6 Dass die jüngere und die kommenden Generationen immer mehr für immer weniger zahlen müssen, wird – über die Prognose hinaus – als ungerecht behauptet („Zechpreller zu Lasten unserer Kinder“, Raffelhüschen; 11.09.1998). Gerecht sei es dagegen, wenn Belastungen und Leistungen während eines ganzen Generationenlebens in einem zwischen den Generationen zumindest annähernd gleichen Verhältnis stehen (vgl. etwa Haverkate 1992, 249 ff., 319 ff.). Um diese Gleichheit zwischen den Generationen zu erreichen, müssen deren Angehörigen – so die politische Schlussfolgerung – von kollektiven Verpflichtungen zugunsten anderer Generationen entlastet, dazu allerdings größere Ungleichheiten innerhalb der jeweiligen Generationen mindestens zugelassen, wenn nicht intendiert werden. werbseinkommen zu beteiligen. Diese Konstruktion ruht allerdings auf der Prämisse, dass Erwerbsarbeit die einzige, zumindest aber die einzig relevante Einkommensquelle ist, dass also das Volkseinkommen (fast) ausschließlich über die Arbeitseinkommen verteilt wird. Weil sich diese Prämisse in der frühen Bundesrepublik zunächst zu bestätigen schien, konnte Nell-Breunings Gleichsetzung von jung und noch-nicht-erwerbslos sowie von alt und nicht-mehr-erwerbstätig und die Auszeichnung einer „mittleren“ Generation der Erwerbstätigen vielfach überzeugen, zumal für die arbeitsgesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik diese Aufteilung von drei Generationen konstitutiv ist. Die aktuelle Entwicklung sowohl der Beschäftigung als auch der Einkommensverteilung läuft allerdings der Prämisse zuwider. Damit verliert aber das darauf aufsitzende Konzept der Drei-Generationensolidarität an Plausibilität, zumal auch systematische Gründe dagegen vorgetragen werden können (vgl. Möhring-Hesse 2005). 6 Bereits diese Generationenkonstruktion ist grammatikalisch fehlerhaft, indem die grammatikalische Vorgabe verletzt wird, neben dem Merkmal des gleichen oder ähnlichen Alters bzw. des selben oder benachbarten Geburtsjahres mindestens ein weiteres Merkmal auszuweisen, auf Grund dessen Menschen des gleichen Alters oder selben Geburtsjahres einer Generation zugewiesen werden. Dass Menschen nur auf Grund ihres selben Geburtsjahres zu einer Gruppe gesammelt und von anderen mit einem anderen, auch benachbarten Geburtsjahr abgegrenzt werden, mag für statistische Zwecke sinnvoll sein. Doch taugen diese statistischen Gruppen nicht als Generationen, zumindest nicht in dem Sinne von Gerechtigkeitskonzeptionen, also als Gruppen, die mit Rechten begünstigt oder mit Pflichten belastet werden. Einzig durch das gemeinsame Geburtsjahr bestimmt, sind Kohorten unterbestimmt und kommen deswegen als Träger von Rechten oder Pflichten nicht in Frage.

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Mit einer derartigen Gerechtigkeitskonstruktion wird der für die intragenerationellen Verhältnisse konstitutive Prima-facie-Egalitarismus auf die intergenerationellen Verhältnisse verschoben – und so grammatikalische Vorgaben der Generationengerechtigkeit verletzt. Grundsätzlich bestehen zwischen Generationen asymmetrische Rechte- und Pflichtenverhältnisse. Die Differenzlogik ihrer Konstruktion, dass also eine Generation in Absetzung von mindestens einer anderen „geschaffen“ wird, verhindert für synchron konzipierte Generationen einen Egalitarismus des „gleichen vom selben“. Durch die Zuweisung der Generationen über das Merkmal des gleichen oder ähnlichen Alters sowie eines weiteren Merkmals werden nämlich Gruppen geschaffen, die – zumeist schon wegen ihres unterschiedlichen Alters – in jeweils einer Epoche nicht gleichberechtigt oder gleichverpflichtet werden können. Allerdings handelt es sich im Fall der Generationenbilanzen um Generationen, die für eine diachrone Betrachtungsweise vorgesehen sind, also über ihr ganzes Generationenleben hinweg betrachtet und dabei mit Ausnahme ihrer Anfangs- und Endjahre gleich gehalten werden. Doch auch diese Gleichheit zwischen diachron konzipierten Generationen begründet keine Gleichheit in normativer Hinsicht, also keine Berechtigung vom bzw. Verpflichtung zum „gleichen vom selben“. Denn über die langen Zeitstrecken ihres (auf 100 Jahre gesetzten) Generationenlebens hinweg lassen sich überhaupt keine, mithin auch nicht gleiche intergenerationellen Rechte und Pflichten ausweisen. Um diachron konzipierte Generationen gegenüber anderen zu irgendetwas zu berechtigen bzw. zu verpflichten, müssen sie verzeitigt, deren intergenerationelle Rechte und Pflichten für bestimmte Epochen bestimmt werden. Dann aber stellt sich für die diachron konzipierten Generationen die Differenzlogik synchron konzipierter Generationen ein, der zufolge in einer Epoche keine symmetrischen Rechte und Pflichten zwischen den Generationen bestehen können.7 Selbstverständlich ist es möglich und – begrenzt – sinnvoll, Renditeerwartungen von Jahrgangskohorten zu prognostizieren. Ausgeschlossen und entsprechend sinnlos ist es jedoch, gleiche Renditen der Generationen als gerecht und spiegelbildlich ungleiche Renditen als ungerecht zu beurteilen. Ungleiche Renditen mögen – wie ein Gewitter während einer Sommerparty – für die Angehörigen bestimmter Jahrgangskohorten überaus ärgerlich sein; sie sind aber des7 Die asymmetrische Leistungsbilanz im Verhältnis zwischen synchron konzipierten Generationen könnte dadurch ausgeglichen werden, dass die asymmetrischen Leistungsbilanzen aus verschiedenen Epochen aufeinander bezogen und miteinander abgeglichen werden. Weil man sich dazu aber die transitorische Bedeutung von synchron konzipierten Generationen (z. B. „Aus Kindern werden Eltern.“) zunutze machen müsste, diachron konzipierten Generationen diese transitorische Bedeutung aber gerade nicht besitzen, fällt diese Möglichkeit weg. Daher lässt sich für diachron konzipierte Generationen auch durch Abgleich asymmetrischer Leistungsbilanzen die Prima-Facie-Ungleichheit ihrer intergenerationellen Verhältnisse nicht außer Kraft setzen.

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halb – wie das Gewitter – nicht ungerecht. Gleichheit vom Selben ist keine grammatikalisch zulässige Forderung an das Verhältnis zwischen Generationen. Prima facie orientieren Konzepte der Generationengerechtigkeit die Verhältnisse innerhalb der angesprochenen Generationen auf die Gleichberechtigung und -verpflichtung ihrer Angehörigen hin. Indem einzelnen gerade nicht als einzelne, sondern als Angehörige einer Generation zu etwas berechtigt oder verpflichtet werden, werden sie zumindest grundsätzlich gemeinsam mit den anderen Angehörigen ihrer Generation berechtigt oder verpflichtet, die Rechte bzw. Pflichten ihrer Generation wahrzunehmen bzw. zu erfüllen. Diesen Egalitarismus geben Gerechtigkeitskonzepte der vorgestellten Art auf – und zwar als (intendierte oder nur zugelassene) Folge ihres fehlerhaften intergenerationellen Egalitarismus. Dadurch verfehlen sie die normative Logik der Generationengerechtigkeit, Menschen mit einem bestimmten Alter oder Geburtsjahr gemeinsam mit allen anderen des gleichen oder ähnlichen Alters bzw. des selben oder zumindest benachbarten Geburtsjahres gegenüber einer anderen Alters- oder Jahrgangsgruppe zu etwas und d.h. eben prima facie gleich zu berechtigen oder zu verpflichten. Es ist von vornherein widersinnig, Generationen durch Zusammenschluss von gleich bestimmten Angehörigen zu erzeugen und dann bei der Aufteilung der ihnen gemeinsam zugewiesenen Rechte und Pflichten auf deren Gleichheit keinen Wert zu legen.8 Literaturverzeichnis CDU/CSU/SPD (2005): Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, Online: www.spd.de/servlet/PB/show/ 1589444/111105_Koalitionsvertrag.pdf; oder: www.cducsu.de/upload/koalitionsvertrag. Habermas, Jürgen (1983): Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften. In ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main, S. 9– 52. – (1984): Was heißt Universalpragmatik? In ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main, S. 353–440. Haverkate, Görg (1992): Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, München. 8 Die den Konzepten der Generationengerechtigkeit vorgegebene Ungleichheit zwischen den und die Gleichheit innerhalb der Generationen zu vollziehen, heißt nicht, dass im Ergebnis keine davon abweichende Rechte- und Pflichtenverhältnisse behauptet werden können. Werden zusätzliche Konstruktionen für den Ausgleich asymmetrischer Generationenverhältnisse und zusätzliche Gründe für notwendige Ungleichberechtigungen und -verpflichtungen innerhalb der Generationen angeführt, werden die gegenteiligen Prima-facie-Vorgaben, eben durch die Angabe darauf bezogener Gründe, anerkannt und ihnen, zumindest in grammatikalischer Hinsicht, hinreichend Rechnung getragen.

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Kaufmann, Franz-Xaver (1997): Generationenbeziehungen und Generationenverhältnisse im Wohlfahrtsstaat. In Jürgen Mansel (Hrsg.), Generationen-Beziehungen, Austausch und Tradierung, Opladen, S. 17–30. – (2003): Sicherheit: Das Leitbild beherrschbarer Komplexität. In Stephan Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse (Theorie und Gesellschaft Bd. 52), Frankfurt am Main [u. a.], S. 73–104. Lucke, Albrecht von (2003): Generationengerechtigkeit als Kampfbegriff. In Blätter für deutsche und internationale Politik, S. 1055–1059. Merk, Kurt-Peter (2002): Die Dritte Generation. Generationenvertrag und Demokratie – Mythos und Begriff. Aachen. Möhring-Hesse, Matthias (2005): Lehren aus dem Generationenvertrag. Sozialethische Überlegungen zur intergenerationellen Gerechtigkeit. Theologie und Philosophie, 80, Nr. 1, 31–55. Nell-Breuning, Oswald von (1960): Die Produktivitätsrente. In Oswald von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft heute. Bd. III: Zeitfragen 1955–1959; Freiburg i. Br., S. 349–360. Nell-Breuning, Oswald von/Fetsch, Cornelius G. (1981): Drei Generationen in Solidarität. Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan. Köln. Quest, Karlheinz (1998): Der überforderte Generationenvertrag. Rentenpolitik auf dem Prüfstand. Landsberg am Lech. Raffelhüschen, Bernd (1998): Zechpreller zu Lasten unserer Kinder. In Handelsblatt, 11.09.1998. Renschler, Reinhart (2002): Gerechtigkeit des Generationenvertrags. In Karl Farmer/ Reinhard Haupt/Werner Lachmann (Hrsg.), Lang leben und verarmen? Wirtschaftswissenschaftliche und ethische Aspekte der Alterssicherung im 21. Jahrhundert (Marktwirtschaft und Ethik Bd. 7), Münster, S. 65–76. Rürup, Bert (2004): Generationengerechtigkeit und Rentenversicherung. In Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hrsg.), Generationengerechtigkeit – Inhalt, Bedeutung und Konsequenzen für die Alterssicherung. Jahrestagung 2003 des Forschungsnetzwerkes Alterssicherung (FNA) am 4. und 5. Dezember 2003 in Erfurt (DRV-Schriften Bd. 51), Bad Homburg, S. 39–44. Schreiber, Wilfrid (1955): Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft. Vorschläge des Bundes katholischer Unternehmer zur Reform der Sozialversicherungen, Köln. Sinn, Hans-Werner (2003a): Das demographische Defizit. Die Fakten, die Folgen, die Ursachen und die Politikimplikationen. In Christian Leipert (Hrsg.), Demographie und Wohlstand. Neuer Stellenwert für Familie in Wirtschaft und Gesellschaft, Opladen, S. 57–88. – (2003b): Ist Deutschland noch zu retten? 4. korr. Aufl., München. Ulrich, Winfried (2002): Wörterbuch linguistische Grundbegriffe (Hirts Stichwortbücher). 5., völlig neu bearb. Aufl., Berlin [u. a.].

Vom Generationenvertrag zur Renditegerechtigkeit Sind umlagefinanzierte Rentensysteme „generationengerecht“?1 Thomas Ebert

1. Generationengerechtigkeit als Renditegerechtigkeit Fünfzig Jahre nach seiner Gründung im Jahre 1957 hat das umlagefinanzierte System der lebensstandardsichernden lohndynamischen Rente in Deutschland nahezu vollkommen das Vertrauen der Bevölkerung verloren, trotz oder gerade wegen der Reformen der letzten Jahre, mit denen das System stabilisiert werden sollte. In keinem anderen Schlagwort manifestiert sich diese Krise besser als in der seit etwa zehn Jahren gebrauchten politischen Parole von der „Generationengerechtigkeit“. Sie bringt den Generalverdacht zum Ausdruck, dass das bestehende System die jüngere Generation und die künftig nachwachsenden Generationen im Vergleich zur heutigen älteren Generation ungerecht benachteiligt. Eben mit der Wiederherstellung der tatsächlich oder vermeintlich verletzten Generationengerechtigkeit wurden dann auch die einschneidenden Reformgesetze der Jahre 2001 und 2004 begründet. Die grundsätzliche Systemumstellung, die mit diesen beiden Reformen eingeleitet wurde und die auf lange Sicht zum Ende des 1957 geschaffenen gesetzlichen Alterssicherungssystems führen könnte, ist im Kern die praktische Umsetzung des politisch-normativen Paradigmenwechsels, der in der Forderung nach Generationengerechtigkeit zum Ausdruck kommt. Der Begriff Generationengerechtigkeit als solcher ist weitgehend unbestimmt. Im Kontext des gegenwärtigen politischen Diskurses hat er aber sehr wohl eine spezifische Bedeutung, die allerdings Raum für verschiedene Interpretationen lässt. Sie liegt in der entschiedenen Abkehr von der traditionellen Vorstellung von „Generationensolidarität“ oder „Generationenvertrag“, die jahrzehntelang die selbstverständliche normative Basis des seit 1957 bestehenden Rentensystems gebildet hat2. 1 Dieser Aufsatz beruht auf den Ergebnissen einer Studie, die der Autor unter dem Titel „Generationengerechtigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung – Delegitimation des Sozialstaates?“ für die Hans Böckler-Stiftung verfasst hat (Ebert 2005). 2 Der Begriff „Generationenvertrag“ wird in Deutschland meist im Sinne von „Generationensolidarität“ verstanden. Dies geht auf Wilfrid Schreiber, den Urheber dieser

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Die Begriffe „Generationensolidarität“ und „Generationenvertrag“ beinhalteten bisher eine wechselseitige Einstandspflicht der Generationen füreinander. Der konkrete Inhalt dieser Verpflichtung richtete sich nicht nach den Regeln finanzmathematischer Äquivalenz, sondern sollte jeweils nach dem Prinzip der angemessenen Teilhabe der älteren Generation am Ertrag der Volkswirtschaft bestimmt werden. Im Gegensatz dazu zeichnet sich „Generationengerechtigkeit“ im heute gebräuchlichen Sinne durch das rechenhafte Aufwiegen von messbaren individuellen Vor- und Nachteilen aus (vgl. Nullmeier 2004). Es kommt also auf die Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen im Alterssicherungssystem an, wobei diese Äquivalenz in der Regel mit Hilfe der so genannten „internen Rendite“ gemessen3 wird. Während die Solidarität zwischen den Generationen gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft zur Vorleistung voraussetzt, zielt das neue Verständnis von „Generationengerechtigkeit“ auf marktmäßigen Tausch. Zwar beruhen sowohl äquivalenter Tausch als auch Solidarität auf Wechselseitigkeit. Sie unterscheiden sich aber dadurch, dass diese Wechselseitigkeit beim Tausch auf der messbaren und einklagbaren Entsprechung von Leistung und Gegenleistung beruht, bei der Solidarität hingegen auf der gegenseitigen und vertrauensvollen Bereitschaft, je nach Situation, Leistungsfähigkeit und Bedarf etwas zu geben, ohne alles zurück zu erhalten oder auch zu nehmen, ohne es zurückgeben zu können. Das neue Verständnis von Generationengerechtigkeit als Renditegerechtigkeit beinhaltet die politisch-normative These, dass ein Alterssicherungssystem dann gerecht ist, wenn alle beteiligten Generationen die gleiche Rendite erzielen, bzw. dass ein gegenwärtig ungerechter Zustand gerechter wird, wenn die Renditen der Generationen aneinander angeglichen werden (vgl. „Nachhaltigkeitskommission“ 2003, S. 5/6, Tremmel 2003, S. 38). Verbunden wird dies meist mit der Nebenbedingung, dass die Rendite aus Alterssicherungssystemen dem Marktzinssatz entsprechen oder zumindest positiv sein sollte. Unter den gegenwärtigen und künftig erwarteten demografischen Rahmenbedingungen wird aus der so verstandenen Norm der Generationengerechtigkeit abgeleitet, dass die Renditen der jüngeren und künftigen Beitragszahlergenerationen im Vergleich zur Rendite der heutigen Rentnergeneration erhöht bzw. dass diese gesenkt werden müssen. Dieses Ziel soll dann durch Senkung des Rentenniveaus im um-

Redeweise und konzeptionellen Vordenker des 1957 geschaffenen Rentensystems zurück, der „Generationenvertrag“ im Sinne eines „Solidar-Vertrages“ verstanden hat (Schreiber 1955, S.28). Demgegenüber hat Oswald v. Nell-Breuning den Begriff „Generationenvertrag“ als unpassend abgelehnt: „Generationen schließen keine Verträge; Generationen üben Solidarität“ (Nell-Breuning 1981, S. 29). 3 Andere Methoden zur Messung der Äquivalenz von Beitrag und Leistung sind die Berechnung der „impliziten Steuer“ sowie so genannte „Generationenbilanzen“ und „Tragfähigkeitsanalysen. Auf die methodischen Mängel dieser Ansätze kann hier nicht eingegangen werden (vgl. aber Ebert 2005, S. 179–192).

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lagefinanzierten Rentensystem und – meist damit kombiniert – durch Aufbau einer kapitalgedeckten Alterssicherung erreicht werden. Im Folgenden soll die normative Frage, ob es angemessen ist, Generationengerechtigkeit mit Renditegleichheit oder Renditegerechtigkeit zwischen Alterskohorten gleichzusetzen, nicht weiter diskutiert werden (vgl. hierzu Bäcker/ Koch 2004, Bäcker 2003, Schmähl 2002 und 2004). Nur zwei besonders wichtige Argumente sollen wenigstens erwähnt werden: – Erstens ist die Vorstellungen, alle Generationen könnten und sollten materiell gleichgestellt werden, in einer Welt mit ungewisser Zukunft und ständigem Wandel der sozialen, ökonomischen und politischen und kulturellen Rahmenbedingungen völlig weltfremd. – Zweitens ist es ein schwerer methodischer Fehler, Gerechtigkeit zwischen den Generationen auf eine Frage des staatlichen Alterssicherungssystems (und gegebenenfalls zusätzlich auch der Staatsverschuldung) zu verkürzen. Denn damit wird aus der Vielzahl der ökonomischen Transferbeziehungen, die zwischen aufeinander folgenden Generationen relevant sind, lediglich ein Teilausschnitt herausgegriffen. Dadurch entsteht nicht nur ein unvollständiges, sondern ein systematisch falsches Bild. Denn auf diese Weise werden lediglich die staatlich organisierten Transfers von der Kinder- an die Elterngeneration erfasst, während alle Transfers in der umgekehrten Richtung (also im Wesentlichen die Unterhalts-, Erziehungs- und Ausbildungsleistungen) sowie sämtliche privaten Transfers unbeachtet bleiben (vgl. Schmähl 2004, Hauser 2004). Der angemessene Begriff von Generationengerechtigkeit soll im Folgenden nicht das Thema sein. Vielmehr soll gefragt werden, ob das Prinzip der Generationengerechtigkeit als Renditegerechtigkeit – unterstellt, es sei angemessen, beides gleichzusetzen – tatsächlich die Art von Rentenpolitik rechtfertigen kann, die in den letzten Jahren betrieben worden ist. Stimmt es also, dass die Rentenversicherung „generationengerechter“ wird, wenn das Rentenniveau gesenkt, die Rentendynamik begrenzt oder eingefroren, der Beitragssatz stabilisiert oder gar gesenkt und das Umlagesystem teilweise durch ein kapitalgedecktes System ersetzt wird? 2. Bestimmungsgrößen der Rendite umlagefinanzierter Rentensysteme Will man dieser Frage nachgehen, dann ist zunächst ist zu fragen, von welchen Bestimmungsgrößen die Rendite umlagefinanzierter Rentensysteme abhängt. Hier müssen die wichtigsten Ergebnisse der mathematischen Theorie der Alterssicherung referiert werden (vgl. Ebert 2005, S. 29–33, S. 91–124). Dabei wird für die theoretische Analyse ein stark vereinfachtes langperiodiges Zwei-

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generationen- und Zweiperiodenmodell („Modell der überlappenden Generationen“, im Folgenden kurz als „Zweigenerationenmodell“ bezeichnet) verwendet, wie es in der Literatur seit den Arbeiten von Samuelson und Aaron üblich ist. Die Periodenlänge des Modells ist mit ca. 40 Jahren so gewählt, dass eine Generation zunächst eine Periode lang erwerbstätig ist, Beiträge zahlt und sich reproduziert; in der darauf folgenden Periode bezieht dann ein bestimmter Prozentsatz („Überlebensrate“) ihrer Angehörigen Rentenleistungen aus diesem System. Beim Übergang von einer Periode zur nächsten wird also jeweils eine Erwerbstätigengeneration durch die nachfolgende Jugendgeneration ersetzt, desgleichen die bisherige Altengeneration durch die bisherige Erwerbstätigengeneration. Die nachstehende Abbildung illustriert das Zweigenerationenmodell. Für die Modellbeschreibung und die Analyse im Einzelnen muss aus Platzgründen auf die ursprüngliche Publikation (Ebert 2005, S. 91–124) verwiesen werden; hier werden nur die wichtigsten Ergebnisse dargestellt. 2.1 In umlagefinanzierten Rentensystemen mit lohnbezogenen Beiträgen hängt die Rendite im Wesentlichen von der Rentendynamik ab. Je kräftiger der Rentenzuwachs ist, den das Rentensystem gewährleistet, desto besser verzinsen sich die Beiträge, und zwar nicht nur für die gegenwärtigen Rentner, sondern auch für die gegenwärtigen und künftigen Beitragszahler. Als interne Rendite des Rentensystems kann derjenige Zinsfaktor bezeichnet werden, bei dem der Barwert der Rentenleistungen gerade so hoch ist wie der Barwert der eingezahlten Beiträge. In einem zweiperiodigen Modell ist sie daher für einen Angehörigen der Erwerbstätigengeneration T definiert durch …1†

bT  yT ˆ

LRT  rT‡1 qT

Dabei ist b der Beitragssatz, y das Durchschnittseinkommen, r die statistische Brutto-Durchschnittsrente, q der Renditefaktor und T der Periodenindex bzw. der Index der Erwerbstätigengeneration4. LR bezeichnet die Überlebensrate, in der die Wahrscheinlichkeit eines Erwerbstätigen der Generation T, das Rentenalter zu erreichen und die Dauer des Rentenbezugs zum Ausdruck kommt. Die Überlebensrate wird als Verhältnis der Zahl der in T ‡ 1 lebenden Rentner zu den in T lebenden Erwerbstätigen definiert.

4 Der Periodenindex T bezeichnet stets die Beobachtungsperiode, nicht die Jahrgangskohorte. Als „Generation T “, „Erwerbstätigengeneration T “ oder „Kohorte T “ wird im Folgenden daher immer diejenigen Personengruppe bezeichnet, die sich in der Periode T im erwerbsfähigen Alter und in der Folgeperiode T ‡ 1 im Rentenalter befindet. Die Erwerbstätigen der Periode T und die Rentner der Periode T ‡ 1 gehören also derselben Kohorte an.

Erwerbsphase

Altersphase

Periode T

Beitragszahler Generation T

Beiträge

Periode T+1

Zweigenerationenmodell

Reproduktionsrate

Beitragszahler Generation T+1

Beiträge

Renten

Renten Überlebensrate

Rentner Generation T

Rentner Generation T–1

Reproduktionsrate

Überlebensrate

Periode T+2

Beitragszahler Generation T+2

Beiträge

Renten

Rentner Generation T+1

Vom Generationenvertrag zur Renditegerechtigkeit 79

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Thomas Ebert

Aus Gleichung (1) ergibt sich für den Renditefaktor …2†

qT ˆ

LRT  rT‡1 bT  yT

Wird in einem umlagefinanzierten Rentensystem mit lohnbezogenen Beiträgen von Staatszuschuss, Schwankungsreserve und allen sonstigen Ausgaben der Rentenversicherung außer den Altersrenten abgesehen, dann müssen Beitragssumme und Rentensumme gleich hoch sein. Daraus ergibt sich, dass der Beitragssatz dem Produkt aus Rentner-Beitragszahlerquotient (im Folgenden kurz „Rentnerquotient“ genannt) und Bruttorentenniveau entspricht: BET ˆ RAT bT  BT  yT ˆ RT  rT bT ˆ

RT rT  BT y T

und somit …3†

bT ˆ RQT  RNT

Dabei bezeichnet RQ den Rentnerquotienten, d.h. das Zahlenverhältnis der in einer Periode gleichzeitig lebenden Rentner und Beitragszahler, und RN das Bruttorentenniveau. Wenn nun (3) in (2) eingesetzt und die Steigerungsrate der r Durchschnittsrente mit T‡1 ˆ wr;;T‡1 definiert wird, dann erhält man wegen rT RNT  yT ˆ rT schließlich die allgemeine Bestimmungsgleichung für den Renditefaktor im Zweigenerationenmodell: …4†

qT ˆ

LRT  wr;;T‡1 RQT

Diese Gleichung gilt, unabhängig vom jeweiligen Dynamisierungssystem bzw. der Rentenanpassungsformel, generell für alle umlagefinanzierten Rentensysteme mit lohnbezogenen Beiträgen. Der in der Literatur immer wieder zitierte Satz von Aaron (1966), dass sich lohnbezogene Umlagesysteme mit der Steigerungsrate der Lohnsumme rentieren, gilt hingegen nur für einen Spezialfall, nämlich nur dann, wenn der Beitragssatz konstant gehalten und die Renten einnahmebezogen angepasst werden. Dies ist unschwer aus Gleichung (2) abzuleiten (vgl. Ebert 2005, S. 102–103). Bei den Faktoren, welche die Rendite der Generation T aus dem umlagefinanzierten Alterssicherungssystem beeinflussen, ist zwischen der Kostenseite

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und der Ertragsseite zu unterscheiden. Auf der Kostenseite ist die Rendite durch den Rentnerquotienten bestimmt, den die Generation T in ihrer Erwerbsphase als Konsequenz des Reproduktionsverhaltens und der Mortalität ihrer Vorgängergeneration vorfindet. Je höher der Rentnerquotient ist, desto höher ist ceteris paribus der Beitragssatz und daher der Preis für den Rentenanspruch. Allerdings kann die jeweilige Erwerbstätigengeneration den Rentnerquotienten noch selbst beeinflussen, nämlich durch die eigene Erwerbsbeteiligung. Auf der Ertragsseite ist die Rentendynamik (d.h. der Rentenanstieg in der Zeit zwischen der Beitragszahlung und dem Rentenbezug) entscheidend. Je kräftiger der Rentenzuwachs ist, den das Rentensystem gewährleistet, desto besser verzinsen sich die Beiträge, und zwar nicht nur für die gegenwärtigen Rentner, sondern auch für die gegenwärtigen und künftigen Beitragszahler. Die Rentendynamik wird ihrerseits durch zwei Determinanten bestimmt: zum einen durch die Rentenanpassungsformel und das Verfahren zur Festlegung des Beitragssatzes, zum anderen – da in lohnbezogenen Systemen die Höhe der Renten und/oder der Beitragseinnahmen von den Löhnen abhängt – von der Lohndynamik. Die Bedeutung der Lohnsteigerungen für die Rendite aus umlagefinanzierten Rentensystemen verdient besonders betont zu werden, denn sie können – was häufig nicht genug beachtet wird – die negative Renditewirkung des steigenden Rentnerquotienten kompensieren. Auf der Ertragsseite der Renditerechnung spielt neben der Rentendynamik auch die Überlebensrate der Generation T eine Rolle. Sie entscheidet über Wahrscheinlichkeit und Dauer des Rentenbezugs. Mit steigender Wahrscheinlichkeit des Rentenbezugs und wachsender Bezugsdauer erhöht sich selbstverständlich bei gegebener Rentenhöhe die Rendite. Wenn demnach die Alterslast nicht wegen einer geringeren Reproduktionsrate, sondern durch steigende Lebenserwartung wächst, beeinflusst sie somit die Rendite nicht negativ, sondern positiv. 2.2 Unter der Bedingung steigender Alterslast ist ein Rentensystem mit bruttolohnbezogener Dynamik rentabler als ein System mit nettolohnbezogener Dynamik und dieses wieder günstiger als die seit 2005 geltende Dynamik mit „Nachhaltigkeitsfaktor“; am wenigsten rentabel ist ein System mit konstantem Beitragssatz. Dies folgt unmittelbar aus der Regel, dass die Rendite umlagefinanzierter Systeme umso höher ist, je stärker die Renten von Periode zu Periode steigen. 2.3 Die Rendite umlagefinanzierter Alterssicherungssysteme ist im Prinzip unabhängig vom Versorgungsniveau der Ausgangsperiode. Gleichung (4) zeigt, dass die Rendite einer Erwerbstätigengeneration nicht davon berührt wird, ob in ihrer Erwerbsphase eine Kombination aus hohem Bruttorentenniveau und entsprechend hohem Beitragssatz oder aus niedrigem

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Bruttorentenniveau und niedrigem Beitragssatz besteht (also z. B. 40% Bruttorentenniveau mit 20% Beitragssatz oder 50% Bruttorentenniveau mit 25% Beitragssatz). Die Rendite hängt vielmehr nur vom Dynamisierungssystem, d.h. von den Rentensteigerungen ab. Ob das Versorgungsniveau hoch oder niedrig ist, entscheidet dann nicht mehr über die prozentuale Verzinsung, sondern allein über die Höhe des Kapitaleinsatzes. Hier ist allerdings eine Einschränkung zu machen. Es gibt nämlich Rentenanpassungsformeln, bei denen die Rentensteigerungen nicht unabhängig vom Bruttorentenniveau des Basiszeitpunktes ist; dies z. B. ist bei der Nettolohndynamik und bei der Anpassungsformel des „Nachhaltigkeitsgesetzes“ der Fall. Allerdings kann eine Elastizitätsanalyse zeigen, dass dieser Einfluss nur gering ist (vgl. Ebert 2005, S. 113–118), so dass die These von der Renditeneutralität des Versorgungsniveaus im Prinzip bestehen bleiben kann. 3. Bessere Rendite im Umlagesystem zu Lasten der älteren Generation? Aus dem bisher Gesagten ist eine erste, auch politisch relevante Folgerung abzuleiten: Wenn Generationengerechtigkeit als Renditegerechtigkeit verstanden wird, dann lässt sich daraus keinerlei Orientierung über ein „gerechtes“ oder angemessenes Altersversorgungsniveau oder eine „gerechte“ oder angemessene Beitragsbelastung der Erwerbstätigen gewinnen. Dies ergibt sich ohne weiteres aus dem bisherigen Ergebnis, dass das Versorgungsniveau der Ausgangsperiode (d.h. die jeweilige Kombination aus dem Bruttorentenniveau und dem zu seiner Finanzierung erforderlichen Beitragssatz) ohne (bzw. weitgehend ohne) Einfluss auf die Rendite ist. Im Übrigen lassen die bisherigen Ergebnisse einige Aussagen darüber zu, ob und unter welchen Bedingungen es möglich ist, die Rendite aus dem umlagefinanzierten Alterssicherungssystem für heutige und künftige Beitragszahlergenerationen zu verbessern. 3.1 In umlagefinanzierten Systemen ist es bei wachsendem Rentnerquotienten im Grundsatz nicht vermeidbar, dass die Rendite von Generation zu Generation fällt. Dies folgt aus Gleichung (4), denn die Rendite muss mit von Periode zu Periode fallendem Rentnerquotienten immer kleiner werden. Rein formal gesehen ist der Fall der Renditen nicht absolut zwingend, denn der steigende Rentnerquotient der Periode T könnte theoretisch durch eine entsprechend höhere Rentensteigerung von T auf T ‡ 1 kompensiert werden. Das würde aber zu explodierenden Beitragssätzen sowie zu einem unsinnig hohen und immer weiter wachsenden Nettorentenniveau führen. 3.2 Keine Erwerbstätigengeneration kann im Umlagesystem ihre eigene Beitragsrendite auf Kosten der Vorgängergeneration verbessern. Dies ist weder

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durch Abflachung des Rentenanstieges, noch durch Kürzung der laufenden Renten und Beitragssatzsenkung, noch durch Einfrieren des Beitragssatzes und Übergang zu einnahmeorientierten Rentenanpassungen möglich. Auch diese Aussage ist aus der Gleichung (4) abzuleiten: – Durch Abbremsen der Rentendynamik wird die Rendite für alle Generationen (einschließlich aller künftigen Beitragszahlergenerationen) verschlechtert. – Durch Senkung des Versorgungsniveaus wird die Rendite für die in dieser Periode lebenden Rentnergeneration (die Erwerbstätigengeneration T 1) verschlechtert. Für alle anderen Generationen wird sie aber nicht verbessert, sondern sie bleibt unverändert. Die Rendite für die in T lebende Rentnergeneration T 1 lautet nach Gleichung (4): qT

1

ˆ

LRT RQT

1

 wr;;T

1

Wird nun das Bruttorentenniveau in T gesenkt, dann wird die Rentensteigerung der Periode T gegenüber T 1 kleiner, wodurch dann die Rendite der Generation T 1 vermindert wird. 3.3 Demnach ist, was die Rendite aus dem Umlagesystem betrifft, für alle Generationen die Fortsetzung des bestehenden Systems mit möglichst hohen Rentensteigerungen vorteilhaft. Dies ist die unmittelbare Konsequenz aus der Tatsache, dass die Rendite im Umlagesystem positiv durch die Höhe der Rentensteigerungen beeinflusst wird. 3.4 Eine möglichst hohe künftige Rentendynamik liegt aber nur dann im Renditeinteresse einer Beitragszahlergeneration, wenn die künftigen Erwerbstätigen – ihrerseits ebenfalls im Bestreben, eine möglichst hohe Rendite zu erzielen – die erforderlichen Beiträge aufbringen werden. Die erwartete Rendite kann demnach nur erreicht werden, wenn die Kontinuität der Dynamisierungsregel gewährleistet bleibt. Das ist nur dann der Fall, wenn der Beitragssatz auch langfristig nicht über die (allerdings nicht zuverlässig prognostizierbare) Toleranzgrenze künftiger Generationen hinaus steigt. 3.5 Folglich ist dasjenige Dynamisierungssystem für eine Erwerbstätigengeneration T das renditegünstigste, das die höchstmögliche Rentensteigerung aufweist, bei der die Kindergeneration T ‡ 1 gerade noch (ihrerseits im Vertrauen auf die spätere Zahlungsbereitschaft der Enkelgeneration T ‡ 2) bereit ist, den erforderlichen Beitragssatz tragen. Dasjenige umlagefinanzierte Rentensystem hat also die günstigste Rendite, das den höchsten Beitragssatz erfordert, den künftige Generationen gerade noch zu tragen bereit sind. 3.6 Folglich können die üblicherweise theoretisch empfohlenen und politisch praktizierten Reformstrategien, nämlich Senkung des Versorgungsniveaus und

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Abflachung der Rentendynamik, für keine der betroffenen Generationen die Rendite aus der gesetzlichen Rentenversicherung verbessern. Reformen dieser Art können deshalb aus dem Prinzip einer als Renditegerechtigkeit verstandenen Generationengerechtigkeit auch ethisch nicht begründet werden.

4. Höhere Rendite durch Teilumstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren? Die Rendite der gesetzlichen Rentenversicherung kann durch Herabsetzung des Rentenniveaus nicht verbessert werden. Zumindest theoretisch besteht aber die Möglichkeit, einen Teil der Beiträge vom umlagefinanzierten auf ein kapitalgedecktes System umzuschichten und dadurch eine höhere Gesamtrendite zu erwirtschaften, falls die Verzinsung im kapitalgedeckten System besser ist als im Umlagesystem. Dies kann dadurch geschehen, dass Bruttorentenniveau und Beitragssatz im Umlageverfahren gesenkt und die dadurch (gemessen am Status quo) ersparten Beiträge nicht konsumiert, sondern in ein kapitalgedecktes System eingezahlt werden. Auf diese Weise könnte die Rendite für die jüngeren und künftigeren Beitragszahlergenerationen verbessert bzw. die Renditedifferenzen zwischen den verschiedenen Alterskohorten vermindert werden. Eben diese Erwartung lag erklärtermaßen den beiden Rentenreformen von 2001 und 2004 sowie dem Gutachten der so genannten „Nachhaltigkeitskommission“ zugrunde. Die alte Streitfrage, ob die Rendite in kapitalgedeckten Alterssicherungssystemen höher ist als in umlagefinanzierten, soll hier nicht erörtert werden. Vielmehr soll gezeigt werden, dass der partielle Systemwechsel selbst dann, wenn dies der Fall sein sollte, keineswegs automatisch eine höhere Gesamtrendite für jüngere und künftige Generationen garantiert, sondern dass dazu noch weitere Bedingungen erfüllt sein müssen. Eindeutige oder gar quantifizierte Aussagen dazu sind nicht möglich, aber es können einige Hinweise gegeben werden. 4.1 Unabhängig von möglichen Renditedifferenzen zwischen Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren hat die Teilumstellung jeden Fall intergenerative Umverteilungseffekte. In der Aufbauphase des Kapitalstockes verschlechtert sich nämlich zwangsläufig die Rendite entweder für die Erwerbstätigen, weil sie zusätzlich zum Umlagebeitrag einen Kapitalbeitrag entrichten müssen. Oder die Rentner müssen Rentenkürzung hinnehmen, damit der Beitrag im Umlagesystem gesenkt werden kann oder nicht erhöht werden muss. Wenn beide Maßnahmen kombiniert werden, sind beide Generationen negativ betroffen. Die Verlierer der (Teil-)Umstellung stehen zwar fest, aber die Gewinnergeneration existiert zunächst lediglich fiktiv: es handelt sich um diejenigen, die in dem theoretisch denkbaren Fall, dass keine Beiträge der Erwerbstätigen mehr fließen sollten, im Umlagesystem keine Renten mehr erhalten könnten, während

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sie im Kapitaldeckungssystem immer noch den vorhandenen Kapitalstock aufzehren könnten. 4.2 Auch wenn die Verzinsung im kapitalgedeckten System höher ist als im Umlagesystem und die Teilumstellung somit im Prinzip eine höhere Rendite erbringt, dann ist die Renditeverbesserung für die gegenwärtigen und künftigen Beitragszahlergenerationen nicht sicher, sondern hängt von den Modalitäten bei der Teilumstellung ab. 4.3 Wenn bei der Teilumstellung lediglich die Rentendynamik abgebremst wird, das Versorgungsniveau der Ausgangsperiode aber unangetastet bleibt, dann sind zwar die Verluste für die mittlere und ältere Generation maßvoll, aber es ist auch keine deutliche und sichere Verbesserung für die nachwachsenden und künftigen Generationen zu erwarten. Hier handelt sich um den Fall, dass das Bruttorentenniveau nicht mit einem einmaligen Schnitt gekürzt wird, sondern durch Begrenzung der Rentensteigerungen gegenüber dem rechtlichen Status quo allmählich absinkt. Die verminderte Rentendynamik verschlechtert auch für alle künftigen Beitragszahlungen (also auch für die nachwachsenden und kommenden Generationen) die Rendite im Umlagesystem. Daher muss die Rendite im Kapitaldeckungssystem dann beträchtlich höher sein als im Umlagesystem, damit die Umstellung trotz dieses Verlustes insgesamt einen Gewinn erbringt. 4.4 Wenn hingegen bei der Teilumstellung Bruttorentenniveau und Beitragssatz uno actu reduziert werden und anschließend die Rentendynamik auf vermindertem Ausgangsniveau wieder unverändert fortgesetzt wird, dann erleiden zwar die mittlere und ältere Generation stärkere Einbußen, aber dafür sind Verbesserungen für die Jüngeren wahrscheinlich. Die Ursache liegt darin, dass das Versorgungsniveau im Umlagesystem für die künftigen Beitragszahlungen renditeunschädlich ist; d.h. die Verzinsung bleibt unverändert und lediglich das im Umlagesystem eingesetzte Kapital wird vermindert. Deshalb kommen die jüngeren Jahrgänge voll in den Genuss der höheren Rendite im kapitalgedeckten System – falls eine solche auf dem Markt wirklich erzielt wird. 4.5 Ob die Rendite der Alterssicherung durch Teilumstellung vom Umlageauf das Kapitaldeckungsverfahren verbessert werden kann, hängt in hohem Maße davon ab, wie mit den Arbeitgeberbeiträgen verfahren wird. Wenn nämlich bei der Teilumstellung im Umlagesystem die Beiträge gesenkt werden, dann macht es einen bedeutenden Unterschied, ob die gesamte Beitragsersparnis einschließlich der Arbeitgeberbeiträge in kapitalgedeckter Altersvorsorge angelegt wird, oder ob sich dies auf die Arbeitnehmerbeiträge beschränkt. Nur wenn ersteres der Fall ist, erhalten die Versicherten mit einiger

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Sicherheit durch die Teilumstellung – unter den zuvor genannten Bedingungen – eine höhere Gesamtrendite aus Umlage- plus Kapitaldeckungssystem. 4.6 Wenn von den im Umlagesystem eingesparten Beiträgen lediglich der Arbeitnehmeranteil in private Vorsorge investiert wird, der Arbeitgeberanteil aber die Gewinne erhöht, dann ist die neue Gesamtrendite der Arbeitnehmer aus Umlage- plus Kapitaldeckungssystem nur dann höher als im Umlagesystem, wenn die Rendite im Kapitaldeckungssystem mindestens doppelt so hoch ist wie im Umlagesystem: Die Rendite der Arbeitnehmer im Umlageverfahren ist wegen der Subvention durch die Arbeitgeber – wenn vom staatlichen Finanzierungsbeitrag abgesehen wird – doppelt so hoch wie die Rendite des Gesamtbeitrages der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. ;;UV qAN ˆ T

bT  qUV ˆ 2  qUV T bAN ;;T T

Wenn der Beitragssatz der Arbeitnehmer um den Betrag bAN ;T gesenkt und lediglich die Beitragsersparnis der Arbeitnehmer in eine kapitalgedeckte Vorsorge mit der Rendite qKDV eingezahlt wird, dann ergibt sich folgende GesamtT rendite qTAN ;UV ‡KDV für die Arbeitnehmer der Erwerbstätigengeneration T: qTAN ;;UV ‡KDV

ˆ

2  qUV T  bAN ;;T

 bAN ;;T ‡ bAN ;;T  qKDV T bAN ;;T

und daraus qTAN ;;UV ‡KDV ˆ 2  qUV T ‡

bAN ;;T  qKDV T bAN ;;T

2  qUV T



Falls die Rendite im Umlagesystem als Folge des Einschnittes nicht sinkt ;;alt ˆ qUV †, dann erhöht der Teilumstieg die Gesamtrendite, wenn die T Rendite im Kapitaldeckungsverfahren mehr als doppelt so hoch ist als diejenige im Umlagesystem. Sinkt jedoch die Rendite des Umlageverfahrens infolge des Teilumstieges (was der Fall ist, wenn die Rentendynamik gebremst wird), dann muss die Kapitalrendite noch höher sein, um den Renditeverlust im Umlagesystem auszugleichen. ;;neu …qUV T

Zu einer systematisch anderen Betrachtungen dieses Problems kommt man selbstverständlich, wenn die Arbeitgeberbeiträge nicht als Subvention durch die Arbeitgeber, sondern als Lohnbestandteil angesehen werden. Dann stellt sich die Teilumstellung vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren ohne Einbeziehung der Arbeitgeberbeiträge zwar nicht als Renditeverschlechterung im Alterssicherungssystem dar, dafür aber als Lohnkürzung. Das materielle Ergebnis

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für die Versicherten ist jedoch dasselbe. Zwar kann man, ausgehend von der Interpretation der Arbeitgeberbeiträge als Lohnbestandteil, erwarten dass durch ihre Senkung die Tarifspielräume größer werden und dass die Bruttolöhne entsprechend steigen werden, so dass längerfristig die alten Verteilungsrelationen wieder hergestellt werden. Aber auch dann stimmt die Renditerechnung für die Teilumstellung vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren nicht ohne weiteres. Richtig wäre die Rechnung nur, wenn die Sparquote der Versicherten, bezogen auf ihr verfügbares Einkommen, steigen würde. Erstaunlicherweise spielt das Problem der Arbeitgeberbeiträge in der lebhaften Diskussion über die Teilumstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren bisher so gut wie keine Rolle und ist auch bei den Rentenreformen von 2001 und 2004 weitgehend ignoriert worden. So ist zu erklären, dass der Gesetzgeber keinerlei Verpflichtung für die Arbeitgeber eingeführt hat, sich an der kapitalgedeckten Zusatzversorgung der Arbeitnehmer zu beteiligen; vielmehr wurde ausdrücklich beabsichtigt, dass die Entlastungen der Arbeitgeber, die durch die Einschnitte in die gesetzliche Rentenversicherung entstehen, die Lohnnebenkosten senken bzw. die Gewinne erhöhen sollten. Dadurch ist den Arbeitnehmern die Renditeverbesserung, die theoretisch durch den partiellen Systemwechsel hätte erreicht werden können, teilweise oder sogar gänzlich wieder verloren gegangen. Gleichwohl wurde in den amtlichen und offiziösen Rechnungen, mit denen diese Reformen begründet worden sind und mit denen der erwünschte positive Renditeeffekt nachgewiesen werden sollte, entgegen dem Inhalt der Reformgesetze unterstellt, dass die gesamte Beitragsentlastung im Umlagesystem einschließlich der Entlastung der Arbeitgeber in die freiwillige Altersvorsorge der Arbeitnehmer einfließt (Sachverständigenrat 2001, Ziffer 28, Nachhaltigkeitskommission 2003, S. 108 ff.). Folglich beruhen die rotgrünen Reformgesetze, was die Entwicklung der Renditen betrifft, auf irreführenden und manipulativen Berechnungen. 5. Das wohlverstandene Eigeninteresse der Generationen Begreift man Generationengerechtigkeit als Gleichheit oder Angleichung der Rendite für alle Generationen, dann ist diese Forderung, wie die Befunde gezeigt haben, im eigentlichen Sinne nicht erfüllbar, weder durch die üblicherweise empfohlenen Sanierungsschnitte in der umlagefinanzierten Rentenversicherung, noch durch partiellen oder gar völligen Systemwechsel zum Kapitaldeckungssystem. Aus dem Prinzip der als Renditegerechtigkeit verstandenen Generationengerechtigkeit können demnach die gegenwärtig praktizierten Rentenreformen nicht oder jedenfalls nicht mit hinlänglicher Sicherheit gerechtfertigt werden. Oben wurde dargestellt, dass dasjenige umlagefinanzierte Rentensystem für alle beteiligten Generationen die günstigste Rendite erbringt, das den höchsten

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Beitragssatz erfordert, den künftige Generationen gerade noch zu tragen bereit sind. Wenn es legitim ist, dass jede Generation eine möglichst gute Verzinsung ihrer Beiträge erreichen möchte, dann lassen sich aus den Befunden folgende Regeln ableiten: 5.1 Jede Beitragszahlergeneration sollte im wohlverstandenen Eigeninteresse das umlagefinanzierte Rentensystem mit möglichst günstiger Dynamik fortsetzen, denn je höher Dynamik ist, desto besser verzinsen sich ihre eigenen Beiträge. 5.2 Die Rentendynamik, die sich eine Beitragszahlergeneration im Interesse ihrer eigenen Rendite für die Zukunft wünscht, muss sie auch ihrer Elterngeneration gönnen. Denn in dem Umfang, in dem die laufenden Renten wachsen, steigen auch die Anwartschaften der Erwerbstätigen. 5.3 Die Rentendynamik darf jedoch den künftigen Beitragssatz nicht so weit steigen lassen, dass die Nachfolgegenerationen veranlasst werden, ihre Verpflichtungen nicht zu erfüllen. Es gibt also einen kritischen Grenzwert für den Beitragssatz, der allerdings, da er von der Beurteilung durch spätere Generationen abhängt, aus heutiger Sicht unbekannt ist.

6. Generationengerechtigkeit als Problem von Vertrauen und Solidarität Das Kalkül, nach dem die Fortsetzung des Umlagesystems mit möglichst hoher Rendite im wohlverstanden Interesse aller Erwerbstätigengenerationen liegt, hat eine Achillesferse: es gilt nur für eine Generation als Ganzes, nicht aber für das einzelne Individuum aus dieser Generation. Den einzelnen Versicherten kann es durchaus günstiger erscheinen, aus der Versicherungspflicht entlassen zu werden und individuell für das Alter vorzusorgen, denn sie müssen weder die Übergangskosten, noch die gesamtwirtschaftlichen Probleme eines Systemwechsels einkalkulieren. Auch können sie die kollektive Solidarität unter der Prämisse aufkündigen, dass alle anderen die Solidarität aufrecht erhalten. Damit ist der entscheidende Punkt benannt: Generationengerechtigkeit ist im Kern kein Renditeproblem, sondern ein Problem des Vertrauens in die Solidarität der Folgegenerationen. Obwohl die Renditen bei steigender Alterslast zwangsläufig von Generation zu Generation abnehmen, hat keine Beitragszahlergeneration Grund, sich ungerecht behandelt zu sehen und deshalb ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Eltern aufzukündigen, so lange sie ihrerseits sowohl auf die Solidarität innerhalb ihrer eigenen Generation, als auch auf die ihrer Kinder und Kindeskinder vertrauen kann. Dass aber Solidarität und Vertrauen – nicht zuletzt wegen der bereits erreichten Beitragshöhe – im erforderlichen Umfang nicht mehr bestehen, ist offenbar

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das Zentralproblem, das sich hinter der Forderung nach Generationengerechtigkeit bzw. der „gefühlten“ Ungerechtigkeit des Rentensystems verbirgt. Drei Umstände haben in besonderer Weise das Vertrauen untergraben: – Je höher und je schneller der Beitragssatz im Umlageverfahren ansteigt und je ungünstiger sich die Nettoreallöhne entwickeln, desto geringer wird das Vertrauen in die Vertragstreue der Folgegenerationen. – Je höher der Beitragssatz im Umlagesystem ist, desto eher erscheint die individuelle Exit-Option als vorteilhaft und desto geringer wird die Bereitschaft zur Solidarität innerhalb der Generation. – Die Reformgesetze von 2001 und 2004 haben die zentralen Leistungsversprechen des herkömmlichen Rentensystems von 1957 – nämlich Sicherung des Lebensstandards und Schutz vor Altersarmut – nicht nur in Frage gestellt, sondern offiziell und ausdrücklich zurückgenommen. Damit aber wurde der Pflichtversicherung in diesem System substantiell die Legitimationsgrundlage entzogen. – Hinzu kommt, dass das 1957er Rentensystem in gewisser Weise besonders anfällig für Vertrauenskrisen ist, wenn die Alterslast zunimmt und der Beitragssatz steigt. Denn die starke Betonung der individuellen Beitragsäquivalenz fördert das auf den individuell kalkulierbaren Vorteil zielende Renditedenken, auch wenn die deutsche Rentenversicherung im juristischen Sinne niemals den finanzmathematischen Gegenwert der Beiträge, sondern immer nur Anteilsgerechtigkeit versprochen hat (vgl. Dallinger 2005).

7. Perspektiven für die Politik Die Herausforderung an die Politik kann nicht darin bestehen, die Rendite für die jüngeren und künftigen Beitragszahler zu verbessern – was ohnehin nur in äußerst beschränktem Umfang möglich ist –, sondern an den Ursachen anzusetzen, d.h. Solidarität und Vertrauen wieder herzustellen. Ganz offensichtlich hat die Reformpolitik des bisherigen Stils dieses Problem nicht nur nicht gelöst, sondern verschärft. Auf der anderen Seite hilft auch das Beharren auf dem Status quo nicht weiter, erst recht nicht die Rückkehr auf den Stand vor den rotgrünen Rentenreformen. Die Festigung der kollektiven Solidarität und die Wiederherstellung der Vertrauensbasis erfordert einen größeren Umbau des Alterssicherungssystems. Mit mehr oder weniger willkürlichen Kürzungsmaßnahmen innerhalb bestehender Strukturen, die mit halbherziger Förderung der Privatvorsorge kombiniert werden, ist es nicht getan. Vielmehr muss, wenn der Beitragssatz im Umlagesystem begrenzt und zusätzliche Kapitalvorsorge für die Alterssicherung nutzbar

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gemacht werden soll, das Umlagesystem selbst grundsätzlich umgestaltet werden. Das ergibt sich aus einer ganz einfachen Überlegung: – Der Beitragssatz muss begrenzt werden, damit die Solidaritäts- und Vertrauensbasis bei wachsender Alterslast nicht überstrapaziert wird5. – Kann der Beitragssatz nicht so weit steigen, wie er eigentlich müsste, um das erforderliche Rentenniveau aufrecht zu erhalten, dann wird es, wenn im Übrigen das bestehende System unverändert weitergeführt wird, im unteren Einkommensbereich unweigerlich zu verbreiteter Altersarmut kommen. – Um dies zu verhindern, muss in der Rentenversicherung nicht nur das (seit 1997 deutlich zurückgedrängte) Element des sozialen Ausgleichs wieder verstärkt, sondern darüber hinaus das Äquivalenzprinzip zugunsten einer intragenerativen Einkommensumverteilung modifiziert werden. – Gibt es – entgegen dem bisher gültigen Grundprinzip – innerhalb der Rentenversicherung eine intragenerative Einkommensumverteilung, dann dürfen weder der zahlungspflichtige Personenkreis auf die abhängig Beschäftigten, noch die Beitragsbemessungsgrundlage auf die (nur bis zu einer bestimmten Höhe berücksichtigten) Arbeitslöhne beschränkt werden. Der Generalnenner einer solchen Umgestaltung wäre also die Verbreiterung der Solidaritätsbasis. Diese Überlegungen, die hier nicht weitergeführt werden können, könnten z. B. in Richtung auf ein zweistufiges Umlagesystem gehen, das aus einer Solidarkomponente und einer Versicherungskomponente besteht. Eine beitragsfinanzierte einkommensunabhängige Basisrente für die gesamte Wohnbevölkerung mit möglichst umfassender Beitragsbemessungsgrundlage und entsprechend niedrigem proportionalen Beitragssatz würde dann für die abhängig Beschäftigten durch eine obligatorische einkommensbezogene Zusatzversicherung ergänzt. Während das Basisrentensystem weiterhin einkommensdynamisch (z. B. nettolohnbezogen) ausgestaltet werden sollte und bei wachsender Alterslast ggf. mit Hilfe von Verbrauchssteuern zusätzlich subventioniert werden muss, wäre für die umlagefinanzierte Zusatzversicherung ein zeitlich konstanter Beitragssatz zu erwägen. Eine beitragsfinanzierte Basisrente mit starker intragenerativer Umverteilungskomponente liegt zweifellos außerhalb der deutschen Sozialrechtstraditionen, hat sich aber in der Schweiz und in den Niederlanden durchaus bewährt. Das Äquivalenzprinzip, das seit der Rentenreform von 1957 eine überragende 5 Dass steigende Beitragssätze zur Rentenversicherung ein Akzeptanzproblem sind, hat nichts mit der landläufigen Einschätzung zu tun, hohe „Lohnnebenkosten“ seien als solche für Wachstum und Beschäftigung schädlich, wenn nicht gar eine Hauptursache der hohen Arbeitslosigkeit. An dieser Vorstellung, die sich hauptsächlich durch völlige Vernachlässigung makroökonomischer Zusammenhänge auszeichnet, ist kaum etwas Richtiges, weshalb sie hier auch nicht weiter berücksichtigt wird (vgl. jedoch z. B. Bontrup 1998).

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Bedeutung hat, wäre weitgehend relativiert und hätte nur noch in der individuellen Zusatzsicherung der abhängig Beschäftigten Bedeutung. Dafür gewährleistet eine solche, für Deutschland fremdartige Konstruktion eine klare Trennung von Äquivalenz und Solidarität und ist deshalb wesentlich besser geeignet, Vertrauen wieder herzustellen. Der Vorteil einer beitragsfundierten Basissicherung gegenüber steuerfinanzierten Modellen liegt in der Eigenständigkeit der Finanzierungsquellen und in der größeren Unabhängigkeit von der staatlichen Haushaltspolitik. Beim Übergang zu einem zweistufigen System gibt es natürlich schwierige Übergangsprobleme, die aber nach einem relativ einfachen Grundprinzip lösbar sind: Wenn nämlich alle Einkommensbezieher auf ihr gesamtes Einkommen Beiträge in eine allgemeine Basisversicherung einzahlen, dann gibt es in der Aufbauphase eines solchen Systems Beitragsüberschüsse, aus denen der notwendige Bestandsschutz für alte Ansprüche finanziert werden kann; dies ist übrigens ein wichtiges Argument dafür, dass ein System der Basissicherung beitrags- und nicht steuerfinanziert sein muss. Mit solchen Reformen wird zugegebenermaßen die Generationengerechtigkeit im Sinne der Renditegerechtigkeit rechnerisch nicht verbessert. Käme es allein darauf an, so wäre – ganz im Gegenteil zu den Absichten, welche die Wortführer des aktuellen Diskurses verfolgen – die unveränderte Fortführung des bestehenden Umlagesystems mit möglichst hohen Rentensteigerungen vorzuziehen. Entscheidend ist aber, dass die Erosion von kollektiver Solidarität und Vertrauen (Generationenvertrauen) beendet werden muss, auf deren Hintergrund der Streit um Generationengerechtigkeit überhaupt erst entstanden ist. Die Reformpolitik bisherigen Stils reicht jedenfalls nicht aus, das Vertrauen wieder herzustellen. Zu einer grundlegenden Umgestaltung des Alterssicherungssystems, die sowohl auf der Finanzierungs- als auf der Leistungsseite die Solidaritätsbasis wesentlich verbreitert, gibt es demnach gar keine wirkliche Alternative, es sei denn man überlässt das, was vom 1957er Rentensystem übriggeblieben ist, einem desolaten Schicksal.

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Börsch-Supan, A. (2003): Zum Konzept der Generationengerechtigkeit. Paper vom 17.06.2003. http://www.boersch-supan.de. Bontrup, H.-J. (1998): Zur Diskussion zu hoher Lohnnebenkosten. Gewerkschaftliche Monatshefte, 12, 773–785. Dallinger, U. (2005): Generationengerechtigkeit – die Wahrnehmung in der Bevölkerung. Politik und Zeitgeschichte, 8, 182–187. Ebert, T. (2005): Generationengerechtigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung – Delegitimation des Sozialstaates? Düsseldorf. Generationengerechtigkeit (2004): Generationengerechtigkeit – Inhalt, Bedeutung und Konsequenzen für die Alterssicherung. Jahrestagung 2003 des Forschungsnetzwerkes Alterssicherung (FNA) am 4. und 5. Dezember in Erfurt. DRV-Schriften, 51, Frankfurt. Hauser, R. (2004): Generationengerechtigkeit, Volksvermögen und Vererbung. Zur Zukunftsfähigkeit der umlagefinanzierten Rentenversicherung. In: Generationengerechtigkeit (2004), 794–104. Nachhaltigkeitskommission (2003): Kommission „Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme“ („Rürup-Kommission“). Bericht der Kommission. Berlin. Nell-Breuning, O. von (1981): Drei Generationen in Solidarität – Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan. In O. von Nell-Breuning/C. G. Fetsch (Hrsg.), Drei Generationen in Solidarität – Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan (S. 27– 42). Köln. Nullmeier, F. (2004): Generationengerechtigkeit – aus politikwissenschaftlicher Sicht. In: Generationengerechtigkeit (2004), 65–73. Sachverständigenrat (2001): Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Für Stetigkeit – Gegen Aktionismus. Jahresgutachten 2001/02, Wiesbaden, Ziffer 248. Schmähl, W. (2002): Leben die „Alten“ auf Kosten der „Jungen“. Anmerkungen zur Belastungsverteilung zwischen „Generationen“ in einer alternden Bevölkerung aus ökonomischer Perspektive. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 35/4, 304– 314. – (2003): Wem nutzt die Rentenreform? Offene und versteckte Verteilungseffekte des Umstiegs zu mehr privater Altersversorgung. Die Angestelltenversicherung, 7, 1– 15. Tremmel, J. (2003): Generationengerechtigkeit – Versuch einer Definition. In Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.), Handbuch Generationengerechtigkeit (S. 27–78). München.

Ist Gesundheit ein Grundgut – und welche gesundheitspolitischen Implikationen hätte dies? Torsten Sundmacher

1. Intention Das in der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland (GKV) Reformbedarf besteht, wird weitgehend anerkannt. Die diskutierten Maßnahmen bewegen sich dabei zwischen Rationalisierung (wie z. B. durch ,Hebung von Ineffizienzreserven‘), Rationierung (Herausnahme „versicherungsfremder Leistungen“ oder andere Leistungskürzungen) und Finanzierung (Ausweitung der Versichertenkreises und/oder der Beitragsbemessungsgrundlage). Die Auseinandersetzung um die Finanzierung hat lange Zeit die Diskussion beherrscht und wird dies wohl auch noch einige Zeit tun; die wirklich entscheidende Reformbaustelle ist dies aber nicht (Müller/Sundmacher 2006). Das Rationalisierung durch ,mehr Wettbewerb ins System‘ erreicht werden könnte, darüber besteht inzwischen weitgehende Einigkeit (wenn auch nicht klar ist, wie die Wettbewerbsimplementierung gelingen soll). Vorhaben zur Rationierung hingegen werden häufig sehr emotional diskutiert, ohne dass bisher auf der wissenschaftlichen und erst recht nicht auf der politischen Ebene ein zu beschreitender Weg erkennbar wäre. Die bisherige Rationierungsdebatte hängt dabei sehr eng zusammen mit der Ausgestaltung von Verteilungsaspekten in der GKV. Aber auch die Ausgestaltung von Verteilung hat bisher bei Diskussionen um Reformen eine eher untergeordnete Rolle gespielt, obwohl Verteilungsaspekte real für die GKV sehr bedeutsam sind. Zu denken ist z. B. an die versicherungsspezifische Umverteilung von Gesunden zu Kranken, die Umverteilung durch die Versicherungspflicht in der GKV,1 die Umverteilung von Mann zu Frau (aufgrund des geschlechtsinvarianten Beitragssatzes), jene von Kinderlosen zu denjenigen mit Kindern (durch die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern) und an die von Arbeitnehmern zu Rentnern (aufgrund von Beitragssatz- und Ausgabeneffekten). Die Ausgestaltung der Umverteilung in der GKV weist dabei einige erhebliche Probleme auf. Zu diesen gehört erstens, dass die Umverteilungswirkungen nicht immer sehr transparent sind. So ist es durchaus umstritten, ob es tatsächlich einen Nettotransfer in Richtung Familien mit Kindern gibt. Gegen die bei1

Zur gerechtigkeitstheoretischen Diskussion vgl. z. B. Dworkin 1981a, b.

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tragsfreie Mitversicherung in der GKV, die ,in die richtige Richtung‘ wirkt, stehen z. B. entgangene Aufstiegschancen durch die Pflege von Kindern. Ein zweiter Problemkreis, der sich hier anschließt, bezieht sich auf die Gründe der vorzufindenden Umverteilung. So ist es durchaus nicht klar, ob die Umverteilungsrichtung immer so gewollt ist oder ob sie sich eher zufällig ergeben hat. Dies betrifft z. B. die Umverteilung zu Gunsten von Rentnern und zu Lasten zukünftiger Generationen. Der dritte Problemzusammenhang betrifft schließlich die rationale Bewertung der Umverteilungen. So lässt sich beim Beispiel der Lastenallokation zwischen Berufstätigen und Rentnern durchaus argumentieren, dass es sich bei der GKV nicht um einen einfachen, durch GKV-Zahlungsströme darstellbaren Generationenvertrag handelt. Vielmehr ,erben‘ die zukünftigen Generation nicht nur finanzielle Lasten, sondern auch zusätzlichen Nutzen z. B. in Form des heute erzeugten medizintechnischen Fortschritts. Insofern kann ein negatives Generationenkonto der Zahlungsströme durchaus einhergehen mit einer positiven Bewertung der gesamten Entwicklung, ohne dass die Umverteilung bei den Zahlungsströmen ein echtes Umverteilungsproblem darstellt. Aufgrund dieser erkennbaren Unterbelichtung der Diskussion von Umverteilungsaspekten insbesondere im Zusammenhang mit einer Ausgestaltung von Rationierung in der GKV wird hier ein Systematisierungsversuch unternommen. Konkret wird ausgehend vom Rawlsschen Grundgüterkonzept geprüft, wie Rationierung in der GKV unter Anwendung dieses Konzepts aussehen könnte und welche Verteilungsfolgen hieraus resultierten. Besonders in den Blick genommen wird dabei die Ausgestaltung des Leistungskatalogs. Im ersten Schritt (Kapitel 2.) wird der Rationierungszusammenhang in der GKV beleuchtet – was wird unter Rationierung verstanden, wie lässt sie sich begründen und mit welchen Verfahren lässt sich Rationierung erreichen? Kapitel 3. widmet sich der begrifflichen Bestimmung von Grundgütern und operationalisiert sie mit dem Ziel, Gesundheitsgrundgüter identifizieren zu können. Im nächsten Schritt (Kapitel 4.) werden die entwickelten Prüfkriterien auf Gesundheitsgüter angewendet. Als Ergebnis zeigt sich, dass zumindest Bereiche identifiziert werden können, in denen Gesundheitsgrundgüter zu erkennen sind. Kapitel 5. prüft am Beispiel von Gesundheitsgrundgütern im Feld der Prävention, welche Verteilungswirkungen durch bisherige Präventionsmaßnahmen vorliegen und stellt sie der Verteilung nach dem Rawlsschen Unterschiedsprinzip gegenüber, dass dieser für die Verteilung von Grundgütern vorgeschlagen hat. Zur Beseitigung erkennbarer Differenzen wird die Eignung einiger gesundheitspolitischer Instrumente diskutiert. Der Beitrag schließt in Kapitel 6. mit einem Ausblick auf die aus der Grundgüterdiskussion folgende Reformagenda.

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2. Rationierung – ist eine Ausgestaltung des Leistungskatalogs der GKV generell notwendig? Wenn in der GKV alle sinnvollen medizinischen Leistungen für alle, zu jeder Zeit und im jeweils gewünschten Umfang verfügbar wären, ohne dass andere durch die Bereitstellung schlechter gestellt würden, gäbe es kein Problem mit einer Rationierung, da keine Rationierung notwendig wäre. Entsprechend wären auch Überlegungen überflüssig, welche Gesundheitsleistungen Grundgüter sind und aus Gründen der distributiven Gerechtigkeit oder der Chancengleichheit auf jeden Fall durch den Staat (hier: durch das GKV-System) bereitgestellt werden sollten. Einen solchen rationierungsfreien Zustand gibt es aber gegenwärtig nicht, es hat ihn bei einem weiten Rationierungsverständnis auch früher nicht gegeben und es wird ihn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zukünftig erst recht nicht geben. Somit ist es notwendig, sich Gedanken darüber zu machen, wie Rationierung in der GKV erfolgen soll. Das Konzept der Grundgüter kann hierzu Anhaltspunkte geben.

2.1 Rationierungsbegriff

Im ersten Schritt ist zu klären, welches Verständnis von Rationierung zu Grunde gelegt wird. Hierbei lässt sich grob ein enges von einem weiten Verständnis unterscheiden. Rationierung im engeren Sinne bedeutet, dass ein Nachfrager trotz genereller Zahlungsbereitschaft nicht zum Zuge kommt. Der Grund hierfür kann a) sein, dass die Bereitstellung zu einem niedrigeren als dem markträumenden Preis erfolgt (z. B. Kliemt 2003). Da nun die Nachfrage größer ist als das Angebot, sind andere Allokationsverfahren als der via Preismechanismus wirkende Markt notwendig. Wenn der Kranke dem Arzt nicht zahlen kann was er will, kann der Leistungserbringer (oder Dritte) die Behandlung der Kranken z. B. mit Hilfe der Allokationsverfahren Bedürftigkeit, Warteliste, Lotto oder persönliche Beziehungen organisieren. Der Ausschluss bzw. die Einschränkung der Bedeutung der individuellen Zahlungsbereitschaft resultiert dabei z. B. daraus, dass der Kranke sich eine private Zahlung nicht mehr leisten kann, da er Pflichtbeiträge zur GKV zahlen muss. Oder aber er kann seine Zahlungsbereitschaft nicht bekunden, da die maximale Zahlungshöhe (wie in der Gebührenordnung für Ärzte: GoÄ) staatlich festgelegt ist. Ein Fall b), der zu Rationierung im Sinne einer Beschneidung der Funktion von Zahlungsbereitschaften führt, ist die ,künstliche‘ Verknappung bis hin zum Verbot der Bereitstellung von Leistungen. Dies kann begründet werden z. B. mit Gesundheits- oder Verbraucherschutzinteressen. In diesem Fall sind keine zusätzlichen Allokationsverfahren notwendig, da der erhöhte Preis die Nachfrage unter das marktübliche Niveau senkt. Wohl aber können Parallelmärkte entstehen (wie sie z. B. beim Zigarettenschmuggel sichtbar sind), auf denen die Ratio-

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nierung umgangen wird. Dieser Fall von Rationierung wird hier (und meist auch in der Literatur) nicht im Rahmen einer Rationierungsdiskussion behandelt. Wichtig hervorzuheben ist, dass solch ein Vorgehen durchaus auch bei einigen medizinischen Leistungen sinnvoll sein kann, bei denen der Nutzen weit geringer ist als der Schaden, den sie anrichten können. Dabei können sehr unterschiedliche Instrumente zum Einsatz kommen, die von haftungsrechtlichen Regelungen bis hin zur staatlichen Einzelfallprüfung reichen können. In Fall a) und in Fall b) würde der generelle Einsatz des Allokationsverfahrens Markt dazu führen, dass Rationierung überflüssig wird. Marktliche Allokation ist somit in diesem Verständnis keine Rationierung, sondern – besonders im Fall a) – löst die Probleme einer Pflichtversicherung, die nach Bedürftigkeit umverteilt. Rationierung im weiteren Sinne ist ein generelles Phänomen bei knappen Ressourcen und unendlichen Bedürfnissen. In diesem Fall kommt es zu einer unvollständigen Befriedigung von Bedürfnissen, so dass Bedürfnisse rationiert werden. Somit ist Rationierung ein mehr oder weniger durchgängiges Phänomen; zumindest aber zeigt die Alltagserfahrung, dass diese Knappheit von Ressourcen weit verbreitet ist. Jedes Allokationsverfahren – auch der Markt – stellt dann eine Möglichkeit dar, zu rationieren. Insofern stellt sich sehr häufig nicht die Frage, ob rationiert werden soll; vielmehr geht es lediglich um die Auswahl eines geeigneten Allokationsverfahrens. Im Folgen wird Rationierung überwiegend in diesem weiten Verständnis verwendet und auf die Ausgestaltung der Leistungsseite der Gesetzlichen Krankenversicherung angewendet.

2.2 Rationierungsbegründung

Sowohl im engen wie erst recht im weiten Begriffsverständnis besteht in der GKV eine Rationierungsnotwendigkeit, so dass Allokationsverfahren eingesetzt werden müssen, um knappe Ressourcen (medizinischen) Leistungen zuzuteilen. Generell kann sich eine solche Knappheit in unterschiedlicher Weise äußern. Im Folgenden werden drei Fälle von (möglicher) Knappheit diskutiert, die u. U. eine (stärkere) Rationierung im Gesundheitssystem begründen können: dies ist erstens Knappheit, die sich vielleicht in der Beitragssatzentwicklung der GKV zeigt, zweitens kann Knappheit generell durch unendliche Bedürfnisse nach medizinischen Leistungen bei endlichen Ressourcen entstehen und drittens ist Knappheit eine Folge eines Pflichtversicherungssystems. Besonders wichtig in der politischen Diskussion ist die Beitragssatzentwicklung der GKV. Politisch ist ein weiterer ungebremster Beitragssatzanstieg nicht durchsetzbar, so dass stärkere Rationierung als eine Lösung der Anstiegsdynamik intensiv diskutiert wird. Hier muss jedoch näher hingeschaut werden. Denn ohne weiteres folgt aus einem Beitragssatzanstieg kein Grund für eine (stärkere)

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Rationierung. Für die derzeitige Situation ist festzuhalten, dass der BIP-Anteil der GKV-Ausgaben in den letzten Jahrzehnten weitgehend konstant war (Cassel/Postler 2003). Eine Finanzierung der GKV über eine Besteuerung, die eine Steuerbasis verwendet, die sich wie das BIP entwickelt, hätte also zu nur sehr geringen Beitragssatzanstiegen geführt. Die tatsächliche Finanzierung der GKV setzt aber am Einkommen abhängig Beschäftigter an, deren Anzahl bzw. Leistungsfähigkeit sich unterproportional entwickelt hat. Somit kann argumentiert werden, dass diese Finanzierungsausgestaltung im Wesentlichen das Beitragssatzproblem verursacht hat, so dass hier von einem Einnahmeproblem gesprochen werden kann. Hinzu kommt, dass auf der Ausgabenseite deutliche Qualitätsverbesserungen erzielt worden sind bei gleichzeitig stark unterdurchschnittlicher Preisentwicklung für medizinische Leistungen im Vergleich zu anderen Warenkörben (vgl. z. B. Krämer 1993). Zunehmende Mengen an medizinischen Leistungen und verbesserte Qualitäten bei gleichzeitig stabilem Anteil der GKV-Ausgaben am BIP lassen somit zunächst einmal keine Notwendigkeit einer stärkeren Rationierung erkennen. Zukünftig könnte dies allerdings anders sein – dann ist ein deutlicher Ausgabenanstieg aufgrund des demografischen Wandels möglich. Dieser könnte dazu führen, dass auch der BIP-Anteil der GKV sehr deutlich wächst (vgl. Postler 2003). In diesem Fall würden zwei Effekte zusammenwirken: ein zukünftig 80-Jähriger führte dann zu höheren Ausgaben als eine gleich alte Person heute (Versteilerung des Ausgabenprofils) und gleichzeitig steigt die Anzahl bzw. der Anteil der 80-Jährigen (Altersstruktureffekt). Diese Versteilerung des Ausgabenprofils ist aber kein ,Naturgesetz‘, sondern von vielen institutionellen Regelungen abhängig (vgl. Postler/Sundmacher 2006). Je nach institutioneller Ausgestaltung sind unterschiedliche Zusammenhänge zwischen demografischem Wandel und Ausgabenentwicklung einer (sozialen) Krankenversicherung möglich. So kann die Medikalisierungsthese (Verbrugge 1984) zutreffen, die die beschriebene Versteilerung des Ausgabenprofils postuliert (wenn z. B. der medizintechnische Fortschritt vor allem Produkte für Alte hervorbringt, die von den Versicherungen anstandslos bezahlt werden). Es kann aber auch der Gegenentwurf, die Kompressionsthese (Fries 1980), richtig sein, die annimmt, dass die gewonnenen Lebensjahre durch die Alterung von oben gesund verbracht werden (da z. B. Prävention das Auftreten kostenträchtiger Alterserkrankungen verhindert). Oder es ist auch möglich, dass die Nähe zum Tod (Fuchs 1984) ein wichtiger Kostentreiber ist (wenn z. B. starke Anreize zur intensivmedizinischen Versorgung vieler Sterbender besteht) und somit die Alterung keine Versteilerung des Ausgabenprofils zur Folge hätte. Insgesamt sind somit Fälle möglich, in denen die zukünftige Entwicklung das Rationierungsproblem in der GKV verschärft, auch wenn dies nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Unabhängig von diesen unterschiedlichen möglichen Zusammenhängen zwischen demografischem Wandel und Ausgaben ist allerdings festzuhalten, dass

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erhebliche Rationalisierungsreserven im System bestehen, die ausgabensenkend wirken können. Mangelnde Effizienz in statischer Perspektive besteht in vielen Bereichen der Steuerung von Leistungserbringern. Aber auch andere Formen der Ressourcenverschwendung führen zu einer ineffizienten Allokation von Einnahmen der GKV. So trägt z. B. die fehlende Compliance von Patienten im Umfang mehrerer Milliarden e zu den Kosten der GKV bei (zu Maßnahmen zur Compliance-Verbesserung vgl. Sundmacher 2006). Vermeidet man solche Ineffizienzen bei gleich bleibender Qualität der Versorgung, ergeben sich als Einmaleffekt Ausgabensenkungen. Die demografische Entwicklung zusammen mit einem in bestimmte Richtungen wirkenden medizintechnischen Fortschritt kann allerdings diesen Einmaleffekt aufzehren. Insofern kommt der Verbesserung der (häufig übersehenen; siehe z. B. Breyer 2002, S. 15) dynamischen Effizienz eine große Bedeutung zu. In einem angemessenen Wettbewerbsrahmen kann durch Implementierung von Wettbewerbsprozessen dort, wo dies im Gesundheitssystem möglich ist, der medizintechnische Fortschritt in Richtung einer effizienten Versorgung ausgerichtet werden. Dies verringert die stark kostentreibenden Effekte seiner bisherigen Orientierung in Richtung Produktinnovationen. Diese Ausrichtung, wie sie im gegenwärtigen Gesundheitssystem vorzufinden ist, ist somit ebenso wenig wie die zuvor diskutierte Versteilung des Ausgabenprofils ,naturgesetzlich‘, sondern ein Resultat der institutionellen Ausgestaltung. Einzelleistungsvergütung und nur wenig restriktive Negativlisten zur Bestimmung des Umfangs des Leistungskatalogs sind in Deutschland einige der Faktoren, die teuere Produktinnovationen bisher für Hersteller und Leistungserbringer so attraktiv gemacht haben. In dieser Entwicklung des medizintechnischen Fortschritts vor allem in Richtung einer Zunahme der medizinischen Leistungsfähigkeit liegt auch der wesentliche Grund dafür, dass die Rationierungsdiskussion in modernen Gesundheitssystemen eine so große Rolle spielt. Die Medizin vor 50 Jahren war in ihrer Leistungsfähigkeit so beschränkt, dass sie in politischer Perspektive problemlos bezahlbar war.2 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass zukünftig die Rationierungsanforderungen in der GKV steigen können, wenn die institutionelle Ausgestaltung hier nicht gegensteuert. Der derzeitig zu beobachtende Beitragssatzanstieg hat jedoch überwiegend einnahmeseitige Gründe – eine Erhöhung der Rationierungs2 Hinzuweisen ist darauf, dass die erhöhte Leistungsfähigkeit der Medizin nicht gleichbedeutend sein muss mit einer Qualitätsverbesserung für den Patienten – die neue Leistungsfähigkeit kann durchaus auch zu größerem Leid führen. Ein Beispiel hierfür sind Verfahren der Prostatakrebserkennung. Aufgrund verbesserter Diagnosemöglichkeiten wird nun sehr viel häufiger operiert, ohne dass dies a) immer notwendig ist (z. B. da dieser vergleichsweise harmlose Krebs in der erwarteten Restlebenszeit nicht tödlich sein wird) oder b) sogar zur Verschlimmerung der Lage des Patienten führt (die Streuung des Krebses wird gefördert, der Patient muss mit den möglichen Operationbeeinträchtigungen wie Inkontinenz leben) (vgl. Parker u. a. 2006).

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anforderung ist in dieser Situation kein zwangsläufiges Mittel zur Korrektur dieser Entwicklung. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der GKV, ihrem Finanzierungsverfahren und ihrer (unzureichenden) Steuerung des Leistungsgeschehens besteht ein genereller Grund zur Rationierung: Der Fall beschränkter Ressourcen bei unendlichen Bedürfnissen ist auch für medizinische Leistungen wahrscheinlich. Unendliche Bedürfnisse als Standardannahme über menschliches Verhalten in der ökonomischen Theorie können bei der Nachfrage nach konkreten medizinischen Leistungen zwar nicht immer beobachtet werden – die individuelle Nachfrage nach einer Blinddarm-Operation ist im Regelfall endlich mit der Menge 1. Eine solche Beschränktheit des Wunsches nach Konsum von Gesundheitsleistungen kann z. B. auch begründet sein mit (Opportunitäts-)Kosten des Konsumenten beim Konsum dieser Leistungen. Hierzu zu zählen sind Risiken der sowie Schmerzen bei der Behandlung. Eine solche Beschränktheit der Nachfrage nach einer konkreten Leistung gilt jedoch auch für viele andere Güter. Für Gesundheitsleistungen im generellen gilt eine Endlichkeit der Bedürfnisse schon aufgrund der umfangreichen Produktinnovationen, die latente Bedürfnisse ,realisieren‘, sicher nicht. Zumindest unter den Bedingungen einer modernen Medizin mit einem großen Arsenal an Instrumenten zur Kurration (und einer kleineren, aber wachsenden Sammlung von Mitteln zur Prävention) ist eine generelle Knappheitssituation und somit auch die Notwendigkeit von Rationierung (im weiten Verständnis) sehr wahrscheinlich. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, also die GKV jetzt und zukünftig alle Wünsche nach medizinischer Leistung erfüllen kann, so ist zu bedenken, dass es sich bei der GKV um eine Zwangsveranstaltung handelt. Diejenigen, die der Versicherungspflicht unterliegen, zahlen Zwangsbeiträge, die ein Teil von ihnen freiwillig nicht entrichten würden (z. B. da sie bei risikoadäquater Tariffierung in einer privaten Krankenversicherung weniger bezahlen würden). Insofern haben die Beiträge zur GKV in Teilen oder für Teile Steuercharakter. Daher bedarf es der Abwägung der negativen Wirkung des Zwangs mit den positiven Effekten einer Versicherungspflicht. Zu den positiven Aspekten zählt z. B. die Beseitigung von Marktversagen aufgrund von asymmetrischen Informationen, die zum Zusammenbrechen von Gesundheitsmärkten führen können. Negative Wirkungen des Zwangs sind neben Freiheitseingriffen z. B. das wohlfahrtsmindernde Ausweichverhalten Derjenigen, die von der Besteuerung betroffen sind. Hieraus resultierende Mengeneffekte führen wie bei jeder Besteuerung zu deadweight losses. Zusammengenommen gibt es somit gute Gründe für eine Rationierung (im weiten Sinne) in der GKV.

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Torsten Sundmacher 2.3 Rationierungsausgestaltung

Wenn rationiert werden muss, sollte dies möglichst sinnvoll geschehen. Eine solche rationale Ausgestaltung der Rationierung sollte dann die bisher häufig intransparenten, ad hoc entstandenen und wenig sinnvolle Allokationsverfahren einsetzenden Rationierungsverfahren ablösen. Hierbei kann zwischen einigen generellen Ausgestaltungsvarianten von Rationierung gewählt werden. Häufig diskutiert wird die Unterscheidung zwischen harter und weicher Rationierung. Harte Rationierung verweigert dabei generell eine bestimmte medizinische Leistung, so dass sie nicht nur die GKV nicht erstattet, sondern sie legal generell nicht erworben werden kann. Gründe hierfür können im Bereich Gesundheits- und Verbraucherschutz liegen oder auch auf ethischen Überlegungen beruhen. Hierunter fallen Gerechtigkeitsüberlegungen, die von einem Gleichverteilungsgebot des Zugangs zu medizinischen Leistungen ausgeht oder ethisch begründete Schranken medizinischen Handels, wie sie z. B. im Rahmen des Umgangs mit embryonalen Stammzellen diskutiert werden. Nachteile harter Rationierung sind, dass sie a) kaum durchsetzbar sein können (so dass sich andere Allokationsverfahren herausbilden (Schwarzmarkt) oder die Nachfrage im Ausland befriedigt wird). Weiterhin finden b) individuelle Präferenzen keine direkte Berücksichtigung. Dies ist bei mangelhafter Ausgestaltung der Rationierung (also z. B. einer fehlenden demokratischen Legitimierung der Ausgestaltung des Leistungskatalogs) besonders problematisch. Schließlich sind c) die Konsequenzen von Fehlentscheidungen bei der Rationierung besonders groß, da sie u. U. nur schwer umgangen werden können. Im Zusammenhang mit Rationierung in der GKV geht es – mit Ausnahme von Rationierung aufgrund von Gesundheits- und Verbraucherschutzgründen – immer um weiche Rationierung. Eine private Finanzierung ist somit zumindest legal möglich. Unterschieden werden kann weiterhin zwischen expliziter und impliziter Rationierung, zwischen Ebenen der Rationierungen (Makrorationierung, Mikrorationierung) sowie zwischen verschiedenen Formen der Legitimierung von Rationierung (z. B. durch Abstimmung (wie im Oregon-Experiment; vgl. Oberlander/ Marmor/Jacobs 2001) oder durch Experten (z. B. durch evidenzbasierte Medizin)). Diese drei Bereiche können dabei sehr eng zusammenhängen. So kann man sich darüber streiten, ob zu einem rationalen Rationierungssystem auch Transparenz über die Rationierung bis zur Ebene eines Einzelfalls gehören soll. Transparenz bei der Festlegung von Verfahren der Rationierung ist notwendig, auch damit die Verfahren demokratisch legitimiert werden können. Eine Transparenz über konkrete Rationierungen kann hingegen dazu führen, dass im Angesicht real betroffenen Menschen die Bereitschaft schwindet, überhaupt Rationierung durchführen zu wollen. Da es diese Alternative gar keine Rationierung durchzuführen allerdings für die Gesundheitssysteme nicht gibt, würde dies wie bisher auch dazu führen, dass Rationierung zwar vorgenommen wird, dies aber

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,unter der Hand‘, mit untauglichen Verfahren und nicht rationalen Ergebnissen erfolgt. Somit kann für die Etablierung einer rationalen Rationierung u. U. in gewissem Umfang ein ,Schleier‘ über den konkreten Rationierungsfolgen notwendig sein. Eine Variante eines solchen Schleiers besteht darin, nicht den fallweisen Zugang zu Gesundheitsleistungen zu rationieren (also z. B. Verbrennungsopfer ab einem bestimmten Schweregrad, der die Überlebenswahrscheinlichkeit stark senkt, nicht mehr zu behandeln). Statt dessen könnte die Rationierung darüber vorgenommen werden, dass bestimmte Leistungen durch eine ,Strukturrationierung‘ (oder „Makrorationierung“; Kliemt 2003) generell nur in einem bestimmten Umfang zur Verfügung stehen (also Klinikplätze für Schwerstbrandverletzte im Extremfall gar nicht erst gebaut werden) (vgl. Kremer 1993). Solche Rationierungen verschleiern zwar die Rationierungsfolgen, erkaufen diese allerdings auch i. d. R. mit einer ineffizienten Rationierung. So ist es durchaus möglich, dass im konkreten Einzelfall der Schwerstbrandverletzte eine sehr günstige Überlebenswahrscheinlichkeit hat (z. B., da ein passender Hautspender sofort greifbar ist), seine Behandlung aber aufgrund einer Strukturrationierung nicht erfolgen kann. Hier ist also abzuwägen zwischen der gewünschten Verschleierungswirkung einer Strukturrationierung (die auch den Einzelnen, der rationieren muss, entlastet und damit auch seine Kreativität zur Entwicklung von Umgehungsstrategien verringert) und den negativen Rationierungsfolgen aufgrund der fehlenden Abwägung des Einzelfalls. Die im Weiteren zu diskutierende Rationierung durch eine Ausgestaltung des Leistungskatalogs, die Gesundheitsgrundgüter berücksichtigt, ist eine weiche, explizite Rationierung auf der Makroebene, deren Form der Legitimierung im Folgen näher zu beleuchten ist. 3. Was sind Grundgüter? Eine Möglichkeit zur Legitimierung von Rationierung bei der Ausgestaltung des Leistungskatalogs einer Pflichtversicherung stellt die Anwendung von Grundgüterkonzeptionen dar. Da Grundgüter als für jeden notwendig angesehen werden, muss der Leistungskatalog der Pflichtversicherung zumindest diese Grundgüter enthalten, wenn sie nicht auf andere Weise für alle zur Verfügung gestellt werden. 3.1 Einordnung des Grundgüterkonzepts in die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls

Güter, denen generelle eine prioritäre Bedeutung zukommt, sind ein verbreitetes Konzept in der (Sozial-)Philosophie und auch in der Psychologie. Solche besonderen Güter werden z. B. bezeichnet als transzendente Güter, da sie die Bedingung der Möglichkeit für die Nutzenstiftung anderer Güter sind, als kon-

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ditionale Güter oder eben als Grundgüter. Es bestehen gewisse Ähnlichkeiten zu Hierarchien von Bedürfnissen und entsprechenden Gütern zu ihrer Befriedigung (klassisch: Maslow 1943) – bevor Bedürfnisse einer höheren Stufe entstehen, müssen diejenigen einer unteren Ebene erst in einem gewissen Umfang erfüllt sein (die Befriedigung von Primärbedürfnissen ist die Bedingung für Bedürfnisse höherer Ordnung). I.d.R. finden sich bei den sozialphilosophischen Ansätzen kaum Konkretisierungen des Grundgüterverständnisses oder Operationalisierungen, die zu ihre Unterscheidung von ,normalen‘ Gütern genutzt werden könnten. In der psychologischen Forschung existieren zwar solche ,Güterlisten‘ – ihre Unterschiede sind jedoch je nach Forschungsdesign sehr groß, so dass sie nicht verallgemeinerungsfähig zu sein scheinen (vgl. z. B. Frame 1996). Etwas konkreter als in der Sozialphilosophie sonst üblich wird der Grundgüterbegriff im Werk von John Rawls behandelt. Wesentliches Ziel von John Rawls ist die Entwicklung einer Gerechtigkeitstheorie, die zur Beurteilung (und Ausgestaltung) einer Gesellschaft (und hier z. B. des gesetzlichen Gesundheitssystems) verwendet werden kann. Generell sind bei der Diskussion von Gerechtigkeitstheorien drei Stufen, die in einer Abfolge stehen, zu unterscheiden: Wie ist der Entdeckungszusammenhang einer Gerechtigkeitstheorie? Dies betrifft insbesondere die Formen ihrer Entdeckung bzw. die Verfahren ihrer Begründung. Moralische oder religiöse Intuition, Pragmatismus, Expertenurteile oder Abstimmungsverfahren sind einige Möglichkeiten. Welche Inhalte haben Gerechtigkeitstheorien? Welche Vorschläge unterbreiten sie dafür, was gerecht sein soll? Dies schließt auch die Frage ein, welche Verteilung als gerecht gelten soll. Ist es eine, die sich ausschließlich aus der individuellen Leistungsfähigkeit ableitet, ist eine Gleichverteilung anzustreben oder soll sich die Verteilung an der Bedürftigkeit orientieren? Welchen Anwendungsbereich haben die Gerechtigkeitstheorien? Eine Gerechtigkeitstheorie kann sich auf vielfältige Objekte beziehen. Sie kann Freiheiten, Chancen, Grundgüter oder auch normale Güter betreffen. Weiterhin kann der Objektbereich kulturell eingeschränkt sein oder auch nur bestimmte Personengruppen betreffen. Hierauf aufbauend lässt sich die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls für die hier verfolgten Zwecke hinreichend genau charakterisieren. Der hier besonders interessierende Inhalt der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie besteht darin, eine Gesellschaft nur dann als gerecht anzusehen, wenn sie für eine hinreichende Ausstattung mit Grundgütern sorgt. Dies ist eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung, da noch andere ,Gerechtigkeitsobjekte‘ und Inhalte von Rawls berücksichtigt werden.

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Die Grundidee der Grundgüter bei Rawls ist, dass selbst Individuen, die sich fundamental in ihren Werten unterscheiden, gleiche grundlegende Bedürfnisse nach bestimmten Gütern haben. Grundgüter können daher als kleinster gemeinsamer Nenner für interpersonelle Vergleiche individueller Wohlfahrt dienen (Arneson 1992, S. 217). Das aus der Wohlfahrtstheorie bekannte Problem eines allwissenden Beurteilers kann damit entschärft werden. Dies gilt für den Vergleich von Gesellschaften – insofern ist das Rawlssche Konzept ein universalistisches, das zumindest für Grundgüter keine kulturelle Relativierung zulässt. Es gilt aber auch in Hinblick auf Entscheidungssituationen des Einzelnen, wie sie zentral sind für den Rawlsschen Urzustand. Dies ist der als Modell benutzte Entdeckungszusammenhang. Hier werden Personen hinter einen Schleier der Unwissenheit gesetzt, hinter dem sie insbesondere alles Wissen über ihre persönlichen Lebensumstände und ihre Stellung in ihrer Gesellschaft verlieren. Dieser Entdeckungszusammenhang der Gerechtigkeitstheorie in Form eines hypothetischen Gesellschaftsvertrags wird von Rawls später in Richtung einer stärkeren Betonung des (realen) gesellschaftlichen und politischen Diskurses ergänzt. Der hierbei (u. U.) sichtbar werdende „overlapping consens“ (Rawls 1992) in einer Gesellschaft muss abgeglichen werden mit dem Ergebnis (und somit: der Ausgestaltung) des Urzustands.3 Im Urzustand werden den Entscheidern von Rawls verschiedene Gerechtigkeitstheorien vorgelegt und sie entscheiden sich für diejenige, die ihnen vor allem anderen Freiheit (Vorrang der Freiheit), Chancengleichheit bei Positionen und Ämtern, die mit Ungleichheiten verbunden sind, und eine angemessene Verteilung der Ausstattung mit Grundgütern4 garantiert.5 Angewendet werden 3 Dieses ,Eintauchen‘ in Gefilde in der Nähe des naturalistischen Fehlschlusses, die als Rawls’ Antwort auf die kommunitaristische Kritik an der fehlenden Berücksichtigung von Kontexten (wie z. B. kulturellen Differenzen; zu Positionen, die Gerechtigkeit stärker in Bezug zu Kontexten bringen vgl. aus kommunitaristischer Sicht besonders Walzer 1983 und aus liberaler Perspektive z. B. Kliemt 1998) verstanden werden kann, hat ihm verschiedentlich Kritik insbesondere von Seiten universalistischer Ansätze eingebracht (vgl. z. B. Habermas 1995). 4 Rawls lässt sich auch so interpretieren, dass auch die Freiheiten sowie die Chancengleichheit bei Ämtern und Positionen, die mit Ungleichheiten verbunden sind, Grundgüter darstellen. Somit bezöge sich dann Rawls’ gesamten Überlegungen der Gerechtigkeitstheorie auf Grundgüter (vgl. Hinsch 1997, S. 1 f.) und für diese Grundgüter wären dann Vorrangverhältnisse (Freiheit vor dem ,Rest‘) und unterschiedliche Verteilungsverfahren (Freiheit und Chancen nach dem Gleichheitsgrundsatz, andere Grundgüter nach dem Unterschiedsprinzip) zu berücksichtigen. Da dieses Vorgehen eher zu Verwirrungen führt und bei Rawls Grundgüter auch in einem eingeschränkteren Sinn verwendet werden, wird hier im Weiteren der Grundgüterbegriff i. e. S. gebraucht. Zur theoretischen Ablehnung der ,Vermischung‘ von Freiheits- und Gerechtigkeitsaspekten vgl. auch Habermas 1996. 5 „Das Unterschiedsprinzip ist etwas sehr Spezielles: es bezieht sich in erster Linie auf die Grundstruktur der Gesellschaft, und zwar vermittelt durch repräsentative Personen, deren Aussichten mittels des Maßes der Grundgüter abzuschätzen sind . . .“ (Rawls 1971, S. 104). Insofern bezieht sich das Rawlssche Unterschiedsprinzip vor

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sollen die Gerechtigkeitsgrundsätze bei Fragen, die die konstitutionelle Ebene betreffen. Für eingeschränkt anwendbar hält Rawls die Gerechtigkeitsgrundsätze auch für postkonstitutionelle Fragen, wobei mit zunehmender Bedeutung der Kenntnis der eigenen Lebensumstände entlang des „4-Stufen-Gangs“ konkreter werdender Institutionen die Schleierkonstruktion zunehmend schwieriger wird. Freiheit und Chancen sollen entsprechend dieser Gerechtigkeitsgrundsätze auf alle gleich verteilt sein und für Grundgüter wird das Unterschiedsprinzip verwendet. Bei der Wahl eines Verteilungsprinzips der Grundgüter schneidet dabei im Rawlsschen Urzustand dieses Maximin-Prinzip besonders gut ab und wird gegenüber allen anderen den Entscheidern vorgelegten Prinzipien (wie dem des Utilitarismus’) bevorzugt. Eine jegliche Veränderung einer gegebenen Ausstattung mit Grundgütern ist nach dem Maximin-Prinzip nur dann gerechtfertigt, wenn hierdurch die Position der Schlechtergestellten (der ,Minis‘) verbessert wird unabhängig davon, wie sich die Grundgutausstattung der Bessergestellten (der ,Maxis‘) verändert.6 „Der Mensch, der sich entscheiden soll, hat eine Vorstellung von seinem Wohl, nach der es ihm so gut wie gleichgültig ist, ob er über das nach der Maximin-Regel sicher erreichbare Minimum hinaus noch etwas gewinnt.“ (Rawls 1971, S. 179). Insofern bestimmt die Ausstattung mit Grundgütern (und ihre Verteilung nach dem Maximin-Prinzip) für Rawls sehr deutlich den relevanten Teil des Wohlergehens.7 Wenn dies so gilt, muss man der Verteilung dieser Grundgüter eine große Aufmerksamkeit schenken, während hingegen die Verteilung aller anderen Güter weniger Beachtung verdient. Diese können dann entsprechend des Vorrangs der Freiheit auf freien Märkten alloziiert werden. Es ist vorstellbar, dass die Existenz solcher Grundgüter dazu führt, dass ein Nutzenvergleich möglich wird und relativ einfach ist. Er ist einfach, da er sich nur um wenige Güter (die Grundgüter) kümmern muss. Und er ist möglich, da ein interpersoneller und intertemporaler Nutzenvergleich aufgrund der universal sehr ähnlichen Nutzenschätzung der Grundgüter erfolgen kann.8 allem auf die Verteilung von Grundgütern und beinhaltet nicht die Vorstellung, dass jegliche Verteilung von Gütern in einer Gesellschaft nach dem Unterschiedsprinzip zu erfolgen habe. 6 Es ist möglich, dass eine solchermaßen vorgenommene Umverteilung die zukünftigen Umverteilungsmöglichkeiten an Grundgütern beeinflusst. Dieser Zusammenhang zwischen Umverteilung und Wachstum kann dabei negativ sein, so dass sich die Verteilungsmöglichkeitenkurve nach innen verschiebt (Nozick 1974, Cohen 1989). Oder aber dieser Zusammenhang ist positiv, da z. B. eine Risikoübernahme durch den Staat in Form einer Grundgüterumverteilung das Innovationsniveau anhebt und so für Wachstumsimpulse sorgt (Sinn 1995). 7 Hier bestehen Ähnlichkeiten zum satisfizierenden Nutzenniveau (Simon 1972). 8 Dieses Rawlssche Unterschiedsprinzip verlangt dabei lediglich ordinale intersubjektive Vergleiche von Grundgüterausstattungen zwischen Minis und Maxis, d.h. eine ,,Niveauvergleichbarkeit“ (level comparability) von Wohlstandsmaßen (siehe zu diesem Begriff Sen 1982, S. 273). Eine kardinale Messung der Differenzen zwischen beiden Gruppen ist daher nicht notwendig. Dies vereinfacht zwar die Analyse, kann

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3.2 Operationalisierungsansätze

Generell gestaltet sich die Operationalisierung dessen, was (im Rawlsschen Sinne) Grundgüter sind, schwierig. Zum einen ist das Thema per se sperrig, zum anderen gibt es aber auch von Rawls selbst verschiedene Angebote, die sich im Laufe seines Werkes von einer eher expertenorientierten Klärung der Frage, was Grundgüter sind, hin zu Lösungsansätzen verschoben haben, die eher den öffentlichen (politischen) Prozess in den Mittelpunkt stellen.9 3.2.1 Grundgüter und das geglückte Leben einer moralischen Person Ein (erster) Operationalisierungsansatz bestimmt im Anschluss an die Aristotelische Ethik Grundgüter als Voraussetzung für ein geglücktes Leben. Sie sind die notwendige Bedingung für die Verwirklichung der konkreten Lebenspläne der Gesellschaftsmitglieder. „Vernünftige Menschen wünschen sich unabhängig davon, was sie sich sonst wünschen, bestimmte Dinge als Vorbedingung der Ausführung ihrer Lebenspläne“ (Rawls 1971, S. 434). Diese Grundgüter behandelt Rawls in seiner „schwachen Theorie des Guten“. Schwach ist sie, da sie keine starke (also individuelle) Vorstellung vom Guten beinhaltet – hierüber befinden nur die Individuen mit ihren jeweiligen heterogenen Präferenzen. Grundgüter hingegen sind die Voraussetzung, damit Individuen überhaupt Präferenzen für allgemeine Güter entwickeln können; sie sind „verallgemeinerte Mittel“. Bezogen auf Gesundheit und Gesundheitsleistungen weist diese Herangehensweise Ähnlichkeiten zu anderen normativen Krankheitskonzepten auf (vgl. z. B. Nordenfelt 1987, Bobbert 2000). Allerdings hat der Verweis auf den Vorbedingungscharakter den Nachteil, unpräzise und sehr wenig selektiv zu sein. So sind z. B. Nahrungsmittel in diesem Sinne eine Vorbedingung (sogar für Leben überhaupt). Auch aus diesem Grund der schweren Fassbarkeit hat Rawls später seine Grundgüterbestimmung geändert. Diese Güter sind nun die Voraussetzung dafür, dass Individuen moralische Personen sein können (Rawls 1980) – nur mit Grundgütern können sich Menschen somit zu einer moralischen Person entwickeln.10 Was sind nun moralische Personen? Rawls nennt hierfür drei Bedinallerdings auch zu intuitiv wenig sinnvollen Ergebnissen führen. So kann sich durch eine kleine Veränderung die Position von Mini und Maxi austauschen, wenn die Ausstattung beider im Ausgangszustand sehr ähnlich war, so dass im Ergebnis die neuen Maxis durch die Veränderung der Grundgüterverteilung besonders profitiert haben. 9 Zu Änderungen der Grundgüterkonzeption vgl. insbesondere Rawls 1980, S. 515– 572, Rawls 1982, S. 162 und S. 165 f., Rawls 1993, S. 181 f.; siehe hierzu auch Hinsch 1992, S. 36–44. 10 Allerdings hat sich Rawls später auch von dieser Konzeption wieder distanziert (Rawls 1993) und diese stark metaphysische Betrachtung durch eine politisch-prozessbezogene ergänzt.

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gungen. Erstens verfügt eine moralische Person über die Anlage zu einem wirksamen Gerechtigkeitssinn. Hiermit ist die Fähigkeit gemeint, Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen und sie anzuwenden. Somit sind Kinder noch keine, Alzheimer-Patienten u. U. nicht mehr moralische Personen. Zweitens besitzt sie die Befähigung, eine Konzeption des Guten – also eine Rangordnung von Präferenzen – auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen. Drittens hat eine moralische Person eine persönliche Konzeption des Guten. Ökonomisch ausgedrückt hat sie also Präferenzen, die sie dann entsprechend der zweiten Bedingung ordnen können muss. Dabei kann die Konzeption des Guten individuell sehr unterschiedlich sein. Für die zweite und dritte Bedingung (die auch ohne die erste Bedingung vorkommen – für Psychopaten sind sie u. U. auch gegeben) sind Grundgüter nur mittelbar notwendig. Gerade ihre zu geringe Ausstattung (die zur Missachtung der eigenen Anstrengungen, zu Ausgrenzung und zum Verlust von Handlungsmöglichkeiten durch existentielle Not führten kann) kann die Rationalität der Zielverfolgung und das Bewusstsein für die eigene Präferenzordnung schärfen. Hier entsteht dann allerdings eher ein Serientäter denn eine moralische Person im Sinne Rawls’. Für die erste Bedingung ist der Einfluss von Grundgütern zumindest in der Rawlsschen Sichtweise sehr eindeutig. Die Entwicklung eines Kindes zu einer Person, die eigene Gerechtigkeitsvorstellungen herausbildet und verfolgt, erfolgt entlang verschiedener Stufen (wie sie z. B. Piaget beschreibt, den Rawls ausgiebig referiert (Rawls 1971)) und bedarf einer Sicherung materieller Grundlagen genauso wie der Erfahrung gesellschaftlicher Achtung seiner Person (um zwei Grundgüter im Rawlsschen Sinne zu nennen). Allerdings lässt sich ein praktisch anwendbares Diskriminierungskriterium zwischen Grundgütern und allen anderen Gütertypen aus der Verbindung zwischen Grundgütern und der moralischen Person ebenso wenig gewinnen wie aus der Definition, Grundgüter seien für ein geglücktes Leben notwendig. Fest steht allerdings zumindest, dass Grundgüter häufig dadurch gekennzeichnet sind, dass ihre Bereitstellung auf sehr unterschiedliche Art und Weise erfolgen kann. So benötigt ein Kind, um durch Grundgüter eine moralische Person zu werden, die Gerechtigkeitsgrundsätze anwendet, nicht Kleidung einer bestimmten Marke oder eine bestimmte Erziehungsmethode. Wichtig ist demnach das Ziel bzw. der Zweck, der mit konkreten, aber sehr verschiedenen Mitteln erreicht werden kann.11

11 In dieser Sichtweise weisen Grundgüter starke Ähnlichkeiten mit dem Konzept der „capabilities“ von Sen 1992 auf. Ziele können dabei bei Sen erstens „doings“ sein. Dies sind Tätigkeiten wie etwa die politische Betätigung im aristotelischen Sinn. Zweitens können die Ziele aber auch „beings“, also Zustände sein. Eine konkrete ,Liste‘ solcher ,Befähigungs-Güter‘ gibt es allerdings bei Sen 1992 nicht. Für eine Konkretisierung bedarf es für Sen des öffentlichen Aushandlungsprozesses, so dass

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3.2.2 Grundgüter und gleiche Präferenzen Die gleiche Wertschätzung von Grundgütern durch alle in einer Gesellschaft ist eine Folge davon, dass sie von allen für ihr je eigenes, höchst unterschiedliches geglücktes Leben gleichermaßen benötigt werden. Die gleichartige Wertschätzung gibt Hinweise, denen man folgen kann, um auf die Spur von Grundgütern zu kommen. Wenn nun Grundgüter solche Güter sind, die alle Gesellschaftsmitglieder in gleicher Weise erstreben, dann sollten diese Güter bei Befragungen zu ihrer Wertschätzung eine sehr geringe Varianz bei hohen Werten der Wertschätzung aufweisen. Insofern besteht auch ein empirischer Weg, sich dem zu nähern, was Grundgüter sein können. Allerdings ist die Gleichheit und die Höhe der Wertschätzung eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein Grundgut. So hat z. B. Geld als universelles Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel vermutlich eine sehr geringe Varianz bei gleichzeitig sehr hohen Werten für die Wertschätzung. Geld ist aber für Rawls sicher nicht notwendig zur Herausbildung einer moralischen Person, denn es kann ohne Probleme durch diejenigen Güter ersetzt werden, gegen die Geld getauscht werden kann. Dennoch kann dieses Kriterium einige empirische Hinweise geben auf Güter, bei denen sich eine weitere Suche lohnt. Generell dürfte es so sein, dass die Varianz der Wertschätzung ,auf höherer Ebene‘ geringer wird. Sie wird im Regelfall groß sein bei genau spezifizierten Gesundheitsleistungen (bei denen die Befragten z. B. eine Vorstellung darüber haben, ob sie diese Leistung benötigen oder nicht). Geringer wird sie hingegen sein bei der Beurteilung abstrakter Güter wie z. B. bei der Erhöhung der Lebenserwartung oder der Steigerung von QUALYs (Quality adjusted life years; vgl. Klarman/Francis/Rosenthal 1968). Dies deutet wiederum auf den Zusammenhang der Grundgüter mit Zielen hin. Ein Ziel – und damit ein akzeptables Bereitstellungsniveau der Grundgüter – lässt sich eben mit sehr verschiedenen Mitteln erreichen. 3.2.3 Grundgüterlisten Bei Rawls finden sich einige Hinweise, die etwas konkretisieren, was Grundgüter sein können. Neben Rechten und Freiheiten, die hier ja vom Grundgüterbegriff getrennt wurden, nennt Rawls erstens mit öffentlichen Ämtern verbundene Vorteile, zweitens Einkommen und Besitz (in lebensnotwendigem Umfang) und drittens die sozialen Grundlagen der Selbstachtung (d.h. diejenigen Ressourcen, die notwendig sind, um aus einem (jungen) Menschen in einer Ge-

eine solche exemplifizierte Liste immer kontextbezogen sein wird (vgl. zur Anwendung in entwicklungspolitischem Zusammenhang Sen 2000).

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sellschaft ein moralisches Wesen zu machen, dass sich (und andere) als Mensch anerkennt). Für die Bestimmung und Weiterentwicklung dieser Liste sieht Rawls zu verschiedenen Zeitpunkten seines Schaffens unterschiedliche Zuständigkeiten. Zunächst als naturalistische Bestimmung vor allem durch sozialpsychologische Expertenuntersuchung ausgestaltet wird dieses Vorgehen im Angesicht der kommunitaristischen Kritik (z. B. Sandel 1982) zu Gunsten einer (explizit) normativen Bestimmung verändert. Allerdings hat diese Konzeptionsänderung nicht zu inhaltlichen Korrekturen bei der obigen ,Grundgüterliste‘ oder bei der lexikalischen Ordnung bzw. den Inhalten der Gerechtigkeitsgrundsätze geführt. Generell ist die Liste von Rawls nicht abschließend – Gesundheit kommt explizit nicht vor und seine Einsortierung unter die genannten Beispiele ist keine sehr überzeugende Lösung. Wichtig zu erkennen an der Rawlsschen Liste ist die Bedeutung nicht unmittelbar mit materiellen Vorteilen verbundener Güter. Dies gilt für die Beteiligung am gesellschaftlichen (öffentlichen) Leben ebenso wie für den Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen, die Selbstachtungsherausbildung und -stabilisierung fördern. 3.3 Schlussfolgerung

Rawls diskutiert an keiner Stelle die Anwendung des Grundgutkonzepts auf Krankheit; somit besteht hier generell ein erheblicher Interpretationsspielraum. Zwei Beispiele machen dies deutlich. Daniels 1985 bringt Krankheit und ihre Bekämpfung in Verbindung mit der Chancengleichheit (wie auch bei Ämtern und Positionen). Entsprechend würde dies zur Anwendung des Verteilungsverfahrens der Gleichverteilung führen. Aber schon bei Anwendung des Unterschiedsprinzips kann es zu riesigen Umverteilungsvolumina kommen, wenn die Bekämpfung von Krankheit generell als Grundgut angesehen wird (Arrow 1973). Die dann notwendigen extremen Transfers zu Kranken müssen allerdings nicht dazu führen, dass diese dadurch tatsächlich wieder gesund werden (und dann wieder als moralische Person anzusprechen wären). Bestimmte Kranke bleiben auch bei maximaler medizinischer Betreuung ewige ,Minis‘, so dass ihr Transferbedarf allenfalls durch die medizinischen Möglichkeiten begrenzt ist. Hieraus folgt, dass Gesetzliche Gesundheitssysteme, die Gesundheitsgrundgüter bereitstellen sollen, nicht einen bestimmten Gesundheitszustand (der u. U. für ein geglücktes Leben notwendig ist) garantieren können. Hierzu reicht auch unabhängig von Budgetrestriktionen das medizinische Wissen nicht immer aus. Insoweit ein zu geringer Gesundheitszustand selbstverschuldet ist, besteht sowieso kein Anspruch im Rahmen der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie. Allerdings ist nicht jede Krankheit selbstverschuldet. Biologische Krankheitslast, aber auch erworbene Krankheiten (die sich z. B. jemand aufgrund generell fehlenden Wissens ,gutgläubig‘ zugezogen hat) sind Faktoren außerhalb der Ein-

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flussnahme des Einzelnen (auch wenn der Einzelne nach Erkrankung durchaus häufig etwas zur Krankheitsbekämpfung beitragen kann). Da das medizinische Wissen in diversen Fällen nicht immer ausreicht, das Grundgut ,ausreichender Gesundheitszustand‘ bereit zu stellen, handelt es sich um ein Grundgut, dessen Produktion letztlich außerhalb der Möglichkeiten eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems liegen kann. Insofern muss sich eine Bestimmung von ,Gesundheitsgrundgütern‘ sinnvollerweise vor allem auf die Verteilung von Gesundheitsleistungen beziehen. Aus den vorangegangenen Bestimmungsversuchen von Grundgütern lassen sich einige ,Prüfkriterien‘ ableiten, die bei der Ausgestaltung des Leistungskatalogs der GKV hilfreich sein können, um aufzunehmende Grundgüter zu identifizieren. Grundgüter sind notwendig für ein geglücktes Leben. Dabei spielt die Herausbildung einer moralischen Person und hier besonders die Gewährleistung der Entwicklung und der Anwendung von Gerechtigkeitsvorstellungen eine große Rolle. Die konkrete Bereitstellung eines Grundguts ist sehr unterschiedlich möglich; somit bestehen erhebliche Substitutionsmöglichkeiten bei den Mitteln. Hieraus folgt weiterhin, dass lediglich relativ abstrakte Fragestellungen mit Hilfe des Grundgüterkonzepts beurteilt werden können. Ob also eine konkrete Operationsleistung in den Leistungskatalog einer GKV gehört, kann es nicht klären. Eine geringere Varianz in der Wertschätzung sowie eine hohe Präferenz sind notwendige Bedingungen für ein Grundgut. Besondere Bedeutung haben immaterielle Grundgüter und hier insbesondere die Beteiligungsmöglichkeit am gesellschaftlichen (öffentlichen) Leben sowie die Implementierung gesellschaftlicher Institutionen, die Selbstachtung herausbilden und stabilisieren können. Auch mit diesen Prüfkriterien bleibt das Rawlssche Grundgüterkonzept noch relativ offen. Vor allem beim späten Rawls (und bei Sen) ist jedoch klar, dass es keine expertokratische Festlegung eines ,immerwährenden‘ Grundgüterkatalogs geben kann. Stattdessen wird die Bedeutung von öffentlichen (Diskussions- und Aushandlungs-)Prozessen stark betont. Dies bedeutet aber nicht, dass ein solcher Aushandlungsprozess eine reine Bekundung von Präferenzen durch Wahlen sein sollte.12 Solche so entstandenen Listen mit aufzunehmenden Gesundheitsleistungen können aus verschiedenen

12 Ein Beispiel, in dem Rationierungsentscheidungen mittels direktdemokratischer Elemente getroffen wurden, ist das ,Oregon-Experiment‘ (Oberlander/Marmor/Jacobs 2001), bei dem jedoch das Ergebnis nicht nur durch Abstimmung der Bevölkerung erreicht wurde.

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Gründen problematisch sein und gegen die moralische Intention der Betroffenen verstoßen. So kommt es z. B. zur Selbstselektion – derzeitig Kranke, besser Informierte und auch solche mit geringen Opportunitätskosten werden eher abstimmen, so dass etwa die Präferenzen des gut ausgebildeten, kränkelnden Rentners übergewichtet und z. B. Präventionsleistungen für Kinder in der so entstandenen Prioritätsliste unterbewertet sein dürften. Damit ein solcher öffentlicher Prozess richtig funktioniert (also durch politische und gesellschaftliche Entscheidungsfindung faire Lösungen hervorbringt), sind jedoch allgemeine Voraussetzungen (wie substantielle Freiheiten) notwendig – und auch eine angemessene Ausstattung an Grundgütern. Hier beißt sich die Katze selbst in den Schwanz – oder produktiver formuliert: Da der faire Aushandlungsprozess auf Bedingungen beruht, die er selbst hervorbringen muss, muss der Aushandlungsprozess selbst mehrschrittig sein (oder sogar kontinuierlich wiederholt werden). Somit enthebt diese Feststellung nicht davon, in einem (ersten) Schritt nach einer Grundgüterausstattung zu suchen, die dann die Bedingung für einen fairen Aushandlungsprozess sein kann, der dann u. U. die Ausstattung korrigiert. 4. Gesundheit – ein Grundgut? Die Ausgestaltung des Leistungskatalogs einer Pflichtversicherung muss unterschiedliche Aspekte beachten – der ausschließliche Blick auf die Frage, ob es sich bei Gesundheitsleistungen um Grundgüter handelt, reicht somit sicher nicht aus. Bestimmte Leistungen müssen staatlich bereitgestellt werden, z. B. da bei ihnen erhebliche Allokationsprobleme zu erkennen sind.13 So verursachen Impfungen positive externe Effekte für diejenigen, die sich nicht impfen lassen – vom Geimpften können sie sich ja (hoffentlich) nicht mehr anstecken. Ohne staatlichen Eingriff kann daher das Impfniveau zu gering sein. Eine Möglichkeit zur Erhöhung des ,Impfkonsums‘ ist die kostenlose Bereitstellung von Impfschutz durch den Staat (oder sogar der Zwansgkonsum in Form einer Impfpflicht), auch wenn hierdurch die Externalitäten nicht beseitigt werden. Zumindest aber können die konsumierten Mengen mit den optimalen Mengen übereinstimmen. Ebenso schränken einige Krankheiten zeitweise (Koma) oder auch 13 Eine Diskussion über die angemessene Institution der Bereitstellung (z. B. GKV vs. direkte, steuerfinanzierte staatliche Bereitstellung) wird hier nicht geführt. Je nach Ausgestaltung der GKV (z. B. mit Blick auf den Wettbewerb zwischen den Einzelkassen) kann es sinnvoll sein, die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen nicht der GKV zu überlassen – etwa da Präventionsleistungen aufgrund ihrer (allenfalls) erst langfristig kostensenkenden Effekte aus Kassensicht positive Externalitäten darstellen. Wenn eine Einzelkasse Prävention fördert, kann sie sich bei bestehendem Kassenwettbewerb nicht sicher sein, dass die Versicherten, die in den Genuss von Präventionsmaßnahmen gekommen sind, dann noch bei ihr sind, wenn die Präventionsausgaben Früchte tragen.

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dauerhaft (Demenz) die Konsumentensouveränität ein – auch in diesen Fällen ist nicht zu erwarten, dass eine marktliche Allokation das vorzuziehende Verfahren ist. Schließlich können funktionierende Märkte ohne erkennbare Marktund Wettbewerbsversagenstatbestände zu sehr hohen ,Betriebskosten‘ führen. Solche Transaktionskosten können z. B. daher resultieren, dass asymmetrische Informationen durch vielfältige Formen von Signaling und Screening reduziert werden müssen, damit es nicht zu Marktzusammenbrüchen kommt. In solchen Fällen sind dann möglicherweise andere Allokationsverfahren sinnvoller, die zu weniger großen Betriebskosten führen. Die Allokationsprobleme können möglicherweise durch andere Allokationsverfahren verringert werden und staatliche Eingriffe sind u. U. ein solches Verfahren. In diesen Fällen ist der Leistungskatalog der GKV entsprechend auszugestalten – Impfleistungen sind aufzunehmen, eine Pflichtversicherung für alle, die (Gesundheits- und Pflege-)Leistungen für Demente enthält, ist einzurichten und eine staatliche Koordination in bestimmten Bereichen kann sinnvoll sein, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Neben solchen Allokationsaspekten kann die Ausgestaltung der GKV aber auch distributive Gründe haben. Hier spielen Begründungen über den Grundgutscharakter eine wichtige Rolle. Allerdings können hier auch noch andere Zusammenhänge wichtig sein – so kann Umverteilung auch deshalb erfolgen, da angenommen wird, dass dies zu positiven Wachstumsimpulsen führt (Sinn 1995). Somit ist festzuhalten, dass die Ausgestaltung des Leistungskatalogs der GKV nicht alleine mit Hilfe des Grundgüterkonzepts erfolgen kann – der Blick muss hier breiter sein und allokative und andere distributive Aspekte mit einbeziehen. Allerdings kann die Anwendung der in Kapitel 3. entwickelten Prüfkriterien zur Identifizierung von Gesundheitsgrundgütern durchaus einen Ausgestaltungsbeitrag leisten. Im Folgenden werden zu jedem Kriterium einige Überlegungen angestellt, welche Gesundheitsleistungen jeweils besonders berührt sein können. Kriterium 1: Grundgüter sind notwenig für ein geglücktes Leben. Dabei spielt die Herausbildung einer moralischen Person und hier besonders die Gewährleistung der Entwicklung und Anwendung von Gerechtigkeitsvorstellungen eine große Rolle. Von besonderer Bedeutung ist eine ausreichende Versorgung mit Gesundheitsgütern in der Zeit, in der sich das moralische Vermögen herausbildet. Insofern kann dieses Kriterium so interpretiert werden, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen ein besonderes Gewicht in der GKV bekommen sollte. Ähnlich gelagert sind Fälle ,an der Grenze‘ beispielsweise bei Personen, die (nach einer Erkrankung) erst wieder den Gebrauch ihres Gerechtigkeitssinnes erlernen müssen. Für diese Personen bedarf es aufgrund ihrer eingeschränkten Konsumentensouveränität eines besonderen Schutzes, möglicherweise aber auch spezieller Leistungen, die es bisher in der GKV nicht gibt. Zu denken ist hierbei

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z. B. an eine reibungsfreie Verbindung zwischen Kranken- und Pflegeversicherung. Die Verringerung von Schnittstellenproblemen muss dabei nicht (und schon gar nicht für alle Versicherten) einhergehen mit einer Zusammenführung beider Versicherungszweige, denn hierdurch werden (bei weiter bestehender unterschiedlicher Budgetierung) zwar wesentliche Schnittstellenprobleme nicht gelöst, wohl aber die Möglichkeiten zu beiden Zweigen angemessenen Wettbewerbskonzepten beschnitten (vgl. Sundmacher 2007). Auch wenn die Betonung der Entwicklung hin zu einer moralischen Person, wie sie Rawls vornimmt, Hinweise auf wichtige Gesundheitsgrundgüter liefert, so ist diese Sichtweise doch auch mit Problemen behaftet. Was ist, wenn eine Krankheit unumkehrbar dazu führt, dass ein Mensch keine moralische Person mehr ist? Braucht er dann keine Grundgüter (also hier: keine medizinische Versorgung) mehr? Ein solcher ,Blinder Fleck‘ tritt ein z. B. bei Erkrankungen, die die Urteilsfähigkeit generell herabsetzen (wie z. B. bei Altersdemenz) oder bei Erkrankungen, die Gerechtigkeitsaspekte in den Hintergrund treten lassen (wie z. B. bei starken Schmerzen). Zumindest ist es im Rahmen der Rawlsschen Theorie nicht ausgeschlossen, dass sich Entscheider im Urzustand für eine solche Rationierung entscheiden und Gesundheitsleistungen für solche Personen (weitgehend) streichen (also z. B. festlegen, dass Demente keine Herz-Operation mehr bekommen). Dies gilt insbesondere dann, wenn sie sich sicher sind, dass der Betroffene von der Rationierung nichts mehr merkt. Kriterium 2: Die konkrete Bereitstellung eines Grundguts ist sehr unterschiedlich möglich; somit bestehen erhebliche Substitutionsmöglichkeiten bei den Mitteln. Dieses Kriterium kann zunächst dazu führen, Gesundheitsgrundgüter auf einer relativ hohen, abstrakten Ebene zu bestimmen und so bei der konkreten Bereitstellung Substitutionsmöglichkeiten (z. B. verschiedene Operationsverfahren, unterschiedliche Organisationsformen der Leistungserbringung) zuzulassen. Diese Freiheiten bei der konkreten Grundgüterversorgung können erstens zu einer präferenzadäquateren Versorgung beitragen und zweitens ermöglichen sie Wettbewerb um die beste Bereitstellung.14 Neben der Wahl einer Abstraktions-Ebene, auf der Gesundheitsgrundgüter festgelegt werden sollten, weist das Kriterium 2 allerdings noch in eine andere Richtung. Wichtig an der angemessenen Versorgung mit Gesundheitsgrundgütern ist ja – wie Kriterium 1 hervorhebt –, dass die kranke eine moralische Person ist und bleibt. Dies macht es notwendig, die Wirkung der Gesundheits14 Allerdings eröffnen Freiheiten in einem System mit Versicherungspflicht und Umverteilung aufgrund nicht risikoadäquater Beiträge auch immer Möglichkeiten zu ungewolltem Ausweichhandeln z. B. durch Selbstselektion bis hin zur materiellen Umgehung der Versicherungspflicht. Insofern sind die Risiken einer Gewährung von Wahlfreiheiten gegen die ,Nebenwirkungen‘ abzuwägen.

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leistungen zu überprüfen – denn nur so lässt sich feststellen, ob die erbrachten Leistungen so wie gewünscht gewirkt haben. Insofern müssen Gesundheitsgrundgüter möglichst nicht nur über die Leistungsseite, sondern auch unter Einbezug des Ergebnisses der Leistungen bestimmt werden. Konkret bedeutet dies z. B., dass bei Krebspatienten Schmerzbefragungen vorgenommen werden müssten; abstrakter gesprochen können Verfahren, die Beeinträchtigungen versuchen zu messen (wie z. B. QUALY-Analysen), hilfreich sein. Die Verwendung von Wirksamkeitsanalysen kann ,nebenbei‘ auch noch die Effizienz der Gesundheitsversorgung verbessern. Die Überprüfung von Leistungen mit Hilfe ökonomischer Evaluation (etwa als Kosten-Wirksamkeits- oder Kosten-NutzenAnalyse), wie sie ansatzweise in England und Wales durch das NICE (National Institute for Clinical Excellence) erfolgt, kann erstens dazu genutzt werden, nicht wirksame Maßnahmen aus dem Leistungskatalog auszusortieren. Und zweitens eröffnet es die Möglichkeit zu Wettbewerb um wirksame Behandlungsmethoden. Denn das Wissen über Wirksamkeiten ist weder bei den Patienten, noch den Krankenkassen und vermutlich auch bei vielen Leistungserbringern nicht sehr verbreitet. Kriterium 3: Eine geringere Varianz in der Wertschätzung sowie eine hohe Präferenz sind notwendige Bedingungen für ein Grundgut. Der Wissensstand über die Wertschätzung einzelner Gesundheitsgüter ist nicht sehr gut (zu einigen Beispielen vgl. z. B. Böcken 2006). Voraussetzung zur Anwendung dieses Kriterium 3 zur Identifizierung von Gesundheitsgrundgütern ist es daher, die Patienten- und Versichertenbefragung auszubauen. Zu beachten ist hierbei allerdings, dass solche Befragungen vermutlich erhebliche Abweichungen vom homo-oeconomicus-Verhaltensmodell hervorbringen werden. So zeigen Erfahrungen aus der Anomalienforschung z. B., dass das Zufügen zusätzlicher Schmerzen bei Behandlungen positiv beurteilt wird, wenn hierdurch vermieden wird, dass eine Behandlung mit einem hohen Schmerzniveau abschließt (am Beispiel der Koloskopie Redelmeier/Kahneman 1996). Mit einer Einbettung solcher Wertschätzungsbefragungen in die Happiness-Forschung (wenn sie denn solche Anomalien berücksichtigt) können Bereiche ähnlicher Wertschätzung identifiziert werden, die dann weiter auf ihren Grundgutscharakter untersucht werden können. Einen ersten Hinweis auf möglicherweise sehr unterschiedliche Bewertung von Gesundheitsleistungen liefern stark abweichende Niveaus der Aufnahme von einzelnen medizinischen Leistungen in nationalen Gesundheitssystemen. Dies gilt z. B. für die Versorgung von Zähnen oder für die Aufnahme von kosmetischen Eingriffen nach Unfällen. In diesen Fällen ist die notwendige Bedingung einer geringen Varianz der Wertschätzung u. U. erheblich verletzt, so dass solche Leistungen aus dem Leistungskatalog einer Pflichtversicherung aussortiert werden könnten. Sicher ist dies allerdings nicht – die unterschiedliche Be-

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handlung solcher Gesundheitsleistungen in den Leistungskatalogen verschiedener gesetzlicher Gesundheitssysteme muss nicht unbedingt unterschiedliche Präferenzen der Bürger repräsentieren. Vielmehr können sie auch das Ergebnis einer fehlenden Berücksichtigung von Bürgerpräferenzen sein. Die Ausgestaltung des Leistungskatalogs spiegelt dann vor allem die Interessen der Akteure im Gesundheitssystem (Politiker, Beamte, Selbstverwaltungen, Ärzte, . . .) wieder. Diese können von Land zu Land unterschiedlich sein, oder aber die beobachtbaren Differenzen sind bei sehr ähnlichen Interessen das Ergebnis einer abweichenden Machtbalance. Beide Fälle dürften zur Erklärung von Differenzen bei der nationalen Ausgestaltung von Leistungskatalogen in starkem Maße relevant sein. Kriterium 4: Besondere Bedeutung haben immaterielle Grundgüter und hier insbesondere die Beteiligungsmöglichkeit am gesellschaftlichen (öffentlichen) Leben sowie die Implementierung gesellschaftlicher Institutionen, die Selbstachtung herausbilden und stabilisieren können. Dieses Kriterium lenkt den Blick auf den Charakter der Leistungserbringung im Gesundheitswesen. Krankheit und Gesundung sind in vielfältiger Weise mit relativ schwer fassbaren sozialen Gegebenheiten verbunden. So kann die soziale Situation wesentliche Ursache der Krankheitsgenese sein (wie z. B. die enge Verbindung zwischen Armut und Gesundheitszustand zeigt; vgl. z. B. Albers/ Meidenbaum 2005). Dies legt es nahe, die Bereitstellung von Gesundheitsgrundgütern auch entsprechend weiter aufzufassen. Nicht nur medizinische Behandlungen können diese Grundgüter bereitstellen – Armutsbekämpfung insbesondere mit der Eröffnung von Perspektiven für ein geglücktes Leben ist auch eine (vermutlich häufiger effizientere) Form der Gesundheitsgrundgüterversorgung. Doch auch die medizinische Behandlung ist häufig ein sozialer Akt und Akteure im Gesundheitssystem sind soziale Dienstleister – oder sollten es aus Gründen einer effizienten Bereitstellung von Gesundheitsgütern zumindest häufig sein. Die Betrachtung von Allokations- und Distributionsgründen, die die Ausgestaltung des Leistungskatalogs einer verpflichtenden Krankenversicherung beeinflussen, hat gezeigt, dass nicht damit gerechnet werden kann, hierdurch eine unumstößliche Ausgestaltungsvorschrift in die Hand zu bekommen, die keine Zweifelsfälle mehr offen lässt. Dies gilt auch schon bei Ausgestaltungsentscheidungen, die aufgrund von Allokationsproblemen auf dem Markt für Gesundheitsleistungen bzw. Krankenversicherungen zu treffen sind. Selbst bei auftretenden Marktversagensaspekten ist die Sache nicht immer klar: So wird man z. B. kaum eine Tätigkeit finden, bei der keine externen Effekte entstehen – entscheiden muss man sich aber, ab welchem Umfang solcher Externalitäten ein Eingreifen sinnvoll ist. Und dann stellt sich noch die Frage nach dem Akteur (der Staat?) und den einzusetzenden Mitteln (der Zertifikatehandel?). Noch

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schwieriger wird es, wenn Transaktionskosten relevanter alternativer Institutionen miteinander verglichen werden sollen. Und ganz besonders weit wird der interpretatorische Spielraum, wenn geklärt werden soll, welche Gesundheitsleistungen aus distributiven Gründen bereitgestellt werden sollen. Das Grundgüterkonzept von Rawls mit dem hier diskutierten Operationalisierungsversuch über vier Prüfkriterien kann dazu beitragen, die Diskussion über die Ausgestaltung des Leistungskatalogs zu strukturieren und auf einige Bereiche hinzuweisen, die zu beachten besonders lohnenswert ist. Ein Patentrezept für die Ausgestaltung des Leistungskatalogs kann es hingegen nicht sein.

5. Aufgaben der Gesundheitspolitik bei der Distribution von Gesundheitsgrundgütern: Das Beispiel der Prävention Die gesundheitspolitische Aufgabe ist mit der Identifizierung von Gesundheitsgrundgütern und ihrer Aufnahme in den Leistungskatalog noch nicht abgeschlossen. Insbesondere steht nun die Frage an, welche Gerechtigkeitsvorstellung die Grundlage für die Verteilung der Gesundheitsgrundgüter bilden soll. Folgt man Rawls, kommt erstens die Gleichverteilung in Betracht. Dies wäre dann der Fall, wenn das Haben von Gesundheitsgütern generell in enger Verbindung mit Chancen (bei Rawls: auf Positionen und Ämter) stünde. Für einzelne Gesundheitsgüter ist dies nicht ohne weiteres zu erkennen, wohl aber für den generellen Zugang zu Gesundheitsgütern, also für die Möglichkeit, Leistungen in der GKV in Anspruch nehmen zu können. Gesundheitsgrundgüter i. S. v. Inhalten eines Leistungskatalogs sind daher eher mittels des Verfahrens des Unterschiedsprinzips zu verteilen. In diesem Fall ist im ersten Schritt zu überprüfen, wer die am schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitglieder (die Minis) sind. Probleme können hierbei auftreten, wenn für jedes Grundgut der Befund anders lautet und die gegenseitigen Interdependenzen der Grundgüter (wie z. B. bei Krankheits- und Armutsbekämpfung/-vermeidung) nicht sehr klar sind. Hieran anschließend ist zu überprüfen, ob die gegenwärtige Ausgestaltung des Gesundheitssystems bei den Gesundheitsgrundgütern dem Unterschiedsprinzip entspricht oder ob Korrekturen vorgenommen werden müssen. Exemplarisch kann dies am Beispiel der Prävention beleuchtet werden. Im weiten Feld der Prävention verbergen sich Leistungen, die Grundgutscharakter haben. Dies betrifft z. B. Präventionsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche, die es ihnen ermöglichen, sich in Gesundheit zu einer moralischen Person zu entwickeln. Bisherige Maßnahmen zur Prävention in der GKV entsprechen allerdings mit sehr hoher Sicherheit nicht dem Unterschiedsprinzip. Vielmehr weisen sie ganz überwiegend das umgekehrte ,Verteilungsvorzeichen‘ auf (Siegrist 2004). Die sozial Beweglichen und Erfolgreichen sind diejenigen, die

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an den Präventionsmaßnahmen teilnehmen und sich dorthin und dort bewegen (da ein Großteil der Maßnahmen im Zusammenhang mit sportlichen Aktivitäten steht). Trotz Präventionsangeboten, die nicht bezahlt werden müssen, nehmen Minis an diesen nur stark unterdurchschnittlich teil. Nun ist in diesem Fall darüber nachzudenken, mit Hilfe welcher Maßnahmen hier das Unterschiedsprinzip realisiert werden könnte. „Fordern“ wäre eine Möglichkeit. So wären z. B. hohe Selbstbehalte bei fehlender Prävention vorstellbar, die bei gleicher Höhe für alle aufgrund der größeren relativen Belastung vermutlich bei den Minis den Druck besonders stark machen würde. Allerdings bestehen z. B. Probleme durch eine vermutlich nur eingeschränkt mögliche Durchsetzbarkeit der Selbstbehalte und der fehlenden Kontrolle ,echter‘ Beteiligung. Letzteres kann auch für die Strategie des „Förderns“ gelten. Hohe positive Anreize, die die ,Präventionsbeteilungsschwelle‘ überwinden, können dazu führen, dass ,Prävention als Einnahmequelle‘ entdeckt wird. Neben hohen Kosten solcher Maßnahmen ist von einem geringen Grenznutzen einer solchen Art von Prävention auszugehen. Denn im Regelfall ist es weniger der Besuch einer konkreten Maßnahme, die positive Präventionsfolgen hervorbringt, sondern die dadurch ausgelösten Veränderungen bei der Lebensführung. Diese sind aber nur schwer zu kontrollieren (und entsprechend finanziell zu fördern), so dass auf die Beteiligung an einer Maßnahme als Kriterium zurückgegriffen werden muss. Die ,normalerweise‘ vorhandene Verknüpfung zwischen diesem Indikator und der eigentlich interessierenden, aber nicht zu beobachtenden Größe ,Verhaltensänderung‘ wird allerdings durch hohe positive oder negative Anreize, die am Indikator ansetzen, gestört. „Fordern und Fördern“ bedarf, damit es wirkt, zumindest einer Untersuchung der Gründe für das bisherige Präventionsverhalten bei den Minis. Hier zeigt sich, dass die Nutzung von (bisherigen) Präventionsangeboten die Befähigung hierzu voraussetzt. Diese hängt jedoch stark von der Ausstattung mit anderen Grundgütern ab. Hierzu zählen z. B. ein angemessener Bildungszugang oder die Perspektive für ein geglücktes Leben. Ohne das Wissen um Präventionsfolgen und ohne eine Perspektive für das eigene Leben, die über das Überstehen der nächsten Woche hinausreicht, können Präventionsmaßnahmen nicht so wirken, wie sie es sollen. Dieser (häufiger anzutreffende) Zusammenhang mit der Bereitstellung anderer Grundgüter weist darauf hin, dass die effiziente Versorgung mit Grundgütern vermutlich eher selten in einem Politikfeld üblichen Zuschnitts gelingt. Zumindest die Etablierung einer sinnvollen Prävention, die Grundgutcharakter hat, ist keine Aufgabe, die im Gesundheitssystem alleine lösbar ist.

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6. Ausblick Die Aufgaben zukünftiger Gesundheitspolitik sind in den letzten Jahren nicht wesentlich kleiner geworden – insofern besteht noch ein sehr ansehnliches Reformpotential, das auf seine Realisierung wartet. In vielen Fällen wird es angemessen sein, Möglichkeiten zur Rationalisierung der Gesundheitsversorgung zu nutzen, bevor über Rationierung (im engeren Sinne) nachgedacht werden sollte. Statische und vor allem dynamische Wettbewerbseffekte, die die Innovationsdynamik auch in andere Bereiche als in kostensteigernde Produktinnovationen lenken, können ein Weg sein, der Teile der Rationierungsdiskussion entschärft. Bei der Rationierung (i. w. S.) muss es um die Wahl geeigneter Verfahren gehen – insofern stellt die Rationalisierung im Sinne einer Einführung wettbewerblicher Märkte für Gesundheitsgüter eine solche Rationierungsentscheidung dar. Die Ausgestaltung des Leistungskatalogs als eine weitere wesentliche Rationierungsentscheidung bei Versicherungspflicht macht hiervon keine Ausnahme – auch hier sollte die Ausgestaltungsentscheidung mit Hilfe von rationalen Verfahren getroffen werden. Einerseits sind hier Gründe für die Aufnahme von Leistungen zu beachten, die auf der Allokationsseite liegen. Auf Seiten der Distribution dienen die hier entwickelten vier Prüfkriterien zur Grundgüteridentifizierung. Ausgehend von diesen Kriterien als Heuristik lässt sich die Identifizierung von Gesundheitsgrundgütern allerdings noch verfeinern. Sind sie näher bestimmt, ist ihre Verteilung zu überprüfen. Gibt es Abweichungen zwischen Istund Soll-Verteilung, können Maßnahmen entwickelt werden, die auf diese Verteilungsprobleme Antworten finden. Dabei ist zu vermuten, dass das Ergebnis der Verteilungsüberprüfung in anderen Fällen von Gesundheitsgrundgütern sehr ähnlich sein wird wie im Fall der Prävention – die Umverteilung arbeitet in die falsche Richtung. Korrekturen solcher Verteilungen sind im politischen Prozess aber vermutlich darauf angewiesen, dass sie sich mit anderen Reformvorhaben verknüpfen lassen – ein alleine auf offen dargelegten Umverteilungsgesichtspunkten begründetes Reformvorhaben scheint eher unwahrscheinlich zu sein. Insofern kann es sehr hilfreich sein, dass verschiedentlich ein enger Zusammenhang zwischen Rationierungsverfahren und Qualität(stransparenz) besteht. So kann z. B. das Aussortieren wirkungsloser medizinischer Verfahren zusammen mit einem richtig ausgestalteten Wettbewerb zur Effizienzsteigerung des Systems genutzt werden. Somit ist Rationierung vielleicht weniger ,Böse‘ wie gelegentlich vermutet wird und passt gut zum politisch opportunen Thema der Qualitätsverbesserung.

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Öffentliche Beteiligung bei Rationierungsentscheidungen in der Medizin* Konrad Obermann Rationierung in der Medizin wird seit kurzem öffentlich und offiziell diskutiert (Jachertz/Rieser 2007; Porzsolt et al. 2007) – ein Hinweis auf den zunehmenden Druck auf die Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und die generelle Bereitschaft bislang eher tabuisierte Themen in der Sozialpolitik anzusprechen. Nachdem es eine kurze Debatte um Rationierung Mitte der 90er Jahre gab, diese aber rasch unter dem Verdikt „Zweiklassen-Medizin“ wieder verstummte, scheint es nun möglich zu sein, das Thema ohne sofortige reflexartige Ablehnung zu diskutieren (allerdings wird auch schon von einer „Dreiklassen-Medizin gesprochen, vgl. Winden/Gräser 2007). Dieses Kapitel befasst sich mit den philosophischen und praktischen Grundlagen für eine Beteiligung der Öffentlichkeit bei Rationierungsentscheidungen in der Medizin. Ich argumentiere, dass die theoretischen Grundlagen und ethischen Annahmen der Wohlfahrtsökonomie und die daraus abgeleiteten Ergebnisse ökonomischer Kosten-Nutzen-Analysen bei weitem nicht ausreichen, um normative Entscheidungen fällen zu können. Ein mögliches theoretisches und praktisch anwendbares Gegenmodell sollte davon ausgehen, dass Gesundheit und Bildung die wesentlichen Assets des Einzelnen sind, um in einer Marktwirtschaft partizipieren zu können, mithin die Gesundheits- und Bildungssysteme einer Gesellschaft von eminent hoher Bedeutung – somit sollten die Bürger mit diskutieren und möglichst mittelbar mit zu einer Entscheidung beitragen können. Gleichzeitig muss ein solches alternatives Modell über eine einfache Beteiligung von Versicherten und Patienten hinausgehen und quantitative Daten liefern, um der etablierten Kosten-Nutzen-Analyse wirksam entgegen treten zu können. Das Kapitel ist wie folgt aufgebaut: in Teil 1 geht es um den Begriff der Rationierung und warum diese immer zwingender wird. Teil 2 befasst sich mit dem Erfolg der Kosten-Nutzen Analyse und des QALY-Ansatzes trotz erheblicher und letztlich wohl nicht überwindbarer Probleme. Teil 3 skizziert die politisch-philosophischen Grundlagen einer intensiven Bürgerbeteiligung und Teil 4 zeigt zwei potenzielle Wege auf, ein theoretisches Konzept in die Praxis umzu-

* Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

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setzen. Abschließende Bemerkungen und ein Ausblick finden sich im fünften Teil.

1. Zum Begriff der Rationierung und dem zunehmenden Rationierungsdruck Rationierung ist ein emotional stark besetzter Begriff, er bedeutet, in einer nicht-marktlichen Situation einer Person etwas vorzuenthalten, was ihr nutzen würde. Typische Beispiele sind die Rationierung von Lebensmitteln in Kriegsund Krisenzeiten oder die Zuteilung von Plätzen in einem Rettungsboot. Um diese Konnotation zu vermeiden, wird vielfach in der aktuellen Diskussion von Priorisierung, Definition eines Leistungskataloges, oder einer Grund-/Basisversorgung gesprochen. Jedoch verwässern diese Begriffe das Kernproblem: einer Person wird ein ihr nützliches Gut vorenthalten. Bezogen auf solidarisch finanzierte Gesundheitsleistungen bedeutet dies: in letzter Konsequenz wird die Gesundheit einer (bestimmbaren) Person beeinträchtigt bzw. nicht wieder vollständig hergestellt. Der Begriff „Rationierung“ zeigt an, welche Problematik dort besteht, welches moralisches Dilemma und welche Beeinträchtigung eines Grundrechtes. Andere Begriffe klingen weniger pejorativ, verschleiern aber auch die Bedeutung des Vorgangs. Eine Einschränkung ist hier jedoch notwendig: es ist in der Regel keine absolute (harte) Rationierung, das heißt, die betroffene Person kann sich aus eigenen Mitteln die ihr verweigerte Leistung auf einem (Schwarz-) markt kaufen. Der Begriff „Rationierung“ sollte jedoch meines Erachtens in der Diskussion um Leistungsbeschränkungen in der GKV beibehalten werden, um die Brisanz des Themas zu verdeutlichen. Rationierung bedeutet also in diesem Zusammenhang: medizinisch effektive Leistungen werden nicht von der Gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt; Individuen können sich jedoch privat diese Leistungen kaufen bzw. sich entsprechend versichern. Das Grundproblem liegt, wie immer in der Ökonomie, in der Diskrepanz zwischen verfügbaren Mitteln und den Wünschen. Die Finanzen der GKV sind an die Grundlohnentwicklung geknüpft, was nicht nur eine Abhängigkeit von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bedeutet, sondern auch von der Lohnquote. Der Rückgang der Lohnquote und ebenso der Rückgang sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze (z. B. durch Ich-AGs) verringert die Basis, auf die Sozialversicherungsbeiträge erhoben werden. Zudem gibt es eine weiteren Grenze zu berücksichtigen: die Präferenzen der Beitragszahler. Das Wechselverhalten der Versicherten innerhalb des GKV-Systems bringt klar zum Ausdruck, dass (zumindest für gesunde und junge Versicherte) der Beitragssatz das mit Abstand wesentlichste Kriterium für die Wahl einer Krankenkasse ist. Solidarität lässt sich nur in gewissen Grenzen durchsetzen. Dem gegenüber steht die

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ausgesprochen hohe Innovationsdynamik in der Medizin. Die Verbindung aus altruistischer Motivation und Erwartung überdurchschnittlicher hoher Renditen führt zu immer neuen Entwicklungen, das Leben zu verlängern oder die Lebensqualität zu verbessern (May 2002). Diese Innovationsdynamik trägt wahrscheinlich mehr zur Ausgabensteigerung bei als der demographische Wandel mit der oft postulierten bislang aber nicht klar empirisch belegten Medikalisierung der Bevölkerung. Somit ist das Grundproblem primär ökonomisch. Argumente gegen die Pleonexie (Höffe 1998) oder für den Vorrang der Rationalisierung vor der Rationierung sind gerechtfertigt und theoretisch schlüssig, der Fakt aber bleibt bestehen und scheint zumindest kurz- bis mittelfristig nicht grundsätzlich lösbar (zudem die Beseitigung von Ineffizienz nur einmalig wäre und das Wachstum aber wahrscheinlich anhielte). Die Diskrepanz zwischen den finanziellen Grenzen und den medizinischen Möglichkeiten wird wahrscheinlich erheblich zunehmen. Ein Rationierungsmodus ist damit notwendig, sofern nicht implizite, also nicht ausdrücklich diskutierte Rationierung betrieben werden soll, wie beispielsweise durch Verzögerungen, ärztliche Einzelfallentscheidungen, Zufall und ähnlichem. Gewichtige Gründe sprechen aber gegen implizite Rationierung: vermutlich gibt es deutlich unterschiedliche Präferenzen in der Bevölkerung bezüglich der Rationierung (man denke nur an altersbasierte Rationierungsansätze); die explizite Ausgrenzung von Leistungen erlaubt zudem, rechtzeitig Versicherungen abzuschließen, um Versorgungslücken zu schließen und schließlich erscheint es als ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, so bedeutende Entscheidungen wie die Gewährung oder die Vorenthaltung von medizinischen Leistungen offen zu diskutieren (Breyer 2002).

2. Warum ist die Kosten-Nutzen-Analyse so erfolgreich? Das Dilemma der Zuteilung von knappen Leistungen in der Medizin ist ausführlich aus verschiedensten Blickwinkeln diskutiert worden (beispielhaft Marckmann 2003), praktikable Lösungen wurden hingegen nur sehr selten vorgestellt. In diesem praktischen Vakuum konnte die ökonomische Theorie in kürzester Zeit dominieren, weil sie etwas hat, was andere Theorien und Konzepte nicht haben: Zahlen, scheinbar harte Fakten und ein Konzept, das Rationierung praktikabel macht. Das von dem Yorker Ökonomen Alan Williams entwickelte Quality-Adjusted Life Year (QALY) und das von einem anderen Yorker Ökonomen, Anthony Culyer konzipierte englische „National Institute for Health and Clinical Excellence“ (NICE) sind die konsequenteste Weiterentwicklung und praktische Anwendung der Wohlfahrtstheorie in der Medizin. Das QALY ergibt sich aus der Multiplikation von (gewonnenen) Lebensjahren mit der (gewonnenen) Lebensqualität (LQ). LQ ist schwierig zu beschreiben

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und noch schwieriger zu operationalisieren. Inzwischen gibt es valide und reliable Indexinstrumente (d.h. eindimensionale Instrumente), mit denen sich die individuelle LQ abbilden lässt. Hier beginnt auch schon ein Kernproblem des QALY-Ansatzes (und aller anderen LQ-basierten Instrumente ebenso). Es werden individuelle Präferenzen abgefragt und aggregiert. Dies erfasst nicht sozial erwünschte Verteilungen. Zwar kann Verteilungspräferenzen und der Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit („equity“) abgefragt und in das QALY-Kalkül inkorporiert werden (Obermann/Mautner 1999), doch sind individuelle Lebensqualität und distributives Gerechtigkeitsempfinden zwei unterschiedliche Konzepte, die nicht ohne weiteres kombiniert werden können. Als Beispiel sein die „rule of rescue“ genannt, die menschliche Präferenz dem unmittelbar bedrohten Mitmenschen zur Hilfe zu kommen gegenüber einem statistischen Vorteil, den eine andere Handlung böte – die Bevorzugung des „individuellen“ vor dem „statistischen“ Leben. Wenn beispielsweise ein Kind in einen Brunnen fällt, so wird sehr hoher Aufwand betrieben, dieses zu retten. Statistisch betrachtet, könnte man mit dem selben Aufwand viel mehr Kinder retten (z. B. durch kindersichere Medikamentenschränke oder Schulung zur Vermeidung von Todesfällen durch akute Asthma-Anfälle), jedoch werde das akut bedrohte, individuelle Leben höher bewertet als das unpersönliche, statistische Leben. Es fehlen in dem vom Individuum ausgehen Ansatz zudem die zentralen Aspekte des Diskurses, des Ausgleichs, des Verstehens, der Entwicklung von Visionen usw. – kurz, alles das, was den Austausch zwischen Personen so zentral für das gesellschaftliche Leben macht. Zumal die Präferenzen von geistig Behinderten und psychisch Kranken nicht erfasst werden können, hier nur sehr fragwürdige Surrogate möglich sind. (Siehe für eine Übersicht: Schwappach 2002.) Weiterhin ist in der Wohlfahrtsökonomie der „Nutzen“ nicht klar definiert. Richardson (2000) beschreibt detailliert die Probleme „welfarism“ (Wohlfahrtstheorie) und „extra-welfarism“ logisch klar von einander zu trennen und diese in der Diskussion um soziale Werte zu verwenden. Er kommt zu dem Schluss: „Perhaps the most disquieting legacy of formalist ,economic orthodoxy‘ and the subject matter of this article is the way in which the assumptions, necessary for formal and orthodox analyses, have transformed important social questions – questions which should be the subject of intense ethical debate – into questions which appear to be technical in nature and the province of economic analysis.“ (Richardson 2000, S. 2)

NICE wurde gegründet, um die Ergebnisse von Kosten-Nutzen-Analysen in praktische Handlungsvorgabe für die englische Gesundheitspolitik umzusetzen. Hierzu gehören ein standardisiertes Vorgehen, ein hohes Maß an Öffentlichkeit und insbesondere technisch gute Studien. Der Grenzwert, ab dem neue Therapien nicht routinemäßig bezahlt werden liegt momentan bei etwa 30.000– 50.000 Britische Pfund/QALY. Obgleich die Öffentlichkeit in alle Phasen des Prozesses in hohem Maße eingebunden ist, fehlt ein grundlegendes Konzept,

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was die Rolle der Bürger sein kann und sollte. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Köln (IQWiG) ist dem NICE nachempfunden und bemüht sich momentan darum, entsprechende Verfahren und Vorgehensweisen zu etablieren, aber auch hier fehlt eine grundlegende Diskussion zur Rolle von Bürgern, Versicherten und Patienten. Das ökonomische Kalkül bleibt also mit erheblichen Problemen behaftet und letztlich finden die Ergebnisse oftmals nur unzureichende Umsetzung im politisch-administrativen Prozess. Es wurde vorgeschlagen, die Kosten-Nutzen-Analyse mit den Instrumenten der Public-Choice/ politischen Ökonomie zu ergänzen (Goddart et al. 2006). Hier wird versucht mit dem ökonomischen Instrumentarium die Motive und Ziele von Politikern und Verwaltern zu analysieren und entsprechende Mechanismen in Institutionen zu installieren, um Eigennutz der Individuen mit dem Nutzen der Gesellschaft kompatibel zu machen (Pies 2002). Die optimale und effiziente Nutzung von Ressourcen kann wahrscheinlich niemals erreicht werden, allerdings kann versucht werden durch entsprechende Inzentivierungen möglichst wohlfahrtskonforme Handlungen zu fördern. Eine inhaltliche Diskussion über die zu fördernden Handlungen jenseits des konzeptionellen Rahmens der Wohlfahrtsökonomie findet allerdings nicht statt. Während NICE und auch der Public Choice Ansatz von Goddart et al. wichtige Weiterentwicklungen bzw. Ergänzungen der Wohlfahrtsökonomie bedeuten, so bestehen doch erheblich theoretische Bedenken und auch praktische Probleme in der Umsetzung. Wieso konnte sich das QALY trotzdem so weit durchsetzen? Richardson (2000) trägt vier Gründe zusammen, warum die „ökonomische Orthodoxie“ so vorherrschend ist: – Sie sei das Ergebnis einer geschickten Manipulation eines intellektuellen Konzepts, das durch ein Netz von Gutachtern, Herausgebern und Forschungsförderung sich eine eigene Welt geschaffen habe. – Das herrschende Paradigma drücke die Präferenzen derjenigen aus, die früher das Feld dominiert haben – da dies nahezu ausschließlich Männer waren, habe sich die männliche Vorliebe für abstrakte und manipulative Aktivitäten durchgesetzt. – Die Ökonomen hätten Methoden aus den erfolgreichsten Wissenschaften, insbesondere der Physik übernommen und nutzten deren analytische Präzision unabhängig davon, ob die dazu notwendigen Axiome irgendeine Validität besäßen. – Theorie sei viel billiger und weniger frustrierend als langwierige empirische Studien durchzuführen. Für den Bereich der Rationierung medizinischer Leistungen spielt meines Erachtens nach die wichtigste Rolle, dass die Kosten-Nutzen-Analyse zu praktisch anwendbaren Ergebnissen führt, zu (anscheinend) klaren Zahlen, zu nachgerade

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mesmerisierender Exaktheit und Klarheit, ganz im Gegensatz zu dem „muddling through“ der Rationierung und der Komplexität und Unlösbarkeit moralischer Dilemmata. Ein alternatives Konzept muss bei diesem zentralen Vorteil des QALY-Ansatzes zumindest teilweise gleich ziehen. Es muss praktisch anwendbar sein und sollte quantitative Daten erbringen. Im Folgenden wird ein philosophischer Ansatz herangezogen, der auf der Theorie von John Rawls und der Erweiterung von Norman Daniels beruht und es werden zudem zwei Ansätze vorgestellt, mit dem diese recht abstrakte Theorie eventuell praktisch umgesetzt werden könnte.

3. Theoretische Grundlagen einer Bürgerbeteiligung Warum sollte es überhaupt solidarisch finanzierte Krankenversicherung geben? Ein Begründungsansatz wurde von John Rawls in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ (1972) entwickelt: basierend auf der Idee des Kontraktualismus, eines Vertrages zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft, wird angenommen, dass diese Mitglieder bei der Ausarbeitung des Vertrages hinter einem „Schleier der Ungewissheit“ stehen und somit nicht wissen, wo sie in der Gesellschaft einmal stehen werden. Damit werden bei der Gestaltung von Normen und Institutionen alle denkbaren Positionen in einer Gesellschaft berücksichtigt. Für die theoretische Diskussion über die Grundlagen einer Rationierung in der Medizin kann dieser Ansatz so formuliert werden: Die Mitglieder einer (Versicherten-)Gemeinschaft schließen einen hypothetischen Vertrag und verpflichten sich damit zur wechselseitigen Hilfe in bestimmten Fällen. Die Idee eines Zusammenschlusses hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ erscheint dabei besonders attraktiv, da der Einzelne nicht weiß, wo er stehen wird, in welches Umfeld er hineingeboren wird, mit welchen Begabungen er ausgestattet ist, ob körperliche oder geistige Schwächen bestehen und welche gesundheitliche und sonstige Risiken ihn erwarten. In diesem Gedankenexperiment kommt es zu einem Zusammenschluss von Personen zu wechselseitigen Unterstützung, die Widrigkeiten der „natürlichen und sozialen Lotterie“ (Rawls) werden in bestimmtem Umfang gemildert. Der Zusammenschluss erfolgt aus rationalem und egoistischem Kalkül, ein solcher Kontrakt ist letztlich für jedermann profitabel. Dabei ist daran zu denken, dass ein solcher Vertrag hypothetisch ist, also nicht von einer bewussten Person zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen wird. Rawls formuliert diese Idee weiter aus, indem er bestimmte sogenannte Grundgüter, z. B. bürgerliche Freiheiten, Einkommen, Zugang zu Ämtern und Positionen, als die Objekte einer distributiven Gerechtigkeit in dieser Situation benennt. Norman Daniels (1985) hat in diesem Rahmen zu begründen versucht, warum Gesundheitsversorgung „besonders“ ist. Hiernach ist Gesundheit, oder

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nach seiner Terminologie, die „spezies-typische Funktionsfähigkeit“ („speciestypical functioning“), zusammen mit Bildung eine unbedingte Voraussetzung, um innerhalb einer Gesellschaft Lebenspläne realisieren zu können und auf einem „Markt“ kompetitiv zu sein. Medizinische Betreuung dient seiner Ansicht nach dazu, die natürliche und soziale Lotterie soweit zu kompensieren, dass die Teilnahme am Wettbewerb (in einem weiten Sinne) möglich wird. Gleichzeitig können die Grundgüter individuell besser genutzt werden. Das Können und das Talent des Einzelnen sind nicht gleich verteilt und werden auch nicht umverteilt werden können, aber zumindest wird jedem eine faire Chance geboten, seine Fähigkeiten so weit wie möglich zu verwenden. Gesundheit ist mithin ein wesentliches Element der „fairen Chancengleichheit“ („fair equality of opportunity“), die in einer Gesellschaft definiert wird. Wie viel Aufwand sollte/will eine Gesellschaft nun betreiben, um gesundheitliche Ungleichheiten zwischen Individuen auszugleichen? „[The] fair equality of opportunity account is compatible with deep strands in our moral and political tradition, indeed, with some of the more defensible features of that tradition. That agreement provides a lever that is worth trying to pull.“ (Daniels 1985, S. 229)

So philosophisch elegant und moralisch nachvollziehbar die Theorie ist, so problematisch gestaltet sich ihre praktische Umsetzung. Wie könnte ein „unparteiischer Richter“ aussehen, der hinter dem künstlichen „Schleier der Ungewissheit“ Entscheidungen darüber trifft, wie die solidarisch finanzierte Krankenversicherung aussieht und welche Leistungen sie abdeckt? Daniels selbst stellt ernüchternd fest: „The fair equality of opportunity account does not give us lessons in strategy for reform.“ (Daniels 1985, S. 227–8)

Nur wenn es gelingt ein Konstrukt zu schaffen, das diesen „unparteiischen Richter“ abbildet, kann das philosophische Konzept in die Praxis umgesetzt werden (siehe ausführlicher Obermann 2000). Generell gesprochen, da es sehr unwahrscheinlich erscheint, einen Einzelnen mit dieser Aufgabe betreuen zu können, bietet es sich an, die Betroffenen, also Versicherte, Patienten, Leistungserbringer zu befragen. Hier, bei diesen Personengruppen, liegen prinzipiell die Erfahrungen und die Wertvorstellungen, die zusammengeführt eine solche Aufgabe lösen könnten.

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4. Mögliche praktische Ansätze 4.1 Eine Vorbemerkung: Warum Vernetzung ins Spiel kommt

Der Grad der Vernetzung in der Welt steigt unaufhörlich und die Globalisierung und die Kommunikationstechnologien verändern den Alltag. Die entstehende Komplexität und Dynamik stellt die Menschen vor große Herausforderungen, da der schnelle Wandel der Rahmenbedingungen eine hohe Anpassungsbereitschaft erfordert und nach ungewöhnlichen Lösungen verlangt. Die Fähigkeit, Selbstverständliches in Frage zu stellen, ist dabei eine zentrale Schlüsselkompetenz. Die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden ständig neu geschrieben und tradierte Rollen und Vorgehensweisen verlieren häufig an Gültigkeit. Die Intelligenz Einzelner reicht zur Problemlösung nicht mehr aus und verantwortliches Handeln braucht vielmehr den offenen Diskurs zwischen Anspruchsgruppen. Nur wenn möglichst viele Menschen ihre Kompetenz in die notwendigen Denk-, Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse einbringen, können die Aufgaben noch angemessen bewältigt werden. Eine frühzeitige Involvierung aller Beteiligten und Betroffenen und tragfähige Sinnstiftung ist dabei unverzichtbar. Ohne eine genaue Kenntnis der Wertelandschaften in der Gesellschaft bleibt die Resonanzbildung eher zufällig. Für alle Akteure im öffentlichen und politischen Raum ist es von entscheidender Bedeutung, zu verstehen, welche Einstellungen und emotionalen Befindlichkeiten die Gegenwart prägen und welche Entwicklungsrichtungen die intuitiven Einschätzungen der Menschen nehmen. Der Versuch, gesellschaftliche Kenngrößen über direkten steuernden Eingriff zu beeinflussen, ist wenig aussichtsreich. So lässt sich beispielsweise die Geburtenrate eines Landes nicht nachhaltig über die Schaffung zusätzlicher Kindergartenplätze oder über finanzielle Anreize erhöhen. Entscheidend sind die Werthaltungen der Menschen gegenüber Kindern, Partnerschaft und Familie. Ebenso verhält es sich mit dem Gesundheitswesen: Jegliche Form der Rationierung kann nur dann eine weitergehende Akzeptanz erhalten, wenn die Wertesysteme der Betroffenen berücksichtigt werden – dies geschieht am besten über Abbildung und Messung. (Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, instinktiv Werte von Bevölkerungsgruppen zu erfassen und dies in ihre Handlungen einfließen zu lassen.) Beispielhaft sollen im Folgenden ein interessanter konkreter Ansatz und einige potentielle Möglichkeiten der InternetRevolution dargestellt werden. 4.2 Der „NextExpertiser“©

Das Prinzip des NextExpertiser kommt ursprünglich aus der Hirnforschung. Grundlage ist die Beobachtung, dass nur ein Bruchteil der vom Menschen aufgenommenen Information das Bewusstsein erreicht, somit auch nur dieser Bruchteil bewusst gegebene Antworten steuert. Im Gegenzug steuern die nicht

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bewusst verarbeiteten Informationen natürlich in hohem Maße die intuitiven Reaktionen. Menschen entscheiden meist nach diesen intuitiven, oft unbewussten Kriterien. Wer diese „weichen“ Faktoren nutzen will, muss sie sichtbar machen. Fragebogenuntersuchungen helfen dabei nicht weiter. Methoden zur Messung individueller Wertesysteme stehen vor einem dreifachen Problem: (1) Die individuellen Wertesysteme, die das Handeln der Menschen bestimmen, sind zu wesentlichen Teilen nicht bewusst zugänglich. Der Gegenstand der Messung entzieht sich dem rationalen Zugriff und kann nur indirekt erschlossen werden. (2) Methoden, die mit vorgegebenen Antwortkategorien arbeiten, sind aufgrund der Mehrdeutigkeit von Sprache nur sehr ungenügend in der Lage, Tiefenstrukturen offen zu legen. Die Notwendigkeit, sich in der Begriffswelt des Fragebogenkonstrukteurs zu bewegen, erschwert den Zugang. (3) Aber selbst, wenn Menschen frei über ihre Sichtweisen und Einstellungen erzählen, erschließt sich die eigentliche Bedeutung nur über den Kontext ihrer Lebensgeschichte. Einzelaussagen können nicht eindeutig interpretiert werden. Um das zu erreichen, hat die Bremer Unternehmensberatung nextpractice das computergestützte Analyse-Tool NextExpertizer entwickelt. Mit diesen Verfahren ist es möglich, die Aussagekraft qualitativer Interviews mit der Vergleichbarkeit quantitativer Fragebögen zu verbinden. Letztlich führt der Einsatz des NextExpertiser dazu, unbewusste Werturteile und Einschätzung zu erfassen und diese quantitativ und graphisch abzubilden (Kruse 2004). In einer Reihe von Settings wurde dieses Verfahren bislang eingesetzt und konnte durch die vorgabenfreie Herangehensweise insbesondere a priori nicht erkennbare Themenfelder, so genannte „Resonanzfelder“ identifizieren. So untersuchte nextpractice beispielsweise in Kooperation mit dem Hamburger Wirtschaftsmagazin „brand eins“, welchen Anforderungen Eliten und gesellschaftliche Vorreitergruppen künftig genügen müssten. Es zeigte sich, dass etwa 30 Prozent der rund 100 Befragten die Zielvorstellung einer „neuen Elite“ in einer Form definierten, die quer zu den klassischen Konzepten einer individuellen Leistungselite beziehungsweise einer eher egalitären Nichtelite steht. Die Resonanzfelder, die dieser Avantgarde zugeordnet wurden, ließen sich unter dem Begriff „ganzheitliche Sinnstiftung“ zusammenfassen. Diese Elite bildet sich situativ und aufgabenbezogen. Ihre Protagonisten haben eher nichtgradlinige Biografien und kennen permanente Veränderung. Diese Elite kombiniert Reflexionsfähigkeit, Prozessdenken und visionäre Vorstellungskraft, betrachtet dabei Solidarität als einen zentralen Wert und sieht ihre vorrangige Aufgabe in Sinnstiftung (Sommer 2006).

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In einem Pilotprojekt könnte geprüft werden, ob die hier entwickelte Verbindung zwischen philosophischer Theorie und hirnphysiologisch basierter Fragetechnik einen sinnvollen Ansatz bietet, um das Problem der Prioritätensetzung im Gesundheitswesen angehen zu können. Es bietet sich an, eine sehr fokussierte Frage zu bearbeiten, um zu sehen, ob eine praktische Umsetzung möglich ist. Beispielsweise könnten zwei Themenfelder ausgewählt werden: Prioritätensetzung bei Vorsorge-Untersuchungen und eine Abwägungsproblematik in der klinischen Versorgung. Diese Themenfelder decken die Enden eines Spektrums von Entscheidungen ab, die in der Gesundheitsversorgung zu treffen sind. Von der unpersönlichen, auf generellen Risiken basierenden Risikoverminderung, die gleichwohl unterschiedliche Personengruppen (Geschlecht, Alter) mit unterschiedlichen Gesamtrisiken betreffen, zu Entscheidungen zwischen konkreten Individuen in der klinischen Versorgung. 4.3 Das Internet

Ein bislang gewichtiges Argument gegen weitergehende Bürgerbeteiligung waren die in der Regel prohibitiv hohen Transaktionskosten. Durch das Internet sind diese enorm gefallen und die Entwicklung von Marktplätzen und Communities zeigt, welche Interessen bislang nicht durch die traditionelle Kommunikationsmedien abgedeckt werden konnten. Diese Dynamik findet sich auch in der Medizin, so beispielsweise in dem Management von neuen Informationen oder in der Nutzung von „google“ zur Diagnose-Findung (Tang/Ng 2006). Momentan lassen sich prinzipiell drei Modelle des Internets als Kommunikationsmedium und Transaktionsraum unterscheiden: das ebay-, das Wikipediaund das Chatroom-Modell (Rauchhaupt 2007). Das ebay-Modell verkörpert einen neuen Markt aufgrund gesunkener Transaktionskosten. Dieser Markt erlaubt nicht nur, real zu kaufen und zu verkaufen, sondern generiert immens viele Informationen, die auch jenseits des eigentlichen Marktgeschehens genutzt werden können. So liefert ebay Daten zur empirischen Analyse von Spieltheorie, das Marktkonzept wurde auch schon genutzt, um Wahlergebnisse voraus zu sagen und ganz generell erlaubt die Preisentwicklung eine Einschätzung von Trends, Präferenzen und Subkulturen. Ebay als market maker ist zuständig für Sicherheit, Markttransparenz und ermöglicht auch Mikro-Zahlungen, um die Transaktionskosten weiter zu senken. Dieses Modell kann dazu dienen, praktisch jedes marktfähige Gut einer dezentralen Bewertung zu unterziehen. Aber auch nicht-marktfähige Güter könnten durch entsprechende Surrogat-Marker einer Bewertung zugeführt werden. So könnte beispielsweise nach jeder ebay-Transaktion gefragt werden, ob und wenn ja für welchen Bereich ein Teil der ebay-Kosten abgeführt werden: lässt man beispielsweise zwischen Kinderbetreuung, Umweltschutz und Frauenförderung wählen, so wäre ein Abbild relativer Präferenzen denkbar.

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Das Wikipedia-Modell beruht auf der freiwilligen Teilnahme, um strukturiert Wissen bereit zu stellen. Hier zählt nicht, wie in der akademischen Welt, der Name auf der Veröffentlichung, sondern die Freude an der Sache und das Ergebnis. Die Ergebnisse so kollektiver und (semi-)anonymer Anstrengung lassen sich sehen. Eine viel diskutierte Untersuchung von „Nature“ zeigt Wikipedia praktisch gleichauf mit dem Wissen in der renommierten „Encyclopedia Britannica“ (Giles 2006). Das Wichtige dabei: die Fehler, die in „Wikipedia“ gefunden wurden, waren wenige Minuten nach Bekanntgabe der Ergebnisse korrigiert – hier zeigt sich die Reaktionsfähigkeit und Flexibilität des Systems. Allerdings gibt es auch nicht zu unterschätzende Probleme: neben an der Sache Interessierten gibt es immer wieder auch Spaßvögel beziehungsweise Destruktoren, die lediglich zerstören wollen. Die durch solche kontraproduktiven Handlungen erzeugte Unsicherheit hat dazu geführt, Wikipedia nicht als wissenschaftlich seriöse Quelle zu akzeptieren. Trotzdem macht das Wikipedia-Modell deutlich, das es eine große Gruppe von Menschen gibt, die bereit ist, ohne direkte Kompensation an einem gemeinsamen Modell für die allgemeine Gesellschaft mitzuarbeiten. Beim Chatroom-Modell findet sich eine Gruppe an einem Thema interessierter Menschen zusammen, um über dieses Thema zu diskutieren. Die Thematik und die Qualität solcher Chatrooms oder Foren ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Eine Möglichkeit, solche Chatrooms zu nutzen ist zunächst einmal die Aktivitäten dort zu quantifizieren. Beispielsweise kann die reine Häufigkeit mit der Themen genannt und diskutiert werden, einen Hinweis auf deren Bedeutung geben. Auch können Verknüpfungen zwischen Themen analysiert werden, um Hinweise darauf zu geben, welche inhaltlichen Bereiche näher betrachtet werden sollten. Solche Analysemodelle gibt es bereits in der Proteinbiologie, wo die häufige gemeinsame Nennung bestimmter Proteine darauf hindeutet, wo demnächst wichtige neue Entwicklungen zu erwarten sind. Investoren nutzen bereits diese Instrumente. (Siehe dazu die Webseite der „biosemantics group“ an der Erasmus Universität Rotterdam, http://www.biosemantics.org/.) Weiterführende virtuelle Welten wie zum Beispiel „secondlife.com“, in denen reales Geld eingesetzt wird, um mit virtuellem Geld sich einen komplettes neues Leben aufzubauen (When 2007) dienen als quasi Experimental-Labor, um neue Formen virtuellen gesellschaftlichen Zusammenseins zu testen. Allerdings steht hierbei primär zumindest mittel- bis langfristig kommerzielles Interesse im Vordergrund. Jedoch ist sehr wohl denkbar, solche virtuellen Welten auch in die sozialpolitische Diskussion einzubringen. Beispielsweise sind Konzepte denkbar, bei denen einer Diskussionsrunde die Probleme medizinischen Handelns nahe gebracht werden und wo die Gruppe über Einzelschicksale entscheiden soll. Dies kann dann in einem größeren Zusammenhang reflektiert werden, beispielsweise, wenn dieselbe Gruppe dann über die Allokation eines Gesundheitsbudgets entscheiden muss.

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In jedem Fall benötigt das im Prinzip sehr mächtige Instrument „Internet“ eine strukturierende, lenkende oder systematisch auswertende Einrichtung, um vernünftige Ergebnisse zu erzeugen. Dies sind erste Gedanken, es sollte aber vor allem darum gehen, mögliche neue Ansätze aufzuzeigen, wie die neuen Techniken genutzt und wie die dahinter stehenden Motivationen eventuell für nicht-kommerzielle Zwecke eingesetzt werden können. Entscheidend wird dabei sein, die enge Verbindung zwischen politisch-philosopher Fundierung und praktischer Anwendung immer wieder zu erneuern, um den Gefahren der mangelnden Praxis theoretischer Überlegungen beziehungsweise dem rein praxisgeschuldeten Eklektizismus in der Anwendung neuer Techniken zu begegnen.

5. Schlussbemerkung Bislang hat explizit Rationierung im deutschen System der gesetzlichen Krankenversicherung nur in sehr begrenztem Maß statt gefunden. Formen des Leistungsausschlusses hingen oft mit den Fragen von „Selbstverschuldung“ und „individueller Freiheit“ zusammen, so haben beispielsweise Herzchirurgen Rauchern, die das Rauchen nicht aufgeben wollten, keine Bypässe gesetzt. Das Wettbewerbsstärkungsgesetz greift dieses Thema auf und benennt explizit „Komplikationen nach Tätowierung“ als Kondition, deren Behandlung nicht finanziert würde. Eine erratische, ökonomisch irrelevante Fußnote, die aber deutlich macht, welche Strömungen und Gesetze entstehen können, wenn das Thema „Rationierung“ nicht explizit und prinzipiell diskutiert wird. Das hier erstmals eingebrachte „Verschuldensprinzip“ hat erhebliche Konsequenzen für die Gestaltung der GKV. Denn wenn man es einführte, dann muss auch gleiches Recht für alle gelten und die Frage nach Verschulden stellt sich dann ebenso bei Sportunfällen, medizinischen Komplikationen bei Übergewicht und fehlender Compliance in der Medikamenteneinnahme. Der Rationierungsdruck wird zunehmen. Das momentan dominierende ökonomische Instrument der Kosten-Nutzen-Analyse kann zwar den allgemeinen Nutzen maximieren, die Probleme der interindividuelle Nutzenaggregation, der ausgleichenden Gerechtigkeit und vor allem der „rule of rescue“ sind aber enorm. Es besteht Bedarf an alternativen Formen der Rationierung, die auf einer klaren theoretischen Grundlage beruhen und die praktikabel sind, zudem vailde und reliable Ergebnisse hervorbringen. Eine simple Bürgerbefragung oder -beteiligung, so sehr sie zumindest äußerlich den Anschein einer Einbindung in einen Entscheidungsprozess vermuten lässt, bleibt doch Beiwerk, wenn die Rollen, die Möglichkeiten und Grenzen solcher Beteiligungen oder von Befragungsergebnissen nicht theoretisch begründet und klar definiert sind. Zudem sind Konfliktlösungsmechanismen a priori

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notwendig, wenn nicht solche Beteiligungen oder Befragungen eine Feigenblattfunktion darstellen sollen. In diesem Kapitel wurde versucht, ein theoretisch überzeugendes Modell näher an die praktische Umsetzung zu bringen. Die möglichen Instrumente und Konzepte konnten nur skizziert werden, in einem nächsten Schritt müssten sie ausgearbeitet und erprobt werden. Der Bedarf an Alternativen zum momentanen Umgang mit Knappheit ist groß – letztlich wird der „Markt“ in Wissenschaft und Praxis entscheiden, welche Verfahren und Ansätze genutzt werden, um Rationierung in der Medizin durchzuführen. Allerdings spricht viel dafür, Versicherten, Patienten, Angehörigen, Pflegenden und der allgemeinen Öffentlichkeit ein Mitspracherecht bei diesem Verfahren einzuräumen. Ein solches Vorgehen nähert sich dem Konzept der „empirical ethics“ (Richardson 2000), bei dem ethische Theorien und Konzepte nicht nur an intuitiver Einschätzung, sondern an aller verfügbaren Evidenz gemessen werden; bei dem theoretische Modelle zeigen müssen, ob sie Lebenswirklichkeit abbilden und nutzbringend einsetzbar sind.

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Ist die Allokation von Nierentransplantaten optimal? Eine empirische Überprüfung anhand des DALY-Konzeptes auf Datenbasis des United States Renal Data System (USRDS) Monique Zimmermann-Stenzel und Ulrich Mueller

1. Einleitung und Fragestellung Trotz der Unternehmungen in der Forschung ist es noch nicht möglich, Menschen, die aufgrund eines chronischen Nierenversagens auf eine Nierenersatztherapie angewiesen sind, eine Niere, die einem geeigneten Tier entnommen wird („Xeno-Transplantation“), oder eine Niere, die mittels eigener Stammzellen gezüchtet wird, zu transplantieren. Daher sind die betroffenen Patienten weiterhin auf die Spendernieren anderer Menschen angewiesen. Problematisch ist dies deshalb, weil die Nachfrage nach Spendernieren größer ist als das Angebot und daher die Patienten nur nach einer gewissen Wartezeit ein Organ erhalten. Doch die Relevanz und Brisanz der Allokation von Nieren-Transplantaten wird erst dann sehr deutlich, wenn man sich die medizinischen und epidemiologischen Hintergründe vor Augen hält (vgl. Kapitel 1.1 und 1.2). Bisher befassen sich viele Studien damit, inwiefern es bei der Allokation von Nieren-Transplantaten soziale Ungleichheiten gibt (vgl. Kapitel 3.). Keine Untersuchung beschäftigt sich jedoch damit, ob die Zuteilung der Spender-Nieren – trotz sozialer Ungleichheiten – optimal im Sinne der Maximierung der Überlebenszeit ist. In dieser Arbeit werden U.S. amerikanische Daten analysiert, weil für Deutschland Daten dieser Qualität (noch) nicht vorliegen (Frei/Schober-Halstenberg, 2004). Daher wird im Folgenden nur auf die U.S. amerikanische Situation eingegangen. 1.1 Medizinische Hintergründe terminaler Niereninsuffizienz

„Chronische Niereninsuffizienz bezeichnet die unzureichende Fähigkeit beider Nieren, die harnpflichtigen Stoffwechselprodukte (z. B. Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure) aus dem Körper auszuscheiden“ (Statistisches Bundesamt, 1998). Der Schweregrad des chronischen Nierenversagens kann mehreren Stadien zugewiesen werden. Die terminale Niereninsuffizienz (engl.: „end-stage renal dis-

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Monique Zimmermann-Stenzel und Ulrich Mueller

ease“, „ESRD“) ist nun das vierte und letzte Stadium des chronischen Nierenversagens, welches an bestimmten medizinischen Parametern festgemacht wird. Eine tödliche Harnvergiftung kann nur durch Dialyse (Hämo- oder Peritonealdialyse) oder Nieren-Transplantation abgewendet werden. Bis zum Erhalt eines geeigneten Transplantats sind jedoch alle Patienten an eine Dialyse-Behandlung als lebenserhaltende Maßnahme angewiesen. Für geeignete Patienten ist jedoch die Nierentransplantation der Königsweg der Behandlung bei terminaler Niereninsuffizienz verbunden mit einer höheren Lebensqualität und einer durchschnittlich deutlich höheren verbleibenden Lebenserwartung in allen Altersklassen1 (U.S. Renal Data System, 2005). Jedoch ist es nicht möglich bzw. sinnvoll, dass einfach der ESRD-Patient, der schon am längsten auf eine Spenderniere wartet, das zu vergebende Spenderorgan erhält2. Vor allem immunologische Faktoren, wie z. B. die „human leukocyte antigens (HLA)“, spielen bei der Zuteilung eine wichtige Rolle. Durch die Transplantation einer Spenderniere eines Menschen in einen ESRD-Patienten wird das Immunsystem des Empfängers stimuliert, da das transplantierte Gewebe als „fremd“ erkannt wird. Diese Immunantwort gegen das Spenderorgan beruht zum einen auf den antigenen Eigenschaften des Spenderorgans und zum anderen auf der Erkennung der fremden Antigene durch immunkompetente Zellen des Empfängers. Daher müssen Patienten, die eine Spenderniere erhalten haben, dauerhaft Immunsuppressiva, d.h. Medikamente zur Unterdrückung bzw. Schwächung des Immunsystems, einnehmen. Auch bei völliger Übereinstimmung der sogenannten HLA wird mit Immunsuppressiva weiterbehandelt (Keller, 2002). Aus verschiedenen erworbenen und angeborenen Erkrankungen heraus kann sich eine terminale Niereninsuffizienz entwickeln. Zu den häufigsten Grunderkrankungen, die zu einer terminalen Niereninsuffizienz führen, zählen Diabetes mellitus, vor allem Typ 2, Hypertonie und Glomerulonephritis (U.S. Renal Data System, 2005)3. Da die Erkrankungen Diabetes Mellitus Typ 2 und auch Hypertonie in den letzten Jahren in den USA stark zugenommen haben, ist auch mit einem weiteren Anstieg der ESRD-Neuerkrankungen und somit der Anzahl der ESRD-Patienten zu rechnen.

1 Gerade jüngere ESRD-Patienten profitieren von einer Nieren-Transplantation. So liegt beispielweise in der Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen die durchschnittliche verbleibende Lebenserwartung von Dialyse-Patienten in den U.S. im Jahr 2003 bei 13.9 Jahren. Durch den Erhalt einer Spenderniere kann die durchschnittliche verbleibende Lebenserwartung um 22.3 Jahre erhöht werden (Zimmermann-Stenzel, 2006). 2 Eine umfangreiche Beschreibung der Kriterien der Organvergabe und des Allokationssystems in den USA kann bei Gaston (2003) und United Network for Organ Sharing (2005) nachgelesen werden. 3 Im Jahr 2003 wurden 44% der Neuerkrankungen in den USA durch Diabetes Mellitus verursacht. Hypertonie war in 28% und Glomerulonephritis in 8% der Inzidenzfälle ursächlich für die terminale Niereninsuffizienz (U.S. Renal Data System, 2005).

Ist die Allokation von Nierentransplantaten optimal?

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Außerdem kommt hinzu, dass die Spendernieren keine unbegrenzte Überlebenszeit haben. Nach einer bestimmten Zeit, die von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, versagen die Nieren-Transplantate und die Patienten kehren zunächst zur Dialysebehandlung und ggf. auch auf die Warteliste zurück (Keller, 2002). So lag in den USA die mediane Überlebenszeit der Transplantate, die im Jahr 2003 versagten, bei 5,25 Jahren (U.S. Renal Data System, 2005).

1.2 Epidemiologische Hintergründe terminaler Niereninsuffizienz

Erst durch die Darstellung der terminalen Niereninsuffizienz unter den Gesichtspunkten der Prävalenz, d.h. der Anzahl der an ESRD erkrankten Patienten zu einem Zeitpunkt, der Inzidenz, d.h. der Anzahl der Neuerkrankten in einem Jahr, und der Wartezeit bis zum Erhalt eines Transplantats wird deutlich, warum das Thema der optimalen Allokation so bedeutsam ist.

pro Million Einwohner

1600 1400 1200 1000 800 600 400 200

19 8 19 0 8 19 1 8 19 2 8 19 3 84 19 8 19 5 86 19 8 19 7 88 19 8 19 9 9 19 0 9 19 1 92 19 9 19 3 9 19 4 9 19 5 96 19 9 19 7 98 19 9 20 9 0 20 0 01 20 0 20 2 03

0

Inzidenz

Prävalenz

Quelle: USRDS Annual Data Report 2005, eigene Darstellung.

Abbildung 1: ESRD-Prävalenz- und Inzidenzrate (USA), standardisiert nach Alter, Geschlecht und Ethnizität

In Abbildung 1 sind die nach Alter, Geschlecht und Ethnizität standardisierten ESRD-Prävalenz- und Inzidenzraten in den USA im Zeitverlauf von 1980 bis 2003 dargestellt. Die Prävalenzrate stieg von 283 ESRD-Patienten pro Million Einwohner im Jahr 1980 auf 1496 ESRD-Patienten pro Million Einwohner im Jahr 2003. Im selben Zeitraum stieg die Inzidenzrate von 84 Neuerkrankten pro Million Einwohner auf 337,6 Neuerkrankten pro Million Einwohner.

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Es ist besonders wichtig, die Inzidenzraten im Zeitverlauf zu betrachten, da gestiegene Prävalenzraten möglicherweise nur verbesserte Therapiemöglichkeiten und damit verbundene erhöhte Überlebensraten der ESRD-Patienten widerspiegeln. Ob jedoch die Nachfrage nach Nieren-Transplantaten durch eine höhere Anzahl Neuerkrankter angestiegen ist und die Allokation der Spenderorgane daher an Bedeutung zugenommen hat, ist jedoch erst an der Inzidenzrate ersichtlich. Dass in den USA mit der gestiegenen Inzidenzrate im selben Zeitraum auch die Nachfrage nach Spender-Nieren stark zugenommen hat, demonstriert die nachfolgende Abbildung 2.

70.000 60.000

Anzahl

50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996

1997 1998 1999 2000 2001

2002 2003

Jahr Transplantationen (postmortale Spende)

Patienten auf der Warteliste

Quelle: USRDS Annual Data Report 2005, eigene Darstellung.

Abbildung 2: Anzahl der Patienten auf der Warteliste (am 31.12. des Jahres) und durchgeführte Transplantationen

Während die Anzahl der Leichennieren-Transplantationen in den USA von 7.735 im Jahr 1991 auf 8.708 im Jahr 2003 nur relativ schwach zugenommen hat, stieg die Anzahl derjenigen, die auf ein Spenderorgan warteten, im selben Zeitraum von 14.466 auf 59.645 ESRD-Patienten an (U.S. Renal Data System, 2005). Aus dieser drastisch werdenden Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage nach Nieren-Transplantaten resultiert, dass auch die Wartezeit für die Patienten zugenommen haben muss.

Ist die Allokation von Nierentransplantaten optimal?

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Die mediane Wartezeit in den USA hat in dem relativ kurzen Zeitraum von 1995 bis 2003 tatsächlich kontinuierlich zugenommen und sich dabei nahezu verdoppelt. So mussten z. B. Männer, die im Jahr 1995 transplantiert wurden, im Durchschnitt 340 Tage bis zum Erhalt ihres Transplantats warten. Die Männer, die im Jahr 2003 eine Spenderniere erhalten haben, hatten bereits 669 Tage darauf warten müssen (U.S. Renal Data System, 2005). 1.3 Definition einer optimalen Allokation von Nierenspenden und zu überprüfende Annahmen

Da eine Nieren-Transplantation im Vergleich zur Dialyse den Königsweg der Behandlung darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass auch bei gestiegener Prävalenz und Inzidenz die Anzahl der auf der Warteliste stehenden Patienten zugenommen hat. Gleichzeitig konnte jedoch die Zahl der Transplantationen postmortaler Spendernieren nicht erhöht werden. Dies macht deutlich, dass eine optimale Allokation der Leichennieren-Transplantate weiterhin an Bedeutung gewonnen hat. Angelehnt an die Definition der Pareto-Optimalität 4 wird in dieser Arbeit eine Allokation von Nieren-Transplantaten dann als optimal definiert, wenn bei einer gegebenen Anzahl an Nieren-Transplantaten und Empfängern keine einzige Niere anders zugeteilt werden könnte, ohne die Summe der durch die Transplantation gewonnenen Lebensjahre in der Population potentieller Empfänger zu verringern. (1) Folglich ist eine Allokation optimal, die die Summe der durch die Transplantation gewonnen Lebensjahre maximiert. Analog der Herleitung der Definition einer optimalen Allokation von NierenTransplantaten im Sinne der Maximierung der Überlebenszeit der ESRD-Patienten soll ein weiteres Optimalitätskriterium überprüft werden. (2) Die Optimalität soll des Weiteren anhand der Krankheitslast, die von einer Dialyse-Behandlung oder Transplantation ausgeht, festgemacht werden. Zur Messung der Krankheitslast soll das von der Weltgesundheitsorganisation und der Weltbank gemeinsam entwickelte Konzept der „disability adjusted life years“ (DALYs) angewendet werden, welches im nachfolgenden Kapitel 2. kurz erläutert wird. Eine Allokation von Nieren-Transplantaten wird dann als optimal definiert, wenn die Summe der Krankheitslast, die durch eine Transplantation verringert wird, minimiert wird. Die Anzahl der DALYs sollten also durch die gegebene Spendernieren-Zuteilung minimiert werden. Eine Grundannahme ist, dass bei einer optimalen Allokation keine Differenzen nach soziodemographischen Merkmalen der Patienten in Hinblick auf die 4 Die Herleitung der Pareto-Optimalität für Nieren-Transplantationen und die Überprüfung der damit verbundenen Annahmen kann bei Zimmermann-Stenzel (2006) nachgelesen werden.

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Chance, ein Transplantat zu erhalten, existieren. (3) Daher soll überprüft werden, ob es soziodemographische Ungleichheiten in der Wahrscheinlichkeit, ein Transplantat zu erhalten, gibt.

2. Disability Adjusted Life Years (DALYs) Das Konzept der „disability-adjusted life years“ (DALYs) wurde zu Beginn der 1990er Jahre im Rahmen der Global Burden of Disease Study, einem gemeinsamen internationalem Projekt der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Weltbank, entwickelt (Murray/Acharya, 1997). 1992, als diese Studie begann, gab es noch kein genaues Messinstrument der relativen Größe von Krankheiten und Unfällen und von den Anteilen der einzelnen Krankheiten und Unfällen, die den gesundheitsbezogenen Hauptrisikofaktoren oder sozio-ökonomischen Determinanten – nach Alter, Geschlecht und Region disaggregiert – zugeschrieben werden konnten. Diese Informationen wurden für eine Vielzahl von Zielen als unentbehrlich empfunden, wie z. B. für die Identifizierung wichtiger Gesundheitsprobleme und deren relative Größe, für vergleichende Beurteilungen der Leistungen verschiedener Gesundheitssysteme, für das Erkennen von Mustern der Gesundheitsprobleme und das Suchen nach Erklärungen für diese Muster. DALYs sind ein Messinstrument mit dem Ziel, die Krankheitslast einer Population und die Last, die durch Unfälle entstehen, zu quantifizieren. „The DALY is a health gap measure, which combines information on the impact of premature death and of disability and on other non-fatal health outcomes. One DALY can be thought of as one lost year of healthy life and the burden of disease as a measurement of the gap between current health status and an ideal situation where everyone lives into old age free of disease and disability“ (Murray/Lopez et al., 2001). Die Terminologie „disability-adjusted life years“ kann zu der Annahme führen, dass ein Maximum an DALYs etwas Erstrebenswertes ist. Nämlich ein „life year“, auch wenn es beeinträchtigungsgewichtet ist, wird normalerweise als etwas verstanden, was maximiert und nicht minimiert werden sollte. Jedoch stellt ein DALY den Verlust eines gesunden Lebensjahres dar und ist somit etwas „Schlechtes“, was minimiert werden sollte. In den DALYs wird nicht nur der Verlust an Lebensjahren durch vorzeitigen Tod berücksichtigt, es fließen auch die Jahre, die in gesundheitlicher Beeinträchtigung verlebt wurden, in die Berechnung der DALYs mit ein. Ein DALY besteht somit aus der Summe zwei einzelner Komponenten, erstens aus den „years lived with disability“ (YLDs), d.h. der Jahre, die in Behinderung und Krankheit erbracht werden, und zweitens aus den „years of life lost“ (YLLs), d.h. der verlorenen Lebensjahre:

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DALYi = YLDi + YLLi

wobei i einen bestimmten Gesundheitszustand bzw. einen konkreten Risikofaktor darstellt (Murray, 1996). Dem DALY-Konzept liegen bestimmte technische Aspekte und Annahmen zugrunde. Da es verschiedene Revisionen der DALY-Berechnung gegeben hat, ist es wichtig zu betonen, dass sich in dieser Arbeit auf die Standard-Berechnung der DALYs bezogen wird, da diese Berechnungsart der DALYs in Gesundheitsberichten der WHO allgemein verwendet wird (Murray/Lopez, 1996; Murray/Salomon et al., 2002). Bei der Berechnung der DALYs werden neben geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Lebenserwartung und der Diskontierung zukünftiger Gesundheitsgewinne auch der unterschiedliche Schweregrad der Beeinträchtigung durch den Gesundheitszustand und das Alter, in dem die Beeinträchtigung oder der Tod eintritt, bedacht. Der Schweregrad der gesundheitlichen Beeinträchtigung wird bei der Berechnung der DALYs durch ein Beeinträchtigungsgewicht berücksichtigt. Das dazu benötigte Beeinträchtigungsgewicht kann Werte von 0 bis 1 annehmen, wobei der Wert 0 perfekter Gesundheit, ein Wert zwischen 0 und 1 dem Schweregrad der Beeinträchtigung und der Wert 1 dem Tod entspricht (Murray, 1996)5. Die Beeinträchtigungsgewichte liegen bei 0.231 für dialysepflichtige Patienten und bei 0.1 für Patienten, die ein Nieren-Transplantat erhalten hatten (Kaminota, 2001). Diese Beeinträchtigungsgewichte werden auch in der vorliegenden Untersuchung bei der Berechnung der DALYs zugrunde gelegt. 3. Forschungsstand Das Thema der sozialen Ungleichheit bei der Allokation von Nieren-Transplantaten ist bereits seit den 80er Jahren Gegenstand der Forschung (Kjellstrand, 1988). Bei den Analysen wird zum einen untersucht, ob es bei der Aufnahme in die Warteliste zu sozialen Benachteiligungen kommt. Zum anderen wird überprüft, inwiefern den ESRD-Patienten mit bestimmten sozialen Merk-

5 Für die „Global Burden of Disease Study“ wurden die Beeinträchtigungsgewichte 22 verschiedener Indikatoren bzw. Krankheiten auf einer speziell hierfür organisierten Weltgesundheits-Konferenz mit Vertretern aus allen Regionen der Welt entwickelt und festgelegt (Murray, 1996). Das Ergebnis war eine 7-stufige Klassifizierung der Beeinträchtigungen mit dazugehörigen Beeinträchtigungsgewichten und Indikatoren des Gesundheitszustands. Die Beeinträchtigung dialysepflichtiger Patienten und Patienten, die ein Nieren-Transplantat erhalten haben, wurde jedoch auf dieser WHO-Konferenz nicht bestimmt. Kaminota (2001) schätzte daher in einer eigenen Studie mit der auf der WHO-Konferenz angewendeten Methode die Beeinträchtigungsgewichte für ESRD-Patienten.

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malen, die bereits auf der Warteliste stehen, weniger häufig ein Nieren-Transplantat zugeteilt wird. Ein Thema, das bisher jedoch noch nicht im Hinblick auf die Allokation von Nieren-Transplantaten behandelt wurde, ist die Optimalität der TransplantatVerteilung. Einige internationale Studien belegen, dass es bereits bei der Entscheidung, wer in die Transplantationswarteliste aufgenommen wird, zu Benachteiligungen von Personen mit bestimmten soziodemographischen Eigenschaften kommt, die medizinisch nicht zu begründen sind (Abbott/Glanton et al., 2003; Epstein/Ayanian et al., 2000; Villar/Rabilloud et al., 2004). So belegt z. B. eine Untersuchung in den USA, dass Patienten, die jünger, besser gebildet, weiß und Vollzeit beschäftigt sind, häufiger frühzeitig in die Warteliste aufgenommen werden als ESRD-Patienten, die bereits älter sind, einer ethnischen Minderheit angehören und weniger als Vollzeit beschäftigt sind. Allerdings wurden in den berechneten Modellen nicht mögliche Komorbiditäten des Patienten berücksichtigt. Daher könnte es sein, dass die gefundenen Zusammenhänge etwas abgeschwächt werden würden, wenn Vorerkrankungen berücksichtigt würden, da der allgemeine Gesundheitszustand nach soziodemographischen Faktoren variieren kann. Mitverursacht und verstärkt wird diese Gegebenheit dadurch, dass sozioökonomisch benachteiligten Patienten oftmals nicht klar ist oder ihnen auch nicht erklärt wird, wie wichtig eine frühzeitige Aufnahme in die Warteliste ist und sie sich daher auch weniger um eine frühzeitige Aufnahme bemühen (Kasiske/London et al., 1998). Ein weiterer Aspekt, der jedoch nur in einer einzigen Studie bedacht wird, ist der Zusammenhang zwischen soziodemographischen Faktoren und dem Interesse der Patienten an der Aufnahme in die Transplantations-Warteliste (Alexander/Sehgal, 1998). So zeigen ESRD-Patienten weiblichen Geschlechts, nicht-weißer Ethnizität, mit geringerem Einkommen und höherem Alter ein signifikant geringeres endgültiges Interesse an einer Transplantation. Da die Aufnahme in die Warteliste auch stark von den Einstellungen und soziokulturellen Hintergründen der Patienten selbst abhängt, sollte bei Untersuchungen, ob es soziale Ungleichheiten bei der Aufnahme in die Warteliste gibt, die Einstellung der Patienten in Hinblick auf eine mögliche Transplantation berücksichtigt werden. Zu unterscheiden sind dann tatsächliche soziale Ungleichheiten hinsichtlich der Aufnahme in die Warteliste und soziodemographisch differenzierte Aufnahmeraten, deren Ursachen in der Ablehnung einer WartelistenAufnahme mit nachfolgender Transplantation durch die Patienten selbst begründet sind. Diese Resultate weisen aber auch darauf hin, dass bei einer Analyse der Transplantationsraten unter soziodemographischen Gesichtspunkten nur die Pa-

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tienten in Hinblick auf den Erhalt eines Transplantats untersucht werden sollten, die bereits auf der Warteliste stehen. Nur wenn bei dieser Untersuchung ausschließlich Patienten, die bereits auf der Warteliste stehen, berücksichtigt werden, können Verzerrungen, die durch die Ablehnung einer möglichen Transplantation durch die Patienten selbst entstehen können, vermieden werden. In einigen Studien, nämlich denen, die keine oder nicht ausreichend viele medizinische und immunologische Variablen berücksichtigen, werden Ungleichheiten in der Wahrscheinlichkeit, ein Spenderorgan zu erhalten, hinsichtlich des Geschlechts, der Ethnizität und des sozioökonomischen Status nachgewiesen (Alexander/Sehgal, 1998; Bloembergen/Mauger et al., 1997; Yeates/Schaubel et al., 2004). Unterschiede in der Transplantationschance hinsichtlich des Geschlechts konnten unter Kontrolle immunologischer Faktoren nicht mehr bestätigt werden. Jedoch sind auch unter Kontrolle immunologischer Größen ethnische Differenzen vorhanden, die nicht medizinisch begründbar sind (Kjellstrand, 1988; Wolfe/Ashby et al., 2000). Was bei den Analysen der Allokation von Nieren-Transplantaten m. E. jedoch noch nicht überprüft wurde, ist, ob die Allokation von Nieren-Transplantaten im Sinne der Maximierung der Überlebenszeit bzw. der Minimierung der DALYs, d.h. der Krankheitslast, optimal verteilt sind. Auch wurde noch keine Schätzung der Überlebenszeit eines Nicht-Transplantierten, wenn er ein Organ erhalten hätte bzw. eines Transplantierten, wenn er kein Transplantat erhalten hätte, durchgeführt. 4. Daten und Methoden 4.1 Datengrundlage und Datenbeschreibung

Die nachfolgenden Analysen basieren auf Daten des „United States Renal Data System“ (USRDS). Das „United States Renal Data System“ (USRDS) ist ein nationales Daten-System, welches Informationen über ESRD in den USA erhebt, analysiert und verbreitet. Durch ein spezielles Gesundheitsprogramm sind alle ESRD-Patienten im Rahmen der Medicare-Versicherung, der staatlichen Krankenversicherung für die über 65-jährigen U.S.-Bürger und Behinderter, versichert, wodurch das USRDS über die Daten beinahe aller ESRD-Patienten verfügt (Centers for Medicare/Medicaid Services, 2005). Es handelt sich daher bei den USRDS-Daten annähernd um eine Vollerhebung mit entsprechend zuverlässigen Daten und hoher Datenqualität. Bei den in der vorliegenden Analyse verwendeten Daten handelt es sich um eine durch das USRDS gezogene Zufallsstichprobe von 12.000 ESRD-Patienten aus der Gesamtzahl der Patienten. Der Studienbeginn war am 31.12.1993. Die Voraussetzung für die Teilnahme an der Studie war, dass der Patient an dem

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Stichtag (31.12.1993) noch lebte und ein Patient war, der zur Hämodialyse Dialyse-Einrichtungen aufsucht. Es wurden patientenspezifische Informationen, wie z. B. Ethnizität, Bildung, Beschäftigungsstatus vor ESRD-Beginn, Datum des Dialysebeginns, Postleitzahl des Wohnorts, Angaben zur Versicherung, Krankheitsgeschichte, Komorbiditäten, psychosoziale Evaluation, Labormesswerte und Medikamentierung, erhoben. Außerdem wurde jede Veränderung des PatientenStatus, wie z. B. Wechsel zu Peritonealdialyse, Transplantation oder Tod, seit Studienbeginn bis zum 31.12.2001 dokumentiert. Von den 12.000 per Zufallsverfahren ausgewählten Patienten erfüllten 11.142 Patienten die genannten Kriterien zum Einschluss in die Studie und es wurde für diese vom klinischen Personal die Fragebögen ausgefüllt (Ausschöpfung: 93%). Die vorliegende Untersuchung ist jedoch auf die Patienten eingeschränkt, die auf der Warteliste stehen, die nicht mehrfach transplantiert wurden und die nicht eine Lebendspende erhalten haben, um eine gewisse Homogenität des untersuchten Kollektiv zu gewährleisten. So verbleiben von den 11.142 Patienten noch N = 1.506 ESRD-Patienten6. Die Merkmale der untersuchten Stichprobe werden in nachfolgender Tabelle 1 dargestellt. 4.2 Methoden

Nach Überprüfung der Proportional-Hazards-Annahme wird in einem ersten Schritt anhand der Cox-Regression die Chance geschätzt, ein Transplantat zu erhalten. Als unabhängige Variablen gehen sowohl soziodemographische als auch biomedizinische und immunologische Variablen in die Berechnung mit ein. In einem zweiten Schritt werden – ebenfalls durch Verwendung der Cox-Regression – Einflussfaktoren auf das Mortalitätsrisiko geschätzt. Dabei werden soziodemographische und biomedizinische Variablen berücksichtigt7. Die Ermittlung der Faktoren, die einen Einfluss auf die Überlebenszeit ausüben, ist jedoch nicht vorrangiges Ziel dieser Untersuchung. Sie werden allerdings für die nachfolgenden Berechnungen benötigt.

6 Da viele der verbleibenden 1.506 Patienten jeweils in wenigen einzelnen medizinischen Variablen fehlende Werte aufweisen und ein alleiniger Einschluss der Fälle, die keinen einzigen fehlenden Wert haben, zu einer drastischen Reduktion der Fallzahl führen würde (N = 872), wurden fehlende Werte mit Hilfe multipler Imputationen ersetzt (Rubin, 1976). 7 Als die Mortalität beeinflussende Faktoren konnten folgende Variablen identifiziert werden: Inzidenzalter, Ethnizität, Berufsstatus vor ESRD-Beginn, Albumin, Cholesterin, Kreatinin, Body Mass Index, Tabak-Konsum, Diabetes Mellitus.

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Tabelle 1 Merkmale der Stichprobe

Männer Frauen Geburtsjahr (Median, Spannweite) Inzidenzalter 10 bis 19 Jahre 20 bis 39 Jahre 40 bis 59 Jahre 60 bis 79 Jahre Ethnizität weiß asiatisch schwarz native Bildung < 12 Jahre High School Abschluss sonstiger College-Besuch College Abschluss Beschäftigungsstatus vor ESRD Voll-Zeit beschäftigt Teil-Zeit beschäftigt Voll-Zeit Schüler/Student Teil-Zeit Schüler/Student in Rente zu Hause beschäftigt/Hausfrau arbeitslos arbeitsunfähig Einkommen < 28.827 $ > = 28.827 < 36.577 $ > = 36.577 < 46.237 $ > = 46.237 $ Todesfälle Sterbealter (Median) Quelle: USRDS 2002, eigene Berechnungen.

Nicht-Transplantierte N = 554

Transplantierte N = 952

55% 45% 1943 1914 bis 1975

62% 38% 1948 1918 bis 1979

2% 32% 48% 18%

5% 40% 45% 10%

50% 3% 45% 2%

51% 5% 43% 1%

34% 38% 16% 12%

25% 44% 17% 14%

11% 13% 13% 25% 5% 13% 8% 12%

9% 15% 14% 27% 6% 11% 6% 12%

29% 25% 24% 22%

23% 25% 26% 27%

72% 56 Jahre

38% 55 Jahre

146

Monique Zimmermann-Stenzel und Ulrich Mueller

In einem dritten Schritt wird dann geschätzt, wie lange diejenigen Patienten, die bis Beobachtungsende kein Transplantat zugeteilt bekamen, gelebt hätten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten. Außerdem wird die Überlebenszeit der Transplantat-Empfänger geschätzt, wenn sie kein Transplantat bekommen hätten. Für diese Schätzungen ist es notwendig, die vorher identifizierten Einflussfaktoren auf das Mortalitätsrisiko konstant zu halten, damit nur der Einfluss des Transplantationsstatus einen Effekt auf die Überlebenszeit ausübt8. In SAS® ist die Simulation möglich, indem man innerhalb der PHREG-Prozedur das BASELINE- und das COVARIATES-Statement hinzufügt. Das BASELINE-Statement produziert die erwartete Überlebenskurve, die sogenannte Baseline-Survivor-Funktion, für ein Individuum, dessen Kovariaten alle den Wert „0“ annehmen. Mit den damit geschätzten ß-Koeffizienten besteht nun die Möglichkeit, die geschätzte Überlebensfunktion für einen beliebigen Satz von Kovariatenausprägungen zu generieren (Allison, 1995). Außerdem werden anhand des ungepaarten t-Tests die Mittelwerte der NichtTransplantierten und der Transplantierten hinsichtlich der (absoluten) Differenz zwischen der realen und simulierten Überlebenszeit verglichen. Eine Fehlallokation läge dann vor, wenn der Mittelwert der Differenz der Nicht-Transplantierten größer wäre als der der Transplantierten. Schließlich werden die untersten Perzentile der real Transplantierten mit den obersten Perzentilen der Nicht-Transplantierten verglichen und überprüft, ob und an welcher Stelle sich die Perzentilwerte überschneiden. Eine Fehlallokation von z. B. 10% läge dann vor, wenn die obersten zehn Perzentile der NichtTransplantierten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten, einen höheren Wert hätten als die untersten zehn Perzentile der real Transplantierten. Analog zum Vorgehen bei der Überlebenszeit werden in einem vierten Schritt die realen und simulierten DALYs mit dem jeweils entsprechenden Beeinträchtigungsgewicht berechnet und verglichen. Die Analysen wurden mit SAS® Version 9.1 durchgeführt. 5. Ergebnisse 5.1 Wahrscheinlichkeiten für den Erhalt eines Nieren-Transplantats

Zur Untersuchung des Einflusses soziodemographischer Faktoren auf die Wahrscheinlichkeit der ESRD-Patienten, ein Nieren-Transplantat zu erhalten,

8 Da bis zum Beobachtungsende nicht alle ESRD-Patienten verstorben waren, ist zum Vergleich „reale – simulierte Überlebenszeit“ auch eine Schätzung der realen Überlebenszeit notwendig. Dazu werden ebenfalls die als das Mortalitätsrisiko beeinflussenden Faktoren konstant gehalten.

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147

werden in drei Gesamtmodellen auch medizinisch und immunologisch relevante Variablen kontrolliert und gegenübergestellt. Dabei ist zu unterscheiden, dass im ersten Gesamtmodell der unkontrollierte Einfluss soziodemographischer Variablen dargestellt wird, im dritten Gesamtmodell zusätzlich zu den bereits in dem zweiten Gesamtmodell berücksichtigten medizinischen und immunologischen Faktoren noch die immunologische Variable „Panel Reactive Antibody (PRA)“ kontrolliert wird. Die gesonderte Betrachtung der PRA ist dahingehend interessant, dass ein hoher PRA-Prozentwert9 zu einer längeren Wartezeit führt und daher die Wahrscheinlichkeit einer Transplantation im Vergleich zu denjenigen, die nur einen niedrigen PRA-Wert aufweisen, abnimmt. Anhand der Gegenüberstellung der drei Gesamtmodelle (Tabelle 2) kann man erkennen, dass es im Hinblick auf die Ethnizität und der Bildung des Patienten soziale Unterschiede im Erhalt eines Transplantats gibt, auch wenn medizinisch und immunologisch relevante Faktoren kontrolliert werden. Schwarze Patienten und Natives haben eine signifikant geringere Wahrscheinlichkeit, ein Spenderorgan zu erhalten im Vergleich zu weißen Patienten. Die Patienten mit mittlerem oder höherem Bildungsniveau10 haben eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit der Transplantation als Patienten mit weniger als zwölf Bildungsjahren. Diese Ethnizitäts- und Bildungseffekte bleiben auch unter Kontrolle medizinischer und immunologischer Variablen bestehen. Besondere Beachtung verdient jedoch der Zusammenhang zwischen dem Geschlecht des Patienten und der Transplantationswahrscheinlichkeit. In den ersten beiden Gesamtmodellen, d.h. sowohl ohne als auch unter Kontrolle medizinischer und immunologischer (ohne PRA) Variablen, ist der Effekt des Geschlechts sehr stark ausgeprägt und hoch signifikant. Männer scheinen mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit ein Transplantat zu erhalten als Frauen. Im dritten Gesamtmodell, d.h. unter zusätzlicher Kontrolle der PRA, verschwindet dieser Effekt jedoch nahezu und ist auch nicht mehr signifikant. Der (vermeintliche) Geschlechtseffekt auf die Wahrscheinlichkeit, ein Transplantat zu erhalten, wird also durch die Panel Reactive Antibodies hervorgerufen und nicht durch eine tatsächlich vorliegende Differenzierung nach dem Geschlecht selbst.

9 Ein höherer PRA-Wert resultiert aus einer Sensibilisierung des Patienten durch vorherige Bluttransfusionen, Transplantationen oder Schwangerschaften. 10 Gemeint ist hier mit einem mittleren Bildungsniveau das Vorliegen eines High School Abschlusses und mit einem höherem Bildungsniveau der Erwerb eines College-Abschlusses. Als niedrig wird das Bildungsniveau dann bezeichnet, wenn Patienten weniger als zwölf Bildungsjahre aufweisen.

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Monique Zimmermann-Stenzel und Ulrich Mueller Tabelle 2 Wahrscheinlichkeiten des Erhalts eines Transplantats (relative Risiken) Gesamtmodell 1 Gesamtmodell 2 Gesamtmodell 3

Geschlecht (Ref.: Frauen) Inzidenzalter

1.292*** 0.993*

1.320*** 0.992*

1.027 0.986***

Ethnizität (Ref.: weiß) asiatisch

1.027

1.056

0.971

0.842* 0.418

0.838* 0.376*

0.840* 0.340*

1.289*

1.287*

1.364*

1.206 1.247**

1.182 1.250**

1.212 1.243**

Zu Hause beschäftigt/ Hausfrau

0.886

0.838

0.810

Voll-Zeit beschäftigt Teil-Zeit beschäftigt

0.865 1.035

0.858 1.071

0.863 1.030

Voll-Zeit Student Teil-Zeit Student

0.944 0.893

0.922 0.874

0.921 0.883

In Rente arbeitslos

1.011 0.920

0.976 0.897

1.081 0.827

Einkommen

1.000

1.000

1.000

Familienstand (Ref.: verheiratet) geschieden

1.041

1.022

1.034

ledig getrennt

0.881 1.050

0.873 1.031

0.814* 1.078

verwitwet

0.849

0.856

0.807

schwarz native Bildung (Ref.: < 12 Jahre) College-Abschluss sonstiger College-Besuch High School Abschluss Beschäftigungsstatus (Ref.: arbeitsunfähig)

Gesamtmodell 1: Ohne Kontrolle medizinisch und immunologisch relevanter Variablen. Gesamtmodell 2: Mit Kontrolle medizinisch und immunologisch relevanter Variablen (ohne PRA). Gesamtmodell 3: Mit Kontrolle medizinisch und immunologisch relevanter Variablen (mit PRA). * = p < .05; ** = p < .01; *** = p < .001. Quelle: USRDS 2002, eigene Berechnungen.

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5.2 Reale und simulierte Überlebenszeit seit ESRD-Beginn

Bei der Berechnung der realen und simulierten Überlebenszeiten der Transplantatempfänger und Nicht-Empfänger wurden die Einflussfaktoren auf das Mortalitätsrisiko kontrolliert, um Verzerrungen zu vermeiden. Nachfolgende Tabelle 3 gibt die reale und die simulierte Überlebenszeit der Patienten, die ein Transplantat erhalten haben, und der Patienten, die kein Spenderorgan zugeteilt bekommen haben, wieder.

Tabelle 3 Reale und simulierte Überlebenszeit der Nicht-Transplantierten und der Transplantierten (in Tagen) Nicht-Transplantierte

Transplantierte

Reale Überlebenszeit

Mittelwert Median Min. Max.

4315.00 3640.94 1371.59 9610.63

Mittelwert Median Min. Max.

6918.70 7314.33 1986.00 10276.39

Simulierte Überlebenszeit

Mittelwert Median Min. Max.

4422.61 4255.20 1019.28 10672.75

Mittelwert Median Min. Max.

2289.35 2043.76 267.12 9588.09

Differenz zwischen realer und simulierter Überlebenszeit

Mittelwert Median Min. Max.

1322.87 1417.64 596.92 1691.84

Mittelwert Median Min. Max.

–1375.40 –1443.37 –602.71 –1691.93

Quelle: USRDS 2002, eigene Berechnungen.

Vergleicht man den Mittelwert der realen Überlebenszeit der Nicht-Transplantierten (= 4315.00) mit dem Mittelwert der simulierten Überlebenszeit der Transplantierten (= 2289.35) fällt auf, dass der Wert der Transplantierten, wenn sie kein Transplantat erhalten hätten, deutlich und signifikant11 unter dem Wert der real Nicht-Transplantierten liegt (p < .0001). Die Transplantierten hätten ohne den Erhalt einer Spenderniere im Durchschnitt eine geringere Überlebenszeit gehabt als die real Nicht-Transplantierten.

11 Die Signifikanz der Mittelwertunterschiede wurde anhand des ungepaarten t-Tests geprüft.

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Monique Zimmermann-Stenzel und Ulrich Mueller

In Übereinstimmung damit erreicht der Mittelwert der simulierten Überlebenszeit der Nicht-Transplantierten (= 4422.61) bei weitem nicht den Mittelwert der realen Überlebenszeit der Transplantierten (= 6918.70). Bei der Gegenüberstellung der Differenz zwischen realer und simulierter Überlebenszeit ist in Einklang mit beschriebenen Befunden der durchschnittliche Verlust an Überlebenszeit der Transplantierten, wenn sie kein Organ erhalten würden (= –1375.40), signifikant größer als der durchschnittliche Gewinn an Überlebenszeit der Nicht-Transplantierten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten (= 1322.87) (p < .001). Hinsichtlich des Minimums und des Maximums der Differenzen zwischen realer und simulierter Überlebenszeit ist zwar ersichtlich, dass der geringste Verlust an Überlebenszeit der Transplantierten (= –602.71) noch größer ist als der geringste Gewinn an Überlebenszeit der Nicht-Transplantierten (= 596.92). Allerdings sind die Maxima nahezu identisch, so dass bei diesen ausgewählten Patienten es hinsichtlich der Maximierung der Überlebenszeit gerechtfertigt gewesen wäre, wenn der nicht-transplantierte Patient anstelle des entsprechenden transplantierten Patienten diese Spenderniere erhalten hätte. Dadurch, dass die Mittelwerte jedoch signifikant unterschiedlich sind, muss es sich hierbei um Einzelfälle handeln, bei dem ein Tausch gerechtfertigt gewesen wäre. Trotzdem muss beachtet werden, dass diese beiden Patienten nahezu dieselbe Differenz zwischen realer und simulierter Überlebenszeit aufweisen und dieser Fall daher nicht als Fehlallokation bezeichnet werden sollte. Um das mögliche Ausmaß der Fehlallokation genauer bestimmen zu können, werden die Perzentilwerte der Überlebenszeit getrennt nach dem Transplantationsstatus gebildet. Dann werden die unteren Perzentile der real Transplantierten mit dem oberen Perzentilen der Nicht-Transplantierten, wenn sie ein Spenderorgan erhalten hätten, verglichen. Es läge dann eine Fehlallokation in z. B. 10% der Fälle vor, wenn der 90. Perzentilwert der nicht-transplantierten Patienten im Falle einer Transplantation größer wäre als der 10. Perzentilwert der real Transplantierten, da dann 10% der Nicht-Transplantierten durch eine Transplantation einen größeren Gewinn an Überlebenszeit erzielt hätten als die real Transplantierten. Anhand der Abbildung 3 kann man erkennen, dass sich die beiden Kurven der Überlebenszeit im 77. Perzentil der Nicht-Transplantierten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten, bzw. im 24. Perzentil der real Transplantierten schneiden. Dies bedeutet, dass in 24% der Fälle ein größerer Gewinn an Überlebenszeit hätte erzielt werden können, wenn anstelle dieser real Transplantierten mit den 24 kleinsten Perzentilwerten die Nicht-Transplantierten, die im Falle einer Transplantation die 24 größten Perzentilwerten an Überlebenszeit aufweisen, ein Spenderorgan erhalten hätten.

Ist die Allokation von Nierentransplantaten optimal?

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12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 2.000 0 0/100

10/90 20/80

30/70

40/60

50/50

Nicht-Transplantierte (simuliert)

60/40 70/30 80/20

90/10

100/0

in %

Transplantierte (real)

Die Pfeile weisen auf die Fehlallokation hin. Quelle: USRDS 2002, eigene Berechnungen.

Abbildung 3: Perzentilwerte der Überlebenszeit der Nicht-Transplantierten bei Erhalt eines Transplantats und der real Transplantierten

5.3 Reale und simulierte DALYs

In der nachfolgenden Tabelle werden der Mittelwert, der Median, das Minimum und das Maximum der realen und simulierten DALYs nach Transplantationsstatus dargestellt. Hierbei soll noch einmal daran erinnert werden, dass DALYs die Krankheitslast widerspiegeln und somit prinzipiell etwas Negatives sind, die minimiert werden sollten12. Um zu überprüfen, ob eine Fehlallokation vorliegt, werden wieder die NichtTransplantierten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten, mit den real Transplantierten verglichen. Stellt man nun den Mittelwert der Nicht-Transplantierten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten, dem Mittelwert der real Transplantierten gegenüber, so müsste – wenn eine Fehlallokation vorläge – der Mittelwert der real 12 Es soll angemerkt werden, dass es zu negativen DALYs kommen kann. Dies hat seine Ursache in der Berechnung der DALYs, bei der unter anderem ein Referenzalter von 80 Jahren für die Männer und 82,5 Jahren für die Frauen angenommen wird. Verstirbt oder erkrankt ein ESRD-Patient erst in einem Alter, das über dem entsprechenden Referenzalter liegt, resultieren daraus negative DALYs.

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Monique Zimmermann-Stenzel und Ulrich Mueller Tabelle 4 Reale und simulierte DALYs der Nicht-Transplantierten und der Transplantierten Nicht-Transplantierte

Transplantierte

Reale DALYs

Mittelwert Median Min. Max.

12.57 10.57 –0.63 35.02

Mittelwert Median Min. Max.

7.29 3.04 0.30 33.74

Simulierte DALYs

Mittelwert Median Min. Max.

10.27 9.22 –0.91 32.58

Mittelwert Median Min. Max.

10.05 6.85 0.69 37.01

Differenz zwischen realen und simulierten DALYs

Mittelwert Median Min. Max.

2.29 2.24 0.28 4.94

Mittelwert Median Min. Max.

–2.76 –2.76 –0.36 –5.26

Quelle: USRDS 2002, eigene Berechnungen.

Transplantierten einen größeren Wert13 annehmen als der der Nicht-Transplantierten, wenn sie ein Organ erhalten hätten. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall. Der DALY-Mittelwert der Nicht-Transplantierten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten (= 10.27), ist zwar kleiner im Vergleich zu dem DALY-Mittelwert der real Nicht-Transplantierten (= 12.57), so dass durch die Zuteilung von Spenderorganen DALYs hätten verhindert werden können. Dennoch ist dieser DALY-Mittelwert der Nicht-Transplantierten, wenn sie eine Spenderniere zugeteilt bekommen hätten (= 10.27), deutlich größer als der DALY-Mittelwert der real Transplantierten (= 7.29), was als Indiz für eine optimale Allokation angesehen werden kann. Anhand des t-Tests konnte ein signifikanter Unterschied in den DALY-Mittelwerten belegt werden (p < .0001), der besagt, dass die DALYs durch die tatsächliche Allokation der Nieren-Transplantate minimiert wurden, was für eine optimale Allokation spricht. Allerdings scheint es in einem Fall bzw. in einigen wenigen Einzelfällen eine Fehlallokation zu geben. Dies kann man daran erkennen, dass das Maximum der simulierten DALYs der Nicht-Transplantierten 13 Da DALYs – im Gegensatz zur Überlebenszeit – prinzipiell minimiert werden sollen, weil DALYs etwas Unerwünschtes sind (vgl. Kap. 2.), ist im Falle einer Fehlallokation der DALY-Mittelwert der real Transplantierten größer als der der NichtTransplantierten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten. Dies würde in diesem Beispiel bedeuten, dass mehr DALYs hätten verhindert werden können, wenn die NichtTransplantierten (bzw. ein Großteil von ihnen) ein Spenderorgan erhalten hätten.

Ist die Allokation von Nierentransplantaten optimal?

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(= 32.58) etwas kleiner ist als das Maximum der realen DALYs der Transplantierten (= 33.74) und somit in diesem Fall durch eine Umverteilung des Organs ein DALY hätte verhindert werden können. Allerdings wird es sich dabei nur um Einzelfälle handeln, da hinsichtlich der Mittelwerte keine Fehlallokation vorzuliegen scheint. Dieses Resultat wird durch den Vergleich der Mittelwerte der Differenz zwischen realen und simulierten DALYs ergänzt. Im Durchschnitt hätten in der Gruppe der Nicht-Transplantierten durch eine Transplantation 2.29 DALYs verhindert werden können. In der Gruppe der Transplantierten konnten jedoch 2.76 und somit mehr DALYs dadurch verhindert werden, dass diese Patienten ein Organ zugeteilt bekamen (p < .0001). Erneut konnte die Signifikanz dieses Mittelwertunterschieds anhand des t-Tests verifiziert werden. Selbst hinsichtlich des Minimums und des Maximums, d.h. in Einzelfällen, konnte hinsichtlich der Differenz zwischen realen und simulierten DALYs keine Fehlallokation festgestellt werden, da die Werte der Transplantierten größer sind als die der Nicht-Transplantierten. Dies bedeutet, dass durch die tatsächliche Allokation der Nieren-Transplantate ein Maximum an DALYs verhindert werden konnte. Um das mögliche Ausmaß der Fehlallokation zu bestimmen, werden die Perzentilwerte der DALYs getrennt nach dem Transplantationsstatus gebildet. Dann werden die oberen Perzentile der real Transplantierten mit dem unteren Perzentilen der Nicht-Transplantierten, wenn sie ein Spenderorgan erhalten hätten, verglichen14. Es läge dann eine Fehlallokation in z. B. 10% der Fälle vor, wenn der 10. Perzentilwert der nicht-transplantierten Patienten im Falle einer Transplantation kleiner wäre als der 90. Perzentilwert der real Transplantierten. Bei 10% der Nicht-Transplantierten hätten dann durch eine Transplantation mehr DALYs verhindert werden können als bei 10% der real Transplantierten. Anhand dieser Abbildung der jeweiligen Perzentile kann man erkennen, dass sich die beiden Kurven der DALYs im 36. Perzentil der Nicht-Transplantierten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten, bzw. im 65. Perzentil der real Transplantierten schneiden. Dies bedeutet, dass in 36% der Fälle mehr DALYs hätten verhindert werden können, wenn anstelle der real Transplantierten mit den 36 höchsten Perzentilwerten die Nicht-Transplantierten, die im Falle einer Transplantation die 36 niedrigsten Perzentilwerte an Überlebenszeit aufweisen, ein Spenderorgan erhalten hätten. 14 Hinsichtlich der DALYs müssen die oberen Perzentile der real Transplantierten, d.h. diejenigen, die trotz Transplantation die größte Anzahl an DALYs aufweisen (= die am schlechtesten geeigneten Empfänger), mit den unteren Perzentilen der Nicht-Transplantierten, wenn sie ein Transplantat erhalten hätten, d.h. diejenigen, die nach Erhalt eines Spenderorgans die geringste Anzahl an DALYs aufweisen (= die am besten geeigneten Nicht-Empfänger), verglichen werden.

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40 35 30 25 20 15 10 5 0 0/100

10/90

20/80

30/70

40/60

50/50

60/40

Nicht-Transplantierte (simuliert)

70/30

80/20

90/10

100/0 in %

Transplantierte (real)

Die Pfeile weisen auf die Fehlallokation hin. Quelle: USRDS 2002, eigene Berechnungen.

Abbildung 4: Perzentilwerte der DALYs der Nicht-Transplantierten bei Erhalt eines Transplantats und der real Transplantierten

6. Diskussion Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die gegebene Allokation der Nieren-Transplantate in den USA hinsichtlich der Maximierung der Überlebenszeit und der Minimierung der DALYs durchschnittlich optimal ist. Allerdings konnte eine fallbezogene Fehlallokation nachgewiesen werden, die sich in den DALYs noch deutlicher widerspiegelt als in der Überlebenszeit. Dass zur Überprüfung der Optimalität der Allokation nicht nur die Überlebenszeit als Kriterium, sondern auch das DALY-Konzept herangezogen wurde, ist daher von Relevanz, da die DALYs geschlechtsspezifisch differenziert und nach Beeinträchtigung und Alter gewichtet berechnet werden. Dies bedeutet im konkreten Fall der Allokation, dass mehr DALYs verhindert werden können, wenn z. B. eine 50-jährige Frau anstelle eines 50-jährigen Mannes ein Transplantat erhält, weil die Lebenserwartung von Frauen etwas höher ist als die der Männer und diese Frau daher eine größere Zeit in der durch die Transplantation verringerte Beeinträchtigung verleben wird. Andererseits bedeutet dies gleichzeitig, dass durch die Altersgewichtungsfunktion die Beeinträchtigung eines jungen Menschen stärker wiegt als die eines alten Menschen. Durch die Vergabe der Transplantate an jüngere Patienten können mehr DALYs verhindert werden als durch die Vergabe an ältere Patienten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die fallbezogene Fehlallokation beim Vergleich der DALYs deutlich stärker ausfällt als beim Vergleich der Überlebenszeiten. Vermutlich führt gerade die geringere Wahrscheinlichkeit der

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Frauen, ein Spenderorgan zu erhalten, auch wenn diese immunologisch begründet ist, zu diesem DALY-bezogenen Anstieg der Fehlallokation, da ja ceteris paribus die Frauen wegen der durchschnittlich höheren Lebenserwartung eher ein Transplantat erhalten sollten als die Männer. Die längeren Wartezeiten der Patienten mit höheren Inzidenzalter dürften sich jedoch kaum in der Ausmaß der Fehlallokation nach DALYs niederschlagen, da durch die Altersgewichtungsfunktion des DALY-Konzeptes ja gerade suggeriert wird, dass eine Zuteilung an jüngere Patienten aus ökonomischen Gesichtpunkten effizienter ist. Das DALY-Konzept ist folglich besonders gut dazu geeignet, hinsichtlich der Optimalität der Allokation von Nieren-Transplantaten geschlechtspezifische Ungleichheiten widerzuspiegeln. Ungleichheiten, die sich auf das Erkrankungsalter der Patienten beziehen, werden durch das DALY-Konzept jedoch weniger stark hervorgehoben und eher sogar verdeckt, da einem höheren Inzidenzalter durch die Altersgewichtungsfunktion ein geringeres Gewicht beigemessen wird. Wie passen jedoch diese Ergebnisse zusammen, nämlich dass es einerseits medizinisch und immunologisch nicht begründbare Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit der Transplantation hinsichtlich des Inzidenzalters, der Ethnizität und der Bildung des Patienten gibt, und dass andererseits die vorliegende Allokation der Nieren-Transplantate in den USA hinsichtlich der Maximierung der Überlebenszeit und Minimierung der DALYs durchschnittlich optimal ist (auch wenn es fallbezogene Fehlallokationen gibt)? Man sollte sich vor Augen halten, dass die benachteiligten Patientengruppen, nämlich die Nicht-Weißen und die niedriger Gebildeten, bereits in der Gesamtbevölkerung der USA eine im Vergleich zu Weißen und höher Gebildeten einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand und eine damit verbundene geringere Lebenserwartung haben (U.S. Renal Data System, 2005). Dies könnte erstens der Grund dafür sein, dass trotz soziodemographischer Benachteiligung die Allokation durchschnittlich in Bezug auf die Überlebenszeit optimal ist. Zweitens erhöht ein schlechterer allgemeiner Gesundheitszustand die Wahrscheinlichkeit, dass eine angebotene Spenderniere wegen akuter gesundheitlicher Probleme abgelehnt werden muss, da die Durchführung einer Transplantation einen stabilen Gesundheitszustand erfordert und z. B. schon bei einem grippalen Infekt nicht zu verantworten ist. Durch die Ablehnung eines angebotenen Organs verlängert sich deren Wartezeit. Wird in den Analysen nicht berücksichtigt, wie oft den Patienten bereits ein geeignetes Spenderorgan angeboten wurde, wird sich diese Tatsache ohne Berücksichtigung fälschlicherweise als soziale Ungleichheit zeigen. Daher kann man mutmaßen, dass die belegten soziodemographischen Unterschiede in der Transplantationswahrscheinlichkeit in erster Linie die sozialen

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Ungleichheiten hinsichtlich des allgemeinen Gesundheitszustandes widerspiegeln. In dieser Arbeit konnten nur die bereits erwähnten Komorbiditäten berücksichtigt werden. Es wäre aber wünschenswert und aufschlussreich gewesen, zusätzlich noch Informationen darüber zu haben und analysieren zu können, ob und wie oft den Patienten bereits eine geeignete Spenderniere angeboten wurde und ob es gesundheitliche Gründe für die Ablehnung der Transplantation gab. Nur so könnte man die Vermutung untersuchen, ob die genannten benachteiligten Gruppen tatsächlich seltener ein geeignetes Spenderorgan angeboten bekommen, oder ob sie häufiger eine Transplantation wegen akuter gesundheitlicher Probleme absagen mussten.

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Ist die Allokation von Nierentransplantaten optimal?

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Rivalisierende Ansätze menschlichen Verhaltens im Spiegel der Präventionspolitik Gabriele Klever-Deichert

1. Lebensstil und Krankheit Das Krankheitsspektrum in industrialisierten Ländern wird zunehmend durch degenerative chronische Krankheiten bestimmt. Einvernehmen besteht darüber, dass die chronischen Krankheiten im hohen Maße durch bestimmte Lebensstile und Verhaltensweisen beeinflusst werden. Empirische Befunde in In- und Ausland weisen übereinstimmend darauf hin, dass Personen aus niedrigen sozioökonomischen Schichten häufiger Krankheiten und frühzeitige Todesfälle aufweisen. So treten beispielsweise Rückenschmerzen, chronische Bronchitis, Schwindel und Depressionen überproportional häufig in unteren Sozialschichten auf. Männer aus der Unterschicht leiden 1,5 mal so häufig an Angina Pectoris wie Männer aus der Oberschicht. Bei Frauen liegt der entsprechende Faktor sogar bei 3,4 (Lampert 2005). Der Zusammenhang der schichtspezifischen Morbidität bzw. Mortalität ist in reichen Ländern ebenso ausgeprägt wie in weniger reichen Ländern. Die Krankheitsrisiken der unteren Schichten sind dagegen umso stärker überhöht, je ausgeprägter die sozialen Ungleichheiten zwischen den sozialen Schichten sind. Diese Befunde sind weitgehend unabhängig davon wie die Schichtzugehörigkeit gemessen wird bzw. welche Gesundheitsindikatoren verwendet werden (Hradil 2006). Sie sagen zudem nichts über die eigentlichen Verursachungsprozesse aus, da nicht anzunehmen ist, dass die Schichtzugehörigkeit die direkte Ursache für Krankheit und frühzeitigen Tod ist. Es stellt sich die Frage nach dem Wirkmechanismus, der hinter diesen Befunden steht. In der einschlägigen Literatur werden verschiedene Erklärungsansätze herangezogen, die sich jedoch zum Teil überschneiden und die in unterschiedlichem Ausmaß zur Erklärung der schichtspezifischen gesundheitlichen Ungleichheit beitragen. Neben statistischen Artefakten, der Selektionsthese, bei der nicht Krankheit als Folge eines geringen sozioökonomischen Status betrachtet wird, sondern ein umgekehrter Zusammenhang angenommen wird, materiellen bzw. strukturellen Gründen (inklusive des Zugangs zum medizinischen Versorgungssystem) sowie psychosozialen Faktoren wird gesundheitsschädigendes Verhalten als Erklärungsursache angenommen (Siegrist/Marmot 2006).

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Gabriele Klever-Deichert

Epidemiologische Befunde bestätigen, dass neben einer Häufung der Prävalenz chronischer Krankheiten auch riskante Lebensstile in den unteren sozioökonomischen Statusgruppen besonders häufig vorkommen. So belegen Studien für koronare Herzkrankheiten, dass neben psychosozialen Belastungen insbesondere gesundheitsbezogene Lebensstile zu den Erklärungsansätzen der gesundheitlichen Ungleichheit zählen und bestimmte Lebensstile, die in klinischen Studien als Risikoverhalten für die Entstehung chronischer Krankheiten identifiziert wurden, tatsächlich in niedrigen Schichten eine höhere Prävalenz aufweisen. Die Daten des Mikrozensus 2003 belegen z. B. eine höhere Raucherprävalenz der unteren Einkommensgruppen: Von den 15-jährigen und älteren Männern und Frauen mit einem monatlichen Haushalteinkommen unter 700 A rauchten 37,2% gegenüber 27,2% der Gleichaltrigen mit höherem Einkommen. Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch im Bewegungsverhalten ab, wenn auch die Unterschiede der Verhaltensweisen in den betrachteten Einkommensgruppen im höheren Lebensalter schwächer ausfallen (Lampert 2005). Gesundheitliche Probleme in den unteren Einkommensgruppen dürften damit zumindest teilweise auf ein ausgeprägteres gesundheitliches Risikoverhalten zurückzuführen sein. Wenn auch die Epidemiologie zeigt, dass bei statistischer Kontrolle des Risikoverhaltens Unterschiede in Mortalität und Morbidität bestehen bleiben, gilt der große Einfluss des Risikoverhaltens auf die Krankheitsentstehung als gesichert. „Lifestyle factors explain about 25 percent of the variance in scores of socio-economic differences in health.“ (Lantz et al. 1998) Trotz dieses unbestrittenen Einflusses bleibt weiterhin ungeklärt, warum das Risikoverhalten in niedrigen Schichten ausgeprägter als in höheren Schichten ist (Siegrist/Marmot 2006). Um eine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung zu realisieren sind zielgerichtete Interventionen erforderlich, die krankmachende Lebensstile verändern. Doch sind für das Risikoverhalten unterschiedlicher Personengruppen die gleichen Interventionen geeignet? Präventionsansätze, die das in verschiedenen Soziallagen unterschiedlich stark ausgeprägte Risikoverhalten zum Anknüpfungspunkt ihrer Bemühungen machen, liegen unterschiedliche Vorstellungen über die Ursachen des jeweiligen Verhaltens zugrunde. Das Spektrum präventiver Maßnahmen unterscheidet sich daher auch deutlich.

2. Rivalisierende Ansätze menschlichen Verhaltens Für Präventionsansätze, die auf eine Reduktion des Risikoverhaltens zielen, stellt sich die Frage, wie interveniert werden kann, um dem hierauf zurückzuführenden Anteil höherer Morbidität und höherer Mortalität zu begegnen. Denn in den europäischen Ländern unterscheidet sich auch die Lebenserwartung in

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Abhängigkeit von dem sozioökonomischen Status zwischen 4 und 10 Jahren (Siegrist/Marmot 2006). Mit Prävention sind unterschiedliche Erwartungen verbunden, WAS Ziel eines besseren Gesundheitszustandes sein soll, ob er z. B. als Selbstzweck – Stichwort bessere Lebensqualität – oder in Erwartung von Ausgabensenkungen – also als Mittel zum Zweck – angestrebt wird. Das Motiv einer besseren Lebensqualität kann Gesundheit zum Beispiel als Voraussetzung von Lebensentwürfen sehen. Das Motiv Gesundheit, um Gesundheitsausgaben zu senken, ist dagegen eher effizienzorientiert. Für beide Motive gilt, dass sie eng verbunden sind mit der Wahl einer Handlungstheorie. Das Motiv selbst ist aufgrund seines normativen Charakters – dem Wertfreiheitspostulat entsprechend – nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erklärung. Dagegen ist die Art der Intervention als wissenschaftliche Empfehlung dazu, wie der Übergang vom Status Quo zu dem angestrebten Zustand erreicht werden kann, unmittelbar aus den der Theoriebildung zugrundeliegenden Verhaltensannahmen abzuleiten. Mit den Verhaltensmodellen verbunden ist die Frage, WARUM Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Worin liegen ihre Verhaltensweisen begründet? Hier sind generalisierende Ansätze menschlichen Verhaltens angesprochen. Die Grundelemente der Verhaltensmodelle der Rational-Choice-Theorie und der Lebenslagenkonzepte als Basis für Empfehlungen zur Prävention werden nachfolgend aufgegriffen und kurz dargelegt. Es sei erwähnt, dass der Begriff „Verhalten“ in diesem Artikel in einem weiten Verständnis verwandt wird, der sich nicht an dem Verhaltensbegriff der Verhaltenswissenschaften orientiert. In den Abbildung 1 und 2 sind die beiden Verhaltensmodelle graphisch veranschaulicht. Beide Handlungstheorien gehen davon aus, dass gesellschaftliche Strukturen durch das Verhalten der Individuen zu erklären sind. Die angenommene Verknüpfung und Interdependenz der Individuen unterscheidet sich in den beiden Modellen jedoch deutlich.

3. Das Verhaltensmodell der Rational-Choice-Theorie Charakteristisch für die Erklärung des Verhaltens in Rational-Choice-Ansätzen ist die Annahme gegebener, vom Kontext unabhängiger Präferenzen. Die Genese dieser Präferenzen wird nicht erklärt. Vielmehr wird angenommen, dass der Mensch sein Verhalten rational und zielorientiert an selbst gesetzten Zielen ausrichtet. Obwohl der Mensch im Austausch mit seiner Umgebung und den darin agierenden Menschen und Institutionen steht, wird ein Einfluss des Kontextes auf die Präferenzen im Sinne einer „kulturellen Einbettung“ nicht angenommen. Das Modell ist damit voluntaristisch ausgerichtet, d.h. es wird ein grundsätzlich freier Wille in der Auswahl der Ziele angenommen. In Hinblick

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Gabriele Klever-Deichert

Präferenzen

Restriktionen

Verhalten

Gesundheitszustand Abbildung 1: Das Verhaltensmodell der Rational-Choice-Theorie

auf Gesundheit wird den Individuen damit eine Selbstverantwortung – oder zumindest Mitverantwortung – durch die Wahl der Lebensstile zugeschrieben (Breyer/Zweifel 1999). Der Kontext wird in dem Verhaltensmodell in Form von Restriktionen berücksichtigt, welche als durch das Individuum interpretierte restriktiv einwirkende Kraft betrachtet werden. Aber Einflüsse der Restriktionen auf die Präferenzen werden – wie die Abbildung verdeutlicht – nicht angenommen. Das Verhalten ist eine Funktion konstanter Präferenzen und der kontextuellen Restriktionen ‰ f ˆ …P…k† ; R†Š. Je nach Ausgestaltung des Verhaltens wirkt es positiv oder negativ auf den Gesundheitszustand. Durch Restriktionen unterschiedlicher Art (Einkommen, Preise, Zeit, soziale Normen, Selbstwert etc.) wird der Handlungsspielraum des Individuums eingeschränkt. Dadurch muss das Individuum sich zwischen Alternativen entscheiden. Als Entscheidungsregel gilt die Annahme der Nutzenmaximierung. Tauschbeziehungen und Interaktionen werden in diesem Verhaltensmodell nur insoweit eingegangen, als sie der Realisierung bzw. Optimierung der selbst gesetzten Ziele dienen. Die Individuen handeln rational, indem sie die Restriktionen zur Nutzenmaximierung berücksichtigen. Der methodologische Individualismus gilt als handlungsleitend. In diesem Sinne sind die Individuen „strategisch verkettet“ (Schulz-Nieswandt 2006). Diese ursprünglich aus der ökonomischen Theorie stammenden Zusammenhänge werden auch für die Nachfrage nach Gesundheitsgütern als gültig angenommen. Das Individuum gilt als Produzent seiner Gesundheit, welche es über den Einsatz von Gesundheitsressourcen beeinflusst. Es gilt als ökonomisch rational, Gesundheitsgüter nachzufragen und in die Gesundheit zu investieren,

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wenn der daraus resultierende Nutzen die Opportunitätskosten in Form entgangener Nachfragealternativen überwiegt (Becker 1993; Hajen et al. 2004). Gesundheit wird dabei nicht von vorneherein der Vorzug gegeben, vielmehr wird der Abwägeprozess zwischen Gesundheitsgütern und sonstigem Konsum als mikroökonomisches Optimierungsproblem betrachtet (Breyer/Zweifel 1999). Im Mittelpunkt steht dabei immer das Individuum, das seine Präferenzen unabhängig von dem gesellschaftlichen Kontext wählt. Die Verhaltensannahmen der Rational-Choice-Theorie finden in anderen Disziplinen der Sozialwissenschaften zunehmend Anwendung. In psychologischen Modellen der Gesundheitserziehung sind die in ökonomischen Modellen der Gesundheitsnachfrage berücksichtigten Restriktionen um die gesundheitspsychologischen Restriktionen (1) Einstellung gegenüber einer Krankheit, (2) soziale Normen und (3) die Kontrolle des eigenen Verhaltens ergänzt worden (Naidoo/ Wills 2003; Ajzen 1991). Die drei Variablen bilden zusammen eine Verhaltensabsicht, die als innerpsychische Mechanismen des individuellen Entscheidens zu betrachten sind (Niehoff 2002). Ebenso wie in der ökonomischen Theorie liegt auch den psychologischen Modellen die Vorstellung rational handelnder Individuen zugrunde, deren Verhaltensweisen auf der reflektiven Bewertung von Handlungskonsequenzen beruhen. Dabei wird angenommen, dass Individuen aus eigenem Antrieb eine optimale Gesundheit anstreben. Die Präferenzbildung der Individuen erfolgt auch in den gesundheitspsychologischen Modellen unabhängig vom sozialen Kontext. Dieser gilt allenfalls als durch das Individuum interpretierte, restriktive Kraft. Das Verhalten wird gemäß den psychologischen Modellen von den erwarteten Konsequenzen bestimmt.

4. Das Verhaltensmodell des Lebenslagenkonzeptes Die dem Lebenslagenkonzept zugrundeliegende Erklärung menschlichen Verhaltens geht dagegen von der „Einbettung“ oder „Verflochtenheit“ der Individuen in gesellschaftliche Strukturen aus. Der „Sinn“ bzw. der „Kontext“ (Abbildung 2) ist gewissermaßen die Analogie für die „Präferenzen“ bzw. „Restriktionen“ im Rational-Choice-Konzept. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass „Sinn“ und „Kontext“ in Wechselwirkung stehen. Durch zwischenmenschliche Kommunikation entwickeln Menschen ihre Interessen und Präferenzen in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Es kommt dadurch zur Herausbildung von Sinnstrukturen, die mit einer bestimmten Wahrnehmung und Interpretation des Kontextes einhergehen. Die zentrale Aussage ist, dass Menschen auf der Grundlage von Bedeutungen und Sinnzuschreibungen handeln, die aus dieser sozialen Interaktion entstehen. Der Sinn ist – anders als in der Rational-Choice-Theorie – nicht individualistisch, sondern institutionell fundiert. Die Wahl der Lebensstile, die auch gesundheitsrele-

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Gabriele Klever-Deichert

vante Verhaltensweisen umfassen, sind damit nicht frei von kontextuellen Einflüssen. Im transaktionalistischen Lebenslagenansatz wird die personale Kompetenz betont, die erst die „Befähigung“ zu gesundheitsbewusstem Verhalten ausmacht. Sowohl der Kontext als „objektive Handlungsressource“ als auch der Sinn als „personale Ressource“ machen den Handlungsspielraum bzw. die Lebenslage aus. Objektive Bedingungen und subjektive Wahrnehmungen und Deutungen stehen in direkter wechselseitiger Beziehung zueinander. Die Handlungsräume eröffnen Optionen bzw. stellen Restriktionen dar, die sich erst durch die subjektive Wahrnehmung und Interpretation der Individuen zu der Lebenslage konstituieren. Die kognitiven Leistungen der Person sind in Wechselwirkung mit den objektiven äußeren Umständen eine maßgebliche Größe für die Präferenzbildung. Selbst bei gleichen objektiven äußeren Umständen kann die unterschiedliche Wahrnehmung verschiedener Personen zu unterschiedlichen Verhaltensmustern führen. Weder sind Präferenzen statisch gegeben, noch sind sie allein durch objektive Handlungsspielräume determiniert. Vielmehr geht das transaktionalistische Lebenslagenkonzept von einer Präferenzbildung im Dialog der Person mit dem Kontext aus (Schulz-Nieswandt 2006).

Sinn

Kontext

Habitus

Gesundheitszustand Abbildung 2: Das Verhaltensmodell des Lebenslagenkonzeptes

Dem gesellschaftlichen Kontext entsprechend bildet sich ein Habitus heraus (Bourdieu 1983). Der Begriff „Habitus“ als Haltung bzw. Lebensstil beinhaltet als „gelebte Lebenslage“ gewissermaßen die Wahrnehmung der Menschen über den Kontext. Denn der Prozess der sozialen Interaktion wirkt seinerseits auf das menschliche Denken und Handeln. Die Person ist damit sozialtypisch strukturiert. Anders als im Rational-Choice-Ansatz wird keine voluntaristische Aus-

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richtung des Handelns angenommen. Ein weiterer Unterschied zur RationalChoice-Theorie ist, dass die Lebenslagenkonzeption die Genese der Präferenzen ausdrücklich thematisiert. Die Erklärung des menschlichen Verhaltens gemäß dem aktuellen Stand des Lebenslagenkonzeptes findet seine Entsprechung in Antonovskys Modell der Salutogenese. Dieses stellt als Theorie von Gesundheit und Krankheit den Prozess der Stressbewältigung in den Mittelpunkt der Erklärung von Gesundheit und Krankheit. Das Kohärenzgefühl als individuelle Ressource im Prozess der Stressbewältigung bildet sich in Wechselwirkung mit dem Kontext. Bietet dieser ausreichend Widerstandsressourcen – zum Beispiel in Form sozialer Netzwerke oder familiärer Unterstützung – ist der Aufbau eines ausgeprägten Kohärenzgefühls (Sense of Coherence) begünstigt. Belastende Situationen (Stressoren) können dann bewältigt werden. Gelingt dies nicht, entsteht Stress, der neben psychophysiologische Mechanismen auch Risikoverhalten nach sich zieht und zu Krankheit führen kann (Albus et al. 2005). Während in den Rational-Choice-Modellen von frei gewählten Präferenzen ausgegangen wird, geht das Modell der Salutogenese von kontextabhängigen Präferenzen aus. Der „Sense of Coherence“ entspricht als „Grundhaltung gegenüber der Welt“ dem „Sinn“ während die zur Entwicklung notwendigen „Widerstandsressourcen“ dem „Kontext“ zuzuordnen sind. Gemäß dem transaktionalistischen Lebenslagenkonzept ändert sich das Verhalten mit der Wahrnehmung der Individuen – selbst bei gleichem objektivem Kontext. Als entscheidend dafür, wie der Kontext wahrgenommen wird, gilt die Kontrollkompetenz der Person, oder auch ihre „Identität“. Diese entsteht biografieabhängig durch die Auseinandersetzung mit den Perspektiven und Haltungen Dritter und den daraus erwachsenden Anforderungen. Die Lebenslage entzieht sich damit einer direkten Beobachtung anhand sozioökonomischer Daten (Voges 2002). Studien zeigen, dass gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen als Bewältigungsstrategien unabhängig von dem sozioökonomischen Status auftreten. Ihre Häufung in den unteren Schichten geht jedoch mit einer geringeren Verfügbarkeit sozialer Netzwerke (= Widerstandsressourcen) einher (Klocke 2004; Jungbauer-Gans et al. 2004; Lampert 2005). 5. Ansätze der Prävention Für die Interventionen, bzw. Präventionsansätze sind die unterschiedlichen Verhaltensannahmen nicht ohne Konsequenzen. Abbildung 3 veranschaulicht in vereinfachter Weise die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte der Prävention. Die Verhaltensannahmen sind maßgeblich für die Wege, auf denen angestrebte Gesundheitsziele erreicht werden sollen. Da Restriktionen bei der Realisierung der Präferenzen eine lenkende Funktion haben, sind die Ansatzpunkte

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RC: Restriktionen LL: Sinnstrukturen Kontext

Individuum

Risikoverhalten Prävention Lebenslagenkonzept (LL)

Prävention Rational-Choice-Theorie (RC)

Abbildung 3: Anknüpfungspunkte der Prävention

der Prävention in Rational-Choice-Theorien immer die Restriktionen (KleverDeichert 2006). Ökonomisch motivierte Interventionen erfolgen dann, wenn Kosten und Nutzen der Nachfrageentscheidungen auseinanderfallen. Die hiermit einhergehende Internalisierung externer Effekte hat nicht zwingend das Ziel eines besseren Gesundheitszustandes, sondern zielt auf Nutzenmaximierung. Pädagogisch und psychologisch motivierte Interventionen dienen gemäß Rational-Choice-Theorie dagegen als Eingriff in persönliche Überzeugungen durch Wissens- und Kompetenzvermittlung der Stärkung personengebundener, gesundheitsfördernder Kompetenzen. Auch hier sind die Ansatzpunkte der Interventionen die Restriktionen. Eingriffe in den sozialen Kontext zur Beeinflussung individueller Präferenzen sind mit den Verhaltensannahmen der RationalChoice-Modelle nicht kompatibel. Gemäß der Rational-Choice-Theorie liegen im Kontext Restriktionen vor, die bei gegebenen Präferenzen in die Handlungswahl einbezogen werden. Wird Risikoverhalten beobachtet, wird es grundsätzlich akzeptiert, es sei denn, die Nutzenfunktion Dritter ist beeinträchtigt. Dies ist der Fall externer Effekte. In diesem Fall soll durch positive oder negative Restriktionen unmittelbar auf das Individuum eingewirkt werden. Die Präferenzen der Individuen bleiben unberührt. Anknüpfungspunkt ist das Individuum. Gemäß Lebenslagenkonzeption führt die Wechselwirkung zwischen Kontext und Individuum (Einbettung) zu Sinnstrukturen, die individuelles Verhalten bestimmen. Die Präferenzen werden kontextabhängig gebildet. Bei unerwünschtem Risikoverhalten wird in den Kontext interveniert, um – angesichts kontextabhängiger Präferenzbildung – meritorisch in die Präferenzen einzugreifen.

Menschliches Verhalten in der Präventionspolitik

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Wichtig für das transaktionalistische Lebenslagenkonzept sind Interventionen, die die Wahrnehmung der Individuen, also die personalen Kompetenzen beeinflussen. Es geht um die Gestaltung der Lebenswelten durch die Akteure in den verschiedenen Settings. Interventionen, die nur auf das Risikoverhalten zielen, ohne auf dessen Kontext Bezug zu nehmen, stellen aus Sicht des transaktionalistischen Lebenslagenkonzeptes Eingriffe in das Bewältigungsverhalten dar, vermindern aber nicht die zu bewältigenden Belastungen (Hurrelmann 2000). 6. Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland Die Zuständigkeit für gesundheitliche Prävention liegt in Deutschland in erster Line bei den gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Seit Jahrzehnten sind sie für medizinische Maßnahmen der Vorsorge und Früherkennung zuständig. Maßnahmen der Primärprävention wurden mit § 20 SGB V erst später eingeführt und waren zudem im Zeitablauf deutlichen Veränderungen unterworfen. Nicht zuletzt in den unterschiedlichen Fassungen des § 20 SGB V und den hierzu erlassenen Handlungsempfehlungen der GKV-Spitzenverbände kommen Ansätze der Belastungssenkung bzw. der Ressourcenstärkung mal mehr und mal weniger zum Tragen. Im Jahr 1989 wurden erstmals Maßnahmen der Gesundheitsförderung im Gesundheitswesen eingeführt. Diese gesetzliche Grundlage für satzungsgemäße Leistungen zur Gesundheitsförderung wurde der GKV mit dem Beitragsentlastungsgesetz 1996 wieder entzogen. Maßnahmen der Verhaltensprävention rückten ebenso wie die prinzipiell auf allen gesellschaftlichen Ebenen ansetzenden, unspezifisch und salutogenetisch orientierten Maßnahmen der Gesundheitsförderung, deren Ziel in der positiven Beeinflussung der kontextuellen Lebensund Arbeitsbedingungen zur Stärkung gesundheitsbezogener Handlungsfähigkeit liegt, gegenüber Schutzimpfungen und der Zusammenarbeit mit den Unfallversicherungsträgern zur Krankheitsverhütung wieder in den Hintergrund. Erst mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 wurden erneut Satzungsleistungen zur Primärprävention in § 20 SGB V aufgenommen, deren Ziel in der Verminderung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit besteht. Die Neuregelung dokumentiert den Willen des Gesetzgebers, den Fokus der Primärprävention zu erweitern (SVR 2000/2001). Die von den Spitzenverbänden 2000 beschlossenen Handlungsempfehlungen zur Umsetzung des § 20 sahen sowohl Settingansätze als auch Maßnahmen der Individualprävention vor, wobei die am Individuum ausgerichtete Prävention dominierte. Mit der Anfang 2006 von den Spitzenverbänden der GKV verabschiedeten neuen Fassung der Empfehlungen zur Umsetzung des § 20 SGB V wurde der Settingansatz deutlich gestärkt. Neben einer Festschreibung von mindestens 50 Cent pro Mitglied für Maßnahmen in außerbetrieblichen Settings werden diese zudem nicht länger als besonders geeignete Zugangswege zu schwer erreichbaren Zielgruppen gesehen, sondern als inte-

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grierter Ansatz zur Schaffung gesunder Lebenswelten betrachtet. Es geht damit nicht mehr primär um die am Individuum ausgerichtete Prävention, die u. a. im Setting angeboten wird. Auch die Beeinflussung gesundheitlich relevanter Verhaltensweisen durch Veränderungen des Kontextes wird angestrebt. Damit erfahren die auf den Verhaltensannahmen des Lebenslagenkonzeptes beruhenden Präventionsansätze im Rahmen des § 20 SGB V eine deutliche Aufwertung. Als weiterer Ansatz der Prävention wurden mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz 2003 Bonusprogramme als Satzungsleistung in der GKV zugelassen (§ 65a SGB V). Durch dieses ökonomische Instrument sollen Anreize für gesundheitsbewusstes Verhalten der Versicherten gestärkt werden. Darüber hinaus ist insbesondere die Erhöhung der Tabaksteuer als Beispiel für eine an den Restriktionen anknüpfende, ökonomisch orientierte Prävention zu nennen. So wurde die Steuer auf Fabrikzigaretten seit 1998 in mehreren Stufen angehoben. Angesichts des zur Nutzenmaximierung angestrebten Ausgleichs von Grenzkosten und -nutzen ist die Gesundheit dabei nur mittelbares Ziel. Unmittelbares Ziel ist es, die negativen Auswirkungen des Rauchens auf Dritte, z. B. die sozialen Kosten in Folge der tabakbedingten Krankheitsrisiken, in die Kosten-Nutzen-Abwägung des Rauchers aufzunehmen. Die damit einhergehende Verteuerung des Rauchens hat auf der einen Seite einen verhaltenssteuernden Effekt (Preis = Restriktion), auf der anderen Seite werden Steuermehreinnahmen generiert, mit denen eine Internalisierung negativer externer Effekte erfolgen kann. Tatsächlich wurden mit dem Gesundheitsreformgesetz 2003 (GRG) kurzzeitig Einnahmen aus der Tabaksteuer für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt. Ansätze der am Kontext anknüpfenden Prävention sollten mit dem in der 15. Legislaturperiode vorgelegten Entwurf eines Präventionsgesetzes gestärkt werden. Gegenüber den dominierenden Präventionsaufgaben der GKV sollte die – u. a. finanzielle – Verantwortung für Prävention und Gesundheitsförderung auf andere Akteure ausgeweitet werden. Zu den Zielen des Gesetzentwurfes zählte ausdrücklich die Beseitigung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten, insbesondere durch eine Stärkung der Prävention und Gesundheitsförderung in Lebenswelten (= Settings). Neben der Verhaltensprävention (u. a. im Setting) sollte die Entwicklung gesundheitsförderlicher Settings durch Elemente der Organisationsentwicklung und Partizipation gestärkt werden (Deutscher Bundestag 2005) Von diesen Impulsen für den Kontext wurden positive Einflüsse auf gesundheitsrelevante Verhaltensweisen erwartet. Mit der verbindlichen Vorgabe der Verhaltens- und Verhältnisprävention wurde eine zentrale gesundheitspolitische Steuerungsaufgaben explizit aufgegriffen, die für unterschiedliche Ziele bzw. für unterschiedliche Zielgruppen verschiedene Präventionsansätze vorsah. Durch die vorgezogenen Neuwahlen zum 16. Deutschen Bundestag wurde der damals an den Vermittlungsausschuss überwiesene Entwurf hinfällig. Die

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Absicht, mit dem Verhaltensmodell des Lebenslagenkonzeptes korrespondierende Präventionsansätze zu stärken, war damit zunächst gescheitert. Lediglich im Rahmen der GKV-Zuständigkeit haben diese Konzepte mit dem neuen Leitfaden Prävention eine Aufwertung erfahren.

7. Ausblick Nach dem Scheitern des Präventionsgesetzes infolge der vorgezogenen Neuwahlen zum Deutschen Bundestag ist eine Stärkung der Prävention und Gesundheitsförderung weiterhin dringend erforderlich. Insbesondere die demographische Entwicklung erfordert die Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung um die Lebensqualität zu verbessern, aber auch um das zahlenmäßige Verhältnis der Erwerbstätigen zu den Nicht-Erwerbstätigen zu stabilisieren. Die zunehmend auseinanderklaffende Schere der Morbidität und Mortalität zwischen hohen und niedrigen sozioökonomischen Statusgruppen kann zudem nicht länger ignoriert werden. Die Präventionsbemühungen des § 20 SGB V reichen weder hinsichtlich ihres Umfangs noch ihrer Verantwortlichkeit aus. Erforderlich für zielgruppenspezifische Präventionsansätze, die an den Ursachen der gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen anknüpfen, sind größere finanzielle Anstrengungen, aber auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, welche die Aufgaben der Prävention nicht alleine den Kassen überlässt. Der empirisch immer häufiger belegte Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Morbidität verdeutlicht angesichts der damit verbundenen absoluten und relativen Ressourcenarmut den großen Bedarf individuums- und kontextbezogener Prävention (Siegrist 2001). Aus ethischen und ökonomischen Erwägungen sollten aber nur solche Maßnahmen durchgeführt werden, deren Wirksamkeit zumindest durch „logisch plausible Überlegungen und empirisch tragfähige Zusammenhanganalysen und Schätzungen“ gestützt wird (SVR 2000/ 2001). Es gilt die Bemühungen um Wirksamkeitsnachweise kontextbezogener Ansätze zu stärken, die hohen Maßstäbe der evidenzbasierten Medizin können aber nicht eins zu eins auf die Gesundheitsförderung übertragen werden (Klever-Deichert et al. 2007). Mit der beschriebenen Präventionspolitik ist ein kleiner Schritt zur Stärkung kontextbezogener Prävention erfolgt. Weitere Schritte müssen folgen. Es bleibt die Frage, welche Motive der Erweiterung der Präventionsansätze um kontextbezogene Prävention zugrunde liegen. Geht es um die Verbesserung individueller Lebensqualität oder ist die gesundheitliche Verbesserung für sozial Benachteiligte im unmittelbaren Zusammenhang mit den demographischen Herausforderungen und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu sehen? Offensichtlich ist, dass Gesundheit in einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung Voraussetzung für eine stabile Volkswirtschaft ist. Präventionsansätze, die

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entgegen der Markttheorie meritorische Interventionen in den Kontext verfolgen, liegen angesichts der externen Effekte im Interesse der Gesamtgesellschaft. Literaturverzeichnis Ajzen, I. (1991): Theory of Planned Behavior. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 50, 179–211. Albus, C./De Backer, G./Bages, N. et al. (2005): Psychosoziale Faktoren bei koronarer Herzkrankheit – wissenschaftliche Evidenz und Empfehlungen für die Praxis. Gesundheitswesen, 67, 1–8. Becker, G. S. (1993): Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, übersetzt von Vanberg, M./Vanberg, V. – 2. Auflage. Tübingen. Bourdieu, P. (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In R. Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten. Göttingen. Breyer, F./Zweifel, P. (1999): Gesundheitsökonomie. 3. überarbeitete Auflage, Berlin. Deutscher Bundestag (2005): Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen: Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention – Präventionsgesetz. http://www.bmgs.bund.de/download/gesetze/entwuerfe/entwurf praevg_text%20begruendung.pdf (Zugriff am 10.11.2005). Hajen, L./Paetow, H./Schumacher, H. (2004): Gesundheitsökonomie: Strukturen, Methoden, Praxisbeispiele. 2. überarbeitete und erw. Auflage. Stuttgart. Hradil, S. (2006): Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil? In K. Hurrelmann/M. Richter (Hrsg.), Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Wiesbaden. Hurrelmann, K. (2000): Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Theorien von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. 4. Auflage. Weinheim/München. Jungbauer-Gans, M./Kriwy, P. (2004): Ungleichheit und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, In M. Jungbauer-Gans/P. Kriwy (Hrsg.), Soziale Benachteiligung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Wiesbaden. Klever-Deichert, G. (2006): Prävention im Spannungsfeld zwischen Rational-ChoiceTheorie und Lebenslagenkonzeption. Leitbildanalyse der Prävention unter Berücksichtigung des Präventionsgesetz-Entwurfes. In F. Schulz-Nieswandt (Hrsg.), Anthropologisch orientierte Forschung zur Sozialpolitik im Lebenszyklus, Bd. 5. Berlin. Klever-Deichert, G./Plamper, E./Gerber, A. et al. (2007): Tabakkontrolle zwischen Ökonomie und Ethik. Public Health Forum, 54(1), (in Druck). Klocke, A. (2004): Soziales Kapital als Ressource für Gesundheit im Jugendalter. In M. Jungbauer-Gans/P. Kriwy (Hrsg.), Soziale Benachteiligung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Wiesbaden. Lampert, T. (2005): Schichtspezifische Unterschiede im Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten. Blaue Reihe. Berliner Zentrum Public Health, 15.

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Patientenbeteiligung an Entscheidungen über Versorgungsleistungen und an der Qualitätssicherung der Krankenhausversorgung Die Perspektive der Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss und der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung Evelyn Plamper

1. Einleitung Gesundheitspolitik fordert heute den mündigen und eigenverantwortlich entscheidenden und handelnden Bürger und Patienten und in der Folge kollektive Patientenbeteiligung an gesundheitspolitischen Entscheidungen und an der Qualitätssicherung der Versorgung. Die Stärkung der Patientenrechte ist auch in Deutschland weithin anerkannt [SVR 2001/2002, Dierks 2001 und 2006, Hölling 2003]. Zu Effekten kollektiver Patientenbeteiligung liegen wenige englischsprachige Studien vor. Einige wiesen Veränderungen in Leistungsplanung und -entwicklung aufgrund der Patientenbeteiligung nach, fanden jedoch keine Auswirkungen auf die Qualität und Effektivität von Leistungen [Crawford 2002]. Für Effekte der Patientenbeteiligung in bezug auf Entscheidungen zur Gesundheitsversorgung auf nationaler Ebene fand sich geringe Evidenz [Nilsen et al. 2006]. In Deutschland sind die Bedingungen für individuelle Patientenrechte (Recht auf Aufklärung, freie Arztwahl, Beschwerderecht) zwar ohne Grundlage eines einheitlichen Patientenrechtsgesetzes, aber durch Rechtsprechung gut ausgestaltet und in einer Patientencharta zusammengestellt [Dierks 2006]. Im Rahmen der Schwerpunktförderung „der Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess“ stehen Analysen zur partizipativen Entscheidungsfindung im Vordergrund [Bundesgesundheitsministerium 2006]. Die Erfahrungen mit der Umsetzung kollektiver Patientenrechte und der Beteiligung an Beratungen oder Entscheidungen auf nationaler Ebene sind in Deutschland dagegen noch jung. Auf kommunaler Ebene und Länderebene sind Patienten an Entscheidungen im Rahmen von Gesundheitskonferenzen beteiligt. Hier war Nordrhein-Westfalen Vorreiter. Auch haben große Krankenhäuser Patientenvertreter. In Gremien und Verbänden der Krankenkassen nehmen Patientenvertreter an Zulassungs- und Berufungsausschüssen teil und sind des Weiteren an Prozessen und Entschei-

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Evelyn Plamper

dungen in Verbänden und Institutionen eingebunden wie beispielsweise in das Patientenforum der Bundesärztekammer [Auerswald 2003, Sänger 2001]. In Deutschland gibt es ein gestuftes Recht auf Bürger- und Patientenbeteiligung im Gesundheitswesen in Form von Beteiligung an Umfragen, Anhörung, Stellungnahme, Beratung und Entscheidung [Hart 2004].

2. Gesetzlicher Rahmen für Patientenvertretung auf der Bundesebene Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz des Jahres 2004 wurden in § 140f SGB V die Beteiligungsrechte von Patientenorganisationen im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), in der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung in der stationären Versorgung (BQS) und im Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gesetzlich geregelt und die Stelle der/ des Patientenbeauftragten eingerichtet [Bundesgesundheitsministerium 2003, PatBeteiligungsV nach SGB V, §§ 140f, g]. Mit der Patientenbeteiligungsverordnung sind die Ziele verbunden, mehr Patientenorientierung im Sinne einer für Patienten bedarfsgerechten Einflussnahme auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu erreichen, die Rechtfertigung der Beschlüsse zur Versorgungsqualität und Transparenz gesundheitspolitischer Entscheidungen zu erhöhen, sowie Aspekte der Lebensqualität von Patienten zu integrieren oder barrierefreie Versorgung zu berücksichtigen [Englert 2005, Koordinierungsgruppe 2005]. In der PatBeteiligungsV sind die Kriterien für die Auswahl geeigneter Patientenvertreterorganisationen festgelegt. Danach müssen die Organisationen satzungsgemäß ideell die Belange von Patienten oder Selbsthilfe fördern, eine demokratische Grundordnung aufweisen, gemäß ihrem Mitgliederkreis dazu berufen sein, Patienteninteressen zu vertreten, seit mindestens 3 Jahren bestehen, eine sachgerechte Aufgabenerfüllung gewährleisten sowie durch Offenlegen der Finanzierung Neutralität und Unabhängigkeit nachweisen. Anhand der Eignungskriterien identifizierte und anerkannte Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen der Patienten und der Selbsthilfe auf Bundesebene sind der Deutsche Behindertenrat (DBR) als Betroffenen-Organisation sowie sogenannte Beraterverbände wie die Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen (BAGP), die Deutsche Arbeitsgemeinschaft der Selbsthilfegruppen e. V. (DAG SHG) und der Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. (vzbv). Zu spezifischen Themen benennen diese Organisationen einvernehmlich sachkundige Personen für die Mitarbeit in den Gremien, davon müssen mindestens die Hälfte Betroffene sein. Sie entscheiden also selber über die Auswahl der Patientenvertreter. Ein von der BAG SHG gestellter Koordinierungsausschuss ist für die Benennung zuständig. Die Organisationen haben sich auf ein Entsendeverhältnis von 6:1:1:1 zwischen dem DBR und den drei Beraterorganisationen geeinigt [Danner/Matzat 2005]. Neben dem Nachweis der Unabhängigkeit der Organisatio-

Patientenbeteiligung an Entscheidungen über Versorgungsleistungen

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nen müssen auch die Delegierten selbst ihre Unabhängigkeit erklären [Kossow 2006]. Hier geht es sowohl um die Unabhängigkeit von der Pharmaindustrie, um den Erhalt einer unbefangenen kritischen Sicht auf Innovationen beispielsweise; denn Pharmafirmen setzen bei der Vermarktung neuer Arzneimittel naturgemäß auf die „Kunden“ und nutzen die Beziehungen zu den Patientenorganisationen, es geht aber genauso um mögliche Bindungen an machtpolitische Interessen anderer Geldgeber [Kossow 2006]. Die Patientenvertreter haben Mitberatungsrecht, aber kein Stimmrecht. Das Mitberatungsrecht ist nicht gleichzusetzen einer Interessenvertretung der GKV-Versicherten allgemein, erweitert jedoch die Verantwortungsträgerschaft und vergrößert die Legitimationsgrundlage von Richtlinien [Pitschas 2006]. Nach dem Gesetzesentwurf zur Änderung des Vertragsarztrechtsänderungsgesetz (VÄndG) sollen die Patientenvertreter zudem ein Recht auf Anwesenheit bei der Beschlussfassung bekommen [www.bmg. bund.de]. Die Patientenvertreter begannen ihre Arbeit im G-BA Anfang 2004 und in der BQS Anfang 2005.

3. Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss Neben Vertretern der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft beraten neun Patientenvertreter oder ihre Stellvertreter in den sechs Beschlussgremien mit, in denen Richtlinien und Empfehlungen zu ärztlichen Angelegenheiten, zur vertrag(zahn)ärztlichen Versorgung/Psychotherapie und zur Krankenhausbehandlung beschlossen werden. Je zwei ständige und drei themenspezifisch kompetente Patientenvertreter haben Mitberatungsrecht in den 25 Unterausschüssen sowie je ein bis zwei Patientenvertreter in den Arbeitsgruppen, die bedarfsweise und zeitlich begrenzt den Unterausschüssen zuarbeiten. Etwa 184 benannte Patientenvertreter stehen für die Mitberatung im G-BA zur Verfügung. Davon ist ein Teil bisher aber noch nicht zu Sitzungen eingeladen worden. Thematische Schwerpunkte des G-BA sind neben dem Leistungskatalog unter anderem die Arzneimittelverordnung (hier besonders OTC-Liste und Festbeträge), neue Untersuchungs- und Behandlungsverfahren im Krankenhaus, Heil- und Hilfsmittelverordnung, ambulante Richtlinien-Psychotherapie, Chroniker-Regelung sowie Disease Management Programme. Unterausschüsse befassen sich weiterhin mit Themen wie evidenzbasierte Patienteninformation, Verfahrensordnungen, Arbeitsunfähigkeit, Bedarfsplanung, Familienplanung, Häusliche Krankenpflege, Prävention, Festzuschüsse Zahnbehandlung, Kieferorthopädie, Rehabilitation, Methodenbewertung im stationären Bereich, Richtlinien und Qualitätssicherung. Die Patientenvertreter haben ihren Einfluss bereits geltend gemacht und beispielsweise die Modifizierung der Richtlinie zur Chroniker-Regelung erreicht, die Berücksichtigung von Nebenwirkungsmanagement und Sekundärprophylaxe in der Ausnahmeliste der OTC-Arzneimittel, die Anpassung der Regelung von

176

Evelyn Plamper

Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung oder die Aufdeckung von Versorgungslücken in Bezug auf die Heilmittel-Richtlinie. Um einen kontinuierlichen Informationsfluss zwischen Arbeitsgruppen, Unterausschüssen und Beschlussgremien zu gewährleisten, wurde ein Informationsmanagement eingerichtet [Danner/Matzat 2005], das angesichts der vielschichtigen Organisation eine Herausforderung darstellt. Siehe dazu auch Ergebnisse einer Patientenvertreterbefragung zur Einschätzung der Mitwirkung im G-BA (siehe dazu weiter unten in Abschnitt 8.). 4. Patientenvertreter im Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit Im IQWiG ist Patientenbeteiligung im Kuratorium vorgesehen. Sechs der 30 Kuratoriumsmitglieder sollen Interessenvertreter der Patienten und der Selbsthilfe sein. Die Patientenbeauftragte ist ebenso Mitglied. Kuratoriumsmitglieder haben das Recht zu schriftlicher Stellungnahme. Bisher liegen keine Erfahrungen der Mitarbeit von Patientenvertretern im IQWiG vor. 5. Patientenvertreter in der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung der stationären Versorgung Weitere Beteiligungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene haben Patientenvertreter seit 2005 in den Fachgruppen der BQS. In den nach Leistungsgebieten geordneten Fachgruppen wirken neben den Partnern der Selbstverwaltung, Vertretern der jeweiligen Fachgesellschaften und des Pflegerats je bis zu zwei Patientenvertreter mit. 30 Patientenvertreter sind von der Koordinationsstelle benannt. Derzeit wird die stationäre Versorgungsqualität durch die BQS in 20 überwiegend chirurgischen Leistungsgebieten überprüft: Augenheilkunde, Gefäßchirurgie, Gynäkologie, Herzchirurgie, Herzschrittmacher, Herz- und Lungentransplantation, Transplantation von Leber, Pankreas und Niere, Prozessqualität der Transplantationsmedizin, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kardiologie, Mammachirurgie, Neurologie – Nervenkompressionssyndrome –, Orthopädische und Unfallchirurgie, Perinatalmedizin, Pflege (Dekubitus), Pneumonie, Perkutane Transluminale Angioplastie), Urologie, Viszeralchirurgie und Kinderonkologie. Versorgungsqualität und messbare Ergebnisse der stationären und ambulanten Versorgung sowie der Rehabilitation werden aufgrund des zunehmenden Wettbewerbs um Patienten und aufgrund der Forderung nach Transparenz der Versorgungsleistungen und der Versorgungsergebnisse immer wichtiger [Plamper 2006]. Die Anforderungen an Versorgungsqualität in Deutschland werden vorrangig durch die vom Gesetzgeber beauftragten Institutionen der Selbstverwal-

Patientenbeteiligung an Entscheidungen über Versorgungsleistungen

177

tung G-BA und BQS definiert. Welchen Einfluss Bürger und Patienten auf die Definition von Qualitätszielen haben, ist bisher ebenso wenig untersucht worden wie die Kriterien, die dem Qualitätsverständnis der jeweiligen Akteure im Gesundheitswesen zugrunde liegen. „Gute Versorgungsqualität“ steht in Relation zu festgelegten, üblicherweise vorausgesetzten oder verpflichtenden Anforderungen auf der Grundlage der kulturellen, gesundheitspolitischen, gesundheitsökonomischen und patientenbezogenen Bedingungen. Diese Bedingungen finden mit ungleichem Gewicht Eingang in die Diskussion um die Qualitätssicherung der Versorgung. Wenn sich beispielsweise bereits die Gesundheitsziele der Patienten von denen der Ärzte und Therapeuten unterscheiden, könnte die Bewertung der Behandlungserfolge unterschiedlich ausfallen. Um „gute Qualität“ identifizieren zu können, sind Qualitätsmerkmale bzw. -indikatoren nötig, die auf Qualitätsdefizite in der Versorgung hinweisen oder „gute“ Qualität anzeigen, oder die das Erreichen von Qualitätszielen abbilden. Patientenvertreter sind nun an der Definition der Qualität der Versorgung und an der Definition von Qualitätszielen beteiligt und die Patientensicht soll bei der Bewertung von Versorgungsqualität berücksichtigt werden. Dies ist umso erfreulicher, als ein Sechs-Länder-Vergleich der Patientensicht auf die Qualität der Gesundheitsversorgung für Deutschland Defizite und damit auch Verbesserungspotenzial aufzeigt – dies besonders in Bereichen wie Koordination der Versorgung, der Nachsorge nach stationärer Versorgung oder der Kommunikation über Risiken bei geplanten Eingriffen [Sawicki 2005].

6. Interessenvertretung der Patientinnen und Patienten auf Bundesebene Eine weitere Form der Interessenvertretung von Patienten hat der Gesetzgeber mit der Einführung der Bundesbeauftragten für die Belange der Patientinnen und Patienten (kurz Patientenbeauftragte) geschaffen (SGB V, §§ 140h, 139b, 303b). Diese Position besetzt derzeit Helga Kühn-Mengel. Die Patientenbeauftragte soll zur Umsetzung des Rechts auf umfassende und unabhängige Beratung und objektive Information durch Leistungserbringer, Kostenträger und Behörden im Gesundheitswesen und die Beteiligung bei Aspekten der Sicherstellung der medizinischen Versorgung beitragen. Hierzu gehören Lebensbedingungen und geschlechtsspezifische Bedürfnisse in der medizinischen Versorgung und Forschung. Die Patientenbeauftragte muss an allen die Patientenrechte und -belange berührenden Gesetzen, Verordnungen und Maßnahmen beteiligt werden. Die Patientenbeauftragte darf das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit Arbeiten beauftragen (§ 139b SGB V) und ist Beiratsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Datentransparenz (§ 303b SGB V).

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Evelyn Plamper

7. Patienteninformation und -beratung Unabhängige Patienteninformation ist für den einzelnen Patienten unabdingbar, um im individuellen Arzt-Patienten-Verhältnis partnerschaftlich Behandlungsentscheidungen treffen und mittragen zu können im Sinne von „informed consent“ und „shared decision making“ [Sachverständigenrat 2000, Coulter 2000]. Zum Thema wurden 130 Reviews zwischen 2002 und 2007 in Medline gelistet. Qualitätsgeprüfte Behandlungsinformationen bietet das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin [www.patienten-information.de]. Die Zertifizierung von Patienteninformation entstand in Zusammenarbeit mit Patientenverbänden. Patientenvertreter sind seit 2005 auch am Programm für Nationale Versorgungsleitlinien beteiligt [Bundesärztekammer et al. 2007]. Seit Februar 2006 gibt es unter der Ägide des IQWiG auf der Internetplattform „gesundheitsinformation.de“ Informationen über Behandlungsabläufe und praktische Hinweise. Das „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ hat die Aufgabe, unabhängige, evidenzbasierte und verständliche Informationen über Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung auch für Bürger verständlich aufzubereiten. Die mit fünf Millionen EURO von der gesetzlichen Krankenversicherung geförderte Unabhängige Patientenberatung Deutschland gGmbH (UPD) trägt seit 2007 dem Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums Rechnung, als Modellverbund geeignete Organisationsstrukturen zu schaffen, die nationale und regionale, unabhängige, gegebenenfalls zielgruppenspezifische Angebote der Patientenberatung und Nutzerinformation bieten sowie die Qualitätssicherung der Angebote garantieren. Grundlage ist ein Vertrag der Spitzenverbände der Krankenkassen für ein weiterentwickeltes Modellvorhaben nach § 65b SGB V mit den UPD-Trägerorganisationen Verbraucherzentrale Bundesverband, Sozialverband VdK und Verbund unabhängiger PatientInnenstellen. Auf der kollektiven Patientenebene und für die Mitberatungstätigkeit in G-BA und BQS sind zudem Methodenkenntnisse nötig, um beispielsweise über evidenzbasierte Studienergebnisse und Health Technology Assessment mit beraten zu können. Dazu führen der G-BA und die BQS intern Schulungen für die Patientenvertreter durch. Weitere Institutionen bieten Schulungen an, so beispielsweise die 2006 gegründete Patienten-Universität in Hannover [www. patienten-universitaet.de]. 8. Die Mitwirkung in den Organen der Selbstverwaltung aus der Perspektive der Patientenvertreter Nach einem Jahr Mitarbeit der Patientenvertreter konstatierte deren Koordinator eine strukturelle Unterlegenheit der Patientenvertretung gegenüber den etablierten Apparaten der Kostenträger und Leistungserbringer, die über haupt-

Patientenbeteiligung an Entscheidungen über Versorgungsleistungen

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amtliche Funktionsträger und wissenschaftliche Abteilungen zur Informationsbeschaffung und -aufbereitung verfügen können [Danner/Matzat 2005]. Für Deutschland liegen kaum strukturelle Beschreibungen und viel weniger noch Analysen zur kollektiven Mitwirkung von Patientenvertretern in Organen der Selbstverwaltung vor. Das Institut für Gesundheitsökonomie untersuchte die Strukturen der Beteiligung an Entscheidungen im Gesundheitswesen aus der Perspektive der Patientenvertreter. Ziel der teilstandardisierten, schriftlichen, anonymisierten Befragung war es, einen ersten Überblick über die Einbindung und die Einflussmöglichkeiten der Patientenvertreter auf Entscheidungen des G-BA und der BQS zu erhalten und die Zufriedenheit mit der Beteiligung zu beleuchten. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Items der Befragung. Hauptkriterien der Befragung Einweisung in die Funktion des Patientenvertreters Relevanz und Erreichungsgrad der Ziele der Patientenbeteiligung Verständlichkeit der Informationen und Beratungsunterlagen Allgemeines Arbeitsklima im G-BA und in der BQS Akzeptanz in den Gremien und Ausschüssen Wege und Verfahren der Entscheidungsfindung Zufriedenheit mit der Mitwirkung Ressourcen der Patientenvertreter Unterstützungsmaßnahmen Kommunikation und Vernetzung Verbesserungsvorschläge

197 Patientenvertreter (davon sind schätzungsweise 140 derzeit aktiv im G-BA und in der BQS) erhielten einen schriftlichen Fragebogen. 73 nahmen an der Befragung teil, das sind 37% der benannten Patientenvertreter. 65 der 73 Teilnehmer wirken in Gremien und Ausschüssen des G-BA mit (dies sind fast 48% der derzeit für den G-BA Aktiven), und 21 Teilnehmer beraten in Fachgruppen der BQS mit, das sind 70% der für Mitberatung in der BQS zur Verfügung stehenden Patientenvertreter. Einige Teilnehmer sind sowohl im G-BA als auch in der BQS vertreten. Die Altersgruppe der 35–62-Jährigen war unter den Befragungsteilnehmern mit 71% am stärksten vertreten. 27% waren bis zum

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Evelyn Plamper

Befragungszeitpunkt bis zu 18 Monate und 72% bereits länger als 18 Monate im Amt. Die Mehrzahl der Teilnehmer arbeitete in Unterausschüssen mit. Die Verteilung nach Entsendeorganen spiegelte die oben genannte Entsenderegel wider und ist somit repräsentativ für die Patientenvertretergruppe, siehe Abbildung 1. Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen 5% Verbraucherzentrale Bundesverband 10%

Deutscher Behindertenrat 71%

Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen 14%

Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 1: Verteilung nach Entsendeorganen

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Patientenvertreter im G-BA detailliert betrachtet und die Ergebnisse der BQS-Gruppe jeweils kurz zusammengefasst dargestellt. Eine Gegenüberstellung der G-BA-Patientenvertreter mit der Gruppe, die in der BQS mitwirkt, ist nur bedingt aussagekräftig, da Unterschiede in den Antworten durch die Verschiedenheit der Aufgaben und der Strukturen beider Organisationen bedingt sein können. Weitere Auswertungen sind im Bundesgesundheitsblatt publiziert (Plamper/Meinhardt 2008).

9. Wie Patientenvertreter ihre Einweisung in die Funktion beurteilen Wir wollten wissen, wie die Patientenvertreter die Einführung in die Funktion als Patientenvertreter beurteilten. Im G-BA fühlten sich knapp 20% der Befragungsteilnehmer gut in ihre Aufgaben eingeführt, 80% waren nicht dieser Meinung. Ein Viertel der Teilnehmer hielt die Aufgaben der Gremien- und Ausschussmitglieder für nicht genau definiert und fast ein Drittel fühlte sich nicht von Anfang an gut auf ihre Funktion vorbereitet. Siehe dazu Abbildung 2.

Patientenbeteiligung an Entscheidungen über Versorgungsleistungen

181

100% 90%

24

26

30 80% 70% 60%

46

48

50%

50 40% 30% 20% 10% 0%

22

19 14 5

7

8

ich wurde in meine Aufgaben als Patientenvertreter gut eingeführt

die Aufgaben sind genau definiert

ich fühle mich von Anfang an gut vorbereitet

trifft voll und ganz zu

trifft eher zu

trifft eher nicht zu

trifft überhaupt nicht zu

Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 2: Einweisung der Patientenvertreter – Teilgruppe G-BA

Die Patientenvertreter der BQS schätzten ihre Einführung in 60% als gut ein, ebenso viele hielten die Aufgaben für genau definiert und mehr als die Hälfte fühlte sich von Anfang an gut auf die Funktion vorbereitet. Es scheint also noch Verbesserungsmöglichkeiten bei der Einweisung in die Funktion der Patientenvertreter zu geben, weshalb unter anderem zu prüfen wäre, ob die Verantwortlichkeiten für die Einweisung klar sind, wer für die Einweisung zuständig ist, welche Rolle dabei die Entsendeorgane spielen und wie die Abstimmung und gegenseitige Unterstützung zwischen Entsendeorganen und dem G-BA bzw. der BQS erfolgt. Für die Vorbereitung auf die Funktion als Patientenvertreter ist es wichtig zu wissen, wie die Aufgaben definiert sind, auch wenn klar sein muss, dass die Mitberatungstätigkeit eine hohe Flexibilität von Sitzung zu Sitzung verlangt, da die Vielfalt der Themen entsprechend dem gesundheitspolitischen Auftrag von G-BA und BQS groß ist. Wir fragten weiter nach der Bedeutung der politisch vorgegebenen Ziele der Patientenbeteiligung und dem derzeitigen Zielerreichungsgrad. Mit der kollektiven Patientenbeteiligung will der Gesetzgeber unter anderem Transparenz schaffen, Patientenorientierung stärken, Ergebnisqualität fördern, Aspekte der

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Evelyn Plamper

Lebensqualität integrieren und die Berücksichtigung alters-, geschlechts- und lebenslagenspezifischer Belange von Patienten gewährleisten. Diese Ziele wurden in beiden Gruppen für relevant gehalten, der Zielerreichungsgrad aber durchgehend als noch gering eingeschätzt. Dazu ist anzumerken, dass diese Ziele nur im kontinuierlichen Prozess erreicht werden können, dann aber im Einzelfall auch zu einem hohen Prozentsatz erreicht werden. 10. Wie die Verständlichkeit der Informationen und Beratungsunterlagen bewertet werden Wir wollten wissen, wie verständlich die Beratungsunterlagen für die Sitzungen sind und wie sich die Patientenvertreter in den Informationsfluss und den Informationsstand einbezogen fühlen. 35% der Patientenvertreter im G-BA hielten die Informationen und Beratungsunterlagen für nicht gut verständlich. Mehr als ein Viertel fühlte sich nicht ausreichend in den Informationsfluss einbezogen und mehr als ein Drittel hielt sich für nicht ausreichend informiert, um den Gesprächen folgen zu können. Sechs Patientenvertreter gaben an, sich nicht kompetent genug zu fühlen, um den Gesprächen zu folgen. Die Situation in der BQS: Hier hielten 81% die Informationen und Beratungsunterlagen für gut verständlich, ein Drittel fühlte sich nicht ausreichend in den Informationsfluss einbezogen, 15% fühlten sich nicht ausreichend informiert und ein Patientenvertreter fühlte sich „eher nicht“ kompetent, den Gesprächen zu folgen. Strukturelle und prozessuale Verbesserungen im Informationsfluss sind offenbar notwendig und möglich. Bisher ist nicht abzuschätzen, welcher Kenntnisstand der Patientenvertreter bezüglich wissenschaftlicher Dokumente wie Studien und HTA-Berichte nötig ist und erreicht werden sollte, um die Mitberatung möglichst effektiv zu machen. Mittlerweile werden aber bereits Schulungen zu Fachsprache und Begrifflichkeiten wie evidenzbasierter Medizin sowie zu methodischen Verfahren angeboten. 11. Wie die Akzeptanz in den Gremien und Ausschüssen eingeschätzt wird Die Patientenvertreter wurden danach gefragt, wie sehr sie sich in den Gremien akzeptiert fühlten, welche Darstellungsmöglichkeit der eigenen Sicht sie hätten, ob ihre Meinung als gleichberechtigt galt und ob sie sich ernst genommen oder eher als Störfaktor fühlten. 20% der Befragten im G-BA schätzten ihre Möglichkeit, die eigene Sicht darzustellen als unzureichend ein. Fast die Hälfte meinte, dass ihre Meinung nicht als gleichberechtigt wahrgenommen werde und 37% gaben an, ihre Erfahrungen nicht umfassend einbringen zu können. Dagegen waren drei Viertel der

Patientenbeteiligung an Entscheidungen über Versorgungsleistungen

20

Ich kann meine Sicht darstellen Meine Meinung wird als gleichberechtigt wahrgenommen

9

Ich kann meine Erfahrungen umfassend einbringen Meine Beiträge werden geschätzt

7

33

4

67

16

24

51

34 0%

trifft eher zu

41

51

9

Ich fühle mich ernst genommen

16 4

43

12

Ich werde als störend empfunden 4

trifft voll und ganz zu

61

20%

30

45 40%

trifft eher nicht zu

183

60%

21 80%

100%

trifft überhaupt nicht zu

Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 3: Akzeptanz der Patientenvertreter – Teilgruppe G-BA

Meinung, dass ihre Beiträge von den anderen Ausschuss- und Gremienmitgliedern wertgeschätzt würden und fast 80% fühlten sich ernst genommen. Siehe dazu Abbildung 3. In der BQS schätzte die überwiegende Mehrheit (85%) die Möglichkeit, die eigene Sicht der Versorgungsqualität darstellen zu können als gut ein und 80% hatten den Eindruck, dass ihre Meinung als gleichberechtigt wahrgenommen würde. Ebenso viele konnten ihre Erfahrungen umfassend einbringen und fast alle (91%) gaben an, dass die Ausschussmitglieder ihre Beiträge schätzten. Zwei Teilnehmer meinten, dass sie als störend empfunden würden. Insgesamt zeigt sich, dass sich die überwiegende Zahl der Befragungsteilnehmer ernst genommen fühlt, ein Teil aber eher den Eindruck hat, mit der eigenen Meinung nicht gleichberechtigt da zu stehen. Nicht immer dürften sich die Beiträge der Patientenvertreter in ihrer Vorstellung nach bedürfnisgerechten Ergebnissen nieder schlagen. Befragte man die anderen Ausschuss- und Fachgruppenmitglieder, sähe das Bild möglicherweise ähnlich aus, wenn spezielle Interessen nicht zum Zuge kommen. Es ist eher nicht davon auszugehen, dass dies nur eine patientenspezifische Sicht ist. In demselben Zusammenhang ist die Einschätzung der Transparenz der Entscheidungsprozesse zu sehen.

184

Evelyn Plamper

Nach über zwei Jahren Mitwirkung im G-BA hält mehr als die Hälfte der Befragungsteilnehmer im G-BA (51%) die Entscheidungsfindung für nicht transparent (in der BQS sind es nur 9%). Hier gibt es offenbar Verbesserungsbedarf auch struktureller Art, um die Ergebnisse der Ausschüsse und den Weg bis zu den Entscheidungen in den Gremien nachvollziehbar zu machen, zumal zu den erklärten gesundheitspolitischen Zielen der Patientenbeteiligung mehr Transparenz der Entscheidungswege und -ergebnisse gehört. Die Zufriedenheit mit den Entscheidungen im eigenen Ausschuss kann durchaus hoch sein, während die Übereinstimmung mit den Entscheidungen der Beschlussgremien davon abweichen kann.

12. Wie groß die Zufriedenheit mit der Mitwirkung ist Wir fragten sowohl nach der Beurteilung der Möglichkeiten der Mitwirkung als auch nach der tatsächlich erlebten Mitwirkung und der Einschätzung des Einflusses auf Entscheidungen. Im G-BA wurden die Mitwirkungsmöglichkeiten von mehr als der Hälfte als gut, jedoch der tatsächliche Einfluss auf Entscheidungen überwiegend als gering eingeschätzt. Ein Viertel der Befragten gab an, Entscheidungen wesentlich mit beeinflussen zu können. Mehr als ein Drittel war mit den Entscheidungen des eigenen Gremiums oder Ausschusses im Allgemeinen nicht zufrieden. Siehe dazu Abbildung 4. Es ist davon auszugehen, dass sich sowohl die Einflussmöglichkeiten als auch die Ergebnisse der Mitberatung in der Zufriedenheit mit der Mitwirkung widerspiegeln. Dass 42% die Mitwirkungsmöglichkeiten nicht für gut halten, sollte zur vertieften Diskussion anregen, in welcher Form Patientenvertreter die Möglichkeiten der Mitwirkung für gut halten. Damit steht die Zufriedenheit mit den Entscheidungen im engen Zusammenhang. Mehr als ein Drittel ist im Allgemeinen mit den Entscheidungen des eigenen Gremiums oder Ausschusses nicht zufrieden, tragen aber die Entscheidungen überwiegend mit. Positiv ausgedrückt sind aber zwei Drittel mit den Entscheidungen zufrieden, was angesichts der Einschätzung geringer Einbindung in die Mitwirkung erstaunt. Wieweit die Zufriedenheit über die Entscheidungen die Zufriedenheit mit der Mitwirkung insgesamt beeinflusst, wäre näher zu untersuchen. Die Mehrheit der Patientenvertreter ist mit der tatsächlichen Mitwirkung insgesamt eher nicht zufrieden. Hier stellt sich die Frage, welche Ziele die Patientenvertreter für sich sehen, ob und welche gemeinsamen Ziele Patientenvertreter und Vertreter der Selbstverwaltung haben. Die allgemeine Zufriedenheit kann ein Ausdruck dafür sein, welcher Grad der Verminderung der Asymmetrie zwischen den Vertretern der Selbstverwaltung und Patientenvertretern bereits erreicht wurde. Ist eine Augenhöhe überhaupt zu erreichen? Wichtiger könnte jedoch die Akzeptanz trotz Asymmetrie sein. Wichtig ist zudem der Zusammenhang

Patientenbeteiligung an Entscheidungen über Versorgungsleistungen

Entscheidungen trage ich im allgemeinen mit

16

Mit den Entscheidungen im allgemeinen zufrieden

24

75

4

Möglichkeiten der Mitwirkung sind gut

49

40

7

2

35

61

2

Mitwirkung beeinflusst Entscheidungen wesentlich

3

60

25

Mit Möglichkeiten insgesamt zufrieden

38

48

10

Mit Mitwirkung insgesamt zufrieden

185

57

35

2

4

4

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% trifft voll und ganz zu

trifft eher zu

trifft eher nicht zu

trifft überhaupt nicht zu

Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 4: Zufriedenheit der Patientenvertreter – Teilgruppe G-BA

zwischen dem als eher gering erlebten Einfluss und den Strukturen. In den Ausschüssen und themenbezogenen Arbeitsgruppen auf Zeit werden Beschlussempfehlungen vorbereitet, die in einem mehrstufigen Beratungsprozess zur Beschlussreife gebracht werden. Wie es von der Empfehlung dann im Einzelfall zu davon abweichenden Beschlüssen kommt, ist für die Patientenvertreter nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Zu prüfen wäre, ob es unterschiedliche Interpretationen des Arbeitsauftrags gibt, die sich möglicherweise aus den unterschiedlichen Erwartungen der vertretenen Organisationen ergeben.

13. Ressourcen und Verbesserungsvorschläge Viel diskutiert wird derzeit, in welcher Form und Ausprägung die strukturellen und finanziellen Ressourcen der Patientenvertreter bestellt sein sollten. Weniger als die Hälfte der Befragungsteilnehmer (G-BA und BQS) hielten die Anzahl der Patientenvertreter und die finanziellen Ressourcen für ausreichend. Mehr Fortbildungen wurden gefordert, hierbei waren dies in der Rangfolge des Interesses Fortbildungen zu methodischen Verfahren, zur Struktur des

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Gesundheitswesens, zu Diagnostik und Therapie und zu Krankheitsbildern. Eher nachrangig war der Bedarf an Förderung der rhetorischen Kompetenz. Die Fortbildungen sollten jedoch regelmäßig angeboten werden. Die Mehrheit wünschte sich zudem Stimmrecht (dies hielten 73% für wichtig). Kommunikation und Vernetzung wurde von der überwiegenden Mehrheit als wichtig, bisher aber nur teilweise als ausreichend erachtet. Dies betraf besonders die Kommunikation und Vernetzung zwischen Patientenvertretern und Verbänden, aber auch zwischen Patientenvertretern und dem Bundesgesundheitsministerium oder Vertretern der Selbstverwaltung. Diese Einschätzung ist möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass es in Deutschland keinen Dachverband der Patientenvertreter gibt. Demzufolge müssen aber auch die Kontakte zu den Kooperationspartnern im Gesundheitswesen unterschiedlich sein. Überlegungen zu einem gemeinsamen Dachverband werden blockiert durch die Sorge um Autonomieverlust der einzelnen Patientenorganisationen. Die Beurteilung der strukturellen Ressourcen wie Anzahl der Patientenvertreter und finanzielle Ausstattung sowie des Angebotes an Fortbildungen und Schulungen ist eng verbunden mit dem Aspekt der Professionalisierung der Patientenvertreter und dem wachsenden Anspruch an Kompetenz in der Mitberatung. Wie viel Professionalisierung nötig ist, um Mitberatung effektiv zu machen und um die Zusammenarbeit zu entlasten (unzureichend informierte Ausschussmitglieder – dies betrifft nicht nur Patientenvertreter – verlangsamen möglicherweise das Beratungstempo), ist bisher ebenso wenig untersucht worden wie der Einfluss auf die Zufriedenheit mit der Mitwirkung. Der wachsende Anspruch an die Themen- und Methodenkompetenz erfordert regelmäßige Fortbildungen und Schulungen. Zum Methodentraining gibt es im G-BA mittlerweile ein Schulungskonzept. Für diese Schulungen müssten auch die Stakeholder gewonnen werden, wie die Spitzenverbände der Kassen, die in einzelnen Themengebieten wie beispielsweise der Festbetragsgruppierung ein Wissensmonopol haben. Zum Stimmrecht gibt es unterschiedliche Ansichten. Einzelne Patientenvertreter halten Stimmrecht bei strittigen Themen sogar für ungünstig (Englert 2005). Auch im Gesetzesentwurf zur Änderung des VändG wird festgehalten, dass zum Umfang des Mitberatungsrechts unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten werden. Künftig soll die Anwesenheit bei der Beschlussfassung Bestandteil der Mitberatungsbefugnis sein. Die Patientenvertreter sollen zudem künftig außer Reisekostenerstattung eine Aufwandspauschale erhalten. Abschließend ist festzuhalten, dass die Etablierung der Patienten-Mitberatung ein kontinuierlicher Prozess ist und demzufolge erst weitere Analysen im Längsschnitt und Analysen zu den stimmberechtigten Gruppen in der Selbstverwaltung diesen Prozess beleuchten können. Bisher gibt es keine Darstellung der Sicht von außen auf Patientenvertreter, beispielsweise zu der Frage, wie die

Patientenbeteiligung an Entscheidungen über Versorgungsleistungen

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Fachleute und anderen Bänke die gemeinsamen Beratungen erleben und ob sie Patientenvertreter in der Mitberatung als Gewinn oder als Störfaktor betrachten. Jährliche Mitgliederbefragungen in den Ausschüssen und Gremien könnten zum Erkenntnisgewinn beitragen und zur kontinuierlichen Organisationsverbesserung in der Gremien- und Ausschussarbeit genutzt werden. Die kollektive Patientenbeteiligung trägt wesentlich zur Legitimation der Entscheidungen über das Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenversicherung bei. Die Sicht der Betroffenen wird ebenso bei der Interpretation der Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit des Leistungsangebotes berücksichtigt wie bei der Definition der Anforderungen an die Versorgungsqualität. Die kollektive Patientenbeteiligung ist gerade in dem Spannungsfeld solidarischer und individueller Interessen aber auch in dem Diskurs um die Priorisierung von Leistungen und Wettbewerbsfähigkeit unabdingbar.

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Soziale Ungleichheiten und sportliche Betätigung 50–70-Jähriger Sportaktivität in Deutschland im 10-Jahres-Vergleich Simone Becker

1. Vorbemerkungen Die westlichen Gesellschaften altern in einem in der Geschichte einmaligen Ausmaß. Verantwortlich gemacht für die Alterung der Gesellschaft werden der Rückgang der Relevanz von Seuchen, Hunger und Krieg sowie die abnehmende Geburtenhäufigkeit und eine zunehmende Langlebigkeit. Insgesamt hat sich die Lebenserwartung im Laufe des letzten Jahrhunderts annährend verdoppelt (Opaschowski 1998, S. 12). Hochrechnungen zufolge wird sich dieser Trend noch fortsetzen und der Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen wird im Jahr 2030 zwischen 35–40% liegen. Dies entspricht annährend einer Verfünffachung des Anteils der über 60-Jährigen seit Beginn des letzten Jahrhunderts – im Jahr 1900 lag der Anteil der über 60-Jährigen bei 8% (Backes 1998, S. 24). Für Personen im höheren Erwachsenenalter hat sich infolge dieser und anderer demographischer Veränderungen eine vollkommen neue historisch einmalige Situation ergeben. Der Ruhestand wird inzwischen von fast allen Menschen erreicht und kann somit als eine eigenständige Lebensphase, in welcher sich bereits fast ein Drittel der deutschen Gesamtbevölkerung befinden, bezeichnet werden (Borscheid 1996, S. 29; Backes 1998, S. 25). Diese Entwicklung wird in der Sozialforschung auch als „Wandel von der unsicheren zur sicher(er)en Lebenszeit“ verstanden (Opaschowski 1998, S. 12). Auch die Lebensqualität eines Großteils der älteren Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Die Meisten der Personen zwischen 50 und 70 Jahren haben ein zufriedenstellendes Einkommen und Vermögen, eine höhere Bildung, eine bessere Gesundheit und können unabhängig am Freizeitund Konsumsektor teilhaben (Baur et al. 1996, S. 30). Angesichts der gestiegenen Lebenserwartung wird jedoch gelegentlich die Befürchtung geäußert, dass die gewonnenen Jahre zu einem großen Teil in Krankheit und Pflegebedürftigkeit verbracht werden. In diesem Zusammenhang und im Zusammenhang mit der Zunahme des Anteils älterer Menschen an der

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Gesamtbevölkerung wächst auch die Bedeutung des Sports speziell für Personen im höheren Alter (Baur et al. 1996, S. 47; Opaschowski 1998, S. 12). Denn gerade ab dem mittleren Erwachsenenalter kann eine Zunahme von (medizinischen) Risikofaktoren (z. B. Bluthochdruck) und Erkrankungen festgestellt werden (Eichberg 2003, S. 69). Das Auftreten einzelner Risikofaktoren hat meist noch keine gravierende Auswirkung auf den Gesundheitszustand. Aber die Kumulation mehrer Risikofaktoren erhöht die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Eichberg 2003, S. 69). Und gerade koronare Herzerkrankungen gehören zu den durch den Lebensstil beeinflussbaren Krankheiten und zu der bedeutendsten Gruppe der vermeidbaren Todesursachen (Hermey 2004, S. 11). Zudem gilt sportliche Aktivität als die wissenschaftlich am besten dokumentierte Strategie zur Prävention so genannter Zivilisationskrankheiten (wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Altersdiabetes) und orthopädischer Erkrankungen. Es kann als belegt angesehen werden, dass Sportaktivität altersbedingte Rückbildungsprozesse verzögert, und dadurch zur Aufrechterhaltung der Mobilität beiträgt und das subjektive Wohlbefinden erhöht (Bässler 1992, S. 24; Baur et al. 1996, S. 32; Hermey 2004, S. 32). Durch diese präventive Wirkungsweise kommt dem Sport, als Präventionsstrategie auch in Zusammenhang mit den Bemühungen um Senkung der gesellschaftlichen Gesundheitskosten, eine besondere Bedeutung zu (Knoll 1997, S.13; Eichberg 2003, S. 69; Bässler 1989, S. 24; Lüschen/Abu-Omar/Knesbeck 2001; Opper 1998; Sallis et al. 1989; Winkler 1998; Balz 1992, S. 261; Hoffmeister/Hüttner/Stolzenberg/Lopez/Winkler, S. 61; Darlison 2000, S. 963). Gesundheitsökonomische Analysen belegen, dass die kostenreduzierenden Wirkungen sportlicher Betätigung die durch Sport entstehenden Krankheitskosten weit übersteigen (Weiß/Hilscher 2003). Ziel der vorliegenden Studie ist es, vor dem Hintergrund des vielfach belegten und bereits erläuterten gesundheitlichen Nutzens der sportlichen Aktivität, zum einen die Entwicklung der sportlichen Betätigung über den Lebensverlauf darzustellen. Zum anderen wird die Veränderung der Verbreitung des Freizeitsports in der Gruppe der 50–70-Jährigen für verschiedene Bevölkerungsgruppen über einen 10-Jahreszeitraum untersucht. Im Rahmen einer bi- und multivariaten Analyse werden in einem letzten Schritt dann soziostrukturelle und andere Einflussfaktoren in der Gruppe der 50–70-Jährigen ermittelt.

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2. Theoretische Überlegungen und aktueller Forschungsstand 2.1 Entwicklung der sportlichen Aktivität im Lebensverlauf

Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass sich mit zunehmendem Alter der Gesundheitszustand sowie die Fitness und die Leistungsfähigkeit verschlechtern und es, bedingt durch diesen schlechteren Gesundheits- und Fitnesszustand, mit zunehmendem Alter zu einer Verringerung des Anteils der sportlich aktiven Personen kommt (Eichberg 2003). Bisherige Studien zeigen, dass gerade Menschen im mittleren und höheren Lebensalter vergleichsweise wenig sportlich aktiv sind (Becker/Schneider 2005; Boutelle et al. 2000; Lamprecht/Stamm 1998; Mensink et al. 1997; Schneider/Becker 2005a; Sternfeld et al. 1999; Rütten et al. 2005). Lamprecht und Stamm (1995) konnten in ihrer Untersuchung beispielsweise keine Effekte der klassischen sozialen Ungleichheitskategorien des Geschlechts und der allgemeinen Wohn-, Lebens- und Arbeitssituation nachweisen. Lediglich zwischen der sportlichen Aktivität und dem Alter fanden die Autoren einen hochsignifikanten negativen Zusammenhang (Lamprecht/Stamm 1995, S. 271 f.). Aber nicht alle Untersuchung berichten einen negativen Alterseffekt: Lindstrøm et al. (2001) konnten in ihrer Studie an der untersuchten Population der 45- bis 64-Jährigen einen positiven Alterseffekt für Männer nachweisen. Eine mögliche Erklärung für diesen Befund könnte hier sein, dass Männer im Rentenalter nach einer Betätigung suchen um die zusätzliche Freizeit, die ihnen durch den Austritt aus dem Arbeitsleben zur Verfügung steht, auszufüllen. Auch in ersten Analysen der Sportbetätigung mit den Daten des telefonischen Bundes-Gesundheitssurveys von 2003 konnte der in früheren Studien berichtete negative Zusammenhang zwischen Alter und sportlicher Betätigung bestätigt werden. Die regelmäßige Sportbetätigung bei Männern und Frauen ist in der jüngsten Altersgruppe (18–29 Jahre) am höchsten. Aufgrund der Kategorisierung des Alters konnte in dieser Studie jedoch ein nicht-linearer Verlauf der Abnahme der Sportbetätigung berichtet werden. Gemäß diesen Querschnittsbefunden von Rütten et al. (2005) sinkt die Sportbetätigung im Alter zwischen 30 und 59 Jahren, sowohl bei Männern als auch bei Frauen, deutlich ab und steigt dann im Alter von 60–69 Jahren nochmals an, um anschließend wieder steil abzufallen (Rütten et al. 2005). Breuer konnte in seinen auf dem Vergleich mehrerer Querschnitte mit den SOEP-Daten von 1985–1999 zeigen, dass sich die Geschlechtsunterschiede im Lebensverlauf ändern. Im Jahr 1999 zeigten sich lediglich bis ca. Mitte 30 noch bedeutsame Geschlechtsunterschiede in der Sportbetätigung (Breuer 2002, S. 77). Diese Tatsache, dass der Einfluss des Geschlechts in Abhängigkeit vom Alter variieren kann, wurde bisher jedoch in den meisten veröffentlichten Studien nicht berücksichtigt (Rulofs et al. 2002, S. 40). Bisher existieren kaum

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Längsschnittstudien zum Zusammenhang zwischen Sport und Gesundheit (vgl. Breuer 2005; Becker/Klein 2006). 2.2 Entwicklung der sportlichen Aktivität im Zeitverlauf

Bezüglich der Entwicklung der Sportaktivität über die Zeit ist auch zu berücksichtigen, dass sportliche Aktivität, unabhängig von Alters- und Kohortenzugehörigkeit, gesellschaftlichen Trends unterliegt. Von einer allgemeinen Erhöhung des Anteils der Sportaktiven (Periodeneffekt) in der Bevölkerung gehen die Vertreter des „Sport als Kultur“-Ansatzes aus. Sie beschreiben die Entwicklung des Sports in den letzten Jahrzehnten als eine Entwicklung des Sports zur Kultur (z. B. Grupe 1987; Hitzler 1991; Kaschuba 1989). Allerdings gibt es keine einheitliche Definition für den Ausdruck „Sport als Kultur“. Gemeinsam ist den Autoren lediglich, dass sie einen Bedeutungsgewinn des Sports in qualitativer und/oder quantitativer Hinsicht beschreiben. Gemäß Kaschuba hat sich der Sport aufgrund seiner Verbreitung inzwischen zur Kultur entwickelt und Fitness hat, gemäß seiner Beschreibung, heute den Charakter einer staatsbürgerlichen Pflicht (Kaschuba 1989, S. 163) und wird als „Norm und Maßstab sinnvoller Alltags- und Lebensgestaltung gesehen“ (Kaschuba 1989, S. 157). Dieser Bedeutungszuwachs des Sports schlägt sich auch in dem universellen Einsatz des Sports zur Bewältigung von gesellschaftlichen und gesundheitlichen Problemen aller Art (z. B. Erlebnispädagogik zur Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen, Sporttherapie zur Behandlung verschiedenster Krankheiten) nieder (Blech 2006, S. 134 ff.). Dieser universelle Einsatz des Sports geht mit einer erweiterten Zielgruppenansprache durch spezielle Sportangebote einher. Beispielsweise findet durch Angebote unterschiedlicher Gesundheitsakteure eine zunehmende Aktivierung älterer Menschen zum Sport statt (Blech 2006: 134 ff.; Frogner 1991, S. 3 ff.). Insgesamt konnte in mehreren Studien belegt werden, dass ein Wandel des Sportverständnisses, von einem leistungsorientierten Sport zu einem freizeitorientierten Sport, zu einer Zunahme des Anteils der Sportler im mittleren und höheren Erwachsenenalter beigetragen hat (Cachay/ Thiel 2000; Denk/Pache 1996; Breuer 2002). In der Untersuchung von Breuer (2002) konnte ein besonders starker Zuwachs über den untersuchten Zeitraum in den Altersgruppen der 45–54-Jährigen, der 55–64-Jährigen und der über 65Jährigen verzeichnet werden (Breuer 2002, S. 76 f.). Breuer schließt daraus, dass die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen (u. a. Auflösung des Altersstereotyps) vor allem zu einer Veränderung des Sportengagements der Personen im mittleren und höheren Erwachsenenalter geführt haben (Breuer 2002, S. 76). Auch in einer an dänischen Rentnern durchgeführten Studie konnten für Radfahren, Gartenarbeit sowie für die körperliche Betätigung eine deutliche Zunahme über die Zeit festgestellt werden (Bijnen et al. 1998).

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2.3 Einflussfaktoren sportlicher Aktivität

Entgegen des vorhandenen Wissens um die positiven Wirkungen moderater körperlicher und sportlicher Aktivität, zeigen vorliegende prospektive Querschnittstudien mit repräsentativen Stichproben deutliche Alters-, Geschlechtsund Sozialgradienten im Aktivitätsstatus der deutschen Bevölkerung. Insbesondere Frauen (vgl. z. B. Lüschen et al. 2001; Opper 1998; Becker/Schneider 2005; Lamprecht 1998), ältere Personen (vgl. z. B. Schneider/Becker 2005; Sternfeld 1999; Boutelle 2000), Personen mit niedrigem Bildungsabschluss (z. B. Becker/Schneider 2005; Schneider/Becker 2005; Crespo 1999; Sternfeld 1999) sowie Personen aus den Neuen Bundesländern (z. B. Becker/Schneider 2005; Mensink 2002) sind vorliegenden Untersuchungen zufolge überproportional häufig inaktiv. Im Folgenden soll der Forschungsstand zu einigen, in der späteren multivariaten Analyse berücksichtigten, potentiellen Einflussfaktoren sportlicher Aktivität skizziert werden. 2.3.1 Bildung als vertikal strukturierender Einflussfaktor Ein, auch in den meisten vorhandenen Untersuchungen berücksichtiger, vertikal strukturierender Einflussfaktor ist die Bildung. In einer Literaturübersicht von Schneider und Becker (2005) überwiegen die Studien, die eine positive Beziehung zwischen Bildung und sportlicher Aktivität berichten. Lediglich in drei von 18 recherchierten Studien (vgl. Burrmann/Baur/Krysmanski 2002; Kolland 1992; Lamprecht/Stamm 1995) konnte kein Zusammenhang zwischen Bildung und sportlicher Aktivität berichtet werden. Lamprecht et al. (1991) erklären den positiven Zusammenhang zwischen höherer Bildung und der Sportbetätigung damit, dass höhere Bildung mit einem längeren Schulbesuch einhergeht. Aufgrund dieses längeren Verbleibens im Schulsport wird ein positiver Zusammenhang zwischen sportlicher Betätigung und hohem Bildungsniveau vermutet (Lamprecht/Ruschetti/Stamm 1991, S. 32 f.). Andere Autoren greifen zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Sport und Bildung auf Sozialisationsansätze zurück. Um Sport treiben zu können bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten und Dispositionen erforderlich. Er sieht die Sozialisation als Voraussetzung für die Fähigkeit überhaupt Sport treiben zu können. Vermittelt über die Sozialisation, ist in verschiedenen Bildungsgruppen die Fähigkeit und Bereitschaft zur Sportausübung unterschiedlich stark ausgeprägt (Heinemann 1974, S. 55; Klein 1991, S. 17). 2.3.2 Horizontal strukturierende Einflussfaktoren In fast allen recherchierten Studien (vgl. Abele/Brehm 1990; Bässler 1990; Erlinghagen 2003; Kolland 1992; Lindström et al. 2001; Sternfeld et al. 1999)

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konnte entsprechend dieser Annahme eine positive Beziehung zwischen dem Gesundheitszustand und der sportlichen Betätigung berichtet werden. Die Abnahme der Sportbeteiligung mit zunehmendem Alter wird dabei mit der abnehmenden körperlichen Leistungsfähigkeit und dem schlechteren Gesundheitszustand (z. B. Lamprecht, 1991) sowie mit dem vorherrschenden Altersstereotyp, wonach das Alter eher mit Ruhe und Passivität gleichgesetzt wird, begründet (z. B. Emrich, 1985). Wie bereits zuvor dargestellt, wurde die theoretisch abgeleitete Annahme des negativen Zusammenhangs zwischen Sport und Alter in einem Großteil der vorliegenden Studien bestätigt (vgl. Abschnitt 2.1). Wie das Alter hat auch das Geschlecht neben der biologischen Komponente eine soziale Komponente und stellt somit ein soziales Konstrukt dar, das einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Sportbetätigung hat (Rulofs et al. 2002, S. 39 ff.). Unterschiede in der Sportaktivität werden aus sozialisationstheoretischer Sicht damit begründet, dass der traditionelle Sport in unserer Gesellschaft eher dem männlichem Geschlechtsrollenstereotyp entspricht (Heinemann 1998, S. 218; Darlison 2000, S. 957). Aufgrund dieser Nicht-Übereinstimmung des Sports mit dem „Werte- und Normensystem“ vieler Frauen, scheint sportliche Betätigung für diese weniger attraktiv zu sein (Weiß 1999, S. 78 f.). Auch die Existenz von mehr typischen „Männersportarten“ als speziellen „Frauensportarten“ und mehr männlichen als weiblichen Sportidolen (Weiß 1999, S. 105), erschwert für Mädchen und Frauen die Identifikation mit der Sportlerrolle (Klein 1982, S. 55). Im Anschluss an Bourdieu kann man hier auch von einem geschlechtsspezifischen Habitus sprechen, da die mit dem Sport in Verbindung gebrachten Merkmale (z. B. Besiegen, Aggression, Kampf) eher untypisch für Frauen sind und somit nicht ihrem sozialen Habitus entsprechen (Heinemann 1998, S. 213). Der zentrale Zusammenhang zwischen Geschlecht und Sportaktivität wurde ebenfalls in fast allen vorliegenden Studien zur Sportaktivität berichtet. Im Rahmen einer an anderer Stelle veröffentlichten Literaturrecherche (vgl. Schneider/ Becker 2005), konnte lediglich eine Studie von Voigt (1992) ausfindig gemacht werden, gemäß derer Frauen mehr Sport treiben als Männer. Da diese Untersuchung von Voigt (1992) sich jedoch nur auf die Teilnahme am Betriebssport und somit auch nur auf erwerbstätige Frauen bezieht, ist dieser Befund unter Umständen auf die spezielle Population (erwerbstätige Frauen) und die spezielle Art der sportlichen Betätigung (Betriebssport) zurückzuführen. In weiteren fünf Untersuchungen (Lamprecht/Stamm 1996, Lamprecht/Stamm 1995; Kolland 1992, Linström et al. 2001; Burrmann et al. 2002) ließ sich kein Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der sportlichen Aktivität nachweisen. Der Großteil der im Rahmen der Literaturübersicht recherchierten Untersuchungen (16 Studien) belegen jedoch den, gemäß der geschlechtsspezifischen Sozialisation angenommenen, negativen Zusammenhang zwischen der weiblichen Geschlechtszugehörigkeit und der Sportbetätigung.

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Auch die Wohnregion, hier die Neuen und die Alten Bundesländer, hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Sportbetätigung. Gemäß der Annahme der gesellschaftsspezifischen Sozialisation geht man davon aus, dass mit dem Erlernen der Sportaktivitäten im gesellschaftlichen Kontext die in der jeweiligen Sportkultur vorherrschenden Wertorientierungen erlernt und internalisiert werden (Becker, 1982). Folglich darf angenommen werden, dass im Kontext unterschiedlicher gesellschaftlicher Bedingungen differentielle Sportaktivitäten entwickelt werden. Da in der ehemaligen DDR vor allem der Spitzensport gefördert wurde und der Breitensport vergleichsweise weniger Beachtung fand (Winkler, 1998), ist zu vermuten, dass der Breitensport in den alten Bundesländern weiter verbreitet und fester etabliert war und immer noch ist. Gestützt wird diese Annahme durch vorliegende empirische Befunde (Becker/Schneider 2005; Mensink 2002; Schneider/Becker 2005; Winkler 1998). 2.3.3 Lebensstilstrukturierende Einflussfaktoren Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Familienstand und sportlicher Betätigung zeigte sich, dass Verheiratete tendenziell weniger Sport treiben als Unverheiratete (Bässler 1990; Boutelle et al. 2000; Sternfeld et al. 1999; Winkler 1995), obwohl auch hier zwei Studien zu vermerken sind, die genau den gegenteiligen Zusammenhang berichten (vgl. Mensink et al. 1997; Ransdell/Wells 1998). Wie bereits zuvor, in Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Sport und Alter, erwähnt konnte in fast allen recherchierten Studien1 (vgl. Abele/Brehm 1990; Bässler 1990; Erlinghagen 2003; Kolland 1992; Lindström et al. 2001; Sternfeld et al. 1999) eine positive Beziehung zwischen dem Gesundheitszustand und der sportlichen Betätigung berichtet werden. Lediglich in einer Studie von Lindström et al. (2001) konnte für Männer kein Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand und der Sportaktivität nachgewiesen werden (vgl. Lindström et al. 2001). Befunde zum Zusammenhang zwischen Sport und Gesundheit sind jedoch aufgrund der ungeklärten Kausalbeziehung zwischen diesen beiden Variablen mit Vorsicht zu interpretieren. Denn sowohl Sport als auch Gesundheit sind sehr komplexe Konstrukte und beide sind empirisch nicht ohne Probleme zu erfassen (Lüschen et al. 1993, S. 175). Gemäß Rütten (1993) ist der Zusammenhang zwischen Sport und Gesundheit nicht als einfache Kausalbeziehung zu beschreiben, die Beziehung lässt sich passender als durch komplexe Wechselwirkungen verursacht charakterisieren (Rütten 1993, S. 350). Geht man jedoch von einer wechselseitigen Beeinflussung von Sport und Gesundheit aus, kann die Kausalfrage erst abschließend beantwortet werden wenn 1 Ein Überblick über vorhandene Studien ist bereits an anderer Stelle veröffentlicht (vgl. Schneider/Becker 2005).

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der Gesundheitszustand zeitlich vor der sportlichen Aktivität gemessen wird (Eid/Schwenkmezger 1994, S. 167 f.). 2.3.4 Daten und Methoden Sozialwissenschaftliche und epidemiologische Datenquellen, welche das Ausmaß der Sportbetätigung über einen längeren Zeitraum wiederholt ermitteln, existieren hierzulande kaum. Die Gesundheitssurveys sind für die vorliegende Fragestellung aufgrund mehrjähriger Erhebungsabstände, unterschiedlicher Studiendesigns und wechselnder Befragungsthemen ebenso ungeeignet wie die existierenden regionalen Sportstudien. Aus diesem Grund wurde in der vorliegenden Arbeit auf das vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) seit nunmehr 22 Jahren2 jährlich durchgeführte sozio-ökonomische Panel (SOEP) zurückgegriffen. Die Grundlage des sozio-ökonomischen Panels bildet eine Haushaltsstichprobe, d.h. die Haushalte und nicht die Personen wurden nach einem Zufallsverfahren ermittelt. Alle Mitglieder der ausgewählten Haushalte ab 16 Jahren werden persönlich befragt3 und nehmen auch dann weiterhin an der Untersuchung teil wenn sie alleine oder mit dem ganzen Haushalt innerhalb der BRD (bzw. vor 1990 innerhalb von Westdeutschland incl. West-Berlin) umziehen (vgl. Stauder 2005, S. 398 f., Hanefeld 1987, Wagner/Schupp/Rendtel 1994). Insgesamt wurden bis zum Erhebungsjahr 2003 über 12.000 Haushalte und annährend 24.000 Individuen erfasst (Stauder 2005, S. 398). Dauerhafte soziale und ökonomische Themenschwerpunkte im SOEP stellen Informationen zu Demographie, Erwerbstätigkeit, Einkommen, Steuern, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Produktivität privater Haushalte, Einstellungen sowie gesellschaftliche Einbindung und Teilhabe dar (Wagner/Schupp/Rendtel 1994, S. 72; Stauder 2005, S. 398). Mit Ausnahme der ersten Erhebungswelle4 (1984) des SOEP wurde die sportliche Aktivität in den anderen Jahren, in welchen Informationen zur Sportaktivität erfasst wurden, mit einer 4er- oder 5er-Skala erhoben – für den hier analysierten 10-Jahres-Zeitraum (1992–2001) in den Erhebungswellen 1992, 1994, 2 Das SOEP startete 1984 mit über 12.000, in den damaligen Grenzen der Bundesrepublik, repräsentativ ausgewählten Personen ab 16 Jahren. Nach dem Mauerfall erfolgte dann im Jahr 1990 die Ausdehnung der Befragung auf die Neuen Bundesländer (Stauder 2005). 3 1998 wurde die Methode der Befragung komplett von PAPI („paper and pencil Interviewing“ – die Antworten werden vom Interviewer in einen Fragebogen eingetragen) auf CAPI („computer-aided personal interviews“ – die Antworten werden vom Interviewer direkt in den Computer eingegeben) umgestellt. 4 1984 standen die Antwortkategorien „nie“, „sehr selten“, „gelegentlich“ und „häufig“ regelmäßig zur Verfügung.

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1996, 1997, 1998 und 2001 mittels der jeweils identischen Frage nach der Häufigkeit der aktiven Sportausübung und den Antwortkategorien „jede Woche“, „jeden Monat“, „seltener“ und „nie“, im Rahmen der Erfassung anderer Freizeitaktivitäten5. Wie bereits von Christoph Breuer (2004) berichtet, lassen sich in den SOEPDaten zur Sportaktivität deutliche Unterschiede im Antwortverhalten in Abhängigkeit von der verwendeten Antwortskala feststellen. Es zeigte sich, dass in den Jahren in denen die Sportbetätigung mit einer 5er Skala erfragt wurde, die Anteile der regelmäßig sportlich aktiven Personen am höchsten sind (Breuer 2004). Diese Variationen der Sporthäufigkeit in Abhängigkeit von Frageform und Antwortskala lassen die Vermutung zu, dass hier soziale Erwünschtheitseffekte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Aufgrund dieser mangelnden Vergleichbarkeit der beiden Skalen wurde auf die Berücksichtigung der mit der 5er-Skala erhobenen Daten in den durchgeführten Zeitverlaufsanalysen verzichtet. Die Auswahl des Zeitfensters 1992– 20016 ist begründet mit der Motivation die Entwicklung der Sportaktivität im Osten und im Westen Deutschlands miteinander zu vergleichen. Im Jahr 1992 wurde die Sportaktivität erstmals für beide Landesteile mit einer einheitlichen Skala7 erfragt. In einem ersten Analyseschritt erfolgt die geschlechtsspezifische graphische Darstellung der Entwicklung der sportlichen Aktivität im Lebensverlauf. In dieser längsschnittlichen Darstellung werden nur Personen berücksichtigt die in allen relevanten Wellen teilgenommen und die Frage nach der sportlichen Betätigung beantwortet haben8. Anschließend erfolgt die Darstellung der Entwicklung der sportlichen Aktivität im interessierenden 10-Jahreszeitraum für verschiedene Bevölkerungsgruppen innerhalb der interessierenden Population der 50–70-Jährigen. In einem letzten Analyseschritt werden dann anhand der SOEP-Daten von 20039 mögliche Korrelate sportlicher Betätigung innerhalb der Gruppe der 50–70-Jährigen bi- und multivariat untersucht. 5 In den Jahren 1990, 1995, 1999 und 2003 wurde die Sportbetätigung im gleichen Kontext mit einer differenzierteren 5er-Skala („täglich“, „jede Woche“, „jeden Monat“, „seltener“ und „nie“) erfasst. 6 In den Zeitverlaufsanalysen wurden die Angaben zur Sportaktivität aus den Jahren 1992, 1994, 1996, 1997, 1998 und 2001 aufgenommen. 7 Im Jahr 1990 wurde die Sportaktivität in den Neuen Bundesländern mit der 4erSkala und in den Alten Bundesländern mit der 5er Skala erfasst. 8 Da die Grafik der Entwicklung der Sportaktivität im Lebensverlauf nur einleitend zur Demonstration dient erfolgte hier keine Beschränkung auf 50–70-jährige Befragte. Auch wurde um eine möglichst große Lebensspanne der Personen zu erfassen die Auswertung auf westdeutsche Personen, die in dem 15-Jahreszeitraum von 1986–2001 regelmäßig die Frage nach der Sportaktivität beantwortet haben, beschränkt. 9 Die Daten aus dem Jahr 2003 wurden mit der 5er-Skala („täglich“, „jede Woche“, „jeden Monat“, „seltener“ und „nie“) erhoben.

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Bei dieser Querschnittsbetrachtung mit den Daten von 2003 fließen nach Ausschluss unvollständiger Datensätze insgesamt Angaben von 2.503 in Deutschland lebender Personen deutscher und ausländischer Staatsangehörigkeit im Alter von 50 bis 70 Jahren in die nachfolgenden Analysen ein. Personen die mindestens einmal pro Woche Sport treiben werden als Sportler bezeichnet und den Personen gegenübergestellt, die seltener als einmal pro Woche oder nie Sport treiben (Nicht-Sportler). Bivariat erfolgt die Ermittlung von prozentualen Beteiligungsraten für einzelne Bevölkerungsgruppen. Neben den üblichen soziodemographischen Variablen wurde die soziale Unterstützung über die Anzahl der engen Freunde operationalisiert. Angaben zum Gesundheitszustand beruhen auf subjektiven Einschätzungen der Befragten und sind in der Studie über 3 Kategorien repräsentiert. Mittels einer 11stufigen Skala wurde die Lebenszufriedenheit operationalisiert und ebenfalls als kategoriale Variable in die Analysen aufgenommen. Die sportliche Aktivität in der Jugend wurde mit der Frage „Haben Sie in der Jugend außerhalb der Schule Sport getrieben?“ erfragt und über eine Dummyvariable (1 = Sportaktivität in der Jugend; 0 = keine Sportaktivität in der Jugend) berücksichtigt. Ob der Sportleranteil bezüglich einer der untersuchten Faktoren signifikant variiert, wird für nominale und ordinale Variablen zunächst bivariat mittels des Chi-Quadrat-Tests und für metrische Variablen mittels des t-Tests für unabhängige Stichproben überprüft. Die multiple Analyse der Fragestellung erfolgt anschließend mittels binärer logistischer Regressionsanalysen (Bender/Lange/Ziegler 2002). Um ein möglichst parametersparsames Vorgehen zu realisieren, werden dabei standardmäßig alle in der bivariaten Analyse nichtsignifikanten Prädiktoren ausgeschlossen. Gewichtet wird mittels der vom DIW zur Verfügung gestellten Gewichtungsfaktoren. Alle Tests wurden zweiseitig mit der Signifikanzgrenze p  0,05 durchgeführt. Die Analysen wurden mit dem Statistikprogramm SAS for Windows in der Version 9.02 (SAS Institute Inc. Cary, NC 27513, USA) erstellt. 2.3.5 Ergebnisse 2.3.5.1 Entwicklung der Sportaktivität im Lebensverlauf In Abbildung 1 ist die Entwicklung der Sportbetätigung (wöchentlich vs. selten/nie) im Lebensverlauf getrennt nach Geschlecht dargestellt. Die Unterteilung in wöchentlich Aktive vs. selten/nie Aktive erfolgt aufgrund von Befunden die besagen, dass um einen gesundheitlichen Nutzen zu erzielen eine regelmäßige sportliche Betätigung erforderlich ist (Blair/Connelly 1996). Abgetragen sind in der Grafik gleitende 5-Jahresdurchschnitte10. 10 Die Verwendung von gleitenden Durchschnitten hat den Vorteil, dass die Kurven geglättet und von Zufallseinflüssen bereinigt sind.

Soziale Ungleichheiten und sportliche Betätigung 50–70-Jähriger

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In der Abbildung wird ein Auseinanderklaffen der Kurven für die Anteile der wöchentlich Aktiven und der selten/nie-Aktiven mit zunehmendem Alter sichtbar. Der Anteil der Sportler sinkt im Lebensverlauf kontinuierlich und der Anteil der Inaktiven (selten/nie) steigt analog dazu an. Bei den männlichen Befragten sind im Alter von 18 Jahren ca. 50% wöchentlich sportlich aktiv. Ein kontinuierliches Abfallen der Sportbetätigung ist bei den männlichen Sportlern bis ca. zum 25. Lebensjahr zu beobachten. Vom 25. bis zum 29. Lebensjahr kann wieder ein leichter Anstieg des Anteils der Sportaktiven verzeichnet werden und im Alter von ca. 31 Jahren ist ein vorläufiger Tiefpunkt erreicht. Ca. bis zum 40. Lebensjahr ist, trotz tendenziell fallendem Anteil der Sportaktiven, ein zeitweiliges Wiederansteigen des Anteils der Sportler und analog dazu ein Abfallen der Nicht-Sportler erkennbar. Anschließend verringert sich der Anteil der männlichen Sportler kontinuierlich. Der Anteil der weiblichen Sportaktiven sinkt im frühen Erwachsenenalter bis zum 30. Lebensjahr. Anschließend kommt es bei den Frauen zu einem Anstieg des Anteils der Sportaktiven und im Alter von 35 Jahren sind annährend gleich viele Frauen wie Männer (ca. 1/3 der Befragten) den Sportlern zuzurechnen. In der Lebensphase vom 50. bis zum 70. Lebensjahr verringert sich der Anteil der Sportaktiven sowohl bei Männern als auch bei Frauen nochmals deutlich. Während im Alter von 50 Jahren noch knapp 30% der Männer und Frauen wöchentlich Sport treiben, sind im Alter von 70 Jahren noch ca. 15% der Männer und Frauen sportlich aktiv. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sportaktivität zeichnen sich vor allem im frühen Erwachsenenalter ab und existieren im Alter zwischen 50 und 70 Jahren kaum noch. Auch die Entwicklung des Anteils der Sportabstinenten (selten/nie) unterscheidet sich bei Männern und Frauen in erster Linie im frühen Erwachsenenalter. Bis ca. zum 45. Lebensjahr liegt die Sportabstinenz bei Frauen durchgängig höher als bei Männern. Während sich der Anteil der Sportabstinenten bei Frauen vom 18. bis zum 45. Lebensjahr nur geringfügig verändert, können bei Männern im frühen Erwachsenenalter deutliche Schwankungen beobachtet werden. Ab Mitte 50 lässt sich bis ins hohe Alter ein geringfügig höherer Anteil an sportabstinenten Frauen beobachten. Das kontinuierliche Ansteigen der NichtSportler im Lebensverlauf bei Männern und Frauen könnte als ein Alterseffekt interpretiert werden. In diesem Fall wäre die Begründung, dass Personen aufgrund zunehmender gesundheitlicher Einschränkungen im Lebensverlauf verstärkt aus dem Sport aussteigen, naheliegend.

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Abbildung 1: Entwicklung des Anteils der Sportler (wöchentlich) und Nicht-Sportler (selten/nie) im Lebensverlauf nach Geschlecht – 5-J-D

2.3.5.2 Entwicklung der Sportaktivität im Zeitverlauf Der Anteil der Sportaktiven hat sich in der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik im Zeitraum von 1992 bis 2001 erhöht. Im Jahr 1992 lag der Anteil der Sportler in der Altersgruppe der 50–70-Jährigen (mindestens 1mal pro Woche sportlich aktiv) bei 16,2% und der Anteil der Personen, die nie Sport treiben bei 71,3%. Bis 2001 kann eine Erhöhung des Anteils der mindestens 1mal pro Woche Aktiven auf 23,5%, also um ca. 7%-Punkte, festgestellt werden11. Der Anteil der Nicht-Sportler hat sich in diesem Zeitraum um etwa 11%Punkte verringert. In der Kategorie „mindestens 1mal pro Monat“ fanden im beobachteten Zeitraum kaum Veränderung statt und auch der Anteil der „seltener“-Aktiven erhöhte sich nur geringfügig (ca. 3%-Punkte). Bei geschlechtsspezifischer Betrachtung zeigen sich für Frauen und Männer deutliche Veränderungen in der Kategorie der wöchentlichen Betätigung. Bei den Frauen konnte ein Zuwachs um ca. 8%-Punkte und bei den Männern eine Erhöhung um 7%-Punkte verzeichnet werden (vgl. Abbildung 1). Im Jahr 1992

11 In der Gesamtbevölkerung hat sich der Anteil der wöchentlich sportlich Aktiven in diesem Zeitraum um ca. 5%-Punkte erhöht.

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Frauen Jede Woche

Seltener

Jeden Monat

Nie

Abbildung 2: Sportaktivität bundesdeutscher Personen im höheren Erwachsenenalter im Zeitverlauf nach Geschlecht

gaben 17,0% aller Frauen an, jede Woche Freizeitsport nachzugehen. Der Anteil der weiblichen Aktiven stieg im Jahr 1999 auf 20,3% und 2001 gaben 25,1% der 50–70-Jährigen an, mindestens wöchentlich Sport zu treiben (Abbildung 2, links). Nahezu analog zu der Zunahme des Anteils der aktiven Frauen erfolgte die Abnahme des Anteils der Nicht-Sportler. Bei den gleichaltrigen Männern lag der Anteil der wöchentlich Aktiven zu Beginn der Analysen bei 15,3% und stieg bis zum Jahr 2001 auf 21,7% (Abbildung 2, rechts). Im Jahr 2001 sind somit ca. 3% mehr Frauen im höheren Erwachsenenalter sportlich aktiv als gleichaltrige Männer. Der Anteil der Sportabstinenten ist sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen in der untersuchten Altersgruppe um über 10% zurückgegangen. Insgesamt kann bei den Männern über den Analysezeitraum eine Abnahme der Nicht-Sportler um ca. 4% berichtet werden.

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Ostdeutsche

Westdeutsche Jede Woche

Seltener

Jeden Monat

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Abbildung 3: Sportaktivität bundesdeutscher Personen im höheren Erwachsenenalter im Zeitverlauf nach Wohnregion

Bei der Betrachtung der Wohnregion zeigt sich, dass zuletzt 25,2% (2001) der Männer und Frauen aus den Alten Bundesländern angaben, mindestens einmal pro Woche Sport zu treiben. Dies sind 7%-Punkte mehr als 1992. Auch hier wird deutlich, dass die Veränderungen vor allem in den Kategorien der regelmäßigen Sportler und der Nicht-Sportler zu verzeichnen sind – der Anteil der Nicht-Sportler hat sich in dem untersuchten Zeitraum um 11%-Punkte verringert (Abbildung 3, links). Die deutlichste Erhöhung der Sportbeteiligung lässt sich in den Neuen Bundesländer erkennen. Hier ergab sich über den beobachteten Zeitraum, auch aufgrund des geringen Ausgangsniveaus, nahezu eine Verdoppelung des Anteils der Sportaktiven (von 8,0% auf 16,5%). Jedoch konnte auch für die Alten Bundesländer eine Erhöhung des Anteils der Sportler um 7% verzeichnet werden. Der

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205

Anteil der Nicht-Sportler verringerte sich im Zeitraum von 1992 bis 2001 in den Alten Bundesländern um 11%-Punkte und in den Neuen Bundesländern um 12%-Punkte.

2.3.5.3 Korrelate sportlicher Aktivität Für das Jahr 2003 zeigt sich, dass fast die Hälfte (46%) der deutschen 50– 70-Jährigen keinerlei Sport treibt. 33,1% der Deutschen in dieser Altersgruppe betätigen sich mindestens einmal pro Woche sportlich. Mindestens einmal im Monat sind 6,6% aktiv und seltener betätigen sich 14,2%. Die Analyse der bivariaten Zusammenhänge belegt zunächst einen deutlichen Einfluss der Schulbildung. Der Anteil sportlich Aktiver ist unter Abiturienten doppelt so hoch wie unter Hauptschülern (siehe folgende Tabelle, zweite Ergebnisspalte). Bei der bivariaten Betrachtung zeigt sich, dass deutlich mehr Frauen als Männer in der Gruppe der 50–70-Jährigen sportlich aktiv sind. Der Anteil der Sportler ist unter Frauen signifikant höher als unter Männern. 35,6% der Frauen gaben im Jahr 2003 an mindestens einmal pro Woche Sport zu treiben. Bei den Männern hingegen liegt der Anteil bei 30,4%. Diese Entwicklung deuten bereits unsere vorhergehenden Analysen im Zeitverlauf hin: Es zeigt sich auch hier (vgl. Abbildung 1), dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen in jüngerer Zeit größer geworden sind. Im Jahr 1992 gaben 17% der Frauen und 15,3% der Männer an, wöchentlich sportlich aktiv zu sein und bis zum Jahr 2001 vergrößerten sich diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern sichtbar – 25,1% der Frauen und 21,7% der Männer gaben an wöchentlich Sport zu treiben. Bei der bivariaten Betrachtung zeigt sich weiterhin, dass die sportlich Aktiven signifikant mehr enge Freunde und Bekannte angeben als Inaktive. Auch finden sich unter den Personen, die in ihrer Jugend außerhalb des Schulsports Sport getrieben haben mehr wöchentlich Aktive als unter den Personen, die sich außerhalb des Schulsports nicht sportlich betätigt haben. Ebenso berichten Personen, die sich selbst als gesund bezeichnen und eine hohe Lebenszufriedenheit aufweisen eine signifikant höhere Sportbeteiligung als Personen, die einen eher schlechten Gesundheitszustand und eine eher niedrige Lebenszufriedenheit berichten. In der logistischen Regressionsanalyse soll überprüft werden, inwieweit sozio-demographische Ungleichheiten und die Lebenssituation per se Bestimmungsparameter für den Freizeitsport sind oder ob sich einzelne Assoziationen durch die Einbeziehung und Konstanthaltung weiterer Variablen auflösen.

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Simone Becker Absolutes (%) und relatives (Odds ratio) Ausmaß der Sportaktivität der 50–70-jährigen bundesdeutschen Bevölkerungsgruppen Prävalenz in % oder AM ( SD)

Chi2 test Testlevel/ Signifikanzniveau

Hauptschulabschluss

26,07%

x2 = 108,03 p < 0.001***

Mittlere Reife

37,96%

1,475

[1,187; 1,834]***

Abitur

51,91%

2,578

[2,029; 3,276]***

Variable

Odds ratio (95% CI)

Schulbildung

Westdeutschland Ja

34,48%

Nein

28,03%

x2 = 7,60

p = 0.006**

1,406

[1,117; 1,769]**

x2 = 7,53

p = 0,006**

0,616

[0,509; 0,746]***

Männlich Ja

30,43%

Nein

35,60%

Alter

Metrisch

59,63 +/– 6,14

t = 1,43

p = 0,152

33,52%

x2 = 9,70

p = 0,002**

x2 = 6,53

p = 0,089

x2 = 39,04

p < 0.001***

Deutsche Staatsangehörigkeit Ja Nein

4,722 [1,344; 16,595]*

8,35%

Familienstand verheiratet

32,94%

getrennt

37,23%

ledig

36,12%

verwitwet

27,56%

Soziale Unterstützung  1 Person

21,07%

2–3 Personen

32,34%

1,533

[1,157; 2,030]**

> 3 Personen

38,16%

1,797

[1,383; 2,335]***

Gesundheit x2 = 62,79

p < 0.001***

Schlecht

20,17%

Moderat

32,91%

1,674

[1,284; 2,182]***

Gut

40,55%

1,973

[1,501; 2,592]***

Soziale Ungleichheiten und sportliche Betätigung 50–70-Jähriger Variable

Prävalenz in % oder AM ( SD)

Chi2 test Testlevel/ Signifikanzniveau

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Odds ratio (95% CI)

Teilnahme an religiösen Veranstaltungen Mind. 1 mal/Woche

36,93%

Selten/nie

32,69%

x2 = 2,05

p = 0,152

x2 = 44,81

p < 0.001***

Lebenszufriedenheit Niedrig

24,97%

Moderat

23,56%

0,884

[0,520; 1,501]

Hoch

37,37%

1,296

[0,775; 2,169]

1,252

[1,037; 1,512]*

1,629

[1,353; 1,960]***

Politikinteresse niedrig

28,36%

hoch

37,77%

x2 = 25,02

p < 0.001***

Sport in der Jugend Ja

39,80%

Nein

27,63%

x2 = 41,49

p < 0.001***

N = 2.503; * = p < 0.05; ** = p < 0.01; *** = p < 0.001; CI = Confidence interval. Quelle: sozio-ökonomisches Panel 2003.

Die deutlichen Unterschiede in der Sportaktivität zwischen den Bildungsabschlüssen bleiben bestehen (siehe Tabelle, dritte Ergebnisspalte). So bedeutet die Odds ratio von 2,578, dass Abiturienten 2,6mal eher (d.h. mehr als doppelt so häufig) Sport treiben als die Referenzgruppe der Personen mit Hauptschulabschluss (Odds ratio per definitionem: 1,000). Die deutlichen Unterschiede der Sportbeteiligung zwischen den alten und neuen Bundesländern (OR für Wohnorte in den alten Bundesländern: 1.406) bleiben auch unter Konstanthaltung aller anderen Variablen bestehen. Ebenso zählen Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit 4,7mal häufiger zu den Sportlern als Personen mit einer anderen Staatsangehörigkeit. Auch Personen, die in ihrer Jugend außerhalb des Schulsports sportlich aktiv waren treiben 1,6mal so häufig im höheren Erwachsenenalter Sport wie Personen, die in ihrer Jugend lediglich am Schulsport teilgenommen haben. Im Wesentlichen bleiben jedoch die aus der bivariaten Analyse bekannten Zusammenhänge erhalten. Unter Konstanthaltung aller in das Modell aufgenommenen Merkmale zeigte sich lediglich bezüglich der Lebenszufriedenheit keine signifikanten Unterschiede zwischen Sportlern und Nicht-Sportlern mehr.

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Simone Becker

2.3.6 Diskussion Bezüglich der Häufigkeit der sportlichen Betätigung konnte eine besonders große Variabilität in der Zeit zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr beobachtet werden (vgl. Abbildung 1). Es ist denkbar, dass die Schwankungen auf die noch instabilen Lebensumstände (im privaten und beruflichen) dieser Altersgruppe zurückzuführen sind. Um dies genauer zu überprüfen sind jedoch differenziertere Analysen der Ein- und Ausstiegsraten im Lebensverlauf erforderlich. Bei der geschlechtsspezifischen Betrachtung der Entwicklung im Lebensverlauf zeigt sich, dass, obwohl über den Lebensverlauf betrachtet in den meisten Lebensphasen der Anteil der sportlich aktiven Männer den Sportleranteil der Frauen übertrifft, es durchaus auch Lebensphasen gibt, in welchen der Anteil der sportlich aktiven Frauen über dem der gleich alten Männer liegt. Die sportliche Betätigung nimmt sowohl bei Männern als auch bei Frauen über den Lebenslauf gesehen ab. Die größten Unterschiede im Anteil der Sportaktiven zwischen Männern und Frauen können jedoch im frühen Erwachsenenalter beobachtet werden (vgl. Abb. 1). Bei den Analysen im Zeitverlauf zeigt sich, dass in den letzten Jahren in der Gruppe der 50–70-Jährigen insgesamt, sowie in allen untersuchten Teilgruppen (Männer, Frauen, Bewohner der Alten sowie Neuen Bundesländern) dieser Altersgruppe eine leichte aber stetige Zunahme der Sportaktivität zu verzeichnen ist. Aus Präventionsgesichtspunkten ist jedoch zu konstatieren, dass sich die Sportbetätigung in den verschiedenen untersuchten Bevölkerungsgruppen (Frauen, Männer, Alten und Neuen Bundesländern) zwar geringfügig erhöht hat, aber ein Großteil der Personen im höheren Erwachsenenalter nach wie vor inaktiv ist. Insgesamt konnten über den untersuchten Zeitraum von 10 Jahren in der Gesamtgruppe der 50–70-Jährigen im Durchschnitt eine Erhöhung der Sportaktivität um ca. 0,7% pro Jahr beobachtet werden. Zieht man eine mögliche Tendenz zu sozial erwünschtem Antwortverhalten („social desirability bias“) in Betracht, darf man eher von einer niedrigeren Aktivitätsquote ausgehen. Bei der bi- und multivariaten Analyse der Einflussfaktoren der sportlichen Aktivität zeigt sich zusammenfassend, dass Sport in der Gruppe der 50–70-Jährigen Sport tendenziell eine Freizeitbeschäftigung der höher gebildeten westdeutschen Personen ist. Im Gegensatz zu den meisten anderen vorliegenden Studien (u. a. Mensink 1997; Sternfeld/Ainsworth/Quesenberry 1999) zum Sportverhalten konnte in der Gruppe der 50–70-Jährigen weder bi- noch multivariat ein Alterseffekt berichtet werden. Auch unter Kontrolle aller anderen Variablen zeigte sich in der logistischen Regression, dass die sozio-strukturellen Unterschiede zwischen den Neuen und Alten Bundesländern erhalten bleiben. Dieser Zusammenhang ist auch aus frü-

Soziale Ungleichheiten und sportliche Betätigung 50–70-Jähriger

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heren epidemiologischen Studien bekannt (Kunzendorff 1994; Schneider/Becker 2005; Winkler 1998) und deutet möglicherweise auf eine unterschiedliche Sportsozialisation hin (Spitzensportförderung in der DDR versus Breitensportförderung in der BRD). Um den zu Beginn dargestellten, gesundheitlichen Nutzen der sportlichen Betätigung allen Bevölkerungsgruppen (wie z. B. Personen im höheren Erwachsenenalter/Älteren) zugänglich zu machen, ist es von besonderer Bedeutung systematische Ausgrenzungen von bestimmten Bevölkerungsgruppen im Sport zu vermeiden. Unsere Daten bestätigen allerdings das Phänomen des „Preaching to the converted“ (Oddy et al. 1995; Rost et al. 1990), nach dem ausgerechnet diejenigen Bevölkerungsgruppen mit dem sozio-demographisch höchsten Morbiditätsrisiko sportlich inaktiv sind. Aus biologisch-medizinischer Sicht wird aber besonders dem Alterssport eine gesundheitserhaltende Wirkung zugeschrieben (Emrich 1985, S. 341; Denk/Pache 1996, S. 15 f.). Da bei älteren Personen die sportliche Betätigung meist an ein Gesundheitsmotiv gekoppelt ist, kommt hier der Mitwirkung von Ärzten über die Beratung bezüglich des gesundheitlichen Nutzens sportlicher Aktivität eine besondere Bedeutung zu (Denk/Pache 1996, S. 127). Eine explizite Empfehlung des Hausarztes stellt Analysen zufolge einen der bedeutendsten und wirksamsten Einflussfaktoren auf die körperliche Aktivität dar (Schneider/Becker 2005). Die Idee ein „grünes Rezept“ (Mörath 2005) einzuführen, wird seit langem auch von dem Sportmediziner Wildor Hollmann propagiert. Laut Angaben aus dem Projekt „Bewegte Senioren“ würden 58% der Inaktiven sportlich aktiv werden, wenn der Arzt eine Empfehlung aussprechen würde (Denk/Pache 1996). Aufgrund einer Evaluierung ihres Projekts „Bewegung, Spiel und Sport im Alter“, halten Denk und Pache (1996) die Aktivierung der „jungen Alten“ für besonders aussichtsreich (Denk/Pache 1996, S. 127). Angebote im Alterssport sollten in besonderem Ausmaß auf die Bedürfnisse der Älteren zugeschnitten sein. Beispielsweise ist es wichtig, dass die Angebote des Alterssports in mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbaren Übungsstätten angeboten werden. Von entscheidender Bedeutung für die sportliche Betätigung im Alter ist außerdem, dass die Sportaktivität in den Sozialbezug des älteren Individuums eingebettet ist (Emrich 1985, S. 341). Attraktiv sind für Personen im höheren Erwachsenenalter vor allem Sportarten mit geringem Verletzungsrisiko, geringer Leistungskomponente und hohem Wert für die Gesundheit (Lamprecht/Stamm 2001, S. 20). Der Unterschied zwischen den aktiven und den inaktiven Senioren liegt dieser Studie zufolge darin, dass die aktiven Senioren mit zunehmendem Alter die Sportart gewechselt haben und nicht ausgestiegen sind (Lamprecht/ Stamm 2001, S. 31 f.). Gemäß dieser Studie liegt der über die weitere Sportaktivität entscheidende Zeitpunkt ca. im Alter von 35 Jahren. Hier entscheidet es sich häufig, ob die Sportaktivität komplett aufgegeben oder zu einer sogenannten „Lifetime-Sportart“ gewechselt wird (Lamprecht/Stamm 2001, S. 32). Zu-

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Simone Becker

sammenfassend lässt sich festhalten, dass obwohl in den letzten Jahren einige Studien zur Entwicklung der Sportbeteiligung im Zeit- und im Lebensverlauf veröffentlicht wurden, immer noch große Lücken auf diesem Gebiet bestehen.

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Zum normativen Gehalt gesundheitspolitischer Beratungsliteratur Eine historische Perspektive Friedrich Wilhelm Schwartz

1. Zum Hintergrund der Fragestellung Um die normativen Grundlagen von Gesundheitspolitik vertieft zu verstehen, erscheint es sinnvoll, diese nicht nur isoliert in einem kleinfenstrigen Gegenwartssegment zu untersuchen, sondern den größeren Blick der historischen Analyse auf den gesamten Zeitraum der Neuzeit zu wagen, ein Zeitraum, der immer wieder von expliziten gesundheitspolitischen Entscheidungen geprägt wurde, deren Nachwirken z. T. bis heute kontextuell, strukturell oder normativ spürbar ist. Dieser Zeitraum beginnt in Deutschland bei den frühneuzeitlichen Städten und den für diese entworfenen gesundheitspolitischen Konzepten, führt von den sich herausbildenden Territorialstaaten des 17. bis 19. Jahrhunderts zum Kaiserreich, zur Weimarer Republik, der Periode des Nationalsozialismus und schließlich zur Entwicklung im geteilten und dann wiedervereinigten Nachkriegsdeutschland. Solche große Übersicht zwingt zu vereinfachen, sie gibt aber Blicke auf Sachverhalte oder Tendenzen frei, die in kleinräumiger Einzelbetrachtung sonst nicht zu erschließen wären. Gewürdigt wird die wichtigste gesundheitspolitische Beratungsliteratur des 16. bis zum frühen 21. Jahrhundert (vgl. hierzu Schwartz 2006). Für diese wurden die wichtigsten Tendenzen und Aspekte in ihrer historischen Reihenfolge gewürdigt. 2. Die Periode des 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert In der frühen Neuzeit bildeten sich neben den wachsenden Städten kleine und große mittel- und westeuropäische Territorien. Dies implizierte zunehmende Staatstätigkeiten und Verwaltungsaufgaben, auch in speziell gesundheitspolitischer Hinsicht. Der Begriff und das Schrifttum zur „medicinischen Polizey“

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spielte in dieser Zeit eine zentrale Rolle. Dieser Polizey-Begriff wurde Ende des 15. Jahrhunderts der burgundisch-französischen, zentralistisch-obrigkeitlichen Behördenorganisation entlehnt (Maier 1966), und tauchte in Deutschland zuerst in einer Nürnberger Ratsverordnung von 1482 auf. Die führenden deutschen Reichsstädte erreichten früher als die agrarisch-feudalen Territorien den Charakter einheitlicher Staatsgebilde. Ihre neuen Ordnungsprobleme waren nicht mehr durch bloßes Herkommen und rechtliches „Weistum“ zu bewältigen, sondern erforderten moderne gebotsrechtliche Regelungen (Schwartz 1973). Auch mit der Ausdehnung der territorialen landesherrlichen Verwaltungstätigkeiten im Reichsgebiet setzte sich die polizeiliche Verwaltung gegen den feudalen, ständischen Partikularismus und gegen die Autonomie der kleinen Lebensbereiche durch, zugleich weitete sich der Polizeibegriff aus. Im Absolutismus seit Ende des 17. Jahrhunderts wurde darunter die ganze nach innen gerichtete Staatstätigkeit verstanden (Schwartz 1973). Neben der territorialpolitischen Entwicklung waren für Verständnis und Anwendung des Polizeibegriffs auch der seit dem Humanismus erfolgende Rückgriff auf die antiken Wortwurzeln (gr. politeia, lat. politia) mit ihrer Bedeutung von „Wohlordnung des Gemeinwesens“ wichtig, ebenso die humanistische Perzeption antiker Staatslehren. In Reaktion gegen diese Perzeption antiker Staatsauffassung und in Verteidigung der alten ständischen Rechtsordnungen verbinden sich in der frühen deutschsprachigen Literatur mit dem Begriff der „guten Polizei“ eng die Auffassung von einer christlichen Ständegesellschaft und einer christlichen Amtsführung. mit wechselseitiger Treuebindung zwischen Herrschaft und Untertanen (von Seckendorff 1656). Sie wird als partriachalische und später, unter dem wachsenden Einfluss des Naturrechts, als aufgeklärtfürsorgende Grundhaltung ein spezifisches Attribut territorialer Herrschaft in Deutschland bis über das 18. Jahrhundert hinaus. Diese christlich-patriarchalische Auffassung stand seit Beginn des 17. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit dem aufkommenden rational-utilitaristischen Staatsbegriff. Dieser prägte die Staatslehre und die darauf begründete deutschsprachige Beratungsliteratur des 18. Jahrhunderts, ebenso die des späteren deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und später des Nationalsozialismus. In diesem rationalistischen Staatsbegriff vollzieht sich zunächst nur ein funktionales Zweckdenken der kameralistisch-merkantilistischen Bürokratie. Er gerät in der frühen deutschen „Aufklärung“ philosophisch unter den Einfluss des englischen „moralistischen“ und des französischen „materialistischen“ Utilitarismus. Er mündet in eine „vernünftige“ Zweckmoral des Staatsganzen, in dem das „Glück“ des Einzelnen sich im „höchsten Nutzen“ des Ganzen erfüllt. Die Ausrichtung des gesamten staatlichen Lebens an der „salus publica“ wird zum Grundgedanken einheitlicher „polizeilicher“ Staatsgewalt im neuzeitlichen absolutistischen Staat (Schwartz 1973).

Zum normativen Gehalt gesundheitspolitischer Beratungsliteratur

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Gegenläufig wird seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts im Horizont des wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstseins und des neuen philosophischen Leitbegriffs des „Naturrechts“ zunehmend das Einzelinteresse des Individuums zur Basis fortschrittlicher politischer Theorie. Der Begriff einer vom „Staat“ abgegrenzten und der Staatsgewalt nur vertraglich verbundenen „Gesellschaft“ von Individuen wird geboren (Schnerb 1971). Bei der Bewertung gesundheitspolitischer Vorschläge der frühen Neuzeit und ihrer weiteren Entwicklung in Deutschland im Geiste christlich-patriarchalischer Amtsauffassung muss auch an die Ideen der Reformation in Deutschland und die im Gefolge Luthers sich entfaltenden Vorstellungen einer sinnvollen öffentliche Wohlfahrtspflege erinnert werden. Luthers Position war zukunftsorientiert in dem Sinne, dass erstmals christliches Armutsideal und Almosengeben zurücktreten hinter dem protestantischen Gedanken vom christlichen Wert der Arbeit. Körperliche Gesundheit wird von Luther als Voraussetzung für Arbeit und als eine Voraussetzung der dafür ebenso notwendig erachteten seelischen Gesundheit begriffen. In Luthers Einheitslehrplan für gelehrte Berufe, d.h. für Theologen, Juristen, Lehrer und Ärzte, sind körperliche Übungen daher obligatorisch. Sie fanden von dort als gesundheitsfördernde Leibesübungen Eingang in das deutsche und das abendländische Schulleben (Dolch 1874). Auch die Perspektive des Humanismus entfaltete weitreichende Wirkungen. Thomas Morus entwickelt in seiner Schrift „Utopia“ von 1516 erstmals das detaillierte Bild eines Gemeinwesens, in dem eine umfassende Gesundheitsfürsorge zentrale Bedeutung gewinnt (Siefert 1970). Zwar reichen seine Vorschläge aus medizinischer Sicht nicht wesentlich über die seit der Antike bekannten Grundsätze von gesunder Luft, gesundem Essen, gesundem Trinken und Wohnen und gesunder Kindererzeugung und -erziehung hinaus, aber hier wird Hygiene, bzw. Hygiene im Dienste von Gesundheitspolitik, erstmals in das Zentrum eines gesellschaftspolitischen Entwurfs gerückt. Im Schrifttum wie in praktischen Regelungen auf dem öffentlichen Gesundheitssektor gingen im Übrigen die Städte den Territorien voran; dies zeigt, dass öffentliche Gesundheitspflege ganz wesentlich jeweils auch Ergebnis der jeweiligen konkreten politisch-ökonomischen Entwicklungen ist: Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass sich zuerst dort aktive öffentliche Gesundheitspolitik entfaltet, wo eine gewisse Bevölkerungsballung die Gefahr ausgreifender Seuchenzüge mit sich bringt, wo ferner zugleich – wenigstens in den herrschenden Schichten – mit wachsendem Lebensstandard das Streben nach „Gesundheit“ als selbstständiger Wert neben dem materiellen Existenzkampf erkennbar wird und wo drittens genügend entwickelte Verwaltungseinrichtungen zur Durchführung entsprechender Maßnahmen vorhanden sind. Vor allem das 16. Jahrhundert bringt in Deutschland hinsichtlich der Häufigkeit und Reichhaltigkeit gesundheitsbezogener städtischer Verordnungen und Maßnahmen einen ersten Höhe-

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punkt. Auch in einer rasch anwachsenden Flut meist von Ärzten verfasster, allgemein belehrender, hygienisch-diätetischer Schriften, von Lehrgedichten, Kalendern und Pesttraktaten bekundet sich das große Interesse dieser Zeit an Gesundheitsfragen. Diese publizistische Tätigkeit findet für den Bereich der Stadthygiene ihren Höhepunkt in den 1567 und 1573 erschienenen Schriften des Frankfurter Stadtarztes Joachim Struppius, der darin das Wesentliche aller bis dato ergangenen städtischen Verordnungen zum Gesundheitswesen an die Adresse der Städtischen Obrigkeiten zusammenfasst. Der erste Höhepunkt für das hygienische Schrifttum überhaupt liegt in dem 40 Jahre später erscheinenden, ebenso engagierten wie umfangreichen Werk des Tiroler Arztes Hippolyt Guarinonius (Ingolstadt, 1610). Joachim Struppius stand noch ganz in der christlich-caritativen Tradition der mittelalterlichen Wohlfahrtspflege. „Nützliche Reformation zu guter Gesundheit und christlicher Ordnung“ heißt die schmale, aber inhaltsreiche Schrift, unter der er 1567 seine Vorschläge zur öffentlichen Gesundheitspflege herausbrachte. Struppius behandelt folgerichtig zuerst die „geistliche Versehung und Wolfart der Seelen“, erst in den folgenden Kapiteln „der Leiber Gesundheit . . .“. Er bringt ausführliche Vorschriften zur Hygiene der Luft und zur Abfallbeseitigung, zur Reinigung von Gewässern und Brunnen, von Back- und Brauhäusern, Ställen etc. Er setzt sich auseinander mit dem Apothekenwesen einschließlich Zulieferern und Ausbildung sowie allen anderen wichtigen Medizinalpersonen, ferner auch mit den Ordnungen für Hebammen, Wehemüttern und Säugammen. Er wendet sich gegen eine Reihe von dortigen Missständen in den Spitälern und Pflegeeinrichtungen und befasst sich mit der Qualität von Nahrungsmitteln, mit Quarantänemaßnahmen. Mit ihm findet die neuzeitige Stadthygiene einen ersten Höhepunkt (Fischer 1965). Mehr Würdigung aus fachlicher Sicht verdiente das großvolumige Werk des Stiftsarztes zu Hall Guarinonius von 1610, das alle bekannten Themen in stark vertiefter Form mit erstaunlichem Detailreichtum des Wissens aufbereitet. Das reicht bis zu der ersten bekannt gewordenen Berechnung des volkswirtschaftlichen Schadens der Überernährung, errechnet am Beispiel der Haller Bevölkerung. Diesen frühen Schriften der Stadthygienik sind die ersten staatstheoretischen Schriften des 17. Jahrhunderts zur Seite zu stellen, die in christlich-ständischer Amtsauffassung für die aufblühenden nicht-städtischen Territorialstaaten geschrieben wurden (von Osse 1556 [vgl. Thomasius 1717], Oldendorp 1597; Friedlieb 1614). Für diese neuen Autoren stehen die soziale Ordnung und die finanzwirtschaftlichen Probleme der neuen Territorien im Vordergrund. Ein klares gesundheitspolitisches Konzept bietet zwei Generationen später Veit Ludwig von Seckendorff in seinem damals sehr bekannt gewordenen „Teutschen Fürstenstat“ (Frankfurt/M. 1656).

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Unter den Beratungsschriften, die in der Rezeption der englischen und französischen utilitaristisch-materialistischen Philosophie im ausgehenden 17. Jahrhundert entstanden, ist die einflussreiche Schrift von Georg Obrecht zu nennen, Professor der Rechte in Straßburg und Ratgeber Kaiser Rudolphs II.: „Fünff unterschiedliche Secreta Politica“, 1644 in Straßburg erschienen. Unter Verzicht auf die älteren Elemente von Treuebindung und christlicher Amtsauffassung reduziert sich der Staat für ihn zur fiskalischen Steuerquelle. Schätzungen und Steuerpflicht der Untertanen und obrigkeitliche Aufsicht über deren Lebensführung mit Hilfe einer umfassenden, bis in die kleinsten Details des Privatlebens hinein überwachenden Präventivpolizei, die, auch unter zur Hilfenahme von statistischen Übersichten, für Besserung von Land und Leuten sorgt, stehen im Mittelpunkt. Er bringt als erster den Plan einer ländlichen Versicherung in Form von genossenschaftlicher Kapitaleinlage, ebenso das Projekt einer zwangsweisen Kinderversorgungskasse unter staatlicher Leitung. Der von Joachim Becher 1668 veröffentlichte „Politische Diskurs, von den eigentlichen Ursachen des Auff- und Abnehmens der Städt, Länder und Republicken“ (Frankfurt/M. 1668; wiederersch. Glashütten 1972), galt schon seinen Zeitgenossen als die bedeutendste nationalökonomische Schrift Deutschlands im 17. Jahrhundert. Er entwickelt eine klare ökonomisch-demographische Theorie des Volksreichtums, und er verlangte erstmalig ein eigenes Ministerium für Gesundheitsfragen. Modernen Auffassungen von gesundheitspolitischer Beratung kommt auch der hannoversche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) erstaunlich nahe. Er entwickelte nicht nur zahlreiche naturwissenschaftliche und psychologische Verbesserungsvorschläge für die Medizin, sondern in den 1671/ 72 handschriftlich niedergelegten „Directiones ad Rem medicam pertinentes“ (Hartmann 1972) entwirft er auch erstmals das Modell eines umfassenden staatlichen Gesundheitswesens. Dabei bleibt er durchaus auf der Linie zeitgenössischer Merkantilisten, doch nach Umfang, Systematik und methodischen Ansätzen erscheint vieles bis in die Gegenwart gültig. Kern der Vorschläge sind regelmäßige, verpflichtende Kontrolluntersuchungen für die gesamte Bevölkerung für rechtzeitige Heilung wie auch zur Vorbeugung. Unterstützt werden soll dies durch eine bessere Aufklärung der Bevölkerung, insbesondere der Jugend, ebenso durch die Selbsterforschung der Patienten mit Hilfe von Fragebögen. Staatlich bezahlte Sprengelärzte sollen in allen größeren Hauptstraßen oder Quartieren der Städte wie auch auf jedem Dorfe zu finden sein. Auf dem Lande sollen dabei je ein junger und ein älterer Arzt und ein Wundarzt zusammenarbeiten zur gegenseitigen Ergänzung. Daneben soll es auch freie Ärzte geben, ohne festen Sprengel, die von Patienten nach freier Wahl aufgesucht werden können. Alle Ärzte sind zur Aufzeichnung der Krankengeschichten anzuhalten und bei allen in „Nosocomiis“ verstorbenen Patienten Sektionen vorzunehmen.

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Fritz Hartmann hat darauf hingewiesen, dass dieses Programm geprägt ist durch die Ideale Leibnizschen Denkens: Vollständigkeit, Systematik und quantitative Messbarkeit (Hartmann 1972). Dies wird auch deutlich in den Vorschlägen Leibniz’, mit Hilfe einer Medizinalbehörde ausführliche Bevölkerungs- und Mortalitätsstatistiken zu erstellen; hierfür entwarf er einen Katalog von 56 Fragen, die insbesondere über Geschlecht, Familienstand, Zahl geburtsfähiger Frauen und wehrfähiger Männer, mittlere Lebensdauer, zeitlich und örtlich häufigste Krankheiten und die Todesursachen sowie über den Sterbeindex Auskunft geben sollten. Als oberste Medizinalbehörde, die sich insbesondere auch um die Ernährungshygiene kümmern sollte, schlug Leibniz ein aus Regierungsbeamten und Ärzten gebildetes „Collegium sanitatis“ vor (Leibniz 1671/72). Ein solches „Collegium sanitatis“ wurde in Brandenburg (zu dessen Hof Leibniz enge Beziehungen hatte) 1685 tatsächlich geschaffen. Seine übrigen Vorschläge blieben in der Stille der Archive; die finanziellen, organisatorischen und personellen Möglichkeiten der meisten Klein- und Mittelstaaten Deutschlands dürften sie überfordert haben. Doch bleibt festzuhalten, dass hier erstmals ein modernes System staatlicher Gesundheitsversorgung entworfen wurde, dessen Grundsätze bis heute gelten könnten: die Sicherung flächendeckender ärztlicher Versorgung, fest besoldete und beaufsichtigte Ärzte, gleichzeitig Ärzte für freie Arztwahl, die obligatorische Absicherung genereller präventivmedizinischer Maßnahmen sowie Aufbau einer epidemiologischen Gesundheitsberichterstattung. Nach Leibniz hat ein anderer epochal wirkender Philosoph sich mit Ratschlägen zum Gesundheitswesen hervorgetan: Christian Wolff, der im eigentlichen Sinne die „Aufklärung“ in Deutschland begründete und absolute Vorrangsstellung bis zur philosophischen Umwälzung durch Kant einnahm. 1721 veröffentlicht er seine „Vernünfftigen Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen“ (Wolff 1721). Wolffs Vorschläge zeigen inhaltlich wenig Neues. Aber durch ihre strikte Herleitung aus „der Natur der Dinge“ bzw. aus dem „Gesetz der Natur“ sind sie philosophisch-ethisch vollkommen anders begründet als in der ökonomischen Nutzenmaximierung der Utilitaristen. Zum ersten Mal wird „die Gesellschaft“ definiert und zwar als ein Vertrag freier Personen, woraus für Wolff folgt, dass die höchste Gewalt im Staat eingeschränkt sein muss. Als erster Beratungsautor setzt er sich mit übermäßiger, ungesunder und angemessen entlohnter Arbeit auseinander (Schwartz 1973). Seine Grundpositionen nehmen bereits das Ende absolutistischer Staatsauffassung vorweg. Hier war er den tatsächlichen Verhältnissen in Deutschland weit voraus. Im Rahmen des in der Staatsliteratur weiterhin vorherrschenden Merkantilismus und ihren gesundheitspolitischen Ratschlägen an eine Staatsführung wären eine ganze Reihe von Schriftstellern des 18. Jahrhunderts aufzuführen. Zu den

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bedeutendsten gehört Johann Heinrich Gottlob von Justi, großbritannischer und braunschweigischer Bergrat und Oberpolizeikommissarmit und seine „Grundsätze der Policeywissenschaften, in einem vernünftigen, auf den Endzweck der Policey gegründeten Zusammenhange und zum Gebrauch akademischer Vorlesungen“ (Göttingen 1756). Er fordert u. a. einen mit sehr weitgehenden Rechten ausgestatteten zentralen Gesundheitsrat im Staate und weist erstmals der wissenschaftlichen Fortentwicklung der Medizin eine entscheidende Funktion zu. Die bis ins frühe 19. Jahrhundert wirkenden Werke und Vorschläge von Josef von Sonnenfels (Sonnenfels 1770) versuchen bereits eine Vereinigung alter und neuer politischer Prinzipien: die des Staates als Gesellschaft von Bürgern, die sich frei vereinigt haben, mit der „hausväterlichen Regierung“ eines Monarchen, und – im Vorgriff auf das 19. Jahrhundert – erfolgt die Betonung der „Sicherheit“ als Kernpunkt einer modernisierten Polizeiwissenschaft. In der Sache befasst sich Sonnenfels erstmals mit psychiatrischen Fragestellungen, ebenso erstmals mit der Einrichtung, Ausstattung und dem Betrieb von Krankenhäusern bis hin zu Fragen der Katastrophenhilfe, der Feuerwehr und der Baupolizei. Seine aufgeklärte Kameralistik rückte erstmals auch jene aufgeklärt-philantrophischen Gesichtspunkte in den Mittelpunkt der Staatsverwaltungslehre, die Generationen von Staatsbeamten bis ins 19. Jahrhundert prägte. Als wichtigster medizinischer Ratgeber im Geiste des späten merkantilistischen 18. Jahrhunderts gilt Johann Peter Frank. Er gilt der Medizinhistorik – traditionsgemäß aber fälschlich – als „Begründer“ der medizinischen Polizei, und sein Werk, zu Recht, als „hygienisches Denkmal des absolutistischen Staates“ (Sigerist). Der Hauptstrom der politischen Entwicklung war aber schon über den Gesundheitspolitiker Frank und große Teile seines Werkes hinweggegangen, als dieser 1841 die letzten beiden Bände publizierte. Frank hat in seinem Werk nach eigenen Worten „alles was von der Erzeugung an bis . . . zur Beerdigung der Sterblichen, die öffentliche Gesundheitsverwaltung betrifft“ abgehandelt. Allenfalls der josephinische österreichische Polizeistaat hätte Frank die Möglichkeit geboten, seine umfassende hygienische Polizeiverwaltung zu verwirklichen (Frank 1779–1819). Der historische Weg verlief anders: Die Kräfte der europäischen Staaten waren in den Jahrzehnten der Wende zum 19. Jahrhundert vor allem durch große allgemeinpolitische (Napoleonische Kriege) und ökonomisch-industrielle Umwälzungen in Anspruch genommen. Lediglich zu medizinischen Schwerpunktmaßnahmen wie der Pockenimpfung kam es, sieht man von einzelnen regionalen Fortschritten ab. Als dann nach der Verbesserung der wirtschaftlichen Basis, der Volksbildung und des Verwaltungssystems die Zeit für manche praktischen Vorschläge Franks reif geworden wäre, trat für Jahrzehnte die neue naturwissenschaftlich-technische Richtung der Hygiene in den Vordergrund.

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Zurück zur Wende vom 18. auf das 19. Jahrhundert: Bereits in dem 1809 erschienenen „Handbuch der Polizei-Wissenschaft“ des Erlanger Professors für Philosophie und Kameralwissenschaften, Johann Paul Harl, hat sich die neue, durch englische Freihandels- und Rechtsvorstellungen gespeiste liberale Rechtsstaatsidee durchgesetzt. Der Staat ist lediglich „eine zur Sicherung der Koexistenz der Menschen errichtete Rechtsanstalt“ mit einer überaus klaren Absage an den wohlmeinenden Vorschriftenstaat des aufgeklärten Absolutismus: „Der Staat, der seiner Natur nach unfähig ist, das Wohl seiner Mitglieder, ihre Aufklärung und Veredlung durch seine Mittel zu bewirken, . . . soll nur Jedem eine Sicherheit gewähren, bei der ihm . . . die Freiheit gelassen wird, selbstständig, an seiner physischen, intellektuellen, moralischen und ökonomischen Verbesserung zu arbeiten und sein Wohl auf seine eigene Weise selbst zu suchen“ (Harl 1809). Diese liberale Staatsauffassung findet heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, erneut viel politische Aufmerksamkeit. Wenn wir die Beratungsliteratur des 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert zusammenfassend würdigen wollen, treten folgende Aspekte deutlich hervor: Die Leitideen der gesundheitspolitischen Beratungsliteratur des 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert stellen bereits nahezu alle denkbaren Leitsätze und nahezu alle inhaltlichen Fragen der praktischen medizinischen Gestaltung öffentlicher Gesundheit zur Diskussion. Selbstverständlich trat in den folgenden 100 Jahren bis in unsere Gegenwart eine enorme Fülle von vertiefenden oder die frühen empirischen Hypothesen- oder Faktensammlungen erst erklärenden Wissensbestände hinzu, aber es kommen nur wenig grundlegend neue Gesichtspunkte und wenig vollständig neue Themengebiete hinzu. Wir können, wie in manchen anderen Bereichen staatsbezogener Betrachtungen, den Ideenbestand des 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert als „Ausgangskorb“ aller späteren Vorschläge und Überlegungen sehen. Wir begegnen Ordnungs- und Handlungsideen, die aus normativ-sittlicher Sicht religiös oder naturrechtlich philosophisch begründet werden, wie ökonomisch-utilitaristischen Zweckbetrachtungen, sei es unter der Idee eines freien Gesellschaftsvertrages für den höchsten Nutzen aller oder unter der Vorstellung eines supremen Staatszweckes als einziger letzter Legitimation. Wir begegnen aber ebenso bereits den liberalen Überlegungen zur Sicherung des Wohlstands, der Wohlfahrt und der Freiheit des einzelnen Individuums als obersten Zweck, dem allenfalls wenige Verpflichtungen und Einschränkungen aus Gründen der Sicherheit oder der sonstigen notwendigen gemeinschaftlichen Problembewältigung einschränkend gegenübergestellt werden. Damit ist der grundsätzliche ideelle Problemhaushalt der folgenden 200 Jahre bis heute nahezu vollständig umrissen. Die ideellen Konzeptionen und die vorgeschlagenen Maßnahmen zu staatlich angeleiteter oder staatlich durchzuführender Gesundheitssicherung werden wesentlich aus den jeweils vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen Struk-

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turen und den dazu passend entwickelten Leitideen hergeleitet (vgl. dazu auch Labisch/Woelk 1990). Nicht die Ärzte begründen in der Regel neue Leitbilder, sondern die politischen und ökonomischen Verhältnisse und die diesen verbundenen Theoretiker. 3. Die Debatte im 19. Jahrhundert Im weiteren 19. Jahrhundert werden zunächst nur wenig grundlegend neue Ideen für die und in der gesundheitspolitische Beratungsliteratur entwickelt. Allerdings bringt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sich herausbildende soziale „Arbeiter“-Frage sowohl in ihrer theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung wesentliche neue Komponenten in die Debatte ein. In Deutschland brachte sie in den Revolutionsjahren 1848–49 die Bewegung einer „sozialen Medizin“ hervor (Virchow, Neumann), die, an Naturrechtsgedanken des 17./18. Jahrhunderts anknüpfend, für alle Staatsbürger Gleichberechtigung hinsichtlich Gesundheit (und Bildung) verlangte (vgl. z. B. Engels 1962). Ab der Jahrhundertmitte führte das rasche wissenschaftliche und technische Aufblühen von Physik und Chemie (Pettenkofer, vgl. Schmiedebach 2002) zum Aufbau und Leitbild einer umfassenden hygienetechnischen Infrastruktur, als einem gewissermaßen technologischen Zugriff auf die sozial bedingten und mitbedingten Ursachen von Erkrankungen. Der darin angelegte Konflikt von „Sozialer Frage“ und sich rein technisch und naturwissenschaftlich verstehender „Hygiene“ führte schon damals zu gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen (Labisch/Woelk 2006). Die Bakteriologie als wissenschaftliche Leitinnovation des späten 19. Jahrhunderts (Koch 1853–1910) nahm in diesem Konflikt ebenfalls Partei insofern, als sie die Ursachen wichtigster großer Erkrankungsgruppen weitgehend monokausal in naturwissenschaftlich definierten und wirkenden „Keimen“ sah. Diese Auffassung entfaltete als wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Deutungs- und Handlungsansatz eine für das 20. und beginnende 21. Jahrhundert weit reichende paradigmatische Wirkung für das Selbstverständnis der sich entwickelnden Schulmedizin (Schwartz 2006). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde auch erstmals eine „Wirtschaftslehre von der Gesundheit“ (Pettenkofer) formuliert. In dieser ist Gesundheit einerseits ein individuelles Gut, es ist darüber hinaus ein ,Kapital‘ für eine Gemeinde oder eine Nation; auf dieser Basis wurden erstmals ökonomische Kosten-NutzenAnalysen zur Gesundheit möglich, die ganz ohne religiöse oder humanitäre Rückgriffe die für Pflege und Gesundheit notwendigen Kosten rechtfertigen oder in Frage stellen (Schmiedebach 2002).

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4. Das Ende des 19. Jahrhunderts und die 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts Das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert schuf mit der so genannten Konstitutions-Hygiene (Hueppe) und der Rassen-Hygiene und daraus folgendem so genannten positiven oder negativen Eugenik (Ploetz und Schallmeyer) neue naturwissenschaftlich-ärztliche Innovationen. Sie wurden rasch zu wesentlichen fachlichen und ideellen Leitbildern. Sie bestimmten neben den fortwirkenden „sozialen Fragen“ die nachfolgende öffentliche Gesundheitsdebatte bis in die Weimarer Zeit und in dem nachfolgenden Nationalsozialismus; in diesem ebenso extrem wie ahuman pervertiert (vgl. hierzu Stöckel 2005). Die sozial- und gesundheitspolitische Innovation einer reichsweiten Krankenversicherung (1883) im Deutschen Reich entsprang nicht einer Beratungsinitiative durch Ärzte. Obwohl es in der merkantilistischen Epoche des 17. und 18. Jahrhunderts bereits erste Vorschläge für Armenkassen oder Kinder-Wohlfahrtskassen gegeben hatte, griffen hier Politik und ihre juristischen Berater vor allem auf Modelle zurück, die sich seit Ende des 17. Jahrhunderts im Bergbau, im Handwerk und später im Fabrikwesen als Selbsthilfeinitiativen etabliert hatten. Die tatsächliche Ausgestaltung der Leistungen der aufblühenden Krankenkassen im Deutschen Reich wurde allerdings nach dem Ersten Weltkrieg deutlich von Konzepten und Vorschlägen ärztlicher Berater, nicht zuletzt aus dem sozialhygienischen Bereich beeinflusst (Schwartz 2006). 5. Die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute Wenige ideelle und wissenschaftliche Innovationen haben zunächst nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche gesundheitspolitische Debatte der 50er Jahre bereichert. Weder in von den Westmächten dominierten Zonen Westdeutschlands (Ellerbrock 2002) noch in der Sowjetischen Besatzungszone (Schagen 2002) setzten sich neue, eigene oder aus dem Ausland importierte gesundheitspolitische Ideen durch. Die im Bereich des sowjetisch verwalteten Teil Deutschlands geförderten „neuen“ institutionellen Versorgungsformen, die „Polikliniken“, griffen Ideen der Arbeiterparteien der Weimarer Republik auf. Sie verschwanden nach dem Ende der DDR 1989 zunächst fast völlig, werden jedoch seit dem „Gesundheitsmodernisierungsgesetz“ (2003) als „medizinische Versorgungszentren“ in modifizierter Form wieder gefördert. Die westdeutsche Debatte war dagegen nach negativ geprägten Erfahrungen mit Institutionen öffentlicher Gesundheit in der nationalsozialistischen Epoche und unter dem Ansturm tausender aus den deutschen Heeren zurückkehrender Ärzte und Hilfsärzte von dem Konzept einzelärztlicher Praxistätigkeit und der professionellen Selbststeuerung durch ihre Verbände und Körperschaften (Ärztekammern und Kassenärztliche Vereinigungen) bestimmt. Ideologisch domi-

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nierten hier individuelle Freiheit und der freie medizinische Beruf als Leitidee (Deneke 1985). Wichtige importierte gesundheitspolitische Innovationen waren seit Mitte der 70er Jahre das Konzept der Entinstitutionalisierung der großen Anstaltspsychiatrien und etwa zeitgleich (Kritisch zur Reichweite dieser Debatte: Henkel D./ Roer D. 1976) die vor allem prospektiv wichtige These der „Entmedikalisierung“ in der Medizin (Illich 4. A. 1995). Letztere verband sich mit einem erstmaligen starken Plädoyer für ein nicht mehr allein vom Leitberuf der Ärzte dominiertes sondern von Patienten und Bürgern selbst gestaltetes „Gesundheitswesen“. Derselben Leitidee entstammt auch das gegenwartsbestimmende Konzept des „Empowerments“ von Bürgern und Patienten im Gesundheitswesen, in Deutschland zunächst vor allem mit einer neuen Auffassung von Prävention und ihrem neuen Leitbegriff „Gesundheitsförderung“ verbunden (OttawaCharta WHO 1986). Diese neuen Leitideen lassen sich in langfristige gesellschaftliche Entwicklungen der westlichen Industriegesellschaften einordnen, in denen sich privatwirtschaftlich dominierte Waren- und Dienstleistungswelten zu Lasten der traditionellen öffentlichen Sektoren ausweiten und in denen zugleich der Konsument zur umworbenen zentralen Figur wird (Schwartz 2004). Kein normatives, sondern technokratisch-methodisches Konstrukt ist das in der Gegenwart wichtig gewordene, aus England und Kanada (Sackett 1999) übernommene Konzept der „Evidenz-basierten Medizin (EBM)“. Dieses, der klinischen Epidemiologie entstammende, inzwischen auch mit gesundheitsökonomischen Maximen verknüpfte Konzept ist tragende Idee für die wachsende Kultur der „Leitlinien“ ärztlicher Versorgung, ebenso von sog. „Clinical Pathways“ oder „Disease Management Programmen“ (Perleth et al. 1999). Es ist auch methodologisches Leitbild für die Tätigkeit des nach 2000 in Deutschland geschaffenen „Gemeinsamen Bundesausschusses“ als zentralem oberstem Entscheidungsorgan von Krankenkassen und Leistungserbringern für Leistungen und Methoden einschließlich des dazu gehörigen „Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin“. Als zunächst eher fachlich-methodisch inspiriert, aber in ihren Auswirkungen ebenso praktisch wie politisch wirksam, ist die Integration von Verhaltenswissenschaften und Psychologie in der Medizin einzuschätzen. Dies gilt nicht nur in den klassischen Bereichen der Gesundheitsedukation und verhaltensabhängigen Prävention sondern in schulmedizinischen Kernbereichen selbst (vgl. z. B. Jordan et al. 2000–2003). Diese Entwicklung unterstützt eine bis dato nicht gekannte und geförderte Selbstverantwortung von Bürgern und Patienten für ihre Gesundheit wie für ihre Gesundung nach Krankheit. Aus der angelsächsischen Betriebswirtschaft stammt ein Bündel neuer Leitideen, mit dem die Rezeption von i. W. amerikanischen Organisationsmanagement-, Führungs- und Finanzierungskonzepten im Gesundheitswesen unter dem

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Begriff „Managed Care“ umschrieben werden. Damit werden Grundsätze und Verfahren sowie ökonomische Anreiz- und Verhaltensmodelle, die aus nichtmedizinischen Produktions- und Dienstleistungsbereichen stammen, auf die Dienstleistungen des Gesundheitswesens übertragen (Kongstvedt 1996, Amelung/ Schuhmacher 2006). Einflüsse aus Ökonomie und Management prägen heute das aktuelle Leitbild einer expliziten und expansiven „Gesundheitswirtschaft“ als zentralem Motor für neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wachstum (Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Sondergutachten 1996/ 1997 und Hamburgisches Weltwirtschaftsinstitut 2006). Auch dies trägt zu einer Wandlung der Arztberufe und anderer zentraler Gesundheitsberufe i. S. von „Dienstleistungsberufen“ ohne überhöhte Sonderrolle bei und gleichzeitig zur Wandlung der Denkfigur vom weitgehend „passiven Patienten“ hin zu einem mitentscheidenden Kunden und ebenso zu einem Aufstieg von Ökonomen und Administratoren zu neuen Leitberufen im Gesundheitswesen. Alle letztgenannte Entwicklungen, haben das Tempo, den Detailreichtum und die methodischen, technischen und ökonomischen Anforderungen gesundheitspolitischer Beratungsaufgaben der Gegenwart vorangetrieben, und sind zugleich von den überkommenen normativen Positionen der traditionellen medizinischen Leitberufe (Ärzte) eher entfernt.

6. Zusammenfassung Wir begegnen im gesundheitspolitischen Beratungsschrifttum des 16. bis 18. Jahrhundert Ordnungs- und Handlungsideen, die ihre normative Sicht religiös oder naturrechtlich-philosophisch begründen oder aus ökonomisch-utilitaristischen Zweckbetrachtungen abgeleitet werden. Diese Begründungen werden seit dem 18. Jahrhundert mit der Idee des Staates als mit der Vorstellung eines supremen Staatszweckes als einziger letzter Legitimation oder eines freien Gesellschaftsvertrages für den höchsten Nutzen aller Individuen verbunden. Es folgen die im weiteren 19. Jahrhundert entfalteten liberalen Überlegungen der Sicherung von Wohlstand und Freiheit des einzelnen Individuums als obersten Zweck, dem nur wenige Verpflichtungen und Einschränkungen durch den Staat einschränkend gegenüberstehen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts führte parallel zu der von wenigen Ärzten (Virchow und Neumann) mitgeprägten Armutsdebatte das rasche wissenschaftliche und technische Aufblühen von Physik und Chemie zum Aufbau und Leitbild einer umfassenden hygienetechnischen Infrastruktur, als einem gewissermaßen technologischen Zugriff auf sozial bedingte und mitbedingte Ursachen von Erkrankungen. Die sozial- und gesundheitspolitisch überaus weitreichend und nachhaltig wirkende Innovation einer reichsweiten Krankenversicherung im

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Deutschen Reich am Ende des Jahrhunderts entsprang nicht einer Beratungsinitiative durch Ärzte, sondern innenpolitischem Kalkül. Wenige ideelle und wissenschaftliche Innovationen haben zunächst nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche gesundheitspolitische Debatte der 50er Jahre bereichert. Ideologisch dominierten in Westdeutschland die Leitideen der individuelle Freiheit und der freien medizinischen Berufe und prägten nachhaltig Struktur und Selbstverständnis der Versorgung. In Ostdeutschland dominierten mit Polikliniken und Dispensaire-Einrichtungen Ideen der kommunalen Arbeiterfürsorge der Weimarer Zeit. Einflüsse aus Ökonomie und Management prägen heute das aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Leitbild einer expansiven „Gesundheitswirtschaft“ mit weitreichenden Auswirkungen auf die Struktur der zunehmend wettbewerblich orientierten und mit privatem Kapitaleinsatz betriebenen Versorgungseinrichtungen, ebenso auf die Rolle und Funktion der Gesundheitsberufe und die der Gesundheitskonsumenten. Im gesamten fünfhundertjährigen Betrachtungszeitraum werden in der gesundheitspolitischen Beratungsliteratur die gewählten ideellen Konzeptionen und die vorgeschlagenen Maßnahmen staatlicher oder privater Gesundheitssicherung im Wesentlichen passend zu den jeweils vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen Strukturen und den diese begleitenden Leitideen hergeleitet. Nicht die Ärzte begründen deshalb in der Regel neue Versorgungs-Leitbilder, sondern die politischen und ökonomischen Verhältnisse sind prägend, und fast immer geben philosophische, ökonomische und staatsrechtliche Theoretiker den Ärzten Ziel und Rahmen vor. Seit dem mittleren 19. und im 20. und 21. Jahrhundert begegnen wir aber ergänzend naturwissenschaftlichen oder wissensmethodischen Konstrukten von Ärzten, deren theoretische und praktische Implikationen ihrerseits prägend auf die normativen Kulturen ihrer Zeit und die gesundheitspolitische Beratungsliteratur wirken.

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Wirtschaftsethik als Entlastung und Irritation Zur gesellschaftlichen Funktion wirtschaftsethischer Appelle F. Paul Pavelka

1. Ansprüche und Grenzen sozialtechnologischer Generalkompetenz In Fällen von tragical choice, in Situationen also, in denen man es nur falsch machen kann, gleichviel welche Entscheidungsoption man selektiert, manifestiert sich die Begründungsrelativität von Ethik, indem sie immer nur für den idealtypisch engagierten Protagonisten nicht aber für den Beobachter und eben auch nicht für den zwischen konfligierenden Werten vor Entscheidungen gestellten Handelnden Kriterien für eine eindeutige, nicht-ambivalente Bewertung von Handlungsmotiven und -konsequenzen bereitzustellen scheint. Die argumentative Elastizität von Ethik ermöglicht es, eine beliebige Entscheidung wie auch ihr Gegenteil plausibel darzustellen. Schon auf einer alltäglichen Erfahrungsebene zeigt sich dies, etwa wenn „der eine Ungleichheiten (zum Beispiel in der Gewährung von Krediten) rechtfertigt, weil sich dies aus der Funktionslogik des Wirtschaftssystems ergibt und anders eine bestmögliche Ausnutzung wirtschaftlicher Ressourcen zur Bedarfsdeckung (Wohlstand) nicht erreichbar ist; der andere ist dagegen, weil auf diese Weise derjenige keine Kredite bekommt, der es am nötigsten hat.“ (Luhmann, 1998) Für den bei einer Bank angestellten Kundenberater, der sich in seiner persönlichen Lebensführung karitativen Werten verpflichtet fühlt, mag dies ein immer wiederkehrendes Dilemma bedeuten, dass die Rationalität der beruflich zu verantwortenden Entscheidung in Widerspruch zu den stillen Appellen seiner moralischen Bindungen gerät. Deshalb wird der mit einer solchen kognitiven Dissonanz belastete Betroffene, insbesondere wenn er schon auf dem Sprung ins mittlere Management ist, möglicherweise psychische Entlastung dadurch erfahren, dass er bei einem Weekend-Seminar mit ethisch-ganzheitlichen Meditationsübungen die Verspannungen löst. Da Ethik, in der Ambivalenz ihrer Argumentationsmuster, auch kontroversielle Standpunkte in der Weise zulässt, dass sich unter dem Pretext einer um das Gute bemühten Kommunikation jeder als moralischer Sieger begreifen kann, ist es verständlich, dass in Zeiten und unter Bedingungen permanent anhaltender Belastungen, wie sie die Funktionssysteme

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der modernen Gesellschaft charakterisieren, diese Veranstaltungen immer besser gebucht und besucht werden, wenngleich für manche vielleicht immer noch die Sonntagsmesse ausreicht. Bemerkenswerterweise scheint sich jedoch gegenwärtig ein Konzept von Ethik zu etablieren, das in erster Linie auf den Erwerb von sozialtechnologischen Fertigkeiten abstellt. Dies demonstrieren die Empfehlungen spezialisierter Ethik-Experten, die in einer komprimierten Zusammenfassung auflisten, womit derjenige sich auseinandersetzen müsse, der sich mit Ethik ernsthaft befasse. Er müsse sich darauf verstehen, „die Regeln des Argumentierens zu kennen und ihre Wertungen argumentativ darlegen zu können“, er sollte in der Lage sein, „Wertbehauptungen zu prüfen und sich begründet anzuschließen bzw. zu distanzieren“, aber auch, „das Beobachten, Beurteilen und Diskutieren abzubrechen und zu entscheiden“, ferner, „die Folgen des beruflichen Handelns in der natürlichen und sozialen Umwelt so weit wie möglich abzuschätzen“, darüber hinaus sollte er fähig sein, „im beruflichen Handeln Freiräume zu erkennen bzw. zu schaffen und zu gestalten“, aber auch, „ein Bewusstsein von der Entstehungsgeschichte gegenwärtiger Problemstellungen zu haben“, freilich auch, „die Grundstrukturen der modernen Gesellschaft und die Funktionsweisen der berufsrelevanten sozialen Systeme zu kennen“, nicht zuletzt sollte er, „die für die jeweiligen Problembereiche existierenden Institutionen kennen und nutzen können“, fürderhin, „mit angrenzenden wissenschaftlichen Disziplinen kommunizieren und kooperieren können“, im Weiteren sollte er aber auch noch in der Lage sein, „sich mit gesellschaftlichen Gruppen zu verständigen, die von den Folgen des beruflichen Handelns betroffen sind“, sowie selbstredend die Fertigkeit entwickeln, „die Methoden der Ethik und Technikfolgenabschätzung zu kennen und sie im Berufsfeld anzuwenden“, gewiss auch noch die Fähigkeit besitzen, „Interessenkonflikte zu erkennen, zu moderieren und zu deren Lösung bzw. zu einem Konsens oder Kompromiss beitragen zu können“ und zu guter Letzt endlich auch noch, „die Grundgedanken nachhaltiger Entwicklung verstanden haben und Nachhaltigkeitspotentiale der Fachausbildung und des Berufsfeldes erkennen können“ (Ethikbeauftragte, 1999). Konfrontiert mit einer derartigen Fülle von Vorhaben könnte man geneigt sein sarkastischen Beobachtern der Szene zuzustimmen, die meinen, dass es sich bei Ethik möglicherweise um jene spezifische Krankheit handelt, für deren Therapie sie gehalten wird. Man stelle sich nur vor, wie sich eine auch nur halbwegs bemühte Beachtung solcher Empfehlungen, ja eigentlich Zumutungen, auf die Berufsausübung von Supermarktkassiererinnen, Taxilenkern, Bankangestellten, Friseurinnen, Ministerialdirektoren, Pastoren usw. auswirken würde! Die Folgen wären denen eines Generalstreiks vergleichbar, das öffentliche Leben würde ethischer Vorbehalte wegen zusammenbrechen. Dies bedenkend darf man vermuten, dass Ethik als Konglomerat verschiedenster para-wissenschaftlicher Sozialtechniken in erster Linie wohl nur das Bedürfnis nach rational an-

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mutender Behandlung gesellschaftlich verorteter Widersprüchlichkeiten bedient. In einer funktional differenzierten, arbeitsteilig organisierten Gesellschaft bildet sich deshalb eine für Ethik zuständige Profession heraus, die sich als eigenständiges Business etabliert, um die, z. T. selbst gesteuerte, Nachfrage spezifischer Klientengruppen nach derartigen Dienstleistungen abzudecken, eventuell sogar zu befriedigen. Seltsamerweise treten in der zitierten Auflistung von Sozialtechniken die traditionellen Hauptanliegen von Ethik zurück, die sich als jene Disziplin verstand, „die Begriffe, Probleme und Theorien des Guten untersucht und Konzeptionen des guten Handelns und guten Lebens vernünftig begründet. Hauptaufgaben der Ethik sind“, so die tradierte Sichtweise, „die herrschende Moral kritisch zu untersuchen und Grundsätze des guten und gerechten Handelns aufzustellen und zu rechtfertigen.“ (Lenk/Ropohl, 1987) Jedenfalls ist eine geradezu epidemieartige Verbreitung des Phänomens zu konstatieren, denn im Wirtschaftsleben, bei politischen Entscheidungen, für die Praxis der Massenmedien, in ökologischen Fragen, bei medizinischen Problemen, für den Bereich von Kunst und Kultur, und nicht zuletzt für Anliegen sozialverträglicher Verteilungsgerechtigkeit wie auch für die Bewältigung von benachteiligenden Lebenslagen angesichts krasser Wohlstandsunterschiede wird heute überall nach Ethik verlangt. Man kann geradezu von einem boomenden Ethik-Business sprechen, denkt man nur an die schier unüberblickbar große Zahl von Seminaren, Tagungen, Weiterbildungskursen, wissenschaftlichen und wissenschaftsjournalistischen Publikationen zu den verschiedensten Aspekten von Ethik sowie an die Einrichtung zahlreicher Professuren für Wirtschaftsethik, die Ernennung von spezialisierten Ethik-Beauftragten, die Etablierung von Ethik-Kommissionen, sowie das appointment von Ethic Officers, die agenda von Ethic Trainings und das establishment von Ethics Hot Lines in den Unternehmen internationaler Konzerne. Das Ethik-Business als Organisation jener der Ethik zuschreibbaren Entlastungsfunktion richtet sich auf diese Weise parasitär an der Peripherie der gesellschaftlichen Funktionssysteme ein. Aber, so stellt es sich aus der Sicht einer mit diesen zeitgeistigen Strömungen inkongruenten Beobachtung dar, „von Ethik spricht man, um die Illusion zu pflegen, es gebe für diese Fälle vernünftig begründbare und praktikable Entscheidungsregeln. In Wirklichkeit hat diese Ethik jedoch die Funktion einer Utopie. Unter dem Namen Ethik schafft die Gesellschaft sich die Möglichkeit auf honorige Weise (über moralische Schwächen) zu reden.“ (Luhmann, 1998) Darüber hinaus wird in Hinblick auf die Komplexität der Probleme, wie sie in den verschiedensten gesellschaftlichen Bezügen zu Tage tritt, konstatiert, „wenn demgegenüber heute ethische Bedenken diskutiert werden, ist das in fast lächerlicher Weise inadäquat. Nüchtern gesehen: der Ethik-Tank ist, wenn es so

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etwas überhaupt noch gibt, nicht groß genug, um ethische Gesinnung an all die moralischen Schwachstellen unserer Gesellschaft zu leiten!“ (Luhmann, 1992) Ein nicht unwesentlicher Grund für das Scheitern von Ethik beim Versuch, problematische und tabuisierte Grenzbereiche in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik etc. zu regulieren, liegt darin, dass es in modernen Gesellschaften keine Festlegungen gibt, welche Kriterien einer Gesinnungsethik kollektiv verbindlich als Konsens zu gelten hätten. Mangels der Vorhersehbarkeit von Handlungsfolgen in hochkomplexen Entscheidungssituationen sind aber auch einer Verantwortungsethik entschieden enge Grenze gesetzt. Darüber hinaus wendet sich Ethik „mit welchen Begründungen immer an individuelle Entscheider“, aber daraus folgt in Hinblick auf kollektiv durchsetzbare Maßnahmen nichts, denn „davon gibt es so viele, die gleichzeitig entscheiden (und noch mehr, wenn man mit Zeitdistanzen multipliziert), dass nicht recht zu sehen ist, wie eine soziale Koordination zustande kommen könnte. Wenn die Ethik zum Beispiel Verzicht auf ein gewohntes Konsumniveau im Interesse der Umwelt oder im Interesse gerechter weltweiter Verteilungen verlangt, ist nicht zu sehen, wie dieses Ziel über individuelle Motivierung erreicht werden soll.“ (Luhmann, 1998) Im Unterschied zu rechtlich fixierten Normen, deren Durchsetzbarkeit, sofern sie korruptionsfrei gehandhabt werden, institutionell garantiert ist, bleiben ethische Postulate ihres lediglich appellativen Charakters wegen den Beliebigkeiten individueller Entscheidungen überlassen, ohne kollektiv bindende Festlegungen herbeiführen zu können. Es gibt sogar Anlass zur Vermutung, dass eine derartige Forcierung ethisch etikettierter, rechtlich nicht bindender, sozial nicht koordinierbarer Appelle die Etablierung kollektiv erzwingbarer Regelungen geradezu behindern kann. Gerade deshalb eignet sich Ethik zur Ausübung einer Entlastungsfunktion an der Peripherie der gesellschaftlichen Funktionssysteme, aber eben nicht in deren Entscheidungszentren. Paradoxerweise könnte, einer solchen Kritik zum Trotz, der eigentliche Grund für den deutlich sichtbaren Erfolg der mit dem Markenzeichen Ethik etikettierten Initiativen und Projekte darin liegen, dass gerade diese Schwächen als Potentiale wahrgenommen werden. In pluralistischen Gesellschaften, in denen Wertekonflikte für einen öffentlichen Diskurs zugelassen sind, wird Ethik nicht nur deshalb vermehrt nachgefragt, weil ein kaum hinterfragter Konsens die öffentliche Meinung prägt, dass es nicht schlecht sein könne, wenn man für das Gute sei, zumal es unentscheidbar bleibt, ob „es gut oder schlecht ist, wenn man zwischen gut oder schlecht unterscheidet“ (Luhmann, 1993), sondern auch wesentlich deshalb, weil, obwohl oftmals übersehen, die selbstreferentielle Zuordnung zum Guten nicht ausschließt, dass man in der Fremdreferenz auf der anderen Seite der Unterscheidung verortet wird. Dies zeigt sich beispielsweise in den Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern

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und Gegnern der Globalisierung, bei denen sich die Protagonisten beider Positionen auf der Seite des Guten wähnen, um den Kontrahenten gleichermaßen die Folgen ihres Handelns als Negativum zuzurechnen. Dieser Zusammenhang verweist übrigens auf die schon klassisch gewordene Darstellung, dass „die Möglichkeit einer normativen Ethik dadurch in Frage gestellt (wird), dass neben ihr andere Wertsphären bestehen, deren Werte unter Umständen nur der realisieren kann, welcher ethische Schuld auf sich nimmt“ (Weber, 1968).

2. Wirtschaftsethik im Raubtierkapitalismus Im Funktionssystem Wirtschaft wird dies umso deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Verschärfung der Rahmenbedingungen das wirtschaftliche Handeln in der modernen Gesellschaft charakterisiert. Der Platz von Wirtschaftsethik bestimmt sich vor dem Hintergrund, dass der Entscheidungsdruck in den Unternehmen erheblich erhöht wurde und insgesamt zu einer signifikanten Leistungsverdichtung geführt hat. Dieser Prozess läuft mit enormer Beschleunigung ab, wobei die Parameter auf einen intensiven, dynamischen, erbitterten und brutalen Wettbewerb umgestellt werden, in dem es darum geht, die Konkurrenten vom Markt zu verdrängen. Berühmt-berüchtigt wurde in diesem Zusammenhang der Ausspruch, dass „nicht der Große den Kleinen frisst, sondern der Schnelle den Langsamen.“ Kommentatoren aus dem Funktionssystem Politik verurteilen dies zwar als einen „Raubtier-Kapitalismus“ oder gar als einen „Neo-Spät-Turbo-Kapitalismus“, ohne dem globalisierten Wettbewerb Signifikantes entgegensetzen zu können, zumal sich die Wettbewerbsintensität als Konsequenz von Produkt- und Verfahrensinnovationen, durch laufende Optimierung der Kommunikationsinfrastruktur wie auch durch eine Angleichung wirtschaftspolitischer und rechtlicher Rahmenbedingungen enorm verschärft. Die fortschreitende Sättigung der Absatzmärkte und die zunehmende Unberechenbarkeit des Nachfrageverhaltens tun ein Übriges, dass sich die Wettbewerbsbedingungen zuspitzen. Für die Managements der Unternehmen stellt sich daher unabweisbar die Aufgabe, durch rasche Produktinnovation, durch risikoreiche Marktentscheidungen und durch ständige Maßnahmen zur Senkung von Kosten, d.h. häufig auch durch Reduzierung von Personalkosten, die Wettbewerbsposition zu stärken. Mehr denn je entscheidend ist es deshalb, „Materialkosten, Geldkosten und Arbeitskosten schlicht zu bilanzieren, um zu sehen, ob und wie ein Unternehmen unter gegebenen Marktbedingungen rentabel geführt werden kann. Aber wie, um Himmels willen, soll man dies nun mit Ethik korrigieren? Durch Einfügung eines Sonderkontos Ethik in die Bilanz?“ (Luhmann, 1993) Managementgurus pflegen cool zu kommentieren, dass Ethik niemanden stört, wenn die Performance stimmt, denn im Kontext einer Entlastungsfunktion

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suggerieren gängige Konzepte von Wirtschaftsethik einen feel-good-Faktor, wonach man gutes Geld mit gutem Gewissen machen könne. Offen bleibt dabei, ob programmatisch-wirtschaftsethische Vorhaben ihre Wirkungen in der intendierten Weise zu entfalten vermögen. Kurioserweise müssen sogar gegengerichtete Wirkungsverläufe in Rechnung gestellt werden, wenn etwa gerade jene Unternehmen als ethisch besonders sensitiv wahrgenommen werden, die sich signifikant geringer für eine interne Implementierung ethisch orientierter Werthaltungen engagieren. Dass derartige Gegebenheiten gewissermaßen zynische Reflexionen auszulösen vermögen, sollte nicht verwundern. Denn, wenn auch die Zahl jener Unternehmen zunimmt, die sich aus einem Mix von Begründungskalkülen demonstrativ zur Einhaltung, rechtlich jedenfalls nicht verbindlich fixierter, Codes of Ethics verpflichten, so erweisen sich doch häufig eine opportunistische Situationsorientierung, ein individualisiertes Nützlichkeitsethos verbunden mit einer negativen Grenzmoral als Dispositionen, die sich mit den im wirtschaftlichen Wettbewerb geforderten Verhaltensweisen als besonders kompatibel erweisen. Insbesondere mittlere Manager, in ihrem Mittelstufendasein zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, deren Aufgabe immer schon darin bestand, ihre Kommunikationsnetzwerke nach oben und nach unten je nach Situation zu trennen und wieder zusammenzufügen, beides im Sinn einer Reduktion von Komplexität, erleben unter den genannten Bedingungen der Leistungsverdichtung, Tempoerhöhung und Wettbewerbsverschärfung, dass sich ihre sozialtechnologisch konzipierten Kontroll- und Planungsfunktionen schlicht als Illusion erweisen. Typischerweise gewinnen daher in den, auch innerbetrieblich härter gewordenen Karrierewettbewerben jene Manager, die verstanden haben, dass Evolution wichtiger ist als Planung. Erfolgreiche Manager beobachten, wo sich bei der enorm gesteigerten Komplexität von Arbeitsabläufen und Kommunikationsverläufen Erwartungen nicht erfüllen, wo die, als Folge der Verschlankung der Strukturen, an die Mitarbeiter weitergeleiteten Kompetenzen und Erfolgszuständigkeiten Risse in den Abläufen verursachen und wo sich welche Variationen von Alternativlösungen für die Selektion zur Fortführung als geeignet erweisen, schließlich auch wo dies für die eigene Position sinnvoll oder gefährlich erscheint, um dann zu entscheiden, welche Tendenzen unterstützt oder verhindert werden sollen.

3. Nützlichkeitsethos und Grenzmoral Hierbei scheinen gewisse Faustregeln für karrierebewusste Manager zu gelten. Im Wesentlichen meinen nur wenige, dass schäbiges Verhalten in ihrem Unternehmen ein Karrierehemmschuh sei. Hingegen wird geradezu eine tendenzielle Kontraproduktivität ethisch orientierten Handelns beklagt; „wenn ich

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irgendetwas begriff, dann das: mit aufrechter Haltung würde ich mich in Schwierigkeiten bringen. Die Leute würden mich als Moralapostel ansehen. Und irgendjemand würde dann versuchen, mich hinauszudrängen.“ (Badaracco/ Webb, 1996) Eine ständig um den Konflikt zwischen Unternehmensloyalität und Verantwortung zur Aufdeckung unethischer Praktiken von Unternehmen kreisende Diskussion scheint sich indes irgendwo selbst ad absurdum zu führen; jedenfalls verfangen sich Ratschläge nicht selten in den Fußangeln der aktuellen und spezifischen Situation, die es zu bedenken gelte, bevor man eine Entscheidung fällen könne, denn offenbar hat sich ein „individualistisches Nützlichkeitsethos (durchgesetzt, das) darauf gerichtet (ist), das ökonomisch Mögliche und das psychologisch Akzeptable zusammentreffen zu lassen.“ (Bellah/Madsen/Sullivan, 1987) Traditionelle Werthaltungen „bei Führungskräften werden durch eine opportunistische Situationsorientierung abgelöst, die sich keinen als verbindlich erachteten normativen Kriterien verpflichtet fühlt, sondern dem Diktat der Prosperität und der ökonomistischen Logik gehorchen.“ (Kaufmann/Kerber/Zulehner, 1986) Es ist wohl kein Zufall, dass die Themen Ethik und Mobbing seit Beginn der 1990er-Jahre erhebliche Marktanteile in der sozialwissenschaftlichen Publizistik gewonnen haben, vielmehr reflektiert sich darin ein spezifischer Konnex und inhärenter Zusammenhang. Die Dynamik und die Methodik des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen bleiben diesen nicht äußerlich, sondern werden gleichsam in sie hineinkopiert, und lösen in ihren internen Abläufen systematisch Irritationen aus, die sich einerseits als latentes Aggressionspotential verfestigen, andererseits aber auch ganz massiv manifestiert als Mobbing in Erscheinung treten. Aus dieser Perspektive gesehen ist Mobbing als Phänomen auf der betrieblichen Ebene durchaus nicht als bloßer Betriebsunfall zu werten, dessen Folgen man mit sozialtechnologischen Maßnahmen reparieren und dessen Genese man antizipativ im betrieblichen Vorfeld auffangen könnte, zumal empirisch vielfach bestätigt gilt, dass „jeder Wettbewerbswirtschaft qua Funktionsmechanismus die Gefahr der Erosion von Moralstandards inhärent ist.“ (Steinmann/Löhr, 1994) Dennoch pflegt man die Illusion, dass man der Pathogenese dieser Manifestationen des Verdrängungswettbewerbs durch Ethik Herr werden könne, obwohl „seit langem Sozialökonomen den Systemcharakter einer kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft analysiert (haben), deren institutionalisiertes Regelsystem den Akteuren – etwa den Unternehmen bzw. den Unternehmensführungen – kaum Spielraum für eine ethische Reflexion und Regulierung ihres Verhaltens lässt, sondern dieses Verhalten sachzwanghaft determiniert.“ (Katterle, 1988) Gerade darin aber könnte sich paradoxerweise gleichzeitig eine Entlastungsfunktion sui generis entfalten, denn der „systematische Ort der Moral in einer

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Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung“, deshalb könne man beobachten, dass „die Effizienz in den Spielzügen, die Moral in den Spielregeln“ läge (Homann/ Blome-Drees, 1992). Gegen diese Auffassung wird zwar eingewendet, dass der Versuch der strikten Lokalisierung der Moral in der Rahmenordnung und die restlose Entlastung der Wirtschaftssubjekte von Moralzumutungen zusammenbreche, da dies bedeuten würde, dass „die Subjekte ihre Willensfreiheit gleichsam in der Garderobe“ ablegen würden. Die Sachzwangproblematik wirtschaftsethisch ernst zu nehmen hieße, „sich nicht mit einem Reflexionsstopp vor den vorgefundenen empirischen Bedingungen der Selbstbehauptung jedes Wettbewerbsteilnehmers zu begnügen, sondern dem sich naturwüchsig entfaltenden Eigensinn der ökonomischen Systemdynamik beharrlich auf den dahinter liegenden normativen Grund zu leuchten und ihn ethisch – kritischer Argumentation zugänglich zu machen.“ (Ulrich, 2005) Diese Forderung verbindet sich mit der Vorstellung, dass es einen Primat der Politik vor der Logik des Marktes geben müsse, wobei dieser Appell allerdings übersieht, dass die einzelnen Funktionssysteme moderner Gesellschaften, so auch das Wirtschaftssystem und das politische System, sich immer weiter ausdifferenzieren und tendenziell entkoppeln. Nimmt man nur die unter dem Stichwort Wirtschaftsstandort subsummierbaren wirtschaftspolitischen Maßnahmen, so ist empirisch evident, dass die Funktionsmechanismen des Wirtschaftssystems ganz erheblich mehr Irritation im politischen System zu erzeugen vermögen, als dies umgekehrt zutrifft, sodass nicht zu sehen ist, wie Politik eine ethisch begründete Bändigung des Wirtschaftssystems leisten könnte.

4. Irritation und Unirritierbarkeit Die der soziologischen Systemtheorie adäquate Analysemethode versucht stets zu eruieren, welche Bedeutung den beobachteten Phänomenen zukommt, sie geht grundsätzlich davon aus, dass immer dann, wenn etwas der Fall ist, auch etwas anderes dahintersteckt. Eine so anvisierte Deutung der hier schlaglichtartig herausgehobenen Aspekte wirtschaftsethisch relevanter Entwicklungen führt zu der These, dass es sich bei den unter dem Etikett Wirtschafts- bzw. Unternehmensethik angebotenen Dienstleistungen um einen Markt handelt, dessen Entwicklung von zwei Momenten bestimmt ist. Akzeptiert man erstens, dass das Funktionssystem der Wirtschaft seiner eigenen Logik zufolge zumindest nicht ausschließen kann, dass der einem Unternehmen zurechenbare Erfolg wirtschaftlicher Tätigkeit auf Kosten anderer Teilnehmer erzielt wird, so gerät jede ethische Forderung zur Irritation, die verlangen möchte, dass moralisch richtiges Handeln grundsätzlich die Realisierung

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des eigenen Vorteils nicht für zulässig erachtet, sofern sich dies zuungunsten anderer auswirkt. Im Verdrängungswettbewerb stellen sich ethisch orientierte Appelle als Irritationen des wirtschaftlichen Funktionsmechanismus dar, denn die immer stärker wirksam werdende Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme führt dazu, dass sich die jeweils geltende Systemlogik immer kompromissloser, sozusagen ohne Abfederung durchsetzt. Im hier besonders interessierenden Fall des Funktionssystems Wirtschaft gilt unter sich verschärfenden Wettbewerbsbedingungen, dass die das System erhaltenden Basisvorgänge gleichsam in der direktesten Form forciert werden. Insbesondere Aspekte sozialer Elastizität spielen als unerwünschte Kosten eine tendenziell höchstens noch marginalisierte Rolle. Damit aber irritiert das Wirtschaftssystem in extremer Weise seine soziale Umwelt und generiert eine sprunghaft ansteigende Nachfrage nach kompensierenden Dienstleistungen einer Branche, für die sich, wie referiert, Ethik als Sammelbegriff durchgesetzt hat. Denkbar wäre ja auch im Sinn eines funktionalen Äquivalents, dass sich die entstehende Nachfrage gleich direkt an das Funktionssystem des Rechts richten würde, doch bleibt es offen, ob ethisch argumentierte Forderungen im zeitlichen Abstand in der Tat zu rechtlich fixierten Normen führen oder ob sie, ganz im Gegenteil, deren Herausbildung eher behindern. Im Gegenlicht, gleichsam von der Angebotsseite her gesehen, gewinnt in einer säkularisierten Gesellschaft, in der die Funktion der Religion von Disziplinierung auf Entlastung umgestellt wird, eine sich mit dem Funktionssystem der Wissenschaft verbündende und vom Funktionssystem der Massenmedien in Szene gesetzte organisierte Anstrengung unter dem Terminus Ethik als mehr oder weniger systematische Moralreflexion und als Konglomerat unterschiedlicher sozialtechnologisch orientierter Verfahren prominente Bedeutung. Wenn es schon keine traditionellen Segnungen und Weihen gibt, so übernehmen mit Prestige ausgestattete Veranstaltungen verschiedenster Anbieter von Ethikdienstleistungen die Funktion, sich in Ritualen des Guten mit gebotener Feierlichkeit zu versichern, dass man im Rahmen des Möglichen alles unternehmen möge, um den Grundwerten zur Geltung zu verhelfen; was immer dann darunter verstanden werden mag. Nicht unerwähnt soll allerdings bleiben, dass der Ethikmarkt nicht notwendigerweise auf die Nischen an der Peripherie des Wirtschaftssystems beschränkt bleiben muss, sondern über seine parasitäre Rolle hinaus eine Eigendynamik zu entwickeln vermag, die in der Tat irritierend in Unternehmensentscheidungen hineinwirkt. In den letzten Jahren haben sich dabei zwei Themenkreise als durchaus beachtenswert erwiesen. Zum einen geht es um die von Unternehmen aus verschiedenen Gründen wahrgenommene Notwendigkeit, sich eine Art von sozialem Touch zu geben.

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Für die darunter subsummierten Entwicklungen hat sich international die Bezeichnung Corporate Social Responsibility (CSR) durchgesetzt. Auf die normalen betrieblichen Abläufe aufsetzend konnten CSR-Kampagnen von manchen Unternehmen als ein neues Marketinginstrument implementiert werden, wobei die Versprechungen zur besonderen Beachtung der Einhaltung von Menschenrechten oder der Förderung umweltfreundlicher Techniken sich in der Regel einer wirksamen Überprüfung entziehen. Der zweite prominente Irritationspunkt ist das Reizthema Nachhaltigkeit, dem sich kaum ein Unternehmen bedeutender Größenordnung verweigern kann; und sei es auch nur deshalb, weil die erwartbaren Verluste, die durch Ignoranz oder bewusste Verweigerungshaltung entstünden, größer als die andernfalls erforderlichen Aufwendungen wären. In jedem Fall haben sich die Professionals unter den Ethikern mit großer Umsicht und strategischem Blick dafür, dass ein Appell an das ökologische Gewissen, ein Konstrukt der veröffentlichten Meinung, neue Geschäftsfelder öffnet, der Sache mit Empathie angenommen. „Ethik und nachhaltige Entwicklung“, „Nachhaltiges Wirtschaften und Umweltkommunikation im Unternehmen“, „Umweltethische Ausrichtung“, „sustainable development – das Zauberwort“, „Wege zur Nachhaltigkeit“, „Faszination Nachhaltigkeit“ und ähnlich plakative Slogans sind die Reizwörter in der Debatte einer irritierten Öffentlichkeit. Aber auch Betriebswirte ahnen die Möglichkeiten, dass die Umsetzung und der Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung, z. B. durch Öko-Zertifizierung, Verwendung erneuerbarer Ressourcen, Berücksichtigung von Umweltaspekten bereits bei der Entwicklung neuer Produkte und Verfahren, bei geschickter Vermarktung und Öffentlichkeitsarbeit zu Imageverbesserung und Umsatzsteigerung führen. Fraglos spricht vieles dafür, dass die von der ökologischen Ethikbewegung ausgehende Irritation das normale, gewohnheitsmäßig abgespulte Procedere von Unternehmensentscheidungen in einer Weise tangiert, dass bloß kosmetisch intendierte Maßnahmen traditioneller PR-Aktivitäten nicht ausreichen. Allerdings wird eine Bewertung des tatsächlichen impact berücksichtigen müssen, dass diese Wahrnehmungen ganz erheblich von z. T. extrem selektiven Informationsstrategien der Massenmedien geprägt sind. Bei all der Empathie, mit der derartige wirtschaftsethische Appelle in die Öffentlichkeit getragen werden, kann nicht übersehen werden, dass die Langfristigkeit kostenintensiver Investitionen in Verfolgung von CSR-Strategien und Nachhaltigkeitsgrundsätzen im Kontrast dazu steht, dass die Performance von bedeutenden Unternehmen sehr kurzfristig, oft an vierteljährlich zu publizierenden Berichten der Geschäftstätigkeit gemessen wird, und daher langfristig wirksame Unternehmensentscheidungen mit kurzfristigen und volatilen Präferenzen am Anlegermarkt zurecht kommen müssen. Fraglos begünstigt ein solches Dilemma den Trend, dass die Postulate von

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Nachhaltigkeit und CSR, auch mangels wirksamer Kontrollmöglichkeiten, zu Maßnahmen innovativen Marketings mutieren. Für die Handhabung dieser Überschüsse konfligierender Verhaltenserwartungen bieten sich keine eindeutigen Lösungen an, zumal es in modernen funktional differenzierten Gesellschaften weder Instanzen zentraler Steuerung noch stabile Muster der Koordination singulärer Handelnsoptionen gibt. Es liegt daher nahe, dass derartige Konstellationen Tendenzen zu kurzschlüssigen Auflösungen begünstigen, wobei es oft nur darum geht, „Unirritierbarkeit zu demonstrieren“. Dies zeigt sich nicht zuletzt im „Insistieren auf ethischen Prinzipien“, deren „Formulierungen lediglich als eine Art Blitzarbeiter dienen, die den Zorn am Haus vorbei in den Boden leiten, ohne viel Schaden anzurichten“ (Luhmann, 1994), denn „Bezugnahmen auf ethische Prinzipien oder unverzichtbare Werte mögen im alltäglichen Sprachgebrauch zunehmen und in den verschiedenartigsten Situationen, auch bei der Verkündung von Firmengrundsätzen Formulierungshilfe leisten. Wie die gerade anstehenden Probleme dann gelöst werden, ist eine andere Frage.“ (Luhmann, 1998)

Literaturverzeichnis Badaracco, J./Webb, A. (1996): Jungmanager: Der erste Spagat zwischen Karriere und Moral. Harvard Business Manager, 1, S. 91–105. Bellah, R./Madsen, R./Sullivan, W. (1987): Gewohnheiten des Herzens, Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft. Köln. Ethikbeauftragte an den Fachhochschulen des Landes Baden-Württemberg (1999): Empfehlungen der Konferenz der Ethikbeauftragten. EthikMagazin, 1, S. 47. Homann, K./Blome-Drees, F. (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen. Katterle, S. (1988): Ethische Aspekte des Verhaltens von Führungskräften öffentlicher und gemeinwirtschaftlicher Unternehmen. Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen, 4, S. 434 ff. Kaufmann, F. X./Kerber, W./Zulehner, P. M. (1986): Ethos und Religion bei Führungskräften, München. Lenk, H./Ropohl, G. (1987): Technik zwischen Können und Sollen. In: H. Lenk/G. Ropohl (Hrsg.), Technik und Ethik. Ditzingen. Luhmann, N. (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. – (1993): Wirtschaftsethik – als Ethik?. In: J. Wieland (Hrsg.), Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft (S. 134–147). Frankfurt/M. – (1994): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. – (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. Steinmann, H./Löhr, A. (1994): Grundlagen der Unternehmensethik. Stuttgart.

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Ulrich, P. (2005): Zivilisierte Marktwirtschaft – eine wirtschaftsethische Orientierung. Freiburg/Basel/Wien. Weber, M. (1968): Der Sinn der Wertfreiheit der Sozialwissenschaften. In M. Weber, Soziologie, Analysen, Politik (S. 263–310). Stuttgart.

Die normativen Volten der Funktionslogik – Von der funktionalistischen Umwertung der Werte Problemskizze und Anwendung Karl Ulrich Lippoth Es ist wichtig, dass man es zustande bringt, eine geschäftliche Vereinbarung nicht einzuhalten, wenn man sich den Sinn für die Schönheit des Lebens bewahren will. (Oscar Wilde)

In der jüngeren Zeit ist zu beobachten, dass Politik sich zunehmend am Leitbild einer professionalisierten „Guten Politik“ orientiert, etwa im Sinne von „best practise“. Die Vorstellung, die damit verknüpft ist, lässt sich auf das wissenschaftstheoretische Paradigma von Vorhersage und systematischer Manipulation der Ausgangsbedingungen im Versuch zurückführen. Damit soll weniger von einem gesellschaftspolitischen Wunschbild her auf die aktuelle Situation Einfluss genommen werden mit dem Ziel, diesem Wunschbild näher zu kommen, weil dieses ,alchemistische‘ Vorgehen vermeintlich unkalkulierbare Nebenwirkungen zeitigt. Vielmehr soll von der gesellschaftspolitischen Realität ausgehend Politik strategisch so angelegt werden, dass zwar auf ein gesellschaftspolitisches Leitbild hin gearbeitet wird, aber nur jeweils solche Schritte gewählt werden, die innerhalb des derzeitig Bestehenden begründbar sind. Gesellschaftliche Subsysteme, soweit identifizierbar, werden isoliert betrachtet und kontrolliert manipuliert gemäß der ihnen jeweils inhärenten System- oder Funktionslogik. Wo man aber nach Subsystemen differenziert, so soll hier gezeigt werden, mit dem Ziel, komplexe Zusammenhänge auch in Teilaspekten genauer zu verstehen und steuern zu können, muss jede universalistische Sichtweise notwendig primitiv werden, unabhängig davon, ob sie religiös oder rational-ethisch geprägt ist. Wie zweischneidig die Arbeit mit der Funktionslogik ist, lässt sich sehr deutlich zeigen am Beispiel der katholischen Soziallehre. Dort wird zwar das Bild einer auf Gott hin geordneten Welt entworfen, zugleich aber ein dem Evangelienwort „Dem Kaiser, was des Kaisers ist“ gedanktes Bekenntnis dazu abgegeben, dass „innerweltliche“ Systeme Eigengesetzlichkeiten unterliegen, über die Gott und Rom nicht befinden wollen. So gilt das Marktprinzip als insgesamt gottgewollt, insofern es Wohlstand garantiere, und entzieht sich so der Kritik durch die Religion. Eine solche Zwei-Reiche-Lehre ist aber de fakto ein Gene-

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ralablass, denn konkret kann mit Hinweis auf die „Autonomie der zeitlichen Dinge“ immer aus der Marktlogik heraus argumentiert werden, und die Moral wird dem Markt insgesamt und im Allgemeinen überlassen: die Autonomie des Marktes sichert seine soziale Funktion, im Übrigen lässt der Markt sozialpolitische Einzelmaßnahmen funktionslogisch nicht zu. Die Problematik liegt im argumentativen Grenzübergang zwischen inner- und außerweltlicher „Logik“: es kommt zu einem normativen Umschlag ins Systemlogische hinein. Normativität, ob religiös, diskursiv, gerechtigkeitstheoretisch oder sonst begründet, aber jedenfalls „außerweltlich“, also mit Blick auf die menschlich-gesellschaftliche Totale, wird innerhalb als autonom anerkannter Subsysteme rechtfertigend in Dienst genommen, aber verliert dabei ihre Anbindung an konkrete normative Vorstellungen eines zu erreichenden gesellschaftlichen Soseins. Einzelne Handlungsschritte werden begründet allein aufgrund funktionslogischer Argumente, die für jegliche Totale blind sind und eine zirkuläre Eigennormativität ausbilden. Das inhärente Problem des funktionslogischen Ansatzes lautet: Die Normativität von Politik wird verschenkt an eine nicht steuerbare Prozessualität von Entwicklung. Und die funktionslogisch systematische Manipulation von Ausgangsbedingungen setzt hochprofessionell immer dort an, wo die Ausgangsbedingungen am leichtesten und kontrollierbarsten manipulierbar sind: beim Menschen. Das aber ist sicher nicht gemeint, wenn von der Politik Parolen ausgegeben werden wie „Der Mensch im Mittelpunkt“: Im Mittelpunkt der Manipulation?

1. Problem Was in dem eingangs zitierten Satz von Oscar Wilde anklingt, mag vor allem ein trotzig-willkürlicher Ästhetizismus sein, weist aber auf das Problem hin. Den Vertragsbruch, der hier provokativ gefordert wird, nimmt keine Ethik unwidersprochen hin, besonders scharf aber wird er von stark durchrationalisierten und zumal spezialisierten Ethiken wie der Marktethik verworfen. Zielsicher, vielleicht traumwandlerisch, greift sich Oscar Wilde für seine Provokation eben das Rechte heraus, den Markt, als die paradigmatische treibende Kraft bei der fortschreitenden Rationalisierung der Gesellschaft. Der Markt als gesellschaftliches Subsystem, das einer eigenen Logik unterliegt, bildet auch eine eigene Ethik aus, die ein gemäß dieser Logik ,richtiges‘ Verhalten am Markt kodifiziert. Diese Ethik beruht definitionsgemäß einzig und allein auf der immanenten Logik des Marktes, sie ist durch und durch rational, ohne Berührungspunkte mit den Unschärfen allgemeiner, nicht auf wohlumgrenzte Systeme beschränkter Ethiken. Aus der Marktethik heraus betrachtet, ist eine Huldigung des Vertragsbruchs eine absurde Hechtrolle ins Irrationale.

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Betrachtet man freilich diese Marktethik und die Funktionslogik, auf der sie beruht, nicht aus dem System heraus, sondern von außen, ist Wildes Vertragsbruch nicht nur nicht völlig irrational, er ist auch mehr als eine bloße Befreiungsbewegung gegen die reduktive Einengung des handelnden Menschen durch eine kodifizierte Rationalität; nämlich Aufweis der Irrationalität, die durch die Rationalität bei ihrer fortschreitenden Systematisierung wie eine Schockwelle ständig vor sich her getrieben wird. Das Problem: Wenn man zum Zweck präziserer Beschreibung der Gesellschaft einzelne Systeme aus ihr abstrahiert und rational durchbildet, zahlt man für diese Abstraktion, für dieses Auskehren des Irrationalen, einen begrifflichen Preis, für den andernorts die Rechnung aufgemacht wird. Am Beispiel des Marktes sieht das folgendermaßen aus: Wenn der Einzelne ein Interesse am Bestehen des Marktes (und damit an der Einhaltung seiner Ethik) hat und rational im Sinne dieses Interesses am Markt handeln will, so muss er dieses Interesse (am Gesamtsystem) zu seinem fokussierten Einzelinteresse (am Gewinn) im konkreten Einzelfall des Handelns am Markt sublimieren. Durch diese Focussierung aber erhält sein Handeln eine neue Richtung, so dass er strategisch eine Dominanz des Marktes sowie in der Tendenz seine Aufhebung im Monopol anstrebt – anstreben muss als Folge der Zirkularität der Marktlogik, die sich funktional weiter differenziert und das Interesse am Markt dem Einzelnen abnimmt, um es dem Markt selbst aufzuladen. Vom Einzelnen abstrahierend kann man daher sagen: Der Markt hat ein existentielles Interesse an der Möglichkeit seiner Nicht-Existenz. Die Möglichkeit seiner Überwindung ist konstitutiv für den Markt. Soll der Markt als geschlossenes System also von sich selbst her bestimmt werden, ist seine ökonomische Rationalität als Handlungsprinzip ein Irrationalismus, ist systemlogisch instabil und bedarf der äußeren Kontrolle, der ständigen Wiederherstellung seiner Funktionsbedingungen. Dies ist nach klassischer und neoliberaler Auffassung die eigentliche Staatsaufgabe, womit allerdings der Staat vom Markt her bestimmt wird. Nun erfolgt mit dieser Öffnung des Marktes als System, die seiner Funktionslogik gewissermaßen eine Außenseite gibt, auf der der systemimmanente Irrationalismus abgeleitet werden soll, notwendig auch eine Setzung des Systems Markt von außen her. Und dies ist exakt der Punkt, an dem, um beim obigen Beispiel zu bleiben, die katholische Soziallehre ansetzt und den Markt insgesamt legitimiert. Damit bleibt sie wesentlich hinter gewissen protestantischen Neigungen zurück, Marktethik und religiöse Ethik schlicht zu identifizieren. Man kann diese Haltung als Versuch einer Antwort auf die Diagnose Max Webers lesen (Weber 1980, WuG II Kap. IV § 11: Religiöse Ethik und Welt): Er erblickte das Unbehagen der Religion am Markt darin, dass unter seinem Rationalitätsgebot der Mensch als Adressat der religiösen Ethik abhanden kommt. Am Markt ist der Mensch nur ein Agent in funktionaler Beschreibung, sein Handeln – aus religiöser Perspektive – irrational. Dieses Problem verstärkt sich, je stärker eine Gesellschaft sich rational differen-

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ziert, je komplexer im Aufbau sie sich gestaltet und zur Wahrnehmung von Funktionen in ihren Systemfraktalen eine zunehmende Expertise des Einzelnen verlangt. Da diese Expertise aber identitätsstiftend wirkt, bedeutete es eine zweifache Zumutung, aufgrund religiöser Vorstellungen funktionslogisch irrationale Handlungen zu verlangen – nämlich außer der Zumutung der Identifikation systemlogischer Irrationalität mit religiöser Rationalität und damit verbunden der Inkaufnahme konkreter Konfliktsituationen systemwidrigen Handelns die noch grundlegendere Zumutung, sich in seiner Identität als Experte infrage gestellt zu sehen: Wo der Mensch als Mensch angesprochen werden soll, wird er zugleich als solcher negiert. Auf dieses Dilemma reagiert der Katholizismus nun mit einer Art Hypostasierung, einer Verdinglichung religiöser Ethik in der Marktethik, indem der Markt insgesamt als gottgewollt betrachtet wird, als eine Sonderwirtschaftszone der Moral, wie man sagen kann, die sich ihre eigenen Regeln geben darf und ihrer irrationalen Rationalität frönen. Der Markt dankt diesen Schritt umgehend mit einer Epistasie seiner Systemlogik, deren Verhaltenskodex und Rationalitätsgebot nun überdeckt wird, überlagert durch erborgte Legitimation – als Abfluss des Irrationalen; denn funktionslogisch bedarf der Markt keines Ablasses kraft päpstlicher Irrationalität. ,Transzendenz des Heils und Autonomie irdischer Wirklichkeiten‘ heißt diese Konstruktion in theologischer Sprache (Päpstlicher Rat 2006, S. 54 ff.), aber der mitgelieferte Appell, diese irdischen Wirklichkeiten dürften den Einzelnen nicht instrumentalisieren, leistet nichts als eine Benennung des Problems, das durch diese Konstruktion erst geschaffen bzw. legitimiert wurde. Dasselbe Problem steht in Rede, wenn Habermas von der ,Kolonialisierung der Lebenswelt‘ spricht (Habermas 1987a). Apel behandelt es ausführlich in ,Diskursethik als Verantwortungsethik und das Problem der ökonomischen Rationalität‘ (Apel 1987, S. 270 ff.). Beide gehen zurück auf Max Weber, der ein bereits sehr komplexes Bild einander überlagernder (Wert-)Ordnungen zeichnet, deren Gelten er an der Wahrscheinlichkeit festmacht, dass eine Ordnung im konkreten Fall für Handlungen ursächlich wird (Weber 1980, WuG II Kap. 1 § 5). Zusätzlich unterscheidet er u. a. zwischen zweck- und wertrationalem Handeln als Typen, die meist in Mischformen auftreten. Allerdings kann streng zweckrationales Handeln schon durch seine Gleichförmigkeit ordnungsbildend wirken und so andere Ordnungen verdrängen. Ohne Webers Analyse hier im einzelnen nachzeichnen zu wollen, kann doch gesagt werden, dass seine Darstellung der fließenden Übergänge zwischen Wertordnungen, Haltungen, Rationalitätsformen eine wichtige Dimension zu fehlen scheint; sie bleibt deskriptiv panoramatisch und kennt als Grenzfall nur das Gelten zweier einander widersprechender Ordnungen zugleich, zweier Ordnungen, die also bis zum Vollzug einer Handlung darauf warten, ursächlich für sie zu werden. In dieser Weberschen Terminologie ist nur als Paradox beschreibbar, was oben auszuführen versucht wurde: Gleichzeitiges Gelten einander widersprechender Ordnungen

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im tatsächlichen Handeln einer Person. So, in Webers Terminologie, könnte man zu zeigen versuchen, wie Ordnungen aufeinander verweisen, so dass die eine Ordnung gelte, aber bloß weil sie aufgrund der anderen gelten solle. Die entstehende Nicht-Unterscheidbarkeit aber von Zweck- und Wertrationalität im Handeln bliebe im Dunkeln, es bliebe im Dunkeln, wie zweckrationales Markthandeln wertrational überbaut wird, wie zugleich Wertrationalität zweckrational in Dienst genommen wird, und wie Wert und Zweck einander gegenseitig irrationalisieren. Geht es daher darum, außer dem Aufweis eines paradox anmutenden Geflechts Erklärungen zu liefern, müsste man schon Ordnungen von Ordnungen einführen, um demonstrieren zu können, wie das Gelten zweier Ordnungen sich verwischt und endlich unkenntlich wird. Webers ,Polytheismus miteinander ringender Glaubensmächte‘ (Habermas 1987a, S. 339) geht Habermas indes schon zu weit. Seiner These der Unvereinbarkeit von Wertordnungen hält Habermas entgegen, dass gerade der Geltungsanspruch einer Wertordnung die argumentative Einlösung dieses Anspruchs fordere, und bemängelt eine bei Weber unzureichende Unterscheidung zwischen Wertinhalten und Wertmaßstäben, die erst im Konzert zur Verselbständigung von Wertordnungen führen und Eigenrationalität ausbilden. Und Habermas geht weiter: Weber habe sein Versprechen nicht eingelöst, das er mit seinem komplexen Rationalitätsbegriff eingegangen sei. Das komplizierte Geflecht wert- und zweckrationaler Handlungsorientierungen gehe verloren, sobald Weber die Herausbildung gesellschaftlicher Subsysteme beschreibe und dort allein Zweckrationalität am Werk sehe. Habermas, getreu seinem Programm, Gesellschaften gleichzeitig als ,Systemund Lebenswelt‘ zu konzipieren (Habermas 1987a, S. 189), sieht das Problem nicht so sehr in der Tatsache der Entkoppelung von Subsystemen und der Ausdifferenzierung von Wertordnungen, sondern erst in der ,elitären Abspaltung von Expertenkulturen von den Zusammenhängen kommunikativen Alltagshandelns‘ (Habermas 1987a, S. 488), auf die sie gleichwohl zurückwirken und auch kulturellen/sozialen Handlungsbereichen eine ökonomische/administrative Rationalität oktroyieren, die ihnen fremd ist. Erst hier sieht Habermas eine Eigendynamik der Segmentierung von Wissenschaft, Moral und Kunst entstehen und damit eine Ersetzung kommunikativen Handelns durch eine Handlungskoordination via die Systemdifferenzierung tragende ,Medien‘ wie Geld oder Macht (Habermas 1987a, S. 548 ff.). Auch bei dieser Habermasschen Analyse bleibt das eigentliche Problem ausgeklammert. Das folgt aus seinem Anspruch, handlungs- und systemtheoretische Ansätze zu vereinen, sie linear zu verzahnen. Die handlungstheoretische Tradition im Anschluss an Weber sieht Habermas in Paradoxien verstrickt und steckengeblieben in der ,Aporetik der Bewusstseinsphilosophie‘ (Habermas 1987a, S. 9). Gerade die Entstehung von Paradoxien ist aber mitunter interessanter als

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ihre Auflösung oder Umgehung, und so ohne weiteres wird man ihrer ohnehin nicht Herr. Habermas’ Diagnose vom Kommunikationsabriss und der folgenden Ersetzung der Handlungskoordination durch (mediale) Funktionslogik einmal vorausgesetzt, lässt sich dennoch fragen: Ja, und weiter, was folgt? Denn eben an dieser Stelle geschieht dasselbe, was schon bei der Transzendenz-Autonomie-Konstruktion der Soziallehre passiert war, die sich jetzt als eine Art Spezialanwendung des Habermas’schen Programms der Integration von System- und Handlungstheorie erweist: Erst jetzt findet die normative Hypostasie statt, die mediale Funktionsethik mit kommunikativ oder transzendental oder sonst erzielter Ethik zu jener janusköpfigen Normchimäre verschmilzt, die gesellschaftliches Handeln sowohl wert- wie zweckrational erblinden lässt und in der Unsicherheit des Umhertappens die allgegenwärtige Richtschnur der Funktionslogik als haltgebende Letzabsicherung, als gerade wegen ihrer Begründungsambivalenz brauchbaren Notbehelf ergreifen lässt. Wo man von einer rationalitätsgesteuerten Differenzierung in Subsysteme sprechen kann mit ihrer schon begrifflich induzierten Tendenz zu selbstreferentieller Abschottung, da entsteht automatisch eine Dialektik von Innen und Außen, die durch normative Indifferenz den Handelnden in eben das ,stahlharte Gehäuse‘ der Funktionslogik zwängt, das Weber so fürchtete (Weber 2005, S. 160) – bewusst vom Feld der Analytik zu dem der Wertaussagen wechselnd. Dass Weber so umstandslos von der reinen Analyse ins Werten abgedrängt wird, könnte man als das gute Zeichen betrachten, mit dem seine pessimistische Analyse endet. Apel sieht das Problem einer Normativität, die den Knospungen gesellschaftlicher Untersysteme nicht länger folgen kann, recht deutlich und reklamiert für seine Variante der Diskursethik einen Universalismus, der Vorbedingungen des Diskurses für allgemeinverbindlich erklärt. Bevor sich im Diskurs prozedurale Normativität herausbilden kann, muss eine ,ideale Kommunikationsgemeinschaft‘ als gegeben angenommen werden (Apel 1997, S. 10). Daraus ergibt sich für Apel das Problem des Übergangs von konventioneller zur Diskursethik: Um sie zu befolgen, muss man ihre Anwendungsbedingungen als gegeben annehmen. Das aber hieße gesinnungsethisch zu handeln, also auf Einhaltung eines bestimmten Wertes bedacht, was wiederum verantwortungsethisch, im Hinblick auf die Folgen handelnd, unverantwortlich sein kann, da faktisch die Voraussetzung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft nicht gegeben ist. Zugleich wäre es verantwortungsethisch geboten, mit der gesinnungsethischen Krücke eben dieser Voraussetzung den Übergang zur Diskursethik zu bewerkstelligen. Anders gesagt: Was vom Standpunkt universalistischer Diskursethik geboten wäre, mag funktionslogisch – und zwar im Sinne dieser Ethik – das eben Falsche sein und umgekehrt; und wieder ergibt sich dieselbe Innen-Außen-Konstellation wie gehabt (Heil-Welt), hier in einer geschichtsbezogenen Variante des Übergangs. Die Scheidelinie, an der sich nach beiden Richtungen Rationalität in Irrationalität verkehrt, ist dieselbe; sie liegt, schlicht ausgedrückt, zwischen

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dem Allgemeinen, Ganzen und dem Konkreten, dem Einzelding. Das Problem ist ihre wechselseitige rationale Bestimmung. Apel sieht das nicht so. Er begegnet dem Übergangsproblem durch einen Winkelzug, der Kierkegaards Methode, Menschen in die Wahrheit hineinzutäuschen, ebenbürtig ist. Er meint, man müsse dem Idealprinzip der Diskursethik ein ,Ergänzungsprinzip‘ (Apel 1997, S. 299) mit auf den Weg geben. Dieses Ergänzungsprinzip soll die ,dialektische Vermittlung der kommunikativ-ethischen mit der strategischen Rationalität‘ leisten. Das bedeutet, wieder schlicht ausgedrückt, dass man es mit der Diskursethik auf dem Weg zur Diskursethik nicht so genau nehmen muss, weil man sie schließlich anstrebt, wodurch es mehr und mehr überflüssig wird, nicht-diskursethisch zu handeln. Nun wird man so ein Ergänzungsprinzip strategischer Rationalität in Verdacht haben dürfen, mit dem Prinzip ,Der Zweck heiligt die Mittel‘ wenigstens entfernt verwandt zu sein; aber einmal angenommen, es sei erlaubt, so vorzugehen, so bleibt noch immer die Frage, ob es funktioniert. Denn es handelt sich hier abermals um nichts anderes als den Versuch, Funktionslogik (strategische Rationalität) als Hypostasierung einer Universalethik (Diskursethik) fest an den Zügel (Ergänzungsprinzip) zu nehmen. Das eigentliche Problem der Instabilität deontischer Kategorisierung besteht fort – Gesinnungsethik, Verantwortungsethik, Zweck- und Handlungsrationalität: Alles verschwimmt zu Indifferenz, und Sollensgewissheit, wie Apel es nennt, bleibt Sehnsuchtsziel. Diskursethik, da hat Apel ganz recht, muss für den Unternehmer als Menschen wie als Unternehmer verbindlich sein; seine Handlungsrationalität als Unternehmer diskursethisch bestimmt sein: Aber erst in der idealen Ökonomie (Apel 1997, S. 291). Ob der Weg dorthin über ein Ergänzungsprinzip führt, darf bezweifelt werden. Logisch ist das ohnehin angreifbar: Dass die idealen Anwendungsbedingungen der Diskursethik eines Tages erreicht werden, heißt nicht, dass man unter nicht-idealen Bedingungen schon einmal die grobe Richtung anpeilen könnte, und sei es auf dem Bauch kriechend. Vielleicht kann man es doch, aber es folgt nicht. Entweder gelten ideale Anwendungsbedingungen – oder sie tun es nicht. Und es geht nicht eigentlich darum, eine Verantwortungsethik zeitweise durch eine Gesinnungsethik zu beeinträchtigen, die sich ihrerseits verantwortungsethisch rechtfertigt; sondern abermals darum: Verantwortungsethische Normativität wird an der ,Systemaußenseite‘ absorbiert, indem sie im Inneren eine Gesinnungsethik aufbauen hilft, die einerseits sich rechtfertigt durch ihre Abkunft, andererseits zur Zirkularität funktionslogischer Ethik degeneriert. Im Prozess der Rationalisierung und Systemdifferenzierung wird jedes konfligierende ethische Programm nicht allein irrational (Weber), es wird auch billig und populär (à la Bourdieu) – und es fordert auf zur performativen Selbstleugnung, wenn dem im System sich behauptenden Experten zugemutet wird, seine Expertise einer funktionslogisch irrationalen Populärethik zu opfern.

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Im Grunde stellt Apel mit der Problematisierung der Sollensgewissheit unter nicht-idealen Bedingungen genau die richtige Frage. Aber die Suche nach einer Antwort sollte sich mehr auf die Rolle der Rationalität konzentrieren, und zwar zum einen in der Deontologie überhaupt. Zum anderen geht es aber um den Prozess der rationalen Systematisierung von Ethik. Und hier scheint notorisch eine Art deontischer Fehlschluss zu lauern; ein Fehlschluss vom Begründungszusammenhang einer Ethik, ihrer Setzung, auf ihre Anwendungsbedingungen, ihre Praxis; und damit von Rationalität (oder jeder anderen Quelle von Sollensgewissheit) auf Rationalisierbarkeit. Dieser Fehlschluss zeigt sich noch in dem funktionslogischen Affront Oscar Wildes. Denn keineswegs reißt er das Gespinst der Systemrationalität besonders nachhaltig auseinander mit seiner irrationalistischen Willkür, mit seinem spontanen Paradigmenwechsel zum Schönen, und weist dem Systemgeist eindrucksvoll den Abgrund, in welchen dieser jederzeit gestürzt werden kann, systematisch gefährdet durch für ihn nicht vorhersagbaren menschlichen Moral- oder Schönheitswillen oder sonst einen Furor der Unvernunft. Gerade wenn einmal funktionslogisch irrational gehandelt wird – und so vermeintlich aufgewiesen, dass der Sog ins Systemrationale nicht unumkehrbar, dass er nicht absolut sei – gerade dann wird die normative Hermetik noch verstärkt, indem das Exzeptionelle als solches systematisiert wird, als Delegitimation reiner Systemrationalität. Der Ausbruch vertritt hier Hofnarrenstelle: Der Narr sichert seinem Dienstherrn die Reputation einer Duldung des Irrationalen, also ethischer Indifferenz. Das willkürliche Außerkraftsetzen funktionslogischen Denkens reproduziert die Hermetik des Systems also, weil durch dieses Ausbrechen Funktionsethik von außen (universalethisch) ,adressierbar‘ wird und die Geschlossenheit der Systemrationalität sich aktualisiert. 2. Folgen Wenn bis hierher etwas abstrakt gesprochen wurde, darf das nicht dazu verleiten zu meinen, man habe es nicht mit einem dringenden und praktisch relevanten Problem zu tun. Und dass hier keine theoretische Lösung angeboten wird, sollte das Problembewusstsein, zumal in der politischen Praxis, nur erhöhen. Bedenkt man aber, wie lange Funktionslogik als ethisches Problem erkannt und wie breit es diskutiert worden ist, kann man der politischen Praxis nur Blindheit oder erschreckende Naivität attestieren. Und seit Max Weber ist die Sache nur drängender geworden. Die funktionslogische Indienstnahme der Politik als institutionalisierte Rationalität sowohl wie als unerschöpfliche Quelle von Normativität ist auf jeder Ebene der Gesellschaft gegenwärtig. Und die Politik selbst ist bestrebt, sich immerfort zu rationalisieren, zu professionalisieren, zu objektivieren. Da höre man Epiktet noch und noch einmal seufzen: ,Verkaufst du deine Freiheit um ein Linsengericht?‘

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Das Koordinatensystem von richtig-falsch, gut-schlecht und legitim-illegitim verkrüppelt dabei zu einer völlig verwachsenen Unidimensionalität: Politik ist entweder sachlich richtig oder schuldhaft falsch, denn angesichts der Objektivität der richtigen kann falsche Politik sich nur von Borniertheit oder böser Ideologie herschreiben. Das heißt: Es kommen nur negative ethische Kategorien zur Anwendung, denn das Gute wird mit dem Wahren schlicht identifiziert. Wo aber vor schierer Alternativlosigkeit all der ,Guten Politik‘ keine Wahl mehr besteht zwischen ethisch erst noch zu qualifizierenden verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten je nach moralisch-weltanschaulicher Präferenz, ist Demokratie nur ein Prozedere, delegitimiert durch die Singularität der funktionalistischen Vernunft. Dass die unerschöpflich sprudelnde Quelle von Normativität aber versagen kann – dafür gibt es wohl Anzeichen. Funktionslogisch sind die Gewissensverantwortung des Abgeordneten – als Formel ohne Referenz – und die Irrationalität von parlamentarischem Abweichlertum bloß Parallelen mit Schnittpunkt im Unendlichen universalistischer Normativität. Funktionslogisch ist es irrelevant, ob ein Gesetz von Lobbyisten geschrieben wurde. Und funktionslogisch ist die Konkurrenz der Parteien nur die Konkurrenz zwischen Herstellern desselben Produkts, das aufgrund der Wettbewerbssituation laufend optimiert wird. Hier aber kommt die Instabilität von rational-selbstreferentiell organisierten Systemen zum Tragen. Wie das System Markt strukturell instabil ist und eines von außen wirkenden, aber systemimmanent gesetzten Korrektivs bedarf, so wird auch eine systemrational durchorganisierte Politik instabil im Sinne einer systemnotwendigen Irrationalität, versteckt in der Prozessualität der Politikoptimierung. Wo nicht Weltanschauungen sich vergleichen, sondern ähnliche Produkte von identischer Zweckbestimmung beworben werden, sind Rückkoppelungseffekte von der Werbebotschaft auf das Produkt nicht auszuschließen. ,Fordern und Fördern‘ ist das allerbeste Beispiel dafür: Eine Formel, die gleichermaßen die Gerechtigkeit, Menschenfreundlichkeit und zumal unabweisliche Vernunft des neuen Sozialstaatsprinzips jedem Verstand sanft und schmeichelhaft ins Erkenntnisorgan bläst wie der liebende Anhauch der Muse, die sich um des Denkers Hals verzweigt. Die Formel bewirbt einen Paradigmenwechsel in der Arbeits- und Sozialpolitik, der radikaler nicht sein könnte, nämlich eine Umstellung des Wohlfahrtssystems auf Systemrationalität. Dass es zwischen einem Langzeitarbeitslosen und einem Sozialhilfeempfänger keinen Unterschied gibt, ist eine rein funktionslogische Aussage. Die alte Differenzierung von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war eine Differenzierung nach Lebenslagen, das heißt, sie folgte einer Logik, die vom Einzelnen her dachte, von seiner speziellen Situation her. Die Neuregelung wurde fällig, nicht weil es galt, Sozialhilfeempfänger aus einer Sackgasse herauszuholen, sondern weil das Denken vom Einzelnen her systemlogisch irrational ist. Vom System Arbeitsmarkt her gedacht, ist jeder, der nicht daran teilnimmt, hinsichtlich dieser Be-

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stimmung gleich, wie auch der daraus sich herleitenden Notwendigkeit einer Alimentierung. Funktionslogisch ist jeder Nicht-Erwerbstätige eine zu erschließende Wertschöpfungsreserve und zugleich ein Produktivitätssteigerungspotential. Beim ,Fordern und Fördern‘ geht es nun allein darum, rechnerisch die Wahrscheinlichkeit für das Absinken der absoluten Zahl der Transferleistungsempfänger zu erhöhen. Da Funktionslogik für den Einzelnen blind ist, kann ein im Einzelfall ausbleibender Erfolg der ,Maßnahmen‘ im Alimentationsvollzug bestenfalls ein Indiz dafür sein, dass das System noch nicht vollständig durchrationalisiert ist. Und ob für den Betroffenen das ,Fordern und Fördern‘ sich mehr wie ein bloßes Fordern darstellt; ob es ihm subjektiv gar mehr ein Schieben und Zerren zu sein scheint – wie bei einer Kuh – ist irrelevant. Nun aber zeigt sich der unerwartete und unerwünschte Rückkoppelungseffekt, der eigentlich systemlogisch nichts weiter ist als eine weitere Systemdifferenzierung: Ein ALGII-Subsystem koppelt sich ab, bildet seine Eigenlogik aus und trimmt sich auf Systemeffizienz hin. Was der Volksmund ,Schmarotzen‘ nennt, ist funktionslogisch eine Professionalisierung der Existenz als Transferleistungsempfänger hin zur Beruflichkeit. Dreh- und Angelpunkt dieser Ausdifferenzierung ist die arbeitssystematisch-funktionale Adressierung des Arbeitslosen als ,unerwünscht‘, die ihrerseits Funktion der marktsystematisch testierten Wertschöpfungs- und Produktivitätsreserve ist. Die gesellschaftliche Desintegration ist damit direkte Folge der funktionslogisch gesteuerten Integrationspolitik. Dass sie nicht vorhergesehen wurde, mag damit zu tun haben, dass noch nicht sicher ist, ob sie nicht im Grunde die immanent-geheime Weisheit des Systems offenbart – wenn sich nämlich herausstellt, dass eine Gesellschaft so am effizientesten zu organisieren ist, dass die unproduktivsten Wirtschaftssubjekte aus dem System herausgedrängt und so unterhalten und beschäftigt werden, dass kein eklatanter Unfrieden entsteht. Libertäre Überlegungen zu einem bedingungslosen Grundeinkommen deuten in diese Richtung. Besonders interessant ist die normative Struktur des ,Forderns und Förderns‘. Das Grundprinzip, in dem sich universalethischer und systemlogischer Anspruch gewissermaßen gegenseitig bespiegeln, macht sich nicht nur der Vernunft angenehm, sondern auch dem Gerechtigkeitssinn, indem es eine populäre Vorstellung von Geben und Nehmen zu inkorporieren scheint. So erwächst ihm Normativität. Die Implementation des Prinzips erfolgt dann aber von seiten der System-Abstraktion her, so dass aus dem Verweis auf ein Gerechtigkeitsprinzip des Ausgleichs (an dessen Qualität Zweifel angebracht ist, aber hier nicht in Rede steht) ein Geflecht von wechselseitigen Ansprüchen zwischen den Transferleistungspartnern ,Geber‘ und ,Nehmer‘ entsteht, reguliert durch funktionslogisch bestimmte Durchführungsbestimmungen. Diese Ansprüche aber sind höchst ungleicher Natur, denn der ,Nehmer‘ kann sie jederzeit erfüllen (durch Gehorsam) und ist persönlich haftbar, während der ,Geber‘ die Ansprüche an ihn nicht allein durch Vertragstreue erfüllen kann, sondern ihnen zum einen nur

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sporadisch nachkommen kann, dort wo der Etat es zulässt (Fördern, sofern es sich nicht ohnehin um maskiertes Fordern handelt), zum anderen von durch ihn nicht steuerbaren Systemvariablen abhängig ist: Konjunktur, Nachfrage nach Arbeit etc. Wenn auf diese Weise die sozialpolitische Praxis ein Abweichen von der im Prinzip ,Fordern und Fördern‘ formulierten Intention aufweist, bewirkt die bloße Feststellung eines solchen Mangels – unabhängig von seiner möglichen Korrektur – eine neuerliche Legitimierung der systemlogischen Implementation des Prinzips. Praktische Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Förderns ,erinnern‘ so an die prinzipielle Richtigkeit des Forderns, dessen Einlösung keinerlei widerständige Realität bedroht, weil hier eben der Einzelne zuständig bleibt, obwohl der Einzelfall systemlogisch irrelevant geworden ist. Dasjenige gesellschaftliche Teilsystem aber, das derzeit vielleicht am stärksten unter Rationalisierungsdruck steht, ist ausgerechnet das Bildungssystem – obwohl die Auswirkungen von Manipulationen hier besonders nachhaltig, langfristig und in ihrer Komplexität kaum vorhersagbar sind (wenn man nicht nur Kenntnisse abfragt, sondern gesellschaftliche und persönliche Konsequenzen in ihrer Gesamtheit und der Möglichkeit nach in den Blick nimmt). Auch hier ist ein Paradigmenwechsel zu beobachten, bei dem der Einzelne außer Sicht gerät. Wo die Bildungspolitik lange Zeit den Gedanken der Emanzipation verfolgte, den Einzelnen also bestmöglich dabei zu unterstützen trachtete, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wird diese Selbstbestimmung des Einzelnen nun zunehmend und systematisch verdächtig. Wenn die Vorstellungen jedes Einzelnen von einem gelungenen Leben in der Gesamtschau nicht dem entsprechen, was seitens der Systeme Wirtschaft und Politik vom System Bildung an Produktionsleistung erwartet wird, müssen eben Kennzahlen an die Stelle von persönlichen Vorstellungen und Wünschen treten. Es ist beeindruckend zu beobachten, welchen Rationalisierungsdruck allein die Pisastudien mit ihrer unverfrorenen positivistischen Schlichtheit erzeugt haben – und mit welcher demiurgischen Naivität die Politik dem Druck nachgibt, Menschen zu schaffen nach einem Bilde, das systemlogisch vorgegeben wird. Die Marktlogik hat hier inzwischen ein Zerrbild geschaffen, das recht gut zu umschreiben wäre mit dem Terminus „allseitig gebildete kapitalistische Persönlichkeit“. Diese Chimäre leidet an derselben Krankheit wie einst ihr sozialistisches Urbild – infolge des Versuchs, die Kreativitätsreserven selbstbewusst freigeistiger, kulturell hochstehender Menschen in einem hochrationalisierten Zucht-, An- und Abbausystem ernten zu können, das das Denken zugleich auf systemimmanente Logik einschwört und ihm außerweltlich-transzendental zu realisierende Innovation und Phantasie abverlangt; geboren auf den Freiwiesen außerweltlicher Traumlandschaften? Der Beweis steht noch aus, dass Funktionsträger aufgrund richtiger Parametrierung ihrer biosozialen Daseins-Vollzugsbedingungen glücklich, begabt und phantasievoll sein können. Mit beispielloser Effizienz ist durch Pisa eine Normierung von Schulleistungen und Bildungsinhalten gelungen – unter Umgehung sämt-

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licher Willensbildungsprozesse auf allen Ebenen des Bildungssystems zugleich. Parallel dazu wirbelt ein Sturm namens ,Bologna-Prozess‘ über die alte europäische Kulturlandschaft der Hochschulen und dezimiert ihre Fülle von Bildungstiteln, ihren Reichtum an Bildungsarten; denn die Vereinheitlichung von Studiengängen ist eben auch eine Vereinheitlichung von Wissensweisen, von Denkungsarten im Hinblick auf Kennzahlentauglichkeit. Als zusätzliche Motoren der gesellschaftlichen Differenzierung erweisen sich gerade in diesem Zusammenhang metastaatliche Organisationsformen. Die EU könnte man geradezu ein Rationalisierungsbüro nennen. Ihre zwittrige Konstruktion, halb demokratisches Staatengebilde, halb vertragliche Interessenbörse, bewirkt, dass hier abseits demokratischer Legitimationspraxis sich ein Rationalisierungsuniversalismus institutionalisiert hat, der die Normativität seiner Politik investiv von den Mitgliedsstaaten erhält und als Kredit an sie zurückgibt. Tatsächlich erinnert das Verstecken und Verschieben von Normativität in den überstaatlichen Institutionen an ein Geflecht von Briefkastenfirmen in aller Welt, das dem einzigen Zweck (als strukturbildendes Prinzip) dient, mit Legitimationskrediten zu spekulieren und dabei Rationalitätsgewinne zu realisieren; eine normativ-rationale Partnerschaft analog zum Schema der öffentlich-privaten Partnerschaft. Das erhöht die Effizienz der gesellschaftspolitischen Steuerung allein schon dadurch, dass Einzelinteressen, in ihrer organisierten Form des Lobbyismus, direkt mit dem Staat verhandeln können, ohne dass ,im Schatten der Hierarchie‘ verhandelt wird, also unter der Maßgabe, dass das letzte Wort beim Staat liegt. Damit dominiert Funktionslogik die gesellschaftliche Realität sowohl von ,oben‘ wie von ,unten‘ her. Da das politische System gleichwohl nationalstaatlich organisiert ist, bleibt den konkurrierenden Parteien nur übrig, um ihre Produkte auf dem Markt durchzusetzen, sie hinsichtlich solcher Merkmale zu variieren, die nicht zentral zu ihrer Funktionsbestimmung gehören. Es entsteht eine Konkurrenz ums Irrelevante, ums Irrationale, symbolische Politik einer symbolischen Demokratie. Die Legitimierung von Politik wird irrationalisiert. Die Profilierung von Politik erfolgt über Themen wie Ausländerrecht, innere und äußere Sicherheit, Militärdoktrin, Gleichstellung; Bereiche, in denen das Rationalisierungsgebot vor allem durch eine Kampagnenlogik eingelöst wird. Solche Kampagnenlogik bleibt natürlich eine abhängige, virtuelle Funktionslogik, abhängig von der gegebenen Situation im politischen Marktgeschehen: Solange ein Politprodukt am Markt erst durchgesetzt (zur Regierungspolitik gemacht) werden muss, kann so etwa ein funktionslogisch völlig irrationales Thema wie Datenschutz einem bloß irrelevanten Thema wie Bürgerrechte als Veredelung angekoppelt werden. Als rationales Regierungshandeln aber ist Datenschutz undenkbar, funktionslogisch ein Widerspruch in sich: Daten schützt man nicht, man sammelt und organisiert sie gemäß ihrer nach Integration und informationeller Komplexität strebenden Eigenlogik.

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Die bislang kühnste Unternehmung der funktionalistischen Vernunft dürfte der Versuch einer Rationalisierung der Sprache sein. Dieser Versuch, ein System zu ,berichtigen‘, dessen Herausbildung im Zeitmaßstab von vielen Generationen abläuft, dessen Beherrschung Jahre des Lernens braucht, und das den Kern der Identität jedes Einzelnen berührt; ein solches System durch einige Verwaltungsakte von seiner Irrationalität zu befreien und seine Effizienz zu optimieren – dieser Versuch ist glücklicherweise fehlgeschlagen. Erst ein derart vollständig funktionslogisch beschreibbarer Mensch, der sich bis in die Syntax hinein manipulieren ließe, wäre es letztlich, dem man mit Rawls’ dreimalgefaltetem Schleier des Nichtwissens die Sicht verhängen müsste, um ihm Gerechtigkeit beizubringen. Ein Zeichen der Hoffnung; mehr noch ein Fingerzeig, wie man sich zu halten habe: Nicht wie Oscar Wilde, aber ganz ähnlich, ins Positive gewendet: Erlaubt ist, was gefällt. Strategische Irrationalität – aber das wäre wohl fast ein Anarchismus. Literaturverzeichnis Apel, K.-O. (1997): Diskurs und Verantwortung. Frankfurt/M. Habermas, J. (1987a): Theorie des kommunikativen Handelns. Band I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (4. durchgesehene Aufl.). Frankfurt/M. – (1987b): Theorie des kommunikativen Handelns. Band II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (4. durchgesehene Aufl.). Frankfurt/M. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (2006): Kompendium der Soziallehre der Kirche. Freiburg im Breisgau. Rawls, J. (2003): Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt/M. Weber, M. (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen. – (2005): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Erftstadt.

Mediale Marktwirtschaft Die medienphilosophische Gestalt der Marktwirtschaftslehre Diedrich Lange Die Schlüsselrolle von Medien wird von der sozialwissenschaftlichen Literatur reflektiert (Lagaay/Lauer 2004), nicht jedoch von der ökonomischen Theorie (Franck 1998). Der Aufsatz geht diesem Mangel nach und kommt zu dem widersprechenden Ergebnis, dass die Marktwirtschaftslehre enge Bezüge zu medienphilosophischen Fragestellungen in ihrer Dogmengeschichte aufweist. Die normativen Grundlagen ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Gestalt liegen in ihnen – so die weitere Behauptung – bis heute begründet. Sie können fruchtbar gemacht werden vor dem Hintergrund vielfältiger aktueller Debatten wie zum Beispiel derjenigen über die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Markt und Staat. Der titelgebende Begriff von der medialen Marktwirtschaft soll ihre Steuerung durch Medien zum Ausdruck bringen. Sein Inhalt soll im Folgenden durch eine dogmenhistorische Analyse erschlossen werden, die vor allem an den medienphilosophischen Querbezügen der Marktwirtschaftstheorie interessiert ist. 1. Dogmenhistorische Bezüge der Marktwirtschaftslehre zu der humanistischen Suche nach dem medialen Gesellschaftsband Sucht man nach den philosophischen Wurzeln der Marktwirtschaftslehre, so findet man sie zu einem bedeutenden Teil in der vorkantianischen Moralphilosophie des sog. common sense/sensus communis, in der der Humanismus nach einem gefühlsmäßigen Gesellschaftsband suchte. Für die vernunft- und machtkritische Konzeption der Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie in der Aufklärung war diese Vorstellung von einer konsensuell gesteuerten Interaktion von größter Bedeutung. Im Widerspruch gegen die Vertragstheorien eines Hobbes, Locke und Pufendorf rückte der situative Kontext sozialer Interaktion ins Blickfeld, etwa in der Metapher von zwei Ruderern bei David Hume, die sich niemals ein Versprechen gegeben haben und doch vereint zusammenwirken (Hume 1826). Vor diesem Hintergrund verfolgte sein Freund Adam Smith das Ziel der Erklärung des konsensuellen Gesellschaftszusammenhangs durch die systematische Analyse sozialer Medien, darunter vor allem Tausch, Arbeit, Sprache und Empathie. Der durch Arbeit vermittelte Tausch und die moralisch-psychologi-

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sche Empathie haben eine gemeinsame Sozialisationswirkung, die sprachlichvernünftige Verständigung in dem Sinn des Gesellschaftsvertrages ersetzt durch vielfach verschränkte soziale Zusammenhänge. Die Sprache verliert in seinen Augen immer mehr an koordinativer Bedeutung, wie sie sie ursprünglich besessen hat (Smith 1970). Die Lücke müssen die gleichsam „stummen“, aber interaktiven Medien füllen. Die logische Gestalt seiner Sozialphilosophie ist medientheoretisch verankert. Die Sympathie in der heutigen Bedeutung von Empathie untersuchte er in seinem moralphilosophischen Werk „The Theory of Moral Sentiments“ in Anlehnung an andere schottische Moralphilosophen. Auf dem psychologischen Vermögen des Ego, sich in sein Alter ego hineinzuversetzen, beruht bei ihm in einem komplizierten Prozess die Gewissensbildung. Gesellschaftliche Moralbildung wird zum medialen Phänomen, das gemeinsame Wertorientierungen erklärt. Von größter Bedeutung waren diese Wertvorstellungen für seine Naturrechtslehre, an der er sein Leben lang arbeitete und die lediglich durch Vorlesungsmitschriften überliefert ist. Eng liiert mit ihr ist in der Lehre des natürlichen Preises seine Theorie der Marktwirtschaft. Seine ökonomische Analyse stellte den wirtschaftlichen Tausch als Ursprung der Arbeitsteilung in einer Marktwirtschaft an die Seite der Empathie. Nur auf diesem medialen Geflecht beruhte seine Theorie einer freien Marktwirtschaft mit selbst räumenden Märkten. Während Empathie und Tausch gleichsam „automatisch“ wirken und sich wechselseitig ergänzen und bedingen – im Sinne von Motivations- und Handlungstheorie –, ist die Sprache nur das Medium für Gebildete, das der Aufklärungsphilosophie entsprechend mit Rationalität gleichgesetzt wird. Sprachliche Verständigung wird so zum rationalistischen Anspruch und Eingriff in gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse, die die unsichtbare Hand sprachlos viel besser zu koordinieren versteht. Unsichtbar ist die Hand Gottes, an der sich eine zum individuellen Glück strebende Gesellschaft unbewusst und von ihren Affekten beherrscht vorwärts tastet. Soziale Koordination durch „vernünftige“, sprachliche Abmachungen ist dagegen ziemlich gleichbedeutend mit dem Macht- und Monopolanspruch desjenigen, der sie durchsetzt. Es ist die sichtbare Hand des Machthabers, der gegen die Interessen der Gesellschaft verstößt. Medientheorie in diesem sozialphilosophischen, nicht technischen Sinn führt bei Smith zu dem Kern der Marktwirtschaftslehre, nämlich ihrer Opposition gegen jeden Anspruch von Macht. Diese kritische Ökonomie zielte auf eine Politik der Entmachtung hinaus. Ebenso wie bei Montesquieu steht bei Smith die Teilung und damit Begrenzung der politischen wie wirtschaftlichen Macht im Vordergrund seines Denkens. Denn die erste ist mit der zweiten Spielart von Macht gewöhnlich eng verbunden. Die Machtansprüche, gegen die er sich wandte, waren keineswegs allein die absolutistische Macht des politischen Herrschers und die wirtschaftliche Macht des Monopolisten. Vielmehr erkannte er in den Ansprüchen wissenschaftlicher oder ideologischer Modellbehauptungen den verkleideten Dominanzanspruch. Hier lag gerade der eigentliche Ausgangspunkt

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seiner Kritik, nämlich in der Notwendigkeit, die Auffassung in die Schranken zu weisen, nach der es nur darauf ankomme, die richtige Vernunft an die Macht zu bringen. Auf wirtschaftstheoretischem Gebiet waren es die Schulen von Merkantilismus und Physiokratie, die Smith’ Kritik der politischen Ökonomie seiner Zeit anregten. Während die merkantilistischen Theorien ganz offen mit der sichtbaren Hand des starken Herrschers in der Wirtschaftspolitik kokettierten und damit ein kaum zu verfehlendes Feindbild für eine liberale Theorie abgaben, war die kritische Haltung gegenüber der Physiokratie schon schwieriger zu begründen, galt ihr Hauptvertreter François Quesnay doch als Erfinder des ökonomischen Kreislaufmodells. Für Adam Smith waren Erkenntnis und Herrschaftsinteresse in dieser Art von Modellogik durch die Vernachlässigung der Interdependenz wirtschaftlicher Wahlhandlungen unheilvoll verknüpft. Smith lehnte nicht die Modellvorstellung des Wirtschaftskreislaufs ab, er entwickelte im Gegenteil ein eigenes Kreislaufmodell. Erkenntnistheoretisch stand er dem Glauben an eine Berechenbarkeit der Modellzusammenhänge und an die darauf beruhende wirtschaftspolitische Steuerbarkeit ablehnend gegenüber. Der intellektuelle, nicht der politische Erfolg der frühen Marktwirtschaftslehre ist der Lehre vom natürlichen Preis zuzuschreiben. Faszinierend ist sie, weil sie den Gleichgewichtspunkt bzw. -pfad einer Gesellschaft beschreibt, der Verteilungsgerechtigkeit mit allokativer Effizienz verbindet. In ihr leuchtete das moralische Selbstverständnis einer bürgerlichen Epoche auf, die sich dem feudalen und absolutistischen Geist mindestens gewachsen, wenn nicht überlegen fühlte. Es war dieses Selbstverständnis, das den Siegeszug der Marktwirtschaftslehre ermöglichte. Es ist wichtig zu zeigen, wie sehr die Lehre vom natürlichen Preis abhing von der medienphilosophischen Auffassung der Aufklärung. Denn nichts hatte diese Auffassung gemein mit der späteren Modellogik der walrasianischen Gleichgewichtstheorie unter der Annahme einer Informationssymmetrie. Die behauptete Synthese von Moral und Markt wird in ihrer vollen Bedeutung erst vor dem Hintergrund der aristotelischen Lehre von der kommutativen Gerechtigkeit deutlich, die für Smith von grundlegender Bedeutung war. In Aristoteles’ Lehre von der kommutativen Gerechtigkeit ist der Wert der zu tauschenden Güter das Mittlere zwischen Gewinn und Verlust, das meson. Von dem Wort meson leitet sich etymologisch das Wort Medium ab. Für das Feststellen der Mitte zwischen zwei Extremen wird ein mesidious, ein Richter oder Mittler benötigt. Die Tugendlehre von der mesotäs, der Mäßigung von Gefühl und Handlung ist hier verknüpft mit der Lehre von der kommutativen Gerechtigkeit. Der Markt kann bei Smith den in diesem Sinne gerechten Tausch bewirken. Getauscht wird, weil Arbeit eine Last ist, die man sich zu ersparen sucht. Die Arbeitsteilung verringert diese Last, sie gibt ihre Vorteile durch den Tausch weiter. Die Arbeit ist das Maß des Werts und damit das Medium des Tauschs. In der distributiven Dreiecksbeziehung zwischen Lohnempfänger, Unternehmer und Grundherrn spaltet sich der natürliche Preis in drei Bestandteile auf, durch

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die Konkurrenz gesteuert. Dass der Arbeiter seinen Lohnanteil empfängt, hebt ihn historisch auf die Augenhöhe seines Gegenübers empor, des Arbeitgebers, und entlässt ihn – wiederum in den Termini der aristotelischen Tugendlehre gedacht – aus dem häuslich-sklavischen Verhältnis zu seinem Herrn im oikos. Der Grund ist, dass die Arbeit nicht nur Maß des Werts und Basis des Tauschs ist, sondern zugleich jene Mäßigung von Gefühl und Handlung bewirkt, auf die es die Ethik der Selbstbeherrschung bei Aristoteles wie bei Smith abgesehen hat. Das Medium Arbeit stellt das principal – agent – Verhältnis auf moderne, gleichberechtigte Füße. Der Grundherr erhält seinen Rentenanteil von dem natürlichen Preis. Kreislauftheoretisch zeigt Smith, dass dieser Anteil wieder zurückfließt in den Markt und neue Nachfrage bedeutet. Der dritte Bestandteil ist der Profit des Unternehmers, der konkurrenzbestimmt ist. Die Lehre vom natürlichen Preis stellt damit zugleich eine Rationalisierungstheorie auf, die die Voraussetzungen der Marktwirtschaft beschreibt. Sie analysiert ihre impliziten, moralischen Wirkungen und führt sie auf die gesellschaftsverbindenden Medien zurück. Unter der Oberfläche des Marktgeschehens existiert ein ordnendes Prinzip, das aber niemals fassbar wird. Im ersten Buch des „Wealth of Nations“ wird im fünften Kapitel deutlich, dass Arbeit kein praktischer Wertmaßstab sein kann. Diese mangelnde Determinierbarkeit der Marktbewertungen hat die Ökonomie mit der moralischen Bewertung gemeinsam, die sich dem direkten Zugriff der Vernunft ebenso entzieht, wie sich die Güterpreise einer objektiven, sozusagen externen Bewertung entziehen. Aristotelisch gesprochen, handelt es sich jeweils um Kategorien des praktischen, nicht des theoretischen Wissens. Man schöpft den vollen Umfang der aristotelischen Fundierung der Lehre des natürlichen Preises bei Adam Smith erst aus, wenn man die Störung des natürlichen Preises und damit des Gleichgewichtes betrachtet. In der „Nikomachischen Ethik“ ist es der adikos, der das Prinzip der Wiedervergeltung im Gütertausch mit den Füßen tritt (Fritz 1980). Er macht sich die Stärke des Bedürfnisses, die hinter dem Tausch stehen kann, für seine Zwecke zunutze. Sein Vorhaben muss der Richter bei Aristoteles unterbinden. Was bei Aristoteles der adikos und pleonektai ist, ist bei Smith der Monopolist. Verteilungstheoretisch bedingt fällt diese Rolle allein dem Unternehmer zu, da weder der Arbeiter noch der Grundeigentümer eine monopolartige Stellung einnehmen können. Der Profitanteil am natürlichen Preis kann nur vergrößert werden auf Kosten anderer Ansprüche bei defektem Wettbewerb. Die Beschädigung des fair play hat Konsequenzen für den Wirtschaftskreislauf und wirkt sich als Wohlfahrtseinbuße der Nation aus. Das fair play wird laufend vom impartial spectator überwacht, der als empathietheoretisches Gewissenskonstrukt die aristotelische Richterrolle bei Smith internalisiert. Dem Wirken des Monopolisten gilt die ganze kritische Aufmerksamkeit des Liberalen Smith. Er sieht ihn als Hauptgefahr des wealth of nations an. Für die Figur des adikos gilt nicht nur, dass sie aus dem medialen Geflecht des gerechten Gütertauschs herausfällt, sondern dass sie noch überdies

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eine legitimierende Theorie ihres ungerechten Handelns entwickelt. Es ist dies der Merkantilismus als ökonomische Lehre der Wirtschaftslenkung und -steuerung und der Übervorteilung anderer Nationen. Der Merkantilist leugnet das ordnende Gerechtigkeitsprinzip unter der Oberfläche des Marktgeschehens und hält den lenkenden Eingriff für nötig. Dieser Eingriff kann – so Smith’ Gegenargument –, immer nur interessengelenkt und daher einseitig sein. Der Merkantilismus im großen Stil ist die Wirtschaftsauffassung des Feudalismus/Absolutismus, und der Souverän der oberste Monopolist. Gegen Machtansprüche dieser Art, die keine Rechtfertigung besitzen, richtet sich die Marktwirtschaftstheorie gleich zu Beginn. Der Merkantilist greift mit politischer Macht in das natürliche Preisgefüge hinein, das er nur zerstören kann. Er glaubt die Gesellschaft eigenhändig erziehen zu müssen zur nötigen Rationalität und übersieht dabei, dass der „doux commerce“ die Menschen am besten erzieht (Hirshman 1982). Er hat auch eine Medientheorie, die aber verglichen mit derjenigen von Smith verarmt ist. Die Medientheorie des Merkantilismus ist der Glaube, mit monetären Mitteln nicht nur den Kreislauf der Wirtschaft beeinflussen zu können, sondern auch die Menschen bis zu einem gewissen Grad zu Rationalverhalten erziehen zu können. Selbst bei dem engsten Freund von Smith, David Hume, war diese Auffassung ausgeprägt. Gegen diese Auffassung entwickelte Smith seine Geldtheorie, die die Geldmenge nicht als Movens/Explanans, sondern als abhängige Größe/Explanandum zeichnet. In dem aristotelischen Gegensatzpaar von oikos und polis ausgedrückt, also von Wirtschaftssphäre und politischem Handeln, war es Smith gelungen, den oikos zu öffnen zur polis hin und damit den in dem oikos abhängig gehaltenen Arbeitenden zu emanzipieren zum Freien und gleichberechtigten Bürger des Gemeinwesens. Gleichzeitig bleibt bei ihm das Verhältnis von Wirtschaftssphäre und Politik intransparent: Er verweigerte der polis nach wie vor in bester aristotelischer Manier den Zugriff auf die eben erst zur Marktwirtschaft befreite Hauswirtschaft. In ihre Selbststeuerung darf nur derjenige eingreifen, der mit dem public spirit, einer ästhetisch gedachten Begabung, ausgestattet ist. Die Auffassung der Ästhetik als eines objektiven Erkenntnisvermögens hat Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ in ihre Schranken verwiesen. Bei Smith geht die Macht des zuvor noch alle Bürger wie selbstverständlich auszeichnenden common sense als zentraler politischer Instanz, die auf sprachlicher Verständigung beruht, folgerichtig unter (Smith 1974a). Die Sphäre der Sprache bleibt die der polis, während der auf Arbeit beruhende Tausch und das auf Empathie beruhende Gewissen den oikos steuern. Wenn Smith die Notwendigkeit eines staatlichen Volksbildungswesens mit den einseitigen Folgen der Arbeitsteilung auf den Arbeitsalltag der Masse des Volkes begründet (Smith 1974b), dann dehnt er listig mit dieser Forderung allerdings die polis auf alle Glieder des Gemeinwesens aus, die in dieser Eigenschaft einen halbwegs vergleichbaren Informationsstand benötigen.

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2. Sozialökonomische Medienphilosophie nach der Epochenschwelle Die Medienphilosophie von Adam Smith war ein schlechter Seefahrer, denn sie nahm den Weg über den Kanal auf den Kontinent in geschwächtem Zustand. Zwar konnte sie die deutsche Klassik sowohl in ihrer Weimarer wie in ihrer Königsberger Variante befruchten – Goethe zeichnete im „Wilhelm Meister“ das Smithsche Gesellschaftsbild nach, Schiller dichtete in seiner Ode „An die Freude“: „Was den großen Ring bewohnet, / Huldige der Sympathie! / Zu den Sternen leitet sie, / Wo der Unbekannte thronet“, und Kant analysierte den impartial spectator –, doch als sozialwissenschaftliches geschlossenes Ganzes überlebte sie nicht. Die Epochenschwelle (Hans Blumenberg) zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert zerschlug die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Zeitalters der Aufklärung in auf lange Zeit unkenntliche Theoriesplitter, deren Nachlese noch hundert Jahre später ein ernsthaftes „Adam-Smith-Problem“ entstehen ließ in den Augen der historischen Schule. Was auf unmittelbare Rezeption stieß, war die Lehre vom natürlichen Preis. Sie erfuhr eine bezeichnende Neuinterpretation, die um die Arbeitswerttheorie des ersten Buchs des „Wealth of Nations“ vornehmlich kreiste. Im Verständnis der nachgeborenen Leserschaft schien sich hier die Einstiegsstelle in eine präzise Werttheorie zu befinden. Es ist David Ricardo, der Börsenmakler und Ökonom, der die These der embodied labour entwickelte, das heißt, der die Auffassung vertrat, dass in den reproduzierbaren im Gegensatz zu den nicht reproduzierbaren Gütern menschliche Arbeit verkörpert ist, die ihren Wert bestimmt. Aus der Medientheorie zwischenmenschlicher Beziehungen, in der der Arbeit eine rationalisierende und emanzipierende Wirkung parallel zur Empathie zukommt, wird eine Produktionstheorie, die mit ihren Gesetzmäßigkeiten den Markt beherrscht. Anstatt auf die mediale Kraft der unsichtbaren Hand zu vertrauen, soll die Ordnung der relativen Preise freigelegt werden. Grund für diesen Umschwung war das veränderte Forschungsinteresse von Ricardo, das er mit den Worten umreißt: „Die Gesetze aufzufinden, welche die(se) Verteilung bestimmen, ist das Hauptproblem der Volkswirtschaftslehre“ (Ricardo 1972). In den Händen dieses Theoretikers nimmt die liberale Ökonomie einen grundlegend anderen Charakter an. Neben den erkenntnistheoretischen Umbrüchen und dem veränderten Forschungsinteresse ist es vor dem Hintergrund der industriellen Revolution vor allem das veränderte Menschenbild des Homo faber, das diese Art von Sozialtheorie entscheidend prägt. Das handelnde Wirtschaftssubjekt wird anstelle seiner interpersonellen Einbettung in der Beziehung zur Güterwelt und ihren Reproduktionsgesetzmäßigkeiten als homo faber angesiedelt. Dadurch entsteht als Kehrseite leicht der Eindruck eines schicksalhaft dominierten Sozialgefüges. Die Arbeitswertlehre bleibt der letzte Rest medialer Verknüpfung in einer ansonsten von technischen Gesetzmäßigkeiten vorgezeichneten Entwicklung. Im

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Ergebnis kann von einer Wendung der Marktwirtschaftslehre von einer hermeneutischen Übung zu einer deterministischen Theorie gesprochen werden, die die Medientheorie, oder was von ihr geblieben ist, in ihre Zwecke einspannt. Das Ergebnis dieser folgenschweren Wendung ist eine Konfrontation zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, die bedingungslos ist und leicht verheerende Folgen für eine der beiden Seiten hat. Dies kommt allerdings durch einen Kunstgriff, die Festsetzung des Sozialproduktes zustande. Auf diese Weise wird die motivierende Bedeutung der Verteilung für die Größe des Sozialprodukts umgangen. Die Ausschöpfung der Differentialrenten führt bei Bevölkerungsvermehrung zu einer Minimierung des Profits. Den Ausweg aus dem Dilemma zeigt dem Unternehmer der technische Fortschritt. Als kapitalintensive Produktion bedeutet er jedoch die potentielle Freisetzung der Arbeit, die nicht notwendig neue Beschäftigung finden muss. Selbst der hartnäckige Widersacher Ricardos, Malthus, stimmt in der Tendenz dieser schwierigen Zukunftsprojektion zu, wenn er sie auch anders ableitet. Er hat seine eigene Medientheorie, die auf die menschliche Triebnatur abstellt, und weist auf die damit verbundene Bevölkerungsexplosion bei gleichzeitig beschränkter Bodenfruchtbarkeit hin. Ökonomische Theorie wird zur sprichwörtlich „düsteren Wissenschaft“. Die Arbeitswertlehre bündelte die Blickrichtung auf die principal- und agent-Beziehung, die für Marx zum Ausgangspunkt seiner Kritik der politischen Ökonomie wurde. Aus ihr entwickelte er seine revolutionäre Variante der Medienphilosophie, die, wenn nicht als einziges, so doch entscheidendes Medium gesellschaftlicher Koordination nur die Arbeit gelten ließ. Marx setzte sich in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ mit dem Arbeitsbegriff von Smith auseinander und warf ihm vor, dass er Freiheit und Glück des Individuums schlicht mit Ruhe, also der Abwesenheit von „toil and trouble“ gleichsetze. Dem stellte er als „wirklich freie Arbeiten“ künstlerische Tätigkeiten entgegen. Das Medium ist mit seinem Doppelcharakter in sich revolutionär. Die abstraktmenschliche Arbeit vermittelt zwischen der versachlichten Warenwelt und den bürgerlich-rechtlichen Handlungsträgern. Aus dem Medium, das bei Smith Geschichte als Symbioseversuch zwischen principal and agent ermöglichte, wurde ein Wertgesetz, das hinter die Geschichte tritt und sie determiniert. Arbeit sei – so stellte Marx gegenüber Charles Fouriers libidinöser Medienphilosophie klar – notwendiges Mittel zur Selbstverwirklichung des homo faber. Unter den versachlichten Bedingungen des Kapitalismus muss sie in ihr Gegenteil umschlagen, in die völlige Entfremdung des Subjekts. Diese Entwicklung verkehrt sich in einen Nachteil, wenn die Produktivkräfte durch sie nicht befördert, sondern behindert werden. Es ist die Tatsache seiner Selbstentfremdung, die den homo faber die Fesseln der veralteten Produktionsverhältnisse sprengen lässt mit dem berühmten Ziel der freien Assoziation der Produzenten. Der agent wird zum Meister seines principal – wie dies geschehen kann, hatte Hegel zuvor in der „Phänomenologie des Geistes“ in seiner dialektischen Medientheorie von Herr

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und Knecht deutlich gemacht. Der principal, das ist bei ihm das reine Selbstbewusstsein, das zufrieden in sich ruht. Der agent ist das unreine Selbstbewusstsein, das aus sich heraus will zum anderen, allerdings mit dem Ziel der Rückkehr zu sich. Beide, principal und agent, kämpfen miteinander. Der Ring, in dem sie sich bewegen, ist vom hegelianischen Bildungsbegriff abgesteckt. Der Fortschritt in der Bildung des Individuums ermittelt die siegende Partei. Es ist der agent. Die Außenorientierung siegt über die Innenorientierung, der Fremdgänger über den Autisten. Das Selbstbewusstsein, das sich durch den Kontakt mit dem anderen teilt, findet durch die Arbeit am anderen, das ist die Bildung, wieder zu seiner eigenen Einheit zurück.

3. Die Frage nach dem kulturellen Leitmotiv und seiner medialen Bedeutung für die Marktwirtschaft Es war die Romantik, die die Frage nach dem Leitmotiv von Wirtschaft und Gesellschaft stellte als Reaktion auf die als allzu vernünftig empfundenen Moralphilosophien der Aufklärung und die neuen gesellschaftswissenschaftlichen Entwicklungen. Das christliche Abendland wurde in Erinnerung und in Anschlag gebracht gegen den Utilitarismus und die Legitimationstheorien des Egoismus. Es wurde auf das gemeinsame Werteverständnis hingewiesen, das die nationale Gemeinschaft, aber auch – bei Novalis etwa – Europa zum Überleben nötig haben (Novalis 1996). Im Kern ging es der Romantik um die wertevermittelnden Medien und ihren Bedeutungsverlust im 19. Jahrhundert. So wie die Ökonomie eine düstere Wissenschaft geworden war, so verdunkelte sich der Horizont auch in der Kunst bis zur sog. schwarzen Romantik, die die hoffnungsvolle Aufbruchstimmung des siècle des lumières nicht mehr teilte. Marx’ Entfremdungstheorie lässt sich mit dem romantischen Aufbegehren gegen den Untergang des Subjektiven in einen Zusammenhang bringen (Waibl 1984). Seine vollgültige inhaltliche Aufarbeitung findet sich jedoch erst verhältnismäßig spät bei Max Weber. Diesem Autor ging es um den Untergang des Feudalismus und seiner Werte in der modernen Bürokratie, die er mit der zunehmenden „Rationalisierung des Lebens“ identifizierte. Der Feudalismus hatte ein ritterliches Selbstverständnis des Spieles, das zum Anachronismus geworden war durch das ökonomische Rationalverhalten. Der moderne Bürokrat entbehre „jene Züge von Spiel und Wahlverwandtschaft mit Künstlertum, von . . . heldischer Feindschaft gegen die ,Sachlichkeit‘ des ,Geschäfts‘ und ,Betriebs‘, welche der Feudalismus erzieht und bewahrt“ (Weber 1972, 653). Das Spiel werde „durch jede Rationalisierung des Lebens zunehmend ausgeschaltet“ (Weber 1972, 651). Für den modernen Beamten muss das Spiel „innerhalb seines Tuns als Verlotterung und Untüchtigkeit erscheinen“ (Weber 1972, 653). Damit geht Weber von einer kulturgeschichtlich frühen Bedeutung des Spiels aus, die sich im Laufe der Rationalisierung zu einer starken Bürokratisierung in Wirtschaft

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und Gesellschaft verflüchtigt. Diese Analyse ist im Kern medienphilosophischer Natur, weil „der ursprünglichste Sinn von Spielen der mediale Sinn ist“ (Gadamer 1965). Demnach wäre der Moderne aus der Sicht von Max Weber ein wesentliches Medienelement verloren gegangen, das den Widerstand gegen die Ausbreitung des Bürokratismus – eine immerhin sehr aktuelle politische Beschäftigung – hoffnungslos erscheinen lassen müsste. Ganz so um uns bestellt ist es nach Weber jedoch nicht, denn der Bürokrat findet nach dem Ableben des Feudalismus einen Gegenspieler in dem Unternehmer: „Er ist die einzige wirklich gegen die Unentrinnbarkeit der bureaukratischen rationalen WissensHerrschaft (mindestens: relativ) immune Instanz. Alle anderen sind in Massenverbänden der bureaukratischen Beherrschung unentrinnbar verfallen . . .“ (Weber 1972, 129). Die Überlegenheit des kapitalistischen Unternehmers über den Bürokraten gründet sich bei Max Weber auf das Rationalkalkül einer Informationsgesellschaft, nämlich auf „Fachwissen und Tatsachenkenntnis, innerhalb seines Interessenbereichs“ (ebd.). Damit stellt er eine asymmetrische Informationsverteilung zwischen „dem“ Unternehmer und dem Rest der Gesellschaft fest, der bürokratisch beherrscht ist. Wenn der principal der Bürokrat ist und der Unternehmer der agent, dann stellt dies auch eine dialektische Überwindungstheorie dar, die mit der oben entwickelten hegelianischen Beziehung von Herr und Knecht konform geht. So dauerhaft das Bürokratieproblem auch für nachgeborene Autoren ist wie etwa für Schumpeter, so zweifelhaft ist die Diagnose, die den Untergang der spielerischen Einstellung durch die moderne Rationalisierung betrifft. Ein Autor wie Huizinga beispielsweise geht wie Weber von einer frühen kulturgeschichtlichen Bedeutung des Spiels aus, sieht jedoch bleibende Einflüsse auf die moderne Gesellschaft, auch und gerade im Wirtschaftsleben (Huizinga 1991). Vielleicht sollte eher von der Metamorphose des Spiels und seiner medialen Bedeutung gesprochen werden als von seinem Untergang. Die andere und parallele Diagnose bei Weber betrifft die Bedeutung der Religion für die Rationalisierung. Bekannt ist seine Protestantismusanalyse, die in der asketischen Haltung und der festen Zielorientierung Motive der kapitalistischen Entfaltung ausmacht (Weber 2000). Die puritanische Auffassung wird als historischer Startpunkt für den Kapitalismus – in der Sprache von Marx die „ursprüngliche Akkumulation“ – angesehen. Diese Interpretation stellt das Medium Religion mit seiner dezidiert ökonomischen Wirkung in den Vordergrund, die auf einer besonderen Transparenz beruht, nach der die himmlische Ordnung schon im irdischen Leben als Hoffnungsschimmer durchscheint. Es ist dies eine Form von Transparenz, die auf metaphysischer Information beruht und einer handfesten Diskriminierung der Nichtauserwählten gleichkommt. Die Beziehung der Religion als Leitmotiv zu der wirtschaftenden Gesellschaft wird nach Max Weber von Walter Benjamin aus einer anderen, gleichsam umgekehrten Perspektive gesehen. Es ist nicht das Christentum, das den Kapitalismus initiiert, es ist der Kapitalismus, der sich der Religion bedient als eines Werte-

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und Motivlieferanten. Benjamin wird noch deutlicher und spricht von dem Parasiten des Christentums, der sich auf ihm „im Abendland entwickelt, dergestalt, daß zuletzt im wesentlichen seine Geschichte die seines Parasiten, des Kapitalismus ist“ (Benjamin 2003). So nimmt der Kapitalismus am Ende selbst religiöse Züge an auf eine Weise, die die Umkehrung, ja „Zertrümmerung“ des ursprünglichen Ausgangspunktes bildet. Als ihren ersten Ausdruck sieht Benjamin Nietzsches „Zarathustra“ an mit seiner Lehre des Übermenschen, der in der „absoluten Einsamkeit“ nach dem angeblichen Tode Gottes auftritt. Geistesgeschichtlich signifikant ist, dass die Entstehung der neoklassischen Ökonomie, die auf ein voll informiertes Entscheidungssubjekt abstellt, das dem Übermenschen wesensverwandte Züge trägt, und so ihre Theorie der Wahlhandlungen konzipiert, zeitlich in den gleichen Rahmen fällt wie Nietzsches Philosophie. Wird rückblickend die romantische Frage nach dem Leitmotiv mit der Aufklärungsphilosophie in eine Beziehung gesetzt, so hatte die letztere sie keineswegs vernachlässigt, sondern aus guten Gründen vermieden. Es war die blutige Lehre aus den nachreformatorischen Religionskriegen in Europa, die die Suche nach Medienphilosophien vorantrieb, die lieber auf die unsichtbare Hand als das stolz erhobene Banner des Leitmotivs setzten. Was Walter Eucken als eine „irenische“ Aufgabe der Marktwirtschaft bezeichnet hat, ist auf diese Weise von Anfang an in ihrer Theorie angelegt. 4. Die Keynessche Analyse In der ökonomischen Theorie rückte im 20. Jahrhundert die psychologische Komponente im Werk von J. M. Keynes in den Blickpunkt. Sie ermöglichte ihm den Einspruch gegen das sog. „Klassische Modell“, das die Räumung der Märkte über Preisniveau- und Zinsreaktionen unter Zuhilfenahme der Quantitätstheorie des Geldes beschreibt. Er analysiert ein marktwirtschaftliches Versagen, das auf einer Fehlallokation der Ressourcen beruht. Rationalität war für Keynes als Schüler von Alfred Marshall im Gegensatz zu den Theoretikern des „Klassischen Modells“ nicht etwas, das den individuellen Wahlhandlungen vorauszusetzen war, sondern das selbst erklärungsbedürftig bleibt. Marshall war der letzte Sozialökonom, der als Cambridger Professor noch eine zivilisatorische Entwicklungstheorie in dem alten Sinn als Moralphilosophie vorlegen wollte. Dass dieser Versuch zum Scheitern in Form eines naturalistischen Fehlschlusses verurteilt war, hat der frühe Talcott Parsons nachgewiesen. Dies hinderte die spätere Cambridger Schule nicht, ein abweichendes Verständnis von Modellmechanismen zu zeigen, das sich insbesondere auf die Wettbewerbstheorie konzentrierte. Keynes attackierte dagegen die zentrale Aussage des „Klassischen Modells“, die der Selbsträumung der Märkte. Was von diesem Modell als Selbstverständlichkeit angesehen wird, nämlich dass die Marktgesellschaft über ihren Beschäftigungsstand selbst entscheiden kann, wird von Keynes geleugnet. Ar-

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beitgeber und Arbeitnehmer einigen sich nicht über den Reallohn im Sinne der Grenzproduktivitätstheorie, da nicht gleichzeitig mit der Nominallohnbestimmung die Möglichkeit besteht, das Preisniveau festzusetzen. Der Vollbeschäftigungs-Grenzlohn kann sich so nicht realisieren, dies führt zum unteroptimalen Beschäftigungsstand. Was die Interaktion der Güter- und Arbeitsmärkte betrifft, so gilt von der Seite des Konsums her, dass nach Keynes eine kurzfristig inelastische Konsumneigung besteht. Das heißt, ein höherer Nominallohn wird sich nicht, wie Pigou vermutete, direkt in höherem Konsum und somit über Preissteigerungen als Reallohnsenkung auswirken. Von der Seite der Investition her galt im Klassischen Modell, dass auf die Investitionsneigung bei der walrasianischen Räumung aller Märkte, also auch des Arbeitsmarktes, unbedingt Verlass ist. Nach Keynes behält sich nun die Investitionsneigung des Unternehmers aber durchaus Situationen vor, in denen sie den Text, den ihr die Neoklassik vorgeben möchte, nicht vom Blatt abliest. Dieser Text lautet, dass die Ersparnisbildung in Investitionen überführt wird, vermittelt über den Zinssatz. Im Fall des erhöhten Geldlohns und gleichen Verbrauchs würde also mehr gespart werden, was über ein Sinken des Zinssatzes die Investitionstätigkeit anregen und somit das Preisniveau steigen ließe, was wiederum den VollbeschäftigungsGrenzlohn erzielbar werden ließe. Statt dessen unterscheidet Keynes Zins und Investitionsneigung als zwei Größen voneinander, wobei die letztere nicht allein abhängig von der ersteren ist. Die Investitionsneigung wird von der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals als einer Erwartungsgröße bestimmt, die zukünftige Erträge und Kosten gegeneinander abwägt. Wer investiert, rechnet mit der Zukunft. Wie transparent ist die Zukunft? Keynes, der als Wahrscheinlichkeitstheoretiker begonnen hat, gibt zu, dass sie intransparent ist: „We simply do not know. Nevertheless, the necessity for action and for decision compels us as practical men to do our best to overlook this awkward fact and to behave exactly as we should if we had behind us a good Benthamite calculation of a series of prospective advantages and disadvantages, each multiplied by its appropriate probability, waiting to be summed“ (Keynes 1937). Das Medium dieser virtuellen Transparenz ist Geld: „Die kennzeichnenden Eigenschaften des Geldes liegen vor allem darin, daß es eine scharfsinnige Einrichtung ist, um die Gegenwart mit der Zukunft zu verbinden; und wir können nicht einmal anfangen, die Wirkung sich ändernder Erwartungen auf laufende Tätigkeiten zu erwägen, es sei denn in Größen von Geld“ (Keynes 1972, 248). Was wie etwas völlig Unmögliches aussieht, nämlich die definitive Bewertung von etwas gänzlich Unbekanntem, weil in der Zukunft Liegendem, löst sich bei Keynes in der Interaktion des Spiels auf. Zu diesem Schluss kommt er im zwölften Kapitel der „General Theory“, das sich mit dem Zustand der langfristigen Erwartung des Investors beschäftigt, der von zentralem Einfluss auf die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals ist. „Geschäftsleute treiben ein Spiel, in dem Geschicklichkeit und Zufall vermischt sind und dessen durchschnittliche Ergebnisse den

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Spielern, die sich daran beteiligen, nicht bekannt sind“ (Keynes 1972, 127). Hier taucht das von Max Weber totgesagte Spiel wieder auf, und das an zentraler Stelle. Sein typischer Ort ist die Börse. In diesem Spiel gibt es eine Art Warteposition, die Keynes als Liquiditätspräferenz des Investors bezeichnet, wenn er nämlich unschlüssig ist und erst einmal sein eigenes Sicherwerden abwarten will. In der Situation der sog. Liquiditätsfalle kann folgendes Dilemma eintreten: Der Zinssatz kann nicht tief genug sinken, um den Vertrauensverlust, der in der Liquiditätspräferenz zum Ausdruck kommt, wieder wettzumachen. Denn der Zins hat eine Untergrenze, unter die er nicht fallen kann. Die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals als eine Erwartungsgröße kann dagegen bodenlos fallen. Mit der resultierenden Investitionsresistenz bei Geldhortung hält der unwillige Investor die Gesellschaft am langen Zügel der Unterbeschäftigung, solange er dies will. Erst sein Wiedereintritt ins (Börsen-)Spiel macht den Karren wieder flott. Soweit die Analyse, die eine Unzahl von Pro- und Kontra-Stellungnahmen seither hervorrief. Meist stand die wirtschaftspolitische Konsequenz in ihrem Vordergrund. Die Schlussfolgerung, die Keynes selbst aus der Diagnose zog, nämlich den Staat als investitionspflichtigen Lückenbüßer einzusetzen, behob bekanntlich nicht das Problem und schuf neue, erfreut sich als stillschweigendes Rezept jedoch ungebrochener Beliebtheit. Was hier interessiert, ist die Art und Weise, in der Keynes die Psychologie der Interaktion neu beschrieb in dem alten Sinn, nämlich als Handeln bei Intransparenz. Ganz im Sinn der Smithschen Analyse ersetzt er Transparenz durch Vertrauen, das im Spiel Bestätigung findet, aber auch verloren gehen kann. Es ist der Verlust des Vertrauens, das die Gesellschaft und ihren Wohlstand bedroht wie eine tödliche Gefahr. Dieses Vertrauen muss sich (börsen)täglich bewähren, und daran arbeitet sich das Mediengeflecht mehr oder weniger produktiv oder zerstörerisch ab – so die mögliche Schlussfolgerung. Keynes wurde zum Psychotherapeuten einer Wissenschaft, die sich den souveränen Entscheidungsträger im theoretischen Modell zum Liebling erkor, der jeden Lebenszusammenhang seinem Grenznutzenkalkül unterzieht. Damit gerät dieser homo oeconomicus in eine Situation der splendid isolation, was zwischenmenschliche Beziehungen betrifft. Keynes scheint genau den alten Verdacht der Smithschen Grundlegung der Marktwirtschaft gegen die physiokratische Modellbildung wiederzubeleben, der Realität vorschreiben zu wollen, wie sie zu sein habe, anstatt sie hermeneutisch zu durchdringen.

5. Markt und Kommunikation Das Problem von Marshall, Rationalität des wirtschaftlichen Handelns zugleich erklären und voraussetzen zu wollen, wurde wissenschaftshistorisch gelöst mit der Zuständigkeit der Soziologie für die Rationalisierungstheorie der Gesellschaft. Die Zuweisung war nötig, um den geschlossenen Kern des ökono-

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mischen Dogmengebäudes nicht zu gefährden, der zumindest Entscheidungsrationalität voraussetzte. Damit ging einher ein Abgeben oder vielmehr Vergessen medientheoretischer Überlegungen, die ursprünglich die sozialphilosophische Gestalt der Marktwirtschaftslehre geprägt hatten. Dabei ist es auch aus ökonomischer Sicht interessant zu sehen, wie die moderne soziologische Theorie Sozialisations- und Medientheorie miteinander verknüpft. Kurz soll dazu die „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Habermas eingeblendet werden, obwohl das Thema auch in anderen soziologischen Schulen wie etwa der Systemtheorie seinen nachhaltigen Niederschlag findet. Moderne Medienphilosophie erhielt einen wichtigen Auftrieb durch die linguistische Wende, die sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts der Soziologie bemächtigte. Habermas trug dazu mit seiner 1981 erschienenen Kommunikationstheorie Entscheidendes bei. Diese Theorie untersucht die Beziehungen von Sprache und Rationalität, die ihrerseits in verschiedene Begriffsebenen unterteilt wird nach ihrem Verhältnis zu der so genannten „Lebenswelt“. Den Begriff übernimmt Habermas von Husserl, löst ihn jedoch von seiner bewusstseinsphilosophischen Grundlage ab und füllt ihn mit neuem Inhalt. Er fasst ihn als Hintergrund von Sprechsituationen, die zur Deutung den Verweisungszusammenhang auf „einen kulturell überlieferten und sprachlich organisierten Vorrat von Deutungsmustern“ (Habermas 1981, 189) nötig haben. Die Lebenswelt versorgt ihre Angehörigen mit „Hintergrundüberzeugungen“ (Habermas 1981, 191), die das Medium Sprache verankert. Die Sprache zeichnet sich als Medium durch seine „Halbtranszendenz“ (Habermas 1981, 190) aus, die die mangelnde Selbstreflexion lebensweltlicher Bezugnahmen in der Kommunikation bedingt. Sprachliche Verständigung und Vernunft finden bei Habermas im Begriff „kommunikativer Rationalität“ zueinander, in den die anderen Rationalitätsbegriffe eingebettet sind, so auch derjenige der Zweckrationalität. Die koordinative Bedeutung von Sprechhandlungen tritt in den Vordergrund; sie muss sich allerdings gegen einen grundlegenden Zug zur Entsprachlichung der gesellschaftlichen Ordnung behaupten, den Habermas konstatiert. Er begründet diese Tendenz zu einer reinen Zweckrationalisierung durch das Vordringen technisierter Medien zur Erledigung von Koordinationsaufgaben. Letztlich ist es vor allem die kapitalistische Geldwirtschaft, die Habermas haftbar macht für die behauptete zunehmende „Versachlichung“ des Gesellschaftszusammenhangs im Sinne des Marx der „Grundrisse“. Die Versachlichung lässt die Lebenswelt als eine letzte gemeinschaftssichernde Instanz zunehmend überflüssig werden oder zerstört sie sogar direkt. Mit dem korrespondierenden Verschwinden der „Hintergrundüberzeugungen“ versucht Habermas die Max Webersche Frage nach der Sinn- und Freiheitsproblematik moderner Gesellschaften zu beantworten. Überspitzt ausgedrückt, stirbt Gemeinschaft aus. Übrig bleibt eine Art hochartifizieller Pantomime, durch die das Nötigste an Vermittlung bewerkstelligt wird. Diese Diagnose führte einerseits zu einer heftigen Kontroverse mit der Systemtheorie im zweiten Band der „Theo-

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rie des kommunikativen Handelns“, andererseits zu einer Ergebniskonfrontation mit der neoklassischen Ökonomie. Es ist auffällig, dass jenes völlig versachlichte, jedes lebensweltlichen Zusammenhangs entbehrende Schreckbild einer Gesellschaft ziemlich genau die lehrbuchmäßige Idealwelt der Preistheorie wiedergibt, wenn sie vom „vollkommenen Markt“ spricht. Wo die Neoklassik die Optimalität des aufgrund anonymer Beziehungen effizienten Tauschergebnisses betont, behauptet Habermas in einer Neuauflage der Marxschen Entfremdungstheorie eine Fehlentwicklung der versachlichten Koordination, die die Lebenswelt zersetzt. Diese Konfrontation ist nur deswegen möglich, weil beide Analysen, die ökonomische wie die soziologische, sich auf eine fast spiegelbildliche Weise auf jeweils ein Medium konzentrieren. Grundlegend für Habermas’ Analyse ist das Medium Sprache, für die Neoklassik das Medium Tausch. Diese moderne Streitfigur wiederholt unbewusst die Medienkonfrontation in der Sozialphilosophie von Adam Smith zwischen Sprache und Tausch.

6. Fazit In einer Zeit zunehmender Entgrenzung nationaler, traditioneller Zusammenhänge spielt die Suche nach den verbindenden Brücken eine wichtige Rolle. Wie der dogmenhistorische Rückblick zeigt, hat jede Zeit ihr Verhältnis zu den Medien gesellschaftlicher Verständigung eigenständig interpretiert. Der Rückblick auf den medienphilosophischen Ursprung der Marktwirtschaftslehre ist für die heutige Debatte in der Sozialphilosophie besonders geeignet, da er ein Konzept des interdependenten Bezuges mehrerer Medien zueinander offeriert. Nicht in einer retrograden Erneuerung der konsensualistischen Philosophie – wie sie Gadamer gefordert hat –, sondern in der zukunftsorientierten Gestaltung des multimedialen Gesellschaftsbandes hat das humanistische Bildungsideal die Chance zum Überleben. Die Betonung liegt dabei auf der Interdependenz und nicht der Konfrontation interaktiver Medien. Die Untersuchung versuchte zu zeigen, welche zentrale Bedeutung Medienphilosophie für die Marktwirtschaftslehre in ihrer Entstehung und weiteren Geschichte hat. Die normativen Grundlagen ihres wirtschafts- und sozialpolitischen Verständnisses liegen in ihr trotz zahlreicher erkenntnistheoretischer Verwerfungen bis heute begründet und können nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Markt und Staat fruchtbar gemacht werden.

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Zum unterschiedlichen „Natur“-Verständnis bei Klassikern der Nationalökonomie und den Auswirkungen der unterschiedlichen Begriffe auf die von ihnen bejahte Lohn- und Sozialpolitik Werner Wilhelm Engelhardt

1. Zur philosophischen Einordnung des Themas Die Menschen seit der Jungsteinzeit „denken die Optimierung von der Natur her oder gar von heiligen Mächten, wir Heutigen die Natur von der Optimierung her. Das ist ein Unterschied ums Ganze“, wie der Philosoph Professor Günter Seubald kürzlich geschrieben hat (Seubald 2006). Der Autor nimmt dabei nach meiner Ansicht auf den Begriff der „kopernikanischen Wende“ Bezug. Noch für Aristoteles, die antike und mittelalterliche Kunst war nach Seubald ausgemacht, „dass die Kunst die Natur ,nur ergänzen‘, nicht aber neu schaffen will. Heute aber läuft die gesamte kulturell-wissenschaftlich-technische Bewegung darauf hinaus, der Natur den Garaus zu machen und an deren Stelle ein durch und durch künstliches Produkt zu setzen. Das ist das Neue und – Erschreckende, das zu denken wir uns noch weigern.“ Der Begriff „kopernikanische Wende“ wird bekanntlich auf Immanuel Kant zurückgeführt. Die Position Kants, die mit den bis zu seiner Zeit maßgeblichen platonisch-aristotelischen Philosophemen und erst recht mit den spekulativen metaphysischen und theologischen Positionen des Mittelalters in einer konstruktivistischen Einstellung bricht, lautet dabei, dass „der Verstand seine ,Gesetze‘ a priori nicht aus der Natur schöpft, sondern sie dieser vorschreibt“ (Kant 1988, 189). Nach Otfried Höffe bringt die kopernikanische Wende „die Einschränkung der Erkenntnis auf Erscheinungen“, gemeint ist: auf gesonderte Phänomene, statt auf das „Ding an sich“. Kant widerspreche dabei sowohl dem Realismus des Alltagsverstandes als auch dem Idealismus Platons. „Lediglich bei der Moral, also einer von der Natur streng verschiedenen Welt, behalten die Dinge an sich einen positiven Gehalt, während das Pendant zu den Erscheinungen, die empirischen Beweggründe, eine Abwertung erfährt, was aber auf die Welt der Erkenntnis nicht durchschlägt.“

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In drei Hinsichten bleibt Kant laut Höffe freilich Platoniker: „Er trennt die Sinnen- und die Verstandeswelt scharf gegeneinander ab, sieht für die Erkenntnis nichtempirische Elemente als konstitutiv an und spricht den Ideen doch eine positive, freilich keine die Erkenntnis konstituierende, sondern die Forschung regulierende Funktion zu. Aus der antiplatonischen Aufwertung der Sinnenwelt folgt jedoch, dass die Erkenntnisillusion nicht länger bei der Erscheinung, sondern dort liegt, wo man sie für ,bloße‘ Erscheinung hält.“ (Höffe 2003, 51 ff.)

Max Weber gehört zu denjenigen, die sich besonders in den Jahren der Entstehung seiner Wissenschaftslehre entschieden gegen alle naturrechtlichen Philosopheme – einschließlich des Thomismus – gewandt haben, die irgendwie mit einem erschlichenen „naturrechtlichen Fehlschluß“ vom Sein zum Sollen gelangten (Weber 1988, 148, 187 f., 200, sowie Radkau 2005, 425). Gerhard Weisser, Hans Albert und die von beiden Autoren beeinflussten jüngeren Wissenschaftler sind ihnen in der Krtik naturrechtlicher Philosopheme später gefolgt. Es ist allerdings hier die Frage zu stellen, ob diese Kritik an den naturrechtlichen Philosophemen in jedem Falle berechtigt war oder ist. Sowohl der schließlich zum Institutionalismus neigende Kant als auch der in der vorliegenden Abhandlung vom nächsten Abschnitt an interessierende Nationalökonom Johann Heinrich von Thünen und einige Interpreten dessen Hauptwerks von 1826 bzw. 1850, wie besonders Edgar Salin, sehen das Naturrecht offenbar viel positiver. Interessanterweise kann auch dazu wiederum von Max Weber ausgegangen werden, wie zuletzt Joachim Radkau scharfsinnig herausgearbeitet hat. Weber äußert nämlich schon in jüngeren Jahren seinen Missmut gegenüber jener Position, die allein den Staat als Rechtsquelle gelten lässt, und er erkennt das Naturrecht auch als charakteristisches Element des westlichen Sonderwegs. Die russische Revolution von 1895 sieht er als „letzte naturrechtliche Agrarrevolution“ der bisherigen Geschichte. Nach Radkau bedeutete das Naturrecht in diesem Zusammenhang „konkret die Überzeugung, dass der Boden dem gehört, der ihn bearbeitet, und dass innerhalb der durch Brüderlichkeit verbundenen Feldgemeinschaft alle ein gleiches Recht auf die Früchte des Bodens haben“ (Radkau 2005, 383 f., 423 ff.). Nach Heinz-Gerd Schmitz stellt bereits Kants Rechtslehre eine „vernunftrechtliche Rekonzeptionalisierung des Naturrechts dar. Den neuzeitlichen Ausgangspunkt des Vernunftrechts habe zwar schon John Locke geschafft, der – noch in theologischer Einkleidung – „ein transpositives Freiheitsrecht aus der ursprünglichen Gleichheit aller Menschen herleitet“. Die Lockesche Gleichheit werde freilich von der Vernunft lediglich zähneknirschend zugestanden. Erst „Kant stellt das so vernunftrechtlich reformierte Naturrecht auf eine verlässlichere Grundlage, da es ihm – im Unterschied zu Locke – gelingt, durch eine

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Modifikation des kategorischen Imperativs, welche seine Rechtstauglichkeit sichert, ein apriorisches Recht zu konzeptionalisieren“ (Schmitz 2004, 314). Dieser Abschnitt sei beendet mit der pointierten Gegenüberstellung zweier Verständnisse von „Natur“: „,Die Natur aber ist das Reich der Freiheit‘, so hatte einst Alexander von Humboldt jene berühmten Berliner Vorlesungen begonnen (. . .), und er verkündet diese Botschaft im Ton der Begeisterung. Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Natur jedoch für viele Schüler der Naturwissenschaften zum Reich des Zwanges geworden, determiniert durch eherne Gesetze, die mit menschlichen Wünschen nach Glück und Sinn nichts zu tun hatten.“ (Radkau, 234)

2. „Natur“ in der ökonomischen Klassik vor Thünen in der Sicht des deutschen Klassikers Nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in den sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts relativ schnell entwickelnden Wirtschaftswissenschaften – insbesondere der Nationalökonomie – dominiert zunächst bei den Physiokraten und Merkantilisten, sodann bei den englischen und französischen Klassikern ein Verständnis der Natur, dessen vom „Naturrecht“ beeinflusste Gesetze sowohl auf physischen als auch auf moralischen Gründen beruhen (Rieter 1983, 71). Aber auch bei diesen Gesetzen spielte zweifellos Zwang ebenfalls eine bedeutende Rolle, mag dieser auch jeweils durch spontan und autonom, d.h. bereits freiheitlich agierende Unternehmer ausgelöst sein. Besonders die Vorstellungen vom Lohn und der Lohnhöhe werden entscheidend in dieser Weise geprägt. Dies zumindest so lange, bis der deutsche Spätklassiker Johann Heinrich von Thünen eine gravierende Neuorientierung vornimmt – und zwar durch Herausarbeitung anwendbarer, in seinem Sinne normativ „optimaler“ Lösungen, die allerdings sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis kaum zur Kenntnis genommen oder auch arg missverstanden wurden. – Auf die Überlegungen des deutschen Klassikers werde ich hier in verbaler Argumentation vor allem eingehen. „Alle Schriftsteller über Nationalökonomie“, schreibt Thünen am 7. November 1830 an seinen Stiefbruder Christian von Buttel, „sind damit einverstanden, dass die Summe der zum Lebensunterhalt notwendigen Subsistenzmittel der natürliche Arbeitslohn sei. Die Wissenschaft beherrscht notwendig die Meinung aller Menschen und so finden wir auch, dass alle Regierungen, alle Repräsentanten diesem Grundsatz huldigen – und so wird jedes Streben nach höherm Lohn als Aufruhr betrachtet und bestraft. Niemals ist der Mensch furchtbarer, als wenn er im Irrtum ist, er kann dann ungerecht, grausam sein und sein Gewissen ist ruhig, denn er glaubt ja seine Pflicht zu erfüllen. Wird das Volk aber jemals die Absicht der Nationalökono-

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men teilen“ – fährt Thünen fort – „wird es sich überzeugen, dass die furchtbare Ungleichheit in der Belohnung der körperlichen und der geistigen Arbeit, sowie der Dienste des Kapitals in der Natur der Sache begründet sei?“ (Schumacher 1869, 3 f.) Thünen berücksichtigte in dem zitierten Brief besonders die Lehrmeinungen von Adam Smith, Jean Baptiste Say und David Ricardo (deutsche Ausgaben von 1810, 1818/19 und 1821), die allerdings im einzelnen erheblich voneinander abweichen. In Thünens Hauptwerk „Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie“, Zweiter Teil, erste Abteilung, zuerst veröffentlicht 1850, heißt es dazu: „Über die Theorie des Preises sind ganze Bücher geschrieben worden, ohne dass dadurch eine Einstimmigkeit der Ansichten erreicht ist (. . .). Adam Smith nennt den Preis, der den Produktionskosten entspricht, den natürlichen Preis derselben. Say erklärt dagegen A. Smith Unterscheidung zwischen natürlichem Preis und Marktpreis für chimärisch und hält die Konkurrenz oder das Verhältnis von Angebot und Nachfrage für den einzigen Regulator des Preises.“ (hier zitiert nach Thünen 1990, 368)

Im Ganzen „schimmere“ – fährt der deutsche Klassiker fort – sowohl bei Smith als auch bei den meisten seiner Nachfolger „die Ansicht durch, dass die Summe der notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeiters der natürliche Arbeitslohn sei (abweichend bezüglich Smith akzentuieren Rieter und Scheer 1999, 2). Ricardo aber hat den Mut, geradezu auszusprechen: ,Der natürliche Preis der Arbeit ist der, welcher die Arbeiter in den Stand setzt, zu subsistieren und ihr Geschlecht fortzupflanzen‘ “ (Ricardo 1821, 77 u. Thünen 1990, 316). Say versucht es präziser so zu sagen: „Der Naturpreis der Dinge ist der Betrag von sämtlichen Produktionskosten (nämlich den Gewinsten der Industrie, der Kapitale und der Ländereien nach der laufenden Taxe. Er ist stets reell (absolut) und hat nichts Relatives. Der Marktpreis ist der Preis, zu welchem eine Sache an einem bestimmten Orte feil steht. Er wird durch den Widerspruchskampf festgesetzt, welcher zwischen den Kauf- und den Verkauflustigen entsteht. Er ist stets relativ, strebt aber beständig, sich dem Naturpreis zu nähern.“ (Say 1819, 524 f., Thünen 1990, 622)

Hermann Lehmann als vorerst letzter Herausgeber des Thünen’schen Hauptwerks fasst die klassische Position, wie sie sich vor dem deutschen Klassiker herausgebildet hatte, folgendermaßen zusammen: „Thünens Argumentation liegt der Ansatz der klassischen politischen Ökonomie zugrunde, dass die Höhe des Arbeitslohns von den Unterhaltskosten des Arbeiters und seiner Familie bestimmt wird und sich erhöhte Ausbildungskosten in einem höheren Lohn niederschlagen. Aus dieser Lohnbestimmung ließ sich auch ein Einfluß des biologischen Verhaltens der Elterngeneration auf die langfristige Bewegung der Löhne ableiten. Smith betrachtete dagegen die Löhne in engem Zusammenhang mit den für die Beschäftigung von Arbeitern zur Verfügung stehenden Kapitalfonds.“ (Thünen 1990, 607)

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3. Neubestimmung von „Natur“ bei Thünen Thünen fährt schon in dem Brief von 1830, der eine grundsätzliche Neubestimmung des Naturbegriffs einleitet, folgendermaßen fort: „Die Ansicht der Nationalökonomen ist aus der Erscheinung genommen und stützt sich auf die Erfahrung. Der Arbeiter ist für die Erziehungskosten, so wie die Maschine für die Erbauungskosten, das Lasttier für die Aufziehungskosten zu haben. Diesen Zustand, wo der Lohn nur eine Kapitalvergütung ist, die Arbeit an sich aber nur durch den bloßen Unterhalt gelohnt wird, nenne ich die Herrschaft des Kapitals – welche aus der starken Vermehrung der Arbeiter und des daraus entspringenden Angebots von Arbeit zum niedrigsten Preis hervorgegangen ist.“

Es folgen Sätze im Sinne der kopernikanischen Wende Kants, für die nach Verfasseransicht zumindest Vieles spricht (Näheres bei Engelhardt 2005): „Aber das Kapital ist nur Produkt der menschlichen Arbeit, und es kann der Mensch nicht seinem eigenen Produkt untergeordnet sein. Wenn die Lohnarbeit mit der auf Kapitalerzeugung gerichteten Arbeit gleiche Belohnung erhält, so ist dies der wahrhaft in der Natur begründete Arbeitslohn. Die Untersuchung ergibt aber, dass dieser naturgemäße Arbeitslohn ein ganz anderer, ein viel höherer Lohn ist, als der sogenannte natürliche Lohn der Nationalökonomen. Während bei dem sogenannten natürlichen Arbeitslohn die Kinder fast ohne Unterricht aufwachsen und die höhern menschlichen Kräfte gar nicht geweckt werden und die Armenversorgung eine natürliche Aufgabe wird, die zuletzt den Menschen an seinen Geburtsort bannt und in die Sklaverei zurückführt – ist bei dem naturgemäßen Arbeitslohn der gute Unterricht der Kinder eine Notwendigkeit, auf welche allein die Fortdauer dieses Zustandes basiert ist, und die Armenversorgung hört ganz auf, weil es ausser bei einzelnen Unglücksfällen – für die die natürliche Wohltätigkeit genügt – keine Armen mehr gibt. Das hier in Worten Ausgesprochene geht aus der Untersuchung in rein mathematischen Formeln hervor (. . .).“ (Schumacher 1869, 4 f.; Thünen 1990, 598 ff.)

Thünen spricht damit zuletzt bereits Resultate seiner später zur Reife entwickelten Kapital- und Lohntheorie an, schließt aber beeindruckt durch das „Bevölkerungsgesetz“ von Robert Malthus seine Betrachtung von 1830 an dieser Stelle zunächst einmal so: „Aber die Verwirklichung dieses Zustandes ist an die Bedingung geknüpft, dass die Arbeiter die gute Erziehung ihrer Kinder zum unerlässlichen Bedürfnis rechnen, und nicht eher in die Ehe treten, als bis sie die Mittel zu einer solchen Erziehung der Wesen, die sie ins Dasein rufen, gesichert sind. Dies würde ein vermindertes Angebot von Arbeitern, einen erhöhten Lohn zur unmittelbaren Folge haben (. . .).“ (Schumacher 1869, 4 f.; Thünen 1990, 598 ff., 607; bezüglich der „naturalistischen“ Sichtweise Thünens teilweise abweichend H. D. Kurz 1995, 117 ff.)

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4. Thünens spezifischer kapital- und lohntheoretischer Ansatz Der kapital- und lohntheoretische Ansatz des Klassikers kann bezogen auf sein Hauptwerk und darin auf das berühmte Konstruktivmodell „isolierter Staat“ nach dem heutigen Stand der interpretierenden Thünen-Forschung kurz dargestellt werden. Ich folge dabei besonders den Beiträgen von Ulrich van Suntum (1988 und 1995), Heinz D. Kurz (1995) und Ernst Helmstädter (1995) in dem von Heinz Rieter (1995) herausgegebenem beachtlichen Sammelband, aber unter Beachtung auch der früheren Arbeiten von M. Blaug (1975 und 1985), P. A. Samuelson (1983 und 1986), R. Dorfman (1985), Jörg Niehans (1987) und W. Krelle (1987). Es empfiehlt sich dabei, das Modell „isolierter Staat“ vom weithin gleichnamigen Hauptwerk durch eine Abkürzung deutlich zu unterscheiden (das Modell künftig abgekürzt „i.St.“). Thünen unterstellt im „i.St.“, dass sich an dessen räumlicher Grenze zur Wildnis – wo das seit David Ricardo bekanntlich stark interessierende Problem der Grund- bzw. Lagerente ausgeklammert werden kann – dort vorhandene (Land)Arbeiter eine Zeitlang mit der Erzeugung von dauerhaften Kapitalgütern beschäftigen. Es geht den Arbeitern dabei um die Urbarmachung von Boden und die Herstellung langlebiger Werkzeuge, wie Pflüge und Spaten. Durch diese Kapital produzierenden Arbeiten steigt das Nettoprodukt jedes tätigen Arbeiters beträchtlich an. Es gebe allerdings ein „Gesetz sinkender Ertragszuwächse“, d.h. die generelle Aussage, „dass jedes in einer Unternehmung oder einem Gewerbe neu angelegte, hinzukommende Kapital geringere Renten trägt, als das früher angelegte“. „Wie nützlich auch ein Instrument oder eine Maschine sein mag, immer gibt es eine Grenze, wo die Vervielfältigung derselben aufhört, nützlich zu sein und eine Rente abzuwerfen.“ (Thünen 1990, 344 f.) Je mehr Arbeiter also die Kapitalerzeugung anstelle der Konsumgüterproduktion betreiben, desto geringer wird die „Grenzproduktivität“ des Kapitals. Damit aber muss unter den gesetzten Annahmen nach Thünens Ansicht zwingend auch die Entlohnung des Kapitals, d.h. der kapitalerzeugenden Arbeiter, abnehmen. Dies jedenfalls unter den vom Klassiker in seiner frühen entscheidungslogischen Modellanalyse unterstellten Bedingungen ohne Macht oder Ideologien als Wirkgrößen (Salin 1958, 255; Schneider 1959, 27). „Die Rente, die das Kapital im ganzen beim Ausleihen gewährt, wird bestimmt durch die Nutzung des zuletzt angelegten Kapitalteilchens. Dies ist einer der wichtigsten Sätze in der Lehre von den Zinsen.“ (1990, 348) Der Autor zeigt dann aber, dass ein wachsender Kapitalstock schon aus Gründen der Verbindung seiner gesetzten Annahmen, nicht zuletzt aber auch aufgrund eigener Erfahrungen – nämlich als erfolgreicher, durchaus bereits sozial-ökonomisch handelnder landwirtschaftlicher Unternehmer auf dem mecklenburgischen Landgut Tellow – sowie mit Blick auf Berichte über die sich

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positiv entwickelnde Gesellschaft in den amerikanischen Freistaaten, zwingend zu einer Erhöhung des Arbeitslohns für diejenige Lohnarbeit führen muss, die nicht selbst kapitalschaffend ist. Der Grund dafür ist, dass bei zunehmendem Kapitaleinsatz die Arbeitsproduktivität steigt, während die Begünstigung des Kapitals notwendigerweise absinkt. Der Klassiker schreibt: „Die Verminderung der Rente beim Anwachsen des Kapitals kommt also dem Arbeiter zugute und erhöht den Lohn seiner Arbeit. Während man in Europa den gedrückten Zustand der arbeitenden Klasse so häufig der zunehmenden Anwendung von Maschinen zuschreibt, wird in dem gesellschaftlichen Zustand, den wir hier vor Augen haben, die Lage der Arbeiter immer blühender und glänzender, je ausgedehnter beim Anwachsen des Kapitals die Anwendung von Maschinen wird. In der Tat scheint es widernatürlich und widersprechend, dass durch die weise Benutzung der Naturkräfte und der die Arbeit so sehr fördernden Maschinen das Los der zahlreichsten Klasse der Gesellschaft um so drückender werden sollte, je mehr gleichzeitig ihre Arbeit dadurch wirksamer und lohnender wird.“ (1990, 348 f.)

Der von Thünen ins Auge gefasste kapital- und lohntheoretische Zusammenhang wird von ihm aber noch wesentlich strenger gefasst, als das angeführte Zitat andeutet. Er definiert nämlich den Zinssatz bzw. Zinsfuss als den Quotienten aus der Rente – als der Grenzproduktivität des Kapitals – und dem Lohnsatz, wenn er formuliert und auch mathematisch begründet: „Beim Wachsen des Kapitals sinkt der Zinsfuß in einem viel stärkeren Verhältnis als die Rente, weil gleichzeitig der Arbeitslohn steigt, und die Rente, dividiert durch den Arbeitslohn, den Zinsfuß ergibt. Hier ist die Arbeit, durch welche das Kapital hervorgebracht ist, Maßstab des Kapitals.“ (1990, 350)

Thünen ist dieser Maßstab besonders wichtig: Das Kapital wird in Form von „Mannjahren“ oder auch „Jahresanstrengungen“ als eine rein physische Größe definiert, nicht hingegen – wie in der Gegenwart zumeist – als eine Wertgröße. Der Autor formuliert deshalb pointiert: „Hier ist die Arbeit, durch welche das Kapital hervorgebracht wird, Maßstab des Kapitals. In der Wirklichkeit wird in der Regel das Kapital in Geld ausgedrückt und angegeben, und es ist ungewöhnlich, die Größe eines Kapitals nach der Zahl der Jahresarbeit eines Tagelöhners, über die man vermittels dieses Kapitals zu gebieten hat, oder die man dafür erkaufen kann, zu ermessen – obgleich dies über den Wert eines Kapitals in verschiedenen Ländern und in verschiedenen Zeiten ein weit helleres Licht verbreitet als die Angabe in Geld.“ (1990, 350)

Thünen nennt „Kapital“ (mathematisch = q) also letztlich das unter Mitwirkung der Naturkräfte durch die menschliche Arbeit hervorgebrachte Erzeugnis, das zur Erhöhung der Wirksamkeit menschlicher Arbeit dienlich ist und angewandt wird, vom Grund und Boden aber – wenn auch wie bei Bäumen und Gebäuden unter Verletzung der Form – trennbar ist. Dessen Produktionskosten können angegeben und gemessen werden durch die Zahl der „Jahresanstren-

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gungen“, welche zur Erlangung desselben erforderlich sind. Unter Jahresanstrengungen bzw. Jahresarbeiten versteht er den Überschuss des Ertrages über dasjenige, was der Arbeiter verwenden muss, um arbeitsfähig zu bleiben. Laut van Suntums sorgfältiger Interpretation – sie führt über Eugen von Böhm-Bawerks frühe (1884), aber in Ignorierung des Problems der für Thünen wichtigen Bewirtschaftung von Wald weit hinaus – zeigt der Klassiker dann zwar, „dass es bei der Bestimmung des Zinssatzes keinen Unterschied macht, ob man in Jahresarbeiten oder in Geldeinheiten rechnet, (er) bleibt aber fortan bei der erstgenannten Kapitaldefinition – und das mit gutem Grund! Er vermeidet nämlich damit (. . .) die tückischen Aggregationsprobleme, die bis heute die Kapitaltheorie belasten, und er entzieht gleichzeitig der späteren Kritik Wicksells (1893) – die er natürlich noch nicht kennen konnte – von vornherein den Boden.“ (van Suntum 1995, 93) Heinz D. Kurz hat allerdings in massiver Kritik an Thünens naturalistischer, auf ein bloßes „Kornmodell“ bezogener Sichtweise darauf hingewiesen, dass langfristig und gesamtwirtschaftlich gesehen das physisch heterogene Kapital in einer Wertsumme zusammenfassend bewertet werden muss, was aber nicht unabhängig vom Zinssatz möglich sei. Daraus ergebe sich bei unserem Klassiker eindeutig ein Zirkelschluss. Thünen aber unterstelle, dass seine Ergebnisse bei einer langfristigen gesamtwirtschaftlichen Analyse ebenso gelten würden wie bei einer kurzfristigen einzelwirtschaftlichen Analyse. Ein Anstieg der Kapitalausstattung führe zu einem Sinken des Marktzinssatzes, nicht bloß der Marginalrate des Zinses, wie Wicksell durchaus zutreffend erörtert habe (Kurz 1995, 141 ff., 165 ff.). Dieser Auffassung Wicksells folgt Kurz, der dabei Thünens Kapitalbegriff unter Bezug auf sein einfaches Kornmodell für die „einzige bedeutsame ,metaphysische‘ Ausnahme in seinem ökonomischen Werk hält“ (Kurz 1995, 145). Wobei allerdings von Metaphysik bei Thünen nach dessen Akzeptierung der metaphysikfeindlichen Position Kants und bei des Klassikers – vielleicht bewusster – Ignorierung der später in der Neoklassik bekanntlich eine bedeutsame Rolle spielenden nutzenanalytischen Messungsprobleme m. E. hier kaum gesprochen werden kann. Freilich gilt es zu beachten, dass Thünen in seinem Hauptwerk nicht immer nur entscheidungslogisch „rein ökonomisch“, sondern zuweilen auch bereits empirisch bzw. empirischtheoretisch, d.h. „sozial-ökonomisch“, argumentiert hat und sein Ausgangspunkt dabei stets ein humanistisch „normativer“ war.

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5. These: Thünens Ansatz zielt normativ bereits auf eine Dritte bzw. Mittlere Ordnung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat In der Modellkonstruktion „i.St.“ heißt es in Abgrenzung von den Strukturdeterminanten des sich zur Lebenszeit Thünens vehement entwickelnden westeuropäischen Kapitalismus, aber in weitgehender Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in den Vereinigten Staaten von Nordamerika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (dazu u. a. Dempsey 1960), aber auch unter Anknüpfung an viel ältere Versionen genossenschaftlicher Zusammenarbeit „ohne Herren und Diener“ – welche durchaus als naturrechtlich im Sinne des eingangs zitierten Max Weber verstanden werden können (siehe auch Kurz 1995, 142) – in großer Klarheit: „In der Nation, die wir vor Augen haben, finden sich noch keine Kapitalisten, die andere für sich arbeiten lassen, sondern jeder arbeitet für sich selbst.“ (Thünen 1990, 340)

Allerdings teilen sich die beteiligten Arbeiter im Modell bereits „in zwei Klassen, nämlich 1. in solche, die sich mit der Kapitalerzeugung beschäftigen, und 2. in solche, die mit einem geliehenen Kapital auf eigene Rechnung arbeiten. Die der zweiten Klasse angehören, werde ich Arbeiter ohne weiteren Beisatz nennen. Was diese nach Abzug der Zinsen des geliehenen Kapitals vom Arbeitsprodukt übrig behalten, ist der Lohn ihrer Arbeit“ (1990, 347). Ernst Helmstädter nennt diese schaffenden, unternehmerartigen Personen im Unterschied zu den kapitalerzeugenden Arbeitern die „investierenden Arbeiter“ (Helmstädter 1995, 48). „An der Grenze der kultivierten Ebene“ – wie abgesehen vom „i.St.“ im Jahre 1850 noch in vielen der westlich gelegenen Teilstaaten des nordamerikanischen Subkontinents – „ist es in die Wahl des Arbeiters gestellt, ob er ferner für Lohn arbeiten oder mit Hilfe der angesammelten Ersparnisse ein Land urbar machen, Gebäude usw. errichten und sich ein Eigentum erwerben will, auf welchem er künftig für eigene Rechnung arbeitet“. „Sollen die Arbeiter in dieser Gegend von der Anlegung von Kolonistenstellen oder Gütchen abgehalten und bewogen werden, noch ferner bei ihren Herrn für Lohn zu arbeiten“ – wie die zahlreichen Landarbeiter im Europa jener Jahre, die auf Auswanderung verzichten, welche hier aber hohe Lage-Grundrenten der Landbesitzer in Kauf nehmen müssen – „so muß dieser Lohn nebst den Zinsen, die sie durch Ausleihen für ein zur Anlegung der Kolonistenstelle erforderliches Kapital beziehen, gleich sein dem Arbeitsprodukt, was sie auf der Kolonistenstelle, die von einer Arbeiterfamilie bestellt werden kann, hervorbringen können“ (Thünen 1990, 372).

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Mit den logischen Folgerungen aus diesen Annahmen setzt sich Thünen präzise auseinander: „Wir behaupten, dass der an der Grenze des i.St. sich bildende Arbeitslohn normierend für den ganzen Staat ist (. . .). Nicht der Geldlohn, sondern der reelle Lohn, d.i. die Summe der Lebensbedürfnisse und Genussmittel, die der Arbeiter sich für seinen Lohn verschaffen kann, muss durch den ganzen i.St. gleich hoch sein (. . .). Der an der Grenze des i.St. sich bildende Zinsfuß muss für den ganzen Staat maßgebend werden.“

Der Autor prüft erstaunlicherweise in diesem Zusammenhang auch bereits die Konsequenzen der Lohnsteuer (1990, 577 ff.). Zur Frage der Widerspruchsfreiheit der Annahmen heißt es mit hohem Niveau: „Unsere Untersuchungen beruhen auf der Voraussetzung, dass der i.St. sich im beharrenden Zustande befindet. Demnach muss aber auch seine Größe unveränderlich sein. Indem wir hier aber in Gedanken neue Güter im Kreise der Viehzucht anlegen, handeln wir dadurch anscheinend gegen unsere eigene Voraussetzung. Nun ist aber das einzelne Gut gegen das Ganze nur als ein unendlich kleiner Punkt zu betrachten – und wenn wir trotz dieses Zuwachses das Ganze als noch im beharrenden Zustand ansehen, so ist unser Verfahren dem in der Analysis des Unendlichen analog und kann auch durch diese gerechtfertigt werden.“ (Thünen 1990, 373 ff.)

Auch „anschaulich“ wird der Ansatz gerechtfertigt. Der Autor versucht nämlich zu erklären, warum die „bloße Möglichkeit für die Arbeiter, sich in der Wildnis p anzusiedeln, ohne dass dies Tat wird, die Gutsbesitzer zur Zahlung eines ap Lohnes“ – Thünens abschließende Lösung des Lohnproblems – „zu nötigen“ in der Lage ist (1990, 376 f.). Der Klassiker führt dabei seine entscheidungslogische Argumentation unter der – allerdings nicht ganz aufgedeckten (vgl. Engelhardt 2006) – Prämisse durch, dass auf den Landgütern Mecklenburgs und anderen Teilen Europas bald ein Mangel an Arbeitskräften auftreten könnte. Die Besitzer könnten daher gezwungen sein, zumindest bei bereits vorhandener Arbeitsproduktivität die Löhne zu erhöhen. Dies möglicherweise auch, um der weiteren Auswanderung Einhalt zu gebieten. Vordergründig geht es aber dem Klassiker als tätigem Unternehmer zunächst einmal darum, dem antizipierten Engpass künftigen Mangels an einsatzbereiten Landarbeitern rechtzeitig zu begegnen. Thünen argumentiert – anders gesagt – im Modell bereits im Sinne eines Verhandlungs-„Spiels“ zwischen den Landgutsbesitzern und den Landarbeitern (1990, 370; dazu Todt 2002, 9 ff.). Dem Klassiker geht es beim „naturgemäßen“ Lohn also nicht allein um die Verwirklichung zweckmäßiger Aspekte nützlichen Handelns, sondern um weit mehr. Letztlich sind für ihn neben emotionalen Erwägungen vor allem solche der Gerechtigkeit maßgebend, wie wir sie heute „wertrationale“ Aspekte nennen. Sie gehen vermutlich auf Kants Bestimmungen der Gerechtigkeit im Sinne des kategorischen Imperativs zurück. Thünen hat den naturgemäßen Lohn deshalb wohl nicht zufällig auch als

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„durch die Vernunft selbst“ bestimmten, normativ gewollten Lohn bezeichnet (1990, 308 f.). p Die Ableitung der Formel ap – d.h. des „naturgemäßen“, aber oft auch wieder „natürlich“ genannten Lohn Thünens – offenbart bereits Elemente der Grundstruktur einer Dritten oder Mittleren Ordnung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat jenseits des sich konkret entwickelnden Kapitalismus, aber abseits auch der sich bekanntlich Jahrzehnte später – von 1917 an – entwickelnden kommunistischen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsformen. Thünen schreibt nämlich zur Frage eines „gemeinschaftlichen Maßstabs“ für die „Belohnung beider Gattungen von Arbeit“ (1990, 353): „Diesen nicht aus dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage entspringenden, nicht nach dem Bedürfnis des Arbeiters abgemessenen, p sondern aus der freien Selbstbestimmung der Arbeiter hervorgehenden Lohn ap nenne ich den naturgemäßen oder auch den natürlichen Arbeitslohn. In Worten ausgedrückt sagt die Formel: „Der naturgemäße Arbeitslohn wird gefunden, wenn man die notwendigen Bedürfnisse des Arbeiters (in Geld oder Korn ausgesprochen) mit dem Erzeugnis seiner Arbeit (durchpdasselbe p Maß gemessen) multipliziert und hieraus die Quadratwurzel zieht. Da a: ap = ap : p, so ist der naturgemäße Arbeitslohn die mittlere Proportionalzahl zwischen dem Bedürfnis des Arbeiters und seinem Arbeitsprodukt, d.i. der Lohn übersteigt das Bedürfnis in demselben Maße, wie das Erzeugnis den Lohn übersteigt.“ (Thünen 1990, 383)

Von Dritter oder Mittlerer Ordnung kann auch deshalb gesprochen werden, weil Thünen unter den von ihm getroffenen Annahmen zu der begründeten Ansicht gelangt ist, „dass Arbeiter und Kapitalisten an der Steigerung der Produktion ein gemeinschaftliches Interesse haben, dass beide verlieren, wenn die Produktion abnimmt und p beide gewinnen, wenn sie zunimmt (. . .). Solange der Arbeitslohn = ap ist, so lange – und dies ist von entscheidender Wichtigkeit – solange ist auch der Arbeiter gegen Not und Mangel geschützt.“ (1990, 415 f.)

6. Thünens gewinn- und zugleich sozial-orientiertes normatives Verständnis von „Natur der Sache“ Der Autor ist in seinem Konstruktivmodell „i.St.“ trotz unübersehbarer fiktiver Abweichungen von der Wirklichkeit (Gutenberg 1923) und unabhängig auch von seiner normativen Grundeinstellung bezüglich des Verständnisses von „Natur“ stets um möglichst realistische Verhaltensannahmen einerseits und um die darauf gestützten Ableitungen und Aussagen andererseits bemüht gewesen. Ein Beispiel: „Unserer Untersuchung über die Kapitalerzeugung durch Anlegung neuer Güter liegt die Annahme zugrunde, dass die Arbeiter den praktischen Sinn haben, zu wis-

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sen, welche Größe von q ihnen am vorteilhaftesten ist – und unter dieser Voraussetzung ist q eine bestimmte, unveränderliche Größe, und die Rente, die sich dann für p den Arbeitslohn von ap ergibt, ist das unbedingte Maximum.“ (1990, 391)

Aber auch jenseits der entscheidungslogischen Analyse am Modell und deren normativer Ausgangsbasis bezüglich des Verständnisses von „Natur“ geht es dem Klassiker um die Beachtung tatsächlichen Verhaltens der am Wirtschaftsleben teilnehmenden Personen. Dies zeigt eines seiner zentralen grenz-bezogenen Forschungsresultate, das freilich durch Modellanalyse gewonnen wurde: „Da es im Interesse der Unternehmer liegt – diese mögen Landwirte oder Unternehmer sein – die Zahl ihrer Arbeiter soweit zu steigern, als aus deren Vermehrung noch ein Vorteil für sie erwächst, so ist die Grenze dieser Steigerung da, wo das Mehrerzeugnis des letzten Arbeiters durch den Lohn, den derselbe erhält, absorbiert wird; umgekehrt ist also auch der Arbeitslohn gleich dem Mehrerzeugnis des letzten Arbeiters.“ (1990, 399)

Der grenz-analytische Lehrsatz wird von Thünen sodann verallgemeinert: „Aber nicht bloß bei den einzelnen landwirtschaftlichen Operationen, sondern auch bei der Wahl eines niedrigern oder höhern Wirtschaftssystems“ – gemeint sind zur damaligen Zeit unter den Verhältnissen Mecklenburgs mit dem Ausdruck „Wirtschaftssysteme“ stets oder doch vor allem Bodennutzungssysteme – „in welchem der höhere Ertrag durch einen vermehrten Arbeitsaufwand erkauft wird, sowie bei der Frage, ob Boden geringerer Qualität, auf welchem die Arbeit mit einem geringern Produkt als auf gutem Boden gelohnt wird, des Anbaues wert sei, ist das Verhältnis zwischen Kosten und Wert der Angelpunkt, von dem die Entscheidung abhängt“. „Ja, man kann sagen, dass die ganze Aufgabe der rationellen Landwirtschaft darin besteht, für jeden einzelnen Zweig derselben in den beiden aufsteigenden Reihen vermehrte Arbeit und erhöhtes Erzeugnis die korrespondierenden Glieder aufzufinden, um den Punkt zu bestimmen, wo sich Wert und Kosten der Arbeit im Gleichgewicht halten – denn wenn die Arbeit bis zu diesem Punkt ausgedehnt wird, erreicht der Reinertrag das Maximum. Das Fortkommen des praktischen Landwirts hängt zum sehr großen Teil davon ab, ob er den Takt besitzt, diese Aufgabe annähernd zu lösen.“ (1990, 400)

Thünens Unternehmer soll aber nicht nur gewinnorientiert, sondern aus der „Natur der Sache“ heraus zugleich auch sozialorientiert handeln: „Wie in dem als Beispiel aufgeführten großen Güterkomplex, so ist auch in der Wirklichkeit das Streben der Unternehmer ganz allgemein, die Zahl ihrer Arbeiter so weit zu vermehren, bis aus der fernern Vermehrung kein Vorteil für sie erwächst, d.i. bis der Lohn der Arbeit den Wert der Arbeit erreicht, weil dies in der Natur der Sache und im Interesse der Unternehmer begründet ist. Der Lohn aber, den der zuletzt angestellte Arbeiter erhält, muß normierend für alle Arbeiter von gleicher Geschicklichkeit und Tüchtigkeit sein; denn für gleiche Leistungen kann nicht ungleicher Lohn gezahlt werden.“ (1990, 402)

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Freilich muss der Klassiker schließlich – etwa 1850 – einräumen, dass die tatsächliche Entwicklung der Entlohnung weiter denn je von der von ihm befürworteten sozial-ökonomischen Lösung des Lohnproblems entfernt ist: „Wenn aber schon jetzt in der Wirklichkeit der Arbeitslohn den Wert der Arbeit erreicht und das Volk sich dennoch in einer gedrückten, armseligen Lage befindet, wie ist dann Abhilfe möglich? (. . .) Statt des Werts der Arbeit die Länge der Arbeitszeit zum Maßstab für den Lohn einführen zu wollen“ – wie es bekanntlich Pierre Joseph Proudhon (1847) vorgeschlagen hat und es auch vielfach tatsächlich geschah – ist für Thünen von seinem arbeitswerttheoretischen Ansatz her nicht mehr als „eine Chimäre“ (1990, 402). Auch die dem Autor bekannte Tatsache, dass im Unterschied zum Grenzanbieter „die früher angestellten Arbeiter beträchtliche Überschüsse hervorbringen“, berechtigt seiner Ansicht nach nicht zur Gewährung höherer Löhne. Dabei fände entgegen seiner zwar auf Ausgleich bedachten „sozial-ökonomischen“ Position nämlich „eine Vermischung und Verwechselung der moralischen Verpflichtung mit der gewerblichen statt. In nationalökonomischer Beziehung darf keine Arbeit unternommen werden, die nicht die Kosten deckt; denn sonst würde die Arbeit, die den Nationalreichtum schaffen soll, denselben im Gegenteil vermindern und aufzehren – und durch Verminderung des Nationalkapitals würde das Volk nur noch elender werden“. „Die moralische Verpflichtung der Reichen, die Not der Armen zu mindern, darf nicht auf diesem Wege, sondern muß auf andere Weise“ – nämlich durch naturgemäße Löhne – „zur Tat werden. Auch würde der einzelne Fabrikherr, der Arbeiten unternähme, die ihm die Kosten nicht wieder einbringen, sein Vermögen nutzlos opfern, wenn nicht alle andern dasselbe täten. Aber auch die Gemeinschaft und Verbindung aller Fabrikherrn eines Landes zu diesem Zweck würde nicht immer ausreichen; denn die Fabriken, welche Erzeugnisse für das Ausland liefern oder im eigenen Land die Konkurrenz der Ausländer zu bestehen haben, würden dadurch zugrundegehen und deren Arbeiter dann völlig brotlos werden.“ (1990, 403) Thünen bleibt entschieden bei seinem ökonomisch und sozial, d.h. früh „sozial-ökonomisch“ begründeten Vorschlag des „naturgemäßen“ Lohnes gemäß p der Formel ap. Damit tritt er nach Edgar Salins treffender Interpretation „mit dem Anspruch auf, das ewige, das Natur-Gesetz zu enthüllen, und ,naturgemäß‘ ist nicht etwa ein Arbeitslohn, der unter ganz bestimmten, abstrahierenden Voraussetzungen gilt, sondern umgekehrt: diese abstrahierende Lohnformel enthält die höhere Wirklichkeit, sie ist nicht ein Erklärungsweg, sondern sie gibt das Sollen, die Norm der Wirklichkeit. Diese Wandlung ist aussergewöhnlich groß, sie ist theoretisch entscheidend und auch geistesgeschichtlich von allergrößter Bedeutung“ (Salin 1926, 427).

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